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Das Geheimnis von H. O. 3

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 124:

 

Das Geheimnis von H. O. 3[1]

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1924 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der verankerte Sarg.

„Wenn ich Sie wäre, Mister Harst, würde ich nach dem Malcolm-Felsen[2] zurückkehren und nochmals nach Ellen Weller suchen!“

Diese Sätze kamen aus des Matrosen Edward Gaspard ausgepichter Grogkehle.

Und Gaspard lag dabei lang aus dem Deck unseres Kutters und rauchte aus seiner geliebten kurzen Seemannspiep.

„Wenn ich Sie wäre, lieber Gaspard, würde ich ganz umsonst nach dem Malcolm-Felsen segeln,“ erwiderte Harald lachend. „Denn Ellen Weller ist bestimmt nicht mehr dort.“

„Glaube ich nicht!“ knurrte der alte Jan Maat. „Wir hatten doch das Zinkboot ins Schlepptau genommen, und es war nur ein solches Boot vorhanden.“

„Sie irren! Es waren zwei dort. Und dieses zweite hat Ellen Weller für ihre dunklen Pläne rechtzeitig beiseite geschafft.“

Gaspard schwieg jetzt.

Unser Kutter trieb vor einem flauen Winde gemächlich die Malabarküste zwischen Quilam und Alleppi dahin, zwei Hafenstädten Südindiens, die zwischen sich ein sehr interessantes Gebiet bargen: die Bai von Travankore mit ihren Perlmuschelbänken!

Wir kamen von Quilam, wo wir den Professor Josua Jolling und seine Nichte Klaire Weller abgesetzt hatten. Ellen Weller aber war Jollings andere Nichte, eine Abenteurerin[3] gefährlichster Art, die uns inmitten der Malediven-Gruppe in dem hohen Malcolm-Felsen, einem Eiland von recht phantastischer Gestalt, entschlüpft war.

Der Leser besinnt sich fraglos noch auf diese Vorgänge, die ich im vorigen Band „Die Hexenküche“ geschildert habe.

Wir waren nur zu dreien an Bord des großen gedeckten Kutters: Harald Harst, der Matrose Edward Gaspard und meine Wenigkeit: Max Schraut!

Wir hatten uns selbst Urlaub gegeben. Wollten einmal gehörig faulenzen. Und das kann man am besten an Bord eines kleinen Seglers[4].

Harald und ich saßen auf der vertieften Steuerbank. Gaspard lag vor uns auf den Deckplanken. Über uns war ein Segel als Sonnendach ausgespannt.

„Erzählen Sie was, Gaspard,“ meinte Harald nach einer Weile. „Sie haben doch allerlei erlebt. Aber – lügen Sie nicht zu sehr …“

Gaspard schmunzelte.

„Ich lüg’ immer nur gerade so viel, als unbedingt nötig ist, damit die Zuhörer nicht einschlafen, Mr. Harst … – Gewiß, ich hab’ viel durchgemacht … Wer vierzig Jahre auf Segelschiffen als Matrose gefahren ist, der muß was erleben oder – er ist ’n blindes Rindvieh!“

Er hatte noch etwas hinzufügen wollen …

Aber seine kleinen Schweinsäuglein schienen auf der Wasseroberfläche etwas entdeckt zu haben.

Mit einem Male sprang er auf.

Beugte sich über Bord.

Drehte den Kopf …

Rief: „Wenden – wenden, Mr. Harst! Bei allen Heiligen: Da war was dicht unter der Oberfläche verankert – ein Kasten – oder was ähnliches!“

Harald ließ den Kutter herumschwenken.

Aber es war doch nicht ganz leicht, die Stelle wiederzufinden, wo Gaspard im Wasser etwas bemerkt haben wollte.

Immerhin: Es war eine Abwechslung!

Außerdem war’s auch gar nicht so unmöglich, daß hier ein Gegenstand halb unter Wasser an einer Ankerkette festlag, denn wir befanden uns über einer Untiefe, die nach den Seekarten nur 6 bis 8 Meter Wasserstand hatte.

Auch ich hatte mich erhoben, und der alte Seebär und ich starrten nun so angestrengt rundum in die leicht bewegte See, daß mir bald die Augen wehtaten. War’s doch um die Mittagszeit, und vom klaren Tropenhimmel funkelte die liebe Sonne prall herab und verwandelte das Meer in flüssiges Silber …

Endlich nach mehrmaligem Kreuzen packte Gaspard den langen Bootshaken und stieß ihn seitwärts ins Wasser.

„Hallo – ich habe die Kette erwischt! Beidrehen, beidrehen, Mr. Harst!“

Harald ließ das Großsegel flattern, und unser Kutter lag nun neben dem undeutlich zu erkennenden länglichen Kasten, der vielleicht ein halbes Meter unter der Oberfläche schwamm.

„Verdammt, das sieht ja wie ein … Sarg aus!“ brüllte Gaspard.

Harst lag jetzt lang auf dem Bauche.

„Es ist ein Zinksarg!“ erklärte er, den Kopf über die Reling hinausschiebend. „Ein Zinksarg, der luftdicht verlötet sein muß, sonst würde er nicht schwimmen und so viel Auftrieb[5] haben, daß er die Ankerkette spannt …“

Gaspard machte ein sehr langes Gesicht …

„Ein Sarg …?! Hm – da wollen wir lieber die Finger davon lassen …!“

Er war abergläubisch wie alle Seeleute. Ein Sarg bedeutet Unheil … –

Harald begann plötzlich die Oberkleider abzuwerfen, sprang dann in die See, tauchte und schien die Ankerkette zu befühlen. Seine helle Gestalt war verschwommen zu erkennen.

Nun schwang er sich wieder an Deck.

„Na?!“ fragte der Alte gespannt.

„Wir werden den Sarg näher untersuchen,“ entschied Harald. „Rasch – ein paar Taue herbei! Ich werde sie herumschlingen und dann den Sperrhaken der Kette an der Unterseite des Sarges lösen. Auch an die Kette binden wir eine Leine, damit sie uns nicht wegsackt …“

„Hm!“ brummte Gaspard abermals sehr bedenklich.

Aber Harald achtete nicht darauf. –

Zehn Minuten später stand der Zinksarg wirklich auf dem Achterdeck des Kutters.

Ein ganz schmuckloser Zinksarg.

Ohne jede Aufschrift.

Aber – – verlötet …!

Und wir drei standen daneben und wußten nicht, ob wir das Ding nun aufbrechen sollten. Selbst Harald zögerte.

Und Gaspard knurrte zum dritten Male:

„Mister Harst, das bringt Unglück! Passen Sie auf!“

Harald erwiderte kurz:

„Bedecken wir schnell den Sarg! Dort kommt ein Motorboot herangeknattert. Es dürfte eins der Frachtboote sein, die den Perlenfischern der Bai von Travankore gehören …“

Der alte Jan Maat spähte nach dem großen Boote aus.

„Sogar ’n Fetzen von ’ner Flagge hat der Benzinstänker!“ Und lebhafter: „Verdammt will ich sein, wenn der Benzinkahn nicht im Hafen von Quilam unweit von uns ankerte!“

Harald wurde aufmerksam.

„Das Boot hält gerade auf uns zu. – Was wollen die von uns?!“

Er war noch in Unterkleidern, und er bückte sich rasch, hob sein Fernglas auf und richtete es auf das Lastboot.

„Fünf Kerle an Deck – braune Kerle, und ein Europäer,“ erklärte er.

Edward Gaspard fluchte leise.

„Es gibt irgend ’ne Schweinerei! Wir tun gut, uns etwas in acht zu nehmen. Diese Perlenfischer sind üble Brüder!“

Das Benzinboot kam sehr schnell heran.

Harald hatte rasch die Beinkleider übergezogen und holte seine Clement hervor, entsicherte sie und sagte zu mir:

„Gaspard mag recht haben! Merkwürdig ist’s, daß das Boot …“

Da wurden wir von drüben schon angerufen.

„Hallo – hier Privatjacht Seraphia, Quilam … Könnt Ihr uns Verbandzeug abgeben? Einer von uns hat den Unterschenkel gebrochen …“

„Nette Privatjacht!“ murrte Gaspard. „Ein alter Dreckkahn ist’s! Und die fünf braunen Galgenvogelgesichter gefallen mir auch nicht!“ –

Es war der Europäer gewesen, der uns angerufen hatte.

Ein Mann im weißen Leinenanzug, mit schwarzem Spitzbart und heller Seglermütze. –

Harald rief zurück:

„Verbandzeug könnt Ihr bekommen! Ich reiche es Euch am Bootshaken hinüber …“

Er hatte die Clement vorhin wieder in die Hosentasche geschoben.

Aber der Spitzbärtige drüben hatte anderes vor.

„Wir werden längsseit anlegen!“ brüllte er. „Vielleicht versteht Ihr mehr von der Krankenpflege als ich, Mister …“

Der Mann hatte ein sehr schrilles Organ, das wenig angenehm klang.

Und ohne abzuwarten, ob wir einverstanden, schoß der Kutter herbei und wurde von dem braunen Steuermann sehr gewandt Bord an Bord mit uns gebracht.

Kaum rieben sich die Planken knirschend aneinander, als vier der braunen Gesellen auch schon blitzartig neben dem Sarge waren und das Segel herabrissen.

Der Spitzbärtige lachte schallend.

„Ah, – also das habt Ihr aus dem Wasser geholt!“ meinte er. „Wir haben Euch nämlich durch das Fernrohr beobachtet. Und die Geschichte mit dem gebrochenen Bein ist natürlich Schwindel!“

Er sprang jetzt ebenfalls zu uns hinüber.

Lüftete die Mütze.

„Doktor John Faraday,“ stellte er sich vor. „Ich bin Naturforscher, meine Herren.“

Danach sah er auch aus. Der Mensch war noch sonnengebräunter als wir.

Und in einem Atem fügte er hinzu:

„Sie wollten das Ding aufbrechen, nicht wahr? – Nun, wir helfen Ihnen.“

Harst erwiderte kühl:

„Was wir tun werden, bleibt uns überlassen, Mr. Faraday! Ich habe keinerlei Verständnis für diese Art von … Überfall! Sie würden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie unser Deck räumen wollten.“

Faraday lächelte.

Ein infames Lächeln war’s.

„Räumen, Mr. Harst?! – Sie sind doch der … berühmte Harst, nicht wahr?! – Gestatten Sie eine Bemerkung … Ihre Pistole dort in der Hosentasche stört Sie fraglos … Bitte – händigen Sie sie mir aus …“

Und … sein Arm deutete nach rechts – auf den niederen Heckaufbau des großen Motorbootes …

Und – – dort in den beiden kleinen Fenstern sah ich die Köpfe von vier weiteren braunen Matrosen, dazu … vier Flintenläufe, die auf uns gerichtet waren.

 

2. Kapitel.

Der Freiballon.

Die Situation war klar.

Es war in der Tat ein Überfall, eine Art Piratenstreich.

„Ihre Pistole – – bitte!“ drohte Faraday jetzt. „Sie sind hier an Leute geraten, Mr. Harst, die wenig Federlesens machen.“

Das ganze Auftreten des schlanken Menschen, der trotz des Spitzbartes noch recht jung sein mußte, hatte etwas so ungemein Bestimmtes an sich, daß … Harald gehorchte.

So wurden dann auch mir und Gaspard die Waffen abgenommen.

Und der Alte fluchte dabei:

„Wußt’ ich’s doch – – der Sarg!“

„Wollen Sie sich nun in Ihre Kajüte hinabbemühen,“ meinte Faraday mit derselben ironischen Höflichkeit … „Bitte – zögern Sie nicht! Meine Leute sind im Abdrücken zuweilen etwas voreilig – sehr voreilig …!“

Und – wir gehorchten abermals, notgedrungen.

Saßen nun in der kleinen Kutterkajüte und wurden von zwei der braunen Burschen bewacht.

Hörten, wie man oben mit Beilen den Zinksarg aufschlug.

Hörten plötzlich einen vielstimmigen Schrei.

Dann … Totenstille.

Dann … ein förmliches Geheul …

Unsere beiden Wächter trieb die Neugier an Deck.

Wir waren allein.

Und – – da geschah’s, daß Harald blitzschnell das kleine Fenster aufriß und – – sich hinaus und hinüber an Deck des Motorbootes schwingen wollte.

Da – stand Faraday plötzlich in der Tür.

Hinter ihm vier braune Gesellen.

Und – ehe wir’s uns versahen, hatten die Kerle uns gefesselt.

Faraday, einen Revolver in der Rechten, sorgte dafür, daß wir uns nicht wehrten.

Gefesselt und an den schmalen Kajütentisch sitzend gebunden, – so ließ man uns wieder allein.

Oben an Deck erstarben die Tritte, die Geräusche.

Bis dann der Motor der angeblichen Jacht Seraphia knallend ansprang.

Die Seraphia – – entfernte sich.

Harst arbeitete bereits mit den Zähnen an den Knoten meiner Handfesseln.

In drei Minuten hatte ich die Hände frei.

Hatte mein Taschenmesser geöffnet …

„Schneller!“ mahnte Harald.

Und ich zerschnitt seine Stricke.

Er rief, rasch nach dem Fernrohr des Kutters greifend:

„Keiner von uns zeigt sich an Deck! Ich werde die Seraphia vorsichtig beobachten …“ – –

Nach dieser gewiß nicht ganz alltäglichen Einleitung, ändere ich den Schauplatz der Handlung und führe den Leser in die Hafenstadt Alleppi am gleichnamigen Flusse.

Führe ihn in eine Hafenkneipe, die ebensogut in einer deutschen Hafenstadt hätte stehen können. –

Zeit: elf Uhr abends am selben Tage! Also etwa elf Stunden nach jenem Überfall auf uns, der uns den Zinksarg kostete.

