Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 39 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1932 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
Ein Mann stand da vor einigen Haufen Konservenbüchsen und Flaschen. Neben ihm hockte eine Kreatur mit zerfetzten Ohren und buntscheckigem Fell. In der Nähe plätscherte das Wasser des von Felswänden eingeengten Pacific, Schildkröten schwammen umher, große Eidechsen sonnten sich auf Lavablöcken, in den Opuntiensträuchern und den Dornwällen hinter dem einsamen Manne sang eine Spottdrossel und zwitscherten Finkenpärchen, der Himmel war lichtblau, und ein wundervoller Friede breitete sich über diesem Küstenfleckchen aus.
Der Einsame, die Repetierbüchse im rechten Arm, war hochgewachsen, schlank, aber sein magerer Körper, von einem bereits etwas schäbigen Sportanzug aus Englischleder umschlossen, stand in angenehmem Einklang mit seinem tief gebräunten hageren Gesicht, in dem vielleicht die graublauen Nordlandaugen auffallen mochten, die stets jenen gewissen Ausdruck sprungbereiter Wachsamkeit zeigten, der all denen eigentümlich ist, die als Vagabunden besseren Schlages die Welt durchkreuzen – – abseits der Heerstraßen der kribbelnden Millionen von gehetzten Erdenbürgern.
Möglich auch, daß die Lässigkeit der Haltung des Mannes einen trainierten Körper und das Selbstgefühl der freien Naturen verriet, die ihren Nerven alles zumuten dürfen. – – Der Mann war ich. – –
… Kommst du, o Wanderer, in ganz entlegene Gegenden, wo die vielleicht vorhandenen Hunde sich so tief verlassen fühlen, daß sie nicht vorn mit dem Maul, sondern hinten unten auch ganz tief mit dem Schwanz bellen und die Füchse sich vergrämt Gute Nacht sagen, dann findest du an Stellen, die doch einmal der Fuß eines weißen oder farbigen Gentleman betrat, unweigerlich als sichtbares Zeichen dieses verflossenen Besuches verrostete Konservenbüchsen.
Die moderne Zeit hat die Konservenbüchse zu einer Art unvermeidlicher Unzierde selbst der gottverlassensten Küsten erhoben.
Als ich mit Freund Monte, vierbeinig, Hund, die drei Haufen besagter Kulturrückstände am Nordostgestade von Santa Renata auf einem Jagdausfluge entdeckte und feststellte, daß zwei Leute hier verschiedentlich gelagert hatten, schloß ich mich Montes unwilligem Knurren durch einen stummen, ellenlangen Fluch von prima Jan Maat-Güte an.
Santa Renata gehörte doch zum T… seit einigen Wochen uns beiden ganz allein!
Die Geschichte mit Professor Mackencie war in der Versenkung verschwunden – oder in steinernem Papierkorb, – die werten Freunde waren abgereist, und auf diesem nordwestlichen Inselchen der Galapagos-Gruppe besaßen nur wir Heimatrechte – aus eigenem Recht.
Wir hatten gefischt, gejagt, Wildpferde gezähmt, anderen kräftigen Unfug getrieben und uns dabei sauwohl gefühlt. Nun aber: Konservenbüchsen!!
Die bunten aufgeklebten Firmenschildchen waren noch zu lesen: Rindfleisch in Reis, Huhn in Reis, Corned Beef, scharfe Tunken …
Dagegen ließ sich nichts sagen, so im allgemeinen …
Aber daß da auch diverse leere Whiskyflaschen das Stilleben ergänzten und daß die Zahl dieser Buddeln zur Menge der kompakteren Nahrungsmittel etwa im Verhältnis von 1 zu 3 vorhanden, sprach für ausgepichte Kehlen. Und derartig alkoholfreudige Gäste sind immer mit Vorsicht zu behandeln.
Der Ort, wo wir diesen Abfallplatz fanden, war eine der zahllosen steinigen Buchten ganz oben im Nordosten. Weiter südlich begannen die unfreundlichsten Küstenstrecken: Felsenschluchten, Steilufer, Sümpfe, ein paar Gasquellen und eine Sorte Urwald, für die noch kein Buschmesser erfunden ist.
Im schmalen weißen Sandstrand der Bucht zeigten sich die Eindrücke des Kieles eines größeren Bootes und Ölflecken.
Da ein Teil der Konservendosen erst jüngst benutzt sein konnte, mußten die Gäste – den Spuren nach zwei Leute – auch vor kurzem noch Santa Renata beehrt haben.
Mein Blick wanderte nochmals über die Kulturdokumente hin.
Mein Ohr aber fing vom geschlängelten Buchteingang her das bewußte Surren auf.
Monte knurrte mahnend.
Mit drei Sätzen waren wir im Dickicht.
Die Herrschaften, die da im Benzinkahn abermals nahten, mußte ich unter die Lupe nehmen.
Auf einem Inselchen, das zu einer so gottverlassenen vulkanischen Gruppe im Pacific gehört wie die Galapagos, tut man klug, das Mißtrauen stets eingeschaltet zu lassen.
Nun, der Mann, der da im gelben Leinen mit Sombrero und Pfeife am Heck sich flegelte, war kein finsterer Mischling, der etwa ebenfalls von Santa Renatas Goldblock Wind bekommen hatte und ein paar Zentner annektieren wollte.
Im Gegenteil, dieser strohblonde, ausgewachsene Jüngling mit der Stupsnase und dem flatternden Halsstrick am Wollhemd, Schlips genannt, konnte kaum nervenberuhigender wirken … In seinen großen, aufgerissenen Kinderaugen lag ein Ausdruck ewigen Staunens darüber, daß Mutter Natur ihm boshafter Weise außer dieser Wippnase noch ein paar Ohren beschert hatte, die normalerweise für drei Männer gereicht hätten.
Dabei waren in seinen braunen Zügen ein ebenso deutlich erkennbarer Unmut, Ärger und Verdruß zu bemerken.
Er landete.
Neben ihm hatte eine Repetierbüchse gelehnt. Er legte sie auf die eine Ruderbank des halb gedeckten Motorbootes und stopfte sich erst mal seine Pfeife.
Die blauen Puppenaugen wanderten rundum, dann stieg er aus dem Benzinkahn, – so mit einem einzigen Schritt.
Er konnte das …: Langstreckenläufer – Favorit!
An seinem schäbigen Hüftgurt baumelten warnend zwei unliebsame Coldpistolen, dazu ein Messer, ein Tabakbeutel und noch ein Ding, über dessen Bestimmung ich mir nicht recht klar wurde.
Er stand im Ufergeröll, nahm den Strohhut ab, kratzte sich den strohblonden Skalp und schaute noch verdrossener aus.
Seine Pfeife qualmte, und als er nun das mysteriöse Instrument vom Gürtel losgemacht hatte, die Pfeife mit der Linken aus den Zähnen nahm und mit der Rechten die Flöte in die schmalen Lippen schob, die Backen aufblies und dem Blechding da ein paar Töne entlockte, wurden mir alle Zähne stumpf.
Die gräßlichen Kreischlaute eines sterbenden Schweines waren ein Geigensolo, pianissimo, im Vergleich zu diesem infernalischen[1] Konzert.
Wer diese Trompete verfertigt hatte, konnte nur des Teufels Großmutter zur Hilfeleistung herangezogen haben.
Der Kerl war sicherlich Mitglied einer ganz modernen Jazzband, dem man das Üben auf seinem Instrument zwecks Aufrechterhaltung der polizeilich garantierten Ruhe anderswo verboten hatte.
Wie gesagt, die Sorte Musik war mit nichts zu vergleichen.
Meine Zähne, zuerst nur stumpf, begannen sich zu lockern, und am Rückgrat verspürte ich ein kühles Kriseln und in den Händen ein Zucken …
Eine Kugel wäre für diesen Straßenmusikus der richtige Obolus gewesen.
Komische Nummer!!
Weshalb tutete der Semmelriese wie eine Sau in Schlächterhänden?!
Dem Himmel sei Dank: Er hörte auf!
Setzte sich auf den Bootsrand, gruppierte seine Arme und Pedale in graziöser Lässigkeit wie eine Giraffe, rauchte wieder und … ließ den etwas zu klein geratenen Kopf auf die Brust sinken …
Die Pfeife entfiel ihm.
Er schlief …
Nun, – einen Zweck mußte sein Solo auf der Sauflöte wohl gehabt haben.
Wir warteten also …
Vielleicht suchte er nur die Wildschweine herbeizulocken … An dem Erfolg zweifelte ich.
Es geschah nichts …
Gott stehe mir bei, – – er war erwacht, er flötete von neuem, und er steigerte seine Leistungen bis zu einem Tränenguß und bis zu aufgeblasenen Backen, die zu platzen drohten …
… Solch ein Lump …!!
Bemogelt hatte er mich …!
War wie ein Blitz vor mir, hielt mir seine Pistole vor die Nase …
Alles wie längst erprobt: Jongleurkniff!!
„He, was tun Sie hier?!“
Englisch …
Aber Englisch, Note 4 … wenig befriedigend.
Er feixte dazu …
„Daß Sie hier im Busch hockten, wußte ich längst! Denken Sie, der Tobi Weber kann keine Fährten lesen?!“
„Sie können es, Herr Weber … Stecken Sie Ihr Mordinstrument wieder ein … Ich bin ein harmloser Naturforscher … Mein Name ist Benson, … Benson, lieber Freund … B wie Bulle, E wie Esel, N wie Natter …“ – – deutsch, – und da nickte er strahlend …
„Haben Sie Telephon?“
„Ja …“ Ich tippte auf Ohr und Stirn.
Er steckte sein Schießeisen weg, lächelte noch strahlender und setzte sich auf einen Felsblock.
„Landsmann?!“, fragte er …
„Halb und halb …“
„Sie gehören zu einer Expedition?“
„Ja …“ – Das stimmte, – die Expedition bestand aus Monte und mir.
„Wann verlassen Sie Santa Renata wieder?“ Er war ernst geworden.
„Heute abend …“ – Das stimmte nicht.
„Sehr schön“, nickte er. „Dann kann ich wieder abfahren …“
Er wollte sich erheben.
„Einen Augenblick, Herr Weber … Weshalb verjagten Sie hier sämtliches Getier mit Ihrer Blechtube?“
„Privatvergnügen … – Ich habe leider keine Zeit mehr … Dringende Geschäfte rufen mich zurück. Mein Herr ist krank …“
„Bedauerlich“, tröstete ich ihn. „Hoffentlich nicht schlimm, und ein guter Arzt zur Hand?“
Er schaute mich merkwürdig an.
„Schlimm?! Ein Haifischbiß ist kein Spaß … Und ein Arzt?! – Wir haben eine Plantage drüben auf der James-Insel … Einen Arzt gibt es nur im Süden auf Charles, und die paar Weißen auf Charles sind zumeist soeben vom Delirium genesen und erholen sich für die nächste Whiskyladung … – Leben Sie wohl, Herr Benson … Guten Erfolg …“
Sein Blick behagte mir plötzlich nicht.
Es war nichts Lauerndes darin, aber vielleicht eine nachdenkliche, stumme Warnung.
Er reichte mir die Hand, schaute dabei jedoch Monte an, der mit dem sicheren Instinkt des alterfahrenen Menschenkenners ihn kaum angeknurrt hatte, was sehr für Tobi Weber sprach, und sagte leise: „Hat Ihr Kälbchen eine gute Nase? – Wenn ja, schicken Sie ihn bitte in die Büsche … Ich möchte Sie etwas fragen – – ohne Zeugen.“
Mir ging ein Licht auf. Sinn und Zweck des Flötenkonzertes, das nicht aus Sanssouci importiert war, wurde mir allmählich klar.
Ich schickte Monte auf Suche. Mein Kälbchen versteht jeden Befehl.
Tobi zog die Wippnase kraus und flüsterte eigentümlich gespannt:
„Verstehen Sie was von Zuckerrohr, Herr Benson?“
„Zuckerrohr?! – – Es geht … – Wieso?“
„Auch von Mais und Bataten und Rochelia-Pflanzen, die den bekannten Farbstoff liefern?“
„… Es geht …“ – Ich wurde neugierig.
„Kennen Sie die Marktpreise?“
Diese Frage setzte allem die Krone auf. – Hätte ich ehrlich „Nein“ gesagt, würde Tobi die Unterhaltung wohl als zwecklos abgestoppt haben, und das wollte ich nicht.
„Etwas!“ nickte ich.
Er faßte noch nachdenklicher an seinen Wipprüssel, zog ihn nach unten und meinte vorsichtig:
„Die Marktpreise müssen enorm sein …“
„Wahrscheinlich“, log ich …
Man stelle sich vor: Da kommt ein Deutscher mit einer Sauflöte angegondelt, und nach Beendigung seines †††Konzerts (!!) erkundigt er sich nach Zuckerrohr …!!
„Die Sache ist nämlich die“, erklärte er weiter und massierte seinen Rüssel ganz zwecklos, denn dessen Form in eine Hakennase umzugestalten, hätte nur ein Schönheitschirurg fertig gebracht. „Dort auf der James-Insel leben rund dreißig deutsche Siedler seit einem halben Jahr … Wir verdienen enorm … fabelhaft! Zu fabelhaft! Der Chef, dem die Plantage gehört, muß ein kaufmännisches Genie sein … – Nun, wenn Sie als Gelehrter mir bestätigen, daß die Marktpreise so stark angezogen haben, ist die Sache ja in Ordnung. Anderswo konnten wir uns nicht erkundigen, der Chef liebt das nicht … – Ich danke Ihnen bestens, Herr Benson … Ich muß jetzt wirklich fort, bis zur James-Insel sind es immerhin drei Stunden, und … – – also – – alles Gute!“
Ich hätte ihn gern noch manches gefragt, er winkte jedoch ab …
„Habe Eile … entschuldigen Sie …“
Sein Motorkahn gondelte davon, er schwenkte den Hut, – – trotzdem behielt sein Gesicht den gewissen mürrisch-versonnenen Ausdruck.
… Und dies war meine erste Begegnung mit Tobi Weber.
Sie hatte einen komischen Anstrich gehabt. Ging man den Dingen aber mehr auf den Grund, so enthielt dieses Zusammentreffen eine äußerst bedenkliche Bedeutung. Webers Frage, wann die „Expedition“ die Insel Santa Renata verlasse, genügte allein schon, mein Mißtrauen zu steigern. Webers Signale auf dem seltsamen Blasinstrument, das doch nur den Zweck haben konnte, durch seine kreischenden Töne zufällige Zuhörer nicht weiter aufmerksam zu machen, da diese „Musik“ den Tönen eines übermütigen Wildschweinrudels durchaus glich, allerdings ins Fortissimo übertragen, mußten einer bestimmten Person gegolten haben.
Doch wem?
Die Insel war unbewohnt. Außer mir und Monte hausten hier nur verwilderte Pferde, Esel, Schweine, dazu Schildkröten, Eidechsen, Vögel und ein einheimisches Nagetier, das sogenannte Oryzomys[2], das nur auf den Galapagos vorkommt.
Mein bisheriges uneingeschränktes Sicherheitsgefühl war jedenfalls gestört. Hier bereiteten sich Ereignisse vor, die ich nicht einmal ahnen konnte.
Nun, – Zukünftiges hat mich nie beschwert.
Wir wandten uns heimwärts.
Aber dieser Rückmarsch stand noch im Zeichen des Besuches Tobi Webers, der Konservenbüchsenhaufen und des Konzerts der infernalischen Flöte. Meine Insel war nicht mehr mein Alleinbesitz, und nur Montes gute Nase und eifriges Umhertollen bot mir die Garantie für einen ungefährdeten Rückweg.
Nachher freilich nahm ich die Dinge wieder weit leichter und vergaß sie fast. Sogar die weit hergeholte Annahme, daß ein paar hellhäutige Herrschaften dem Phantom eines Goldklumpens von einigen Metern Höhe und Dicke nachsetzten, zerrann zu einem Nichts. Es mußte sich längst herumgesprochen haben, daß man Vulkanglas für Gold gehalten und viel Mühe und Zeit für einen gläsernen, zwischen den lavaüberzogenen Schluchten einer Kraterwand hängen gebliebenen Glasballon verschwendet hatte, – so auch Mackencie mit seiner buntscheckigen Horde.
Unser Wildschweinsrücken war wirklich gar und delikat, und die Mittagshitze zwang zu einem stundenlangen Schläfchen.
Monte, noch fauler als sein Herr, scherte sich erst recht nicht mehr um Tobi, und so wurde der blonde Hüne sehr bald Märchenfigur …
Was gingen uns auch gelegentliche Gäste an!
Nachmittags gab es so vieles zu tun …
Hausarbeit …
Der Herd war reparaturbedürftig, ich besserte ihn aus, ich flocht für die Stühle weichere Sitze und Rückenlehnen, ich pfiff dazu, wir hatten es hier so wunderschön, wir atmeten die frische Seeluft aus erster Hand, und wenn der Wind nicht drehte, würde es morgen genau so klare Fernsicht geben und genau so unbekümmertes Einsiedlerdasein wie heute.
Wenn … wenn …!! – Abends schwenkte der Gott der Winde seinen Blasebalg, und da hatten wir die Bescherung.
Es herrschte scharfer Ostwind, und dann schickte mir die Nachbarinsel Abingdon stets in Überfülle die stinkenden Schwaden ihres tätigen Vulkans als sehr unerwünschten Gruß herüber.
So schlimm wie an diesem Abend war es noch nie gewesen. Die Teufel, die dort die unterirdischen Feuer schürten, mußten heute offenbar besonders eifrig bei der Arbeit sein, schwarzer Qualm hüllte Santa Renata ein, und sogar bis in mein Glashaus – Vulkanglas – drang dieser pestilenzialische Rauch und ließ Freund Monte mißvergnügt husten.
Santa Renata? – – Mal ehrlich …!!
Wer kennt es? – – Insel, vulkanischen Ursprungs, die nordwestlichste der Galapagos-Gruppe.
Wer weiß etwas über Galapagos?
Nun gut: Inselgruppe im Pacific, zur Republik Ecuador gehörend, – – Kolonie, – – was man so Kolonie nennt … Die meisten Inseln unbewohnt, überall qualmende, gifthauchende Vulkane …
Wer kennt es?
Die kennen es, die die „Treppe der Büßer“ lasen …
Sonst?!
Jedenfalls: Santa Renata war heute ungemütlich, und wenn gar auf meiner Nachbarin Abingdon stärkere Eruptionen erfolgten, konnte ich mich auf allerlei gefaßt machen. Daß die beiden Inseln eng miteinander zusammenhingen und nur durch eine flache Wasserstraße getrennt waren, daß die Existenz von Santa Renata von dem Wohlgefallen der größeren, äußerst reizbaren und unbarmherzigen Schwester lebte und eines schönen oder unschönen Tages wieder verschwinden und ein Dauerbad im Pacific nehmen könnte, wußte ich längst … –
Freund Monte knurrte …
Die Karbidlampe zischte …
Der Qualm stank …
„Was knurrst du, Monte?!“
Seine Hundeaugen verrieten Angst.
Ein feines Knirschen ging durch den Riesenblock von Vulkanglas, der, innen hohl, meine Einsiedlerklause bildete …
Ich spürte, daß der Boden unter mir wankte.
Das Knirschen wurde zum Splittern, urplötzlich klaffte der Glasballon wie unter einem Hammerhieb, Stücke polterten herab, und meine geringe Habe zusammenraffen und durch den Felsentunnel ins Freie flüchten, war dringendes Gebot …
Schwere Rauchfetzen umwehten den seltsamen Tempel auf der breiten Terrasse, den hier einst flüchtige Sträflinge, fanatische Buddhaverehrer, errichtet hatten.
Unter mir zog sich die Schlucht hin – Treppe der Büßer, heißer als ein Backofen, Krematorium der Naturgewalten … Rechter Hand erhob sich der erloschene Vulkan von Santa Renata mit Lavaflächen, Abgründen, Schluchten, – – erloschen?! – Vielleicht … In den Tiefen gärte[3] noch die Glut …
Monte winselte wieder …
Der bescheidene Buddhatempel krachte, wankte, taumelte wie trunken …
Ich hatte den prallen Rucksack auf dem Rücken, ich hielt die Büchse in der Hand – – fluchtbereit.
Weshalb blieb ich hier?!
Ich liebte diese Stätte …
Man reißt sich schwer los von einer neuen Heimat, und Santa Renata war es mir geworden. Ich hatte hier drei Wochen allein mit Monte gelebt … Sonnige Tage lagen hinter uns …
Herren der Insel waren wir gewesen, und nun …?!
Santa Renata rüstete sich zum Dauerbad …
Das Getöse stürzender Felsmassen wuchs, die steinernen Schlünde änderten ihre Form, die Giganten der Unterwelt arbeiteten an der Vernichtung der Insel.
Ihre Riesenfäuste, heiß und dampfend, stießen gegen das Gestein, – – wie ein Wunder war es da dicht vor mir, – – die Treppe der Büßer bauchte sich empor, ihre tief gelegenen Naturstufen hoben sich wie eine schwarze Woge, die jäh aus dem nächtlichen Ozean emporquillt, und warfen die verkohlten Überreste des Mannes, der hier vor Wochen in törichter Verblendung phantastischen Schätzen mit gierigen Augen und verbrecherischer Hartnäckigkeit nachgespürt hatte, auf die Tempelterrasse, als wolle der heiße, sengende Felsen sich von etwas Unreinem befreien …
Die Welle des Urgesteins verkroch sich wieder in die Finsternis, hinter mir fiel das Bauwerk Buddhas zusammen, unter mir wankte der Boden, Monte heulte in langgereckten, schauerlichen Tönen, meine Nerven zitterten genau so wie die grünen Blätter der wenigen Büsche, – die Vernichtung war da, das Getöse stürzender Felsmassen wuchs zu unaufhörlichem Grollen eines Gewitters, dem das erlösende Licht der Blitze fehlte.
Die Umgebung war eingehüllt in flatternde Rauchfahnen, die gleich Gespenstern dahineilten – ein endloses Heer, und ich selbst und mein treuer Hund waren nur klägliche Nichtigkeiten inmitten dieser sinnbetörenden Sinfonie finsterer Gewalten.
Für Sekunden beruhigte sich der alles erstickende Lärm.
Vor mir lag das Häuflein Knochen und Staub, das einst Professor John Mackencie geheißen hatte.
Die hochflutende Woge der nun geborstenen Treppe hatte Mackencies Gebeine durcheinandergewürfelt, zwischen den Beckenknochen grinste der Schädel, und die Knochenarme hatten sich hochgereckt wie tote, weiße, gespenstische Bäume neben einem Grabhügel.
Dann ertönte fernher von Osten ein Knall einer Mörserbatterie von ungeheurem Kaliber, und aus dem Krater des Vulkans stieg eine geschlossene leuchtende Masse auf wie ein brennender Ballon …
So stark war die Lichtfülle dieser feuerflüssigen Granate, daß um mich her die Finsternis schwand und die Gebeine des Toten in ihrem grauenvollen Aufbau mir scheinbar näher rückten.
Monte jaulte verzweifelt.
Sein Herr, dem die Wanderjahre die Nerven längst zu Drähten aus Patentstahl zusammengeschweißt hatten, der wohl einmal vibrierte, jedoch niemals riß, bückte sich bei dieser höllischen Beleuchtung über die Reste des Toten, der einst einen berühmten Namen in den Schmutz der Habgier gezerrt hatte, und betrachtete sinnend den weißen Totenschädel, in dessen Hirnschale zwei runde Löcher scharf abgezirkelt an der Seite als Spuren von Kugelschüssen sich abzeichneten.
Das sollte Mackencie sein?!
Wie ein Blitz kam mir die Erkenntnis, daß wir vor Wochen uns haben täuschen lassen … Der fliehende Mackencie, der scheinbar durch einen Zufall in den engen Treppenschacht der Büßerstufen getaumelt und verbrannt war, hatte uns alle betrogen … Einen Fremden, einen seiner Leute hatte er in dem unübersichtlichen Gelände niedergeknallt und sich selbst in Sicherheit gebracht.
Tausend Schlupfwinkel bot Santa Renata …
Dort irgendwo an der Ostküste, die nur grausige Felswildnis und Dornen und faulige Sumpflöcher bot, mochte er sich verkrochen haben.
Er lebte noch …
Und als ob drüben die Stimme des Vulkans, der soeben die Lava in die Nacht emporgeschleudert hatte, mir dies alles bestätigen wollte, ertönte aus den Höhen des unnatürlich erleuchteten Firmaments ein Donnerschlag, der die Erde zu zerstückeln drohte, – die blendende, glühende Masse in der Luft zerplatzte, und ein Regen von feurigen Hagelgeschossen sauste, der Schwerkraft gehorchend, wieder abwärts und bildete ein Bündel gewaltiger Raketen, deren Lichtfülle mich in diese nie geschaute Menge herniederschießender Feuerkörper wie gebannt hineinstarren ließ und mir die wütend aufgepeitschte See zeigte, über deren Schaumkämme ein Dampferwrack dahintaumelte wie ein Schifflein, das Kinder aus Borke geschnitzt haben und dem Strudel einer regengefüllten Gosse aussetzen …
Die Armee der Nebelgeister verkroch sich …
Vor mir, durch einen Einschnitt in den Bergen sichtbar, tobte das Meer in all seiner unbezähmbaren Wut über die Angriffe des feindlichen Elementes, des gierigen Feuers.
