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Schattenbilder

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 19

 

Schattenbilder

 

Die Heimat grüßte uns – die Elbe, Cuxhaven, dann Hamburg! Wir waren wieder daheim! Unsere indischen Abenteuer waren beendet. Dr. Doogston-Warbatty, den wir zunächst für ein Verbrechergenie von unerhörter Rücksichtslosigkeit gehalten hatten und der doch nur das willenlose Werkzeug eines mit teuflischer Schlauheit ausgestatteten anderen Mannes gewesen, war nicht mehr!

Dafür hatten wir nun einen anderen Gegner zu fürchten, einen, gegen den Warbatty ein Nichts bedeutete: Jenen James Palperlon, der den Doktor Reginald Doogston wie eine Marionette durch hypnotische Willensbeeinflussung in schändlichster Weise für seine Zwecke ausgenutzt hatte. –

Die Leser meiner Berichte über Harald Harsts Orientabenteuer werden sich auf den Ausgang unseres Kampfes gegen Warbatty-Palperlon noch besinnen. Palperlon war uns entschlüpft. Sein Abschiedsgruß für meinen Freund Harst war vielsagend genug gewesen:

„Hüte Dich! Ich bin stets um Dich!“

Das war eine Drohung, die man nicht unbeachtet lassen durfte.

Harst hatte denn auch auf der Überfahrt von Kalkutta nach Hamburg stets in derselben Weise alle Vorgänge und Menschen ringsum mißtrauisch beobachtet, wie ihm dies zur zweiten Natur geworden war. Er verstand es meisterhaft, dieses stete Auf der Hut Sein zu verbergen. Auf unserem Dampfer war er natürlich bald der Mittelpunkt eines erlesenen Kreises von Mitreisenden geworden, die in ihm nicht nur den berühmtesten Liebhaberdetektiv der Gegenwart, sondern auch den liebenswürdigen, vielseitig gebildeten und interessanten Menschen verehrten.

Unser prächtiges Schiff war jetzt am Kai vertäut. Es war gerade Mittag. Die Sirenen der zahllosen Dampfer und Fabriken heulten; Glockenklänge schwebten über die alte, ruhmreiche Alster-Hansastadt hin.

Unsere Koffer waren gepackt. Wir führten ja nur jeder einen mit uns. Wir standen neben Kapitän Rickmer auf der Kommandobrücke, dankten ihm nochmals für den Genuß dieser Seereise auf seinem schwimmenden Luxushotel und wollten gerade wieder auf das Deck hinabsteigen, als einer der Stewards des Schiffes die Treppe emporeilte, in der Hand ein briefähnliches Päckchen.

„Für Sie Herr Harst,“ erklärte er atemlos. „Der Überbringer, ein Dienstmann, sagte, es eile sehr.“

Harst wog das schmale, in einem gelben Umschlag steckende Etwas in der Hand, schaute dann auf die Aufschrift.

Ich las über seine Schulter mit.

Eilt sehr! Sofort öffnen!

Herrn Harald Harst

z. Z. Hamburg.

Das war alles. Die Maschinenschrift dieser Adresse war miserabel. Es mußte eine ganz klapperige Maschine benutzt worden sein, die die Buchstaben teilweise schief, teilweise über und unter die Linie setzte.

„Welche Nummer?“ fragte Harst den Steward kurz, ohne von dem Päckchen aufzublicken.

„Wie meinen Sie, Herr Harst?“

„Nun – die Nummer des Dienstmanns!“

„Oh – darauf habe ich nicht geachtet.“

„Schade!“

Und dieses eine Wort genügte mir, mich unruhig zu machen. Ich kenne meinen Freund und Brotherrn ja (dem Namen nach bin ich sein Privatsekretär noch immer, aber nur deshalb, damit er mir das hohe Gehalt weiterzahlen kann!); ich weiß, daß er nie einen Ausdruck aus Gedankenträgheit falsch wählt. Jedes bei ihm ist mit Absicht ausgesprochen. Jeder Satz könnte kaum kürzer und treffender gebildet werden. Bei einem Manne wie ihm, dessen Hirn dauernd sozusagen im Training ist, nimmt das nicht weiter Wunder.

In diesem „Schade“! lag der Hinweis darauf, daß er dieser Sendung nicht recht traute, daß er dahinter etwas besonderes und zwar etwas uns nicht Günstiges vermute.

Er schob das Päckchen in die Tasche. Als wir dann in unserer gemeinsamen Luxuskabine waren, wo unsere Koffer mitten auf dem Teppich standen, zog er es wieder hervor, meinte:

„Ich fürchte, wir werden von der Heimat sofort mit einer kleinen Aufregung begrüßt. Sehen wir, ob es wirklich nur eine kleine ist.“

Er schnitt den Umschlag auf. Darin lag ein schmales Pappkästchen. Es war mit weißer Watte gefüllt. Und diese Watte hüllte – eine Brosche ein!

Eine Brosche, eine Gemme[1] in Goldfassung, – ein sehr altes und wertvolles Schmuckstück.

Ich erkannte es sofort wieder. Es gehörte Harsts Mutter, die es dauernd trug.

Frau Auguste Harst, die Witwe des als mehrfacher Millionär gestorbenen Tischlermeisters und späteren Holzhändlers Emil Harst, hing an ihrem einzigen Kinde mit einer Liebe, die Harald ihr in gleicher Weise vergalt.

Frau Auguste war noch vom alten Schlage. Der Reichtum hinderte sie nicht, in der Wirtschaft überall mit anzufassen. Die kleine rundliche, stets so geschäftige Dame mit dem schwarzen Spitzenhäubchen auf dem falschen Scheitel hatte auch mich sehr bald in ihr gütiges Herz miteingeschlossen. Das Haus Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, war meine Heimat geworden. Ich hatte ja nie so recht ein Elternhaus gekannt. Das Leben hatte mir übel mitgespielt. Erst Harald Harst brachte mich, den Taschendieb und früheren Schauspieler, auf den rechten Weg zurück.

All das schoß mir wieder durch den Kopf, als ich die Brosche erkannte und als mit ihr notwendig auch trauliche Bilder aus meines Freundes Heim vor mir auftauchen mußten.

Mein Blick streifte etwas scheu Haralds Gesicht. Denn – er hatte ja nicht zu Unrecht von einer Aufregung gesprochen! Dieses Schmuckstück, das ihm soeben auf so merkwürdige Art ohne jedes Begleitwort zugestellt worden war, weckte auch in mir nun bange, ungewisse Gedanken.

Harsts schmales, gebräuntes Gesicht war seltsam fahl geworden. Die langen, dunklen Wimpern bedeckten die grauen Augen fast ganz. Seine Hand zitterte leicht. Das Kästchen bebte mit. Und auf dem weißen Wattelager ruhte die kostbare Gemme wie ein drohendes Rätsel.

Zwei – drei Minuten verstrichen.

„Harst!“ mahnte ich leise.

Er schaute auf. Sein Blick traf mich. Aber dieser Blick sah mich offenbar nicht, mußte irgendwo in der Ferne irgend welche Dinge sehen, die wohl imstande sind, das Leben aus Menschenaugen scheinbar zu verdrängen. Der Blick war tot, und doch lag darin eine namenlose Angst.

„Harst,“ sagte ich abermals.

Seine Linke umkrallte plötzlich meinen Arm.

„Geh’, besorge ein Auto, einen Rennwagen, der uns sofort nach Berlin bringt!“ stieß er hervor.

Und es war etwas in dem Ton dieser Stimme, das mir ein Frösteln über den Leib jagte.

„Geh! Ich erwarte Dich hier an der Anlegestelle mit unseren Koffern!“ Das klang bereits energischer.

Ich eilte davon. Zwanzig Minuten später saß ich bereits in dem langen Rennwagen. Der Chauffeur fuhr wie der leibhaftige Teufel. Ich hatte ihm hundert Mark Trinkgeld versprochen.

Harst nickte mir dankbar zu, als wir neben ihm anhielten. Im Nu waren die beiden Koffer festgeschnallt. Dann ging’s weiter.

Harst lehnte ganz tief in den Polstern des offenen Wagens. Er hatte die Augen geschlossen, schien zu schlafen. Ich wußte: er wollte nicht gestört sein.

Wir rasten durch die Vorstädte, Dörfer, kamen auf die freie Chaussee. Der Chauffeur hockte wie ein Gnom ganz zusammengekrümmt auf dem Führersitz. Hinter uns drein wehten verschwommen die Flüche von Fuhrwerksbesitzern, deren Gäule unser knatterndes, dahinschießendes Auto scheu gemacht hatte.

Eine Erinnerung kam mir: an jene Autofahrt von Warnemünde nach Berlin, als wir den Holländer Bleulenhook verfolgt hatten. Ich habe unser damaliges Abenteuer unter dem Titel „Der Tigerwagen“ bereits in Band 8 des „Detektiv“ geschildert. Ich dachte jetzt daran, wie eigenartig sich damals der Mord an der Baronin van den Brough aufgeklärt, was alles wir in der Menagerie Sellerheim erlebt hatten.

Und jetzt? Was würde sich jetzt ereignen? Oder – was hatte sich schon ereignet?! – Weshalb diese Hetzjagd nach Hause, nach Berlin? – Weshalb?

Ich hatte Zeit genug, darüber nachzudenken. Und ich kam zu der Überzeugung, daß die Brosche nur gestohlen sein konnte und daß Harst einen größeren Einbruch im Hause seiner Mutter befürchtete, bei dem diese vielleicht von den Dieben überfallen und verletzt worden war.

Eine halbe Stunde waren wir nun unterwegs. Da regte Harst sich, holte das Päckchen hervor und reichte es mir. Dann beugte er sich vor, nahm einen Bleistift und sein Federmesser zur Hand, sagte:

„Halte das Pappkästchen ganz tief. Ich will den Deckel mit Graphit bestreuen.“

Er schabte mit der kleinen Klinge von der Bleistiftspitze feine Stäubchen ab, verrieb nun den schwärzlichen Staub mit dem Finger vorsichtig auf dem Deckel und – rief so das undeutliche Bild des Linienmusters von drei Fingerspitzen hervor, von denen die mittlere eine Narbe haben mußte, denn es gab da eine schmale, freie Stelle in dem Muster.

Ein leises „Palperlon!“ entfuhr mir. James Palperlon besaß ja eine solche Narbe am rechten Mittelfinger. Harst hatte den Fingerabdruck damals in Indien an einem Kofferbeschlag entdeckt und auch abgezeichnet.

„Ja! Palperlon! Er meldet sich!“ sagte er nun und richtete sich wieder auf. „Er ist schlau, raffiniert, fraglos ein Genie in seiner Art. Nur daran denkt er nicht, daß ein Mensch wie er, der an so schweißfeuchten Händen leidet, nur mit Handschuhen Dinge anfassen sollte, die vielleicht wie dieses Schächtelchen von geschulten Augen gemustert werden. Schon in unserer Kabine bemerkte ich diese Fingerabdrücke wie einen ganz schwachen, fettigen Hauch auf dem weißen Glanzpapier, mit dem das Schächtelchen beklebt ist.“

„Und Du dachtest da auch bereits an Palperlon als den Absender der Brosche?“ fragte ich, obwohl die Frage eigentlich überflüssig war.

„Ich ahnte dies, als der Steward die Treppe zur Brücke emporkeuchte,“ meinte er in seiner selbstverständlichen Art, die nie als Prahlerei irgendwie wirkt. „Wer wußte denn, daß wir heute in Hamburg eintreffen würden? Niemand! Nicht einmal meine Mutter, die ich doch eben überraschen wollte. Nur einer konnte es wissen: der Mann, der mir gedroht hat: „Ich bin stets um Dich“!“

Bei dem Worte Mutter hatte sich sein Blick wieder für einen Moment nach innen gerichtet.

„Ich war darauf gefaßt, daß Palperlon mir die Freude der Heimkehr irgendwie trüben würde,“ fuhr er fort. „An irgend einen Gewaltstreich gegen meine Mutter hatte ich allerdings nicht gedacht. Es muß ein solcher verübt sein. Die Brosche ist meiner Mutter wertvoller als ihr ganzer übriger Schmuck. Es ist das erste kostbare Geschenk, das mein Vater ihr machen konnte. Deshalb trug sie die Brosche auch stets.“

„Vielleicht ein Einbruch, ein Diebstahl?“ sagte ich unsicher.

„Aber Schraut! Ein Palperlon und Schmuck stehlen, der insgesamt vielleicht 100 000 Mark Wert hat?! Ein Palperlon, der nur Millionenobjekten nachjagt?! – Nein – es muß Schlimmeres vorliegen. Palperlon bekommt alles fertig, selbst –“ seine Stimme sank zum Flüstern herab – „selbst einen Mord!“

„Das wäre ja –“

„Ja – das wäre eine Rache an mir, die ich ihm sehr wohl zutraue! Bedenke: wir haben ihm durch seine sämtlichen, so fein vorbereiteten Pläne in Indien einen dicken Strich gezogen! Um Millionenwerte haben wir ihn geschädigt. Ohne uns wäre dieser Mensch, der offenbar an Gold- und Brillantengier in krankhaftem Maße leidet, jetzt ein Krösus! Hat er da nicht allen Grund, mich so schwer zu treffen, wie es ihm irgend möglich ist?!“

Ich schwieg. Ich mußte Harst recht geben.

In demselben Augenblicke verlangsamte unser Rennwagen seine Geschwindigkeit.

Wir schauten die Chaussee entlang. Vor uns lag ein Dorf, eingebettet in weite Obstgärten. Rechts von der Straße erhob sich ein schloßähnlicher Bau, dessen Front nach der Chaussee zeigte. Die Parkmauer des feudalen Herrensitzes reichte bis dicht an den Straßengraben. Eine Allee von Pyramidenpappeln lief auf das weiße Gebäude zu.

Und gerade in einer Höhe mit dem schmiedeeisernen Parktor waren über die Straße zwei Ackerwagen so gestellt, daß sie für uns eine vollkommene Sperre bildeten.

Vor diesen Wagen standen eine Anzahl Männer, Weiber und Kinder. Darunter aber auch zwei Herren, denen man die Gutsbesitzer oder Gutsinspektoren sofort ansah.

Einer der beiden, ein schlanker Mann mit blondem Schnurrbärtchen, trat nun zu uns an den Wagenschlag heran, faßte leicht an das grüne Jägerhütchen und sagte sehr scharfen Tones:

„Mein Name ist von Tondra. Ich bin der Amtsvorsteher dieses Bezirks. Ich erkläre Sie für verhaftet. Steigen Sie aus. Das Auto bleibt ebenfalls hier.“

Harst schien Ähnliches vorausgesehen zu haben.

„Und weshalb?“ fragte er, indem er sich langsam erhob.

„Weil Sie in der Nähe des Dorfes Moscheln eine Frau tot gefahren haben. Der dortige Gemeindevorsteher hat diese unerhörte Rücksichtslosigkeit, die schon allein in dem Einschlagen eines so wahnwitzigen Tempos liegt, wie Sie hier angerast kamen, mir telephonisch gemeldet und mich gebeten, Sie zu verhaften.“

Harst öffnete den Wagenschlag und stieg auf die Straße, faßte nun seinerseits ebenso zwanglos an die Sportmütze und nannte seinen Namen.

„Mein Begleiter dort ist mein Freund Schraut,“ fügte er hinzu. „Vielleicht sind unsere Namen Ihnen nicht ganz fremd. Ich bin der als Liebhaberdetektiv einigermaßen bekannte Harst. Hier ist mein Ausweis nebst Photographie – bitte!“

Er hatte das amtliche Papier seiner Brieftasche entnommen. Das Lichtbild darauf war so ähnlich geraten, daß Herr von Tondra sofort sehen mußte, daß kein Unbefugter sich hier als Harst aufspielte.

Er wurde denn auch höflicher, zuckte bedauernd die Achseln und erklärte:

„So leid es mir tut, meine Herren, – ich muß Sie hier festhalten, bis der Amtsrichter aus der nahen Kreisstadt eintrifft, den ich bereits von der fahrlässigen Tötung verständigt habe. Er kann leider erst abends kommen, da er heute Schöffengerichtssitzung hat, die meist bis in den Spätnachmittag hinein dauert.“

„Sie sind das Opfer einer raffinierten Hinterlist,“ sagte Harst nun lebhaft. „Wir haben keine Frau überfahren. Mein Wort darauf, Herr von Tondra. Ich habe es sehr eilig. Ich muß unbedingt nach Berlin. Meiner Mutter ist etwas zugestoßen. Ich verpflichte mich, morgen wieder hier zu sein und diesen heimtückischen Streich, dessen Hauptopfer ich bin, aufzuklären.“

„Was heißt das, Herr Harst?“ fragte Tondra kopfschüttelnd. „Hauptopfer? Ich begreife nicht, was –“

„Sehr einfach: es gibt Leute, die mir Rache geschworen haben. Und diese Leute wollen mir Ungelegenheiten bereiten, wollen mich hier in eine Untersuchung wegen fahrlässiger Tötung hineinziehen, damit ich nicht nach Berlin kann!“

„Verzeihung, – auch jetzt ist mir die Sache nicht klar, Herr Harst. Von einer Hinterlist oder einem heimtückischen Streich kann hier doch keine Rede sein, da eine Frau von Ihrem Auto tatsächlich überfahren und getötet wurde. Der Gemeindevorsteher Hecht aus Moscheln ist ein viel zu besonnener Mann, um mir Dinge zu melden, die er etwa nur vom Hörensagen weiß. Er hat ja die Leiche der Frau gesehen und in den Keller des Gemeindebureaus schaffen lassen.“

Harst nickte. „Mag sein, Herr von Tondra. Trotzdem liegt hier eine fein ausgeklügelte Schurkerei und offenbar auch ein Mord vor. – Ein Vorschlag: fahren wir zusammen nach dem Tatort zurück. Ich werde Ihnen in einer Stunde den Beweis liefern, daß die tote Frau nicht auf unser Konto kommt.“

Tondra zögerte erst, war dann aber einverstanden. Er nahm auch seinen Gutsrendanten, einen Herrn Schäfer mit. Dies war der zweite Herr, der vor der Sperre gestanden hatte.

Unser Auto wendete. Es ging denselben Weg zurück, nur in mäßigerem Tempo. Nach zwanzig Minuten senkte sich die Chaussee in ein Tal hinab. Und hier lag an einem kleinen See das Dorf Moscheln. –

Ich möchte hier einflechten, daß ich Personen- und Ortsnamen in diesen Aufzeichnungen über Harsts Abenteuer zumeist verändert habe. Nur wo hierzu keinerlei Grund vorlag, benutzte ich die richtigen Namen. Man wundere sich also nicht, wenn man Moscheln und so weiter auf keiner Karte findet. Die Beschreibung der Örtlichkeit stimmt jedoch mit den tatsächlichen Verhältnissen überein. –

Gemeindevorsteher Hecht hielt gerade Mittagsschlaf. Er war ein Hüne, dem nichts imponierte, besonders kein Detektiv. Seine blauen Augen streiften Harst und mich etwas geringschätzig, als Tondra ihm erklärte, weshalb wir ihn hatten wecken lassen.

„So, so – also Sie behaupten, Sie haben die Frau nicht totgefahren?!“ meinte er zu Harst. „Na – ich habe einen Zeugen, der die Sache mir gemeldet und auch gleich seine Aussage zu Protokoll gegeben hat.“

„Wie heißt der Zeuge? Kennen Sie ihn bereits längere Zeit?“ fragte Harst ungeduldig.