In dieser Kneipe war Hochbetrieb.

Perlenfischer von der nahen Bai verjubelten hier ihren leichten Verdienst.

Alle Menschenrassen waren vertreten, dazu holde Weiblichkeit jener Art, wie man sie stets in Küstenorten antrifft.

Und in einer Ecke des qualmgefüllten Raumes saßen zwei armselige, blondbärtige Matrosen.

Saßen und tranken sogenannten Eispunsch.

Und – das waren wir beide, Harst und Schraut – wir auf der Spur des edlen Naturforschers Doktor John Faraday. –

Harald hatte nämlich mit Hilfe des Fernrohrs zweifelsfrei festgestellt, daß die Seraphia nach anfänglich nördlichem Kurs nach Osten abgeschwenkt und offenbar nach Alleppi gefahren war.

Abends gegen zehn hatte sich dann auch unser Kutter in den Hafen geschlichen, hatte draußen Anker geworfen und war von niemandem beachtet worden.

Eine Verkleidung für uns lag schon bereit. Gaspard ruderte uns im Beiboot an Land, und zehn Minuten später hatten wir die Seraphia im Innenhafen entdeckt.

Abermals eine Viertelstunde darauf verließ ein brauner Matrose die elende Jacht, auf der sich nun scheinbar keine lebende Seele mehr befand.

Wir schlichen an Deck, nachdem wir den braunen Burschen bis Daniel Girlaugs Kneipe verfolgt hatten.

Durchsuchten die Jacht.

Und – stellten fest, daß es hier nichts festzustellen gab.

Das Motorboot war leer.

Im Innern sah’s ganz so aus, als ob kein Mensch die Kajüte und die Verschläge im Vorschiff mehr bewohnte. –

Merkwürdig war das … sehr merkwürdig!

Auch von dem Zinksarg keine Spur! Und wir hätten doch so gern gewußt, was er enthalten hatte! –

Jetzt saßen wir in der Kneipe, und neben uns saß der braune Matrose der Seraphia, fraglos ein Singhalese, ein Mensch mit fast edlem Gesicht, dazu jung und sauber in weißes Leinen gekleidet.

Kein übler Bursche.

Ich besann mich nicht, ihn bei dem Überfall auf See bemerkt zu haben. –

Zunächst kümmerten wir uns um ihn nicht weiter. Dann begann Harald als biederer, schlichter Matrose ein Gespräch mit ihm.

Der Mann sprach leidlich englisch.

Und schon nach zehn Minuten hatte Harald aus ihm folgendes herausgelockt.

Der Singhalese hieß Tuwar[6], hatte bis heute früh als malariakrank hier im Seemannslazarett gelegen und dann zufällig nachmittags den Posten eines Wächters auf der Seraphia erhalten, deren Besitzer für längere Zeit ins Binnenland reisen wollte und daher auch die Besatzung abgelohnt hatte. –

Und gegen halb zwölf standen wir beide dann vor dem einzigen halbwegs anständigen Hotel der Stadt, wo Doktor Faraday nach Angabe Tuwars wohnen sollte.

Mit dem Hotel war eine Bar verbunden, und in dieser Bar fielen wir in unserer schäbigen Matrosenkluft nicht gerade angenehm auf.

Was uns jedoch nicht weiter störte, da wir Geld genug in der Tasche hatten und da außerdem der Herr Doktor John Faraday im zweiten Raume allein an einem Tischchen saß und sich eine Flasche Sekt spendiert hatte.

Am Nebentische saßen drei Herren, ebenfalls Europäer. Und als wir beide nun am dritten Tische an derselben Wand Platz genommen hatten, hörten wir, daß die drei sehr eifrig nach Art der begeisterten Amateure über eine Ballonfahrt sich unterhielten, die sie am Morgen mit dem Freiballon H. O. 3, der dem Aeroklub in Alleppi gehörte, antreten wollten.

Was auch mir sehr bald auffiel, war das heimliche Interesse, das Doktor Faraday für das Gespräch der drei Herren bezeigte.

Gegen Mitternacht bezahlte er seine Zeche und verließ die Bar.

Wir folgten ihm.

In den stillen Straßen des Hafenstädtchens war dies nicht gerade einfach. Wir wollten Faraday ja um keinen Preis mißtrauisch machen.

Wer jedoch so viel Fertigkeit in dieser Art von Beobachtung besitzt wie wir, dem gelingt es stets, unbemerkt zu bleiben.

Und nach abermals zehn Minuten verschwand Doktor Faraday am Außenhafen in einer chinesischen Teestube, das heißt: in einer Opiumhöhle! Teestube ist nur die harmlose Bezeichnung.

Jetzt waren wir übel daran. Wenn wir ebenfalls die Baracke betraten, aus dem das Geklimper eines mechanischen Klaviers hervordrang, konnte Faraday uns ja als die Bargäste wieder erkennen.

Harald löste auch diese Schwierigkeit, indem er seinen blonden Bart entfernte und … bartlos das Lokal betrat.

Ich blieb draußen. –

Harst erschien bereits nach fünf Minuten.

Sagte leise:

„Ich bin mir nicht klar darüber, was Faraday vorhat. Jedenfalls wohnen seine acht braunen Spießgesellen hier bei dem Chinesen, und zur Zeit hockt die ganze Bande um einen Tisch herum und berät anscheinend.“

„Warten wir,“ meinte ich.

„Gewiß, mein Alter, das werden wir tun. Nur gebe ich eins zu bedenken: Diese Teestuben haben sämtlich noch verschiedene Nebenausgänge.“

„Hm – schlimm!“

„Ja. Wenn wir Pech haben, entwischt uns Faraday. Und dabei bin ich fest überzeugt, daß die Gesellschaft da drinnen irgendetwas plant – nichts Harmloses! O nein! Ich erinnere Dich an Faradays Interesse für die drei Ballonhelden!“

„Er wird doch keinen Ballon stehlen!!“

„Hm – warum nicht?!“

„Wozu denn?! Ich bitte dich, es …“

„Pst!!“

Wir traten rasch in den Schatten eines Hafenschuppens.

Faraday hatte soeben die Teestube verlassen.

Nicht allein! Hinter ihm her schlenderten zwei seiner Getreuen.

Und jetzt – jetzt, als wir den dreien nachschlichen, hielt Harald es für angebracht, ganz unvermittelt zu erklären:

„Übrigens ist Faraday uns kein Fremder …“

„So?! Ich habe den Menschen noch nie …“

„Stopp – das stimmt nicht! Besinne dich mal auf Ellen Weller, den bösen Geist des Malcolm-Felsens, des Fälschernestes, wo ungezählte Millionen an falschen Banknoten aufgestapelt waren, die wir … verbrannt hatten!“

Und – kaum hatte Harst den Namen genannt, als ich auch schon an Faradays überschlanke Gestalt und an die schrille, helle Stimme dachte!

Ellen Weller!!

Ellen, die blonde Ellen, die uns dort im Malcolm-Felsen entwischt war …! Oh – ihr konnte man zutrauen, daß sie … uns auf den Fersen geblieben war, daß sie die Seraphia in Quilam gekauft und hinter uns dreingeblieben war!

Harald bog jetzt plötzlich rasch in eine enge Seitengasse ab.

Wir befanden uns hier im Europäerviertel, mitten zwischen Warenspeichern, Schuppen, Bürohäusern und Fabriken.

Die Gasse mündete auf einen freien Platz.

Und hier, wo sonst die Europäerkolonie sich sportlich betätigte, hier … schwebte dicht über dem Erdboden nahe am Zaune der kleinen Gasanstalt von Alleppi die Riesenkugel von H. O. 3, klar sich abhebend vom ausgestirnten Firmament[7].

Schwebte an vier Haltetauen, die an Pfählen auf der Spitze eines Hügels befestigt waren.

Wir duckten uns hinter einem Stapel Fässer zusammen.

Sahen, daß Faraday jetzt allein auf den Wächter zuschritt, der die gelbe Kugel bewachte.

Sahen auch, daß Faradays Gesellen auf allen vieren von hinten an den Hügel herankrochen.

Und – – warteten.

Beobachteten.

Ahnten, daß etwas sich ereignen müßte.

 

3. Kapitel.

Die Mumie ohne Kopf.

Es ereignete sich etwas.

Der Wächter und Faraday schlenderten den Hügel hinab.

Und dann – dann erschienen zwei andere von Faradays Gesellen, der eine mit einem Sack auf dem Rücken.

Umstanden den Ballon.

Auch Faraday.

Doch – der Wächter fehlte!

„Näher!!“ flüsterte Harst.

Wir wagten es.

Und – – wir kamen gerade zur Zeit – – gerade.

Der Ballon schwankte … ruckte höher.

Die Kerle zerschnitten die Taue.

„Wir … nehmen ihn mit!“ flüsterte Harst wieder.

Und stürmte vorwärts.

Sekunden nur – nur um Sekunden handelte es sich.

Die braunen Kerle stoben auseinander.

Harst hatte Faraday am Genick gepackt.

Ich bekam den Rand des Ballonkorbes zu fassen.

Und – zwei – drei kraftvolle Bewegungen – – Stöße …

Faraday flog in den Korb, ich hinter ihm drein.

Und mit dem am Gondelrande hängenden Harst schoß die gelbe Kugel in die Höhe.

Blitzschnell.

Ich lag auf Faraday, drückte ihn auf den Holzboden des Ballonkorbes.

Ihn?! Oder soll ich sagen … sie, sie, denn es war ja Ellen Weller, die ich derart brutal behandelte.

Und – höher noch schoß H. O. 3, hinein in eine kühlere Luftschicht, trieb nun gen Westen davon … –

Harst war längst in den Korb geturnt.

Atmete keuchend – genau wie ich!

War das nur ein Streich gewesen! Waren das wieder einmal Momente, wie man sie liebt, wenn man Harsts Freund ist!

Mitten aus ihren Gesellen hatten wir Ellen Weller entführt – bei Nacht und Nebel! Und nun würde sie uns sagen müssen, was der Zinksarg enthalten hatte – müssen!! Das war mein erster Gedanke!

Harald rief mich an:

„Loslassen, mein Alter! – Miß Weller, stehen Sie auf!“

Angesichts der Sterne des Tropenhimmels schauten wir nun der Gegnerin in das verzerrte, maskierte Gesicht.

„Miß Weller, Sie sind uns einige Erklärungen schuldig!“ meinte Harald sehr höflich.

Welch eine Situation …!!

Achthundert Meter über dem Indischen Ozean ein Verhör! Im Ballonkorb! –

Ellen Weller blitzte Harst haßerfüllt an.

„Sie sind … zu viel auf der Welt!“ stieß sie hervor. „Sie … Sie hätten längst …“

Er unterbrach sie.

„Was enthielt der Zinksarg?“

Sie lachte schrill:

„Sehen Sie doch nach! Der Zinksarg liegt auf dem Meeresgrunde – irgendwo!“

„Sie werden andere Antworten geben, Miß Weller …! – Schraut, binde ihre Hände! Jede Rücksicht hört auf. Wir müssen auf den Ballon achtgeben.“

Ich … packte zu.

Nicht eben sanft … – Und das Weib zischte mich an: „Oh – Sie werden’s bereuen, bitter bereuen!!“

Dann saß sie wehrlos auf dem Boden der Gondel.

Saß hier drei Stunden.

Bis zum Morgengrauen.

Und als das Zwielicht den Ozean unter uns entschleierte, da sahen wir gen Osten Insel an Insel.

Da sahen wir ein mächtiges, einsames Felsgebilde aus dem Morgen hervorragen:

Den Malcolm-Felsen!!

Da – – zog Harst die Reißleine.

Langsam senkte sich H. O. 3.

Und trieb ganz dicht über die Wogen dahin.

Bis wir landeten – nicht dort, wo wir’s gewollt hatten.

Nein! auf einem Inselchen nördlich des Malcolm-Felsens. Hart am Gestade konnte Harst den Ballon nur dadurch zum Landen bringen, daß wir den Korb abschnitten, daß wir in den Stricken hingen.

Auch Ellen Weller.

Nicht viel hätte gefehlt, und der Ozean wäre unser nasses Grab geworden. Wir waren keine geprüften Ballonführer. Wir hatten Fehler gemacht, zu früh das Gas zur Hälfte ausströmen lassen …

Nun sicherten wir zunächst unsere gefährliche Gefangene.

Banden sie an einen Baum.

Und kehrten zum Ballon zurück, dessen stärkstes Tau Harald um ein Felsstück geschlungen hatte. –

Die Sonne durchbrach die leichten Morgennebel … Das Meer rauschte … Scharen von Seevögeln umschwebten uns …

„Fandest Du nicht auch, mein Alter, daß der Ballon überraschend schnell sank?!“ sagte Harald nachdenklich. „Er war doch für das Gewicht von drei Personen berechnet, und …“

Plötzliches Verstummen.

Harald hebt die rechte Hand … Deutet auf die gelbe Kugel, auf die untere Hälfte, die auf dem Felsblock aufliegt.

„Siehst Du etwas?“ fragte er.

„Nein …“

„Nun – wir sind doch zu vieren und nicht zu dreien gefahren …“

„So?!“

„Ja – ein stummer Passagier war noch mit von der Partie! Bemerkst Du dort die Ausbuchtungen der Ballonhülle?! Dort … ruht ein … menschlicher Körper – in der Ballonkugel!“

Und er nahm sein Taschenmesser.

Ein langer Schnitt …

Dann … zogen wir … eine Leiche hervor, einen Toten … ohne Kopf … –

Ohne Kopf …

Und auch keine gewöhnliche Leiche! Nein, eine Mumie war es, eine Mumie in zerschlissenen Kleidern …

Die Hände, die Arme waren zu braunen harten Gebilden eingeschrumpft … Und dort, wo der Kopf einst gesessen, verriet der glatte Halsschnitt, daß der Mann entweder lebend oder tot mit einem Schwerte oder Beil geköpft worden war.