Das Meer kochte …
Das Wrack, durch unsichtbare Gewalten getrieben, wie ein rasender pfeilschneller Torpedo, schoß auf die Nordküste von Santa Renata zu …
Ebenso jäh wie die erste Explosion im fernen Krater, folgte die zweite …
Und wieder erbebte meine Insel, wieder taumelten die Bergkuppen, wieder folgte Bergrutsch auf Bergrutsch, und bevor noch die glühenden Raketen drüben erloschen, sank ich hintenüber, stützte mich gegen den lächelnden Buddha und sah den Pacific zurückweichen und wurde Zeuge, wie aus der See sich neuer Landzuwachs für den Ostteil meiner Insel heraushob wie eine Riesenblase aus gärendem[4] brodelndem Teig, der mit Gärstoffen überfüttert ist.
Zum zweiten Male platzte die hochgeschleuderte Lava, die zweite Riesenbombe von Abingdon, und ich sah das hilflose Wrack mit emporsteigen auf das neue Land, eingebettet in die Felsen und Lehmschichten und Tiefseepflanzen, die noch vor Sekunden den Meeresboden gebildet hatten.
Wie wenn mit dieser gewaltigen Leistung die Höllenfürsten sich nun zufrieden geben wollten, verstummte jählings das überwältigende Tosen des grimmen Orchesters, und die fast lautlose Stille krampfte mir die Brust zusammen, und meine Ohren beruhigten sich nur allmählich nach dieser Qual teuflischer Dissonanzen.
Meine Haut war feucht von Schweiß.
Jetzt erst fühlte ich, daß mir alles Blut aus den Wangen gewichen und daß meine Nerven wie das Laub einer Esche bebten und meine Augen in den Höhlen glühten und mein Hirn nicht fähig gewesen, all diese Einzelheiten, die sich gejagt hatten wie ein rasender Filmstreifen, voll zu erfassen.
Ich lehnte an der Buddhafigur, die von armen Chinesensträflingen hier errichtet worden vor vielen Jahrzehnten, und dieser Buddha lächelte sein unergründliches, wissenssattes Lächeln und schien mir zuzuraunen:
Dem Lebenstrieb entspricht der Gram,
Dem Lebenstrieb entspricht die Furcht:
Wer losgelöst vom Lebenstrieb,
Hat keinen Gram und keine Furcht.
Gautama Buddhas Worte rauschten so durch mein Hirn, – – der grimme Pacific rauschte, die letzten Raketen erloschen, das ausgestirnte Firmament war mein Dach, das Flimmern der Sterne glich dem Beben meiner Nerven, matte Tropennachthelle war um mich her, und der gigantische Spuk der Eruptionen des Vulkans war entwichen.
„Uralter Buddha, deine Lehre ist nichts für mich …! Den Lebenstrieb warf ich längst von mir, aber niemals das eherne Naturgesetz: „Mensch sein, heißt Kämpfer sein!“ Eure asiatische Wurstigkeit ist Sklaventum, versteckte Feigheit! – Leben Sie wohl, Herr Buddha, – – das Wrack ruft! Ich höre seine Stimme!“
Es war die innere Stimme der Hilfsbereitschaft für andere.
Ich pfiff Monte, und der Hund bellte, und Herr und Hund wandten sich ostwärts …
Neuland!
Unter unseren Füßen quirlte das Wasser, wurden dicke Algenbüschel zerquetscht …
Eine Stunde mühevollen Wanderns.
Da lag der Dampfer …
Geborsten …
Kein Lebenszeichen …
Tot die Kessel, tot die Laternen, tot die Besatzung …
Ein elender alter Kasten war es mit veralteten Maschinen.
Am Flaggenstock hingen Fetzen der Fahne von Ecuador.
… Wahrscheinlich das Postschiff, das alle drei Monate von Südamerika her die südlichste, fruchtbare Charles-Insel besuchte, auf der ein paar hundert Mischlinge und ein Dutzend Europäer wie Verbannte hausten und ihre Langeweile in miserablem Schnaps ertränkten.
Mitten durchgespalten war das Wrack wie von dem Hieb einer riesigen Axt. Beide Teile lagen getrennt, zwei Meter Zwischenraum war da, – Neuland, neuer Boden, bedeckt mit Steinkohlen aus den geborstenen Bunkern … Die Kohlen schwelten, helle Schwaden schlängelten sich empor.
Mochten sie brennen – alles verbrennen …
Ich würde noch Zeit genug haben, die Wrackteile nach Verwundeten und Toten zu durchsuchen.
Monte winselte …
Montes Kopf hob sich …
Er schnüffelte … –
So fanden wir den letzten Mann des Postdampfers „Ecuador“.
Der Mann war eine Frau, dieser letzte Mann, und in dem zerfetzten Nachtgewand lag da im Sternenschein auf dem Deck eine leblose Gestalt zwischen den Trümmern der Brücke …
Das matte Sternenlicht nahm Rücksicht auf die Schönheit dieses Mädchenleibes, der da fast hüllenlos seine schlanken Linien meinen Augen darbot. Die linke Hand war über die knospende Brust gesunken, und an dem Ringfinger blinkte ein goldener Reif. Der Kopf, von nasser dunkler Haarfülle bedeckt, verbarg die reinen Linien seiner feinen Züge, als ob diese Venus, dem Meere entstiegen, die Blicke der Irdischen fürchtete.
Ich stand dicht neben der Bruchstelle des Decks, und der Dunst der in Brand geratenen Bunkerkohlen mahnte mich an die nächste Pflicht, die Reste des Schiffes vor dem Feuer zu schützen, damit ich ein neues Heim hätte für mich und dieses Mädchen, das ich gesund pflegen wollte.
Als ich einen Eimer fand und hinabkletterte an den algenbedeckten Felsen, die bis zum Deck reichten, blieb Monte bei der Bewußtlosen zurück.
Einer der nahen Seewassertümpel, in denen das Getier des Meeres bereits Schutz gesucht hatte vor der plötzlichen Verbannung auf trockenen Boden, spendete genügend Naß zum Löschen der schwarzen, schwelenden Hügel. Es zischte und brodelte in den Kohlenbergen, beizender Qualm vertrieb mich, und abermals holte ich das schützende Naß, und die knisternden Gnomen der Glut verkrochen sich für immer.
Der Mond war erschienen.
Friedvoll beleuchtete er meinen buntscheckigen Hund, der neben der Fremden saß und die Ohrfetzen traurig herabhängen ließ. Ganz zart hob ich den leichten Frauenkörper empor wie ein kostbares, zerbrechliches Spielzeug, wickelte ihn in eine meiner Decken und bahnte mir einen Weg zum Bug, wo ein eingedrücktes Oberlichtfenster auf das Vorhandensein von vielleicht behaglichen Räumen hindeutete.
Das Deck war ein Trümmerfeld. Die Masten waren nicht über Bord gestürzt, sondern wie Streichhölzer mehrfach geknickt. Ihr Tauwerk, Teile der Reling, Lukendeckel und der gekappte Schornstein bildeten einen förmlichen Wall.
Als ich gerade, die Fremde in beiden Armen an meine Brust drückend, über ein tückisches Tau stolperte, blinkte auf dem Neuland weit nördlich ein Licht auf. Ich hätte es kaum bemerkt, wenn ich nicht gestolpert wäre.
Ich stand still.
Der Argwohn in mir war bereits rege geworden, als ich vorhin festgestellt hatte, daß die Skelettreste niemals die des Professors sein konnten und daß John Mackencie wahrscheinlich entkommen war. Eine sehr einfache Zeitberechnung bewies mir außerdem, daß meine Bekannten, mit denen ich das Abseitserlebnis der Treppe der Büßer durchlitten hatte – es waren gefahrvolle Tage gewesen –, längst eine Hafenstadt von Ecuador erreicht haben mußten und daß die Kunde von Mackencies Tod seit mindestens anderthalb Wochen der kleinen Republik eine besondere Sensation gebracht hatte. Der Postdampfer bis zur Charles-Insel benötigte kaum eine Woche Fahrzeit.
Also …?!
Wenn Mackencie drüben auf dem Festlande noch Verbündete besessen hatte, die nun etwa mit mir sich in ernstlicher Weise auseinandersetzen wollten, konnten die Lichtsignale drüben eine höchst unangenehme Bedeutung haben.
Es waren Signale …
Zweifellos wurde eine Karbidlampe benutzt. Das Licht war grell und zog einen hellen Strich durch die Dämmerung, erlosch und blinkte wieder auf …
Ich schaute nach links, wo die Gestade von Santa Renata düster und zerklüftet mit hoher Steilküste hochmütig auf das neue Land herabblickten. Ich hoffte auf ein Signal, ich bemerkte nichts.
Noch immer stand ich auf dem eingedrückten Schornstein, und der Kopf der Fremden ruhte schwer an meiner Schulter.
Das feuchte Haar war zurückgeglitten, und die Reinheit dieser jungen Züge weckte mein Verantwortungsgefühl für die Hilflose und lenkte meine Augen von der fernen blitzenden Laterne unnötig ab …
Aber dieses Antlitz fesselte mich.
Um den Mund lag ein herber, fragender Ausdruck, und die fest geschlossenen Lippen schienen ein Geheimnis zu hüten, das der Jugend dieses wundervollen Geschöpfes nicht entsprach. Jugend hat Anrecht auf Glück.
Und wie ich so ganz still verharrte und mich hineinversenkte in den keuschen Reiz des Leibes, den ich zart an mich preßte, schlug die Fremde die Augen auf, blinzelte verwirrt, musterte mein braunes Gesicht und errötete und suchte sich frei zu machen.
Ein hilfloser Seufzer beendete die schwache, schamhafte Bewegung, und der scheue Blick irrte abseits, fand den fernen Lichtstreifen, hing wie gebannt an dem zuckenden Funkeln der grellen Flamme, die in unregelmäßigen Zwischenräumen erlosch und wieder geboren ward aus milchiger Dämmerung. Der feine Kopf schnellte ruckartig hoch, und die braunen Augen meines Schützlings wurden starr und weit wie erfüllt von einem Entsetzen, das ihre Lippen zucken ließ.
Dann blickten die Augen in mein geneigtes, erwartungsvolles Gesicht, und die Lippen öffneten sich, – nur ein Flüstern drang an mein Ohr:
„Wer sind Sie? Etwa Abelsen?“
Meine schnelle Zeitberechnung war also richtig gewesen. Die Frau kannte mich vom Hörensagen, sie kam aus Ecuador, und in Ecuador mochte mein wertloser Name Sensation geworden sein.
Aber in dem hastigen Flüstern lag mehr als Neugierde.
Angst zitterte in diesem schwachen Raunen, und meine beruhigende Antwort: „Sie sind außer Gefahr“, fand keinen Widerhall in dem furchtgepeinigten Herzen.
Der herbe, bittere Zug um den Mund trat stärker hervor, der Blick der Augen verlor das Feuer schreckvoller Überraschung, und dasselbe Lippenpaar sprach in seltsamer Eindringlichkeit:
„Fliehen Sie!!“
Nichts weiter, nur die zwei Worte … –
„Wovor, Miß?“, – und das halbe Lächeln verriet meine Gedanken, die an alles andere als an Flucht dachten.
Ich – – fliehen …?!
… Du fremde zarte Blume, ich könnte dir Buddhas berühmte Worte wiederholen und hinzufügen, wie ich darüber hinwegsetzte mit dem kühlen Selbstbewußtsein derer, die abseits vom Alltag das Leben anders einschätzen lernten als ein weltfremder asiatischer Philosoph.
„Wovor, Miß?“
Sie schien zu überlegen. Irgend eine Hemmung war da in ihrer Seele, die ihr eine offene, unzweideutige Antwort von den Lippen bannte.
„Überlassen Sie mich meinem Schicksal“, hauchte sie nur. „Ich habe Pflichten … Ich werde mich schon allein durchkämpfen bis an mein Ziel … Wenn Sie wirklich etwas für mich tun wollen, tragen Sie mich in ein Versteck. Santa Renata bietet ja genügend Schlupfwinkel … Wir sind doch an der Küste gestrandet … Das Letzte, das ich mit bewußten Sinnen vernahm, war die entsetzliche Geschwindigkeit, mit der der Dampfer auf die Steilküste …“
Und dann brach sie jäh ab, sie hatte sich inzwischen so weit erholt, daß auch ihr Geist die Bilder, die sie ringsum schaute, richtig zu verarbeiten vermochte.
Diese Bilder waren das Neuland von Santa Renata … Eine endlose Weite von feuchten Strecken noch nassen Meeresbodens, von nassen Felsen, von nassen Algenbärten, Tiefseepflanzen, schillernden Pfützen.
Ihre Augen starrten mit ungläubigem Schreck ringsum. Jetzt erst erkannte sie, was sie gesehen.
„Mein Gott, – – also das war es!!“ Vor dem Übermaß dieser ungewohnten Eindrücke erbebte sie. Aber mit einer Willenskraft, die die Schwäche des Körpers überwand, wies sie das Grauen von sich. Um ihren Mund trat ein neuer Zug, ein Aufflackern eines Argwohns, ein blitzartiges Erwägen all dessen, was diese Entdeckung bedeutete.
„… Fort von hier!“, – die Stimme war hart und zielbewußt … „Sie werden die Wrackteile sprengen … Sie haben mich hier zurückgelassen. Die ganze Besatzung war ertrunken, – – fort von hier, – – nur Sie retteten sich …“
Ihr Ton hatte etwas Zwingendes, Überzeugendes. Das war keine hysterische Frau, die von Angst gefoltert ihren Schreckvisionen Worte leiht.
Sie wollte sich wieder frei machen aus meinen Armen …
„Nur schnell …! Ich fühle mich wieder stark genug … Nur schnell!“
Der Felsenrücken, der hier aus dem Schlick emporragte, zog sich nach Nordosten hin, wuchs an Höhe und Breite und deckte uns vollkommen gegen Sicht. An seinem Fuße lag nasses Geröll, ich trabte dahin, Monte neben mir, die Frau in den Armen, deren Kopf wieder matt an meiner Schulter lag, ich betrachtete die zerklüfteten, bewachsenen Felsen, und als ich die erste tiefere Schlucht gewahrte, bog ich nach links ab.
Hinter uns fast im selben Augenblick zwei starke, dumpfe Detonationen, – ich spürte noch den Luftstoß der beiden Explosionen, ich stolperte wohl, aber ich fiel nicht, eine ungeheure Wut kochte in mir gegen die Jämmerlinge, die diese Frau hatten vollends auslöschen wollen und mit ihr die Wrackteile …
Ich stieg die enge Schlucht hinan, langsam, vorsichtig. – Felsblöcke versperrten mir den Weg, doch Monte wand sich hindurch, blaffte leise, und es gab da wirklich einen Durchschlupf, dahinter eine flache, sanft geneigte Grotte mit feinkörnigem Kies, bereits trocken, Raum genug für zwei, und ein Versteck war es, wie ich es nicht besser finden konnte.
Ganz sanft legte ich die Frau auf den Boden, es war fast dunkel hier, schnell entrollte ich eine zweite Decke, hüllte die Fremde ein und schob das Wäschebündel aus meinem Rucksack unter den Kopf.
„Liegen Sie still … Hier – trinken Sie!“ Aus dem Samariter wurde der strenge Arzt.
„Ich danke Ihnen …“
„Nichts zu danken …! Ausruhen sollen Sie sich … – Hier, noch einen Schluck … Sie werden schlafen … müde werden … Und wenn die Sonne erst wieder scheint, werden Sie die Dinge auch in anderem Lichte sehen …“
Ich hielt ihren Kopf, sie trank gehorsam, und dann glitt sie zurück …
„Diese Grotte ist mir willkommener als eine Kabine auf dem nun vernichteten Dampfer „Ecuador““, flüsterte sie träumerisch. „Es ist Neuland … – Ich bin Frau Doris Lengitt, die Frau des Plantagenbesitzers Lengitt auf der James-Insel, die drüben im Südosten liegt, auch eine Galapagos-Insel[5], Mr. Abelsen …“
James-Insel?! Plantage?! – Sofort erinnerte ich mich an Tobi Weber, an die Konservenbüchsen, die leeren Flaschen und die entsetzliche Flöte. Aber eine innere Stimme warnte mich, Tobi Weber zu erwähnen …
„… Nun kennen Sie meinen Namen, Mister Abelsen … Ich bin geborene Deutsche, war Erzieherin in …“
„Guayaquil[6] …“, ergänzte ich. „Von Guayaquil unternahm auch Professor Mackencie seine verwegene Piratenexpedition …“
„Mackencie ist tot, erzählte man in Guayaquil“, flüsterte sie scheu.
„Er lebt!“, – ich mußte hart sein, ich ahnte bereits, daß es da irgendwelche Zusammenhänge zwischen der Unbekannten vom Dampfer „Ecuador“, dieser hilflosen Frau und Mackencie geben müsse.
Sie schrie leise auf.
„Oh, – – dann hatten die Leute doch recht mit ihren höhnischen Reden! Und die Lichtsignale, – – alles Mackencies wegen, alles …!! Lug und Trug und Unklarheiten. Und ich selbst?!“
„Verhehlen Sie mir nichts“, bat ich befehlend. „Nur keine Halbheiten, Frau Lengitt[7]. Sie kennen mich vom Hörensagen, vertrauen Sie getrost einem Abenteurer, der für die Not seiner Zufallsbekanntschaften allzeit ein offenes Herz hatte … Weshalb handelten diese Menschen an Ihnen mit einer Brutalität, für die es keine Entschuldigung gibt?!“
Ich kniete neben ihr, und wieder ruhte ihr Kopf an meiner Schulter, und wieder kam es aus ihrer Brust wie eine verzweifelte Anklage …
„Ich habe Pflichten! Eine unselige Stunde zwang mich zu einem Schritt, der nie wieder gutzumachen ist! Handeln Sie, wie Sie es für richtig halten, – – ich darf nicht sprechen, ich darf nicht! Dies hier verschließt mir den Mund, – – dies!“ – Und sie riß den goldenen Reif vom linken Ringfinger und warf ihn von sich … „Dies ist die Fessel, – – nun werden Sie mich vielleicht verstehen!“
Mit leisem hellen Klirren fiel der Ring in das Geröll, hüpfte von einem Stein wieder hochschnellend zum anderen und blieb vor Montes breiten Vordertatzen liegen. Der Hund, der daran gewöhnt war, jeden mir entfallenen Gegenstand zu apportieren, nahm ihn nur mit den Lippen vorsichtig auf und setzte sich dann artig neben uns.
Frau Doris, die ihre Unbeherrschtheit schon bereuen mochte, streichelte mit einem leisen Aufseufzen Montes Kopf und schob den Ring wieder wortlos über ihren linken Ringfinger, ließ sich zurücksinken und verharrte in Schweigen.
Meine Frage, weshalb sie als verheiratete Frau den Ring an der Linken trage, unterblieb. Ich drang auch nicht weiter darauf, über Mackencies Freunde noch mehr zu erfahren, ich ermahnte sie nur, sich ganz still zu halten und befahl Monte, bei ihr zu wachen.
Neuland …
Es war ein seltsames Wandern, es war ein Weg, bisher nie betreten …
Es war eine Überfülle von neuen Bildern, und ich genoß sie mit der Freude des Weltentramps, der nicht nur von Ort zu Ort hetzt und „Eindrücke sammelt“, sondern dessen naturfrohes Herz sich weitet bei dem Anblick des Ungewöhnlichen, dessen reger Sinn jede Kleinigkeit auffängt und dessen Seele auch jenes echte Mitleid mit den bedauernswerten Geschöpfen der Tiefe empfindet, die hier plötzlich, ihrem Lebenselement entrissen, zu qualvollem Sterben verdammt waren.
Als ich Frau Doris vorhin am Fuße der Felsenhügel entlanggetragen hatte, waren wir als Flüchtlinge dahingeeilt, und Auge und Verstand fühlten nur die eine Aufgabe, jedem Hindernis auszuweichen und den günstigsten festen Fleck für den hastenden Fuß zu erspähen.
Nun aber, als ich die nächste höchste Kuppe erklommen und mich flach niedergelegt und das Fernglas eingestellt hatte, als ich so nicht nur einen Überblick über Santa Renatas neuen Landzuwachs gewann, sondern auch im Halblicht der Tropennacht nirgends mehr etwas Verdächtiges bemerkte, überkam mich erst jenes weihevolle Staunen vor der unausdenkbaren, unbegrenzten, schöpferischen Kraft der vulkanischen Feuer …
Das war nicht ein Gelände von einigen Kilometern, das war eine neue Halbinsel von Meilenlänge, die da von der Nordostküste meiner Insel gen Osten sich hinzog …
Das war keine Ebene mit einigen sanften Felsgruppen, Wassertümpeln und schmalen Kanälen, sondern ein endloses Gebiet mit mächtigen Seen, hochgetürmten Hügelketten, breiten Wasserstraßen und mit all den verschiedenartigsten Pflanzen des tropischen Meeresbodens, die weit reichhaltiger an Arten sind, als der Laie es vermuten mag.
Und dies war nur der erste Überblick.
Die Einzelheiten folgten …
Nochmals schaute ich nach den Wrackteilen des Dampfers aus …
Nichts mehr …!
Selbst mit dem Fernglas ließ sich von hier aus die Stelle kaum mehr bestimmen, wo es gelegen hatte und in Fetzen zerrissen war.
Eins blieb gewiß: Die Leute mußten gewaltige Sprengladungen benutzt haben, um diese verheerende Wirkung zu erzielen.
Und drüben auf dem alten Renata?!
Nicht ein Licht, nicht ein Zeichen der Anwesenheit von Menschen …! –
Düster lagen die Steilufer da, – weit, weit ab, – – was sie verbargen, würde sich zeigen.
Ich kletterte nach Westen zu die Hügel hinab und verfolgte eine mit Wasser gefüllte Bodensenkung, die ständig an Breite zunahm.
Tiefseepflanzen standen in dem Tonboden des Abhangs in starken Büscheln, sogar in ganzen Gestrüppstreifen. Aber sie lagen saft- und kraftlos wie welke Stauden übereinander, – auch ihnen fehlte ihr Ursprungselement, das Meer, in dem sie gierig dem Lichte der Oberwelt zugestrebt hatten, wie es alle Pflanzen tun: Licht ist Leben!
Und dann waren da das Heer der Muscheln, kleineren Fischen, Quallen und Krebstieren – jeder winzige Tümpel wimmelte von ihnen …
Da waren auch die größeren Arten, die, verzweifelt sich hochschnellend, mit aller Kraft dem Kanal zustrebten, der rechts von mir glitzerte.
Er war die Sehnsucht aller …
Ganze Heeressäulen von Krebsen, Kriechtieren, Meereswürmern wanden sich wie Schlangen in eilfertigem Gedränge dem Wasserbecken zu.
Haifische jeder Art traf ich an.
Auch ihr Instinkt verriet ihnen die nahe Rettung vor dem Verschmachten.
Mit weithin hörbaren Schwanzschlägen schnellten sie genau wie die anderen Raubfische – sogar Schwertfische, Narwale und buntschillernde Stechrochen von zwei Metern Länge machten diesen Tanz ums Leben mit – sehr hoch empor, wanden sich im Sprung, gewannen mit jedem Sprung neue Hoffnung, den immer breiter sich dehnenden Kanal zu gewinnen …
Spiel ums Leben …
Und oft genug blieb ich stehen, bewunderte die Zähigkeit dieser Geschöpfe, genoß lediglich die Freude an der unbändigen Kraft, die in den spindelförmigen Leibern sich wehrte gegen das todbringende[8] Neuland.
Ganz anders im Vergleich zu diesen Wasserbewohnern verhielten sich die zahllosen Schildkröten. Ihnen machte es nichts aus, ob fester Boden oder Wasser, sie waren beiderorts daheim, sie watschelten geruhsam dahin und fanden überall reiche Beute.
Noch mehr begegnete mir …
Da lag ein Schiffswrack, kaum mehr erkennbar, von Tang und Algen überzogen wie ein Untier mit zottigem, fahlgrünen Pelz …
Da lagen in der glitschigen Tonschicht menschliche Gebeine, unweit davon ein überraschend gut erhaltenes Walfischgerippe.
Die irrige Annahme, der Wal käme nur in Polarmeeren vor, ist ja längst widerlegt. Der Pacific war einst bis zu den Galapagos-Inseln von Herden von Walen belebt.
Einst …
Bevor die Geschütze mit den Sprengharpunen erfunden wurden. – Nun – dem Naturfreunde sei es ein Trost: Die Walschlächterei geht zurück, die Chemie hat billigere Fettstoffe entdeckt, Norwegens Walfangflotte ist fast wertlos geworden, das Geschäft lohnt nicht mehr, und die Wale vermehren sich wieder. Die Zivilisation drohte sie auszurotten, dieselbe Zivilisation schützt sie nun, – freilich ist das Ganze nur eine Geldfrage. –
So näherte ich mich dem Punkte, wo ich nach Norden abbiegen mußte, um an die Stelle zu gelangen, wo die Signale aufgezuckt waren.
Bisher war dieser Marsch gefahrlos gewesen.
Nun erst begannen die Schwierigkeiten.
Ich mußte die sichere Deckung verlassen, und ich konnte erspäht werden.
Etwa auf allen Vieren kriechen?!
Unmöglich!
Meine Kleider wären in kurzem zu einem Panzer geworden … Ich merkte ja schon an meinen bespritzten Gamaschen, wie schnell dieser Schlick in der warmen Nacht trocknete und steinhart wurde.
Mühsam klomm ich die Wand des Tales empor …
Dicht vor mir ein Klatschen, Tonbrei flog mir ins Gesicht, – ein Hai übte hier die Kunst der Luftsprünge, glitt die glatte feuchte Böschung hinab wie ein Schlitten und schnellte abermals hoch … Ich duckte mich zusammen …
Prüfte das Gelände …
Dort drüben mußten die Leute mit den Karbidscheinwerfern gestanden haben.