„Natürlich kenn ich ihn. Der Herr lügt nicht. Es ist ein Berliner Kunstmaler namens Gräbner, Ernst Gräbner.“

Wir saßen in der sogenannten guten Stube der Wohnung des verheirateten Hünen. Harst lehnte mit über der Brust verschränkten Armen an dem mächtigen braunen Kachelofen.

„Wie lange kennen Sie ihn?“ forschte Harst weiter, und in seiner Stimme mehrte sich die drohende Schärfe angesichts des ganzen Benehmens dieses Herrn Dorfkönigs.

Hecht runzelte die Stirn. „Hören Sie mal, Herr Harst, – ob Sie ein berühmter Detektiv sind, wie Herr von Tondra behauptet, – das ist mir verflucht egal. Für mich sind Sie mitverantwortlich an einem Verbrechen, das in meinem Bezirk verübt ist. Und deshalb habe ich als Inhaber der Polizeigewalt Sie zu vernehmen, nicht umgekehrt.“

„Ganz recht, Herr Hecht. Das dürfen Sie natürlich. Nur dürfen Sie mich nicht auf das Zeugnis eines Menschen hin als Verbrecher behandeln, der ganz fraglos erst kurze Zeit Ihnen bekannt ist und der sehr wahrscheinlich jetzt nicht mehr hier weilt, sondern abgereist ist.“

Hecht wurde stutzig. „Hm, Sie haben recht. Er ist nicht mehr in Moscheln. Aber er kommt übermorgen zurück. Er wollte nur in der Kreisstadt etwas einkaufen und ist mit seinem Rade vor einer halben Stunde –“

Harst winkte ab. „Dachte ich mir! – Er wird nicht zurückkehren, Herr Hecht! – Ob er seine Sachen, Koffer und so weiter, mitgenommen hat?“

„Koffer?! Er kam vorgestern abend nur mit Rad und Rucksack her, mietete bei der Witwe Gundlach für drei Wochen ein Stübchen und –“

„Ah – also Ihre Bekanntschaft reicht einen Tag zurück, Herr Hecht!“ unterbrach Harald den jetzt doch etwas verlegen werdenden Gemeindevorsteher. „Mithin stimmt beides: Sie kennen diesen angeblichen Maler kaum, der seine Aussage zu Protokoll gab und dann verschwand und auch nicht wiederzufinden sein wird. – Ich wußte das alles voraus. Darf ich nun vielleicht so einiges fragen, Herr Hecht?“

„Bitte, Herr Harst.“ Mit des Hünen übergroßem Selbstbewußtsein war’s nun vorbei. Ich sah, daß Herr von Tondra, der sich hier völlig neutral verhielt, ein wenig lächelte.

„Hat die angebliche fahrlässige Tötung noch andere Zeugen gehabt?“ begann Harst jetzt weit lebhafter.

„Nein.“

„Kann ich das Protokoll, also die Zeugenaussage dieses Gräbner, einmal lesen? Das erspart zeitraubende Fragen.“

„Gewiß. Ich habe es drüben im Wohnzimmer. – Einen Augenblick –“ Hecht ging hinaus.

Harst warf Tondra einen besonderen Blick zu. „Dieser Riese besitzt die Naivität eines Kindes,“ meinte er leise.

Hecht trat ein und reichte Harst den Bogen.

Das Wichtigste las Harald dann laut vor.

Gräbners Aussage lautete: „Ich befand mich auf der Fahrt nach der Kreisstadt etwa 500 Meter südlich des Dorfes in dem Birkengehölz und war gerade vom Rade gestiegen, weil der Hinterpneumatik zu wenig aufgepumpt war, als ein Auto aus der Richtung des Dorfes herangerast kam. Es war ein hellblau gestrichener Rennwagen mit drei Personen darin; Chauffeur vorn und zwei Herren auf dem Rücksitz. Ich bemerkte vor mir gleichzeitig eine Frau, die mitten auf der Chaussee kniete und an ihren Schuhen herumzunesteln schien. Als sie das Auto hörte, lief sie völlig kopflos hin und her. Da hatte der Wagen sie auch schon gepackt, warf sie zu Boden und ging über ihre Brust mit den linken Rädern hinweg. Die Insassen des Autos auf dem Rücksitz wandten sich um und müssen die auf der Straße regungslos Daliegende unfehlbar gesehen haben, fuhren aber weiter. Schuld an dem tödlichen Unfall sind lediglich die Automobilisten, die nicht einmal den Versuch machten, durch Bremsen das Unheil zu verhüten. – Ich lief nach der keine achtzig Meter entfernten Unfallstelle hin. Die Frau gab noch schwache Lebenszeichen von sich. Dann fuhr ich eiligst nach dem Gemeindebureau und meldete das Beobachtete, worauf der Gemeindevorsteher sogleich an einen Amtsvorsteher in Richtung Berlin telephonierte, damit das hellblaue Auto aufgehalten würde. Als wir nachher an die Unfallstelle kamen, war die Frau tot. – Ich versichere, daß diese meine Angaben in allen Punkten der Wahrheit entsprechen. Ich beabsichtige, übermorgen aus der[2] Kreisstadt nach Moscheln wieder zurückzukehren. – Ernst Gräbner, Kunstmaler.“

„Ganz schlau ersonnen,“ meinte Harst nun und legte das Protokoll auf das Tischchen neben dem Ofen. „Wahr davon ist jedoch eben nur, daß die Frau tot und der Maler davongefahren ist. – Könnte ich jetzt einmal die Leiche sehen. Ich vermute, es wird eine –“

Er stockte plötzlich; sein Kopf flog hoch.

„Herr Gott,“ rief er dann, „ist es etwa eine kleine gutgenährte, ältere Frau mit leicht ergrautem, gescheiteltem Haar?“

Auch ich war von meinem Stuhl vor Entsetzen hochgeschnellt! Auch ich dachte erst in diesem Moment an die Möglichkeit, die Tote könnte Harsts Mutter sein, – das Opfer der Rache James Palperlons! Es konnte ja sein – konnte! Die Gemmenbrosche deutete ja fast darauf hin!

Ah – wie erleichtert atmete ich auf, als Hecht kopfschüttelnd erwiderte:

„Im Gegenteil, die Frau ist jung und gehört offenbar zu den begüterten Volksschichten.“

Da entschlüpfte Haralds Lippen ein lautes: „Gott sei Dank!“

Dann gingen wir nach dem Gemeindehause. Der Keller, in dem die Tote lag, war dunkel. Harst und ich trugen die Leiche daher auf den Hof. Oben auf der Toten lag ihr Hut, ein sehr schicker kleiner Herbsthut. Das blaue Kostüm der vielleicht 25 Jahre alten Frau war über und über mit Chausseestaub bedeckt. Aus dem Munde waren zwei dünne Blutfäden das Kinn hinabgelaufen. Der Ausdruck des regelmäßigen, fast hübschen Gesichts war in keiner Weise abschreckend.

„Haben Sie die Taschen der Toten durchsucht?“ fragte Harst nun. „Ich nehme an, die Frau ist Ihnen fremd, Herr Hecht.“

„Allerdings. Niemand hier kennt sie. – Nein – ich habe die Kleider nicht angerührt. Das überlasse ich dem Amtsrichter.“

„Nun – der wird nichts finden. Ich behaupte, die Tote hat nichts bei sich, was zu ihrer Identifizierung führen könnte. Darf ich einmal nachsehen?“

Hecht nickte, und Harald kniete nun neben der Leiche nieder und untersuchte sie auf seine Weise, öffnete auch die hellseidene Bluse, das Mieder und befühlte den eingedrückten Brustkasten, beugte sich ebenso ganz tief über den halb offenen Mund der Frau und schien mit der Nase irgend einen besonderen Geruch feststellen zu wollen.

Dann stand er auf.

Wir drei, Tondra, Hecht und ich, blickten ihn gespannt an.

„Die Frau war schon tot, als sie von dem angeblichen Gräbner auf die Chaussee gelegt wurde. Sie ist vergiftet worden,“ sagte er leise und geistesabwesend. „Ja – vergiftet mit Blausäure! Der typische Bittermandelölgeruch entströmt dem Munde jetzt noch recht stark. Nach zwei Stunden freilich wäre nichts mehr davon zu bemerken gewesen, und der Kreisarzt hätte ganz sicher erklärt: Tod durch Verletzung der Lungen und durch innere Verblutung infolge Zermalmung des Brustkorbs! – Der Mörder dieser Frau hat damit nicht gerechnet, daß ich so schnell hier sein würde und daß so seine Untat entdeckt werden könnte.“

Der Hüne und Herr von Tondra schauten sehr ungläubig drein.

Nun – wir hatten insofern Glück, als gerade jetzt der von Hecht gleichfalls herbeigerufene Kreisarzt erschien, der mit einem Wagen herübergekommen war.

Als er Harsts Namen hörte, war er sofort die Liebenswürdigkeit selbst. Er untersuchte die Leiche, konnte aber keinen Bittermandelölgeruch wahrnehmen, bis Harald ihm zuraunte: „Drücken Sie stark und stoßweise auf den Magen.“

Da nickte der Doktor eifrig. „Ja – es ist Bittermandel,“ meinte er. Und nach weiteren fünf Minuten, als er den Brustkorb sehr sorgfältig befühlt hatte, erklärte er weiter: „Die Rippen sind nicht durch Autoräder eingedrückt. Ich vermute, man tat es durch Tritte mit den Füßen.“

„Ganz recht,“ bestätigte Harst. Hier auf der hellen Bluse sind auch Flecke auf der Vorderseite, die von Schuhsohlen herrühren können.

Mir war diese Szene nichts Ungewohntes. Ich hatte als Harsts Privatsekretär schon andere Dinge erlebt, bei denen sich mir die Haare vor Entsetzen gesträubt hatten.

Aber Hecht und Tondra waren recht blaß und verhehlten auch nicht, daß diese Untersuchung der halb entblößten Leiche ihnen stark an die Nerven ging.

Die Tote wurde von uns dann in den Keller zurückgetragen. Wir kehrten in die Wohnung Hechts zurück. Hier gab Harst seine Aussage zu Protokoll, ebenso nachher unser Chauffeur und ich. Wir versicherten an Eidesstatt, keinen Menschen überfahren zu haben, und Harald hatte noch das hinzugefügt, was seine Annahme stützte, daß hier sowohl ein Mord als auch gleichzeitig ein gegen ihn gerichtetes Bubenstück vorliege, damit er hier verhaftet und auch längere Zeit in Haft behalten würde.

Inzwischen hatte Hecht auf Harsts Wunsch nach der Kreisstadt telephonieren und dort im Hotel Drei Kronen (dies hatte Hecht dem Maler empfohlen) anfragen müssen, ob dort ein gewisser Gräbner eingetroffen sei. Die Antwort lautete verneinend. Genau so negativ fielen weitere Anfragen in den beiden anderen Hotels aus. Da Gräbner mittlerweile die Stadt längst hätte erreicht haben müssen, war Harsts anfängliche Behauptung, der Maler sei entflohen, schon jetzt ziemlich sicher bewiesen.

Harst schickte dann unser Auto nach der Kreisstadt, das nach einer weiteren Stunde den Amtsrichter nach Moscheln brachte. Dieser prüfte den Sachverhalt nur kurz und erklärte dann, er könne die Verhaftung nicht aufrecht erhalten.

Wir waren frei. Kurz nach fünf Uhr nachmittags bei anbrechender Dämmerung fuhren wir weiter. Unser Abschied von den Herren, die wir in Moscheln zurückließen, war[3] herzlich. Harst hatte dem Amtsrichter noch versprochen, den Mord an der Unbekannten, sobald es seine Zeit irgend erlaube, aufklären zu wollen, falls die zuständigen Behörden bis dahin keinen Erfolg gehabt hätten.

Unser Chauffeur stellte wieder Höchstgeschwindigkeit ein, sobald wir freie Chausseestrecken vor uns hatten. Um ½7 abends hielt unser Auto vor der Gitterpforte des Vorgartens Blücherstraße 10 in Berlin-Schmargendorf.[4]

Daheim! Nun ganz daheim!

Aber – was würden die nächsten Minuten bringen?

Harst stürmte ins Haus. Ich bezahlte den vereinbarten Mietspreis für den Rennwagen an den Chauffeur, gab noch ein sehr anständiges Draufgeld und nahm den einen Koffer in die Hand, der Chauffeur den anderen. Als wir die drei Stufen zur Haustür emporstiegen, wurde sie von innen aufgerissen.

Harst stand in der offenen Tür – leichenblaß.

„Schraut – meine Mutter ist seit gestern nachmittag spurlos verschwunden,“ preßte er ganz heiser hervor. „Und – sie trug gestern wie immer die Gemmebrosche! Also – James Palperlon –! Er – er hat sie – entführt, er hat sie in seiner Gewalt, er wird mich nun zwingen, von ihm abzulassen, sonst – sehe ich meine Mutter nicht wieder!“

– – – – – – – –

Mir war der Koffer vor Schreck aus der Hand geglitten. Polternd rutschte er die Stufen hinab.

Hinter Harst tauchte jetzt das verstörte, verweinte Gesicht der treuen Köchin Malwine auf.

Und – noch ein anderes, jüngeres Gesicht: das des inzwischen zum kräftigen Burschen herangewachsenen Karl Malke, des Sohnes eines früheren Kutschers von Harsts Vater. Frau Malke bewohnte das Gärtnerhäuschen des Harstschen Gartens, und Karl, ein sehr aufgeweckter echt Berliner Junge, war zuweilen von Harst ebenfalls als Gehilfe bei seinen Ermittlungen benutzt worden. Diejenigen Leser, die zum Beispiel unser unter dem Titel „Der Mord im Sonnenschein“ veröffentlichtes Abenteuer gelesen haben, dürften sich auf Karl noch besinnen, der damals ja im Hotel Sonnenschein den Liftboy und Detektiv mit so viel Geschick gespielt hatte.

Auch Karls Gesicht sah man die Trauer über den herben Schlag deutlich an, der seinen verehrten Herrn Harst nun so jäh gleich bei der Heimkehr getroffen hatte. Er nickte mir trübe zu, und auch die alte Malwine schluchzte:

„Ach lieber Herr Schraut, – das Unglück, das Unglück!“

Harst hatte sich bereits wieder gefaßt, nahm dem Chauffeur den Koffer ab, dankte ihm noch für die schnelle Fahrt und ging in seine im Erdgeschoß rechter Hand liegende, nun seit einem Jahr nicht mehr betretene Wohnung. Die meinige lag links vom Flur. Aber auch ich trat jetzt mit bei Harald ein, wo dieser dann Malwine sogleich auszufragen begann. –

Frau Auguste Harst war gestern nachmittag kurz nach vier Uhr zu Fuß ausgegangen. Sie war daran gewöhnt, täglich mindestens eine Stunde die Schaufenster in der Tauentzienstraße[5] und am Kurfürstendamm Berlin W sich anzusehen. Von diesem Spaziergang, der in den Tagen vorher stets gegen sechs Uhr beendet zu sein pflegte, war sie nun gestern nicht zurückgekehrt.

Als es acht Uhr geworden, hatte die Köchin sich um sie zu sorgen begonnen, hatte mit Frau Malke und Karl, die während unserer Orientreise im Hause selbst auf Harsts Wunsch untergebracht worden waren (denn andere Dienstboten als nur Malwine hielt Frau Harst nicht), das Ausbleiben der alten Dame durchgesprochen und auf Karls Vorschlag dann Haralds guten Freund, den Kriminalkommissar Bechert, telephonisch angerufen und ihn gefragt, was sie wohl unter diesen Umständen, die doch darauf hindeuteten, daß Frau Harst etwas zugestoßen sei, tun solle.

Mittlerweile war es ¼10 abends geworden. Bechert hatte Malwine den Rat gegeben, ihrerseits gar nichts zu unternehmen; er würde das Nötige veranlassen.

Die Nacht verging. Der Morgen kam. Aber Frau Harst blieb verschwunden. Um neun Uhr vormittags fand sich Bechert in der Blücherstraße ein. Er hatte den ganzen Polizeiapparat in Tätigkeit gesetzt, um aufzuklären, wo Frau Harst geblieben sein könne. Keinerlei Erfolg! Weder auf einer Unfallstation noch sonstwo war sie etwa krank eingeliefert worden.

Bechert tröstete Malwine und setzte dann die Nachforschungen persönlich fort, war nachmittags um zwei abermals bei der untröstlichen Malwine gewesen, hatte jedoch wieder nur berichten können, daß nirgends, aber auch nirgends etwas von der alten Dame zu entdecken sei. –

Dies alles erzählte uns Malwine in Harsts elegant eingerichtetem Arbeitszimmer in Gegenwart Karl Malkes, der jetzt Schreiber bei einem Rechtsanwalt war, sich aber seit gestern hatte Urlaub geben lassen. – Die treue Köchin zerfloß förmlich in Tränen. Harst schickte sie nun in die Küche, damit sie für uns etwas zum Abendbrot herrichte.

Karl blieb bei uns und begann nun zögernd, indem er verlegen an seinen Manschetten zupfte:

„Herr Harst, ich hab’s ja heute nachmittag schon Herrn Bechert erzählt. Aber der gab nichts darauf.“

Pause. – Wir waren aufmerksam geworden.

„Weiter, weiter,“ meinte Harald ungeduldig.

„Ja – die Sache ist die, Herr Harst. – Unserem Hause gegenüber lag doch früher, bis zu diesem Frühjahr, ein Holzplatz mit hohem Bretterzaun. Sie werden wohl gesehen haben, daß der Holzplatz verschwunden und an seiner Stelle fünf Neubauten entstanden sind, von denen aber nur das Haus Nr. 14 uns vis-a-vis schon fertig und auch zum Teil schon bezogen ist. Da ich oben in der Giebelstube jetzt schlafe – nach vorn heraus, kann ich auch das Fenster des Ateliers bequem beobachten, das in dem Neubau Nr. 14 ganz oben sich befindet. Dieses schräge Riesenfenster mit seinen Mattscheiben war nun bis vor acht Tagen abends nie erleuchtet, – also wohl kaum bewohnt, dachte ich mir. Aber dann sah ich plötzlich Licht hinter dem Fenster und fragte daher den Portier von Gegenüber, ob das Atelier nun vermietet sei. Der Portier ist sehr zugänglich, und er erzählte mir, eine Dame habe es gemietet, die dort ein Geschäft für künstlerische Lichtbildvergrößerungen einrichten wolle. Sie heißt Maud Simpkinson und ist wohl Deutschamerikanerin. – Ich pflege abends noch immer recht lange am offenen Fenster zu sitzen, Herr Harst. Und – daß ich meine Nase gern in Dinge stecke, die anderen Menschen gleichgültig sind, daß ich auch so einiges Talent zum Beobachten habe und daß mir manches auffällt, woran die meisten achtlos vorbeischaun, das wissen Sie ja. Ich habe mich während Ihrer Abwesenheit in dieser Beziehung nicht geändert. Und bei Rechtsanwalt Blauk wurde ich auch nur deshalb Schreiber, weil er doch lediglich Strafsachen bearbeitet und weil ich bei ihm sehr oft Gelegenheit finde, so ein wenig Detektiv zu spielen.“

„Kürzer, Karl, – kürzer!“ mahnte Harst.

„Ja – und so habe ich denn drüben an dem Atelierfenster auch so verschiedenes bemerkt, das mir sonderbar vorkam, nämlich recht komische Schattenbilder, – Schatten von –“

Draußen im Flur schrillte die Glocke plötzlich so anhaltend, daß Karl auf einen Wink Harsts hinauseilte.

Der Besucher war unser alter Bekannter Kommissar Bechert.