Wir legten die Mumie in den Schatten der Felsen.

Wir besichtigten sie genauer. Es gab nicht viel zu sehen daran.

Bis Harald sich umwandte und langsam auf Ellen Weller zuschritt.

Fragte:

„Lag die Mumie in dem Zinksarge?“

„Vielleicht gibt sie selbst Ihnen Auskunft,“ hohnlachte das blonde Weib, dessen verführerische Reize den Professor Josua Jolling ins Unglück getrieben hatten.

Harald blickte Ellen Weller still an.

„Sie sollten Vernunft annehmen,“ meinte er ernst. „Ich werde dieses Geheimnis von H. O. 3 ergründen, ich werde es!“

Er winkte mir.

Wir gingen zum Seestrande hinab.

Diese kleine Insel der Malediven-Gruppe hatte genau so wie der Malcolm-Felsen einen Riffgürtel, gegen den Tag und Nacht eine kräftige Brandung schäumte.

Nach dem unerhörten Nervenkitzel der letzten Stunden trat nun auch bei uns beiden eine gewisse Abspannung ein.

Hinzu gesellte sich bei mir die Sorge, wie wir von diesem weltabgeschiedenen Eilande wieder in bewohnte Gegenden zurückgelangen könnten und wie wir hier unser Leben fristen sollten, bis vielleicht ein zufällig vorüberkommendes Schiff uns aufnehmen würde.

Merkwürdig war, daß Harald nichts von solchen Gedanken hinsichtlich unserer Lage zu fühlen schien.

Er setzte sich auf einen Stein, der mit einem natürlichen Polster von Seetang versehen war, und nahm sein Zigarettenetui aus der Tasche.

Rauchte mit dem innigen Behagen des Zigarettenliebhabers seine Mirakulum und … sagte ganz unvermittelt:

„Du besinnst Dich, daß Josua Jolling auf diesem Eiland sich so eine Art Zufluchtsstätte hergerichtet und hier auch eine Radiostation angelegt hatte. Oder genauer: hat – hat!! Denn beides muß noch vorhanden sein. – Ich hoffe nun, daß der Professor diesen seinen Schlupfwinkel für den Fall der Tat auch mit Lebensmitteln versehen haben wird. Ein so umsichtiger Mann wie er hat fraglos an alles gedacht.“

Mit einem Schlage war so ein Teil meiner Sorgen von mir genommen.

Und Harald fügte hinzu: „Natürlich wird er auch eins seiner Zinkboote hier verborgen haben. Wir werden es schon finden.“

Da war denn auch der Rest meiner sorgenden Gedanken zerflattert. Und ich sagte mir etwas beschämt, daß ich doch eigentlich auch selbst mich an diese Einzelheiten, die mit dem Rocher de Malcolm (Malcolm-Felsen) zusammenhingen, hätte erinnern können.

„Ja – nun die seltsame Mumie …!“ fuhr Harst fort. „Ich bin überzeugt, daß sie aus dem unter Wasser verankert gewesenen Zinksarge stammt. Doch – das ist auch alles, was ich vermute. Dieser Zinksarg stellt ein recht dunkles Rätsel dar. Man mag sinnen und sinnen, und man kommt doch auf keine vernünftige Erklärung …“

Er warf seinen Zigarettenrest ins Wasser.

„So, jetzt wirst Du Ellen Weller bewachen, und ich werde Jollings Schlupfwinkel suchen,“ meinte er und reckte sich. „Mein Alter, ich bin müde … Und auch geistig nicht ganz auf der Höhe …“ – Kleine Pause. „Wie schön es hier ist. Wie unendlich friedlich. Und drüben – erkennst du die Spitze des Rocher de Malcolm? Einst, noch vor wenigen Tagen sogar, entquoll der Rauch aus Josua Jollings Laboratorium der Felsspitze … Jetzt ist dort alles tot …“

Und meine Gedanken wanderten nun ebenfalls zurück zu jenen Stunden, die wir in dem phantastischen Heim des berühmten Chemikers und Englandhassers verlebt hatten. Jetzt stand der hohle Malcolm-Felsen leer, jetzt hatte Jolling seinen wahnwitzigen Plan, sein Vaterland durch eine Überschwemmung mit falschen Banknoten zu Grunde zu richten, aufgegeben und sich den Gerichten gestellt – all das in der Hauptsache Ellen Wellers wegen!

Harald begann die Steilwand der Küste wieder zu erklettern …

Und – – stutzte plötzlich.

Wandte den Kopf zurück.

„Entflohen!!“ rief er.

Und in seiner Stimme vibrierte eine gewisse Angst …

Wir begannen zu laufen.

Wir erreichten den nächsten Hügel, hielten Umschau.

Rechts von uns schnitt eine felsige kleine Bucht tief in die Insel ein … Sie lag nach Süden zu, also dem fernen Malcolm-Felsen zugekehrt …

Und dort – dort vor der Bucht ein Boot – – ein Segelboot …

Am Steuer Ellen Weller.

Höhnisch winkend.

Und vom Buchtufer schwarze Rauchwolken, hochquirlend in die klare Morgenluft. –

Harst hetzte von dannen.

Ich hinter ihm drein … Blieb zurück, kam Minuten später an die Brandstätte, an die brennende Holzhütte, die hinter Steinen und Dickicht auf einer Buchtterrasse gut verborgen gewesen, überschattet von Palmen und drei mächtigen Gawas-Bäumen, in deren Kronen … die Doppelantenne der Radiostation hing … –

Harst hatte den Brand schon gelöscht. Das von Ellen Weller angelegte Feuer hatte noch nicht Zeit gehabt, weiter um sich zu greifen, und eine Quelle dicht neben der Hütte war gleichfalls als Wasserspenderin beim Löschen von großem Nutzen gewesen.

Als wir auch die letzten glimmenden Bretter unschädlich gemacht hatten, als wir nun wieder nach der flüchtenden Feindin ausspähten, befand das Boot sich bereits weit außerhalb des Riffgürtels auf offener See.

„Also vorläufig … Robinsons!“ sagte Harald achselzuckend. „Vorläufig! Bis wir eben aus den Balken der Hütte ein Floß gezimmert oder … mit Hilfe der Radiostation Hilfe herbeigerufen haben …“

„Letzteres ist unmöglich, Harald!“ Und ich deutete in die eine Ecke des Balkenhäuschens, wo die Axt, mit der Ellen die Apparate zerstört hatte, noch auf dem Schalttische lag.

„Dann ein Floß!“ meinte Harald. „Und recht bald! – Schlafen wir ein paar Stunden. Der Bau des Floßes wird uns dann einen Tag kosten …“

„Und dann – –? Willst Du etwa mit dem Floß zum Festlande hinüber?“

„O nein, mein Alter. Das Risiko wäre zu groß. Nur bis zum Rocher de Malcolm wollen wir … Dort werden wir in Jollings sogenannter Hexenküche, in seinem Laboratorium, allerlei finden, was unser Floß seetüchtig macht.“

Wir legten uns in den Baumschatten und waren auch sofort eingeschlafen …

Ich träumte …

Träumte die wüstesten Träume … Von einer kopflosen Männermumie, die vor mir auf und ab spazierte und als Bauchredner mir einen gelehrten Vortrag über die Gesteinsart des Rocher de Malcolm hielt …

 

4. Kapitel.

Kautabak.

Bis … meine Träume schwanden und allmählich in die Wirklichkeit hinüberglitten …

Die Mumie hatte mich bei der Schulter gepackt und rüttelte mich …

Rüttelte mich, daß ich mit leisem Schrei entsetzt hochfuhr und Harald … ins Gesicht starrte …

„Was gibt’s?!“ stammelte ich …

„Die Mumie ist verschwunden …“

„Gott sei Dank!“

„Du bist nicht recht im Bilde, mein Alter …! Sie ist verschwunden, während wir schliefen. Sie war noch da, als wir Ellen Wellers Flucht bemerkten. Ich habe bereits nach den Spuren der Diebe der Mumie gesucht, aber nichts von Fährten gefunden. Allerdings gibt es hier genug steinige und felsige Stellen …“

Ich war nun völlig munter …

Ich erkannte, daß Haralds Erregung berechtigt war.

Die Mumie war weg, mithin befanden sich außer uns noch andere Leute auf dem Inselchen!

Und als ich diese Vermutung nun Harald gegenüber aussprach, nickte er sehr ernst …

„Ja – entweder dies oder … Ellen Weller war zurückgekehrt …“

„Oder – andere Leute landeten hier, nahmen die Mumie mit und segelten wieder davon …“

„Richtig, lieber Alter – drei Möglichkeiten, und doch nur eine Wahrscheinlichkeit: Ellen!! Denn wer anders würde wohl eine kopflose vertrocknete, uralte Leiche eines indischen Fürsten davonschleppen?!“

„Fürsten …?!“

„Ja …! Ich habe darüber noch nicht gesprochen. Die Leiche ist tatsächlich die eines Maharadscha, eines Fürsten, und zwar muß dieser Fürst einst in einem der südlichen Staaten Vorderindiens regiert haben, da nur im Süden die Hindu, die Bekenner Brahmas, die Leichen hervorragender Persönlichkeiten nicht verbrannten, sondern einbalsamierten – mit vergoldeten Fingernägeln und mit jenem Fenster aus Glas mitten in der Brust, das ja poetisch „Warga Dschindra“, Auge der Seele, genannt wird …“

„Hm – und woher – – ein Fürst?! Es kann doch auch ein Staatsmann oder dergleichen gewesen sein!“

„Nein, ein Fürst …! Die halb vermoderten Gewänder verrieten das, besser: der eingewebte Rand, der noch Goldfäden erkennen ließ …“

Ich war nun ebenfalls überzeugt, daß Harald recht hatte. Ich war über indische Sitten und Gebräuche genügend unterrichtet.

„Suchen wir nochmals nach Spuren,“ sagte Harst. „Wir müssen etwas finden …!“

Und – wir fanden auch …

Harald entdeckte in der Rinde des Baumes, an den wir unsere gefährliche Gegnerin gebunden hatten, drei tiefe frische Einschnitte gerade da, wo die Stricke gesessen hatten.

„Ein Beweis, daß jemand Ellens Fesseln zerschnitten hat, mein Alter …“

„Aber – das Weib floh doch allein! Sie befand sich doch allein im Boot!“

„Gestatte – wenn jemand lang auf dem Boden des Bootes lag, konnten wir ihn nicht sehen …! – Suchen wir weiter …“

Und jetzt war ich es, der abermals etwas entdeckte …

Gerade dort, wo neben der jetzt völlig gasleeren Ballonhülle die Mumie gelegen hatte, sah ich ein bräunliches Papierstück zwischen den Steinen.

Harald prüfte es … Erklärte:

„Das Einwickelpapier einer Rolle Kautabak. Ein Firmenaufdruck:

S. I. Sarragan,
Alleppi,
Tabakimport.

Und die Hauptsache: das Papier hat noch heute ein Stück Kautabak enthalten! Hier sind noch weiche Reste des Kautabaks. Mithin hat wahrscheinlich Ellen Wellers Befreier dieses Papier weggeworfen. – Wichtig ist auch der Firmenaufdruck Alleppi … sehr wichtig. Der Seemann, der hier weilte und uns beobachtet hatte, muß Beziehungen zu Alleppi unterhalten. Vielleicht ist er dort zu Hause …“

Harald sprach leise und grüblerisch … Fügte hinzu:

„Du weißt doch, daß die Grenze des eingeborenen Fürstentums Travankore sich bis dicht an Alleppi heranzieht. Die Fürsten von Travankore sind Hindus, sind Anbeter Brahmas … Hm – ob etwa hier ein merkwürdiger Zufall uns den Weg weist, wie man dem Rätsel des Zinksarges und dem Geheimnis von H. O. 3 auf die Spur kommen könnte?! Denn – wir wollen das eine nicht vergessen, mein Alter: wir vermuten nur, daß die Mumie aus dem Zinksarge stammt, vermuten auch nur, daß Ellen Weller die Mumie in der Ballonhülle verborgen hatte …!“

„Gewiß …! – Und da wir nun dieses Thema angeschnitten haben, gestatte eine Frage: Glaubst Du, daß Ellen Weller mit H. O. 3 aufsteigen wollte?“

„Es machte nicht den Eindruck … Eher könnte man annehmen, sie wollte vielleicht die Mumie beseitigen, indem sie den Ballon samt der Mumie der Willkür der Winde preisgab …“

„Hm – – beseitigen?! Etwas umständlich!“

„Doch nicht, lieber Alter …! Denke an Ellens braune Leibgarde! Selbst der schlimmste indische Bandit bleibt immer der größte Fanatiker. Die Leute mögen sich geweigert haben, die Mumie zu vergraben oder im Wasser zu versenken. In den Gedankengang eines fanatischen Brahmaanbeters findet man sich schwer hinein …“ –

Hiermit war die Erörterung dieser Fragen vorläufig beendet.

Wir durchsuchten nun das Inselchen. Und – wir fanden an der Nordseite in einer kleinen Bucht Anzeichen dafür, daß hier ein großes Segelboot noch vor kurzem gelegen haben mußte.