Verwünschtes Pech, – – gerade hier ebener Boden, nirgends Deckung, nirgends auch nur ein Hügel …!
Nur eine Wasserrinne …
Vielleicht fünf Meter breit, – ein Seitenkanal des größeren Bruders.
Schwimmen?!
Ein Blick … – – danke!
Der Kanal, so eng er war, brodelte von dem Gekribbel lebensgieriger Geschöpfe.
Und dann – – wieder flog da vor mir ein Körper in die Luft – – ein Hai?!
Der Sprung sah so eigentümlich aus …
Unnatürlich …
Was war das?!
Ich riß das Glas an die Augen …
Und als ich es einstellte, als der Mond sich gerade aus dem dünnen Gewölk sich wieder befreite, erkannte ich das merkwürdige Etwas, das da so geschickt Haifisch imitierte: Ein Mann, der einen Hai abgehäutet haben mußte, der sich eingeknöpft hatte in die zähe Haut, damit der gelbweiße Bauch der Meereshyäne und der Hammerschädel auf die Entfernung die Täuschung unterstützten!
Wer war das?!
Einer der Burschen, für die eine Kugel noch viel zu milde Strafe gewesen?!
Nein, – das konnte nur jemand sein, der genau wie ich nicht erkannt zu werden wünschte.
Einer der Besatzung?!
Die trunkene Rotte war doch über Bord gewaschen!
Wer also?!
Erstaunlich, wie der Mann mit einer Gelenkigkeit, die auf große Kraft deutete, aus dem Stand emporsprang und nach Möglichkeit die Haifischbewegung nachahmte! Nur eins fehlte dabei: Das Geräusch des Schwanzschlages und die charakteristischen Windungen in der Luft!
Trotzdem: Es blieb eine Leistung!
Und ein schlauer Knabe war es, dieser Konkurrent, der ebenfalls den Dunkelmännern nachstellte!
Jetzt lag er lang auf steinigem Boden, kroch vorwärts, lüftete seine Haifischattrappe und besichtigte das Geröll …
Jetzt nahm er ein paar größere Steine, schichtete sie übereinander und baute eine Art Pyramide, die er mit Algen bedeckte, kroch wieder hundert Meter vor, baute eine zweite, – – noch hundert Meter, baute eine dritte!
Was sollte das?!
Nun kehrte er um, immer auf allen Vieren sich fortbewegend, dabei überraschend flink, obwohl ihn die Haifischhaut, die neben ihm schleifte, stark behinderte.
Die Sache wurde immer rätselhafter. Der Mann kniete hinter der ersten Pyramide und hatte in den Händen – – ein Fernglas, bückte sich … lag still.
Da begriff ich sein Vorhaben.
Er visierte über die drei von ihm errichteten Wegmarken nach Santa Renata hinüber, er hatte also die Fährte der Scheinwerfer-Leute gefunden und stellte den Punkt am Steilufer von Santa Renata fest, wo die Fremden erwartet worden waren.
Mithin hatte er auf meiner Insel doch ein Antwortsignal bemerkt, und auf dieses Signal waren die Leute in gerader Richtung zumarschiert.
Ein heller Kopf – – allerhand Achtung! Das konnte ein wertvoller Verbündeter werden.
Und doch zögerte ich …
Lag nicht immer noch die Möglichkeit vor, daß der Fremde doch zur Gegenpartei gehörte?!
Ich ließ mir Zeit, ich wollte nichts übereilen, ich hatte es längst verlernt, vorschnelle Entschlüsse zu fassen.
Ich tat recht daran …
Der Mann kroch weiter rückwärts, – ich rutschte etwas tiefer den Abhang hinab, und nur mit dem Kopfe blieb ich über der flachen Tenne des gefährlich ebenen Geländes.
Der Mann wandte seine alte Taktik von neuem an, sprang empor, – – machte Pause, – – sprang abermals.
Die Entfernung zwischen uns verringerte sich.
Was würde werden?!
Ich mußte zur Seite ausweichen, – – der Mann rückte mir zu nahe auf den Leib. Rechts von mir klebten Algen in dicken Büscheln am Boden. Sie gewährten wenigstens etwas Deckung. Die feuchten, schmierigen Pflanzen zu berühren, kostete Überwindung … Es half nichts, es mußte sein … Ich war ohnedies schon genügend mit Schlickspritzern bedacht worden, – wo ein Haifischschwanz hinhaut, gibt es ein Loch in der nassen Tonschicht …
Da glitt auch schon der Fremde über die Böschung, machte unten halt, warf sein Haifischfell auf ein paar Algenstauden und zeigte mir sein dem Monde zugekehrtes Gesicht, – ein Europäer, hagerer noch wie ich, längliche Züge, blondes Haar, braungebrannt, nur die Stirn weiß und zart, – – mit einer geradezu erhabenen Nachlässigkeit und Gelöstheit der gelenkigen Glieder stand er da, stopfte seine Pfeife und rieb sein Feuerzeug an.
Er war jung … Er strich sich das Haar glatt, zog aus dem schmierigen Khakirock eine dunkle Mütze hervor, schob sie über den Kopf, rauchte und schien zu überlegen.
Die Entfernung zwischen uns betrug keine zehn Meter.
Sein Blick wanderte hin und her, – – ich kauerte mich noch tiefer zusammen.
Plötzlich sagte er ganz laut:
„Mr. Abelsen?!“
Nur das …
Und faßte an den Mützenschirm.
„Damit Sie im Bilde sind: John Buggy, Steward des alten Rattenkastens, „Ecuador“ getauft, – – Gott habe ihn selig!!“
Dieser Nachsatz klang so ungeheuer wurstig, als ob der Untergang des Dampfers und alles Übrige für John Buggy die allergleichgültigste Sache von der Welt wäre.
Kein Wunder vielleicht: Sein Englisch verriet den Vollblutbriten, und Britanniens Söhne haben vielleicht nur deshalb die halbe Welt erobert, weil sie wenig Nerven besitzen, dafür einen fast zu stark entwickelten Rassenstolz!
„… Gemeinhin nennt man mich den verrückten Jonny, Mr. Abelsen“, lauteten seine nächsten Sätze, als ich nun auf ihn zuschritt. „Ob das „verrückt“ berechtigt ist, weiß ich nicht … Jonny genügt ja auch … – Wie geht es Frau Lengitt? Unter Ihrer Obhut sicherlich gut … Die Frage war also überflüssig …“
Ich wollte die Lage völlig klären.
„Sie stehen also auf Frau Lengitts Seite, Mr. Buggy?“
„Jeder leidlich anständige Kerl tut das …“ Er lachte etwas leichtsinnig. „Womit ich nicht behaupte, daß „anständig“ auf mich zutrifft … Ein Steward auf einem Niggerdampfer ist ein fragwürdiges Gewächs, wenn er eben Engländer ist. Sogar der Kapitän war Mulatte … Nun schmort er in der Hölle, und er wird gut brennen, das können Sie mir glauben, er hatte drei Buddeln Brandy verlötet, und die Sorte Brandy erinnerte an Brennspiritus und Benzin … Aber das ist Geschmackssache …“
John Buggy war keine Romanfigur mit all jenen Mätzchen, die dem Leser von vornherein entweder einen Helden oder ein imponierendes wanderndes Rätsel vorzaubern.
John Buggy war aus einem Guß, er war er selbst. Ihm genügte das, an der Wertschätzung und Einschätzung anderer lag ihm verdammt wenig.
Nur eins war er niemals: Ein einfacher Steward!
Ein Entgleister etwa?! – Auch das wohl kaum. Sein Lächeln hatte etwas Jungenhaft-Übermütiges, etwas Unbelastetes, wie es freien, offenen, unbeschwerten Naturen eigen ist.
Er hatte mir weder die Hand hingestreckt noch sonst irgend welche Redensarten gebraucht.
Kameraden – – für Frau Lengitt!! Abgemacht …!!
So war er.
Er gefiel mir.
Er fragte genau so sachlich-abgeklärt:
„Schläft sie? Ist sie verwundet?“
Vielleicht war er in diesem einen Punkte nicht ganz aufrichtig, Seine Teilnahme für Frau Doris entsprang unmöglich nur seinem ritterlichen Empfinden.
Meine Auskunft über unsere Grotte, über Frau Lengitts Weigerung, mehr als nötig zu verraten, und über den jähen Ausbruch ihres Widerwillens gegen ihre Ehe und über den fortgeschleuderten Ring nahm er schweigend hin.
Er bot mir eine Zigarette an. „Bitte, Abelsen, – rauchbar, brauchbar, – brauchbarer als ich … Das Aluminiumetui ist wasserdicht, und die Dinger gehören eigentlich Doktor Raffaelo Guida. Das ist einer der Schufte. Elf sind es im ganzen … Alle aus Ecuador, teils farbig, teils weiß, die weißen sind die schlimmsten … Wenn Sie mich aber fragen, was die Herren vorhaben, muß ich lebhaft bedauern: Keinen Schimmer!! – Gutes natürlich nicht … Dazu ist schon allein Doktor Guida ein zu großer Lump, und die Behandlung Frau Lengitts und der Hieb über meinen Schädel beweisen den Rest, von den Dynamitscherzen mit dem Wrack ganz abgesehen … Wenn ich mich nicht scheinbar zusammen mit den Niggern der Besatzung auch betrunken hätte, als der Hexentanz des Vulkans drüben losging, würde Sennor Guida mir wohl eine Kugel offeriert haben, – so schmiß er mich als bewußtlos in die See, als letzten … Aber der Pacific und mein dicker Schädel benahmen sich anständig, ersterer spuckte mich samt dem Neuland hier wieder aus, und mein Schädel hielt … Die Beule oben belästigt mich nicht weiter.“
Ich war ehrlich entsetzt.
„Also – – die Besatzung wurde ertränkt, Buggy?“
„Richtiggehend ersäuft …! Schwache Nerven haben Sie ja nicht, Abelsen … Die Leute wären wohl ohnedies verloren gewesen, da sie wie Whiskyleichen nach einer Karnevalsfeier auf Deck umherlagen. Bemitleidenswerte Teufel alles in allem. Sie ahnten ebenso wenig wie ich, daß die elf Herren zum Schluß so jede Rücksicht fallen lassen würden.“
Wir hatten derweil wieder langsam den Rückweg nach der Grotte eingeschlagen.
Wir sprachen nicht mehr viel. Zunächst waren wir ja doch zur Untätigkeit verurteilt, denn Buggys Mitteilung, daß Doktor Guida samt Anhang tadellos bewaffnet seien, machte einen Vorstoß nach Santa Renata selbst auf noch so weiten Umwegen über das Neuland allzu gefährlich. Im übrigen wäre ein solches Unterfangen auch zwecklos gewesen. Was ich hatte wissen wollen, wußte ich jetzt. Die elf Leute gehörten zu Mackencie, und Mackencie wieder stand mit dem Plantagenbesitzer Lengitt in Verbindung, wir würden die Herrschaften mithin früher oder später bei Lengitt treffen.
Ich hatte Buggy meine Begegnung mit Tobi Weber sehr genau erzählen müssen. Er pflichtete mir vollkommen bei, daß Lengitt sich dort mit Mackencie getroffen, ihn mit Konservennahrung versehen und mit ihm wohl Pläne geschmiedet habe, deren Bedeutung wir nicht erraten konnten. Eins mußte hierbei auffallen: Weshalb hatte Mackencie mich eines Tages nicht abgeknallt?! Lengitt hatte ihm doch auch sicherlich Waffen geliefert. – Was Tobi Weber betraf, so war es sehr fraglich, ob der brave Kerl wirklich in alles eingeweiht sei. Ich zweifelte daran. Weber war eine biedere Haut, Lengitt mochte ihn grob angelogen und die Heimlichkeiten als harmlos hingestellt haben.
Das Bild des Neulandes um uns her hatte sich inzwischen nur insofern verändert, als die größeren Fische in dem breiten Kanal verschwunden waren.
Dann kletterten wir über die Felsenhügel, die Grotte lag ja auf der Wasserseite, und von einer Kuppe suchten wir nochmals die Landschaft nach verdächtigen Gestalten ab.
Gestalten?!
Buggy lachte harmlos. „Die Wildschweine drüben haben feine Nasen für leichte Beute! Sehen Sie nur …!! Das sind mindestens fünf Rudel zu dreißig Stück …! Das Schweinefleisch wird in nächster Zeit hier nach Fisch schmecken, fürchte ich …!“
Die Tiere tollten nicht etwa umher, sondern vertilgten in aller Ruhe die überreiche Ernte des Pacific, wühlten im Schlamme, – – das Neuland hatte seine ersten vierfüßigen Bewohner gefunden.
Nachher saßen wir in der Nähe der Grotte auf einer Felsenbank. Buggys Kopf war nach vorn gesunken, er schlief ganz fest.
Alle halbe Stunde entfernte ich mich und erklomm die Hügel, hielt Rundschau … Ich trug nun die Verantwortung für drei Geschöpfe, meinen Monte mit einbegriffen.
Langsam dämmerte der Morgen über der Wüste des Neulands herauf.
Ich lag oben auf der Kuppe. Das Gestein war längst trocken. Kurz bevor die Sonne aus dem Pacific auftauchte, erspähte ich mit dem Glase im Süden auf hoher See, aber unweit der Südgrenze des neuen Gebietes, einen schlanken grauen Motorkutter – mein eigenes Boot! Es steuerte Südsüdwest, also auf die James-Insel zu, von der nur ein dunkler Fleck zu erkennen war. – Nun wußte ich, weshalb Mackencie sich nicht an mich herangewagt hatte. Das Risiko war ihm zu groß gewesen, er hatte das Versteck meines Kutters gefunden, und das Boot war ihm wertvoller als alles andere. Er hatte auch richtig spekuliert. Er und seine Freunde waren unterwegs zu Chester Lengitt, dem Gatten der Frau, die jene Stunde verwünschte, als sie Chester Lengitt das Jawort gegeben.
Ich war allein hier oben … Die ersten Sonnenstrahlen trafen mich …
Und mit ihnen erschienen ungeheure Schwärme von Möwen, die nun ihrerseits Besitz ergriffen von dem überreich gedeckten Freitisch dieser beutebesäten Flächen von Neuland.
Das Neuland lebte …
Sogar bis in unsere Nähe waren die Wildschweine gelangt …
Schildkröten sonnten sich faul und gesättigt an den Ufern des breiten, endlosen Kanals, dessen Wände die Luft bereits zu hartem Ton verkrustet hatte … Wenn erst die Sonne ihre volle Kraft entfaltete, würde diese Kruste immer mehr erstarren, und wenn erst die Vögel den Pflanzensamen in ihrem Unrat an den feuchten Rändern der Tümpel, Seen und Kanäle in die fruchtbare Erdschicht betteten, würde die Äquatorhitze aus den Tiefseepflanzen Dünger und aus Samenkörnern in kurzem helles Grün hervorzaubern.
Es müßte schön sein, ging mir ein Gedanke durch den Kopf, diese Entstehung jungen Pflanzenwuchses mitzuerleben … Leider sorgten die Störenfriede der Natur, die Menschen, nur zu sehr zu eiligem Verscheuchen dieser Träumereien …
Ich erhob mich, reckte mich …
Mein Blick glitt ringsum …
Neuland, – mein Land!! – War das Anmaßung? Nein …!
Es war mein Land, und ich wollte es prüfen und durchsuchen bis in die fernsten Winkel, bis dorthin, wo dieser felsige Höhenzug sich emportürmte zu einem zerklüfteten Berge von mindestens tausend Metern Höhe – dort im Südwesten … –
Unter mir am Fuße der Hügel Montes kurzes Anschlagen …
Stimmen …
Frau Doris war erschienen.
Vor ihr stand John Buggy, den scharfgeschnittenen Kopf tief gesenkt wie ein Schulbube, – ein völlig veränderter Mensch …
Frau Lengitt hatte aus meinem Rucksack ihre Garderobe ergänzt. Meine erste Garnitur Tropenanzug war ihr um etliche Nummern zu groß, aber sie hatte diese Mängel oder diesen Überfluß an Stoff sehr geschickt beseitigt und es sogar fertig gebracht, dem geringen Maß von Eitelkeit, das niemals als Fehler anzusprechen ist, zu genügen und ihrer Gesamterscheinung etwas dem Auge Wohlgefälliges zu verleihen.
„… Sie haben stets mit Doktor Guida an Bord allerlei Heimlichkeiten gehabt“, kam es noch drohender über die zuckenden Lippen. „Sie waren schon vorher Guidas Spion, – – was gibt es an mir, das mich für eine solche Sippe zu einer Person von Bedeutung macht?! Sie haben nun wahrscheinlich Abelsen dieselben Märchen aufgetischt, mit denen Sie Ihr Bündnis mit den Elf vor mir zu verschleiern suchten! Reden Sie, – verantworten Sie sich!!“
Daß Doris hier das Opfer eines für Jonny sehr nachteiligen Irrtums geworden, stand für mich außer Zweifel.
Nur Jonnys seltsam gedrücktes Wesen, sein tief gesenkter Kopf und das nervöse Spiel seiner Finger mit der weißen Sportmütze setzten mich in Erstaunen.
Aber John Buggy war seiner Sache wohl sehr sicher, hatte eben ein völlig reines Gewissen, – nur so war es zu erklären, daß er plötzlich den Kopf hob, Frau Doris sein entwaffnend liebenswürdiges Lächeln zeigte und äußerst freundlich erwiderte:
„Wenn Damen doch nur nicht stets so vorschnell nach dem bloßen Schein urteilen wollten, Frau Lengitt! Spion, – – gut, zugegeben …! Ich war Sekretär des Herrn Ramon Estremadura in Guayaquil, wo Sie drei bösartige Mulattenrangen zu erziehen suchten … – Gut, ich war an Bord des „Ecuador“ wie ein Schnorrer und Hausierer allzeit um das Wohlergehen Doktor Guidas aufs untertänigste und eifrigste bemüht … Daß die Elf trotzdem mir einen Schraubenschlüssel mit aller Wucht darboten …“ – er tippte auf seine Beule – „spricht für die Schlauheit der edlen Sennores, – sie hatten mich durchschaut … – Lassen wir das Thema ruhen. Frauen sind schwer zu überzeugen, außerdem habe ich Hunger, werde ein Wildschwein schießen und für uns den Koch spielen … – Abelsen, leihen Sie mir Ihre Büchse. Ich weiß, daß die Elf samt Professor Mackencie unterwegs sind, auch ich sah das Boot, es gehörte wohl Ihnen, wir müssen eben ein neues bauen, und bis dahin dürfte auch Frau Lengitts Gatte von dem Haifischbiß hergestellt sein, den der lange Tobi Weber wohl kaum übermäßig zart pflegen wird, so wie ich die Dinge überschaue.“
Frau Doris’ Haltung und Gesichtsausdruck hatten sich sofort nach Jonnys freundlichen, harmlos hingesprochenen Worten, in denen doch für ein feineres Ohr ein sanfter Vorwurf mitschwang, gründlich geändert. Die reinen Linien des trotz aller Weichheit sehr energischen Profils waren eigentümlich starr geworden, – wie bei Menschen, die auf ferne Klänge lauschen, die ihnen wichtig sind und die sie doch nicht unterscheiden können.
Es war mein Fehler, daß ich John Buggy nicht zur Verschwiegenheit über Tobias Weber und den Haifischbiß angehalten hatte, und diese Versäumnis rächte sich nun schwer.
Die Veränderung, die jetzt in Doris Lengitts Zügen sich ausprägte, war anderer Art, war bedenklicher, grausamer fast.
Sie erbleichte, ihr Kopf wandte sich mir zu, die blassen Lippen öffneten sich, die Augen verschleierten sich. Schreck und Mißtrauen versteinerten ihr Antlitz, und eigentümlich hart und farblos sagte sie:
„Weshalb verschwiegen Sie mir das, Mister Abelsen?!“
„Weil ich Ihren Gatten beschuldigen muß, mit Mackencie in Verbindung zu stehen, und weil der Professor mein Todfeind ist“, erwiderte ich frank und frei. „Was wußte ich denn bisher von Ihnen, Frau Doris? – Wenig! Über alles Wichtige hüllten Sie sich in Schweigen, redeten von Pflichten, die ich natürlich anerkenne … Sie durften Ihren Mann nicht bloßstellen. – Das ist die Wahrheit, und Sie haben keinen Anlaß, mir dies nachzutragen. Ich hätte Sie beschützt, so lange Sie meinen Schutz wünschten …“
Sie nickte unmerklich, aber die Starrheit ihrer Züge löste sich nicht. Ihr Blick wanderte an mir vorüber in die Ferne, wo nun die grünen Steppen und Wälder Santa Renatas und die dunklen Steilküsten im hellen Sonnenschein einen so wirkungsvollen Hintergrund für das farblose Neuland bildeten …
„Mein Mann ist also sehr krank?!“
„Ich nehme es an“, erklärte ich etwas beklommen. „Tobi Weber war nicht gerade sehr gesprächig … Aber ein Haifischbiß mit der bei ungenügender Behandlung fast unvermeidlichen Blutvergiftung dürfte …“
Sie unterbrach mich mit derselben kühlen Bestimmtheit.
„Dann ist mir mein Weg vorgezeichnet … Ich danke Ihnen beiden, meine Herren. Ich bedarf Ihrer nicht mehr. Ich hoffe, in den zerfetzten Wrackresten noch meine Koffer zu finden und werde Ihren Anzug, Mr. Abelsen, dort niederlegen. Ich bitte Sie, mich nicht beeinflussen zu wollen. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe … Seien Sie überzeugt, ich finde meinen Weg schon allein … Ich habe mich vom siebzehnten Jahre an als Waise ohne fremde Hilfe durchgeschlagen und durchgesetzt, und heute mit zweiundzwanzig glaube ich ein reifer Mensch zu sein. – Jedes Wort, mich hier zurückhalten zu wollen, wäre überflüssig. Leben Sie wohl, – – es muß sein!“
Ich war nicht minder bestürzt wie John Buggy, dessen Gesicht geradezu finstere Auflehnung gegen die felsenharten Entschlüsse dieser unbegreiflichen Frau verriet.
Sein Blick suchte den meinen, – – es war zu spät, Doris Lengitt schritt bereits elastisch und eilig davon, Monte blieb noch einige Zeit wie ein treuer Wächter neben ihr, dann schickte sie ihn zurück, und John und ich standen da und spürten nur unsere Machtlosigkeit gegenüber dieser unerwarteten Wendung der Dinge, die uns ebenso unsinnig wie unfaßbar erschien.
Jetzt bei Tageslicht waren die Felsen drüben, zwischen denen die Wracktrümmer lagen, genau mit dem Glase zu erkennen. Wir sahen Frau Lengitt zwischen den zerrissenen Planken hier und da auftauchen, dann verschwand sie für lange Minuten, erschien von neuem in einem gelblichen Sportanzug, der nur aus ihrem Koffer stammen konnte, und mit breitem Panama und umgeschnalltem Pistolengurt und wandte sich gen Nordost, wo Jonny seine drei Steinpyramiden erbaut hatte.
In der klaren Luft war Doris Lengitt in jeder Einzelheit zu … bewundern, – das ist der richtige Ausdruck.
Ihre Bewegungen, obwohl von Eile angepeitscht, blieben harmonisch und abgerundet, sie schenkte der Umgebung schärfste Aufmerksamkeit, es war nicht schwer herauszufinden, was sie suchte: Die Fährten der Leute mit der Signallaterne.
Sie bemerkte den ersten Steinhaufen, stand still, schaute nach Westen, – erblickte die beiden anderen und bückte sich …
Visierte über die drei Wegmarken nach Santa Renata hinüber und schritt eiliger als bisher in schnurgerader Linie auf die Küste zu.
Seit ihrem Abschied von uns war nun gut eine halbe Stunde verstrichen. John Buggy hatte sich jeglicher Äußerung enthalten, ich ebenso, wir waren stille Zuschauer dieser ersten Schritte einer Frau auf einem Pfade, der sie dem zweifellos ungeliebten Gatten zuführen sollte.
Ich wartete auf ein bestimmtes Ereignis, und die nächste halbe Stunde gab mir recht: Dort, wo eine Art Binnensee die zerklüftete Steilküste umspülte, tauchte Frau Doris wieder auf, schob ein leichtes offenes Boot ins Wasser und schwang sich in den gebrechlichen Nachen.
Der Wind kam von der Insel her, von Nordost. Er trug uns die mehrfachen Vergaserexplosionen zu, die ein Außenbordmotor erzeugte, – das Boot schoß davon, wurde selbst für das bewaffnete Auge nur noch ein Punkt, – schließlich war nichts mehr zu sehen. John erhob sich langsam und meinte:
„Ich habe Hunger …“
Ich stand vor ihm …
„Hunger – – Sie?!“
Sein Gesicht, zu ehrlich für die Mimik eines Diplomaten, senkte sich.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter …
„Jonny, – – seit wann lieben Sie diese Frau?“
Er brauste nicht auf. Er empfand mein Mitgefühl nur als Ausdruck der Kameradschaft.