Er begrüßte Harst sehr herzlich, aber auch mit sehr ernster Miene.

„Leider bringe ich noch immer keine tröstliche Nachricht,“ sagte er dann. „Ihre Mutter, lieber Harst, ist tatsächlich wie vom Erdboden verschwunden. Sie können sich denken, daß ich nichts verabsäumt habe, sie zu finden. Ich habe –“

Harst unterbrach ihn müde. „Ich weiß, daß Sie alles taten, was Sie nur konnten, Bechert. Ich danke Ihnen auch von Herzen dafür. – Ich weiß jedoch ebenso bestimmt, daß Ihre Nachforschungen ergebnislos bleiben mußten. Meine Mutter ist entführt worden und wird irgendwo gefangen gehalten. – Ich begreife Ihr Erschrecken, auch den leisen Zweifel in Ihren Augen. Sie werden sehr bald zugeben, daß ich mit meiner Annahme recht habe.“

Er schilderte kurz, was uns seit der Landung in Hamburg begegnet war.

„Demnach gibt es für all das nur eine Erklärung,“ schloß er seine Ausführungen. „Palperlon ist mir voraus nach Deutschland gereist, hat diesen Hauptstreich, die Entführung meiner Mutter, vorbereitet und ebenso das in vieler Beziehung rätselhafte Drama in dem Dorfe Moscheln. Er muß Helfershelfer haben. Allein hätte er dies weder vorbereiten noch vollenden können. Seine Absicht war ein doppelte: mich durch die Brosche in Unruhe zu versetzen und mich dann weiter noch mehr dadurch zu peinigen, daß ich in Moscheln vielleicht tagelang festgehalten wurde und nicht nach Berlin konnte, um persönlich mich zu überzeugen, was hier geschehen. – Daß ich durch die Brosche veranlaßt werden würde, sofort auf kürzestem Wege, also per Auto, nach Berlin zu eilen, sah er sehr richtig voraus. Er konnte also unweit Moscheln die fahrlässige Tötung mit ziemlicher Sicherheit auf Erfolg ebenfalls vorbereiten. – Mehr vermag ich bisher über die Zusammenhänge dieser traurigen Ereignisse nicht anzugeben. Bisher! Denn ich erwarte bestimmt, daß Palperlon sich schon morgen melden wird – durch ein Schreiben, in dem er mir Vorschläge macht, wie wir uns über die Freilassung meiner Mutter einigen könnten. Ihm liegt daran, mich als seinen Widersacher auszuschalten. Vielleicht hat er jetzt, nachdem ihm seine großzügigen Gaunerstückchen im Orient vereitelt worden sind, hier in Europa eine ähnliche Serie von Schandtaten vor und fürchtet meine Einmischung. – Nun – vielleicht bringt der morgige Tag hierüber schon einige Klarheit. Vielleicht aber erfahren wir jetzt auch hier sofort noch einiges, was für meine Bemühungen zur Befreiung meiner Mutter wichtig sein könnte. Karl Malke wurde durch Ihr Erscheinen, lieber Bechert, vorhin in der Schilderung seiner Beobachtung von – komischen Schattenbildern auf dem Atelierfenster drüben gerade an der interessantesten Stelle unterbrochen.“

Bechert machte eine kurze Bewegung mit der Hand.

„Oh – er hat mir das schon erzählt. Eine ganz harmlose Geschichte! Die Künstlerin dort eben wird eben viel Besuch haben!“

„Nun – mag Karl uns jedenfalls mitteilen, was ihm denn an den Schattenbildern aufgefallen ist,“ meinte Harst und nickte dem hageren Jungen freundlich zu. „Ich kenne Dich ja, Karl. Gewiß, Du besitzt eine recht lebhafte Phantasie und witterst wohl häufiger hinter alltäglichen Dingen allerlei Geheimnisse, die gar nicht vorhanden. Aber Du hast auch so oft als mein begeisterter Gehilfe so Vortreffliches geleistet, daß ich nichts unbeachtet lasse, was Du belauscht zu haben glaubst. Erzähle also!“

Karl Malke fühlte sich offenbar durch Becherts Gegenwart etwas bedrückt.

„Ach – ich weiß ja nicht, Herr Harst, ob die Geschichte mit den Schattenbildern wirklich so wichtig ist,“ sagte er stockend und widerwillig. „Es handelt sich ja nur darum, daß ich auf den Verdacht kam, es könnten bei der Maud Simpkinson Leute heimlich aus- und eingehen, die kein ganz reines Gewissen haben. In dem Atelier beobachtete ich nämlich an drei Abenden stets nach elf Uhr mindestens ein halbes Dutzend Personen, das heißt: natürlich nur deren Schatten, die die Haustür vorher bestimmt nicht passiert hatten. Das Haus hat aber nur den einen Eingang. Also mußten die Leute wohl über die Dächer der noch unbewohnten Nebengebäude zur Simpkinson gekommen sein.“

Harst saß im Klubsessel neben dem Japantischchen in der gemütlichen Fensterecke, sprang jetzt aber auf und stellte sich vor Karls Stuhl hin.

„Junge, so wird das nichts Übersichtliches!“ meinte er. „Schildere uns genau den ersten Abend, als Du die Schattenbilder sahst. Und alles hübsch der Reihe nach!“

„Gut, Herr Harst. – Ich saß also am zweiten Abend nach dem Einzug der Simpkinson – das war heute vor fünf Tagen – an meinem Giebelfenster von neun Uhr ab. Rechtsanwalt Blauk hatte mir am Tage von einem Engländer erzählt, dessen Tochter nebst ihrer Gesellschafterin in Wiesbaden plötzlich verschwunden ist. Der reiche Engländer war zu Blauk gekommen, damit dieser ihm einen erstklassigen Privatdetektiv empfehle. Eine unsichere Spur der beiden Damen hatte nämlich hier nach Berlin geführt. – Blauk hatte mir die Bilder der beiden Engländerinnen gezeigt und mir geraten, auf alle Gesichter zu achten. Er weiß, daß ich ein vorzügliches Physiognomiengedächtnis habe. Es gibt nämlich bei diesem „Fall Shangarol“ was zu verdienen. Der alte Shangarol hat 25 000 Mark Belohnung ausgesetzt, wenn –“

„Schon gut. Weiter doch, Karl!“

„Ich saß also im Dunkeln und überlegte mir diesen rätselhaften Fall hin und her. 25 000 Mark – die brauche ich gerade! – Es wurde zehn Uhr, halb elf, elf. – Unsere Straße ist ja so sehr still, und von neun Uhr ab waren nur drei Leute in das Haus Nr. 14 uns gegenüber eingetreten. Diese drei gehörten dorthin, waren Mieter. – Kurz vor elf kam die Simpkinson heim – allein! Sie ist leicht zu erkennen. Sie trägt stets einen hellen Filzhut mit weißem Schleier mit vielen schwarzen Tupfen und einen weiten seidenen Mantel, schottisch gemustert. Es wurde auch sofort hell hinter dem matten Riesenfenster. – Dort im Atelier muß nun eine Lampe gerade so hängen, daß der Schatten eines der Eisenträger des dachartig gewölbten Fensters einen scharfen Schatten auf die Scheiben wirft. Ich sah nun, wie neben diesem dunklen Strich nach einer Weile die Gestalt eines Mannes auftauchte, besser der Kopf, denn da das Fenster schräg nach vorn geht, war der Schatten nur bis zum Halse wirklich scharf genug, um das Profil eines bärtigen Mannes mit Bestimmtheit unterscheiden zu können. Dieser Mann drehte sich hin und her, reckte den Kopf vor, bog ihn zurück, verbeugte sich, trat zurück, trat wieder vor, drehte wieder den Kopf wie eine neugierige Krähe – und so ging es einige Minuten in derselben Weise. Jedenfalls wirkte dieses Schattenbild sehr, sehr komisch. Ich mußte zuweilen hell auflachen. – Dann verschwand der Mann. Es kam nun sehr bald ein zweiter Männerkopf zum Vorschein, einer mit Künstlermähne und langem, halb hängendem Schnurrbart. Und auch dieser tat genau dasselbe wie Nummer eins. – Sechs verschiedene Männerköpfe bemerkte ich nacheinander. Und alle drehten sich und reckten die Hälse lang, alle waren die reinen Schattenbild-Komiker. Dann sah ich noch zwei Frauenköpfe, einen ohne Hut mit ’ner Stupsnase, einen mit Hut und Kneifer auf der Nase. Inzwischen hatte ich mir nämlich hier von Ihnen, Herr Harst, Ihr Jagdglas geholt und konnte so alles ganz deutlich unterscheiden. – Ähnliches, nein, eigentlich genau dasselbe beobachtete ich an den beiden nächsten Abenden. Es waren offenbar damals immer dieselben Personen bei der Simpkinson. Nur nicht alle acht gleichzeitig wie am ersten Abend. Am zweiten sah ich nur fünf, am dritten nur vier Leute. – So, mehr wüßte ich nicht, Herr Harst.“

Harst hatte sich wieder in seinen Sessel gesetzt. In der Ecke war es nur halb hell. Seine Gesichtszüge konnte man nicht recht unterscheiden.

„Bechert hat ganz recht, lieber Junge,“ meinte er nun. „Du hast natürlich hinter irgend einem Atelierulk etwas besonderes gewittert! Die Leute sind eben schon bei der Simpkinson gewesen, bevor Du Deinen Fensterplatz einnahmst.“

„Aber – aber ich sah doch auch keinen Menschen weggehen, Herr Harst. So gegen ein Uhr nachts wurde es ja alle drei Male bei der Simpkinson oben dunkel. Und doch verließ niemand das Haus.“

„Karl, das Atelier wird doch noch Wohnräume haben, die nach dem Hofe hinaus liegen dürften. Die Gäste haben dort eben weiter gekneipt und sich harmlos amüsiert! – Nein, Junge, – man muß nie allzu viel kombinieren! – Gute Nacht, Karl. Geh’ jetzt nur zu Deiner Mutter und laß fortan Schattenbilder Schattenbilder sein! Da – nimm noch diese Zigaretten mit. Aber – nur jeden Abend eine, verstanden. Das Reiseandenken, das ich Dir aus Indien mitgebracht habe, erhältst Du morgen. Wir müssen erst auspacken. – Hm – noch eins! Du kannst für alle Fälle morgen Deinen Dienst noch schwänzen. Ich brauche Dich vielleicht. Blauk kenne ich persönlich. Er wird nichts dagegen haben, daß Du mir hilfst.“

Karl verschwand. Als er gegangen, meinte Bechert:

„Diese Burschen verdrehen sich durch die Sucht, Detektiv zu spielen, reinweg die jugendlichen Köpfe, in denen dann nur noch Verbrechen und Verbrecher umherspuken. Übrigens, den Fall Thomas Shangarol kenne ich ebenfalls sehr gut. Miß Edith Shangarol dürfte mit einem Liebhaber ausgekniffen sein. Der Alte ist Multimillionär, hat aber nicht einen, sondern ein Dutzend Spleens. Miß Edith scheint ihrem Papa, bevor sie mit ihrer Gesellschaftsdame nach Wiesbaden reiste, ein nettes Sümmchen abgeschmeichelt zu haben, dazu noch ein unausgefülltes, aber von ihm schon unterschriebenes Scheckbuch. Der Alte tobt, weil er jetzt um runde 85 000 Mark durch diese Blankoschecks erleichtert worden ist. Erwischt er Miß Edith, so kann’s ihr gut gehen. – Aber – entschuldigen Sie, lieber Harst! Ich rede hier von gleichgültigen Dingen, während Sie sich in Sorge um Ihre liebe Mutter verzehren. Ich kenne Sie ja: Sie verstehen sich nur zu beherrschen. In Ihrem Innern wird’s trübe genug aussehen!“

„Allerdings, Bechert! Der Gedanke, daß meine Mutter sich in der Gewalt dieses Schurken von Palperlon befindet, preßt mir kalten Schweiß auf die Stirn!“ Er sprang auf und ging im Zimmer auf und ab, nahm dann eine seiner geliebten Mirakulum-Zigaretten, stellte das Silberkästchen vor uns hin, sagte kurz „Bitte!“ rieb ein Hölzchen an und –

Wieder schrillte die Flurglocke. – Ich öffnete. Draußen stand ein Messenger-Boy, reichte mir einen Brief.

„Für Herrn Harald Harst.“

Der Junge machte kehrt. Ich aber beschaute mir die Anschrift auf dem Umschlag. Und – ich sah sofort: es war vermutlich dazu dieselbe schlechte Schreibmaschine benutzt worden wie auf der Adresse des Broschenpäckchens.

Also – wieder James Palperlon!

Und deshalb rannte ich nun dem Überbringer nach. Der war aber mit seinem Rad längst über alle Berge.

– – – – – – – –

Harst las Bechert und mir das getippte Schreiben vor.

Harald Harst!

Ihre Mutter befindet sich in meiner Gewalt! Sie werden dies fraglos bereits vermuten. – Wenn Sie nicht folgende Bedingungen erfüllen, sehen Sie Ihre Mutter nicht wieder. –

1. Sie zahlen an mich eine Million Mark in Banknoten.

2. Sie verpflichten sich ehrenwörtlich, mir nicht weiter nachzustellen. Dasselbe muß Ihr Privatsekretär Max Schraut tun.

3. Sie verpflichten sich ebenfalls ehrenwörtlich, ein ganzes Jahr Ihren für Leute meines Schlages so unangenehmen Sport als Liebhaberdetektiv aufzugeben.

Näheres über die Art, wie Sie mir die Million zustellen sollen, erfahren Sie, sobald ich Ihre Entscheidung kenne. Auf Unterhandlungen lasse ich mich nicht ein. – Antworten Sie mir dadurch, daß Sie an das rechte Fenster Ihres Arbeitszimmers vor die rechte untere Scheibe einen grünen Zweig deutlich sichtbar aufhängen. Dann weiß ich, daß Sie mit allem einverstanden sind.

Erscheint der Zweig bis morgen mittag 12 Uhr nicht, so sende ich Ihnen etwas zu, das Sie überzeugen wird, wie wenig ich leere Drohungen ausspreche. – James Palperlon.

„Unerhört!“ rief Bechert erregt. „Ich wünschte, ich hätte diesen Schurken –“

Harst – ja, Harst lächelte ganz schwach und unterbrach den Kommissar.

„Lieber Bechert, vielleicht steht die ganze Sache gar nicht so schlimm. – Eine Million? – Gut – ich opfere sie gern. Die beiden anderen Bedingungen sind weit härter. Aber – was soll ich tun?! Ich muß Ja sagen – muß, falls nicht bis morgen mittag mir die Erleuchtung kommt. Wenn nicht, nun so werde ich meine Mutter hoffentlich gesund und munter bald wieder hier haben und werde ein Jahr lang sehnsüchtig den Ablauf dieses Jahres erwarten. Denn – meine Detektivarbeit geht mir ja über alles!“

Bechert nickte. „Leider – leider! Sie haben recht, bester Harst! Sie müssen! – Und ich – muß mich verabschieden. Dienst! – Gute Nacht. Morgen rufe ich Sie mal an, Harst. – Hm – wie steht’s denn mit der – „Erleuchtung“? Hoffen Sie wirklich noch, daß –“

Harst hatte Bechert die Hand gereicht. „Palperlon ist ein Esel!“ sagte er leise.

Bechert schüttelte den Kopf. „Was – was heißt das?“

„Daß ich – hoffe! – Auf Wiedersehen! – Schraut, begleite Bechert hinaus.“

Als ich das Zimmer wieder betrat, hörte ich aus Harsts Bibliothek leises Klavierspiel hervordringen.

Harald spielte – spielte Wagner!

Ich stellte mich neben den Bechstein-Flügel. Harst schaute nicht auf. Die Klänge der Grals-Erzählung[6] umrauschten mich. Harald war ja ein halber Künstler. Ich lauschte. – Wagner – urdeutsche Musik! Und da erst fühlte ich so recht, daß ich wieder daheim war.

Ich setzte mich in eine Ecke des Ledersofas, rauchte regungslos meine Zigarette.

Plötzlich rissen die Töne jäh ab. Harst erhob sich, kam zu mir, lehnte sich an den mit Büchern bedeckten Mitteltisch.

„Schraut,“ flüsterte er, „es wird eine hübsche Nacht werden. Der Himmel ist bedeckt. Die Luft ist schwül. Vielleicht gibt es ein Herbstgewitter. Hoffentlich regnet es auch, wenn wir beginnen.“

„Womit?“ Ich ahnte: Unsere erste Nacht in der Heimat würde eine gefährliche Arbeit bringen. Wenn Harald von „hübsch“ sprach, lag darin stets eine feine, auf mich gemünzte Ironie. Er wußte: ich mit meinen 42 Jahren liebte die Ruhe und ein weiches Bett.

„Womit? Aber Max Schraut!“ erwiderte er. „Denke mal an unser Abenteuer im Parke des Forschungsreisenden Malzahn! Du hast diesen Fall, wenn ich mich recht erinnere, unter dem Titel „Liu Sings Geheimnis“ geschildert. Das Armband damals –, hm, – meine Mutter kannte doch diese Geschichte mit dem rätselhaften Worte „Ritbilf“, und da –“

Er holte die Brosche seiner Mutter hervor und reichte sie mir.

Ich griff hastig danach! Mir war ein Gedanke gekommen. Ich trat unter die Lampe, besichtigte die Goldfassung der wundervollen Gemme.

Ritbilf! Das war ja der in den Armreif eingeritzte Hilferuf einer ebenfalls sorgfältig gefangen Gehaltenen gewesen.

Und – nun sah ich auf der braunen, glatt polierten Rückseite der großen Gemme einige Kratzer, – nein, – mit zitternder Hand offenbar eingeritzte Worte.

Ich entzifferte:

In Ale
hier

Ich schaute Harst unsicher an.

„Na?“ meinte er.

„Ich lese: In Ale hier! – Meinst Du, daß Deine Mutter dies wirklich eingekratzt hat?“

„Sie hat es ganz sicher! – Palperlon wird ihr gesagt haben, daß er mir die Brosche in Hamburg zustellen lassen würde. Da hat meine Mutter denn noch geschwind mit einer Nadel, bevor er ihr die Brosche abnahm, die Worte als Hinweis eingeritzt, wo sie sich befindet. Ich sah diese sehr undeutliche Schrift bereits auf dem Dampfer in unserer Kabine. Aber da blieben mir diese „In Ale hier“ ein Rätsel. Jetzt ist das Rätsel gelöst!“ – Er sprach lebhaft und angeregt.

Bevor ich noch etwas fragen konnte, erschien Malwine und rief uns nach oben zum Abendbrot.

Harst lud auch noch Frau Malke und Karl dazu ein. Ebenso mußte Malwine mit am Eßtisch Platz nehmen.

Die brave Köchin begriff die gute Laune Haralds nicht, bis dieser erklärte:

„Mutter wird bald frei sein. Ich soll ja nur eine Million zahlen!“

Malwines Gesicht hellte sich sofort auf. –

Nach Tisch wollte ich von Harst wissen, was das „Ale“ bedeute. Wir saßen in seinem Arbeitszimmer. Das heißt: Harst saß und ich packte unsere Koffer aus.

„Später!“ antwortete er. Das war ja stets bei ihm so: Er hielt mit seiner Weisheit bis kurz vor der Katastrophe zurück oder aber brachte mich ganz allmählich auf das Richtige.