Harst wurde wieder sehr nachdenklich, meinte:

„Ich bin nun doch zu einer etwas anderen Ansicht gelangt, mein Alter …“

„Und – die wäre?“

„Es waren Leute hier, vielleicht Perlenfischer aus Alleppi auf der Suche nach neuen Perlengründen. Diese Leute befreiten Ellen, nahmen sie aber nicht in ihr Boot auf, sondern ließen sie mit Jollings Zinkboot entfliehen. Später, als wir schliefen, holten sie die Mumie und segelten gleichfalls davon. Ich behaupte weiter, daß diese Leute die Bedeutung der Mumie gekannt haben. Sonst hätten sie sie kaum entführt.“

„Das leuchtet ein …“

„Ja – und weil ich all diese Dinge nun schleunigst klären möchte, werden wir sofort ein Floß bauen. Als Segel benutzen wir die Ballonhülle, ohne sie zu beschädigen. Sie ist wertvoll, und der Aero-Klub in Alleppi wird uns dankbar sein, wenn wir sie wieder mit zurückbringen …“

Nachts halb zwölf war das Floß fertig. Wir passierten glücklich den Riffgürtel und trieben langsam gen Süden auf den Rocher de Malcolm zu.

Der helle Mondschein im Verein mit dem Sternenlicht der Tropennacht zeigte uns bald ganz deutlich das enorme, hutförmige Felsgebilde.

Zeigte uns aber auch etwas anderes, noch angenehmeres: die Rauchfahne eines Dampfers, dessen Rumpf dann aus dem Zwielicht der Nacht immer klarer auftauchte.

Ein Dampfer – – mit Kurs auf den Rocher de Malcolm! –

Eine Stunde später befanden wir uns an Bord des Polizeidampfers Raunabour aus Quilam, den der dortige Polizeichef zur nochmaligen Durchsuchung der Fälscherwerkstatt Josua Jollings nach den Malediven beordert hatte.

Wir trafen hier an Bord mit dem Polizeiinspektor Graging wieder zusammen, den wir schon in Quilam kennengelernt hatten.

Harst schilderte unsere Erlebnisse ganz eingehend, erwähnte auch den Zinksarg, nur – – die Mumie ließ er weg.

Er mochte seine Gründe dafür haben. –

So verlebten wir denn nochmals ein paar Stunden in Josua Jollings Felsenbehausung. Inspektor Graging kam aus dem Staunen gar nicht heraus, was weiter kein Wunder war, denn der liebe Leser wird ja selbst überrascht gewesen sein, als er im vorigen Band uns in Gedanken durch die Geheimnisse des Rocher de Malcolm begleitete. –

Morgens verließ der Dampfer den Hutfelsen und nachts ein Uhr stiegen wir beide in aller Stille unweit Alleppi an Land und wanderten der Hafenstadt zu.

 

5. Kapitel.

Das Wrack …

Edward Gaspard, unser braver Bootsmann, fiel aus allen Wolken, als wir so unvermutet wieder an Bord des Kutters erschienen. Er betonte wiederholt, daß er unser Verschwinden am liebsten der Polizei gemeldet hätte, daß ihm dann aber doch stets wieder Bedenken aufgestiegen seien. Er habe noch bis heute abend mit der Anzeige warten wollen. –

Harald blieb nur kurze Zeit auf dem Kutter. Er wollte feststellen, ob Ellen Wellers Seraphia sich noch an ihrer Liegestelle befände.

Er kehrte dann nach einer Stunde zurück, gerade als Gaspard den Morgenkaffee fertig hatte.

„Die sogenannte Jacht hat gestern abend sieben Uhr den Hafen verlassen,“ meinte er gutgelaunt. „Und die Firma S. I. Sarragan war auch bereits zu sprechen. Der Inhaber ließ sich ohne Mühe ausfragen. Er klagte über schlechte Geschäfte mit Kautabak. Seine wenigen hiesigen Kunden kennt er ganz genau, und einer davon ist Besitzer eines Perlenkutters und ein Untertan des Maharadscha von Travankore. Der Mann heißt Sima Galow und wohnt nördlich in dem Hafennest Palliport, das nur deshalb einige Bedeutung hat, weil der Sommerpalast Seiner Hoheit des Maharadscha in den nahen Bergen liegt. – Wir werden sofort nach Palliport segeln …“

Das war kurz und bündig Das war wieder einmal ganz Harald Harst!

Der alte Gaspard freute sich wie ein Kind, daß wir nun wieder gemeinsam auf Abenteuer ausziehen würden … So drückte er sich wörtlich aus. Und – ahnte nicht, daß diese Abenteuer dann doch nicht ganz nach seinem Geschmack ausfallen würden. –

Sieben Uhr morgens stachen wir in See.

Es wehte eine recht frische Ostbrise, und unser Kutter flog nur so mit nördlichem Kurs angesichts der buchtenreichen Küste dahin.

Fischerboote, ein paar kleine Frachtdampfer und schwerfällige indische Frachtsegler belebten das Bild …

Wir beide, Harald und ich, saßen wieder auf der vertieften Steuerbank, und Edward Gaspard lag vor uns auf den Deckplanken und rauchte.

Auch das Sonnensegel war wieder ausgespannt …

Alles war genau wie damals vor drei Tagen, als wir von Quilam kamen …

Alles – genau so …

Auch diesmal fehlte die Überraschung nicht. Und wieder war’s unser biederer Jan Maat, der im Wasser etwas bemerkte: ein treibendes Wrack, das Wrack eines Kutters indischer Bauart, über dessen Deck und Maststümpfe die Wogen hinwegschäumten …

„Ein Wrack!“ brüllte er.

Er brüllte eigentlich immer. Trotz seiner sechzig Jahre besaß er noch so viel überschüssige Kraft, daß er seine Stimme stets über Gebühr anstrengte.

Und er sprang auf die nicht kleinen Füße, die in derben braunen Halbschuhen steckten.

Starrte geradeaus … Wiederholte:

„Ein Wrack!!“ … Und fügte diesmal hinzu: „Und – – ein Toter, festgeklemmt in das Tauwerk!“

„Bootshaken – festhalten!“ befahl Harst …

Gaspards Bärentatzen schwangen die lange Stange …

Klatschend schlug sie ins Wasser, und die Hakenspitze bohrte sich in das Deck des verankerten Kutters ein.

Harald ließ das Segel flattern, und wir lagen Bord an Bord mit dem fremden Segler …

Gaspard bückte sich, erwischte den einen Arm der männlichen Leiche, eines indischen Seemannes, und zog sie mit meiner Hilfe an Deck.

Harst stand neben uns …

„Erschossen!“ sagte er leise … „Stirnschuß – aus nächster Nähe! Die Kugel ist am Hinterkopf wieder ausgetreten …“

Und ohne Scheu durchsuchte er nun die Taschen des schmierigen Leinenanzugs …

Fand nichts – – nichts als ein aufgeweichtes Stückchen Papier, das sich bei näherer Besichtigung als … Kautabakhülle mit Firmenaufdruck entpuppte …

Firmenaufdruck:

S. I. Sarragan,
Alleppi,
Tabakimport.

Als Harst dies vorlas, schauten wir beide uns an …

Dachten genau dasselbe und … sprachen halb fragend denselben Namen aus:

Sima Galow?!

… Sima Galow, der Perlenfischer!! – Vielleicht war er’s … Vielleicht …! –

Und Harald fügte hinzu:

„Gaspard, wir nehmen das Wrack ins Schlepptau! Den Toten bringen wir vorn in eine Kammer. Dann steuern wir eine einsame Bucht an und werden das Wrack in Ruhe … prüfen …“

„Prüfen, Mr. Harst?“

„Ja, – ob es gewaltsam zum Sinken gebracht worden ist …“

„Ich meine, lieber Gaspard, daß der Tote der Perlenfischer Sima Galow sein kann und daß dieser wracke Kutter vielleicht derselbe ist, der auf dem Malediven-Eiland gelandet war …“

„Aha – und der die Mumie mitnahm …“

„Vielleicht …“

„Und …?“

„Und – jetzt nicht reden, sondern handeln, lieber Gaspard …!“ –

Anderthalb Stunden drauf lag unser Kutter in einer sandigen, von dichtem Gestrüpp umgebenen Bucht der Küste, und wir drei mühten uns redlich ab, das Wrack auf dem Grunde der Bucht umzukippen. Es gelang uns schließlich nur mit Hilfe der Ankerwinde unseres Kutters …

Dann aber sahen wir auch in den Bodenplanken des fremden Fahrzeuges drei große, offenbar mit Äxten geschlagene Löcher …

Sahen noch mehr: zwei Leichen, die im Kielraum schwammen …! –

Auffallend war auch, daß am Bug des fremden Kutters der Name oder doch die Nummer und der Heimathafen gleichfalls durch Axthiebe völlig unkenntlich gemacht worden waren. –

Wir zogen das Wrack nun näher an Land, und Harald unternahm es, im Adamskostüm in die Kajüte hinabzutauchen, wobei er seine Taschenlampe benutzte, die auch unter Wasser brannte.

Nach dreimaligem Tauchen brachte er ein zusammengerolltes Segel mit, das in einer Ecke mit Teer aufgemalt die folgende Bezeichnung trug:

S. G. 2, Palliport.

„Sima Galow!“ sagte Harald mit Nachdruck, „S. G. … Sima Galow! Es ist der Perlenkutter, der die Mumie mitnahm …!“

Freund Gaspard nickte …

„Dann können wir ja wohl den Toten begraben, Mister Harst … Eine Leiche oder ein Sarg an Bord –das bringt Unheil!“

„Gut – begraben wir ihn! Das Wrack aber schleppen wir wieder in tieferes Wasser, damit es nicht so leicht von Unberufenen gefunden wird. Die Polizei dürfte sich mit dem Wrack noch zu beschäftigen haben …!“ –

Mittags verließen wir die einsame Bucht und segelten nordwärts – nach Palliport!

Ich ahnte, daß Ellen Weller hier wieder ihre anrüchigen Händchen mit im Spiel gehabt hatte …!

Harst sprach sich darüber nicht aus. –

Und als wir dann gegen Abend Palliport sichteten, als die Dunkelheit nach kurzer Dämmerung sich über das Meer hinabsenkte, als das Firmament seine Millionen von Lichtlein noch nicht angezündet hatte, da … ereignete sich … der neue Piratenstreich … –

Und hiermit will ich Teil 2 des Geheimnisses des Freiballons beginnen …

 

 

Die blonde Bestie

 

1. Kapitel.

Das Kerkerfenster.

Der Wind war jetzt abends wie zumeist völlig abgeflaut. Unser Kutter schaukelte träge auf den langen Wogen. Rundum nichts als Dunkelheit, jene zähe blaugraue Finsternis, die der Nachtbeleuchtung in den Tropen, dem Sternenschimmer, voranzugehen pflegt.

Auch nicht ein einziges Licht eines anderen Fahrzeugs war sichtbar. Nur unsere Positionslaternen schickten ihre roten und grünen Strahlen mattglänzend in die Nacht hinaus …

Plötzlich aber kam aus der Finsternis vor uns, aus dem dunklen Nichts, eine Reihe von Tönen, deren Eigenart uns ebenso sehr überraschte wie verwirrte …

Töne waren’s, die an das Wimmern eines Kindes, das klägliche Schreien einer hungernden Katze oder das trunkene Gekreisch eines verkommenen Weibes erinnerten. –

„Was – was ist das …?“ fragte unser abergläubischer Jan Maat entsetzt.

Weder Harald noch ich antworteten.

Wir lauschten nur …

Und – nach kurzer Pause abermals diese Töne – irgendwo aus der Finsternis …

Wurden deutlicher, lauter.

Bis Edward Gaspard brüllte:

„Verdammt – – wieder ein Wrack!“

Dicht vor uns tauchte da wirklich ein Fahrzeug mit geknicktem Mast auf, mit im Wasser schleifenden Segeln, mit starker Schlagseite …

Ein Frachtboot, vorn und hinten mit Maisstroh beladen, mächtigen Ballen, deren schmutziges Gelb in dieser spärlichen Beleuchtung riesige Deckaufbauten vortäuschten …

Steuerlos trieb das große Boot bald hierhin, bald dorthin …

Längst hatte der flinke Gaspard wieder seinen Bootshaken zur Hand genommen, hatte den Haken in das Tauwerk des geknickten Mastes gestoßen, hielt das Wrack auf diese Weise neben uns …

„Nicht zu nahe herankommen lassen!“ rief Harald vom Steuer her Gaspard und mir zu: „Und Du, mein Alter, halte Deine Neunschüssige bereit …! Die Geschichte gefällt mir nicht. Wir haben in den letzten Tagen keinen Sturm gehabt, und es ist recht schwer zu erklären, wie das Frachtboot so arge Havarie erlitten haben sollte …!“

„Stimmt!“ brüllte der Alte. „Auch ich bin der Ansicht, Mr. Harst, wir halten uns den Burschen vom Leibe! Oder soll ich den verdammten Kahn weiterschwimmen lassen?!“

„Noch nicht …!“

Harst kam zu uns nach vorn.

„Das Frachtboot,“ sagte er leise, „ist verdächtig! Die Katzenmusik hat aufgehört … Sie kann nur von dem Wrack zu uns herüberge…“

Und da – – setzte das jammervolle Konzert abermals ein …

Da wurde es so überlaut, daß Gaspard murmelte:

„Alle guten Geister! Das geht nicht mit rechten Dingen zu …!“

Harald hatte einen zweiten Bootshaken ergriffen, hatte im Nu seine elektrische Taschenlampe mit einer Schnur an dem eisernen Haken oben befestigt, hatte die Lampe eingeschaltet und streckte die Stange nun vor, so daß Teile des Decks des fremden Wracks hell beleuchtet wurden …

Rief mir gleichzeitig leise zu:

„Gib auf die Backbordseite unseres Kutters acht, mein Alter …! Hier ist eine Teufelei im Gange …“

Ich drehte mich um, trat an die andere Reling …

Ich wußte, was Harst fürchtete: daß sich irgendjemand unserem Kutter schwimmend nähern könnte, während wir durch das Wrack abgelenkt wurden!