„Man muß sie lieben“, erwiderte er ganz schlicht. „Das heißt: Alle die müssen sie lieben, die so rein und groß sind wie Doris, womit ich mir keineswegs selbst ein erstklassiges Zeugnis ausstellen will. – In Guayaquil begegnete ich ihr … Wer war ich?! Ein Privatsekretär eines reichen farbigen Emporkömmlings, den ich verachtete und der mich haßte … Und sie war dort Erzieherin, ausgesetzt der Lüsternheit dieses Menschen, abhängig von den Launen seines Weibes und seiner drei Rangen … Arbeitslose Europäer trieben sich dort in Unmenge herum … Sennor Estremadura zahlte mir ein Gehalt, das geringer war als das seines Niggerchauffeurs, – das war seine Rache, Abelsen, die teuflische Ausgeburt des niedrigsten Hasses dieser Halbnigger gegen uns Angelsachsen, uns Weiße. Dann tauchte Doktor Guida auf, Rechtsanwalt, Kreole mit den Manieren eines Filmgrafen, reich, große politische Nummer … Doris Schmidt, so hieß sie damals, witterte in Guida den noch ärgeren Feind, wollte frei werden und verlobte sich mit Chester Lengitt, einer Sorte von Kavalier, die unsereinen die Kehle trocken macht vor Ekel: Renegat, einst Engländer, nun eifriger Verfechter der Gleichberechtigung aller Hautschattierungen, – – sie entfloh zwei Lüstlingen und geriet einem kaltherzigen Tiger in die Pranken. An dem Tage, als ihre Verlobung bekannt gegeben wurde, durfte mein und ihr Brotherr gegen mich Anzeige erstatten … Ich bin ein leidlicher Boxer, Abelsen, und ich habe drei Monate unter Farbigen in einer Zelle gesessen, es hat mir nicht leid getan, denn ich wußte: Mein Chef Estremadura und der Doktor Guida waren nur die Treiber gewesen, die das Wild diesem Lengitt in die Klauen jagten … – Als ich frei gelassen wurde, hatte mein Chef ein neues Gebiß mit sehr viel Gold, Lengitt war längst auf der James-Insel, seine junge Frau wohnte in einem Hotel … – Sie sehen, – ich war Spion … Im Kriege und in der Liebe ist fast alles erlaubt … Ich hungerte, spionierte, wurde Steward auf dem „Ecuador“, – – Zweck der Übung?! Abelsen, ich behaupte, daß diese Schufte dort auf der James-Insel auf der neuen Plantage Dinge treiben, die das Licht scheuen! Außerdem: Weshalb all diese Intrigen gegen Doris Schmidt?! – – Nun, wir werden es herausbekommen, – ich will mich nicht rühmen, aber – – mit mir können Sie die Hölle stürmen, denn in mir brennt jetzt ein Feuer, das zu allem befähigt: Der Fanatismus, die Wahrheit aufzudecken! – In dem Punkte, glaube ich, sind wir verwandte Seelen, Abelsen …“
Meine Hand glitt von seiner Schulter, glitt seinen Arm entlang, unsere Hände fanden sich, – es war unser erster Händedruck, und es war der geeignete Augenblick für eine derbe, kraftvolle Verbrüderung …
In diesem einfachen Austausch einer sonst so nichtssagenden Art von Begrüßung lag hier die schrankenlose Offenheit des Kampfgeistes zweier Männer, die das kecke Handeln vor das billige Wortgeklingel stellen.
Eine Stunde darauf flackerte vor der Grotte ein Feuer, Jonny drehte den Bratspieß, Monte kaute an dem Vorderschinken des jungen Wildschweines, und ich besichtigte die Trümmer des Wracks des Postdampfers und suchte zusammen, was wir brauchen konnten.
Ich hatte dabei das dunkle Vorgefühl, daß dieser Abseitsweg sich so ganz anders gestalten würde, als ich es bisher gewöhnt.
Aber die Freude an dem, was werden würde, rauschte mir doch wieder als wildes Wikingerlied[9] durch das Blut, und mit dem geschulten Blick des einstigen Fachmannes schätzte ich die Menge der Balken und Planken und Schrauben und Nägel …
Neuland würde Bootswerft werden …
Es sollte ein Boot werden, auf dem zwei Haie gen Osten fahren wollten …
– Chester Lengitt, es wäre dir besser, du stürbest an dem Haifischbiß …
Buggys Augen sind schlimmer, Chester Lengitt!! – –
Da rief mich Jonny zum fertigen Braten, und neben ihm trottete der bereits satte Monte …
Es wurde unsere erste Mahlzeit auf Neuland.
Die Feierstunde war vorüber, wir gingen wieder an die Arbeit, und da das Fortschaffen der Wracktrümmer bis zum Kanal, neben dem das Boot entstehen sollte, äußerst mühsam war, erklärte ich Buggy, ich würde von Santa Renata ein paar bereits halb gezähmte Maultiere und Pferde herüberholen, die ich dort in eine Dornenfenz eingesperrt hatte.
Ich pfiff Monte, und wir wanderten eilends der Steilküste zu, fanden auch sehr bald Frau Lengitts Fährte, gelangten an die Bucht, von der aus Mackencie seinen Verbündeten die Antwortsignale gegeben, entdeckten hier die Spuren der elf Verbrecher und auch Mackencies Stiefeleindrücke, die sofort herauszuerkennen waren, er hatte sehr lange schmale Füße und ging stark einwärts.
Ich stutzte, als ich an derselben Stelle nun auch noch die klare Fährte von Frauenschuhen bemerkte, die nicht Frau Doris gehörten. Ich konnte auch ebenso deutlich Frau Lengitts Spuren von denen der neu aufgetauchten weiblichen Person unterscheiden, und wenn ich genügend Zeit zur Verfügung gehabt hätte, würde ich den Verlauf der einzelnen Fährten wohl genauer verfolgt haben, zumal Montes ganzes Benehmen darauf hindeutete, daß gerade diese zweite Frau hier irgend eine sehr bedenkliche Rolle gespielt hätte, – Monte war von der Stelle nicht fortzubekommen, knurrte, lief suchend hin und her und begleitete mich schließlich nur mit allen Zeichen widerwilligen Gehorsams.
Ich eilte nun auf kürzestem Wege durch mir wohlvertrautes Gelände zu einer Dornenfenz, die mitten in einer buschreichen Steppe lag.
Dicht dabei hatte ich mir eine Unterkunftshütte errichtet, die ich zuweilen nachts benutzt hatte, wenn mir der Heimweg zu meinem gläsernen Hause zu weit war.
Gläsernes Haus …
Auch das war nur noch Vergangenheit, – es lag in Scherben, es war der „Goldblock“ gewesen, dem Mackencie nachgejagt hatte.
Ich betrat die Fenz, indem ich das Gatter aus geflochtenen Ästen öffnete. Scherzend hatte ich sie oft meinen Zirkus genannt, und Monte hatte gegen mein vierbeiniges Zirkusmaterial eine begründete Abneigung, da er verschiedentlich von meinen wilden Zöglingen Huftritte erhalten, die ihn auch jetzt bewogen, in der Hütte in den Schatten zu kriechen, obwohl er dabei höchst merkwürdige Töne ausstieß und sogar versucht hatte, mich von dem Gatter wegzulocken.
Wäre der Boden hier nicht von Hufen so stark zertreten gewesen, würde ich wohl selbst bei meiner durch übertriebene Eile verschuldeten Nachlässigkeit so manches wahrgenommen haben, das mir die späteren grauenvollen Minuten nicht erspart, aber immerhin abgekürzt hätte.
Über dem Holzgatter der Fenz hingen noch meine Lassos, meine beiden Sättel, das ebenfalls selbstgefertigte Zaumzeug und …
Sättel?!
Wo war denn der zweite?!
Ich sah nur einen, den schlechteren …
Sollte Mackencie etwa das Ergebnis meiner Sattlerkünste als Andenken annektiert haben?!
Mein Blick überflog die Fenz, durch die ein kleiner Bach floß … Die acht Tiere, fünf Pferde, drei Maultiere standen eng zusammengedrängt in der äußersten westlichen Ecke unter den überhängenden Felsen.
Die Entfernung bis dorthin betrug mindestens tausend Meter … Ich hatte natürliche Dornenverhaue lediglich durch Ausfüllen der Lücken für die Fenz benutzt, ich wollte den Tieren Bewegungsfreiheit gönnen.
Mein Mißtrauen war erwacht. Hier stimmte irgend etwas nicht. Vorsichtig war ich ohnehin gewesen, hatte die Winchesterbüchse nie übergehängt.
Jetzt entsicherte ich sie …
Dann pfiff ich. – Unter den Tieren war eine braune junge Stute, die am schnellsten sich an mich gewöhnt hatte. Bisher war sie stets herbeigekommen …
Ich pfiff nochmals …
Die Tiere drüben tänzelten, warfen die Köpfe hin und her, die Stute trabte ein paar Schritt, verhielt, machte kehrt.
Blitzartig wechselt der fahrende Gesell, der den Wind aller Herren Länder atmete, sein inneres Gesicht.
War bisher das zuletzt Geschehene nur sanfte Brise gewesen, die die Schwingen der Seele mäßig straffte: Hier witterte ich Gefahr!
„Such, Monte …“, – und ich wies ihm die Richtung auf die fremden Tiere.
Ich selbst änderte meinen Standort, kroch in ein Gestrüpp, das mir volle Übersicht über die Koppel gestattete.
Monte spürte gehorsam, Nase am Boden, im Zickzack auf sein Ziel los, und verriet lediglich jene Art Pflichtgefühl, die jeder persönlichen Anteilnahme entbehrt.
Ich beobachtete ihn … Zuweilen verschwand er, tauchte wieder auf …
Jetzt – genau wie mit seinem Herrn soeben – ging jener blitzartige Wechsel mit ihm vor, der meinen Argwohn bestätigte.
Er duckte sich zusammen, stemmte die Vorderbeine schräg nach vorn, die Hinterhand sank, der Schweif ebenso, aber das Kalbfell auf dem Rücken wurde zur starren Bürste.
Minutenlang harrte er so am hufzerstampften Boden, dann hob er die Nase, die Lefzen tropften, er windete, kroch vorwärts, verhielt wieder und verschwand in einer Senkung neben dem Silberbande des Baches.
Wieder verstrichen Minuten.
Die Sonne stand senkrecht über mir. Die Fenz schmorte in der Sonne, und sogar die Eidechsen hatten den Schatten aufgesucht.
Alles blieb still …
Die Pferde und Maultiere drüben hatten sich beruhigt … Standen mit hängenden Köpfen … Und doch war in ihrem Benehmen etwas Ungewöhnliches, etwas Verdacht Erweckendes … Ihre Ruhe glich nun einer gewissen Erschöpfung, als hätte irgend jemand sie stundenlang durch die Fenz gehetzt.
Wer?! Raubtiere gab es hier nicht …
Die einzigen Bestien blieben die Menschen: Mackencie und seine Sippe!
Ein seltsames Empfinden preßte mir die gedörrte Kehle zusammen …
Wo blieb Monte?!
Und kaum gedacht, jagte er herbei, – – nein, jagte nicht, rast, rennt in Sprüngen, deren Hast die Gestalt sich dehnen, zusammenschnellen lassen …
Montes Maul steht offen, die Zunge hängt heraus …
Er jagt zum Gatter …
Mein leiser Pfiff verklingt, erstickt in seinem Keuchen …
Was bedeutet das?!
Nichts Gutes!
Was kann es sein, was Monte in solcher Panik fliehen ließ?!
Und die Pferde und Maultiere drüben im Schatten der Felsen? Weshalb drängen sie sich enger aneinander, weshalb fliegen ihre Köpfe wieder scheu hin und her?!
Monte durfte[10] fliehen …
Ich muß Gewißheit haben, ich greife in den Gürtel, nehme das blanke Messer zwischen die Zähne, knöpfe den Überschlag des Pistolenfutterals auf und krieche vorwärts …
Meine Sinne sind gespannt bis zum äußersten, Auge, Ohr, Nase, – – alles fühlt sich bereit zu blitzschneller Zusammenarbeit …
Nun liegt die Anhöhe hinter mir, nun müßte ich sehen, müßte, – und sehe nur das von Hufen zertrampelte Bachufer, das hier einen kleinen Weiher bildet, daneben eines jener halbkugelförmigen, undurchdringlichen Dickichte, die aus Kakteen und Dornen bestehen und für gewisse Teile der Galapagos-Inseln geradezu kennzeichnend sind … Sie gleichen etwa verlassenen Negerhütten, wie einige Massai-Stämme in Südafrika sie aus Erde, Kuhdünger und Steinen früher benutzten. Aber diese gewaltigen Halbkugeln, in denen die Dornen die Kakteen bekämpfen, bis die Innenteile absterben und nur die jungen Triebe außen eine meterdicke Schicht bilden, flammen in allen Farben feuriger Blüten von kleinen Schmarotzergewächsen, zumeist in hellem Rot, Blau, Indigo und Weiß … Sie gleichen einem von Gärtnerhand sauber gepflegten, sauber gestutzten, hochgetürmtem Blumenbeet … Wehe dem, der nur die Hand hineinsteckt! Diese Kakteengewächse sind gefährlicher als die berüchtigten Stecknadelgewächse Nordmexikos, die jeden Gaul lahm machen, eiternde Geschwüre erzeugen und weite Landstrecken wie unter einem Bannfluch halten. – Und erst die Dornen …! Die Reichhaltigkeit jener Pflanzenart, die wir Dornen nennen, ist in den Tropen unerschöpflich. Schwertdornen sind hier die Feinde der Kakteen, Schwertdornen mit fingerlangen Stacheln, gegen die Gußstahl beinahe harmlos ist … Gußstahl bricht, – die Schwertdornen haben sechs Widerhaken …
… Und neben diesem bunten, duftenden Hügel lagen mein Sattel, mein Zaumzeug, – meine allererste Sattlerarbeit.
Das sah ich …
War das denn alles, – – wovor flüchtete Monte?!
Ich hob mich etwas aus dem Grase, kniff die Augen klein …
Da war noch etwas …
Unmittelbar neben der bunten Halbkugel, deren Blüten jetzt halb geschlossen waren und nicht so betäubend dufteten wie kurz nach Sonnenuntergang, lag etwas wie ein Schiffstau …
Ein fast schenkeldickes Schiffstau … Bunt bepinselt, – nicht allzu bunt, – Mimikry, – – und wie ein leichter Schlag ging es mir durch die Nerven, ein Frösteln rieselte mir über den Rücken.
Ich wußte jetzt:
Das unerhört dicke Tau war eine Anakonda, eine jener Riesenschlangen, die mir nicht fremd …
Wasserschlangen, in Sümpfen, Flüssen, Seen hausend, oft genug sogar weit ab vom Lande im Meere beobachtet, – Geschöpfe Mittelamerikas und Südamerikas, – oft beschrieben, oft gefangen, in jedem zoologischen Garten zu sehen, – – nur: Niemand fing jemals von den bisher festgestellten sechs Arten der Anakonda die sogenannte Königsanakonda, die in dem Götterkult des uralten Inkareiches eine bedeutsame Rolle spielte. – Gelehrte haben angezweifelt, daß die Königsanakonda bis zwanzig Meter lang wird. In dem sonst wahrlich nicht erstklassigen Naturmuseum von Quito, der Bergstadt Ecuadors, hängt die Haut einer Königsanakonda, leider schlecht erhalten. John Buggy hat sie nachgemessen: Achtzehn Meter! Er erzählte es mir – später …
Die Anakonda da vor mir mußte vor Tagen eine reiche Mahlzeit gehalten haben. Sie stank … – Auch das ist Tatsache: Freilebende Riesenschlangen stinken nach der Mahlzeit – Verwesungsgeruch …! – Ein zweites ist Tatsache: Die Anakonda ist die flinkste der Schlangen – stets! Selbst mit prall gefülltem Bauch springt sie den Feind an … – Man hat dies sogar von der europäischen Kreuzotter bestritten – zu Unrecht, denn die Kreuzotter schnellt sich vorwärts wie ein Pfeil, der hinten etwas gekrümmt ist.
Das Untier dort lag still. Verdaute … Vielleicht ein Wildschwein … Und stank …
Die Frage, wie dieses Riesenvieh hierher geraten sein könnte, beschäftigte mich nicht weiter. So gern ich jedes Geschöpf der Natur schone: Hier mußte die Kugel ein entscheidendes Wörtlein sprechen!
Schlangen von dieser Art gehören nicht in eine friedliche Fenz!
Doch mit einer gewöhnlichen Kugel ist gegen eine solche Anakonda nicht viel auszurichten.
Ich öffnete leise das Magazin der Büchse, ließ mir die Patronen in die Hand gleiten und tastete nach einem rauhen Stein.
Ich wollte den Kopf, die Spitze des Mantelgeschosses abfeilen: Dum-Dum-Geschoß, berüchtigt aus dem Burenkrieg.
Jeder Jäger weiß, daß die Treffsicherheit einer Büchse durch das Wegfeilen der Geschoßspitze leidet. Sobald die Kugel den Lauf verläßt, zerfetzt der ungeheure Luftdruck den Bleikern und den Mantel, deshalb auch weicht ein derartig deformiertes Geschoß sehr leicht seitwärts ab, – es pendelt nicht nur, sondern überschlägt sich. Freilich ist die Schußwirkung etwa die einer Sprengkugel, – – falls man das Ziel trifft.
Vierzig Meter vor einer Anakonda eine Kugelspitze abfeilen, bleibt ein Risiko. Ich nahm es auf mich, ich hatte Eile, ich ließ kein Auge von dem Untier, und ich hatte für alle Fälle die Büchse wieder schußfertig gemacht.
Der Stein war sehr rauh, meine Schleifarbeit erzeugte Geräusche, die die Anakonda hören mußte.
Ich rieb mit aller Kraft … aber schräg, – das Geschoß sollte sich in der Hülse nicht lockern.
Plötzlich fuhr neben dem bunten Hügel ein Teil des Oberleibes meiner Feindin empor, – – so hoch, daß der flache Kopf unter dem Ast einer Kugelakazie sanft hin und her schwang.
Ich ließ die Patrone fallen … Die Anakonda hatte mich bemerkt … Die knopfgroßen Augen trafen meinen Blick, und erst da gewahrte ich etwas, was mich erbleichen machte.
Auf dem Ast der Akazie hing zwischen Lianen der gelbe Hut Frau Doris Lengitts mit dem weißen Seidenband – derselbe Hut, den sie getragen, als sie Jonny und mich so kurzer Hand verließ! – Wie kam der Hut dort auf den Baum …?! – Es war derselbe Hut … Der Rand hatte einen Riß.
Mein Herz hämmerte, ich fühlte einen ungeheuren Druck in den Schläfen, und trotzdem arbeitete mein Hirn mit erstaunlicher Genauigkeit … Ich richtete mich völlig auf, um das bunte Gestrüpp leichter übersehen zu können, dessen Scheitelpunkt und Mitte zumeist kahl und hohl ist – – ausgefault, abgestorben …
Die Anakonda pendelte …
Dann stieß sie zu …
Wie ein Rammbock flogen Kopf und Oberleib in das Gestrüpp – nein, dicht über das Gestrüpp hinweg, und im gleichen Augenblick erschien aus der Höhlung des Stacheldickichts eine Hand und ein Büschel Dornenzweige …
Die Anakonda schnellte zurück …
Sie fürchtete die Dornen …
Sie pendelte wieder …
Meine Haut bedeckte sich mit kaltem, klebrigem Schweiß, das Herz stieß in jagenden Schlägen, und die trockene Kehle, die halb gelähmte Zunge brachten nur einen heiseren Schrei zustande …
Da hörte das Pendeln auf …
Für Sekunden, und diese Sekunden genügten mir …
Die Büchse flog empor, – – der Schuß knallte, – – der zweite folgte, und dann stürmte ich zurück, denn die Anakonda sprang, ein Riesentau schnellte auf mich zu, ich stolperte, rollte in ein Gebüsch, hielt das Messer in der Hand, hatte die Büchse fallen lassen, hörte jenseits der Bodenwelle das Aufklatschen des Schlangenleibes, das Aufspritzen von Wasser, sah auch zuweilen den Oberkörper des Untieres in blitzartigen Zuckungen … Todeskampf …!!
Drüben …
Und ich selbst?! – Ich tastete nach der Feldflasche, trank …
Dann stand urplötzlich ein in Lumpen gehüllter brauner Riese neben mir, – noch nie sah ich einen südamerikanischen Indianer von solcher Größe, solchem Ebenmaß, solchen Muskelwülsten und mit einem so stillen, melancholischem Gesicht und mit so in sich gekehrtem Blick der schwarzen, großen Augen.
Im ersten Moment erschrak[11] ich wohl, aber die friedliche Handbewegung dieses Herkules, der in der Rechten nur ein langes breites Buschmesser trug, zerstreute jeden Argwohn.
„Gute Schüsse“, sagte der Riese anerkennend. „… Gascuna kamen zu spät, das da meine Schlange sein, Mister, Königsanakonda … Ich sein Zapara von Amazonaswälder, ich heißen Gascuna, das sein so viel wie sehr große Mann … Und ich sein Heizer auf Dampfer und Freund von Mister Buggy. Einzige Freund, wir zusammen in Gefängnis … Nur Nigger da, – – ich Zapara, von großem Inkavolk – – früher …!“
Er tippte auf seinen Brustkasten, über den schräg eine zackige daumendicke Wundnarbe hinweglief.
Über der Narbe war eine zusammengeringelte Schlange in sehr schlechter, knallroter Tätowierung zu sehen.
„Da, – dies sein Königsanakonda …“, erklärte er etwas überflüssigerweise.
Die Tätowierung beobachtete ich kaum, mein Blick hing an dem seltsamen Ring, den der Zapara[12] am linken kleinen Finger trug.
Es war ein aus schwarzen Pferdehaaren geflochtener Ring mit einem grünen, ungeschliffenen Stein in der Mitte, der die Form eines kauernden Menschen hatte.
Gascuna sprach schon weiter, immer in demselben monotonen, durch nichts aufzufrischenden Tonfall.
„Ich trinken kein Brandy, ich mich retten von Dampfer, ich springen Buggy nach, dann liegen auf Berg ohne Sinne wie tot … Erwachen ich da, gehen zu Buggy, kommen schlechte Männer, schießen, ich fliehen, Buggy nicht helfen können, – schlechte Männer von Dampfer, sein zurück mit Motorboot, – – sehr schlau, sehr feige, viele Büchsen … viele Kugeln … Waren da auch Sennor Guida, – – das selbst Schlange, sehr schlechte Schlange … Nun beeilen …“
Beeilen?!
Ich habe gute Nerven …
Dieser braune Riese in seinem zerfetzten Heizeranzug wirkte lähmend.
Seine ungeheure Gleichgültigkeit, mit der er mich mit der Überfülle seiner Schreckensbotschaften überschüttet hatte, war wie ein Sprung aus einem Backofen in das Eisloch eines eisigen Flusses.
Aber hinter dieser steinernen Ruhe und unerklärlichen Melancholie, die den Zapara wie ein undurchsichtiger Mantel umgaben, mußten die urwüchsige Kraft und das Selbstbewußtsein der wahrhaft Starken und die abgeklärte Besonnenheit eines die ererbten Instinkte klug beherrschenden Kopfes sich verbergen.
Beeilen?!
… Er schritt davon …
Ein brauner Held in Lumpen, ein brauner Riese mit federnden Gelenken, gewandten Bewegungen und unnachahmlicher Zielsicherheit des Wollens …
Er lief nicht …
Er verschwand über der Bodenwelle wie ein Mann, der die in Todeszuckungen hin und her schnellende Anakonda nicht mehr achtet als einen harmlosen Wurm.
Wie magnetisch zog es mich hinter ihm drein, ich wurde Zeuge, wie der Zapara und die Riesenschlange für Sekunden zu einem wilden Knäuel verschmolzen, wie Mensch und Reptil hin und her wirbelten und dann das Buschmesser aufblitzte und der Schlangenkopf zur Seite flog und Gascuna um den Rumpf einen Riemen schlang und das Untier zur Akazie schleppte, das immer noch in wütenden Windungen umherfuhr – wie ein Aal, der noch stundenlang nach seinem Tode zuckt und Lebenserscheinungen vortäuscht.
Ich kam zu mir … Ich hatte so manches tolle Stückchen von blindem Wagemut miterlebt, selbst erlebt, – dieser Gascuna war mir als Mannestyp neu …
Die Tat verdrängte der Gedanken Überfülle, und der, der nun die Akazie erkletterte, hatte abermals etwas hinzugelernt: Dieses Übermaß von Mitempfinden hatte nicht dem in Todesangst befindlichen Menschen, sondern mehr dem hilflosen Weibe gegolten, dessen rührende Schönheit die Sinne mit umnebelt hatte!
Gascuna beschäftigte sich mit dem Reptil.
Ich selbst sah nun den Kopf Frau Lengitts über der Rundung der bunten Blütenfülle auftauchen, ihr Gesicht war etwas bleich, aber der Zug von harter Entschlossenheit trat noch klarer hervor, und ohne viele Worte warf ich ihr von dem Akazienast ein Lasso zu und hißte sie empor.
Sie war fast unverletzt, die wenigen Dornen, die in ihren Händen steckten, waren nicht allzu tief eingedrungen, und ich entfernte sie ihr, während der Zapara das Reptil abhäutete, indem er die Haut als Ganzes von dem am Baume festgeschnürten Kadaver streifte und dabei langsam rückwärtsschritt, – – alle Muskeln gespannt, trotzdem immer mit demselben ernsten, traurig-gleichgültigen Gesicht …
Frau Doris trank aus meiner Feldflasche …
Sie hatte sich nur kurz bedankt, sie schwieg, in ihren Augen schimmerte ein eigentümlicher toter Glanz, ihre Blicke wichen mir aus, ich wagte nichts zu fragen, sie lehnte an der Akazie, und sie hielt ihren Hut in den Händen und zerknüllte ihn zerstreut.
Ich konnte nicht ahnen, was in ihr vorging … Flüchtig dachte ich wohl an die Sennorita Guida. Nur dieses Weib konnte uns getäuscht haben, nicht Doris Lengitt war in dem Motorboot davongefahren, sondern diese Kreolin[13] …
Der Zapara wickelte die Schlangenhaut zusammen und hüllte den Schlangenkopf mit ein.