„Unsere Selbstlader laß nur gleich draußen!“ fügte er hinzu. „Geladen sind Sie ja noch. Um elf Uhr brechen wir auf. – Aha – der Wind, der den Regen ankündet! Das heult ja gehörig um das Haus! Alles ganz nach Wunsch. – Such’ doch nachher noch ein Brecheisen, das kurze, zusammenlegbare, und ein paar Dietriche heraus. Wir müssen so etwas Einbrecher spielen.“

Um ¾11 klopfte es. Es war Karl Malke.

„Herr Harst, Sie flüsterten mir doch zu, ich solle um –“

„Ja, – setz’ Dich nur. – Karl, werden die Neubauten neben Nr. 14 nachts bewacht? – Sehr wahrscheinlich doch. Kennst Du den Wächter? Du biederst Dich doch stets mit der ganzen Nachbarschaft an.“

„Oh – es ist ein altes Männchen, Herr Harst. Er trinkt gern einen. Zumeist hockt er in Nr. 12 im Flur.“

„Hat er einen Hund?“

„Nein. Aber einen Revolver.“

„So so. – Geh’ nun und hole mir aus der Kammer ein Stück Waschleine, etwa fünf Meter lang. Suche aber ein noch festes Stück heraus, das einige 150 Pfund Gewicht verträgt.“

Karl machte ein verdutztes Gesicht und schob ab. –

„Schraut, Du mußt nun drüben bei Dir so tun, als gingest Du zu Bett. Schließe die Vorhänge, schalte für ein paar Minuten das Licht ein und komme dann wieder her. Unser Haus wird ja von Palperlon und Genossen fraglos beobachtet. Die Bande soll denken, wir kriechen in die Federn.“ Er nickte mir zu. Sein Gesicht – dies Gesicht kannte ich. Wenn die Haut über den Backenknochen sich so straff spannte und wenn die Augen halb zusammengekniffen waren, dann hatten die Herren Verbrecher allen Grund, vorsichtig zu sein.

Gleich darauf lag ich angeblich im Bett. In Wahrheit steckte ich meine neunschüssige Pistole ein, zog mir die Mütze fest über die Ohren und folgte Harst durch den Garten auf das unbebaute Laubengelände, das an dessen Hinterseite grenzt.

Es goß jetzt geradezu. Wir hatten unsere Sportanzüge aus Lodenstoff an. Die waren wasserdicht. Im Westen flammte es zuweilen für Sekunden hell auf. Und als wir nun über den Bauzaun von Nr. 15 kletterten, krachte auch schon nach einem grellen Blitz der erste lautete Donnerschlag.

Nie hätte ich geglaubt, daß diese Nacht dem Hause uns gegenüber gewidmet sein sollte. Als wir nun vor der verschlossenen, aber noch ungestrichenen Haustür von Nr. 15 standen, als Harst mit dem Dietrich das Schloß öffnete und vor uns der dunkle Flur gähnte, da – war mir wie so oft bei solchen Abenteuern keineswegs behaglich zu Mute! Da schossen mir unzählige Fragen durch den Kopf. – Weshalb interessierte sich Harst für das Atelier? Weshalb.

Meine Gedanken bekamen auf sehr unangenehme Art eine andere Richtung. Harst hatte soeben die Tür wieder zugedrückt. Da – vor uns ein rötlicher Lichtstrahl, eine heisere Stimme: „Halt – ich schieße sofort!“

Und Harst? – Harst lachte leise auf! – „Schießen Sie lieber nicht, Verehrtester! Wir sind keine Spitzbuben. Ich heiße Harst, Harald Harst, wohne gegenüber. – Hier, nehmen Sie diese zwanzig Mark und machen Sie sich dafür einen vergnügten Tag. – Sie wissen wohl, daß meine Mutter verschwunden ist. Ich suche hier nach einer Spur.“

Der Wächter war offenbar froh, daß er es mit so anständigen Leuten zu tun hatte. Er versprach niemandem zu sagen, daß er uns hier getroffen hätte. – Dann stiegen wir die teilweise noch mit Bauschutt bedeckten Treppen empor bis zur Bodenluke, wuchteten die Krampe des Vorlegeschlosses mit dem Brecheisen heraus und befanden uns nun auf dem schwach geneigten Dach inmitten eines Gewittersturmes, der uns beinahe umwarf. Wir krochen auf allen Vieren nach rechts hinüber, hatten nun das Glasdach des Ateliers etwa zwei Meter unter uns.

Im Atelier brannte Licht.

„Noch zu früh,“ meinte Harst. „Warten wir im Trocknen auf dem Boden.“

Da – ein Blitz fuhr über den nachtschwarzen Himmel hin. Trotz des Regengusses wurde es für einen Moment hell genug, daß ich auf dem Nebendache, dort, wo das gewölbte Fenster in das Pappdach überging, eine Gestalt erkennen konnte, – einen Mann, der lang auf dem Bauche lag.

Ich packte Harsts Arm. Um uns herum jetzt wieder nur das Heulen der Windstöße, das Knattern der aufschlagenden Regentropfen und tiefstes Dunkel.

„Harst – dort drüben – ein Mensch!“

„Wo?“ – Ich gab die Richtung an.

Abermals eine grelle elektrische Entladung. Abermals für Sekunden diese unheimliche Beleuchtung.

Und wir sahen, daß der Mann jetzt mit dem Unterkörper in einer der quadratischen Luftscheiben des Dachfensters steckte. Das Atelier aber war dunkel.

„Besuch!“ flüsterte Harst. „Unser Karl hat also doch zum Teil recht gehabt. Die Maud Simpkinson empfängt einen Gast über die Dächer. Nun – sie wird wohl Ursache haben, ihren guten Ruf nicht aufs Spiel zu setzen. – Ah – jetzt ist’s im Atelier wieder hell geworden. Nur der Einzug des Besuchs sollte nicht beobachtet werden können. Auch die Luftscheibe ist wieder geschlossen. Vielleicht benutzen wir sie ebenfalls. – Komm’ jetzt ins Trockene!“

Wir saßen dann auf der leiterähnlichen Treppe unter der wieder zugeklappten Dachluke.

„Dürfte ich nun vielleicht wissen, weshalb wir gerade Miß Simpkinson beehren wollen?“ fragte ich leicht gereizt, denn bei diesem Wetter sich auf Dächern herumzudrücken, war kein Vergnügen, und meine Laune näherte sich bedenklich dem Nullpunkt. „Natürlich hängt Dein Interesse für das Atelier nebenan mit den Schattenbildern zusammen. Das ist mir jetzt klar. Aber –“

Harst schob seinen Arm in den meinen: „Lieber Alter, nicht so brummig! Ich bitte Dich: ich bin ja so glücklich, daß ich meine Mutter so dicht in meiner Nähe weiß. – Du fährst zusammen! Ich kann mir Dein Gesicht vorstellen. Du bist mehr als überrascht. Und doch hättest Du gleichfalls herausfinden müssen, daß die Wörter

In Ale
hier

nur eine Verstümmelung infolge hastiger, undeutlicher Kratzschrift und eine durch die Größe der Gemme bedingte Trennung sind. Setze für das l ein t und für das h ein l, dann heißt’s:

In Ate
lier,

also „In Atelier“, – ergänzt: „Ich werde in einem Atelier gefangengehalten!“ Ich gebe zu, daß ich ebenfalls zunächst „In Ale hier“ entziffert hatte. Erst als Karl, unser prächtiger Karl, von den Schatten auf dem Atelierfenster sprach, von dem Atelier eben, das im Hause gegenüber vermietet worden war, da kam mir die erste Erleuchtung, – nein, die zweite! Denn die erste ward mir schon in Moscheln bei der Besichtigung der Leiche der eleganten Fremden. – Hm – eine Erleuchtung war dies gerade nicht. Mehr ein glücklicher Zufall, der später sich erst zu etwas Wertvollem auswuchs. – Ich will jedoch nicht wieder in den alten Fehler zurückfallen und will Dir nicht, wie ein Professor etwa eine mathematische Gleichung seinen Schülern mit dem Stolz des Kundigen entwickelt, tropfenweise die Aufklärung geben, sondern mehr in großen Zügen. – Die vergiftete Frau in Moscheln hatte – Du wirst das bemerkt haben – jene neumodische Art von Zahnplomben, die sich nur schwerreiche Leute leisten: kleine Brillanten blitzten in vier Zähnen – in Gold gefaßte Brillantplomben. Diese Unsitte stammt aus dem Dollarlande. Hier in Deutschland sind wir zum Glück noch nicht so geschmacklos. Nur Engländerinnen äffen diese modernste Erfindung der Herren Zahnkünstler nach. Weiter: Die Tote benutzte ein Parfüm, das Dir sofort hätte auffallen müssen. Besinne Dich auf das Fremdenheim der Frau von Tezra in Haidarabad, wo Du Dich so wütend über eine Miß ärgertest, die das in Assam hergestellte sogenannte Assam-Kudri, ein Parfüm von großer Stärke und einer widerlichen Süße, benutzte. Nun – dasselbe Assam-Kudri spürte ich an der Toten. Und – als ich es spürte, da dachte ich auch sofort an –! Doch warte! Ich halte Dir mal die Brosche unter die Nase. – Riechst Du etwas?“

Allerdings – ich roch: Assam-Kudri!

„Siehst Du, mein Alter, – das Schächtelchen und die Watte haben denselben Duft! Und – nun hier Master Palperlons Schreiben mit den drei Bedingungen: auch wieder Assam-Kudri! – Nun ist also die Brücke gebaut zwischen Brosche und der Toten und dem Briefe! Und – wenn wir nun nachher in Miß Simpkinsons Atelier denselben Duft wahrnehmen, dann ist das der Schlußstein in der Kette meiner Kombinationen, sozusagen der „Verschluß“ der Kette, die bis dahin nur eine Reihe von Perlen – Tatsachen und Folgerungen aus diesen – war.“

„Hm – ganz schön, alles! Aber – es gibt doch unzählige Ateliers, lieber Harald,“ meinte ich zweifelnd. „Weshalb soll nun gerade dieses nebenan dasjenige sein, das Deine liebe Mutter meint?! Schattenbilder besagen doch gar nichts! Ich meine nichts, was auf dies Atelier als den Ort hinweisen könne, wo Deine Mutter festgehalten wird! Wo ist die Brücke von dem Hause Nr. 14 hin zu James Palperlon? Ich vermag beim besten Willen auch nicht das kleinste –“

„Pst!“ warnte Harst mich. „Hörtest Du nicht soeben auch –“

Das weitere verschlang ein furchtbarer Donnerschlag. Als das entsetzliche Dröhnen nachgelassen hatte, war auch das Geräusch des fallenden Regens über uns verstummt.

Harst hatte sich anscheinend erhoben. Dann öffnete er wirklich die Dachluke. Als ich emporschaute, sah ich nur noch seine Beine. Er war auf das Dach geklettert. Ich wartete etwa drei Minuten. Dann über mir seine Stimme:

„Vorwärts. Das Atelier ist dunkel. Aber in den beiden Wohnräumen nach dem Hofe hinaus brennt Licht.“

Ich stand ziemlich widerwillig auf. Der letzte Donner hatte meine Nerven etwas in Unordnung gebracht. Ich war stets ein wenig gewitterscheu. Die mit Elektrizität gesättigte Luft machte mich müde und lastete wie ein Druck auf mir.

Harst kroch wieder auf allen Vieren voran, – jetzt im Bogen auf die Luftscheibe zu, durch die auch jener Mann vorhin verschwunden war.

Es war nicht ganz ungefährlich, von dem Pappdach sich bis an das Klappfenster über die allerdings recht starken Scheiben heranzuschieben. Harst verlegte die Hauptlast seines Körpers auf eine der eisernen Schienen, in die die Scheiben eingekittet waren. Ich konnte ihn jetzt recht deutlich erkennen, da die Gewitterwolke nach Osten zu davonzog und bereits ein Stück sternenklarer Himmel sichtbar war. Auch das matt schillernde Glasdach reflektierte das wenige Licht und ließ die Umrisse von Haralds Gestalt scharf hervortreten. Hände und Knie stützte er in der Hauptsache auf die schmale Eisenschiene, wobei er offenbar Mühe hatte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich sah dann, daß er das Brecheisen aus der Tasche nahm und an dem Verschluß des Fensters sich zu schaffen machte.

Nun wandte er den Kopf zurück. „Der Weg ist frei,“ flüsterte er. „Bleibe dicht hinter mir.“

Mit den Beinen tastete er dann nach unten. „Ah – hier steht eine Trittleiter!“ meldete er sich wieder. „Miß Simpkinson hat es ihrem Gast vorhin bequem gemacht.“

Er tauchte langsam unter. Auch ich begann nun die Rutschpartie auf der schmalen Schiene. Ich schwitzte Angst dabei. Das Glasdach senkte sich ja in scharfem Bogen, und die Luftscheibe lag gerade dicht vor dem scharfen Knick, hinter dem die Tiefe gähnte.

Als ich das rechte Bein glücklich in der quadratischen Öffnung hatte, glaubte ich aus dem Atelier einen dumpfen Laut zu vernehmen. Es klang wie ein halbersticktes Ächzen.

„Harst!“ rief ich leise.

„Ja doch! So beeile Dich doch!“ hörte ich eine Stimme. Ich hatte nun leider schon beide Füße auf der Leiterstufe – leider! Denn – die Stimme war nicht die Harsts gewesen.

Ich nahm alle Kraft zusammen, wollte mich schnell wieder aus dem quadratischen Loch herausschwingen.

Wollte! – Meine Füße wurden gepackt; ich wurde hinabgezerrt; hatte schon einen gellenden Hilferuf auf den Lippen. Da schlug ich mit dem Hinterkopf gegen die Eiseneinfassung des Klappfensters; ein stechender Schmerz im Schädel raubte mir für Sekunden halb die Besinnung. Ich prallte unten auf etwas Weiches, Federndes auf.

Und da wurde es taghell um mich. Die drei großen, hängenden Birnen des Ateliers waren eingeschaltet worden.

Ich lag quer über einem Diwan, auf den ich gestürzt war. Vor mir stand ein Mensch mit einem grünen Stoffetzen als Maske vor dem Gesicht, in der Hand eine stoßbereite Lanze mit breiter, langer Eisenspitze, – ein Zuluspeer!

„Maul halten!“ sagte er in tadellosem Deutsch. „Aufrecht setzen! Arme auf den Rücken legen!“

Ich gehorchte mechanisch. Widerstand war nutzlos. Denn – dort vor mir auf dem Teppich saß – Harst mit gefesselten Händen und Füßen, im Munde einen Knebel! Und – er nickte mir zu. Das konnte nur heißen: Wehre Dich nicht!

Auch ich wurde nun mit dünnem, verzinkten[7] Draht genau so gebunden; auch mir schob man einen Leinwandpfropfen zwischen die Zähne. Aber – das alles besorgte nicht der Mann mit dem Zuluspeer, sondern – ein blondes Weib, das auf dem Kopf einen hellen Filzhut hatte und dazu einen sehr dichten weißen Schleier mit schwarzen Tupfen trug, der ihr Antlitz völlig unkenntlich machte.

Und dieses Weib hatte Kraft, war gewandt! Das merkte ich nur zu gut! – Daß Miß Maud Simpkinson mir all diese „zarten“ Fesseln anlegte und ebenso zart meinen Mund verschloß, bewies ja schon der Schleier mit den Tupfen, den Karl Malke besonders erwähnt hatte. –

Wir beide waren wehrlos! Wir saßen nun nebeneinander auf dem Diwan, und vor uns in zwei Korbsesseln unsere Bezwinger.

Eine Weile nichts. Dann begann die punktierte Miß – mit unangenehm hoher Stimme:

„Ich kann Ihnen nur mein Kompliment machen, Harst! Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie so schnell den Weg hierher finden würden. Und – fraglos stände die Partie jetzt mehr zu Ihren Gunsten, wenn nicht mein Freund Sie beide erspäht haben würde, als sie auf dem Nachbardache lagen. Wir konnten also alles zu Ihrem Empfang vorbereiten. Immerhin ist Ihr Erscheinen hier recht störend. – Da ich mit Ihnen einiges zu besprechen habe, frage ich, ob Sie mir Ihr Wort geben wollen, nicht um Hilfe zu rufen, wenn ich Ihnen den Knebel abnehme.“

Harst nickte. Der Freund Miß Mauds befreite ihn dann von dem Knebel. Und als dieser Mensch nun so dicht neben mir stand, da – roch ich ganz deutlich das Assam-Kudri-Parfüm.

Harst holte ein paarmal tief Atem und sagte dann sehr gelassen:

„James Palperlon, Ihre Maske als Miß Simpkinson ist tadellos. – So, nun fragen Sie!“

„Beweisen Sie mir, daß ich Palperlon bin. Sie wissen von Palperlon nichts – nur daß er mittelgroß ist und schlank. Sein Gesicht haben Sie nie unmaskiert gesehen!“ – Das klang ironisch und auch selbstbewußt.

„Beweisen? – Hm! Einem[8] Gerichtshof würden meine Beweise nicht genügen. Mir genügen sie. – Vor acht Tagen wurde dieses Atelier von Ihnen gemietet. Zu dieser Zeit konnte Palperlon schon in Berlin sein, falls er uns eben mit einem früheren Dampfer vorausgefahren war. – Gerade dies meinem Hause gegenüber liegende Atelier mieteten Sie! Und – Sie trieben spät abends vor jenem Spiegel dort an jenem Pfeiler allerlei Künste, die ein kleiner Freund von mir als Schattenbilder beobachtet hat. Ohne diese Schattenbilder wäre ich nie auf Sie aufmerksam geworden. Mein kleiner Freund fand die Schattenfiguren „komisch“, weil die Köpfe sich drehten und wanden, sich verbeugten, die Hälse lang reckten und so weiter. Er glaubte, am ersten Abend acht verschiedene Personen zu sehen. Und – es waren doch stets Sie, – Sie, der vor dem Spiegel verschiedene Masken als Männer und Frauen prüfte, ob sie auch jeden kritischen Blick standhielten. Gerade dieses „Komische“ der Schattenbilder brachte mich auf das Richtige: daß hier ein und dieselbe Person Verwandlungskünstler spielte! – So bin ich auf dies Atelier und seine Bewohnerin aufmerksam geworden. Dann kam der Brief mit den drei Bedingungen und der Anweisung, Antwort durch einen grünen, vor der rechten unteren Scheibe meines Fensters befestigten Zweig zu geben. Da sagte ich mir: Von jenem Atelier aus, in dem eine Person wohnt, die sich so eifrig im Maskemachen übt, kann man diesen grünen Zweig ganz bequem sehen, – falls er eben hingehängt wird. Und – von dem Atelierfenster aus kann auch Dein Haus dauernd ganz unauffällig beobachtet werden. – Weiter noch überlegte ich mir: Deine Mutter hat in die Gemme ein paar rätselhafte Worte eingeritzt. Jetzt weißt Du, daß sie „In Atelier“ lauten! – Also: abermals ein Atelier! Na – und da war es doch kinderleicht, sich zusammenzureimen, von wem oder auf wessen Befehl dieses Atelier hier gemietet war: auf Palperlons Befehl! – Kein Wunder also, daß ich mich entschloß, mich hier genauer umzusehen. Und als Sie dann meinen Freund Schraut so kunstgerecht fesselten, da merkte ich, daß die Miß Simpkinson ein Mann war. Auch Ihre halbe Fistelstimme deutete darauf schon hin. – Dieser Mann, der so vorsichtig und so geschickt sich unter Weiberkleidern verbirgt, kann nur James Palperlon sein.“

„Ah – nochmals mein Kompliment, Harst!“ meinte die Miß jetzt mit heiserer, tiefer Männerstimme. „Ich weiß ja, daß Sie kein Dummkopf sind. Aber diese Deutung der Schattenbilder und die weiteren Schlüsse verdienen in der Tat besondere Anerkennung! – Nur schade, daß Sie und Ihr treues Anhängsel Schraut nie mehr wieder Gelegenheit haben werden, Ihrem Ruhmeskranz ein neues Lorbeerblatt hinzuzufügen. Sie kennen mich ja durch Warbatty! Denn: Warbatty war ja eigentlich ich selbst. Er war mir Werkzeug, meine gehorsame Maschine. Er mußte denken und handeln, wie ich es wollte. – Mithin ist Ihnen bekannt, daß ich Sie gewissermaßen als Detektivgenie verehre und oft gezaudert habe, Sie für immer unschädlich zu machen. Jetzt, wo Sie meinen Brief durch diese Kampferöffnung, dieses Eindringen hier, beantwortet haben, wo vielleicht bereits Ihr Freund Bechert im Hintergrunde lauert, um seine Polizeiarme nach mir auszustrecken, muß ich endgültig Schluß machen! Sie und Schraut werden dies Atelier nicht mehr lebend verlassen. Und – Ihre Strafe soll der Gedanke sein, daß Ihre Mutter am Leben bleibt und dann ihren Sohn beweinen wird – ihren Sohn, mein Opfer!“ Ein wahrhaft satanischer Hohn durchwehte die letzten Sätze.