Nach dem grellen Lichtschein der Taschenlampe erschien mir das Dunkel über den Wogen doppelt drückend und geheimnisvoll, wie erfüllt von ungeahnten Schrecken …

Hinzu kam noch, daß die greuliche Katzenmusik nach kurzer Pause abermals begann …

Meine Nerven waren in jenem Zustand von leichter Erregung, der uns gleichsam fähig macht, unsere Sinne zu verdoppeln …

So war’s auch mir, als ob ich zehn Meter vom Kutter entfernt etwas Dunkles auf dem ganz matt schillernden Wasser treiben sah – etwas wie eine Kugel …

Und – war’s Einbildung?! – ich glaubte den Kopf eines Menschen zu erkennen …

Glaubte …

Wollte für alle Fälle Harald warnen …

Brauchte es nicht mehr, hörte ihn schon halblaut rufen:

„Gaspard, weg mit dem Haken …!“

Und hörte ihn über die Deckplanken zum Steuer springen.

Das Großsegel kreischte, knallte …

Der Kutter schwenkte herum, kam in Fahrt …

Und hinter uns her, rasch verhallend, erscholl das Gewimmer und Gewinsel von dem zurückbleibenden Wrack wie das höhnische Kichern einer Schar heimtückischer Teufel.

Ich atmete auf, sagte zu unserem alten Jan Maat, der befriedigt dreimal ins Wasser spuckte – auch so ein Aberglauben:

„Mir war’s, als ob ich einen Kerl, einen Schwimmer, bemerkte …“

„Mag schon sein, Mr. Schraut … Jedenfalls: geheuer war die Sache nicht. Mister Harst flüsterte mir zu, es sei die durch Maisstrohballen und einen Mast und Segel leidlich als Kutter herausstaffierte Seraphia gewesen …“

„Aha – – die Seraphia?! Das wäre ja …“

Haralds Stimme fuhr dazwischen:

„He – Gaspard, Schraut, durchsucht mal für alle Fälle unser Schiff! Seht zu, wo Ihr an Deck nasse Flecke findet, – ob jemand aus dem Wasser an Bord geklettert ist …“

Dies hätte nur auf der Backbordseite geschehen sein können, der wir vorhin den Rücken zugekehrt hatten.

Ich ging zu Harst ans Steuer.

„Gib mir mal Deine Taschenlampe …“

„Bitte – da liegt sie …“

Gaspard war durch die Vorderluke ins Vorschiff hinabgeklettert, hatte noch etwas von „Laterne holen“ gemurmelt …

Und als ich nun die Taschenlampe einschaltete und drei Schritt von Harald entfernt die Deckplanken abzuleuchten begann, schrillte plötzlich aus dem Vorschiff ein kurzer Schrei herauf …

Ich richtete mich auf …

Unwillkürlich glitt meine Hand in die Jackentasche.

Meine Finger umspannten die Clement …

Da auch schon Haralds ebenso schrille Warnung:

„Achtung – – Feuer …!!“

Oh – er kam nicht mehr dazu, abzudrücken, obwohl er die Waffe bereitgehalten hatte …

Die kurze Kajütentreppe empor schnellten drei – vier braune Gesellen …

Lange Knüttel in den Fäusten.

Und – ein Hieb traf meinen erhobenen Arm …

Polternd fiel die Clement auf die Planken, entlud sich.

Ein zweiter Hieb … Und – Max Schraut schlug hintenüber … Max Schraut war vorläufig erledigt … –

* * *

Da war ein Fenster, ein kleines, vergittertes Fenster mit trüben Scheiben, halb mit verstaubten Spinngeweben überzogen …

Und dieses Fenster verdunkelte sich jetzt …

Ein Profil zeichnete sich ab – das Profil meines Freundes Harald Harst – – mit etwas unförmigem Schädel …

Unverkennbar Harald Harst …!

Und – in meinem brummenden, schmerzenden Schädel wurde es jetzt immer heller, klarer …

Meine Augen sahen, und mein Hirn verarbeitete das Geschaute …

Ja – Harald stand an dem vergitterten Fensterchen – – mit einem Verband um den Kopf.

Und ich selbst lag auf einem Haufen Maisstroh neben einer kühlen feuchten Mauer.

Auch mit einem Verband um den Kopf.

Neben mir hockte jemand, brummte:

„Endlich, Mr. Schraut …! Endlich! Wir beide sind schon seit einer Stunde wieder bei Besinnung …“

Wir beide …! Er meinte Harald und sich selbst.

Ich schaute den alten Seebären an …

„Ja – eingespunnt hat man uns,“ nickte er. „Möchte nur wissen wo …! Auch Mr. Harst hat keine Ahnung … Jedenfalls irgendwo an Land in einer Banditenhöhle …!“

Ich blickte wieder zu Harst hinüber. Der säuberte jetzt die blinden Scheiben mit seinem Taschentuch.

Wandte dann den Kopf …

„Grüß Gott, mein Alter …! Also hast Du nun auch deine fünf Sinne wieder beieinander! – Gaspard, helfen Sie ihm …! Kommt mal her!“

Das Aufstehen hatte seine Schwierigkeiten …

Ich taumelte wie ein Trunkener. Doch die Willenskraft vermag viel.

Gaspard stützte mich. Nun lehnte ich neben dem Fensterchen an der Mauer …

„Bitte – nette Aussicht!“ meinte Harald, und es klang gutgelaunt, als sollte ich einen Rundblick von der Höhe des alten braven Berliner Kreuzberges genießen … –

Wie durch grünliche Schleier erkannte ich draußen einen quadratischen Hof, eingefaßt von einer sehr hohen dunklen Mauer. Ein Teil des Hofes lag im Sonnenlicht. Und dort, wo offenbar das Dach des Gebäudes, in dem wir uns befanden, die Sonne absperrte und die scharfe Grenze zwischen Licht und Schatten hinlief, dort sah ich – seltsam genug war das! – ein verzerrtes Schattenbild …

Einen Menschen – einen Mann, der oben auf dem Dache hocken mußte und der dauernd die Arme bewegte …

Er streckte sie bald zur Seite, bald nach oben, dann wieder fuchtelte er nur mit dem einen Arme umher …

Seltsam war das! Und es war das einzige, was den leeren Hof belebte … –

Nachdem ich mich an die Freiübungen des Unsichtbaren gewöhnt hatte, richtete ich mein Augenmerk mehr auf seine Gestalt, seinen Anzug …

Der Mann mußte ein Europäer sein. Er trug weite bauschige Reithosen und eine in der Taille sehr enge Jacke. Auf dem Kopfe hatte er eine Sportmütze mit sehr langem Schirm. Auch das konnte man an dem Schattenbild erkennen.

Plötzlich – – verschwand es … Und zwar so, als ob der Mann in eine Dachluke hinabstieg. Zuletzt war nur noch der Kopf sichtbar … Jetzt im Profil und schärfer im Schattenriß als vorhin: Der Mann trug einen Spitzbart!

Nicht weiter wunderbar, daß ich an Ellen Weller in der Verkleidung als Doktor John Faraday dachte …

Ich sprach den Namen fragend aus:

„Faraday …?!“

„Nein, lieber Alter – viel interessanter, bedeutend wichtiger!“ erwiderte Harald. „Der Mann, dessen Schatten wir sahen, heißt Allan Kraag …!“

„Gott steh’ mir bei!“ meinte Gaspard. „Woher wissen Sie das?! Hat er Ihnen seine Visitenkarte überreicht, Mr. Harst?“

„Allerdings – – telegraphisch!“

Und da, als dies eine letzte Wort fiel, da … schätzte auch ich die Freiübungen des Schattens richtig ein …

„Die Armbewegungen!!“ rief ich halblaut.

„Ja. Dieser Allan Kraag ist kein Dummkopf.

Er ist Gefangener wie wir es sind. Er telegraphierte durch Morsezeichen, daß er nach Dunkelwerden zu uns kommen würde …“

„Glänzend!!“ brummte Gaspard. „So ein Schwindler! Wenn er gefangen gehalten wird, kann er doch nicht frei umherspazieren!!“

„Nein, das wohl nicht … Wir müssen eben abwarten, was geschieht. Es ist jetzt fünf Uhr nachmittags. Setzen wir uns. Warten wir …“ – Er flüsterte nur, und er flüsterte noch leiser, als wir nun auf dem Maisstroh saßen.

 

2. Kapitel.

Der Mann von oben …

„Ich weiß nicht, wo wir sind,“ begann Harald zu mir gewandt. „Ich erhielt an Bord unseres Kutters wie Du einen Schädelhieb und erwachte wie Du hier in dieser echten Kerkerzelle. – Es ist eine Zelle. Dort die winzige rostige Eisentür führt in einen winzigen Vorraum. Dieser Vorraum hat eine noch festere eiserne Tür mit einem Guckloch mit Schieber …“

Er wollte noch mehr hinzufügen …

Die Innentür kreischte … öffnete sich handbreit. Eine Stimme sagte in schlechtem Englisch:

„Euer Essen steht bereit … Holt es Euch …“

Dann klappte die andere Tür … –

Stille …

Gaspard räusperte sich.

„Soll ich mal nachsehen, Mr. Harst?“

„Ja …“

Der Alte stand auf, stieß die Tür mit einem Fußtritt noch weiter auf und starrte mißtrauisch in den dunklen Vorraum hinein …

„Hm – ein Brett, drei Brote, ein Krug Wasser und eine Schüssel Reis …,“ meinte er enttäuscht.

„Erwarteten Sie Fisch, Braten und Kompott, lieber Gaspard?!“ lachte Harald …

Der Alte bückte sich und kam mit den Herrlichkeiten herbei.

„Oh – ich habe Hunger,“ erklärte Harst ehrlich … „Sogar drei Löffel – unerhörter Luxus!“

Auch unser Seebär aß …

„Der Reis ist nicht schlecht,“ lobte er. „Miß Ellen Weller wird uns mästen, bevor sie uns schlachtet.“ – Er versuchte auf Harsts scherzenden Ton einzugehen.

„Ellen Weller?!“ meinte Harald sehr gedehnt. „Ich möchte bezweifeln, daß sie uns hier festhält. Es ist dies fraglos ein altes indisches Gefängnis. Wie sollte unsere blonde Feindin uns in einem Gefängnis unterbringen können?!“

„Wer denn sonst?!“ mischte ich mich ein. „Du glaubst doch in dem Wrack mit den Maisstrohballen die Seraphia wiedererkannt zu haben …!“

„Es war die Seraphia …“

„Na also!“

„Womit noch nicht gesagt ist, daß auch Ellen Weller uns dann so rücksichtsvoll behandelt hat. Man hat uns drei sorgfältig verbunden. Ellen hätte das nie getan. Denke daran, mein Alter, daß sie mir im Ballon zurief, ich sei längst zuviel auf der Welt!“

„Hm – das stimmt!“

Und auch Gaspard meinte kauend: „Sie hätte uns einfach ersäuft, die … verdammte Sargdiebin, die … blonde Bestie, die …!!“ –

Wie doch so ein einziges Wort halb Vergessenes jäh wieder an die Oberfläche unserer Gedanken bringt! – In der Tat, ich hatte über all den Ereignissen des letzten Tages den geheimnisvollen Zinksarg ganz vergessen gehabt. Nun waren sie sämtlich wieder aufgelebt, all jene Einzelheiten: Der verankerte Sarg, der erste Überfall, der Ballon, die Insel, die Mumie …!

Und standen vor mir, diese Einzelheiten, wie eine Reihe düsterer Gestalten mit verhüllten Gesichtern, aber verschlungenen Händen. Sie gehörten zusammen und waren als Ganzes doch ein einziges Rätsel. –

„Ich wette, es ist die Mumie des enthaupteten Maharadscha Biwar Khan,“ sagte Harald ganz leise und mehr zu sich selbst …

Gaspard wiederholte staunend: „Biwar Khan – – Biwar Khan?! – Das ist ja sozusagen der Nationalheilige der Bewohner von Travankore …!“

Jetzt staunte ich. „Gaspard, woher wissen Sie das?!“

„Oh – jedes Kind weiß das hier im Südzipfel Vorderindiens. Ich bin seit acht Jahren Angestellter der Diamantminen-Gesellschaft. In acht Jahren lernt man Land und Leute kennen.“

Gaspard hatte nach seiner beliebten Kraftmeiermethode seine Stimme bei dieser Erklärung durchaus nicht geschont, was ihm nun von Seiten Haralds ein warnendes, ärgerliches „Bitte – pianissimo!“ eintrug.

„Verzeihung!“ knurrte er, denn das, was andere Menschen flüstern nennen, klingt bei ihm wie die drohenden Töne eines bissigen Köters, dem man das Maul zuhält … – „Verzeihung, Mr. Harst … Ich werde mich nicht nochmal so vergessen! Die Wände haben vielleicht Ohren … – Was aber Biwar Khan angeht, so muß ich noch hinzufügen, daß ich selbst mal auf dem Heiligen Berge Daropharim war und das gleichnamige Heiligtum der Hindus besucht habe, was mir beinahe verdammt schlecht bekommen wäre, da ja kein Europäer den Daropharim-Tempel betreten darf …“

Harald rückte näher heran …

„Sie waren also verkleidet, Gaspard?“

„Was man so verkleidet nennt – als indischer Wallfahrer …! Aber mein Odem verriet mich der andächtigen Menge …“

„Odem?“ fragte ich lächelnd.