„Wir gehen nun … schnell“, erklärte er gelassen. „Versteck suchen, Mister Abelsen … gutes Versteck … Ich tragen Frau Lengitt …“
Seine dunklen Augen ruhten auf ihrer zierlichen Gestalt … „Buggy mein Freund, Frau Lengitt auch … So sein …!“
Doris lächelte schwach …
„Guter Gascuna, auch dich habe ich falsch eingeschätzt …“
Der Zapara schwang sie sich wie ein Kind auf die Schulter, und ich setzte mich in Trab. Ich wußte schon, wo wir ein sicheres Versteck finden würden, – wir verließen die Fenz, das Gatter blieb offen, ich pfiff mehrmals nach Monte, kein Monte erschien, ich nahm die noch vorhandenen Lassos mit, wir mieden weiche Bodenstellen, suchten Geröllhalden auf, hielten uns im Buschwerk, – – bisher war nichts von den Feinden zu spüren gewesen.
Vor uns nun steil ansteigendes Buschland, wir näherten uns den nordwestlichen Randbergen der Küste, hier hatte ich einst ein sonderbares Jagdabenteuer erlebt, – dort droben lag die rettende Schlucht, – dreihundert Meter noch, und dann noch eine Atempause, – dann waren wir in Sicherheit …
Wären wir in Sicherheit gewesen …!
Das zischende Fauchen einer Kugel, die ganz dicht vor meiner Nasenspitze dahinsummte, – – ein ganzer Kugelregen, ein wütendes Geschieße, brüllende Stimmen halb hinter uns, – – der Zapara duckte sich, riß Frau Lengitt in die Arme, huschte in die baumartigen Opuntien, folgte mir auf dem Fuße, – – neue Bleibienen surrten durch Blätter und Zweige, der gelbe Blütenstaub von üppigen Ranken schwebte in ganzen Wolken empor, bepuderte unsere Gesichter, – – Felslöcher zwangen uns zu Umwegen, es gab keine Atempause, aus den dreihundert Metern Anstieg wurde das Doppelte, aber das heisere Gebell der Repetierbüchsen verstummte, und lautlos wanden wir uns durch Unkraut, Gestrüpp, Steine, über glatte Lavaflächen, über schleimige Moospolster zur Höhe empor …
Standen nun am Rande der Schlucht, geduckt, atemlos, keuchend, – – nur der Zapara schien statt Lungen Lederblasebälge in der mächtigen Brust zu haben, – er schaute hinab in die Tiefe der vielleicht hundert Meter breiten Kluft, – Nadelbäume und Buchen wuchsen ringsum, aber die Hauptmasse des Baumbestandes war vor Jahren infolge eines Erdbebens samt dem fruchtbaren, verwitterten Erdreich hinabgerutscht, hatte sich in der Mitte der Steilwände verankert, die Bäume lagen horizontal, starben ab, und über ihnen hatten sich Lianen, Orchideen, harmlose Schlingpflanzen und wie stets auch Schmarotzergewächse angesiedelt und dieses Zwischenstockwerk vollkommen überwuchert, das nun fünfzehn Meter unter dem Schluchtrand einen elastischen Boden darstellte, – der eigentliche Boden des Abgrundes blieb unsichtbar.
Für den Uneingeweihten mußte diese Zwischendecke den Grund der steilen Kluft darstellen, auch ich hatte dies früher angenommen, und erst eine Wildschweinjagd, bei der ein angeschweißter Keiler in wildem Dahinstürmen über den Schluchtrand hinausschoß und dann durch die trügerische Decke hindurchbrach und verschwand und unten irgendwo hart aufschlug, hatte mir den wahren Charakter dieser in der Tiefe so bunt leuchtenden Blumenbeete verraten. Es gab hier noch mehr Schluchten dieser Art, – die hier war die einzig vollkommen überwucherte.
Zu langen Erklärungen war keine Zeit.
Die Zurufe der Verfolger, die uns aus den Augen verloren hatten, mahnten zur Eile.
Ich schnitt drei Äste ab, jeder etwa drei Meter lang, gab Frau Lengitt und Gascuna je einen Lasso und zeigte ihnen, wie sie sich verhalten sollten.
Ich nahm Anlauf, hielt den Ast an den Leib geklemmt, flog ins Leere, sauste mit den Füßen in das Blumenbeet und in einen völlig morschen, unsichtbaren Baumstamm hinein und wäre glatt durch die Zwischendecke in die Tiefe gefahren, wenn der Ast mich nicht gehalten hätte, um dessen Mitte das eine Lassoende verknotet war.
Ich hing fest, blickte empor, Frau Doris zauderte, dann sprang auch sie, landete fünf Meter rechts von mir und brach genau wie ich durch die Decke durch und hing nur mit dem Oberkörper noch im Sonnenlicht.
„Am Lasso hinabklettern!“, rief ich ihr zu.
Der Zapara folgte uns, – ich rutschte tiefer, der Ast hatte festen Halt, plötzlich umfing mich trübe Dämmerung und ein kalter Modergeruch, dazu Verwesungsgestank, – die Länge des Lassos reichte nicht ganz, ich ließ los, versank bis zu den Knien in eine Humusschicht und richtete mich auf, hob den Kopf, – – über mir ein grünes Licht, als ob ich im Wasser stände, einzelne Sonnenstrahlen zogen weiße Striche in den Abgrund, und dann erblickte ich Frau Doris und den Zapara, die genau so günstig wie ich den letzten Sprung gewagt hatten.
Die Löcher, die wir droben in die Zwischendecke gerissen, waren kaum mehr zu erkennen, die meisten Ranken hatten sich wieder in ihre alte Lage zurückgefunden, und in dem dichten Blumenteppich konnten auch die Äste kaum auffallen, an denen nun unsere Lassos in die grüne Dämmerung hinabhingen.
Wir standen still und horchten.
Es war nicht ratsam, sich in diesem knietiefen Humus zu bewegen, es konnte hier Spalten und Risse geben, wir konnten verräterische Geräusche verursachen, – keiner von uns rührte sich.
Wir horchten nur, vernahmen sehr bald Stimmen und alles kam nun darauf an, daß die Freunde Mackencies sich wirklich täuschen ließen und annahmen, wir wären durch die Uferberge zur Küste geflüchtet.
Ich erkannte Mackencies tiefes, trügerisch-angenehmes Organ …
Die Stimmen wurden lauter, Worte waren nicht zu verstehen … Die Pflanzendecke über uns fing den Ton ab.
Frau Lengitt hatte sich vorsichtig niedergesetzt. Die Umrisse ihrer Gestalt zeigten mir, daß sie den Kopf in die Hand gestützt hatte und starr ins Leere blickte.
Der Zapara stand erhobenen Hauptes da, die Schlangenhaut im Arm, in der Rechten seine einzige Waffe, das Buschmesser.
Die Stimmen entfernten sich, kehrten zurück.
Es waren peinvolle Minuten …
Der Moderdunst, kühl und feucht, dazu der Verwesungsgeruch, der nur von dem abgestürzten Keiler herrühren konnte, reizten die Kehle und machten jeden Atemzug qualvoll.
Ich dachte an Monte …
Und an Kamerad Jonny, der nun ein Gefangener war. Ich konnte mir leicht ausmalen, wie die Gegner im Schutze des felsigen Höhenzuges sich an Jonny und Gascuna herangepirscht und sie bei der Arbeit am Wrack überrascht hatten.
Dann droben ein lauter Zuruf:
War das nicht Tobi Webers mürrische Stimme?!
„He – was stehen wir hier herum …?! Keine Ahnung habt ihr von Fährtenlesen …! Die drei sind zum Nordweststrand hinab und werden uns den Kutter samt dem Engländer stehlen …! Macht fix, – – Lengitt ist ohnedies übler Laune, und …“
Das weitere entging uns.
Frau Doris hatte mit einem Ruck den Kopf zurückgeworfen, blickte nach oben …
Ihre Gesichtszüge konnte ich nicht unterscheiden …
Die Stimmen verloren sich in der Ferne …
Der Zapara winkte warnend, wir blieben still, regungslos, und erst als mindestens zehn Minuten verstrichen waren, rieb ich mein Feuerzeug an und tastete nach Zweigen umher, fand ein harziges Aststück, – es flammte qualmend auf, und wir drei schauten neugierig umher …
Der rote Lichtschein zeigte uns lediglich Baumstrünke, ein paar Felszacken, kahle Felswände und eine Unmenge Lianen, die neben unseren Lassos von der Zwischendecke herabhingen.
Gascuna schritt vorwärts, suchte nach harzigen Wurzelstücken, eine zweite Fackel knisterte, und die Felswände mit ihren spärlichen Flechten und Moosen traten deutlicher hervor.
Die starre Ruhe Frau Lengitts schwand nur für kurze Zeit, als sie mich flüsternd fragte: „Halten Sie Tobi Weber für ehrlich, Abelsen?“
Ich bejahte sehr bestimmt. „Weber wollte die Leute nur weglocken …! – Kennen Sie ihn genauer?“
Antwort?!
Nur: „Er war Kellner in dem Hotel, in dem ich nach meiner Hochzeit wohnte …“ – Kein Wort mehr …
Sie saß zusammengekauert da, – – versteinert, – – so wie jetzt hatte ich sie bisher nie gesehen, was nur mochte geschehen sein, sie derart zu verändern?!
Gascuna, dieser Prachtkerl in seinen Lumpen, watete der Felswand zu, ich wandte mich nach der anderen Seite, vielleicht gab es hier doch einen Ausgang, der uns die Mühe ersparte, wieder emporzuklettern.
Ich stieß auf den Kadaver des Keilers, Ameisen hatten ihn in Arbeit, ich häufte mit dem Fuße Mullerde darüber und stampfte sie fest und setzte meinen Weg fort – nach Osten, in die Ostecke, wo abgestorbene Bäume von der Decke bis zum Boden reichten. Sie hingen mit den Kronen nach unten, schleimige Pilze wucherten auf den toten Zweigen, ein ekler fader Geruch entströmte diesen Baumleichen, ich drängte mich mühsam hindurch, und hinter diesem Vorhang fiel das zuckende Fackellicht auf eine finstere Felsspalte, in der etwas Weißes schimmerte … Ich trat näher. Es war ein menschliches Skelett, mitten im Steingeröll lag es, – – Ameisen mochten es sauber benagt haben. Nicht ein Fetzen Kleidung war mehr zu erkennen, nur eine alte verrostete Flinte und ein Messer bemerkte ich …
Skelett hin, Skelett her …, – wichtiger war der Luftzug, der durch diese Spalte strich …
Ich duckte mich, kletterte höher, der Felsriß lief schräg empor, ich benutzte meine Büchse als Bergstock, – – dann war ich oben, mitten in dickstem Gestrüpp, in Wärme, Sonnenlicht und Salzhauch des Meeres.
Wieder umkehren?!
Und John Buggy?! War es nicht wichtiger, ihn zunächst zu befreien? In der Nordwestbucht sollte der Kutter ankern … So hatte Tobi Weber gerufen, wohl mit Absicht … Der Zapara würde schon für Frau Doris sorgen … – Ich kannte den allernächsten Weg dorthin, es gab da einen Wildpfad durch die Uferberge, ich zauderte nicht lange, setzte mich in Trab, es kam hier auf jede Minute an, ich hatte gerade die halbe Strecke hinter mir, als neben mir ein armer, sehr bekniffener Sünder mit hängender Rute erschien: Monte!
Er schielte zu mir empor, das schlechte Gewissen sprach ihm aus den Augen, er schämte sich seiner Feigheit, die ich ihm wahrlich nicht nachtrug, und erst als ich ihm den Kopf gestreichelt hatte, lebte er wieder auf, – ich war ja froh, daß ich ihn wiedergefunden, ein Hund wie Monte ist selten, ist ein Geschenk der Vorsehung …
Wir trabten weiter …
Da waren die Randberge, da war der Wildpfad, – atemlos erreichte ich die Höhe, blickte hinab …
Dort lag der Kutter dicht am diesseitigen Ufer, – am Heck saß ein Weißer mit einer sehr dekorativen Büchse im Schoß … Daneben lag ein Bündel von Mensch: Freund Jonny!
Sein Wächter spähte aufmerksam umher, aber der gute Herr mochte auf einem Kontorschemel oder sonstwo brauchbar sein, – – der Stein, der ihm von ungefähr auf den Kopf fiel, enthob ihn weiterer Unannehmlichkeiten, ich schnitt Jonny los, Jonny packte den Kerl, zögerte, schlug ihm den Rockaufschlag zurück und steckte die Nadel mit dem eigentümlichen weißen Knopf in die eigene Jacke …
Der Mann flog ins Gestrüpp, ich warf die Leine los, – schade, Professor Mackencie nebst Anhang erschienen erst, als wir bereits die Windung der Bucht vor uns hatten, die Munitionsverschwendung war überflüssig, die Kugeln gingen ins Blaue, und eine Stunde darauf hatten wir auch Frau Lengitt und den Zapara an Bord, die Geschichte klappte tadellos, – – wir fuhren gen Südost auf die stets in Nebel gehüllten Bergspitzen der James-Insel zu … –
Hier an Bord fiel zuerst der Ausdruck Galgenbrüder …
Und die Ursache war die Vorstecknadel, die John Buggy dem Sennor abgenommen hatte, der jetzt stark über Kopfschmerzen klagen würde. Mochte er …! Wenn all das zutraf, was der Zapara erzählte, waren diese Bürschchen seit langem reif für das, was sie als Abzeichen trugen: Einen Galgen, aus einem blendend weißen Knochenstück zierlich herausgesägt.
Zuerst hielt ich es für ein harmloses lateinisches großes T, und die Masse, aus der es bestand, für Elfenbein, aber ich wurde sehr bald eines besseren belehrt.
Was Gascuna über die Galgenbrüder in seiner knappen, bildhaften Art zu berichten wußte, war schon des Zuhörens wert.
Frau Doris Lengitt hatte sich sehr bald nach vorn in die winzige Kajüte zurückgezogen. Sie war keine unterhaltsame Gefährtin, man mußte sich in ihrer Gegenwart bedrückt fühlen, in ihren Augen blieb der starre, geistesabwesende Ausdruck, und als der Zapara dann den riesigen Schlangenkopf aus der Anakondahaut herausgerollt und mit einer gewissen Feierlichkeit an einer Schnur zum Trocknen in den Wind gehängt hatte, wobei er mit meiner Siegestrophäe (beide Kugeln hatten den Schädel getroffen) noch allerlei mystischen Hokuspokus trieb, war Frau Doris leicht erbleichend hinter den festen Öltuchvorhängen der Kabine verschwunden.
Und da erst brachte Freund Jonny die Nadel zum Vorschein.
Wir drei und Monte saßen nun also am Heck beieinander.
Das Meer war nur ganz leicht bewegt, wir glitten am Südrande des Neulandes dahin, neben uns pendelte der Anakondakopf im scharfen Luftzug hin und her, und die Augen des Kopfes schienen uns andauernd zu beobachten. Jonny stopfte seine Pfeife, ich rauchte eine von Doktor Guidas guten Zigarren, Gascuna säuberte die Schlangenhaut mit dem Messer, und Monte zog die Nase kraus, sobald ihn der leichte Moschusgeruch erreichte, den der bunte, weiche Frack der Inkaanakonda ausströmte.
Buggy räusperte sich.
Der große Moment war da …
„Gascuna, alter Freund und Zellengenosse, besinnst du dich noch auf den Mulatten, der zu unserer Zeit im Gefängnis aufgeknüpft wurde?“
Diese Worte zerflatterten, so leise wurden sie gesprochen.
Der Zapara nickte. „Ich weiß schon, Mister Buggy … Aber Mulatte war zu viel … Daher sterben … Anklage gegen ihn – alles Schwindel. Besser Zunge abbeißen und verschlucken, als Galgenbrüdern drohen … Waren dumme Kerl, der da …“ – Er blickte von seiner Arbeit auf, und seine dunklen Augen hingen fragend an Jonnys Jackenaufschlag. „Ich denken, Sie finden weißen Galgen, von dem der Mulatte reden letzte Nacht, bei Mann mit Stein gegen Kopf von Mr. Abelsen“, fügte er in seiner monotonen Sprechweise hinzu. „Nun, wie sein das? Ich, Zapara, gute Augen … Auf Dampfer nie sehen, – hier sehen goldene Nadel durch Rockaufschlag schimmern … Zeigen mal … Ob Mulatte sagen Wahrheit, dann ganz schlechte Menschen die elf von Dampfer … Galgenbrüder große Geheimbund, große Verbrecher, große Macht … Polizei nicht glauben, – doch so sein, Mulatte keine Angst vor Tod, nur Haß gegen Feinde, er mir flüstern in Zelle ins Ohr, Aufseher schlafen, Buggy schlafen … Als Sonne kamen, Mulatte in Schlinge hängen, und ich schweigen und alles wissen … Große Geheimbund, reichen bis Peru, Chile, halb Amerika, – das Wahrheit, – nun zeigen, ob richtige Nadel sein …“
Jonny schielte mißtrauisch auf die Vorhänge der kleinen Kajüte.
Seine sonst stets von diesem halben Lächeln umspielten Mundwinkel waren nach unten gezogen, seine Stirn lag in Falten, und er zauderte merklich, als er nun die Hand hob, den Rockaufschlag emporbog und die Nadel in Gascunas Finger gleiten ließ. – Seine Vorsicht galt Frau Doris … Der Gedanke war ja auch unerträglich, daß diese Frau mit den reinen Augen einem Menschen angehörte, der mit diesen brutalen Gesellen verbündet war.
Ich hatte die leicht gebogene Pinne des Ruders unter den Arm geklemmt, der Zapara rückte schnell auf seinem Klappstuhl herum, und sein breiter Oberkörper deckte uns gegen jeden spähenden Blick aus der Kajüte.
Ich beugte mich vor, ich sah die Nadel mit dem harmlosen lateinischen T, es war kein Buchstabe, es war ein Galgen, bei dem linken oberen Querstrich fehlte die umgebogene Ecke, und die andere Ecke an dem rechten verlängerten Querbalken zeigte ein winziges Löchlein, eine Öse.
Das war nicht alles.
Das Knochenstück, aus dem der Galgen herausgesägt war, stammte von dem Unterteil eines Wildeberzahnes und zeigte zur Hälfte eine bräunliche Verfärbung.
Trotzdem war die Idee, ein solches Abzeichen zu benutzen, in ihrer Art genial, denn bei flüchtigem Hinblicken war der erste Eindruck der eines Buchstabens, den etwa die Mitglieder eines Tennisklubs tragen konnten. Und ging einmal eine solche Nadel verloren, würde der Finder auch nur an ein Vereinsabzeichen gedacht haben, niemals an die wahre Bedeutung: Galgen!
Es war ein Galgen …
Das winzige, nur durch die goldene Nadel wertvolle Ding erinnerte mich an die Gerüchte, die über Professor Mackencies Londoner Vergangenheit wie giftige Ranken sich woben und nicht mehr und weniger besagten, als daß der gestrauchelte Gelehrte und Forscher engste Beziehungen zu englischen Verbrecherkreisen unterhalten hätte. Jedenfalls war er ja als Mensch für seine Heimat erledigt, – von einem Strafverfahren hatte man nur deshalb Abstand genommen, weil England nicht die Schande auf sich laden konnte, einen seiner berühmtesten Forscher ins Zuchthaus schicken zu müssen.
Und dann sprach Jonny – leise und sichtlich erregt, trotzdem beherrscht, weil auch er etwas zu verbergen hatte: Seine hoffnungslose Neigung zu Frau Doris!
„… Der Kerl, den Sie mit dem Stein auf die Hirnschale tippten, Abelsen, ist ein gewisser Harry Goß, so eine Art Bürovorsteher des feinen Rechtsanwalts Doktor Guida … Dieser selbe Goß hatte das Pech, einmal an Bord des seligen „Ecuador“ seine Jacke liegen zu lassen, seine weiße Bordjacke. Ich hatte meinerseits die elf Burschen längst in Verdacht, sehr eng zueinander zu gehören … Ich fand die Jacke beim Aufräumen der Kabine, befühlte sie und fühlte die Galgennadel im Stoff unter dem Aufschlag, dicht an der Unterseite des Aufschlags … Von da an nahm ich die Brüder noch schärfer aufs Korn, Gascuna half mir beim Spionieren, genau wie er mir schon in Guayaquil geholfen hatte … – Im Grunde sind wir jedoch um keinen Schritt weiter gekommen, – – was die Bande eigentlich vorhat, wissen wir nicht, wir wissen nur, daß wir drei und Frau Lengitt geliefert sind, wenn sie uns mal vor das Rohr kriegen. Wir haben es mit den Galgenbrüdern zu tun, – umsonst wählte die Bande nicht den Galgen als Abzeichen, das merkten wir an dem Mulatten … Der arme Teufel dürfte nicht der einzige sein, der durch diese Herrschaften eine Krawatte gratis geliefert bekam, die sogar in der Hölle als Festschmuck anerkannt wird …“
Er nahm die Nadel und zugleich sein Messer und trennte den Innenstoff seiner Jacke ein wenig auf …
„So … – gut untergebracht …!“, nickte er. „Das Thema Nadel wäre hiermit abgetan, und wir müssen uns einem nicht minder seltsamen Gegenstand zuwenden. – Abelsen, hat Gascuna Ihnen erzählt, wie die Königsanakonda in Doktor Guidas Besitz gelangte?“
„Nur angedeutet, Jonny …“ – Der Wind frischte auf, und ich mußte meine Aufmerksamkeit zwischen meinen Pflichten als Steuermann und als Zuhörer teilen.
„Nun, das ist schnell erzählt …“ John Buggy beschäftigte sich mit seiner Pfeife, die nicht recht ziehen wollte, und der Zapara schabte wieder an der Innenseite der Anakondahaut herum. „Schnell erzählt, Abelsen … Sie werden trotzdem staunen. Also Gascuna, der einigen Ruf als Jäger genießt, sollte für eine englische Firma eine Königsanakonda fangen. Natürlich weigerte er sich … Kein Zapara rührt eine heilige Inkaschlange an. Bei diesem Auftrag war nun eins recht eigenartig: Gascuna, der eine Hütte unweit von Guayaquil in den Urwäldern der Halbinsel Toscolan besaß, hielt sich ganz heimlich eine Königsanakonda …“
Erst hier fiel der Zapara gleichmütig ein: „Mister Abelsen, das nicht ganz richtig sein … Ich erben Königsanakonda von Vater und dessen Vater, Vater mußte wohnen auf Toscolan zur Strafe wegen Aufstandes, wir Zaparas nie Steuern zahlten und sein überhaupt kriegerischste Volk aus Amazonastäler von Ecuador[14] … Da viel Blut fließen, Mister … – Vater von mein Vater fingen Königsanakonda und beten heilige Schlange an, bei Hütte auf Toscolan sein große Höhle mit Wasser, dort Schlange sein verborgen … – Ich sagen zu Engländer, der mir bieten Geld für Schlangenfang: „Das ich nicht machen!“, und er gehen mit Doktor Guida wieder weg … – So das gewesen … Und Engländer war Chester Lengitt, jetzt Mann von Frau Doris … Ein Jahr etwa vergangen seitdem, dann ich haben Streit mit Matrosen, schlagen zu, Matrosen stechen, ich kommen unschuldig vor Gericht, sollte sein Totschlag, da kamen Doktor Guida, er sagen in Zelle, mich verteidigen, aber Königsanakonda schenken, sonst ich baumeln. Ich sagen: „Gut, Schlange in Höhle sein, Eingang dort und dort, Futter geben, nicht töten …“ – Er versprach alles … Ich vor Gericht sechs Monate Gefängnis, dort auch Mister Buggy, nachdem ich frei, Königsanakonda sein in England, so lügen Doktor Guida. Ich ihm glauben, und nun Schlange tot und ich wissen, daß sein gewesen Schlange in Kiste auf Dampfer „Ecuador“ … Doktor Guida wohl herauslassen heilige Anakonda in Wasser … Ich so denken – bei Schiffbruch … Ich nicht bestimmt wissen.“
Das war ja in der Tat eine sehr merkwürdige Geschichte! Mich selbst ging sie insofern etwas an, als ich es jetzt lebhaft bedauerte, das Tier getötet zu haben. Als ich dies auch Gascuna gegenüber aussprach, erwiderte er zu meinem grenzenlosen Erstaunen:
„Schlange tot, das ja, das nichts schaden, aber Königsanakonda nie sterben, Mr. Abelsen … Königsanakonda immer leben, – das schon kennen Inkapriester, das nicht glauben weiße Gelehrte, und doch so sein. In Königsanakonda immer wohnen zwei Schlangen, Mister Abelsen: Schlange wie jede andere und heilige Inkaschlange!“
Er betonte den letzten Satz ein wenig stärker, und er blickte dabei zu dem noch heftiger an der Schnur pendelnden Kopf des Reptils empor und fügte sehr bestimmt hinzu: „Da – – sehen, – – Augen von heilige Anakonda noch leuchten wie lebend …! Das nicht sein Aberglaube, das sein Glaube, und heilige Schlange mehr als ein Mensch, Mensch verfaulen. heilige Schlangenaugen niemals, weil Inkaanakonda nie sterben.“
Ich schaute Buggy etwas ratlos an. Ich wollte den Zapara nicht durch meine Zweifel verletzen. Aber Jonny erklärte merkwürdig feierlich: „Gascuna wiederholt hier nur das, was Sie noch heute in dem Sagenschatz der Inkanachkommen antreffen und das auch oft genug in Büchern angedeutet ist. Im Grunde handelt es sich ja dabei um nichts anderes als um den in allen verfeinerten Religionsbekenntnissen so oder so wiederkehrenden Unsterblichkeitsgedanken, also um die Teilung des Individuums in Materie, äußere Hülle, und Seele … oder Innenleben … oder Geist, wie man es nun nennen will.“
Jede Spur des leichten, liebenswürdigen Lächelns war ans Buggys Zügen weggewischt.