Dann stand Palperlon auf, wandte sich an den Anderen:

„Tragen wir sie in die kleine Küche hinüber! Vorwärts!“

– – – – – – – –

„Noch einen Augenblick Palperlon!“ – Harsts Stimme war ruhig und klar wie bisher. „Ich möchte Sie warnen. Dieser ganze Häuserblock ist von der Kriminalpolizei umstellt. Keine Maus entschlüpft von hier. Es handelt sich für meinen Freund Bechert ja nicht lediglich um das Verschwinden meiner Mutter, sondern auch um den Mord an Miß Edith Shangarol. – Ah – Sie zucken nun doch zusammen. Und Ihr Genosse da machte eine Bewegung, als wollte er nach dem Zuluspeer greifen und mir die Kehle schleunigst durchstoßen. Diese Anzeichen eines schlechten Gewissens sagen mir genug! Denn – dieser Schuß soeben war nur ein Probeschuß! Daß Sie beide gerade die angeblich mit einem Liebhaber entflohene Miß Edith in dem Dorfe[9] Moscheln für Ihre Zwecke benutzt haben, daß Sie beide einen Mord in eine fahrlässige Tötung, um mich verhaften zu lassen, verwandelten, dafür hatte ich bisher nur sehr schwache Beweise. Jetzt aber weiß ich’s bestimmt: Miß Shangarol, die elegante junge Dame mit den Brillantplomben, die das indische Parfüm Assam-Kudri[10] so sehr bevorzugte, daß der starke Duft sich auch dem Manne mitteilte, der ihren Liebhaber spielte, der sie verschleppte vergiftete und ihre noch frische Leiche durch Fußtritte auf den Brustkorb verstümmelte[11], der Ihr Werkzeug, Palperlon, in Moscheln als Maler Gräbner war, der auch das Päckchen mit der Brosche vorbereitete und ebenso Ihren Brief an mich besorgte – und auch Päckchen und Brief hatten den süßlichen Geruch festgehalten! –, also diese Miß Shangarol ist die Tote von Moscheln. – Ich – weiß es! Und Bechert ahnt es! Bechert wird Sie beide überführen, selbst wenn wir hier sterben sollten. Ich warne Sie: Wir sind hier nicht Indien! Unsere deutsche Polizei verfügt über andere Hilfsmittel. Unser Tod wird gerächt werden!“

Palperlons Freund flüsterte jetzt eindringlich auf „Miß Simpkinson“ ein. Ich ahnte: er wollte erreichen, daß Palperlon sich mit uns in Güte einige.

Und Palperlon nickte wiederholt, sagte nun:

„Gut denn – lassen wir die beiden am Leben!“

– Was dann folgte, werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Wenn mir je klar wurde, daß dieser Palperlon ein geradezu vertiertes, wenn auch geistig hochbegabtes Scheusal war, so war es damals, als er seinen Genossen, nachdem er Harst den Knebel wieder in den Mund geschoben hatte, hinterlistig beseitigte.

„Gehen wir ins Nebenzimmer und beraten wir erst,“ hatte er zu dem Ahnungslosen gesagt. „Harst muß jedoch wieder den Knebel bekommen.“

Und dann – dann schritt der Andere der Tür zu; dann hatte Palperlon blitzschnell den Speer ergriffen, stieß ebenso blitzschnell schräg von der Seite die breite Spitze dem Manne durch die Kehle. –

Ein hoher Blutstrahl aus der klaffenden Schlagader sprang auf. Und den vor Schreck Vornübertaumelnden traf ein zweiter Stoß von hinten ins Herz. Mit dumpfen Krach polterte der Körper auf den Teppich, zuckte dort noch ein paarmal krampfhaft, lag still.

Wir beide waren hochgeschnellt. Aber vor uns stand nun die angebliche Miß Simpkinson mit demselben blutbefleckten Speer, zischte uns an: „Daß ich allein trotz der Umzingelung entkomme, ist sicher. Der da wäre mir nur hinderlich gewesen. Er hat Miß Shangarol[12] ermordet – gewiß! Er war ihr Liebhaber, nur um das Scheckbuch zu erlangen. In London nannte man ihn nur den „schönen Edward“. Ein verkommener Maler ist’s und seit Jahren einer meiner untergeordneten Helfershelfer. Die Idee dieses Verbrechens stammte von mir. Auch der Plan, der dann in Moscheln uns leider mißglückte. Vielleicht möchten Sie auch wissen, wo die Gesellschaftsdame geblieben ist. Der Rhein ist verschwiegen. Bei einem Ausflug – verunglückte sie! Dann floh das Pärchen. Das weitere wissen Sie! – So – und nun sollen Sie beide in aller Stille aber ebenso zuverlässig ins Jenseits befördert werden!“ Abermals dieser teuflische Hohn, der umso abstoßender wirkte, als Palperlon in seiner Verkleidung ganz wie eine Frau aussah.

Unsere Lage war verzweifelt. Die dritte Etage unter dem Atelier war unbewohnt. Selbst wenn wir also hätten um Hilfe rufen können, wäre dies recht nutzlos gewesen.

Einzeln schleppte uns Palperlon nun durch einen kleinen Flur in eine winzige Küche, legte den Küchentisch mit der Platte auf den Fußboden und band uns mit Draht so zwischen den vier Beinen fest, daß wir mit angezogenen Knien uns gegenübersaßen. Nachdem er noch die Knebel gleichfalls mit Draht so befestigt hatte, daß wir sie mit der Zunge nicht herausstoßen konnten, öffnete er die beiden Hähne des auf dem Herde stehenden Gaskochers. –

Dann noch ein ironisches: „Sie werden sanft einschlummern, meine Herren! Leben Sie wohl!“ und er ging hinaus, ließ das elektrische Licht aber brennen, schloß die Tür ab und nahm den Schlüssel mit.

Stille – Totenstille. Nur das Gas entströmte mit leisem Zischen den beiden Brennern.

Ich schaute Harst an. Aber – der eisige Schweiß lief mir in die Augen. Ich sah nur, daß er den Kopf nach links gedreht hatte. Dann mußte ich die Augen schließen. Der Schweiß fraß und entlockte ihnen Tränenströme.

Ich sah nichts. Aber desto reger waren meine Gedanken. Wie lange hatten wir noch zu leben? Wann würde die Luft so mit Gas geschwängert sein, daß wir das Bewußtsein verloren?

Eine halbe, eine Stunde? Noch kürzere Zeit? – Und dann lauschte ich wieder. Das Zischen war gleichmäßig. Aber in meinen Ohren sang und klang das schnell kreisende Blut bald so laut, daß das Zischen zu verstummen schien.

Nun – roch ich das Leuchtgas bereits.

Da – ein Stoß gegen mein Schienbein von Harsts Knie. Ich riß die Augen auf. Und Harst machte nun mit dem Kopf pendelnde Bewegungen, warf gleichzeitig den Oberkörper nach rechts:

Endlich verstand ich: ich sollte ihm helfen, den Tisch nach rechts zu kippen.

Gleichzeitig warfen wir mit einem Ruck uns nach rechts. – Umsonst – wieder versuchten wir’s. Diesmal hob sich die Tischplatte links schon etwas vom Fußboden.

Ein neuer Versuch! – Beinahe geglückt! Und jetzt schlug die Platte mit dumpfem Knall beim Zurückfallen auf den Fußboden auf. – Wir ruhten uns ein wenig aus.

Und – gleichzeitig hörten wir jetzt irgendwo in der Nähe Schritte – ein langsames Tapp Tapp, als ob jemand ruhelos auf und ab wandert.

Harst warf mir einen Blick zu – einen Blick! Darin las ich: „Vielleicht ist’s meine Mutter! Und ich – ich muß hier ersticken!“

Vielleicht waren’s diese Schritte, die uns Riesenkräfte verliehen! Ich winkte Harst mit dem Kopf zu. Ein neuer Ruck –! Und jetzt gelang’s! Der Tisch lag auf der Seite und wir ebenfalls. – Wieder machte Harst mir durch Kopfbewegungen und Blicke klar, was er beabsichtigte.

Ich will nicht im einzelnen schildern, unter welchen Strömen von Schweiß wir dann mit dem Tisch ruckweise uns dem Herde näherten, wie wir mit dem einen der Tischbeine, das nun in einer Höhe mit dem Herde horizontal lag, den einen Gashahn zudrückten, mit dem anderen den zweiten, – wie wir unter unerhörten Schmerzen mit von den Drähten zerschundenen Gelenken mit dem Tisch bis an das Fenster gelangten, wie das eine Tischbein dann die Scheiben einstieß, – erst die untere, dann die andere – wie wir auch die noch haften gebliebenen Glasstücke hinunter in den Hof beförderten, wo sie klirrend zerschellten und den im Erdgeschoß nach hinten heraus schlafenden Magistratssekretär Neumann weckten, wie dieser, Einbrecher vermutend, mit dem Portier der Ursache der Fensterbeschädigungen nachspürte, wie sie zuerst nichts entdeckten, dann sich aber sagten, nur oben in der Atelierwohnung könnten die Fenster zertrümmert worden sein.

So – glückte Harsts Rettungs- und Befreiungsplan. Wir hörten das Schrillen der Flurglocke des Ateliers. Immer wieder wurde geläutet. Dann Stille. Dann öffnete der Portier mit einem Dietrich die Flurtür; dann hörten wir Stimmen; dann – lautes Rufen:

„Wer ist denn dort drinnen? – Wer? Wer – Frau – Harst?“

Und gleich darauf flog auch die Küchentür auf. Der Portier trat ein, prallte zurück, ließ die Tür weit offen, damit das Gas abzog, drehte die Drahtschlingen auf.

Harst war als erster frei, lief hinaus. Ich folgte – und sah im Nebenzimmer Mutter und Sohn sich umschlungen haltend. –

Was die in diesen Tagen der Gefangenschaft schneeweiß gewordene Frau Harst nachher über ihre traurigen Erlebnisse erzählte, will ich hier nur ganz kurz wiedergeben. Sie war an jenem Nachmittag von einer Dame – also Palperlon – in ein Haus in einer Nebenstraße des Kurfürstendamms gelockt worden. Hier in einem Erdgeschoßzimmer hatte die Dame ihr gedroht, Harald würde meuchlings beseitigt werden, falls sie irgendwie Lärm schlage und nicht blindlings gehorche; es handele sich lediglich um eine Erpressung, und sie würde doch nicht aus Geiz ihres Sohnes Leben aufs Spiel setzen wollen.

– Die Ärmste hatte in ihrer Angst dann alles getan, was von ihr verlangt wurde. Erst in der Nacht war sie in einem Auto nach dem Atelierhause geschafft und dort in ein kleines Zimmer eingesperrt worden, dessen einziges Fenster mit Vorhängen und darüber mit Kistendecken verschlossen war. Man hatte sie im allgemeinen gut behandelt. Zudem lebte in ihr auch eine geringe Hoffnung, daß die Worte in der Gemme Harald es erleichtern würden, sie zu finden.

In derselben Nacht, als wir dem Tode entronnen waren, und Frau Harst ihre Freiheit wiedererlangt hatte, saßen wir dann noch eine Weile in Harsts Arbeitszimmer und erholten uns von den Schrecken der letzten Stunden bei einer Flasche Burgunder.

Harst, der die Kriminalpolizei sofort nach Nr. 14 telephonisch gerufen hatte, denn daß das Haus Nr. 14 umstellt gewesen, entsprach ja in keiner Weise den Tatsachen, sagte damals zu mir – und diese Sätze haben sich meinem Gedächtnis ganz fest eingeprägt:

„Ohne die von Karl beobachteten Schattenbilder, ohne Karls regen Detektiveifer hätte ich die Million vielleicht doch opfern, hätte ich auch die anderen Bedingungen erfüllen müssen. Nun aber –: hüte Dich, Palperlon! Ich bin stets um Dich!“

Und das hatte wie ein Schwur geklungen. –

Karl Malke erhielt von Harst ein Sparbuch mit 25 000 Mark geschenkt. Aber – er freute sich darüber gar nicht so übermäßig. Nein – er bat vielmehr, Harst möchte ihn doch lieber einmal bei „einer neuen Arbeit“ mit ins Ausland nehmen; er sei ja über die Umgebung von Berlin nie hinausgekommen; so eine Reise sei ihm mehr wert als ’ne – Million!

Nun, Karls Bitte sollte sehr bald erfüllt werden.

Darüber näheres in dem

Gespensterwrack“.

 

 

Das Gespensterwrack.

 

Es war [am][13] Abend nach der aufregenden Nacht, in der wir dem Tode nur durch Harald Harsts kühle, klare Überlegung entgangen waren. Wir saßen zu dreien auf der Gartenterrasse des Harstschen Hauses: Frau Auguste Harst, Freund Harald und ich. Soeben hatte in dem hinter der Terrasse gelegenen Speisezimmer die Standuhr sieben geschlagen; soeben hatte die besorgte Mutter ihren Einzigen abermals flehentlich gebeten, für einige Zeit Berlin zu verlassen, hatte noch hinzugefügt: „Harald, ich gebe Dich ja so ungern wieder ab, wo Du kaum erst nach einjähriger Abwesenheit aus Indien zurückgekehrt bist. Aber ich werde die Angst nicht los, daß dieser entsetzliche Palperlon noch in Berlin weilt, Dir auflauern und Dich beseitigen wird. – Harald – ich flehe Dich an: reise irgendwohin, bleibe vierzehn Tage an einem Orte, wo Du sicher bist, und dann –“

„Dann?“ unterbrach er sie und streichelte ihre Hand. „Dann, Mutter, – dann hat sich nichts geändert, nichts. Palperlon wird mich ebensowenig vergessen wie ich ihn. Wir haben eine große Rechnung miteinander zu begleichen. Er ist mein Schuldner, und sein Konto ist riesengroß belastet. Er ist der Schuldner der ganzen zivilisierten Menschheit. Er hat Morde über Morde verübt; er ist eine schlaue Bestie, vielleicht die schlaueste, die je in Menschengestalt über diese Erde wandelte. Ich bin es meinem Rufe schuldig, ihn unschädlich zu machen. – Nein – Mutter, verreisen werde ich nicht. Aber ich verspreche Dir –“

Die Köchin Malwine betrat die Terrasse und legte zwei Briefe vor Harst hin.

„Soeben hat der Postbote sie gebracht,“ sagte die treue Alte und verschwand wieder.

Harst griff sofort nach dem einen Brief.

„Ah – von James Palperlon! Ich erkenne die schlechte Maschinenschrift sofort wieder.“ Er schnitt den Umschlag auf, zog einen nur einmal gefalteten Bogen heraus.

„Hm,“ meinte er. „Eine Zeichnung. Nichts als eine Zeichnung.“ Er lächelte. „Palperlon will mir, so scheint’s, ein Rebus zu raten geben. Nun – da dies einige Arbeit – geistige Arbeit – kosten dürfte, legen wir diese Art Mitteilung zunächst beiseite.“

Er nahm den anderen Brief auf.

„Ebenfalls Anschrift getippt. Aber – diese Maschine ist tadellos.“ Er drehte den Brief in der Hand, besichtigte ihn, als ob’s an dem Umschlag noch allerlei zu sehen gäbe, und fuhr dann fort: „Ein sehr teures Papier, dieser Umschlag. Erstklassige Luxusware. Der Brief könnte von einer Dame herrühren. Er duftet nach – nach, – ja, es dürfte eine Mischung von Divinia und Peau d’Espagne sein.“

Er schob sein Federmesser unter die Klappe und löste diese ohne Schwierigkeit.

„Sehr flüchtig zugeklebt!“ meinte er. „Auch das deutet auf eine Dame hin!“

Ich sah, daß der aus demselben elfenbeinfarbenen Papier bestehende Briefbogen ebenfalls mit Maschinenschrift bedeckt war.

Harst las halblaut vor:

„Berlin, den 2. Oktober 19…

Sehr geehrter Herr Harst!

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die Sie bewundern. Keineswegs! Ihr sogenannter Weltruhm als Detektiv ist ein Kind des Zufalls! Sie haben eben Glück gehabt bei Ihren Abenteuern, die Ihr „Leibdichter“ Schraut der staunenden Menschheit zudem noch in einer Aufmachung in Gestalt von Erzählungen vorsetzt, die Ihr Genie stets dick unterstreicht – zu dick für Leute, die nicht gerade vertrottelte Idioten sind!“

„Eine Frechheit,“ entschlüpfte es mir. Denn der „Leibdichter“ war ja ich selbst.