Und Harst erwiderte an Stelle des Alten:

„Gaspard dürfte für diese Tour damals sich zu reichlich mit Alkohol versehen gehabt haben …“

„Oh – nur zwei Flaschen Gin … Aber das Zeug stank einem aus der Kehle wie ’n Geschützrohr nach Pulverdampf …“

Wir hätten am liebsten laut losgelacht. Doch Harald drohte mir:

„Vorsicht!! – Außerdem ist dieses Thema alles andere als scherzhaft … – Haben Sie denn damals den toten Heiligen gesehen, Gaspard?“

„Das sind nun vier Jahre her, Mr. Harst, doch ich besinne mich – auch trotz dem Gin-Teufelszeug! – noch ganz genau, daß der heilige Maharadscha Biwar Khan in einem Marmorschrein steckte und durch Marmor kann man nur mittels eines Loches hindurchschaun …“

Jetzt wandte Harald sich mir zu und sagte stets in demselben gedämpften Tone:

„Wir sind zu selten in Südindien gewesen, mein Alter, als daß wir die Geschichte des Biwar Khan hätten im Kopfe haben müssen. Mir ist der heilige Maharadscha auch erst vorhin eingefallen, halb durch eine Eingebung von oben …“

„Wie das?“

„Nun – durch Allan Kraag …!“

Und jetzt zeigte sich, daß Harald doch nicht alles von dem Inhalt des merkwürdigen Telegramms unseres Leidensgefährten uns mitgeteilt hatte – natürlich nicht! Das Beste behält er ja stets für sich!

„Kraag depeschierte nämlich: „Sitze hier wegen Biwar Khan gefangen!“ – Und da öffnete sich denn prompt die Zelle meines Hirns, in der das Kapitel aus Oberst Marlings Werk über indische Heiligtümer als Erinnerung eingekapselt war …! Da fiel mir eben ein, daß Biwar Khan als Mumie auf dem Daropharim östlich von Palliport in einem Tempel als Heiliger verehrt wird …“

„Ohne Kopf?“ fragte ich zweifelnd.

„Ja – das vermag ich nicht zu sagen. Oberst Marling betont in seinem Buch, daß die Sage von „Biwar Khans Verwandlungen“ so widerspruchsvoll sei, daß er den Kern all der Legenden nicht habe herausschälen können. – Immerhin: ich vermute jetzt, daß unsere Zinksarg-Mumie vielleicht der heilige Maharadscha von Travankore ist.“

Gaspard schlenkerte den Kopf. „Glaube ich nicht!! Wie soll solch ein toter Heiliger in einen verlöteten Zinksarg und an eine Ankerkette und unter Wasser kommen?!“

„Das kann doch geschehen, lieber Gaspard … Sehr leicht sogar … Sehr leicht …“

Und ich gab nun auch noch meine Weisheit zum Besten.

„Es kann sein, daß jemand die Mumie stahl und …“

„Halt!“ brüllte Gaspard.

Erschrak über seine eigene Lungenkraft und flüsterte: „Verzeihung, – – aber stehlen – – stehlen, das ist bei der Bewachung ausgeschlossen! Sie müßten mal oben auf dem Heiligen Berge gewesen sein, Mr. Schraut! Da gibt es …“

„Still!!“ warnte Harald jäh … „Still! Ich höre in der Mauer Geräusche …!“

Ja – Harst hatte recht …

Gerade neben uns vernahmen wir in der aus Granitquadern bestehenden Mauer ein deutliches Scharren und Kratzen …

Und dann … eine Stimme – – wie aus dem Nichts:

„Schließen Sie die Zellentür!“

Englische Worte!!

Fraglos Allan Kraag …

Harald sprang auf … Ging und drückte die eiserne Tür vorsichtig zu …

Kehrte zurück, kniete auf dem Maisstroh an der Mauer, aus deren Fugen zwischen den einzelnen Steinen stellenweise der Mörtel herausgefallen war …

Und pfiff ganz leise … Ganz leise. – Pfiff die Anfangstakte des Liedes: „Heimat, süße Heimat …“

Bis Allan Kraag sich meldete und wir nun merkten, daß seine Stimme aus einer der Fugen hervordrang …

„Haben Sie schon Ihre Tagesration erhalten?“ fragte er …

„Ja,“ erwiderte Harald, den Mund dicht an der Fuge.

„Dann ist es gut, dann sind wir sicher. Ich kenne die Gepflogenheiten der Wächter. Dann … komme ich zu Ihnen …“ –

Er kam … Er kam so, wie er nur kommen konnte, durch die Mauer! Durch die Öffnung, die eine aus Granitquadern bestehende Tür nun freigab, indem Mister Allan Kraag sie nach außen aufschob – nach uns hin …

Kam und nickte uns etwas gönnerhaft zu, sagte:

„Grüß Gott, die Herren … Allan Kraag mein Name, Berichterstatter der Londoner „Morning Post“ …“

Drückte die dicke Steintür wieder sauber zu und setzte sich zu uns …

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“ meinte er zwanglos …

Er war tadellos gekleidet, Haar und Bart waren gepflegt, und der ganze vielleicht dreißigjährige Mann mit den vergnügten Augen und dem unerschütterlichen Gleichmut des britischen Reporters wirkte recht sympathisch.

Harald nannte unsere Namen – recht undeutlich tat er’s, zwinkerte dabei Gaspard heimlich zu …

Das hieß: nicht verraten, daß zwei von uns Harst und Schraut sind!

Kraag aber meinte jetzt, indem er Harald scharf fixierte:

„Mister, Sie spielen hier von Anfang an mit falschen Karten! Weshalb gaben Sie dem old Boy dort heimlich mit den Augenlidern Zeichen?! Ich bin nicht blind. Im Gegenteil, man behauptet, Allan Kraag habe doppelte Augen …“

Er lächelte Harald an.

„Mr. Harst, ich wäre ja ein Idiot, wenn ich Sie nicht erkennen würde, zumal Ihr Freund Schraut mit seiner unvermeidlichen Hornbrille neben Ihnen hockt! – Also: Visier herunter, Mr. Harst!“

Harald gab ihm die Hand … „War ja nicht schlimm gemeint, Mr. Kraag … Auch Ihr Name ist mir nicht fremd …“

„Möglich – schon möglich …! Allan Kraag hat schon allerlei berissen. – Haben Sie eine Zigarette? Seit vierzehn Tagen schmachte ich nach dem Genuß …“

„Bitte. Man hat mir das Zigarettenetui belassen, die Pistole und das Taschenmesser aber leider abgenommen.“

„Wie mir!“ nickte Kraag. „Danke … Rauche also hier im Gefängnisflügel des alten Sommerpalastes seiner Hoheit des Maharadscha von Travankore die erste Mirakulum …“

„Ah – also im Sommerpalast …“

„Ja – östlich von Palliport … – Was haben Sie drei denn bejagt, Mr. Harst? Weshalb sperrte man Sie hier ein?“

„Wenn ich Ihnen das erzählen wollte, würde ich eine halbe Stunde brauchen, und so lange kann ich meine Neugier beim besten Willen nicht bezähmen. – Wie sind Sie in diese Patsche geraten?“

„Durch eigene Schuld …“ Kraag rauchte mit Andacht. „Ich wollte für meine Zeitung eine Artikelserie über indische Religionsgeheimnisse schreiben. Und eins der dunkelsten dieser Rätsel ist die Legende vom Maharadscha Biwar Khan, der im Jahre 1492 während einer furchtbaren Choleraepidemie sich freiwillig für sein Volk enthaupten ließ, um die Götter zu versöhnen und der Seuche ein Ende zu machen. Sein Kopf wurde damals verbrannt, und der Rumpf wird noch heute als wunderbringende Mumie wie ein Heiligtum verehrt …“

 

3. Kapitel.

Alles wird noch dunkler …

Der Leser kann sich unschwer vorstellen, welche Wirkung diese Sätze auf uns drei ausübten …

Edward Gaspard knurrte keuchend:

„Verdammt – unsere Mumie ist’s!“

Und ich fragte atemlos: „Woher kennen Sie diese Einzelheiten, Mr. Kraag?“

Und Harald meinte als letzter: „Nun wird Licht in die Geschichte kommen!“

Aber – er irrte sich leider! Mit dem „Licht“ war es vorläufig noch recht schwach bestellt …

Denn nun erwiderte der Überreporter der Morning Post: „Die Legende von dem Maharadscha, der sich freiwillig köpfen ließ, hat im Volksmunde unzählige Variationen … Das betont auch Oberst Marling in seinem bekannten Buch. Mir selbst glückte es nur dadurch den Tatsachen auf die Spur zu kommen, daß ich mich an einen der Priester des Daropharim-Tempels heranmachte, von dessen stark weltlichen Neigungen ich bereits Beweise erhalten hatte – sehr schöne lebende Beweise, nämlich durch ein blondes Weib, das …“

„Ah – verdammt – – Ellen Weller, die blonde Bestie!“ platzte Gaspard heraus …

Und nun war’s Kraag, der ein äußerst verblüfftes Gesicht machte …

„Wie – Sie kennen diese Blonde, meine Herren? Woher denn? Ich weiß nur, daß sie zu jenem Brahmanen, dem Priester Mira Tawi, intime Beziehungen unterhält, nur alle vierzehn Tage etwa erscheint und dann wieder spurlos verschwindet …“

Und nun sagte Harald mit feinem Lächeln:

„Ja – sie verschwand und kehrte nach dem Rocher de Malcolm zurück …! – Doch ehe ich Sie, Mr. Kraag, nun einweihe, nur noch eine Frage: Wer nahm Sie gefangen? Auf wessen Befehl sind Sie hier eingesperrt worden?“

„Weiß ich nicht! Ich kam von einer abermaligen Zusammenkunft mit jenem Mira Tawi mit meinem Rad nach Palliport zurück, und da hat man mich spät abends überfallen. Von meinen Angreifern sah ich nichts – nicht das geringste. Man hatte ein Tau über den Weg gespannt, ich stürzte und dann flog mir auch schon eine Decke über den Kopf. Ein leichter Hieb betäubte mich, und ich erwachte hier im ältesten Flügel des Sommerpalastes des jetzigen Maharadscha von Travankore – oben im dritten Stock in einer geräumigen Zelle. Dort hause ich nun bereits drei Wochen.“

„Aber Sie waren heute doch auf dem Dache! Sie konnten doch fliehen?!“ meinte ich verwundert, und ich sah es Harald an, daß er genau dasselbe gefragt hätte.

Allan Kraag nickte … „Ja – ich konnte fliehen, aber – ich wollte nicht!“

„So?! Weshalb nicht?!“

„Weil … weil ich hier allerlei beobachte …“

„Und deshalb bleiben Sie hier?!“ Jetzt war es Harald, der dies zweifelnden Tones aussprach.

„Lassen Sie mich erst mal zu Ende berichten, Mr. Harst! Meine Erlebnisse hier sind ein Roman für sich, sind eine Reihe von Abenteuern, die … mich zum reichen Manne machen werden. Ich werde ein Buch schreiben, und dieses Buch wird selbst Dumas’ Grafen von Monte Christo in Schatten stellen! – Hören Sie zu … – Ich lebte fünf Tage ganz behaglich in meiner Zelle, nur verdammt heiß ist es dort oben. Meine Wächter bekam ich nie zu Gesicht. Die Zelle hat einen Vorraum wie diese hier. Am sechsten Tage trieb mich die Langeweile dazu, die Wände meiner Zelle mit Kratzmalereien zu versehen. Gefangene tun das ja häufiger. Und bei dieser künstlerischen Tätigkeit störte mich eine Maus, die stets durch dasselbe Loch in den Granitquadern herein- und hinaushuschte und Brotkrümel vom Boden auflas. Kurz: Diese Maus ließ mich die Geheimtür entdecken, von der selbst die Wächter keine Ahnung haben. Es führt ein Schacht und eine Treppe in den Mauern entlang, und diese Treppe hat fünf geheime Verbindungen mit Teilen des alten Palastflügels. – Um noch kürzer zu berichten: ich beobachtete auch heute Nacht, wie Sie drei eingebracht wurden. Ich bin dann nachmittags auf das Dach geklettert und habe mein Schattenbild in Morsezeichen reden lassen. Ich hoffte, einer von Ihnen würde mich bemerken. Ich wollte Ihnen Mut zusprechen. Meine Ausflüge auf das Dach sind ganz ungefährlich, da hier im alten Flügel nur die drei Wächter wohnen und weil vom neuen Teil des Palastes nicht ein einziges Fenster nach hierher hinausgeht. Außerdem ist der alte Flügel von einer wahren Wildnis umgeben. Alles sehr romantisch.“

„Und Ihre sonstigen Beobachtungen?“

„Tja – die beziehen sich auf Seine Hoheit den jetzigen Maharadscha und … die blonde Bestie, wie Mr. Gaspard sie so treffend nannte. Ellen Weller gibt auch hier im Palast Gastrollen, spielt das Mädchen aus der Fremde, ist … des Maharadschas … Geliebte …!“

Er lachte leise auf. „Das Weib hat in der Tat ein Dutzend Eisen gleichzeitig im Feuer. Will den Maharadscha fraglos im großen begaunern …!“

Harst schüttelte den Kopf. „Für mich ist Ihre Schilderung eine Enttäuschung, Mr. Kraag. – Wissen Sie, daß die heilige Mumie gestohlen ist?“

„Wie – – gestohlen?! – Keine Ahnung habe ich!“

Und jetzt begann Harald zu erzählen … Auch in aller Kürze …

Und Kraag ließ es an erstaunten Ausrufen wahrlich nicht fehlen! Kraag war besonders über die Auffindung des Zinksarges so vollkommen sprachlos, daß er nachher nur meinte: „Ah – das ist ja weit toller als meine Abenteuer!“

Harald wollte nun Ordnung in dies bunte Allerlei von teilweise so widerspruchsvollen Geschehnissen bringen und stellte mit Kraag ein förmliches Verhör an. Aber – er erreichte nichts!