Er nahm diesen Gegenstand völlig ernst, und wiederum verriet mir seine ganze Ausdrucksweise, daß der junge sympathische Engländer niemals sein Leben lang nur Steward gespielt haben könnte. Seine Aussprache war die der besten Londoner Gesellschaftsschichten, und sein Wortschatz überstieg bei weitem den der bescheideneren Berufskreise. Die meisten Menschen kommen ja für ihren Alltagsbedarf mit etwa tausend bis tausendfünfhundert Wörtern und Redensarten aus.
Buggys Schlußbemerkung zu dem Thema Königsanakonda bewies meine Vermutung über seinen Bildungsgrad noch schlagender.
„… Die allgemeine Ansicht, daß Asien die Quelle aller Geheimlehren und jeglicher Art religiöser Mystik sei, dürfte nach meinen persönlichen Erfahrungen kaum zutreffen. Zunächst war die ägyptische Kultur wohl die älteste, dann aber dürften die Vorgänger gerade der Inkas eine vielleicht noch höhere Stufe erreicht gehabt haben. Man glaubt über die Inkas sehr viel zu wissen, – eigentlich weiß man nichts im Vergleich zu dem, was bestimmt einmal vorhanden war und verloren ging oder doch nur in Brocken in alten Sagen weiterlebt.“
Ich merkte es ihm an, daß er etwas in Feuer geraten war, und meine Frage: „Jonny, was sind Sie von Hause aus?“, erschien nach alledem berechtigt.
Seine Antwort klang nur sehr zögernd.
„Nun denn, Abelsen, – Gascuna weiß es bereits: Ich bin Anwalt in London und durchaus kein armer Teufel … Entschuldigen Sie, daß ich bisher so etwas Theater spielte … Ich habe meine Gründe dafür … Ich kam vor etwa einem Jahr nach Guayaquil, ich reiste inkognito sozusagen, und das Schicksal führte mir Doris Schmidt in den Weg, heute Frau Lengitt … Ich blieb – – ihretwegen, aber ich hatte keine glückliche Hand bei meinen Annäherungsversuchen, dafür sorgten schon die Galgenbrüder, das ist nun endlich geklärt, schon damals hatten sie all ihre Heimtücke gegen mich mobil gemacht …“
Sein Gesicht erstarrte in kaltem Haß …
„… Zunächst, in den ersten Wochen, war es wohl anders … Dann erschien dieser Doktor Guida auf dem Plan, den ich für das Haupt der Galgenbrüder halte … Alles weitere ist Ihnen bekannt: Meine Sekretärstelle bei Ramon Estremadura, Doris’ Mißtrauen gegen meine Person, ihre Einkreisung durch dieses Gesindel und der Verzweiflungsschritt ihrer Ehe mit Chester Lengitt. – Sehen Sie, Abelsen, ich bin doch kein Neuling als Anwalt im Aufspüren verborgener Fäden … Aber aus welchem Grunde dieses feinmaschige Netz für Doris Schmidt aufgestellt wurde und weshalb Lengitt, der Renegat und mittellose Schlucker, die dreißig deutschen[15] Siedler nach der James-Insel holte – ich sage holte, denn er war dieserhalb mit reichlichen Mitteln in Deutschland – vermag ich nicht herauszufinden, die Geschichte wurde natürlich von den Galgenbrüdern finanziert und muß ihnen fast eine halbe Million gekostet haben … Bedenken Sie auch folgendes – ich bin nun einmal im Zuge, und Sie sollen alles erfahren –: Die Plantage auf der James-Insel ist eine Aktiengesellschaft, die deutschen Auswanderer sind Mitaktionäre, Lengitt ist nur Verwaltungschef, und Doktor Guida der Bevollmächtigte der A. G, in allen rechtlichen Fragen …“
Meine Überraschung war stärker, als ich es mir anmerken ließ. Was Jonny hier an Einzelheiten vorbrachte, mußte auch mein Mißtrauen ins Ungemessene steigern.
„Mithin gab sich Lengitt als Auswandereragent in Deutschland aus?“, fragte ich, um völlig klar zu sehen.
„Ja … Es handelt sich um vier Familien, die er mit allem Komfort, das betone ich, also mit allem Luxus herüberbrachte … insgesamt dreißig Menschen, die er den allerärmlichsten Verhältnissen entriß und die ihm wie einem wohltätigen Gotte noch heute danken … Es sind die Familien Weber, Schmiedeck, Grotjahn und Tümmel, es sind vom achtzigjährigen alten Weber bis hinab zum dreijährigen Mädelchen, der kleinen Regina Tümmel, alle Altersstufen vertreten … – Abelsen, nun zerbrechen Sie sich mal den Kopf, lösen Sie das Rätsel. Die Leute waren arme Handwerker, urplötzlich kommt da dieser Renegat Lengitt mit gefülltem Beutel, kauft die vier Familien sozusagen auf, chartert ein eigenes Schiff, bringt sie samt Plantagenmaterial, Maschinen, zerlegbaren Häusern, Möbeln und so weiter nach der James-Insel, deren östlicher Teil ziemlich flach und anbaufähig ist, der Grund und Boden dort gehört Estremadura, – die Deutschen glaubten den Himmel auf Erden zu haben, in Wahrheit steckt hinter alledem eine unglaubliche Schurkerei, denn die Galgenbrüder sind Verbrecher, und das Ganze ist ihr Werk! – Wozu?! Wozu?! Weshalb diese Geldausgaben für dreißig Deutsche, die einander bis dahin nicht kannten, für vier Familien aus allen Teilen Deutschlands – – wozu?! Und diese Ärmsten so vertrauensselig, so vollkommen ahnungslos, daß im Hintergrund irgend ein dunkles Gespenst von Schurkenstreich lauert …! Welches Gespenst?! – – Da, schauen Sie sich Gascunas allzeit so melancholisches Erzgesicht an …! Gascuna ist ganz meiner Ansicht: Gespenst!!“
Der riesige Zapara nickte langsam.
„Farbige Arbeiter für Plantage fast gar nichts kosten, Mr. Abelsen … – Weshalb so viel Geld? Sie das wissen etwa? Wir nicht …!“
Und in dem Augenblick erinnerte ich mich rechtzeitig an zwei so eigentümliche Dinge …
„Jonny“, erklärte ich leise, „Ihre Annahme stimmt nicht … Einer der Siedler hat bestimmt Verdacht geschöpft …: Tobi Weber! Er fragte mich nach den Marktpreisen für Zuckerrohr, Bataten und anderes … Offenbar wirft die Plantage zu glänzende Erträgnisse für seinen Geschmack ab. – Und zweitens: Tobi Weber war doch Kellner in Guayaquil in dem Hotel, wo Doris Lengitt wohnte nach ihrer Hochzeit …“
Buggy schaute mich sonderbar an. „Punkt eins mag stimmen … – Punkt zwei: Lengitt hatte Tobi in das Hotel als Wächter gesetzt, als er seine Frau zurückließ und zunächst allein nach den James-Inseln fuhr …! – Allerdings, zugegeben. Tobi Weber hat sich vorhin auf Santa Renata uns gegenüber sehr anständig gezeigt, ihm verdanke ich meine Befreiung, und wir verdanken ihm unsere Flucht und den Kutter hier. Aber als Kellner in Guayaquil war er keineswegs so angenehm, fragen Sie nur den Zapara, Abelsen … Wir haben Frau Doris dauernd beobachtet, und dies machte uns Tobi Weber verdammt schwer …!“
„Dann hat er eben erst hinterher Mißtrauen geschöpft“, erklärte ich sehr bestimmt. „Jetzt hält er zu uns, das steht fest … – – Hallo, – – was ist denn das da?!“
Ungeheure Schwärme von Möwen kreisten nach Norden zu über den äußersten östlichen Klippen des Neulandes, das hier in eine schmale, felsige Halbinsel auslief …
Wir stoppten …
Ich riß das Glas an die Augen …
Ich hatte schon mit bloßem Auge genug gesehen …
„Ein Weib!“, sagte der Zapara mit seiner tiefen monotonen Stimme …
Ja – – ein Weib!!
Die letzte der vorgelagerten Klippen der zerklüfteten Neulandhalbinsel war eine Felsennadel, dicht mit Seetangbärten bewachsen …
Die Brandung des nimmermüden Pacific warf ihre Schaumspritzer bis zur Höhe der Nadel empor, der grüne lange Seetang war noch nicht durch die Sonnenglut zur schleimigen Masse geworden, er wogte hin und her, und zwischen diesen grünen Bärten schimmerte ein fast nackter Frauenleib, oben festgebunden an das Gestein, – hilflos, bedroht von den gierigen Seevögeln …
Wir drei standen aufrecht da …
Die Entfernung betrug mindestens tausend Meter, aber das Glas zog mir das Bild des Weibes, auf das die Seevögel kreischend immer wieder herabstießen, so nahe, daß ich das schwarze lange Haar der Frau in der hochschäumenden Flut spielen sah wie dunkle nasse Schleier …
Ich gab Jonny das Glas.
Der Zapara aber sagte still und gleichgültig:
„Gascuna nicht brauchen Fernglas … Es sein da angebunden Graziosa Guida, Schwester von Doktor Guida und Geliebte von Chester Lengitt. Ich das wissen, auch Buggy …“
Ein Schatten fiel über meine gespannten Züge.
Neben uns stand Doris Lengitt, geborene Schmidt …
Sie mußte jedes Wort Gascunas gehört haben.
Aber … sie lächelte nur …
Ein unsäglich verächtliches Lächeln …
Und in den Augen hatte sie nicht mehr den toten Glanz aufgepeitschter, aber sorgsam verheimlichter Gedanken. Dieser Blick, der da über das Meer zur Felsennadel schweifte, brannte in allen bunten Flammen eines trutzigen, unerschütterlichen Entschlusses …
Wir drei wagten sie nicht anzusehen …
Nur Monte umschmeichelte das arme betrogene Weib mit seiner täppischen Zärtlichkeit.
Ihre rechte Hand krallte sich in sein Nackenfell ein.
„Fahren wir hinüber!“, sagte sie befehlend …
Der Motor knatterte, schnurrte …
Ich saß wieder am Steuer, aber mein Herz war schwer wie Blei und meine Kehle wie zugeschnürt …
Mein Auge fing einen der stillen, ruhigen Blicke des riesigen Indianers auf …
Der Blick hing an Frau Lengitts zartem Gesicht …
Gascuna hatte sich verraten …
Auch er liebte dieses holde Geschöpf …
Er betete sie an …
In seinem Blick las ich die Qual freiwilligen Verzichts …
Und dieser umdunkelte schmerzliche Blick wanderte höher …
Zum pendelnden Kopfe der heiligen Inkaanakonda …
Wie durch inneren Zwang starrte ich gleichfalls in die glitzernden Augen des Reptils …
Ein Ruck ging mir durch den Leib …
Es mußte eine Täuschung gewesen sein …
Die Schlangenaugen wurden von den fast hauchdünnen hellen Lidern halb bedeckt …
Die Lider öffneten sich …
Es war, als hätte die Königsschlange dem Enkel des großen Inkavolkes verstohlen zugeblinzelt.
Es konnte nur – falls nicht Sehtäuschung! – eine Kontraktion der Lidmuskeln gewesen sein, – keine Lebenserscheinung, nur ein Muskelzucken …
War es wirklich so?!
…
… Ich steuerte … Je näher wir der Brandung kamen, desto deutlicher erkannte ich die Schwierigkeit, an dem Felsen anzulegen.
Die Spitze der Halbinsel des Neulandes mit ihren Riffkränzen bedrohte uns mit heimtückischen Untiefen und dem donnernden Rückprall der anlaufenden Wogen.
Und das war es nicht allein …
Jetzt, wo ich mit bloßem Auge Graziosa Guida in den Stricken und dem zerfetzten Leinenanzug an der Felswand hängen sah, als ich diese etwas theatralische, kinomäßige Aufmachung des Szenenbildes in ihre Einzelheiten zerlegte, stoppte ich abermals den Motor und ließ sogar die Schraube rückwärts laufen.
„Mir gefällt das nicht“, erklärte ich in einem Tone, der den schlanken Kopf des Zaparariesen herumfahren ließ.
Zum ersten Male gewahrte ich da um den bartlosen Mundwinkel Gascunas ein Zucken wie ein geringschätziges Lächeln.
Doris Lengitt sagte aber schroff:
„Sie muß an Bord!! Fürchten Sie die Brandung, Mr. Abelsen?!“
„Ich fürchte weit mehr die anderen Klippen, die vielleicht von weniger aufreizend hergerichteten Gestalten besetzt sind. Sollen wir uns als Zielscheibe für hinterlistige Kugeln noch näher heranwagen?!“
„Gute Rede das sein!“, nickte der Zapara gemessen. „Das da viel Betrug … Schwester von Mörder Guida nicht hängen an Riff, linker Fuß stehen auf Vorsprung, und wir nur haben zwei Büchsen im Kutter, – zu wenig das sein …“
John Buggy warf plötzlich die Schuhe und den Rock ab …
„Ich hole sie, Frau Lengitt … Wenn Sie das Weib haben wollen, sollen Sie es haben …“
Er schickte sich an, über Bord zu springen.
Gascuna packte zu …
„Mister Jonny, das sein nicht klug …!“ Es klang fast väterlich-mahnend, und der Eisengriff des Zapara an Buggys Schulter unterstützte diesen Vergleich: Gegen Gascunas Faust gab es keinen Widerstand, – das war ein kleiner Bub, der vom Vater streng vor einer Torheit beschützt wird.
Buggy meinte denn auch nur etwas gereizt:
„Ihr übertreibt die Gefahr … Ich sehe nichts Verdächtiges!“
Der Kutter schaukelte träge hin und her … Bis zum Nadelriff waren es noch zweihundert Meter.
Plötzlich schrillte eine helle Stimme über das Grollen und Schäumen der Wogen hinweg:
„Retten Sie mich …!! Seien Sie barmherzig! Tobi Weber hat mir diesen Tod zugedacht …! Retten Sie mich …!!“
Graziosa Guida hatte uns längst bemerkt … Sie hing an der Westseite der kantigen Riffnadel, und sie hatte den Kopf ganz nach links gedreht, in ihren schreckgeweiteten Augen lauerte die Todesangst, und wenn einer der Brandungskämme ihren entblößten, formvollendeten Leib bis zum Kopfe einhüllte, flutete ihr das schwimmende lange Haar in nassen Strähnen über die verzerrten Züge.
Tobi Weber?!
Tobi Weber sollte dieses Urteil hier vollstreckt haben?!
Vielleicht gab dies der Sachlage doch ein anderes Aussehen. Wer sollte es auch sonst getan haben?! Einer der Galgenbrüder? – Ausgeschlossen …
Frau Lengitt blickte mich drohend an …
„Haben Sie es gehört?! Was zaudern Sie noch …?!“
Fast gleichzeitig schossen zwei Körper über Bord …
Die Verwünschung, die ich auf der Zunge gehabt, blieb mir auf den Lippen haften …
Welcher Leichtsinn!!
Da schossen die beiden Schwimmer dahin wie die Haie …
Und wie sie schwammen …!!
Durch die glasklare Flut der Wellenberge glitten sie wie flinke Spindeln, tauchten hinab in die grünblauen Täler, erschienen von neuem …
Wahnsinn war das!
Eine Falle für uns, nichts weiter …
Ein Teil der elf Banditen war eben hier zurückgeblieben, hatten uns kommen sehen, hatte rasch das trügerische Spiel erdacht …
„Es ist beider Tod!“, sagte ich hart zu der Frau, die noch immer Montes Fell als Halt für die kleine, sehnige Hand benutzte. „Und daran sind Sie schuld, – – Sie werden ja sehen, was geschieht …!“ – Dieser rauhe Ton war Frau Doris neu und gänzlich ungewohnt an mir. Tief erschrockene Kinderaugen blickten zu mir empor, der ich bereits die Winchesterbüchse zur Hand nahm und den Fuß so gegen die Dachkante des verdeckten Motorraumes stemmte, daß ich jeder Zeit mit dem Stiefel den Anlasser betätigen konnte.
„Ist Chester Lengitt wirklich das Leben zweier Leute wert, wie Buggy und Gascuna es sind?!“, fügte ich milder hinzu und behielt nun die Klippen vor mir andauernd unter schärfster Beachtung. „Buggy und Gascuna sorgten sich um Sie, Frau Lengitt, und diese Art Treue, die keinen Dank verlangt und lediglich der Hilfsbereitschaft anständiger Herzen entspringt, bleibt leider zumeist unbeachtetes Mauerblümlein … Vieles wäre anders geworden, wenn Sie von vornherein ein geübteres Auge und kühleren Verstand für John Buggys Absichten gehabt hätten …“
Auch dies letzte mußte einmal ausgesprochen werden. Als Doris noch Doris Schmidt hieß, als das Intrigenspiel gegen sie selbst und Buggy begann, hatte sie unbedingt das nötige Maß von Menschenkenntnis vermissen lassen. Sie hatte sich allein durch das Leben geschlagen, eine der vielen einsamen Kämpferinnen um die nackte Existenz,– ein Hindernis war da wohl stets auf ihren Arbeitspfaden gewesen: Ihr Äußeres! – Mädchen von Durchschnittsaussehen bewahren sich leichter den klaren Blick, – Schönheit von der Art, wie Doris Schmidt sie von der Natur als zweifelhaftes Geschenk erhalten, macht leicht mißtrauisch, zu mißtrauisch. Frauen dieser bevorzugten Klasse werden gerade durch den Daseinskampf und durch die versteckten Angriffe auf ihre Ehre und durch die schlau verhüllten Lockungen des Goldes überempfindlich … Sie glauben heimliche Verführer zu wittern, sie wollen nicht sinken, sie haben übergenug moralischen inneren Halt, und aus alledem braut sich schließlich ein Seelenzustand zusammen, der sie letzten Endes in die dickste sichtbare Schlinge baumeln läßt: Hier eine Ehe, die von beiden Seiten ohne jeden festen Untergrund des Gleichklangs der Seelen geschlossen wurde!
Ich glaubte nicht, daß ich mich in Doris in dieser Einschätzung ihrer Persönlichkeit irrte …
Ich glaubte …
Schon die nächste Minute ließ mich zweifeln …
Die Frau an meiner Seite hatte die Hände zum Munde gehoben, und scharf und laut und befehlend rief sie mit voller Kraft über die Wogen den beiden Schwimmern zu:
„Kehren Sie um!! Sofort!! Kehren Sie um!“
Nochmals rief sie … nochmals …
Es war umsonst.
Buggy und der Zapara befanden sich bereits inmitten der gurgelnden, brüllenden Stimmen der rückflutenden Wellenkämme.
Und dann – – ich griff kaum rasch genug zu! – wollte sie selbst über Bord …
Ich hielt sie fest … Wir rangen miteinander. Ihr Gesicht war bleich, aus der entsicherten Büchse löste sich ein Schuß, die Möwen strichen mit wütendem Kreischen davon, und Doris fiel matt und verzweifelt auf die Ruderbank zurück, schnellte wieder hoch, tastete nach ihrem Bein …
Auf der Ruderbank lag Jonnys Jacke, und die goldene Nadel des weißen Galgens hatte sich in Frau Doris’ Schenkel gedrückt und ragte nur matt blinkend aus dem Stoff hervor.
Als ob das Schicksal hier nun die Vorgänge zusammenpeitschte wie ein Rudel tückischer Bestien, strich mit bösem Zischen und kühlem Windzug ein Langblei an meiner Wange vorüber. Schuß auf Schuß folgte … Ich riß die Frau nieder, ich ließ den Motor anspringen, ein Blick zeigte mir auf den Klippen vier Striche – vier Gewehrläufe.
Ein zweiter Blick: Zapara hatte die Riffnadel erreicht, klomm empor, drängte sich gegen den schlanken Leib der scheinbar gefesselten Zirce, – – Buggy war verschwunden …
Ich sah des Zaparas Buschmesser blinken, und er und Graziosa Guida sanken in die Brandung, versanken, – eine schaumbetupfte Woge kam, hob die beiden empor, schleuderte sie gegen das nächste Riff …
Da zwang mich eine eiskalte Hand in die Knie …
„Abelsen, schonen Sie sich meinetwegen …“
Ich fühlte das Brennen eines Streifschusses an der linken Schulter, ich riß das Steuer herum, – – noch eine Kugel fegte über das Zinkdach hinweg und erzeugte in dem Anstrich eine silbern glänzende Rinne.
Frau Doris kauerte neben mir … Sie hatte den Kopf gegen den Rand der Bank gelehnt, ihre Züge waren schlaff und farblos, und über die fahlen Lippen kam nur ein unverständliches Murmeln, das ihre Seelennot und Gewissensbisse deutlicher verriet als irgend eine unter Tränen hervorgestoßene Entschuldigung. Sie sah ein, was sie angerichtet hatte, aber sie wuchs gerade in diesen Augenblicken tiefster seelischer Erschütterung über sich selbst hinaus und setzte das begonnene Werk innerer Einkehr und strengster Nachprüfung der eigenen Schwächen mit erstaunlicher Zusammenraffung ihrer Kräfte fort.
In ihre Blicke trat ein heller Schimmer, der einen felsenfesten Entschluß verrät, und ihr Kopf hob sich, der Körper straffte sich und der kurze energische Ausspruch: „Wir müssen die beiden retten!!“ wurde begleitet von einer Handbewegung, die meiner angeschrammten Schulter galt.
Ich konnte Frau Doris beruhigen: Der Streifschuß hatte kaum ein wenig Haut mitgenommen, und meine Antwort auf ihren halben Befehl stellte sie ebenfalls zufrieden: „Zwei Schwimmer wie Buggy und Gascuna gehen in der Brandung dort nicht zu Grunde! Da müßte[16] der Pacific schon anders wüten! Und was die vier Schützen auf den Klippen betrifft, mit denen rechnen wir schon ab! Können Sie eine Büchse handhaben, Frau Lengitt?“
Sie stand vor mir … Das Gesicht hatte wieder Farbe. „Ich muß es können …! Die Spielereien mit einer Windbüchse bei Sennor Estremadura haben mir wenigstens das Zielen beigebracht. Und das Repetiergewehr da, daß dem Harry Goß in der Nordwestbucht von Santa Renata abgenommen wurde, kenne ich dem System nach …“
Ich hatte bereits nach den Klippen ausgespäht, die nun vor uns im Norden lagen, wir waren hunderte von Metern entfernt, wir bogen nach Westen ab, in voller Fahrt hielt ich etwa auf die Spitze der Halbinsel zu, während meine Gefährtin mit dem Fernglas die Brandungsstreifen absuchte. Mein Plan war einfach und verhieß Erfolg, zumal Frau Doris nun hastig meldete, die vier Gegner ständen aufrecht auf den Klippen und würfen Taue in die Brandung … – Hiermit hatte ich gerechnet, – sie würden sich alle Mühe geben, Graziosa Guida zu retten, vielleicht befand sich auch Doktor Guida unter ihnen, der seine Schwester nicht elend ertrinken lassen durfte.
Das Boot jagte mit voller Geschwindigkeit dahin, es kam hier lediglich darauf an, daß ich rechtzeitig festen Boden erreichte, dann waren die vier mir sicher.
Neuland war es, auf das wir zuhielten …
Und da war eine enge Bucht in der Halbinsel, die Einfahrt halb unter Wind, wir glitten hinein, ich stoppte, der Kutter lief auf weichen Schlamm auf, ich sprang an Land, befestigte die Trosse an einem Stein, und dann kletterten wir drei, Monte voran, die Böschung empor.
Die Kuppe hier genügte für einen Rundblick über die Riffe, aber die Riffe waren leer, und das Gelände vor uns war so übersichtlich, daß ich nun doch zögerte, mich in diese Wildnis von Felsen hineinzuwagen und das wertvolle Boot nur der Obhut Frau Lengitts anzuvertrauen.
Dann kam mir ein besserer Gedanke …
„Frau Doris, werden Sie mit dem Kutter allein fertig werden?“
„Ich muß!!“ – Es war nichts Übertriebenes in diesem Selbstvertrauen, es war nur die schlichte Zuversicht, daß ihre Kräfte und Fähigkeiten hinreichen würden, auch bisher unbekannte Aufgaben zu bewältigen.
„Falls das Boot im Schlamm festsitzt, lassen Sie den Motor arbeiten“, riet ich ihr noch. „Dann kreuzen Sie draußen vor der Bucht, aber außer Schußweite …“
Sie nickte und entfernte sich schnell, rutschte stellenweise den Abhang hinab, und dann sprang der Motor an, das Boot glitt davon.
Monte und ich waren allein wie so oft schon.
Nun galt es: Die vier Burschen durften die Halbinsel nicht mehr verlassen, ich mußte sie und ihre Waffen haben, ich war so felsenfest davon überzeugt, daß Jonny und der Zapara sich gerettet hatten und irgendwo an den Klippen hingen, bis jede Gefahr vorüber.
„Allons, Monte, – – vorwärts!“, – ich zeigte ihm die Richtung, wir blieben oben am Buchtrande, wir trabten nach Norden zu, die Halbinsel war hier unweit der äußersten Spitze kaum fünfhundert Meter breit, ich erreichte eine Abzweigung der Bucht, die fast schnurgerade ins Meer verlief, ich mußte von hier aus jeden bemerken, der von Südost her die Bucht zu durchschwimmen suchte, und die vier Gegner konnten unmöglich bereits hinüber sein, sie hatten weit draußen in den Klippen gelauert, und der Weg von Riff zu Riff durch das ruhelose Brandungswasser mußte sie längere Zeit aufgehalten haben.