Harst lachte leise auf. „Ich bin ja gespannt, worauf dieser Brief abzielt. – Also weiter:“

„Bewundern würde ich Sie nur, wenn Sie eine Aufgabe lösten, an die sich ein Ihnen ebenbürtiger Geist ohne Erfolg herangewagt hat. Dann wüßte ich, daß diese Aufgabe wirklich Schwierigkeiten bietet, zu deren Bewältigung mehr als ein Durchschnittstalent gehört. – Ich selbst arbeite seit einem Jahr auf demselben Gebiet wie Sie, nur daß ich nie irgendwie an die Öffentlichkeit trete. Vielleicht haben Sie in den Zeitungen gelesen, daß ein geheimnisvoller Unbekannter stets aus dem Verborgenen heraus die Polizei nach Kräften unterstützt hat. Fragen Sie nur Ihren Freund Bechert. Der kennt mich. Vielmehr – er kennt mich nicht! – mich kennt niemand. Ich bin insofern das gerade Gegenteil von anderen Leuten, die ihr – Genie in alle Welt ausposaunen lassen. Ihr Konkurrent bin ich gewissermaßen; auch ein Liebhaberdetektiv! Nur keiner, der das Hurra-Geschrei der großen Masse braucht. – Heute erst las ich in der Berliner B. Z., daß Sie bereits heimgekehrt sind und auch, begünstigt von Ihrem alten Glück, Ihre Frau Mutter wiederaufgefunden haben. Der spaltenlange Artikel in der B. Z. interessierte mich nur insofern, als ich bisher nicht wußte, daß Warbatty nur das durch Hypnose zu blindem Gehorsam gezwungene Werkzeug dieses James Palperlon gewesen ist. Palperlon ist Ihnen gestern nacht entschlüpft. Jetzt wird er darauf sinnen, Sie schleunigst in den Hades zu schicken. Nun: ich werde Sie schützen! Und stets, wenn Sie einer Lebensgefahr entronnen sind, werde ich Ihnen dies mitteilen. Mehr noch: ich werde fortan bei der Aufklärung von Verbrechen und rätselhaften Vorfällen als Ihr Konkurrent arbeiten. Wollen sehen, wer mehr und schneller etwas erreicht. – Ich selbst bin auch erst vorgestern aus Norwegens Hauptstadt zurückgekehrt. Haben Sie vielleicht von dem Gespensterwrack gehört? Deswegen war ich auf dem Christianiafjord. Leider war ich dort umsonst zwei Wochen begeisterter Angler. Das heißt: ich habe eine Niederlage erlitten! Wenn Sie das Geheimnis jenes Wracks aufklären, würde ich meine Ansicht über Sie ein wenig ändern.“

„Aha!“ sagte Harst. „Also ist er der „ebenbürtige Geist, der sich erfolglos an eine Aufgabe herangewagt hat“, wie es auf der ersten Seite heißt. – Ein Wink mit dem Zaunpfahl für mich! Ich verstehe. Er will, daß ich mich nun an die Gespenster des Wracks heranmache!“

„Geben Sie sich keine Mühe, mich zu „enthüllen“, Herr Kollege! Es gelingt Ihnen nicht. Ich bin Berliner wie Sie. Das muß Ihnen genügen. – Sie hören bald mehr von mir, denn James Palperlon hat bereits seine unsichtbaren Giftzähne nach Ihnen ausgestreckt! – Sollten Sie wirklich nach Christiania reisen, Herr Harst, so warne ich Sie schon jetzt! Zwei von den dortigen Kriminalbeamten, die einmal eine Nacht auf dem Wrack zubrachten, sind seitdem spurlos verschwunden. – Leben Sie wohl! Ich bin in mäßiger Verehrung

Ihr Lihin Omen.“

„Köstlich!“ rief Harst. „Lihin Omen! Großartig ausgedacht – großartig! Denn dieses Lihin Omen einzeln rückwärts gelesen heißt Nihil Nemo, ist lateinisch und bedeutet: Nichts Niemand. Also wir haben es mit einem Herrn Nichts Niemand zu tun!“ – Er streichelte seiner Mutter wieder zärtlich die Hand: „Du bist ihm zu Dank verpflichtet, diesem Herrn! Denn – jetzt – werde ich reisen – nach Christiania. Mutter – Du siehst mithin Deinen Wunsch erfüllt. Wir werden gleich morgen Berlin unter den gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln den Rücken kehren. Der wackere Karl, unser kleiner Gehilfe, soll auch mit – zum Dank für seine Unterstützung im Falle „Schattenbilder“.“

Am nächsten Nachmittag 5 Uhr waren wir in Hamburg – wieder in Hamburg, wo wir ja erst vorgestern nach unserer Orientreise den Lloyddampfer verlassen hatten.

Harald mietete dann für 14 Tage am anderen Morgen eine 15-Meter-Jacht mit Aushilfsmotor, die einem alten, pensionierten Schiffskapitän namens Tiessen gehörte. Der alte Tiessen und ein gleichfalls älterer Matrose begleiteten uns. Harst hatte seinen wahren Namen zunächst verschwiegen, erst als wir dann Helgoland hinter uns hatten, erklärte er den beiden Seeleuten, wer wir seien und was wir in Christiania wollten.

Kuno Tiessen und der Matrose Jakob Pedersen waren sofort Feuer und Flamme für dieses Abenteuer, gelobten feierlichst, Harsts Inkognito zu wahren und entpuppten sich bald als ein paar prächtige Menschen.

Harst war blondbärtig und nannte sich Hermann Hirt, ich hieß Max Schütz und Karl Malke war mein Sohn Karl.

Wir hatten mit dem Wetter großes Glück. Der Nordwest, Windstärke 6, brachte uns in drei Tagen an die Mündung des berühmten, 115 Kilometer langen Christianiafjords, an dessen Nordende die Hauptstadt Norwegens liegt.

Unsere Jacht hieß Optimus (der Beste). Sie war recht elegant eingerichtet, wenn auch nicht mehr ganz der Neuzeit entsprechend, da sie bereits auf ein Alter von einigen zwanzig Jahren zurückschauen durfte. Der kleine Motor war nachträglich eingebaut. Sie besaß ein ganz leichtes Beiboot aus Aluminium. Dieses spielte nachher noch eine besondere Rolle.

Harst hatte die Zeichnung mit auf die Reise genommen, die Palperlon ihm damals abends durch die Post zugeschickt hatte, und beschäftigte sich beinahe dauernd mit ihr. Als ich ihn am zweiten Reisetage wieder einmal im Wohnsalon über dieser Zeichnung brütend vorfand und scherzend meinte, das Palperlonsche Bilderrätsel scheine ihm ja wichtiger zu sein als die unser im Christianiafjord harrenden Aufgabe, erwiderte er:

„Es muß etwas ganz besonderes dahinterstecken. Sonst hätte Palperlon sich nicht die Mühe gemacht, etwas zu ersinnen, das sogar meinem Spürsinn so hartnäckig seine wahre Bedeutung verheimlicht.“

Ich kannte die Zeichnung ja längst von Ansehen. Sie bestand nur aus ein paar Punkten, Strichen und sechs scheinbar willkürlich hier und da hineingeschriebenen lateinischen großen Buchstaben. – Ich komme später nochmals genauer auf sie zu sprechen. –

Jedenfalls wir waren am Ziel. Wir waren im Christianiafjord. Bis nach Christiania hinauf brauchten wir die Fahrt nicht fortzusetzen, da Kapitän Tiessen eins doch genau wußte: daß das Wrack etwa 20 Kilometer von der Fjordmündung entfernt unweit des Fulehuk-Leuchtturmes lag.

Harst hatte bereits seinen Schlachtplan fertig. Wir wollten zunächst das Städtchen Vallö am Westufer des Fjords anlaufen, angeblich einer Beschädigung am Steuer wegen.

Nachmittags drei Uhr waren wir im Hafen von Vallö, machten an einem hölzernen Landungssteg fest und ließen zunächst von Kapitän Tiessen die nötigen Meldungen bei der dortigen Hafenpolizei erledigen. Wir blieben an Bord, saßen auf dem Kajütendeck unter dem jetzt ausgespannten Sonnensegel und tranken den vorzüglichen Kaffee, den Jakob Pedersen, zugleich auch unser Koch, gebraut hatte. Harst hatte Tiessen streng verboten, sich etwa in der Stadt nach dem Wrack zu erkundigen. Überhaupt sollten wir alle so tun, als ob wir davon noch nie etwas gehört hätten und als ob uns Wrack und Gespenster sehr gleichgültig ließen.

Um ½5 kam Tiessen den Landungssteg entlanggestampft. Er hatte auch verschiedene kleine Einkäufe gemacht und dabei gleich deutsche Banknoten gegen Norwegische eingewechselt, im ganzen für 500 Mark. Damit hoffte Harst vorläufig auszukommen.

„Wie steht’s mit einem Schlosser, der unsere Steuerkette wieder ausflickt, die wir absichtlich zerrissen haben?“ fragte Harst.

„Morgen früh erscheint er,“ antwortete Tiessen und zählte Harst das Geld hin.

„Hörten Sie zufällig etwas über das Wrack?“ meinte Harst.

„Ja – zufällig! In dem Geschäft, wo ich mir Kautabak kaufte, bediente mich ein Mann, der mir gleich so bekannt vorkam. – Denken Sie, Herr Harst: es war ein früherer Steuermann, mit dem ich mal auf einem englischen Dreimaster bis Australien angemustert hatte. Na – das gab ’ne große Freude, als wir uns wiedererkannten. Der Sven Torgelson hat durch ’n Unfall seine linke Gehmaschine eingebüßt und spielt nun den Krämer. Ein Prachtkerl ist’s! Er wird mich abends hier an Bord besuchen. Na – und Torgelson sagte, als ich scherzend meinte: „Also als Wrack bist Du hier in Vallö gestrandet.“ – „Stimmt – als Wrack! Aber auf mir tanzen nur meine drei Kinder herum, wenn ich auf dem Sofa Mittagsschlaf halten will, – keine Gerippe wie auf dem Gespensterwrack!“ – Da hab’ ich denn mächtig den Dummen markiert und gefragt: „wohl so ’n neuer Seespuk, das Gespensterwrack, wie?“ Und da wurde er gleich sehr ernst und erklärte: „Du, Tiessen, – das ist nicht zum Witzemachen! Jetzt hab’ ich keine Zeit. Aber abends auf dem Optimus erzähl’ ich Dir alles ganz genau. Das ist so was für zwei alte Seebären wie wir es sind. – Übrigens war vor kurzem ein Deutscher hier, ein Berliner, der sehr viel im Fjord angelte und den wir alle im Verdacht hatten, er hielte sich nur hier auf, um dieser tollen Geschichte mit den Skeletten auf dem wracken Kahn ein bißchen auf den Grund zu gehen. Na – er ist wieder abgereist, und die Gespenster sind noch genau so rührig wie früher,“ – So sagte er. Und dann wechselte er mir noch zwei Hundertmarkscheine, und ich schob ab.“

„Herr Lihin Omen!“ meinte Harst und sah mich bedeutungsvoll an.

Ich verstand: Der Angler war fraglos unser Konkurrent gewesen.

– – – – – – – –

Gleich darauf verließen Harst und ich die Jacht. Wir wollten uns die Stadt ansehen. Karl hatte gebeten, mitkommen zu dürfen. Aber Harst meinte, er könne nachher mit Pedersen an Land.

Ich ahnte, daß unser Spaziergang durch das Städtchen nicht ohne Nebenabsichten unternommen wurde. – Unsere Verkleidung war so tadellos, daß selbst unser Freund Bechert uns nicht erkannt hätte.

Wir schlenderten durch die sauberen Straßen vorbei an ebenso sauberen, altertümlichen Häuschen, schauten uns die uralte Kirche von außen an und kehrten schließlich in einer Kneipe am Marktplatz ein, wo ein Teil der Tische hinter Efeukästen auf dem Bürgersteig stand. Wir setzten uns draußen nieder und waren überrascht, hier echt Nürnberger Bier vorzufinden, dazu auf der Speisekarte, natürlich in norwegischer Sprache, – „Eisbein mit Sauerkohl“.

Dieses Eisbein lockte. Wir bestellten jeder eine Portion, die uns der Wirt dann sehr bald brachte. Alles war hier peinlich sauber, und die ganze Aufmachung atmete biedere Gemütlichkeit.

Die Kneipe war recht leer. Hier hinter den Efeuwänden saßen außer uns nur noch fünf Personen an zwei Tischen: ein jüngeres Ehepaar mit einem Kinde und ein älteres Ehepaar, die erst nach uns gekommen waren.

Der Wirt, der sich schon vorhin mit Harst auf englisch unterhalten hatte, da Harsts norwegische Sprachkenntnisse recht gering waren, brachte uns die wieder gefüllten Biergläser.

„Gibt es öfter bei Ihnen dieses deutsche Spezialgericht?“ fragte Harst ihn jetzt.

„Nein. Nur wenn die Herren Maler es sich bestellen. Diese Portionen sind von gestern übrig geblieben. Wir haben hier nämlich eine kleine Malerkolonie jeden Sommer, darunter auch stets Deutsche.“

„So so. Dann sind wohl jene älteren Herrschaften dort hinten auch Maler?“

„Nein. Die kenne ich wenigstens nicht. Es müssen Fremde sein. Der Herr mit der goldenen Brille spricht norwegisch sehr schlecht.“ – Der Wirt ging wieder.

Da wurde es plötzlich gerade an jenem Tische lebhaft. Der Wirt stand dort und hatte eine Banknote in der Hand, redete auf den Graubärtigen ein und zeigte auf die Banknote. Dann sprachen sie leiser.

Das Paar hatte jetzt bezahlt und ging.

Auch Harst rief den Wirt herbei und wollte unsere Zeche begleichen.

Der Wirt war noch immer erregt. „Eine wahre Plage ist’s mit dem verdammten Papiergeld,“ sagte er, als Harst ihm einen Fünfzigkronenschein reichte. „Der Österreicher dort, der alte Herr, der soeben mit seiner Frau wegging, ist auch wieder mit ein paar dieser leider nur zu tadellos nachgemachten Fünfzigkronennoten angeschmiert worden.“

„Na – falsches Papiergeld gibt’s überall,“ meinte Harst.

„Aber nicht in solchen Mengen wie hier bei uns,“ brummte der Wirt. „Man muß sich jetzt jeden Fünfzigkronenschein so genau ansehn wie ’n seltenes Bild, sonst –“

Harst war plötzlich aufgestanden. „Bin sofort wieder da!“ Und weg war er.

Harst kehrte erst nach etwa zwanzig Minuten zurück, fragte den Wirt noch, ob das österreichische Ehepaar nicht doch Malersleute seien.

„Nein. Der alte Herr ist Schriftsteller und will sich hier erholen. Sie sind aus Wien. Sie wohnen am Hafen im Hotel König Christian. Wegen der falschen Banknote kamen wir ins Gespräch. Die Leute heißen Prager – Schriftsteller Karl Prager. Er nannte mir seinen Namen, weil er der Polizei melden will, daß er mit acht falschen Scheinen hereingefallen ist und sich auf mich berufen will, da ich doch eine der Fälschungen erkannt habe.“

Wir gingen nun auch. Es war halb acht geworden.

Es war jetzt völlig dunkel. Aber die Straßenbeleuchtung reichte hin, sich zurechtfinden zu können. Als wir den Wohnsalon der Jacht dann betraten, saßen Tiessen, Pedersen und Karl wirklich schon mit dem Norweger bei Grog und Zigarren und hatten den kleinen Raum auch schon gehörig vollgequalmt.

Bevor Torgelson uns nun die Geschichte des Gespensterwracks mitteilte, erwähnte er, daß er des öfteren den Kapitän des Lotsendampfers hier vertrete, da der Kapitän gallensteinleidend sei. –

Im vorigen Frühjahr tobte eines Tages im April ein schwerer Sturm vor der Einfahrt in den Christianiafjord. Spät abends versuchte dann der in Bergen beheimatete und mit Heringen beladene, recht altersschwache Schraubendampfer „Hardanger“, der in der schweren See bereits leck gesprungen war, in den Fjord einzulaufen, passierte auch noch glücklich das Leuchtfeuer von Fulehuk, mußte dann aber von seinem Kapitän am Ufer einer kleinen, felsigen Insel nördlich des Leuchtturmes auf Strand gesetzt werden, da er plötzlich sehr schnell zu sinken begann. Der Kapitän steuerte ihn zwischen zwei hohe, der Insel vorgelagerte Klippen, wo er sich dann so festrammte, daß er nun bis zum Maschinenraum voll Wasser lief. Die Reederei, der der alte Kasten gehörte, wollte das Geld nicht mehr daranwenden, ihn wieder flott zu machen, ließ nur die Ladung und alles Wertvolle daraus bergen und wollte ihn nachher als Brennholz auf Abbruch verkaufen. Es fand sich jedoch niemand, der Brennholz brauchte, in dem holzreichen Norwegen weiter kein Wunder. So blieb denn das Wrack liegen, wo es lag, und wurde den Touristen im Sommer oft als Sehenswürdigkeit gezeigt. Dann tauchten allerlei Gerüchte auf, daß es auf dem Wrack „umgehe“, und schließlich wurden auch die Behörden auf dies seltsame Gerede aufmerksam. Die umwohnenden Fischer sprachen von Geistern und Gespenstern, die auf dem Dampfer nächtlicherweile ihr Wesen treiben sollten. Sehr bald hatten dann ein paar Kriminalbeamte aus Christiania, die hinter dieser Gespenstergeschichte verbrecherische Vorgänge witterten, durch heimliche Beobachtung des Wracks festgestellt, daß diesem Gerede tatsächlich etwas Wahres zugrunde lag. Sie hatten mit eigenen Augen in mondhellen Nächten gesehen, wie auf dem Deck des Hardanger drei menschliche Gerippe gleich lebenden Wesen umherwanderten, und suchten nun den Verübern dieses nicht nur für abergläubische Gemüter reichlich grauenvollen Spuks das Handwerk zu legen, denn daß Menschen von Fleisch und Blut dahintersteckten, war ihnen gewiß. Zwei Detektive, besonders beherzte und erprobte Männer, begaben sich daher, nachdem eine genaue Durchsuchung des Wracks ergebnislos geblieben, eines Abends in aller Stille an Bord, während der kleine Lotsendampfer wie schon vordem wieder in der Nähe wie zufällig kreuzte, was bei einem Lotsenfahrzeug nicht weiter auffallen konnte.

Als der Mond aufgegangen war, hatte Torgelson, der wieder gerade den Kapitän vertrat, mit Hilfe eines Nachtglases das Deck des Wracks ständig genau im Auge behalten. Plötzlich hatte er dann, und zwar genau um Mitternacht, wieder jene drei Skelette bemerkt, die mit schlenkernden Knochenarmen hin und her gingen und sogar auf die Kommandobrücke stiegen.

„Ich sage Ihnen, Herr Harst,“ fuhr er nun in seiner Erzählung fort, „es war ein Anblick, daß einem eine Gänsehaut über den Rücken lief. Ich bin wahrhaftig nicht im geringsten abergläubisch, – doch – mir hätte jemand tausend Kronen geben können, und ich wäre damals nicht auf das Wrack geklettert, wenigstens nicht nachts. Auch heute täte ich’s um –“

„Schon gut,“ unterbrach Harst ihn etwas ungeduldig. „Was wurde denn aus den beiden Detektiven?“

Torgelson nickte traurig mit dem Kopf. „Was aus ihnen geworden ist? – Nichts! Sie sind nie mehr zum Vorschein gekommen – nie mehr!“

„Ah – sehr merkwürdig! – Hat man das Wrack nochmals durchsucht?“

„Natürlich. Gleich am Morgen, als es hell wurde.“

„Wie lange zeigten sich gewöhnlich diese Gespenster auf Deck?“

„Regelmäßig etwa eine halbe Stunde – so von zwölf bis halb eins. – Aber – sagen Sie nicht: zeigten sich! – Sie zeigen sich noch, wenn auch seltener.“

„Hat denn die Polizei nicht nochmals Beamte eine Nacht auf dem Wrack zubringen lassen?“

„Gewiß. Aber – damals blieb der Spuk aus, der ja auch nicht in jeder Mondnacht auftauchte, nur hin und wieder. Dreimal noch sind Detektive, stets zu vieren, auf dem Wrack gewesen, – immer ohne Erfolg. Da hat man denn die Sache aufgegeben, obwohl eigentlich das Verschwinden eines Amerikaners, der im Spätherbst des Vorjahres „aus Sport“, wie er vorher übermütig sagte, drei Tage auf dem alten Kasten bleiben wollte und auch allein in einem Boot hingefahren ist, den Eifer der Polizei wieder etwas hätte wecken müssen. Ich habe aber so das Gefühl, als ob auch den Beamten die Geschichte unheimlich ist. Ich kenne verschiedene von ihnen persönlich. Wenn man von dem Gespensterwrack spricht, werden sie mit einem Male sehr still und fangen schnell von was anderem zu reden an.“

„Ist das alles, Herr Torgelson?“ fragte Harst nun.

„Ja. Ick denke aber, es ist gerade genug, um den Namen Gespensterwrack zu rechtfertigen.“

Harst blickte sinnend vor sich hin.