Kraag wußte zum Beispiel nur, daß Ellen Weller seit seiner Gefangennahme zweimal den Maharadscha in einem Pavillon des Palastparkes nachts getroffen hatte und stundenlang mit ihm zusammen gewesen war.

Er vermutete lediglich, was den Überfall auf ihn betraf, daß die Priester des Heiligen Berges ihn unschädlich machen wollten, weil er jenem Brahmanen zu viel von den Geheimnissen des Tempels entlockt hatte. –

Jedenfalls: Kraags ganzen Erlebnissen fehlte völlig der klare Zusammenhang! Seine Vermutungen hingen in der Luft, hatten keinerlei festen Boden.

Und für Harald und mich wieder bedeutete Kraags Person lediglich eine noch schwerere Verwirrung all der Einzelheiten! Es war ein Chaos, in dem fraglos als Hauptpersonen Ellen Weller, der Brahmane Mira Tawi und … die kopflose Mumie hervorragten wie Spitzen von Wegweisern aus dichtestem Nebel – von Wegweisern, die zweck- und nutzlos waren! –

Harald bat uns jetzt, eine Weile nicht zu sprechen, nahm eine Mirakulum und begann … nachzudenken.

Die Schatten der nahenden Nacht verhüllten unsere Zelle mit geheimnisvollem Halbdunkel.

Nur unsere Gesichter waren noch als hellere Flecke zu erkennen …

Und mit automatenhaft gleichmäßigen Bewegungen führte Harald die Zigarette zum Munde … rauchte … rauchte …

Bis er dann endlich sagte:

„Mr. Kraag, Sie werden Schraut und mich nachts nach jenem Pavillon geleiten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Ellen Weller heute sich abermals mit dem Maharadscha ein Stelldichein gibt, denn – sie muß in Palliport sein! Ihre Leute waren’s, die uns überfielen, womit nicht gesagt ist, daß auch sie uns hier einkerkern ließ.“

„Gut – soll geschehen, Mr. Harst … Gegen elf Uhr finde ich mich hier wieder ein. Es ist vielleicht doch besser, ich kehre jetzt noch in meine Zelle zurück. Man kann nie wissen, ob nicht gerade heute zum erstenmal es einem der Wächter einfällt, nach mir zu sehen. – Leben Sie also wohl, meine Herren … Als geschlagener Mann verlasse ich Sie! Ich hatte geglaubt, meine Erlebnisse seien das Non plus ultra des Seltsamen! Jetzt weiß ich, daß Sie weit Tolleres durchgemacht haben …! – Wiedersehen!“

Er faßte in die Mauerfuge hinein, zog die Tür auf und verschwand in der Finsternis der Öffnung … –

Doch – nicht für lange …

Wir drei saßen noch schweigend da, als – – die Tür wieder leise kreischte …

Es war bereits zu dunkel, um auch nur die Umrisse einer Gestalt zu erkennen.

„Hier Kraag,“ flüsterte der Engländer und eine seltsame Erregung durchzitterte seine Stimme. „Meine Herren – etwas Neues – etwas ganz Unbegreifliches: die Zelle über der Ihrigen ist … frisch belegt, hat eine … Insassin erhalten: Ellen Weller!“

Wir konnten nichts äußern, denn – diese Überraschung überstieg ja alles nur irgend Erdenkliche!

Und Kraag fuhr fort: „Ich stieg leise die Steintreppe hinan … Und da sah ich einen feinen Lichtstrahl linker Hand durch die Quadern dringen … Da machte ich halt … Da konnte ich durch das Löchlein gerade einen Teil der erleuchteten Zelle überschauen … Und sah Ellen Weller, die blonde Bestie, und ihr gegenüber den ersten Minister des Maharadscha, Exzellenz Tamari, dem der Vicekönig von Indien letztens wegen hervorragender Verdienste einen hohen Orden verliehen hat … Ellen und der Minister schienen hart aneinander geraten zu sein. Es machte den Eindruck, als ob das blonde Weib Seiner Exzellenz mit irgendetwas drohte, und sein Gesichtsausdruck bewies, daß er … Ellen fürchtete. – Jetzt ist Ellen wieder allein … – Was halten Sie von alledem, Mr. Harst?“

„Vorläufig nichts. – Ich werde Ellen Weller besuchen. Gibt es auch dort eine Geheimtür, Mr. Kraag?“

„Ja – genau wie hier …“

„Dann überlassen Sie nur mir alles weitere. Finden Sie sich um elf Uhr hier wieder ein.“

 

4. Kapitel.

Was Ellen eingestand …

Eine Stunde später …

Harald und ich standen in dem Schacht zwischen den dicken Mauern auf der schmalen Steintreppe.

Links von uns in der Wand befand sich die Tür zu Ellen Wellers Zelle.

Die Tür aus vier Granitquadern, eingefaßt durch dicke Eisenschienen, drehbar in ebenso dicken, ebenso verrosteten Angeln.

Durch die offene Fuge, durch die schon Allan Kraag das blonde Weib beobachtet hatte, sahen wir sie an einem kleinen rohen Holztische sitzen – auf einem vierbeinigen Schemel. Auf dem Tische brannte eine jener altindischen Öllampen aus getriebenem Kupfer, deren Leuchtkraft erstaunlich groß ist.

Ellen zeigte uns ihr Profil. Sie saß da, die Unterarme leicht auf den Tisch gelegt.

Saß aufrecht, den Kopf halb erhoben, als ob sie in die Ferne lauschte. Ihre Augen waren starr auf einen Punkt der Zellenwand gerichtet.

So starr, daß nur allerschärfstes Nachdenken diese vollkommene Reglosigkeit hervorrufen konnte. –

Neben der Lampe wieder stand ein Teebrett mit Schüsseln und Tellern.

„Sie wird besser behandelt als wir,“ flüsterte Harald.

Dann zuckte die blonde, schöne Bestie leicht zusammen.

Regte sich, senkte den Kopf.

Ein Inder erschien im Lichtkreis der Lampe, nahm das Teebrett …

Ein älterer Mann in der Tracht der Diener vornehmer Herren.

Sprach etwas zu Ellen, deutete auf die Schüsseln.

Sie lachte verächtlich, hob befehlend den Arm. Der Wächter zog sich zurück.

„Sie hat nichts genossen – Furcht vor Gift!“ meinte Harald leise.

Abermals versank die Gefangene in tiefes Sinnen …

Starr, wie leblos saß sie wieder.

„Ich möchte jetzt Gedanken lesen können,“ meinte Harald noch leiser.

Und dann zog er sein Feuerzeug hervor, benutzte das Benzin zum Anfeuchten der rostigen Angeln, benutzte auch Speichel dazu und … packte den nach dieser Seite hin angebrachten Türgriff.

Mit einem Ruck schob er die Tür auf. Ellen Weller schoß hoch …

Erkannte uns nicht sofort, wich bis zur Wand zurück, hatte die schwere Lampe als Waffe ergriffen, glaubte wohl, daß gedungene Meuchelmörder bei ihr eindrängen.

Hob den Arm mit der Lampe …

„Harst … Harst!!“ flüsterte sie.

Und es war schwer zu sagen, welche Gefühle sie dabei beherrschten. – Jedenfalls: sie erschrak kaum mehr, als ob ein Fremder ihr gegenübergetreten wäre!

Harald drückte die Tür wieder zu.

„Miß Weller,“ sagte er flüsternd, „wir sind wohl beide gleich erstaunt, uns gerade hier wiederzusehen …“

„Wie sind Sie hier eingedrungen?“ fragte sie rasch, ohne Harsts Worte zu beachten.

„Auf eine Art, die für Sie als Fluchtweg nicht in Betracht kommt,“ erwiderte er kühl. „Wollen Sie mir freiwillig einige Fragen beantworten, oder sind Sie noch immer des Glaubens, mir gegenüber mit Rätseln spielen zu können?!“

Sie zuckte die Achseln, stellte die Lampe auf den Tisch zurück und setzte sich.

„Gehen Sie! Wir haben nichts miteinander zu tun!“ meinte sie feindselig.

„Wenn ich gehe, Miß Weller, so führt mich mein Weg zur Polizei nach Palliport, der ich Anzeige erstatten würde, daß der Perlenfischer Sima Galow ermordet worden ist und daß sein Kutter versenkt werden sollte – derselbe Sima Galow, der Sie auf dem Malediven-Eiland befreite, Ellen Weller, und der dann die Mumie mitnahm, weil er ahnte, was sie … wert war. Der Mord an Sima Galow und seinen Leuten, die im Kielraum als Leichen schwimmen, kommt auf Ihr Konto, Ellen Weller!!“

Sie duckte sich zusammen unter diesen Anklagen …

Blieb … stumm.

„Wollen Sie jetzt antworten?“ fragte Harald nach einer Weile.

„Ja …“ – Es klang widerwillig, wie erstickt vor wildem Haß.

„Was fanden Sie in dem Zinksarge, den Sie uns abnahmen?“ begann Harald in aller Ruhe.

„Die Mumie …“

„Ah – daher auch das Gebrüll Ihrer Leute, nachdem der Zinksarg aufgeschlagen worden war …

Haben Sie die Mumie dann in die Ballonhülle geschafft? – Einer Ihrer Leute schleppte damals nachts einen Sack nach dem Sportplatz in Alleppi …“

„Nein.“

„Ah – – nein?! Was enthielt denn der Sack?“

„Vier Pakete falscher englischer Pfundnoten aus der Fälscherwerkstatt meines Onkels – aus dem Rocher de Malcolm …“

„Und diese Pakete?“

„Befanden sich ebenfalls in der Ballonhülle … Sie entgingen Ihnen auf dem Eiland …“

Harst stützte sich leicht auf den Tisch.

„Wer hat denn die Mumie in die Hülle geschafft?“ fragte er gespannt.

„Das weiß ich nicht.“

„Wurde die Mumie Ihnen denn geraubt – abgenommen?“

„Ja … Meine Leute ahnten, daß es die Mumie des Maharadscha sei. Wir fuhren mit der Seraphia, die Mumie und den Zinksarg an Bord, nach Alleppi, müssen aber beobachtet worden sein, denn vor dem Hafen hielt uns eine größere Jacht an und zwang uns, Sarg und Mumie herauszugeben. Die Leute auf der Jacht waren sämtlich maskiert. Es waren jedoch Europäer darunter.“

„Und – es war ein Zufall, daß Sie dann den Ballon dazu benutzen wollten, die falschen Banknoten sicher fortzuschaffen?“

„Ja. Ich war von Spionen umgeben … Ich konnte nur auf diese Weise entfliehen …“

„Spione?! Irren Sie sich nicht?! Lügen Sie etwa?!“

„Wenn Sie an meinen Worten zweifeln – bitte, tun Sie das!“

„So kommen wir nicht weiter, Ellen Weller …! Ich warne Sie! Ich werde Sie nicht schonen! Ich durchschaue jetzt einen Teil all der rätselhaften Vorgänge, den größeren Teil! Entweder Sie sagen die Wahrheit oder Sie werden noch in dieser Nacht von der englischen Polizei in Palliport verhaftet!“

Sie lachte schneidend … „Eine Ellen Weller läßt sich nicht verhaften! Niemals!“

„Sie weigern sich also?“

„Ich … weigere mich!!“

Harst richtete sich auf … „Gut – wie Sie wollen! – Gehen wir, Schraut!“

Und still wie wir gekommen, verließen wir die Zelle.

Drückten die Geheimtür zu, legten außen den schweren eisernen Haken vor …

Ellen Weller war eingesperrt. –

Und wir stiegen höher – hinauf zu Allan Kraag.

Der hatte auf seiner Strohschütte gelegen.

„Hallo – was wichtiges?“ fragte er gespannt.

Haralds kleine Taschenlampe beleuchtete sein Gesicht.

„Wissen Sie, wo der Minister Tamari hier im Palaste wohnt?“ meinte Harald hastig.

„Gewiß, gleich neben dem alten Flügel im Erdgeschoß. Es sind drei saalartige Räume, deren Fenster als Türen auf die große Terrasse hinausgehen …“

„Führen Sie uns hin, Kraag … Schnell!“ –

Durch Keller und Gänge gelangten wir ins Freie, schlichen in den Park des Sommerpalastes, kamen auch glücklich bis auf die Terrasse.

Hinter drei der Fenster war Licht. Die Vorhänge schlossen nicht völlig …

Und in Sesseln saßen da Seine Exzellenz der Minister und drei … Europäer.

Es waren … dieselben drei Herren aus Alleppi, die mit H. O. 3 hatten aufsteigen wollen … –

Harald huschte weiter …

Huschte zu einem der dunklen Türfenster, zog sein Schlüsselbund, nahm den kleinen Patentdietrich – probierte – und die Tür ging auf …

„Warten Sie hier, Kraag,“ befahl er leise. „An derartige Dinge sind Sie nicht gewöhnt … Sie könnten alles verderben.“

Wir beide krochen jetzt auf allen vieren in das Dunkel hinein …

Tasteten uns vorwärts, hörten gedämpfte Stimmen. –

Zwei dicke Lahore-Vorhänge aus Seide deckten die Türöffnung zum erleuchteten Nebensaal …

Wir standen nun zwischen diesen Vorhängen und … konnten deutlich das Gespräch der drei Herren und des Ministers verfolgen.