Neuland wieder, Neuland mit all den untrüglichen Anzeichen einer jüngsten Vergangenheit, die noch tief unter dem Spiegel des Meeres gelegen hatte.
Aber auch hier hatten die Vogelschwärme das Getier bereits vertilgt, nur ein einzelner Narwal, von stürzendem Gestein erdrückt, schickte seine Verwesungsdünste unter dem schwindenden Gluthauch der Nachmittagssonne weit in die Ferne.
Ich suchte mir eine passende Deckung, Monte lief hin und her, und da der Wind günstig stand, mußte er jeden sich Nähernden rechtzeitig wittern.
Urplötzlich – er war ein weites Stück über einen schmalen Grat auf die Riffe zugelaufen – stand er still, duckte sich, legte sich, nur den Kopf hielt er senkrecht, – – dann klaffte er, – dreimal … ein kurzes helles Bellen …
Warnung …!
Ich war bereit, ich hatte den Finger am Abzug, ein Kopf erschien, nasses Haar, schwarz und glänzend, fiel der Sennorita Graziosa wie ein Mantel bis auf die Hüften, wallte unter Windstößen empor, glitt zurück, flog wieder empor und gab das Spiel der feinen Glieder des gelenkigen Mädchenleibes frei.
In langen Sprüngen flog Doktor Guidas Schwester eine nahe Hügelreihe entlang auf die Bucht zu …
Minuten später erhob sich hinter den Felsen ein Mann und vertrat ihr den Weg.
Sie stand … stand wie angewurzelt, den Oberkörper leicht zurückgebogen, das gelbliche Gesicht zur Maske erstarrt …
„Abelsen …!!“
Vielleicht ungewollt kam es ihr über die vollen Lippen.
Sie war schön … Sie war eine Venus mit unverkennbarem Einschlag nach dem Verderbten, Lüsternen, Entarteten hin. Sie hatte die dunklen Mandelaugen, die langen Wimpern, die schmale Stirn und das fast zu magere Gesicht so vieler Kreolinnen, in deren Blut sich die ererbten Merkmale altspanischer Vorväter scharf zur Geltung bringen.
Es war etwas von einer jungen Pantherkatze in ihrem Körperbau, in dem schillernden Blick, in dieser Haltung, die wohl Schreck, aber nicht Furcht verriet.
… Also das war Doktor Raffaelo Guidas Schwester …!
Übel zugerichtet hatte die Brandung ihre mattgelbe Haut … Die Riffe hatten die Zirce nicht unbeschädigt freigegeben …
Ich blickte sie an – sie mich …
Sie taxierte mich …
Vielleicht hätte sie irgend ein frivoles Spiel versucht … Der Anflug eines seltsamen Lächelns zuckte bereits um ihren Mund …
Das Weib sollte vielleicht siegen …
Ein Hund siegte …
Monte hatte eine feine Nase für bösartige Kätzchen, Monte baute sich vor ihr auf, das Rückenhaar gesträubt …
Knurrte …
Sie wich zurück.
Da knurrte er stärker …
Ein hilfloser Zug erschien in ihrem Gesicht …
„Bleiben Sie stehen!“, warnte ich nur …
Ich hatte noch andere Pflichten als die, dieses Mädchen unschädlich zu machen …
Sie trug keine Waffen, und Monte als Wächter genügte …
„Monte, – – du bleibst!“
… Ein Blick über das Meer … Gehorsam fuhr der Kutter vor der Bucht auf und ab … Frau Lengitt winkte, ich erkannte, daß sie das Fernglas an den Augen hatte, sie mußte Graziosa Guida sehen, wir standen hier auf freier Fläche, und vielleicht war es ein Leichtsinn, daß ich mich so offen zur Schau stellte, – ich ließ die Augen nach links schweifen, musterte jeden Felsen, jeden Riß … Aber die Spitze der Halbinsel hier war menschenleer, unverdächtig, ich brauchte nur die Möwen zu beobachten, die Vögel kreisten in flachen Windungen, stießen herab, suchten Nahrung.
Ich wandte mich dem Mädchen wieder zu … Ich wollte nicht erst noch längere Zeit verstreichen lassen, bevor ich die Frage an sie richtete, die sie vielleicht jetzt noch wahrheitsgetreu beantworten würde – – vielleicht … Später gewiß nicht mehr.
„Was haben die Galgenbrüder mit den deutschen Siedlern vor? – Einen Schurkenstreich?! Welcher Art?“
Wie ein Peitschenhieb waren meine Worte.
Graziosa fuhr zurück …
„Galgenbrüder?!“, wiederholte sie anscheinend entsetzt. „Spielen Sie da auf jene Verbrecher an, die …“
„Sparen Sie sich all die Ausflüchte“, – meine Stimme hatte sich noch mehr erhitzt … Wollte dieses Weib etwa versuchen, alles abzuleugnen?
„… Ihr Bruder gehört zu der Bande, Lengitt gehört dazu, Estremadura ebenso … Wir haben die Beweise hierfür, und wenn Sie irgendwie auf Nachsicht rechnen wollen, so seien Sie ehrlich … Dieses brutale Spiel, das mit der Beseitigung der Besatzung des Postdampfers begann, das dann fortgesetzt wurde, als Ihr Bruder die Anakonda freiließ und wohl damit rechnete, daß …“
„Das – ist nicht wahr!“, fuhr sie empört auf. „Das kann nicht wahr sein …!“ Blitzschnell hatte sich ihr Gesicht bis zur Stirn gerötet. „Wenn das wahr wäre, würde ich mich schämen, den Namen Guida zu tragen …“
Ihre Körperhaltung wurde straffer.
„Mr. Abelsen, wissen Sie, mit wem Sie sprechen?! Mein Bruder und ich sind direkte Nachkommen der Herzöge von Guisa, die nach Spanien flüchteten und sich dort Guida nannten …“
Ich beobachtete sie mit jenem leisen Unbehagen, das mir nie erspart bleibt, wenn die Verhältnisse mich zwingen, den Abenteurer in mir zum steinharten Landsknecht zu machen.
Komödiantin …!
Mir mit derlei billigen Mätzchen zu kommen!
„Dann hat also eine Herzogin von Guisa sich dazu hergegeben, uns … in die Falle zu locken, – als an den Felsen gefesselte Sirene! – Graziosa Guida, die Zeiten des Odysseus sind gewesen … für mich! Ich brauche mir kein Wachs in die Ohren zu stopfen …“
Seltsames geschah da …
Monte, von einem Fußtritt über den Abhang geschleudert, heulte wütend auf …
Leichenblaß sprang das Mädchen mich an …
Ihre Fäuste flogen empor, ihre Stimme schrillte. Keuchend, fiebernd schüttelte sie diese fest geballten Hände dicht vor meinem Gesicht.
„… Das … das werden Sie mir abbitten, – – ich … ich hätte Sie in eine Falle locken wollen?! Ich?! Tobi Weber brachte mich in seinem Boot hierher … Weber fesselte mich an die Riffnadel … Auch er drohte mir, auch er wollte wissen, weshalb die vier deutschen Familien …“
Jäh brach sie ab … Ihre überstürzten Worte bildeten nur den Ausbruch eines gefährlichen Temperaments. Nun hatte sie sich wieder in der Gewalt … Sie trat zurück, ihr Gesicht entfärbte sich, hochmütige Verschlossenheit und jenes eigentümliche Lächeln von vorhin, das ich doch wohl falsch gedeutet hatte, zuckte wieder wie ein Irrlicht auf.
Mit einer hastigen Bewegung zog sie die Fetzen ihres Kleides über der straffen, jungen Brust zusammen, und mit abgewandtem Kopfe sagte sie sehr bestimmt: „Ich werde Ihnen Rede und Antwort stehen, wenn es mir paßt …! – Kommen Sie, ich will Ihnen etwas zeigen, – – vier Schurken ließen mich in meiner kläglichen Lage und verhöhnten mich noch … Noch niemand hat Graziosa Guida ungestraft auch nur scheel angesehen … Einzeln kamen die vier über die Riffe, einzeln nahmen sie ein neues Bad … Kommen Sie! Ich floh nicht vor Menschen, ich floh vor dem Entsetzen über die Schrecknisse jenes kleinen Wasserbeckens, in dem die vier einzeln verschwanden … – Da – schauen Sie, – machen Sie mir das nach!!“
Sie hatte sich blitzschnell gebückt und einen jener Steine aufgerafft, an denen ein breites trockenes Büschel Algen wie ein zerfasertes Tau haftete. Sie schwang diese Schleuder im Kreise, der Stein flog mit großer Geschwindigkeit nach oben in die Möwenschar hinein, die Vögel wichen aus, aber dieser Wurf blieb trotzdem eine erstaunliche Leistung.
Monte, der wieder neben uns erschienen war, hielt sich von Graziosa fern … Sie schritt davon, blickte nicht zurück, ich folgte ihr, wachsamer denn je, und schon nach kurzer Strecke fiel vor uns das Felsengewirr steil ab und …
Ich stand, starrte, – – ein Felsenkessel lag dort in der Tiefe, ein kleiner See in einem runden Abgrund …
Meerwasser füllte ihn … In der trüben lehmigen Flut schossen lange Leiber hin und her …
Wohl ein Dutzend Haie, zusammengedrängt auf engsten Raum …
Am steinigen Ufer, im Geröll erblickte ich vier Strohhüte, drei Gewehre …
Eine grausame Ahnung überkam mich …
Graziosa Guida hatte beide Hände vor das Gesicht gepreßt und flüsterte heiser:
„Dort starben sie … Jetzt … schäme ich mich dessen … Aber bedenken Sie: Es waren Bekannte meines Bruders, und sie … hatten mich an dem Riff hängen lassen in der glühenden Sonnenhitze … Jetzt – – weiß ich: Ja, es war eine Falle, Mr. Abelsen, doch ich war gegen meinen Willen der Köder …!“
Ich konnte den Blick nicht losreißen von der trüben Flut …
Hungrige Haifische … vier Menschen, nicht besser als Haie …
– – Graziosa Guida weinte jetzt leise …
Und erst der schrille, überlaute Schrei aus einer gewaltigen Kehle ließ sie erschrocken hochfahren. Über dem südlichen Rande des Felsenkessels waren der hünenhafte Zapara und Jonny aufgetaucht …
Jonny hinkte etwas und näherte sich langsam, während der Zapara geschickt die Steilwand hinabklomm, die Waffen und die breitrandigen Strohhüte auflas, von drei Hüten die Krempen abschnitt und daraus ein Schurzfell herstellte.
Er hatte es nötig … Von seinen Lumpen hatte die Brandung nicht mehr viel übriggelassen, und in der spärlichen Toilette wäre er für Frauen ein allzu antik-statuenhafter Anblick gewesen.
Mir nickte Buggy nur sehr flüchtig zu und meinte dann mit allem Freimut:
„Miß Guida, das war ein fataler Irrtum unsererseits … Erstens können Sie weit besser schwimmen, als ich je gedacht hätte, zweitens hat Tobi Weber Sie an die Riffnadel festgebunden gehabt, und drittens haben Sie sehr kurzen Prozeß mit den vier schießwütigen Herren gemacht … – Ich sehe es Ihnen an, daß Sie den radikalen Erfolg nicht beabsichtigt hatten, die Wand des Kessels ist aber sehr steil, und die Haie da unten …“
„Schweigen Sie bitte …“ Graziosa Guida war wieder dem Weinen nahe. Ihre Stimme schwankte, und Freund Buggy betrachtete sie mit Blicken, als ob er eine völlig Fremde vor sich hätte.
„… Ich habe die Leute nicht töten wollen, – nein, niemals, – – daß es so gekommen, ist nicht meine Schuld … Vier Stunden an einem Riff in der Brandung hängen und dann noch mit ansehen müssen, wie man nur als Köder benutzt wird, – – ich werde diesen Tag nie vergessen, niemals …“
„Ich auch nicht“, sagte Jonny leise. Und es lag eine Wärme in seiner Stimme, die mich aufhorchen ließ. „Miß Guida“, fügte er fast bittend hinzu, „erklären Sie mir das eine nur: Weshalb begleiteten Sie Lengitt heimlich mit nach der James-Insel?! – Ich bin jetzt an so vielem irre geworden … Ich will mich nicht damit brüsten, aber ich tue sehr ungern jemandem selbst in Gedanken unrecht, und hier scheinen mir die Dinge so verworren zu liegen, daß jeder billig denkende Mensch nur den einen Wunsch hat, Klarheit zu gewinnen. Ich weiß nicht, wie Sie zu Abelsen stehen, es macht jedoch den Eindruck, daß auch er seine Ansichten gründlich korrigiert hat … Schließen Sie mich bitte davon nicht aus … Wir waren ja in der ersten Zeit im Hause Estremadura recht gute Freunde, Miß Guida … Später, – – nun ja, da änderte sich das … Inwieweit Sie dabei dem Einfluß Ihres Bruders unterlagen, entzieht sich meiner Beurteilung, oder – – entzog sich … Ich fürchte fast, dieser Einfluß war stärker und verderblicher, als Sie selbst es fühlten … – Also, – weshalb gingen Sie mit Lengitt nach der James-Insel, weshalb ließ Lengitt seine Frau in Guayaquil im Hotel zurück unter der fadenscheinigen Ausrede, die Plantage sei für die Aufnahme von Damen noch nicht genügend vorbereitet.“
Graziosa erwiderte merklich befangen: „Mein Bruder bat mich, Lengitt zu begleiten, weil es auf der Plantage an geschulten Kräften fehle … Er wünschte außerdem, Doris Lengitt solle nichts davon erfahren, – – sie würde sonst eifersüchtig werden. Deshalb täuschte ich eine Reise nach Quito vor, wo wir selbst Plantagen besitzen … Mir mißfiel dieses Versteckspiel gründlich, aber …“
Sie schwieg – – zu plötzlich.
„Aber?!“, ermunterte Buggy sie mit erhobener Stimme.
Und ganz leise schloß sie nun den Satz: „Aber es gab da für mich noch andere Gründe, meinem Bruder willfährig zu sein …“
„Ja, Sie haben Doris Schmidt von Anfang an mit heimlichem Haß verfolgt – das ist es!“, sagte Buggy ohne jede Rücksicht.
Es war bei ihm nur ein kurzes Überschäumen einer Gereiztheit, die sonst stets durch sein wahrhaft ritterliches Empfinden eingedämmt wurde.
Er bereute diese Entgleisung sofort.
„Verzeihen Sie mir die letzten Worte“, erklärte er genau so ehrlich. „Ich kenne mich in den Menschen nicht mehr aus, ich betonte das schon vorhin, auch in Ihnen nicht, Miß Guida … Ihre Gründe für die Beteiligung an diesen heimlichen Winkelzügen mögen selbstlos gewesen sein, ohne Makel …“
„Das waren sie nicht!“, sagte die junge Kreolin, die noch immer hinter mir stand. „Ich habe bereits vieles verloren, vielleicht verliere ich noch mehr … Trotzdem dürfen Sie auf mich rechnen, – Sie alle, die Sie für Doris Lengitt eintreten … und für die vier deutschen Familien auf der James-Insel. Ich bin wahrscheinlich blind gewesen, sehr blind, – – aber mein Bruder hat seine besondere Art, Seelen zu fangen. – Jetzt – – bitte gehen Sie … Vielleicht läßt mir Mr. Abelsen seinen Rock zurück … Ich folge Ihnen sofort … Auch ich will mit allem reinen Tisch machen … Mir graut vor der Unsauberkeit und der Ungewißheit.“
… Es war eine seltsame Aussprache gewesen … Wieder einmal hatte ich einen Blick getan in die vielfach verschlungenen Irrwege menschlicher Unvollkommenheit. Und doch glaubte ich aus alledem die Wahrheit herausgehört zu haben.
Ich war zufrieden damit …
Wir schritten davon, ich hatte meinen Rock zurückgelassen, und als meine Augen nun über das neue Land hinflogen, das der Ozean so verschwenderisch geboren hatte, erschien mir dieses Neuland wie ein Symbol auch für die seelische Läuterung all der Menschen, die hier mit der Geburtsstunde dieses weiten Gebietes auf diese oder jene Art eng verknüpft waren.
Weder Buggy noch der Zapara waren zum Sprechen aufgelegt, und die kurzen Bemerkungen, die wir austauschten, bevor ich Frau Doris heranwinkte, hatten keinen echten Inhalt und bezogen sich lediglich auf die nun aus der Welt geschaffte Tatsache, daß die Galgenbrüder vier der ihrigen schlauerweise hier in den Hinterhalt gelegt hatten, um uns auch auf dem Neulande abfangen zu können.
Der Kutter kam in die Bucht gerauscht, und als er sich mit der Spitze in den weichen Schlamm einbettete, blieb die Begrüßung der beiden aus der Brandung Entronnenen durch Frau Lengitt nur eine kühle, förmliche Redensart, deren Unpersönlichkeit und Farblosigkeit ich ausschließlich dem Erscheinen Graziosa Guidas[17] zuschrieb, von der Frau Doris selbst dann nicht Notiz nahm, als die geschmeidige Kreolin mit ehrlicher Wärme den wahren Sachverhalt aufklärte und hinzufügte, sie würde alles daran setzen, ein etwa an den deutschen Siedlern begangenes Unrecht wieder wettzumachen.
Frau Lengitt blickte sie nur lange und eigentümlich versonnen an, ihre Augen wanderten dann zu Buggy, und ihre einzige Erwiderung war vielleicht an beide gerichtet: „Ich werde prüfen, – – ich bin müde!“, – und damit verschwand sie wieder in der vorderen Kabine und zog so einen Trennungsstrich zwischen sich und uns, die wir nun am Heck beieinander saßen und in voller Fahrt im beginnenden Abendrot auf die wenig umnebelten Gipfel der James-Insel zu und fast in die sinkende Sonne hineinsteuerten.
Und abermals sprach niemand das erlösende Wort, um den seelischen Druck, der auf uns allen lastete, zu bannen und Frau Lengitt zu bewegen, selbst Graziosa Guida Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen.
Vielleicht waren Gascuna und ich die unbefangensten, der Zapara putzte die erbeuteten Büchsen, schaute zuweilen auf den pendelnden Schlangenkopf nach oben, rauchte und sah im Abendgold in seinem phantastischen Kostüm wie ein altindischer wilder Kriegsgott aus. Ich selbst, wieder die Ruderpinne im Arm, suchte wiederholt den nordwestlichen Horizont nach Santa Renata zu nach den Gegnern ab, obwohl ich wußte, daß diese kein genügend großes Fahrzeug zur Verfügung hatten, sondern nur ein kleines Boot mit Außenbordmotor, und dieses, in dem der lange Tobi Weber und Graziosa herübergekommen waren, würde kaum mehr zu finden sein, so weit ich meinen Bekannten von den Konservenhaufen her zu kennen glaubte. Dieser strohblonde Mensch mit der kühnen Wippnase trug die Kühnheit wohl nicht lediglich in dem kecken Himmelfahrtsnäschen, er war eine Draufgängernatur, und daß er sein Mißtrauen gegen Lengitt und die Kreolin längst zu einem bestimmten Verdacht verstärkt hatte, der vor keinem Zwangsmittel mehr zurückschreckte, bewiesen ihm sein Vorgehen gegen Graziosa und sein späteres, so anders geartetes Verhalten gegenüber uns Flüchtlingen an der tiefen Schlucht mit dem blütenübersäten Zwischenstockwerk.
Buggy wieder tat gar nichts und sorgte nur dafür, den fragenden Blicken der Kreolin auszuweichen, die ihrerseits auch nichts dazu beitrug, diese beklommene Stimmung zu zerstören und zumeist mit seltsam harten Augen und ebenso harten Falten um den Mund gedankenverloren in die Ferne starrte und Monte das Fell zauste, der sich diese zerstreuten Liebkosungen gern gefallen ließ.
Das war so das Bild hier an Bord des Kutters …
Kein erfreuliches Bild, und alles in mir lehnte sich dagegen auf, den Dingen auch fernerhin diesen unerquicklichen Lauf zu lassen …
Ich war etwas anderes gewöhnt …
Ich liebte jene Naturen, die da mit eiserner Faust und ehernem Wort ihr Schicksal meisterten. Ich hatte Männer, Frauen kennen gelernt, die einen anderen Typ zu verkörpern schienen …
… Und die Sonne sank, die Dunkelheit kam, und die Sterne blinkten auf, die Abendbrise schlief völlig ein, und wir glitten an den Westgestaden der James-Insel, an diesen himmelhohen Lavawänden und finsteren Felsenmassen gen Süden vorüber, um die Einfahrt in den Talafata-See zu finden, den uns Graziosa Guida als sichersten und schönsten Ankerplatz, dazu nur eine Meile von der Plantage entfernt, empfohlen hatte.
Wir wollten nichts übereilen, nichts durch Unvorsichtigkeit aufs Spiel setzen, – wir durften hoffen, die Galgenbrüder befänden sich noch auf Santa Renata, – volle Gewißheit hatten wir nicht, und somit war es zweckmäßig, nichts dem Zufall zu überlassen.
Der Mond war aufgegangen.
Die Einfahrt in den Talafata, ein gewundener Kanal aus reiner Lava an den Seitenwänden, war schwierig.
Es war die Zeit, wo „der Strom kentert“, wie der Seemann sagt, wo also die Gezeiten wechseln …
Der höchste Stand der Flut war vorüber, die Ebbe bewirkte ein Zurückfließen des in dem eigenartigen Seebecken aufgestauten Wassers, und in dem engen Kanal war die Strömung so stark, daß urplötzlich fast in unsere bisher so stille Gemeinschaft Leben und Bewegung kam …
Ich atmete auf, als der Kutter unter dem Druck der Strömung an einer scharfen Biegung wie ein Papierschifflein zurückgeschleudert wurde und als Gascuna und Buggy emporschnellten, die Bootshaken ergriffen und den Anprall gegen die Lavawände milderten …
Mit einem Schlage wurde das Bild ein anderes …
Die Gefahr pulverte auch Graziosa auf …
Ihre helle Stimme fragte nach einem dritten Bootshaken …
Der Stoß, den der Kutter erhielt, hätte das Mädchen beinahe über Bord geschleudert. Aber sie erwischte noch den Oberrand des Motordaches, – sie war wirklich elegante, kraftvolle Katze, – sie richtete sich auf, – der Kutter hatte die böse Ecke hinter sich, nur Gascunas Bootshaken war wie ein Streichholz geknickt …
Gascuna warf die Stücke weg und suchte unter den Mittelbänken nach dem Notmast.
Das war eine Stange, die vielleicht zwei Mann wirksam handhaben konnten …
Der Zapara ging mit dem Mastbaum um wie mit einem Stöckchen …
Buggy zündete schnell die Laternen an … Der Kanal war so eng und so eingepfercht zwischen Felsenmauern, das der Mond nur gelegentlich die Wasserfläche erreichte.
… Wir waren andere Menschen geworden. Die seelische Belastung schwand vor dem Gebot des Augenblicks.
Unheimlich gurgelte die Strömung um die Kutterplanken, unheimlich war das Poltern von schwimmenden Baumstämmen, die hier vielleicht seit langem mit der Ebbe dem Ozean entgegeneilten und ihn nie erreichten und mit der Flut wieder zurückwanderten in den Talafata-See, von dessen Steilufern sie einst abgestürzt waren. Sie waren ewige Wanderer, bis sie verfaulten und versanken, denn die Riffkränze vor der Einfahrt bildeten einen engen Zaun für die gespreizten Wurzelstöcke und die entblätterten Kronen.
Nun brannten die Laternen … Bisher waren wir ohne Lichter wie Schmuggler dahingeschlichen.
Nun blitzten die Lichtstreifen über der von kleinen, schaumigen[18] Bläschen bedeckten Flut …
Schwarz und drohend schoß die Strömung neben uns hin …
Graziosa kauerte jetzt vorn am Bug auf dem Verdeck der Kajüte …
Wie Athleten standen Buggy und Gascuna mit Bootshaken und Mast abwehrbereit …
Frau Doris?
… Sie blieb unsichtbar …
Und wieder kam eine der scharfen Biegungen, der Motor ratterte, – – „Achtung!“, rief die Kreolin …
Wieder kämpften Strömung und Schraubenkraft gegeneinander, – das Vorderteil des Bootes hob sich urplötzlich, – ein schwacher Stoß, wir trieben rückwärts, vor uns lag das runde Geäst einer Baumkrone, wir waren halb über den Stamm mit dem Kiel hinweggeglitten, der Zapara rettete uns, der Notmast hielt, der Anprall des Hecks gegen die Kanalwand war nur ungefährlich, aber selbst der Riese Gascuna keuchte vor Anstrengung, und seine hastigen, pfeifenden Atemzüge mischten sich in das Poltern des treibenden Baumstammes, der endlich hinter uns verschwand.
Wenige Minuten später lenkten wir in den berühmten See ein, dessen Nordostufer eine einzige Reihe von Wasserfällen bildet …
Schneeweiß erschienen droben die ersten Stufen dieser Katarakte, schneeweiß die letzten, – eine Treppe von Schaum und Wasser und blinkenden Zwischenteilen …
Dieses Seebecken hat keinen Ausgang außer dem Kanal, – keinen anderen Zugang. Die Wände ringsum spotten der Kletterkünste der Menschen, würde man hier auf der kleinen Insel mitten im Talafata Sträflinge aussetzen und den Kanal durch Dynamit unwegsam machen, – es wäre das großartigste Naturgefängnis, das man auf Erden hätte.