„Wie hieß der Amerikaner? Was war er?“ fragte er dann.

„Oh – es war ein älterer Herr schon. Den Namen habe ich nicht behalten. In New Orleans soll er zu Hause gewesen sein. Ich habe ihn selbst gesprochen, bevor er auf die Idee kam, die Gespenster vom Hardanger für alle Zeit zu verscheuchen. Er hat mich nach all diesen Dingen ausgefragt, die ich Ihnen soeben berichtet habe. Es war ein kräftiger Mann mit starkem, leicht ergrautem Vollbart und einer Hornbrille auf der Nase. Ich glaube, er sagte, er wäre Künstler, – Maler oder so was ähnliches. Es kommen ja so viele Maler hier an den Fjord. Sie pinseln immer an der blauen Fjordluft herum.“

Harst zündete sich eine neue Zigarette an, meinte dabei so nebenher:

„Vor kurzem soll doch ein Berliner hier sich aufgehalten und wahrscheinlich ebenfalls dem Spuk nachgespürt haben. – Kannten Sie den Herrn vielleicht?“

„Jedes Kind in Vallö kannte ihn. Er machte einen etwas – hm – verdrehten Eindruck. Er war Photograph von Beruf, sah aber mit seiner Künstlermähne und dem blonden Riesenbart wie einer von den Malern aus den Witzblättern aus. Er photographierte alles mögliche und angelte bei gutem Wetter den ganzen Tag. Jedenfalls muß er reich gewesen sein. Er hielt abends jeden frei, der nur Wein trinken wollte, und in den Hafenkneipen war er ein sehr beliebter Gast.“

Harsts Blicke begegneten den meinen. Wir verstanden uns: Der Verdrehte war Herr Lihin Omen gewesen, der nur deshalb so freigebig gewesen, weil er die Leute aushorchen wollte.

– – – – – – – –

Am nächsten Morgen sagte Harst beim Frühstück auf dem Deck zu mir:

„Ich werde das Ehepaar Burton nachher besuchen. Karl soll mich begleiten. Wir nehmen das Aluminiumboot und den Ansteckmotor dazu.“

„Wen?“ fragte ich. „Burton?“ – Der Name war ja nicht gerade selten in Amerika und England. Hier aber hatte ich ihn noch nicht gehört. – „Meinst Du etwa die Pragers?“ fügte ich hinzu.

„Nein. Ich meine Thomas Burton. Er wohnt auf einer der Inseln südöstlich von hier. Es sind kaum vier Kilometer bis zu seinem Eiland. Ich habe mir das Inselchen und die Baulichkeiten beschreiben lassen. Ich werde schon hinfinden.“

Was Harst auf der kleinen Insel erlebte, hat er mir nachher genau erzählt. Ich schildere diesen Ausflug daher so, als wäre ich dabei gewesen. –

Das Beiboot, getrieben von dem knatternden Heckmotor, legte bald an einer der zahlreichen Inseln an und zwar an einem kurzen Holzsteg, an dem bereits ein Boot vertäut war. – Karl mußte im Boote bleiben, während Harst auf das niedrige, gelbgestrichene Gebäude zuschritt. Nachdem er wiederholt den eisernen Türklopfer in Bewegung gesetzt hatte, ohne daß jemand sich meldete, ging er um das Haus herum, da er die Bewohner auf dem Hofe anzutreffen hoffte.

Harst betrat den Gemüsegarten, der viele alte Obstbäume und Beerensträucher enthielt, ging suchend durch die schmalen Wege und stand plötzlich vor einer Weinlaube, in der auf einer Bank ein weibliches Wesen saß, das den Oberkörper über einen plumpen Tisch gelehnt und das Gesicht in die Arme vergraben hatte. Ein wildes Schluchzen schüttelte den Körper dieser Frau wie im Fieberfrost hin und her, und zuweilen kam’s auch wie ein leiser Aufschrei über ihre Lippen.

Harst hüstelte. Endlich richtete die Weinende sich erschrocken auf, stierte den Fremden wie einen bösen Geist an und rief dann auf Englisch:

„Wer sind Sie? Was führt Sie her?“

Harst nannte seinen hiesigen Namen Hirt und erklärte, er sei in der Absicht hergekommen, sich nach einem Wrack zu erkundigen, das hier im Fjord unter der Bezeichnung Gespensterwrack benannt sein solle.

Die Wirkung dieser Sätze war eine recht auffallende. Die Frau erbleichte, lehnte sich wie in einem Anfall von Schwäche an den Tisch, hob abwehrend die Hände und brachte nur stockend hervor:

„Gehen Sie, mein Herr, gehen Sie! Ich weiß nichts von einem solchen Wrack, oder besser, – ich weiß so wenig darüber, daß es Ihnen kaum genügen dürfte –“

Harst hatte längst gemerkt, daß diese vergrämte Frau ihn zu täuschen suchte.

„Ich gehöre zu einem Vergnügungsfahrzeug,“ erwiderte er, „das nur zu kurzem Aufenthalt in den Hafen von Vallö eingelaufen ist. Zufällig hatte ich früher einmal in einer norwegischen Zeitung eine Notiz über dieses Wrack gefunden. An diese Notiz erinnerte ich mich jetzt. Und deshalb wollte ich nun hier an Ort und Stelle Genaueres zu ermitteln suchen.“

Während er in dieser Weise Gleiches mit Gleichem vergalt und log, hatte er in dem Gesicht der Frau eine plötzliche Veränderung wahrgenommen. Ihr Blick war an ihm vorübergeglitten, und wie in jähem Schreck war sie dann leicht zusammengezuckt. Außerdem sah er jetzt auch, da er mit dem Rücken nach der Sonne hin stand, neben sich am Boden den Kopfschatten eines Mannes, der eine Mütze trug.

„Sie – Sie sind ein Deutscher?“ forschte die Frau nun weiter. „Sie sprechen das Englische wenigstens mit jenem Akzent, wie’s alle Deutschen tun.“

Harst verneigte sich zustimmend. „Sie haben richtig vermutet. – Welche Hitze heute,“ fügte er hinzu und schaute nach oben, drehte sich dabei langsam um. „Keine Wolke am Himmel, wirklich ein Wetter wie –“

Nun hatte er den Mann mit der Mütze vor sich, tat sehr überrascht und sagte zu dem glattrasierten, starkknochigen Menschen, der etwas verlegen zurückgetreten war:

„Verzeihen Sie, daß ich hier eingedrungen bin. Ich habe wohl den Herrn dieses Hauses vor mir?“

Der Andere nickte wenig höflich. „Yes – ich bin Thomas Burton, Landschaftsmaler, und das ist meine Frau.“

Harst wiederholte nun den Zweck seines Besuches und erklärte noch, er habe in Vallö gehört, daß Burton das Wrack des Hardanger gemalt habe. Er nehme daher an, hier besonders genaue Auskunft erhalten zu können. Auf die Reden der abergläubischen Bevölkerung von Vallö sei eben nichts zu geben.

„Ganz recht!“ nickte Burton. „Die ganze Sache ist ja nichts als ein richtiges Seemannsgarn, das heißt – Schwindel.“

Harst verabschiedete sich. „Entschuldigen Sie die Störung, Master Burton. Es sollte mir leid tun, wenn ich Ihre Gattin durch meine Fragen aufgeregt hätte.“

Gleich darauf ratterte das kleine Beiboot wieder davon.

Um elf Uhr legte es neben dem Optimus an. Karl stieg mit langem Gesicht auf Deck und flüsterte mir zu: „Ich habe nichts gesehen als Inseln, Häuser und auf dem Eiland, wo die Burtons wohnen, weit ab vom Landungssteg ein blondes Mädelchen, das ein Schifflein an einer Schnur schwimmen ließ.“

Gegen ein Uhr nachmittags verließen Harst und Karl die Jacht wieder in dem winzigen Boot. –

Harst saß am Steuer des kleinen, flinken Bootes und lenkte es nicht etwa auf die winzigen Inselchen zu, hinter denen das Wrack des Hardanger nach der Mitte des Fjords zu liegen mußte, – nein, er tat vielmehr so, als wollte er die Küste nach Süden hinabfahren. Er fürchtete nach seinen bisherigen Erlebnissen hier mit Recht, daß er von gewissen Leuten beobachtet werden könnte, und benutzte daher erst eine gute Gelegenheit, die sich ihm in einer engen Fahrstraße zwischen zwei langgestreckten, kahlen Felseninseln bot, mit dem Boot in einer schmalen Bucht einer dieser Inseln zu verschwinden.

Eine Stunde später glitt ein kleines Segelboot langsam an der Insel vorüber, wo der Maler Burton dicht am Strande wohnte. Harst bemerkte, daß ein Boot, das vorhin dort drüben an dem Landungssteg gelegen hatte, als er in jenem Hause sich anscheinend nur nach dem Wrack hatte erkundigen wollen, jetzt verschwunden war. Es war hellgrau mit blauem und rotem Streifen gestrichen. Daß es den Burtons gehörte, wußte er.

Er wandte sich jetzt an den Jungen, der am Heck neben ihm stand und so tat, als hantiere er mit einer Schleppangel herum. – „Karl, wir wollen jetzt hier die umliegenden Inseln und auch die Küste nach einem hellgrauen Boot mit blauem und rotem Streifen absuchen. Paß also gut auf. Ich nehme an, das Boot wird irgendwo in der Nähe eines Hauses vertäut sein.“

Während sie nun die Inseln umfuhren und in den zahlreichen Kanälen überall scharf Ausschau nach dem Fahrzeuge der Burtons hielten, stärkten sie sich durch den Proviant, den Harst sich von Jakob Pedersen hatte mitgeben lassen.

Von den Inselchen südöstlich von Vallö bis zum Fulehuk-Leuchtturm, der gleichfalls auf einem Felseneiland errichtet ist, hatten sie nach einer Stunde jeden Winkel, jede Bucht vergeblich durchforscht. Boote lagen genug an den Inselgehöften, nur keins mit dem bewußten Anstrich. Jetzt näherten sie sich von Westen her jener Insel, an deren Ostufer zwischen den Klippen das Wrack festgekeilt war. Diese Insel zog sich mit ihrem dichten Bestande von Kiefern und allerlei Büschen in einer Länge von zweihundert Meter bei vielleicht achtzig Meter Breite von Nordwest nach Südost hin. In der nördlichsten Ecke standen dicht beieinander drei zierliche Blockhäuser, dahinter ein Stallgebäude und ganz nahe am Strande wieder ein zum Teil noch auf Pfählen in das Wasser hinausgebautes Bootshaus, an dem ein Steg entlanglief. Und hier schaukelte an einer Kette das gesuchte Fahrzeug.

Nun steuerte Harst das Beiboot nach Norden zu um die Insel herum. Sehr bald kam ihm einer jener kleinen Touristendampfer entgegen, die von Christiania aus die Vergnügungsreisenden in dreistündiger Fahrt durch den Fjord und an dessen landschaftlich reizvollste Punkte führen.

Harst hielt auf den Dampfer zu. Absichtlich ließ er wie durch besondere Ungeschicklichkeit das Beiboot dicht vor den Bug des Dampfers laufen und zwang dessen Kapitän auf diese Weise, die Maschine rückwärts gehen zu lassen. Der Kapitän fluchte fürchterlich. Da rief Harst ihm zu: „Wollen Sie das Wrack des Hardanger besuchen? – Wenn ja, so biete ich hundert Kronen, falls Sie mich an Bord nehmen.“

„Ich habe eine englische Reisegesellschaft dorthin zu bringen,“ brüllte der Kapitän zurück. „Schert Euch zum Teufel mit Eurem Kahn. Wer nichts vom Segeln versteht, soll an Land bleiben!“

„Dreihundert Kronen, wenn ich mit darf,“ erwiderte Harst gelassen.

Dreihundert Kronen genügten. Bevor Harst dann auf den Dampfer hinüberkletterte, raunte er dem Jungen zu: „Kehre nach der kleinen Bucht zurück, wo wir die Segel setzten, stecke den Motor wieder auf und komm’ um zwei Uhr nachts in die Nähe des Wracks. Vier Lichtblitze mit meiner Taschenlaterne sollen das Signal sein, das Dich dicht an das Wrack heranruft. Sei vorsichtig und schlau, mein Junge! – Wiedersehn!“ –

Der Hardanger machte jetzt bei Tage einen durchaus harmlosen Eindruck. Immerhin bot er, wie er so mit den geknickten Masten, dem schiefen Schornstein und der halb eingedrückten Kommandobrücke zwischen den Felsen hing, ein recht abenteuerliches Bild.

Harst schlüpfte alsbald unbemerkt durch die Luke des Hinterschiffs in den Maschinenraum hinab, in den nur wenig Wasser eingedrungen war. Die Maschinen hatte man entfernt. Nur die altersschwachen Kessel waren als wertlos an Ort und Stelle geblieben. Da es sich um veraltete und keine modernen Röhrenkessel handelte und da außerdem bei dem einen der obere Reinigungsverschluß offenstand, kroch Harst durch das für einen schlanken Mann gerade genügend große Loch in den Kessel hinein. Ein besseres Versteck hätte er kaum finden können. Er hatte ja darauf gerechnet, hier im Maschinenraum am leichtesten sich zu verbergen, aber an diesen Schlupfwinkel hatte er doch nicht gedacht. Er wartete nun in dem völlig leeren Eisengehäuse eine gute Stunde. Inzwischen hörte er verschiedentlich Stimmen. Die Touristen waren also auch bis hier nach unten gekommen. Dann wurde es totenstill auf dem Wrack. Harst verließ nun sein Versteck und begann beim Scheine seiner Taschenlampe, für die er zwei Ersatzbatterien mitgenommen hatte, den Dampfer geräuschlos zu durchsuchen.

Harst suchte mit jener Ruhe und Beharrlichkeit, über die er stets verfügte, wenn er an der Arbeit war. Er stand jetzt im Mittelschiff in einer Kammer an der Backbordwand über dem Maschinenraum und beleuchtete hier sehr genau einen Haufen Gerümpel, der in einer Ecke lag und der sich aus ein paar offenen Kisten, zerbeulten Blechkannen und leeren Heringstonnen zusammensetzte. Von allen Seiten ließ er den weißen Strahlenkegel der Taschenlampe über diesen Stapel unbrauchbarer Dinge hingleiten und dachte dabei: „Merkwürdig, daß die Blechkannen oben auf den Kisten stehen geblieben sind, obwohl doch der Hardanger bei dem Anprall gegen die ihn jetzt wie eine Zange umklammert haltenden Felsen eine Erschütterung erlitten haben muß, die diesen Haufen vollständig auseinander gestreut haben müßte. Und – daß dieser etwa nachher so sauber aufgeschichtet worden sein sollte, ist kaum anzunehmen! Es ist ein Berg Gerümpel – gewiß, – aber – ein künstlicher Berg, übereinandergehäuft zu einem besonderen Zweck, vielleicht um –“

Da zerriß dieser Gedankenfaden. Harst glaubte endlich dem Ziel nahe zu sein. Sein Gesicht bekam einen anderen Ausdruck, sein Denken eine andere Richtung, – denn er hatte soeben, als er den Zwischenraum zwischen dem Stapel und der Bordwand mit seinen für derartige Dinge besonders geschärften Augen musterte, in dem Holze der dicken Bordplanken einen feinen Strich bemerkt, der senkrecht nach unten lief. Nun zwängte er sich in diesen Zwischenraum hinein. Es ging ganz gut. Dann entschlüpfte seinen Lippen ein leises: „Also das ist’s!“ Er hatte nämlich herausgefunden, daß der feine Strich in den Planken die linke Spalte einer niedrigen Tür sein mußte, die hier durch eine Säge aus der Bordwand herausgeschnitten war.

Harst holte sein starkes Taschenmesser hervor, bückte sich und stocherte in einem sehr harmlos aussehenden Loche neben der linken Rille herum. Er hörte, daß die Spitze der Klinge auf Metall entlangkratzte, drückte, – drückte stärker, drückte gleichzeitig mit dem Knie gegen die losgetrennten Plankenstücke und – fühlte, daß sie nachgaben.

– – – – – – – –

Die Geheimtür hatte sich nach außen geöffnet. Dahinter gähnte[14] ein dunkles Loch. Harst leuchtete hinein. – „Ah, das hätte ich doch nicht erwartet!“ dachte er. „Allerhand Achtung! Die Leute, die sich diesen Schlupfwinkel ersonnen haben, verdienen die höchste Anerkennung!“

Das dunkle Loch war eine tiefe Aushöhlung in einem der beiden Riffelsen, zwischen denen der Hardanger eingekeilt war. Ursprünglich hatte diese vielleicht vier Meter tiefe und zwei Meter hohe Grotte einen breiten Ausgang nach dem Wasser hin gehabt, der dann aber durch die Schiffswand, die stellenweise eingedrückt war, fast lichtdicht abgeschlossen wurde, bis eben ein paar findige Köpfe, die die Grotte vorher gekannt haben mußten, sie aufs neue zu einem verbrecherischen Zweck durch die Anlage der kleinen Tür öffneten.

Harst betrat die Höhle. Der Lichtkegel der Lampe blieb sofort auf drei Skeletten haften, die links auf einer flachen Kiste lagen.

Er untersuchte sie. Sie waren aus leichten, weiß gestrichenen Weidenzweigen gefertigt, die Schädel aber aus Pappe. Sie wogen daher auch kaum ein paar Pfund. Daneben lehnten mehrere lange Eisenstäbe, die an einem Ende zu einem großen Ring, am anderen zu Haken gebogen waren. Die Haken paßten in eiserne Ösen am Rückgrat und an den Oberschenkeln der Skelette hinein. – Harst erspähte noch mehr, was noch interessanter war.

Er verließ dann das Versteck, schloß die Geheimtür und wollte auf Deck zurückkehren, hatte auch schon die Treppe erreicht, die nach der Heckluke emporführte, als er oben eilige Schritte und einen halblauten Zuruf vernahm. Es waren englische Worte gewesen, und sein feines Gehör hatte des Malers Burton Stimme zu erkennen geglaubt, wenn er auch nicht verstanden hatte, was jener sagte.

Schleunigst huschte er wieder bis in den Maschinenraum hinab, kroch in den Kessel und blieb hier tief gebückt stehen. Pechschwarze Finsternis umgab ihn; tiefste Stille ringsum. Nur wenn er ganz genau horchte, glaubte er das Glucksen der Wellen an den Bordwänden des Wracks zu hören.

Eine geraume Weile verstrich. Dann draußen im Maschinenraum ein paar Geräusche. Harst griff nach hinten in die Beinkleidtasche und holte seine kleine Mehrladepistole hervor, entsicherte sie und starrte unausgesetzt dorthin, wo das Loch des Kessels sich befinden mußte.

Nun erschien ein heller Kreis. Es war das Loch, durch das eine breite Lichtbahn in den Kessel hinabfiel. Und jetzt – jetzt tauchte eine Hand auf, eine Hand mit einer brennenden Laterne, deren weißes Licht das Acetylengas verriet, – jetzt der Kopf eines Mannes – Burtons.

Der Schein der Laterne traf Harst. Ehe er aber noch zuspringen und den Arm packen konnte, verschwanden Lichtbahn, Hand und Kopf und mit dumpfem Knall fiel der schwere Eisendeckel der Kesselluke zu.

Harst schaltete seine Lampe ein. Er war gefangen. Und durch die dicke Kesselwandung hindurch hörte er nun ein lautes Hohngelächter.

Stille nun wieder – atembeklemmende Stille. Nur das leise Glucksen der Wellen drang mitunter bis in Harsts eisernes Grab hinein.