„Mr. Simpson, ich bleibe dabei: das Weib hat den Perlenfischer beseitigt,“ sagte Tamari in tadellosem Englisch. „Dann hat sie dem Harstschen Kutter aufgelauert. Als ich die maskierte Seraphia entern ließ, waren sowohl Harst und Schraut als auch die Mumie an Bord …“

„Tadellos!!“ meinte dieser Simpson nun lachend. „Mister Harst wird seine Nase nicht mehr in fremder Leute Angelegenheiten stecken und …“

„Gestatten Sie, Mr. Simpson,“ unterbrach der Inder ihn. „Ich kann doch Harst und Schraut nicht umbringen!“

„Aber – wegbringen lassen, – weit weg! Die beiden ahnen doch ebensowenig wie der Zeitungsschreiber, wo sie sich befinden. Also – fort mit den dreien, vielleicht auf eine der Malediven! Damit wir freie Hand für das große Geschäft haben! Die Mumie ist nun sicher verborgen, noch sicherer als das erstemal, und …“

 

5. Kapitel.

Als die Vase zerschellte …

Daß eine große indische Tonvase, eines jener uralten Zierstücke, wie man sie hier nur in Museen findet, der Anlaß zu einer beschleunigten Erledigung dunkler Punkte sein könnte, hatten wir auch nicht gedacht …

Genau so wenig, daß das neugierige, sensationslüsterne Unglückswurm Allan Kraag diese Vase von dem Ständer stoßen würde, als er uns nun, entgegen Haralds Befehl, nachschlich.

Jedenfalls: hinter uns im dunklen Raume ein donnerartiger Krach …

Ein halblauter Fluch Allan Kraags …

Und schon kamen der Minister und die drei Herren herbeigestürmt, rissen die Vorhänge zur Seite, prallten fast mit uns zusammen …

Seine Exzellenz bewies hier eine Geistesgegenwart, die mich in Erstaunen setzte …

Im Nu hatte er im Nebensaal das elektrische Licht eingeschaltet (der neuere Teil des Sommerpalastes war ganz modern eingerichtet), hatte auch schon einen Revolver aus seinem weißen Flanellbeinkleid zum Vorschein gebracht und sagte zu uns, die wir neben dem Pechvogel Allan Kraag standen:

„Ich erschieße Sie, so wahr ich Chestrup Tamari bin, wie gemeine Diebe, wenn Sie nicht blindlings gehorchen! – Gehen Sie vor mir her – in den anderen Saal! – Mr. Simpson, heraus mit Ihrem Revolver! Das ist Harst!! Hier geht’s um mehr als um unsere Sicherheit!“

Harald rührte sich nicht.

Neben uns auf den wundervollen bunten Marmorfliesen lag die zertrümmerte Vase.

Harald sagte nur – sehr laut:

„Ihr Gefängnis ist nicht sehr zuverlässig, Chestrup Tamari, wie Sie sehen! Wir sind hier, und die Wächter glauben uns in unseren Zellen. Auch Miß Ellen Weller ist nicht mehr dort, wo Sie sie eingesperrt haben. Sie erwartet uns im Polizeigebäude in Palliport. Wenn wir dort nicht bis vier Uhr morgens eintreffen, wird die englische Polizei hier den englischen Untertan Allan Kraag suchen! – Also Chestrup Tamari, verkehren wir besser in anderem Ton miteinander. Stecken Sie Ihre Waffen weg. Es hat wirklich keinen Zweck, mir zu drohen. Ich pflege mir stets den Rücken zu decken.“

Das war wieder einmal so ganz mein alter Harald! Das war der Mann, der durch den Einfluß seiner Persönlichkeit schon ganz andere Geister mürbe gemacht hatte als diese vier schwächlichen Gauner! Denn – das waren sie! –

Der Herr Minister ließ zögernd den Revolver verschwinden. Desgleichen wollte der hagere Mr. Simpson seine Waffe wieder in die Tasche gleiten lassen.

„Geben Sie sie mir!“ meinte Harst höflich. „Meine Clementpistole fehlt mir sehr. – Bitte …! – So, das ist verständig. Nun wollen wir nebenan Platz nehmen …“ –

Wir saßen jetzt zu sieben um den Tisch.

Und Harst begann:

„Ohne lange Einleitung will ich Ihnen unseren Fall entwickeln, meine Herren … – Sie, Minister Tamari, dürften tief in Schulden stecken. Sie sind ein moderner Inder, haben von der Kultur Europas auch abendländische Neigungen übernommen. Vielleicht spielen Sie oder spekulieren. Sie haben jedenfalls größere Zahlungsverpflichtungen gehabt. Vielleicht hat Mr. Simpson Ihnen Geld vorgeschossen. Da Sie nicht anders diese Schulden tilgen konnten, ließen Sie … die Mumie des Maharadscha durch denselben Brahmanen stehlen, den auch Ellen Weller für ihre Pläne gewonnen hatte oder gewinnen wollte, vielleicht, um durch diesen Priester größere Mengen Falschgeld unterzubringen. Das ist hier genau so nebensächlich wie des blonden Weibes raffinierter Flirt mit dem jetzigen Maharadscha. Uns interessiert nur der Ballon und die Mumie …“

Er machte eine kurze Pause, fragte Simpson:

„Haben Sie hierzu etwas zu bemerken?“

„Hm – der Minister hat spekuliert,“ sagte Simpson achselzuckend. „Er schuldet uns dreien Unsummen … Im übrigen wasche ich meine Hände in Unschuld …“

„Eine schlechte Wäsche!“ meinte Harald ironisch. „Doch – zu dem Diebstahl der Mumie zurück, der tatsächlich glückte. Um die heilige Reliquie gut zu verbergen, haben Sie den Zinksarg mit der Mumie dort auf der Untiefe verankert. Natürlich suchten die Priester des heiligen Tempels den wundertätigen Leib, verschwiegen jedoch den Diebstahl, setzten trotzdem Himmel und Hölle in Bewegung, um die Mumie zurückzuerhalten und hätten fraglos dafür eine phantastische Summe gezahlt – ein glänzendes Geschäft also! – Der ungeheure Einfluß der Brahmanen reichte bis Alleppi. Auch dort waren Vertraute der Priester dauernd auf dem Posten, spionierten, horchten. Und da – da fanden wir den Sarg, den Ellen Weller uns abnahm und den Sie, Mister Simpson, wieder dem blonden Weibe mit Ihrer Jacht raubten …“

„Bitte – die Jacht gehört dort James Orbin …“

„Wem von Ihnen dreien sie gehört, hat hier nichts zu bedeuten … – Jedenfalls: die Mumie kam nach Alleppi, und von hier sollte sie per Ballon in Sicherheit gebracht werden …“

Simpson nickte stolz. „Der Gedanke stammte von mir!“

„Ja – leider hatte aber auch Ellen Weller ihrer falschen Banknoten wegen einige Sorge, da sie annahm, die Spionage der Tempelpriester richte sich gegen sie. Und so kam’s denn, daß wir mit der Mumie, Ellen und drei Paketen Banknoten davonflogen … – Was weiter geschah, brauche ich nicht mehr zu erwähnen. Die Mumie ist nun wieder in Ihrem Besitz und wird jetzt auf irgendeine Weise dem Tempel wieder ausgeliefert werden. Das verlange ich unbedingt. Nur wenn dies geschieht, werde ich Sie vier schonen und unsere Einkerkerung als Scherz auffassen – als schlechten Scherz, und auch Allan Kraag wird das tun …“

Pause.

Allgemeines Schweigen.

Ein Schweigen, das erst durch das hastige Erscheinen desselben Wächters unterbrochen wurde, der Ellen bediente.

Der Mann kam hereingestürmt … Völlig verstört, was bei einem Inder schon etwas heißen will …

Und ohne uns zu beachten, meldete er seinem Herrn mit flatterndem Unterkiefer …

„Die … blonde Miß … ist tot … ist erstochen worden … Ich … hörte sie … schreien … eilte in die Zelle …“

„In die Zelle?“ rief der Minister und warf Harst einen wilden Blick zu.

„Ja,“ nickte Harst kalt und spielte mit dem Revolver. „Das Polizeigebäude in Palliport hat Ellen nur … angeblich betreten. Ein bescheidener Trick von mir, Exzellenz. Im übrigen sind wir jetzt hier überflüssig …“

Und – wir gingen, gingen unangefochten, holten rasch unseren braven Edward Gaspard ab und wanderten nach Palliport. – –

Es ist mir nicht angenehm, dieses Abenteuer mit der blutigen Bemerkung schließen zu müssen, daß sowohl Minister Tamari als auch die drei Herren aus Alleppi ein paar Tage später durch Unfälle ums Leben kamen. Tamari stürzte mit dem Pferde und brach das Genick. Die drei anderen Mitwisser des frechen Diebstahls der heiligen Mumie ertranken bei einer Segelpartie.

Da auch der Priester Mira Tawi zur selben Zeit in den Bergen in eine Felsspalte fiel und tot herausgezogen wurde, könnte man vermuten, daß die Brahmanen des Heiligen Berges bei diesen Todesfällen etwas nachgeholfen haben.

Möglich ist das schon. Die Beweise fehlen aber. –

Wir drei und Allan Kraag haben dann unseren Kutter in einem Fischerdorfe unweit Palliports wiedergefunden und sind gemütlich bis Bombay gesegelt.

In Bombay schifften wir uns nach Europa ein. Wir hatten für eine Weile wieder genug von Indien. Die fünf Todesfälle lagen uns etwas im Magen …

Und daheim in Berlin bekamen wir es dann mit Seevögeln zu tun. Das kann man im nächsten Abenteuer nachlesen.

 

Nächster Band:

Die Gräfin mit den Kormoranen.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe anerkannter Detektiverzählungen.

Bisher sind folgende Bände erschienen:

Bd. 1–6 vergriffen. – 7. Zwei Taschentücher. – 8. Die Jagd auf einen Namen. – 9. Die Augen der Jolante. – 10. Der Fluch eines Geschlechts. – 11. Die verschwundene Million. – 12. Die Festung des Ali Azzim. – 13. Die tote Lady Rockwell. – 14. Der Fakir von Nagpur. – 15. Der blinde Brahmane. – 16. Das Auge der Prinzessin Singawatha. – 17. Das Löschblatt von Amritsar. – 18. Die leuchtende Fratze. – 19. Schattenbilder. – 20. Der Löwe von Flandern. – 21. Der ewige Jude. – 22. Das Armband der Lady Melville. – 23. Die Rätselbrücke. – 24. Der Einsiedler von Tristan da Cunha. – 25. Die Siegellacktröpfchen. – 26. Die Gesellschaft der roten Karten. – 27. Die Uhrkette des Bill Hamilton. – 28. Der Tempel der Kali. – 29. Nur ein Tintenfleck. – 30. Der Stern von Siam. – 31. Eine leere Streichholzschachtel. – 32. Der sprechende Kopf. – 33. Das Geheimnis des Scheiterhaufens. – 34. Die Gefangene von Trawalkor. – 35. Die Eishöhle in Nepal. – 36. Der Mord im Warenhause. – 37. Der Spielklub W. W. – 38. Ein gefährlicher Auftrag. – 39. Der sterbende Fechter. – 40. Die Gespenster-Rikscha. – 41. Eine Löwenjagd im Sinai. – 42. Der Afghan-Teppich. – 43. Der Acht-Grad-Kanal. – 44. Der leere Koffer. – 45. Acht Stunden Frist. – 46. Der Klub der XII. – 47. Die Bajadere Mola Pur. – 48. Der goldene Gonggong. – 49. Die Kugel aus dem Nichts. – 50. Der Piratenschoner. – 51. Die Büchse der Pandora. – 52. Der Tintenlöscher des Sahdi Ahmed. – 53. Auf des Messers Schneide. – 54. Strandkorb Nr. 121. – 55. Das Lichtbild ohne Kopf. – 56. Das Haus in der Wildnis. – 57. Das Geheimnis des Brasilianers. – 58. Die Spielhölle in Hongkong. – 59. Das Rätsel von Paragwana. – 60. Ein amerikanisches Duell. –

 

 

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































74:
75:
76:
77:
78:
79:
80:
81:
82:
83:
84:
85:
86:
87:
88:
89:
90:
91:
92:
93:
94:
95:
96:
97:
98:
99:
100:
101:
102:
103:
104:
105:
106:
107:

Das Geheimnis der Kabine 24.
Das Rätsel der Trollhätta-Insel.
Lord Plemborns Verbrechen.
Die Leiche im Gletschertunnel.
Sechs leere Briefbogen.
Das Geheimnis des Elefantenjägers.
Lady Myntors letzter Wunsch.
Der Giftpfeil des Wedda.
Der Schlangenbeschwörer von Agra.
Das Patent des Doktor Murphison.
Die Buschklepper der Thar-Wüste.
Das blinde Hindumädchen.
Die Wundergeige des Virtuosen.
Der Geisterspiegel.
Das Geheimnis des Wannsees.
Giftkonfekt.
Schatten an der Wand.
Der tote Zigeuner.
Das Rätsel der Schonerjacht.
Die tote Karawane.
Das Wunder von Patna.
Frau Inges Tränen.
Der tote Kanarienvogel.
Der Obstkahn am Elisabethufer.
Das geheimnisvolle Fenster.
Anita Armands Verhängnis.
Unser 100. Abenteuer.
Die Piraten der Havelseen.
Der Napoleon aus Wachs.
Der dritte Schuß.
Das Zimmer ohne Fenster.
Das Paket im Urbanhafen.
Der unheimliche Mieter.
Das Känguruh der Miß Dolling.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

 

  1. Der Titel auf der Umschlagseite heißt: „Das Geheimnis von H O III“.
  2. „Malcolm-Felsen“ / „Malcolmfelsen“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Malcolm-Felsen“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „Abenteuerin“ – Abenteuer ist das Erlebnis; Abenteurer(in) die Person.
  4. In der Vorlage steht: „kleines“.
  5. In der Vorlage steht: „Antrieb“.
  6. „Tuwar“ / „Zuwar(s)“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Tuwar“ geändert.
  7. In der Vorlage steht: „Firnament“.