Nach einer Weile erhob er sich und prüfte den Verschluß des Loches. Er erkannte sehr bald, daß es ausgeschlossen war, ohne fremde Hilfe ins Freie zu gelangen. Dieser Kerker war sicherer als die beste Gefängniszelle.

Er setzte sich wieder. – Er berechnete: sechs Stunden etwa hatte er noch zu leben. Gegen ein Uhr morgens würde die Luft in dem Kessel durch seine Lungen verbraucht und in Stickstoff[15] verwandelt sein. Dann war’s aus mit ihm. – Also gegen ein Uhr. Und erst um zwei Uhr hatte er den Jungen mit dem Beiboot hier in die Nähe des Wracks bestellt. Eine Stunde zu spät, – sonst hätte er versuchen können, den aufgeweckten kleinen Burschen durch Schüsse seiner Pistole, die hier in dem Kessel durch die den Knall verstärkenden Eisenwandungen wie Kanonenschläge klingen mußten, herbei zu locken! Eine Stunde zu spät!

Er nahm die Laterne, leuchtete jeden Zentimeter der runden Wandung und der kreisförmigen Seitenteile ab. An einem dieser Seitenteile gab es verschiedene Löcher, die Einmündungen von Dampfröhren für das Manometer, die Wasserstandsgläser und anderes. Doch – es waren keine Öffnungen, durch die Luft eindrang. Und genau so war’s mit den beiden größeren Löchern in dem oberen Teile der Wandung, durch die der Dampf einst mit ungeheurem Druck nach den Zylindern gepreßt worden war. Auch Löcher – aber keine Luftzufuhr! –

Er sah nach der Uhr. Ganz entgeistert stierte er auf das Zifferblatt. Das – das war ja unmöglich – unmöglich! Bereits halb eins, – bereits fünf und eine halbe Stunde dahin! – Er hielt die Uhr ans Ohr. Sie ging, war nicht etwa mittags stehen geblieben.

Kraftlos sank er zurück. Eine Ohnmacht[16] befiel ihn. Dann – ein Hochschnellen des Oberkörpers, – er war wieder zu sich gekommen, stierte in den Lichtschein der am Boden liegenden Taschenlampe, sah rote, grüne, violette Kreise, Sternchen, ganze Feuerräder, spürte das überhastete Arbeiten seiner Lungen, hörte ein donnerndes Brausen in seinen Ohren, wollte aufspringen, schlug der Länge nach hin, raffte sich wieder auf, sah plötzlich vor sich die Truggestalten der drei Skelette einen wilden Tanz aufführen, riß in einem Anfall letzter, unsinniger Wut die Pistole aus der Tasche, feuerte auf die gegenüberliegende Wandung – auf die Gespenster.

Ein Gedanke blitzte in dem Hirn des Todgeweihten auf – ein winziger Hoffnungsschimmer.

Wieder hob er die Pistole. Die Kugel traf dieselbe Stelle. Nochmals schoß er – nochmals, acht Kugeln trafen denselben Fleck. – Nun die Lampe. Nachsehen, ob ein Erfolg zu bemerken.

Da – ein jubelnder Schrei.

Das zackige, kleine Loch ließ den dünnen Bleistift, den er hineingeschoben hatte, hindurch.

Gerettet! – Luft – nur Luft! Und er preßte die Lippen an die Kesselwandung, an die winzige Öffnung, sog langsam die kühle Luft des Maschinenraumes ein, – atmete bald ruhiger, merkte, daß die Ohrgeräusche nachließen, daß sein Herz nicht mehr wie der Klöppel eines Weckers raste, daß seine Gedanken sich klärten. –

Karl Malke hatte zuerst gehorsam und geduldig in der kleinen Bucht die Nacht und die Stunde erwarten wollen, bis es Zeit würde, sich nach dem Wrack zu begeben. Je mehr aber die Zeiger seiner Nickeluhr sich der Mitternachtstunde näherten, desto unruhiger wurde er. Immer wieder dachte er daran, daß vielleicht gerade heute, wo doch die volle Mondscheibe so klar am Himmel stand, die Skelette auf dem Deck des Hardanger erscheinen würden und daß er, wenn er nur vorsichtig war, ganz gut aus der Ferne diese Gespenster mit Hilfe des hier an Bord befindlichen Fernglases beobachten könnte.

Neugier und Abenteuerlust siegten. Kurz vor zwölf war’s, als er mit Hilfe der beiden Ruder das leichte Aluminiumboot in den Fjord hinaustrieb. Dann warf er den Motor an. Und in weitem Bogen näherte er sich zwanzig Minuten später dem Kanal zwischen den Inseln, der auf den Liegeplatz des Wracks zuführte. Jetzt gebrauchte er nur noch die Ruder. Nun bog er um eine bewaldete Landzunge herum, nun lag der Hardanger vor ihm auf vielleicht 300 Meter Entfernung, nun das Glas an die Augen.

Ah – tatsächlich – die Skelette wanderten auf Deck umher.

Ein Frösteln lief dem Jungen über die Haut hin. Das – das da drüben sah wirklich zum Fürchten aus!

Er schaute und schaute. Plötzlich nichts mehr – mit einem Schlage waren die weißen Knochenmänner verschwunden.

Karl wischte sich die kalten Schweißtropfen von der Stirn, murmelte befreit aufatmend: „Ne – nicht für ’ne Million ginge ich an Bord des Wracks!“

Ganz still saß er nun im Boot, merkte nicht, daß eine Strömung es dem Hardanger näher und näher trieb. Erst als es kaum noch hundert Meter entfernt war, blickte er auf, griff hastig nach den Rudern.

Da – ein schwacher Knall aus der Richtung des Wracks her.

Er horchte regungslos. Abermals ein Knall, – noch einer – noch einer – acht im ganzen.

Wie gelähmt war er nun. Er ahnte, daß Harst in Gefahr war, – Harst, zu dem er wie zu einem höheren Wesen aufschaute. – Was tun – was nur tun?

Er zauderte nur Sekunden. Dann – heran an das Wrack. Dort hingen Eisenteile der Brücke fast bis zum Wasser herab. Dort konnte man an Deck. Nun stand er wirklich auf dem Gespensterwrack, nun duckte er sich in den Schatten der Reling.

Da – aus der Tiefe des Schiffsinnern herauf drang durch die offene Luke des Hinterdecks ein dumpfer Ruf ganz – ganz schwach an sein Ohr. – Stille – wohl fünf Minuten lang. Dann – abermals der schwache Schrei. Es konnte nur ein Hilferuf sein; nur Harst konnte ihn ausgestoßen haben.

Karl kroch auf die Luke zu – trotz der Angst, die er nun doch vor dem dunklen Schiffsinnern empfand, – trotz der Schweißperlen, die ihm über das Gesicht rannen. Er biß die Zähne zusammen. – Hinab Stufe für Stufe, hinab in die Finsternis! Streichholz auf Streichholz zündete er an, tappte weiter.

Abermals der Schrei – nur deutlicher.

Und so führte ihn dann endlich der fünfte Hilferuf, den Harst jetzt besonnen nur in langen Zwischenräumen ertönen ließ, in den Maschinenraum vor den Kessel.

Nochmals der Schrei! Also im Kessel – in diesem Kessel steckte Harst!

Da meldete er sich, pochte an die Wandung, rief: „Herr Harst – ich bin’s – Karl Malke!“

Und sofort die Antwort: „Braver Junge! – Schraube den Deckel oben los!“

Er tat’s. – Und heraus kletterte einer, der dem Jungen nun wortlos die Hand drückte.

– – – – – – – –

Ich lag in meiner Koje im engen Schlafraum des Optimus und stierte immer wieder hinüber auf das zweite leere Bett – auf meines Freundes leeres Lager. –

Da – ein Geräusch im Wohnsalon. Dann klopfte jemand; dann des alten Tiessen Stimme: „Herr Schraut, Herr Schraut, – ich bin so besorgt um Harst!“

Ich öffnete. Wir berieten. Auch Pedersen kam und sagte: „Ach was, – ob Herr Harst Ihnen auch befohlen hat, hier auf ihn zu warten: ich jedenfalls fahre jetzt mit dem Optimus nach dem verteufelten Wrack!“ Man merkte, daß auch in sein altes Seemannsherz eine starke Zuneigung für Harst sich eingeschlichen hatte.

Und – wir fuhren. In aller Stille machten wir den Optimus los. Die mondhelle Nacht gestattete uns, den Motor mit voller Kraft laufen zu lassen.

Ich stand neben Tiessen am Steuer. Er spie den Tabaksaft über Bord, meinte dumpf: „Und wenn wir ihn und den Jungen auf dem Wrack nicht finden?“

„Dann – suchen wir bei den Burtons!“

„Burtons? Wer ist denn das?“ – Er wußte ja bisher nichts von dem Ehepaare.

„Hm – ich möchte darüber doch erst sprechen, wenn’s unbedingt nötig ist. Harst liebt es –“

Plötzlich packte Tiessen meinen Arm.

„Ein Boot! Dort voraus! Wahrhaftig – sie sind’s!“

Gleich darauf stiegen Harst und Karl an Bord.

Es ging dann nach der Burtonschen Insel hin. Unterwegs berichtete Harst nur das, was ich im vorigen Kapitel geschildert habe. Was er in dem Grottenversteck außer den Gerippen noch gefunden, erwähnte er nicht.

Wir legten an der Nordspitze der Burton-Insel an. Die letzte Strecke hatten wir die Jacht durch das geruderte Beiboot geschleppt, um das Geräusch des Motors zu vermeiden.

Im Wohnhaus rechts vom Eingang waren zwei Fenster erleuchtet. Wir standen draußen und horchten. Die gelben Vorhänge waren geschlossen. Ein Mann ging drinnen hastig auf und ab. Sein Schatten erschien auf den Vorhängen, verschwand wieder.

Zu verstehen war kein Wort. Es mußten aber drei Personen sein; eine Frau darunter. Die Frau war erregt; ihre Stimme versagte oft unter einem überlauten Aufschluchzen.

Harst führte uns nach der Hintertür. Sie war nur eingeklinkt. Wir zogen die Stiefel aus, nahmen unsere Schußwaffen in die Hand. Auch Karl hatte jetzt einen Revolver. Und er war nicht wenig stolz darauf.

Dann waren wir im Vorderflur. Dann – riß Harst die Tür linker Hand auf, trat schnell ein. Wir drängten nach.

„Guten Abend,“ sagte Harst ruhig. „Rühren Sie sich nicht. Ich mache mit Mördern wenig Umstände.“

Die Frau war mit leisem Schrei in ihrer Sofaecke zusammengesunken, richtete sich aber schnell wieder auf. Neben ihr saß ein gut gekleideter Mann mit blondem Spitzbart. Der glattrasierte Burton stand daneben an dem mächtigen Kachelofen.

„Setzen Sie sich!“ befahl Harst dem Maler. „Dort auf jenen Stuhl neben Ihre Frau – vorwärts! Sonst –!“ Er hob den Arm mit der mattierten Pistole.

Selten habe ich so verstörte, bleiche Gesichter gesehen wie die dieser beiden Verbrecher. Burton taumelte förmlich auf den Stuhl zu.

„Ich will mich kurz fassen,“ begann Harst wieder. „Wissen Sie, wer ich bin?“

„Nein. Aber wohl ein deutscher Detektiv,“ murmelte Burton.

„Allerdings. – Harald Harst heiße ich. Vielleicht kennen Sie den Namen.“

„Mein Gott!“ stöhnte die Frau auf. Und Burton flüsterte: „Dann – haben wir wenig Hoffnung, daß – daß –“ Er ließ den Kopf sinken, schwieg.

„Ja – das ich nicht entdeckt haben könnte, was Sie auf dem Hardanger treiben. – Ich habe es entdeckt. – Ihre Werkstatt, Ihre Falschmünzerwerkstatt! –“

Burton nickte kaum merklich. „Wir erkannten, daß Sie einer der Angler in dem Segelboot waren,“ murmelte er heiser. „Nachher sahen wir noch den Jungen da. Und deshalb –“

„Schon gut. – Ihre Fälscherwerkstatt zu entdecken, war nicht ganz leicht. Die dort stehende Druckpresse, die Druckplatten, Farben, Chemikalien und so weiter bestätigen nur, was ich schon vorher als sicher angenommen hatte: daß Sie beide die Falschmünzer sind und daß Ihre Reisen nur den Zweck hatten, die Scheine unterzubringen. – Das wäre alles. Ich war diese Erklärungen meinen Freunden schuldig. – Ich möchte jetzt nur noch eins wissen: Weshalb hatten Sie für das alte Ehepaar ein so reges Interesse, Burton, daß Sie den Leuten folgten?“

Die Antwort gab – Frau Burton!

Sie sprang auf, rief: „Master Harst, ich habe Tom so und so oft kniefällig gebeten, nicht mehr mit Barklay sich einzulassen. Barklay ist Toms Verführer gewesen. Er ist Kupferstecher von Beruf. Die beiden Kriminalbeamten aus Christiania, die sich in dem Kessel gleichfalls verborgen hatten, hat er ersticken lassen. Tom wollte damals mit mir fliehen. Aber Barklay verstand es, meinen Mann wieder für sich zu gewinnen. Barklay hat auch die Leichen im Fjord versenkt.“

„Und der Amerikaner, der noch außerdem verschwunden ist?“ fragte Harst schnell. „Er war bärtig, trug Brille. Hm – ob nicht Ihr Mann dieser Amerikaner war, Frau Burton, der hier vielleicht nur den für den Spuk interessierten spielte, um zu sehen, ob das Wrack nicht irgendwie als Fälscherwerkstatt zu benutzen wäre?“

„So ist’s, Herr Harst, – so ist’s! Ich will nichts verschweigen, nichts. Ich will auch zugeben, daß heute gegen elf Uhr abends Barklay und Tom –“

„Verdammt!“ fuhr der Blonde da auf. „Verrücktes Frauenzimmer, willst –“

Da – und dies hatte niemand vorausgeahnt[17]! – da hatte Burton blitzschnell einen Revolver gezogen, feuerte auf Barklay, richtete dann die Waffe auf die eigene Stirn, drückte ab, schlug lang zu Boden.

Aufweinend stürzte das arme Weib sich über den, der sich soeben selbst gerichtet hatte.

Die beiden Verbrecher waren tot. Frau Burton bewies jetzt eine seltene Seelenstärke. Sie erhob sich sehr bald wieder und berichtete nun, daß Barklay und Burton abends um elf die beiden angeblichen Pragers, die sie für verkleidete Detektive hielten, weil Burton in der Haltung und Gangart des alten Herrn einen Deutschen wiederzuerkennen glaubte, der vor kurzem schon einmal das Geheimnis des Gespensterwracks zu enthüllen versucht hatte, – also daß sie die beiden Pragers, mit deren Erscheinen auf der Insel sie rechneten, beim Landen mit einem Boote überrascht, niedergeschlagen und gefesselt und geknebelt in eine Kammer des Stalles eingesperrt hätten. Sie aber habe dann nachher die beiden ohne Wissen ihres Mannes befreit, um ihn so zu zwingen, mit ihr nunmehr von hier zu fliehen. Als wir in das Zimmer eindrangen, hatte sie soeben den beiden Männern erklärt, daß die verkleideten Spione frei seien und daß man daher sofort flüchten müsse. –

Ich stelle an die Kombinationsgabe des Lesers wohl kaum zu hohe Anforderungen, wenn ich als selbstverständlich erachte, daß er nach dem Vorausgegangenen sich selbst sagt, wer „Herr Prager“ war: eben unser Konkurrent Lihin Omen! –

Als wir am nächsten Abend in Christiania im Hafen mit unserem Optimus lagen, brachte ein Dienstmann einen Brief für Harst an Bord – von Lihin Omen!

„Geehrter Herr Harst! Ich habe Pech gehabt. Zum ersten Mal. Ich glaubte, schneller als Sie Burton und Barklay völlig entlarven zu können. Ich war auf die beiden [in][18] Vallö dadurch aufmerksam geworden, daß Sie in der Eisbein-Kneipe heimlich das jüngere Ehepaar so scharf beobachteten, besonders den Ehemann! – Ja – ich habe sehr gute Augen; mir entgeht nichts! Im Hotel König Christian erfuhr ich dann, daß dieser Mann mit der verhärmten Frau und dem blonden Kinde Burton hieße, erfuhr noch anderes, das meinen gegen ihn gefaßten Verdacht bestärkte. – Sie haben mir also bei dieser Gespenstergeschichte hier den Rang abgelaufen! Ich werde die Scharte auswetzen! – Meine Frau ist mein Gehilfe, ein Mann, der Ihrem Max Schraut tausendfach über ist. Sie sollen uns beide schon noch kennen lernen! – Ihr leider vom Glück nicht so sehr begünstigter Konkurrent und Beschützer – Lihin Omen!“

Wir lachten, daß der Wohnsalon dröhnte; lachten so, daß Kapitän Tiessen hereingelaufen kam und fragte, was los sei. Er hatte – Palperlons Bilderrätsel in der Hand, das er sich von Harst vorhin ausgebeten hatte, da er seinen Scharfsinn daran erproben wollte.

„Lieber Herr Harst,“ sagte er nun ganz stolz, „– eine große Überraschung! Diese Zeichnung kann nur ein seemännisch geschulter Verstand deuten.“

„Na na!“ lächelte Harst. „Sollte die Zeichnung vielleicht eine Karte der Südostküste Islands, allerdings eine absichtlich nur durch wirre Striche angedeutete, sein und die Buchstaben darin nicht vielleicht die entsprechenden Zahlen je nach der Nummer im Alphabet, das Ganze aber der Hinweis auf eine Insel, die östlich[19] von Island liegen muß und auf die Palperlon mich aus irgend einem Grunde aufmerksam machen will?! – Sie sehen, bester Tiessen, inzwischen ist mir auch diese Erleuchtung gekommen. Wie wär’s, wenn wir mal mit dem Optimus uns nach Island hinaufwagten? Ich miete die Jacht für weitere vier Wochen. Ist’s Ihnen recht?“

„Und ob! Hier meine Hand!“ –

So kam’s, daß wir am folgenden Morgen schon wieder Christiania verließen und entgegenfuhren dem

 

„Löwen von Flandern“.

 

So will ich Harsts nächstes Abenteuer betiteln.

 

 

Anmerkungen:

  1. Edel- oder Schmuckstein, in den ein Bildmotiv eingeschnitten oder graviert ist.
  2. In der Vorlage steht: „des“.
  3. In der Vorlage steht: „waren“.
  4. Hier sind zwei Zeilen in der Vorlage sind vertauscht.
  5. In der Vorlage steht: „Tauentzinstraße“.
  6. In der Vorlage steht „Graal“. – Aus der Oper „Lohengrin“ von Richard Wagner.
  7. In der Vorlage steht: „dünnen, verzinktem“.
  8. In der Vorlage steht: „Einen“.
  9. In der Vorlage steht: „Dorfer“.
  10. In der Vorlage steht: „Aram-Kudri“.
  11. In der Vorlage steht: „verstümmele“.
  12. In der Vorlage steht: „Shangerol“.
  13. Fehlendes Wort „am“ ergänzt.
  14. In der Vorlage steht: „gä?hnte“.
  15. Hier irrt der Dichter: Nicht Stickstoff, sondern das „vielberüchtigte“ Kohlendioxyd. Text so belassen.
  16. In der Vorlage steht: „Ohnmackt“.
  17. In der Vorlage steht: „verausgeahnt“.
  18. Fehlendes Wort „in“ ergänzt.
  19. In der Vorlage steht: „stlich“.