Nur der Mond und die Sterne zeigten uns dieses gewaltige Rundpanorama, über dem im Norden noch die mächtigen Vulkangipfel hinausragten, deren ewige Nebel und feine Regen um diese Kuppen ständig dichteste Schleier ziehen.
Das ist Talafata, der „Dampfende“ …
Das war unser Schlupfwinkel …
Der Kutterkiel streifte über Sand …
Wir waren auf der Insel gelandet, deren Bäume und Büsche in dieser mit Feuchtigkeit übersättigten Luft einen Verzweiflungskampf gegen die gierigen, alles erstickenden Schlinggewächse ausfechten …
Nie sah ich Lianen, Dornenranken in so üppiger Fülle …
Wie Netzwerk hingen sie über Baum und Busch … –
Der Zapara sprang ans Ufer mit der Trosse.
Ich rief vor den Öltuchvorhängen der kleinen Kajüte nach Frau Doris …
„Hallo – – bitte, – –!!“
Keine Antwort …
Als Buggy hineinleuchtete, war der enge Raum leer.
Wir begriffen zunächst nicht, wann Frau Lengitt uns so heimlich verlassen haben könnte.
Graziosa half uns.
„Der Baumstamm mit der dicken Krone!“, meinte sie genau so erschrocken wie wir drei Männer …
Wir standen lange Zeit stumm und ratlos da.
„Also – – umkehren, sie suchen!“, sagte Jonny dann.
Der Zapara erwiderte ernst: „Wenn Kutter soll werden Wrackholz und wir Leichen für Haifische, – – dann gut sein! Wenn leben bleiben wollen, dann warten, bis Strömung vorbei und essen und schlafen …“
Er hatte wohl nicht so unrecht …
Daß ich meine besonderen Pläne für mich behielt, – – ich konnte nur Monte brauchen …
Das alte Abenteurerblut rührte sich …
Ich wollte feststellen, wie es auf der Plantage zuging, mir war Frau Doris lieb und wert geworden, ich hatte sie gerettet, mein Sorgenkind war sie …!
Und noch eins …: Ich mußte diesen Chester Lengitt, der nun krank an einem Haifischbiß darniederlag, kennen lernen!
… Auf der sandigen Böschung der kleinen Insel im Talafata flackerte ein Flämmchen auf … Spiritusdunst verbreitete sich … Über dem großen Spirituskocher stand der Topf, und Graziosa und Jonny wetteiferten miteinander, schleunigst eine Mahlzeit herzustellen.
Abseits lagen Gascuna, ich und Monte, und der Zapara hatte den Kopf der heiligen unsterblichen Königsanakonda im Schoße liegen.
Der Schlangenkopf war an der Stelle, wo er vom Rumpf getrennt worden, bereits schwarz und trocken.
Wenn der Mond durch die dünnen Nebel drang, leuchteten die großen Augen der Anakonda wie schwarze Diamanten.
Die Augen waren nicht eingefallen, nicht zusammengeschrumpft, – – diese Augen lebten, und in der stillen Versunkenheit des riesigen Indianers, der noch über seine Beine die Schlangenhaut gebreitet hatte, und in seinen zarten Handbewegungen, mit denen er den Reptilkopf streichelte und dazu murmelnd die Lippen bewegte, spürte ich wieder wie etwas Lähmend-Magisches den Einfluß der alten Inkasagen, von denen auch Buggy gesprochen hatte.
Es schien, als flüsterte er vertraute Beschwörungsformeln …
Ich konnte kein Auge von ihm lassen, aber ich fühlte eine angenehme Müdigkeit, legte den Kopf auf Montes Rücken und blinzelte im Halbschlaf meinen braunen Riesen an und wartete, ob er noch andere Dinge treiben würde …
Buggy und Graziosa sprachen miteinander … Zuweilen erklang Jonnys liebenswertes diskretes Lachen, und dann holte er eine zweite Laterne, und zugleich mit dem Lichtschein kam auch Speisengeruch zu uns herüber.
Der Zapara richtete sich auf.
Er hatte vorhin im Kutter derbes Nähzeug gefunden, und er begann nun die Schlangenhaut, die einen Schlauch darstellte, an den Kopf anzunähen …
Er murmelte weiter …
Ich schlief ein, … erwachte halb …
Mir war es, als winde sich dort rechts ein dickes Tau in das Gestrüpp …
Da wurde ich völlig wach.
Ich blickte scharf hin, aber ich sah nichts mehr.
Der Zapara saß kerzengerade aufrecht, und der Laternenschein traf sein fast kaukasisch geschnittenes Gesicht, seine Augen leuchteten, in ihren Tiefen flackerte der Glanz einer Freude und Genugtuung, die an die Augen fanatischer religiöser Schwärmer erinnerten.
Die Anakonda aber war verschwunden …
Ich wollte Gascuna etwas fragen …
Da traf mich sein Blick …
Er sagte leise:
„Heilige Inkaschlange nie sterben … – Wir jetzt essen, dann schlafen …“
Als Nachsatz kam von dem Kochplatze her das unbekümmerte junge Lachen Graziosas und Buggys …
„Hallo, – so kommt doch!“, rief Jonny … „Miß Guida meint zwar, dieser dicke Brei sei ungenießbar … Aber dafür kann ich nichts … Die Büchse Paprikagurken hat sie in das Konservenfleisch getan.“
Nun, das schmeckte allerdings etwas scharf, und Freund Monte verzichtete dankbar … Wir hatten Hunger, und der Zapara erklärte sogar, dieses Gericht sei ein sehr gutes Essen …
Das blieb Geschmacksache …
Was mir den meisten Appetit gab, waren Graziosas blanke Augen und Jonnys vortreffliche Laune. Die alte Freundschaft zwischen den beiden schien wieder hergestellt zu sein, und zweifellos wäre dieses Festessen zu aller Zufriedenheit – Monte ausgenommen – verlaufen, wenn nicht Buggy plötzlich seine Jacke immer wieder unter dem linken Rockaufschlag befühlt hätte …
„Die Nadel ist weg!“, sagte er dumpf und blickte mich am „Haben Sie die Nadel anderswo versteckt, Abelsen?“
„Ich hätte es tun sollen …!“ Meine Nachlässigkeit erschien mir selbst unverständlich. „Frau Lengitt fiel auf Ihre Jacke, Buggy, und stach sich. Nur sie hat die Nadel genommen. Nun kennen wir auch den Grund ihrer Flucht von Bord … Sie wird Lengitt mit diesem Beweisstück gegenübertreten und Aufklärung fordern …“
„… Mein Gott!!“, flüsterte Graziosa scheu und haschte nach Jonnys Hand …
Bitte – – nach Jonnys …!!
Er stand ihr doch am nächsten … – Mich freute das.
„… Mein Gott, es darf kein weiteres Blutvergießen geben …! Um keinen Preis!!“ Graziosa Guida hatte große, verängstigte Augen, und all das, was vielleicht Katzenhaftes ihr anhaften mochte, war ausgetilgt …
Sie zeigte uns ihre Seele, und deren Spiegel zeigte nur jene Trübungen, die wir alle in uns tragen.
„… Wenn Doris die Siedler aufklärt, und wenn mein Bruder und die anderen … Leute etwa zur Plantage gelangen, dann …“
Der Zapara unterbrach sie. Er unterstrich seine Worte mit einer Handbewegung, die eine Ähnlichkeit mit dem Vorwärtskriechen einer Schlange hat:
„Mir sagen heilige Anakonda, daß nicht so sein werden, wie Sennorita denken … Alles ganz anders sein … Wir sehen später, wie das werden …“
Graziosa starrte den Riesen mit flackernden Augen an.
„Gascuna …“ – ihre Stimme zitterte – „mein Bruder und ich haben Inkablut in den Adern …“
„Ich das wissen … Ich sehen … Ich mir denken schon in Guayaquil, daß Doktor Guida von mir verlangen heilige Schlange wegen dumme Gerüchte, die werden erzählt von dummen Lügnern. Nicht wahr sein, daß Königsanakonda zeigen Weg zu alten Inkaschätzen …“ Er sprach dies mit einer so kühlen eisigen Verachtung, daß das Mädchen sich errötend abwandte. „Schlimm genug das sein, daß ihr beide haben mein Blut in Adern … Schlimm genug, daß Doktor Guida hoffen, heilige Schlange hier auf Galapagos-Inseln finden Inkaschätze … Alles Lügen das, kein Inkakönig flüchten hierher, wie in alte Bücher zu lesen … Das sein unwahre Märchen … Wahr sein nur das eine, daß heilige Anakonda nicht sterben …“
Graziosa hatte plötzlich suchend umhergeblickt.
„Gascuna, wo ist die Anakonda?“, rief sie noch ängstlicher.
Der Zapara überhörte die Frage …
„Mister Abelsen, wenn wir nehmen dort angetriebenen Baum mit große Krone, wir werden fahren durch Kanal ohne Schaden …“ Seine Stimme hatte wieder den eintönigen Klang … „Wir fahren, – ich denken, daß so kommen zu Plantage. Buggy und Sennorita und Kutter hier bleiben in See bis morgen abend … Dann kommen mit Kutter in Lagune an Oststrand, dann weitersehen …“
Aber Graziosa ließ sich nicht abweisen.
„Gascuna, – wo sind der Kopf und die Haut der Anakonda?“, fragte sie nochmals, und jetzt war alle Ängstlichkeit in ihr gewichen.
Der Zapara streifte sie nur mit einem flüchtigen Blick, erhob sich und erwiderte: „Wenn du haben Inkablut, du schweigen … Du verstehen!! Dein Bruder dumme Lügen glauben, – du nur glauben, was wahr sein …“
Er ging zum Kutter, zog den Notmast an sich, warf sein Segel, das ihm als Mantel gedient hatte, in den Sand und schob sein Buschmesser in den Gurt.
Ohne jedes weitere Wort erkletterte er den angetriebenen Baum, winkte mir zu, und ich konnte mich nur mit wenigen Worten von Buggy und dem Mädchen verabschieden, nahm Monte in den Rucksack, und sehr bald glitten wir auf dem Baumstamm still davon …
… Hinein in den Kanal, – die Baumkrone voran, der Zapara unser Fahrzeug steuernd, ich im Wurzelwerk stehend, nur mit einem dicken Ast als Bootshaken, – – oft genug liefen wir auf, wir kamen immer wieder frei, und während der Zurufe, die wir austauschten, ergab es sich ganz von selbst, daß wir alle Förmlichkeiten fallen ließen und daß das vertraute Du als Anrede von selbst zwischen uns sich einbürgerte, – – Gascuna, dieser Riese, hatte nicht nur seiner Kraftfülle und seiner Bescheidenheit wegen schnell mein Herz gewonnen, sondern mehr noch durch das dunkle Rätsel, das in seinen Augen schimmerte, und durch die ungewöhnliche Entschiedenheit, mit der er unseren Aufbruch zur Plantage veranlaßte und meinen eigenen Wünschen damit entgegenkam.
Einen besseren Gefährten wie ihn konnte ich mir kaum denken, – seine bärenmäßige Stärke ersetzte mir ein halbes Dutzend Männer, und was ihm etwa an geistigen Fähigkeiten abgehen mochte, würde ich unschwer ausgleichen können.
Denn so wie ich die Dinge nun überschaute, mußten wir mit größter Behutsamkeit zu Werke gehen. Mit plumpem Zupacken war hier nichts getan.
Da die Ebbe das Rückfluten der Wassermassen des Talafata noch verstärkt hatte, sausten wir mit unserem Floß oft unheimlich schnell dahin, und wir gewannen auch weit früher das offene Meer, als ich es ungefähr berechnet hatte.
Die aus dem Kanal kommende Strömung trug uns in gerader Linie auf die vorgelagerten Riffe zu, und die eigentliche Arbeit, das ungefüge Floß nun an die flache Ostküste zu lenken, kostete uns ebensoviel Zeit wie beharrliche Kraft.
Noch innerhalb des Riffgürtels leuchtete uns im Nordosten eine sandige Halbinsel entgegen, – es mochte Mitternacht sein, als wir sie erreichten und sofort den Marsch nordwärts fortsetzten. Eine knappe Stunde wieder, und ich erspähte die ersten Zeichen der Nähe von Menschen und Tieren: Ein Gehölz von südamerikanischer Zeder war hier auf einem flachen Plateau fast völlig niedergeschlagen worden, breite Schleifspuren im Sande, Hufeindrücke und Pferdedünger bewiesen, wie man die schlanken Stämme weggeschafft hatte. Diese Streifen im Erdreich glichen einer breiten Straße, wir hatten nur nötig, ihnen nachzugehen, und dann erblickten wir auch schon rechter Hand die Lagune, links voraus auf buschreicher Hochebene allerlei Baulichkeiten, an der Innenseite der Lagune einen großen Anlegesteg, Umzäunungen für Pferde, Maultiere und Guanacos, etwas abseits unter Bäumen ein größeres Gebäude, durch dessen Fenster Licht in die mondhelle Nacht blinkte.
Nochmals dreihundert Meter, – – da duckt sich Monte zusammen, windet. und wir sahen an dem Zaun einer Fenz einen Mann mit Büchse im Arm, der gerade wieder seine Pfeife in Brand setzte.
Ich bemerkte noch drei Wachtposten auf dieser Seite, – die Sache gewinnt ein sehr ernstes Gesicht, die Siedler sind alarmiert, nur Tobi Weber kann diese Sicherheitsmaßregeln angeregt haben.
Wir kauern hinter einem Busch, und Gascuna flüstert rauh:
„Ich werden zurufen Mann dort, wer hier sein, – keine Gefahr …!“
„Still!“ Ich glaube die Verhältnisse richtiger zu beurteilen … „Folge mir, Gascuna … Ich nehme Monte am Halsband …“
Wir schieben uns auf allen Vieren vorwärts, zwei der Wächter, einer davon ein ehrwürdiger Greis, stehen jetzt mit dem Rücken nach uns hin, – wir kommen unbemerkt hinter einen neu errichteten Stall, dann wieder kriechend bis zu dem Hauptgebäude, wo uns der Baumschatten schützt.
Ich überblicke die Hausfront …
Es ist ein weiß gestrichener einstöckiger Bau mit Veranda, vor der Veranda schlendert ein Posten hin und her. Ich wende mich der Rückseite des Gebäudes zu, – – ein Hofplatz hier, eine kleine Fenz, ein Stall, – – kein Posten!
Ich atme auf …
Nichts wäre mir je ungelegener gekommen als etwa hier mit den braven deutschen Siedlern aneinanderzugeraten. Keiner von ihnen, fürchte ich, würde für Frau Lengitt Partei ergreifen, falls eben das geschieht, was ich vermute.
Frau Doris ist bestimmt hier und muß sich heimlich ins Haus geschlichen haben. Vorhin waren noch die Seitenfenster hell. Nun liegt das Gebäude dunkel da, wie ausgestorben. – Man bewacht den kranken Lengitt, aber man ahnt nicht, daß vielleicht gerade in dieser Minute an seinem Lager ein Weib steht und nur im einfallenden Mondlicht Rechenschaft fordert für vieles, was sie selbst kaum begreift.
„… Gascuna, warte hier …! Nimm Monte!“
Ich muß Gewißheit haben …
Der schwarze Mondschatten, der den Dachgiebel und den einen Schornstein in scharfen Strichen auf den Hof zeichnet, verschluckt mich, – ich drücke mich in die Nische der Hintertür, und ich drücke gleichzeitig die nur angelehnt gewesene Tür weiter auf. Sie knarrt ein wenig, und dieses Knarren weckt in der stillen Nacht ein Echo …
Im Stall eingesperrte Hunde knurren …
Verstummen …
Ich überfliege nochmals mit prüfenden Augen den Hof und die Pferdefenz, ich sehe im Baumschatten ein paar Tiere, die Konturen verraten Pferde und Maultiere, aber nach links hin bemerke ich helle Pünktchen, erleuchtete Fenster der Siedlerhäuser, die da geisterhaft weiß unter riesigen Kugelakazien im Dämmerschein der Nacht träumen mit toten Schornsteinen und dunklen Flecken: Teile[19] der Schatten der Baumkronen!
Dann huscht eine Gestalt von der Fenz her heran, tief gebückt, sorgsam jede Deckung ausnutzend …
Frau Lengitt …
Will sie doch erst jetzt ins Haus?! Blieb die Tür zufällig offen, durch die ich mich nun in den dunklen Flur taste?
… Sie kommt …
Lautlos, schnell, ihre hastigen Atemzüge höre ich, ihr vorsichtiges Tappen …
Sie streicht an mir vorüber …
Plötzlich fällt eine schwache Lichtbahn in den Flur, – es ist nur eine Laterne, über die man eine dünne Leinwand geworfen hat. Ich kann in das Zimmer hineinschauen, die Laterne ist nur Fleck auf den Dielen, undeutlich erkenne ich die Füße eines Metallbettes, die zum Schutz gegen die Ameisen in weißen Näpfen stehen … Der Petroleumgeruch durchzieht auch den Flur … Außer den Bettfüßen und den Näpfchen und dem Laternenfleck blinken da noch zwei Sporen, deren vernickelte Rädchen bissige Zähne zeigen. Aber die Schuhe, zu denen die Sporen gehören, bleiben unsichtbar, – die Beleuchtung ist zu schwach.
Nun flüstert jemand … Die Metallspiralenmatratze des Bettes klirrt, und im Dreivierteldunkel taucht meterhoch über dem Fußboden ein neuer, minder heller Fleck auf, zweifellos ein geisterbleiches Krankengesicht: Chester Lengitt!
Es kostet mich Überwindung, hier nicht den Lauscher zu spielen, doch – wozu auch?! –, meine Vermutung fand ihre Bestätigung.
Der Weltentramp, der sich in Nordkanada die Zehen erfrieren und am Äquator die Nase zur braunroten Kartoffel aufbrennen ließ, schlich davon.
„Was da sein?“, fragte der Zapara ungewohnt lebhaft. „Das doch waren Frau Lengitt …!“
„Natürlich, Gascuna, – wer sonst?!“
Er zischelt nur, ich zischele nur, aber uns beide bewegen recht verschiedene Empfindungen. Der zyklopische Sohn der Amazonaswälder flüstert mit Angst im starken Herzen, weil er die hellhäutige Frau liebt. – Das ist sein Schicksal, – das las ich in seinen Augen an Bord des Kutters. Da verriet er sich … Seine Schwermut ist nicht nur Erbteil entrechteter Ahnen, sondern bitterer Verzicht. – Wer ist Gascuna?! … Ein indianischer Jäger, ein Exsträfling … Die Frau mit dem braunen Haar und den lichten Augen ist ihm unerreichbar, ahnt nichts von den heißen Wünschen dieses stillen, bescheidenen Riesen …
Der Zapara lehnt sich an einen Baum. Ich stehe vor ihm …
„Was werden wird, Abelsen?! Frau kommen, – nicht gut sein, daß allein mit Lengitt …“ – Ihm will das nur schwer über die Lippen …
„Still …!!“
Der Zapara schiebt den bloßen Kopf vor … Sein tiefes Atmen verstummt …
Aus der Tür da vor uns tritt Frau Doris, in den Armen einen völlig angekleideten Mann … Im Mondlicht leuchten Sporen, im Mondlicht schreitet die Einsame mit ihrer schweren Last schweren unsicheren Ganges zur Fenz …
Gascunas Riesenhand umspannt meine Schulter wie ein Schraubstock. Sein Atem fliegt, wird zum Röcheln …
„Abelsen, was das bedeuten?!“
„Flucht!“
Er schweigt ratlos …
Frau Doris trägt ihren kranken Gatten zu den Pferden, in den Schatten der Bäume, – – Steigbügel klirren, im Stall knurren die Hunde …
Der Zapara zischelt heiser: „Sie ihm auf Pferd heben … Nein, nicht Pferd, – Maultier sein, Maultier besser für Berge …“
Die Konturen zweier Tiere mit Reitern lösen sich aus dem Dunkel, – – da ist ein zweites Gatter in der Fenz, da ist kahler Boden, – – ich sehe Lengitt im Sattel hängen wie einen Sterbenden, ich glaube sein Stöhnen zu hören, die Frau stützt ihn, jeder Schritt des hochbeinigen Maultieres muß Lengitt peinigen …
Aber der kranke Mann dort weiß wohl, worum es geht … Seine Anstrengungen, sich aufzuraffen, haben Erfolg, die Tiere traben an, die Tiere verschwinden über einen Hügel …
Da hebt plötzlich ein Höllenlärm an …
Zuerst eine Männerstimme:
„Halt – – halt!!“
Ein einzelner Schuß …
Und als ob die Hunde der Siedler nur auf dieses Signal gewartet hätten, beginnt ein Blaffen und Heulen, in das auch die in den Stall eingesperrten Rüden einfallen.
Die rufenden Stimmen mehren sich, helle Frauenstimmen fallen ein, in den Häusern werden immer mehr Fenster hell, nochmals knallt ein Schuß, – arme Frau Doris, man wird dir das Entkommen nicht leicht machen!
Sekundenlang nur kämpfen zwei widerstreitende Empfindungen in mir. Ich kann die Siedler in all ihrer stillen Wut durchaus verstehen, sie sind die Betrogenen, die ihnen erwiesenen Wohltaten sind nur hinterlistige Intrigen mit irgend einem verschleierten Endziel, das für die Galgenbrüder irgendwie tausendfache Prozente für die verausgabten Summen verheißt! Und das haben die Leute nun endlich herausgemerkt, und ihr Grimm richtet sich gegen Lengitt, gegen den einzigen der Sippe, der ihnen bisher erreichbar war. – Auf der anderen Seite diese hilflose Frau, auch Deutsche, die wohl ihre guten Gründe haben muß, all dies für ihren Gatten zu wagen. Den Siedlern ist sie fremd, nur der Konservendosen-Tobi kennt sie, und Tobi weilt auf Santa Renata … – Schwere Entscheidung für mich, hier Partei zu ergreifen, hier sich einzumischen.
Und doch, – ich springe zur Fenz in flüchtigen Sätzen, ich weiß, daß Gascuna mir folgen wird …
Alles geht im Fluge …
Keine Sättel, kein Zaumzeug zur Hand …
Die Zeit drängt …
Die Pferde scheuen, sind kaum erst gezähmt, keilen aus, – der Zapara zwängt ihnen Lassostücke in die Mäuler, – – Monte jault, hat einen Huftritt bekommen, – – macht nichts! –, meine Bestie von Pferd nimmt den dicken Schädel zwischen die Vorderbeine und rast davon …
Männer spritzen auseinander, die soeben ein paar Gäule satteln …
Hinter mir verklingt ihr Brüllen, Drohen, hinter mir her fliegen die infamen Bleibienen …
Hinter uns, – denn der Zapara ist neben mir, sein Brauner keucht unter dem ungeheuren Schenkeldruck, und mein Rappe hat Flocken um das Maul und hebt den Schädel …
Vor uns ein Feldweg, neue Pflanzungen zu beiden Seiten, Wassergraben, schnurgerade ausgerichtete junge Schößlinge von Gummibäumen … – ganz weit voraus die beiden Fliehenden, – – sehr bald hat das, was sich hier Weg nennt, ein Ende, der Boden wird steinig, die Flüchtlinge halten die Richtung Nordwest, wo die Felsenmauern der Vulkanberge ihre Vorläufer in die Hochebene schicken …
Gestrüpp beginnt, Waldstücke erscheinen, dann eine steile Steigung, – – die Pferdehufe dröhnen über glatten Fels, – – mir erscheint es ein Wunder, daß Chester Lengitt diese Tortur aushält …
Ein Wunder?! – Wenn ich es mir genau überlege, ist es kein Wunder! Nur ein gewaltiger Trieb außer der Todesangst holt aus einem siechen Körper das allerletzte und alleredelste Fünkchen von Kraft heraus …!
Unsere Gäule gehorchen jetzt jedem Schenkeldruck … Die Gegend wird immer wilder, romantischer … Wir haben das Hochland und die Gestrüppzone hinter uns, die Berge nehmen uns auf, düstere Schluchten, enge Felsengrate, neben denen die unergründliche Tiefe droht. Wir verhalten die Pferde … Wir sind den beiden da vorn bis auf dreihundert Meter nahe gerückt …
Ich rufe:
„Frau Lengitt, – – hier Abelsen!!“
Sie muß mich hören, sie und ihr Gatte klimmen gerade einen Ziegenpfad empor, der die Hufe selbst der Maultiere ausrutschen läßt …
Zeit und Raum, Umgebung und Gefahr, – alles hat hier seine Bedeutung verloren …
„Frau Lengitt!“
Sie wendet nicht einmal den Kopf …
Mein Gaul gleitet zurück, rutscht auf der Hinterhand, bremst mit den Vorderbeinen, rappelt sich hoch …
So gewinnt Gascuna Vorsprung …
„Verdammte Galgenbrüdernadel!“, – ich möchte fluchen, ich ahne, weshalb Doris mir ihr Vertrauen entzogen hat …
Törichte Weiber, – – so leicht umzuwerfen in allem, was sie als Überzeugung in ihre Seele pflanzten …
Pflänzchen mit sehr dünnen Wurzeln …
Da vor mir stolpert Gascunas Brauner, der Riese gleitet blitzschnell zu Boden, der Gaul überschlägt sich, kommt mir entgegengesaust, reißt Steingeröll mit …
… Mein Gaul schäumt, schwitzt, prustet … Wir sind oben … Der Ziegenpfad ist überwunden, rechts eine Steilwand, ein Wolkenkratzer, links ein Abgrund, über dessen Baumwipfel, alles Nadelhölzer mit hellen Nadeln, das Nachtgestirn seine Strahlen ausstreut und der grauenvollen Tiefe das Beklemmende nimmt.
Und an diesem Granitgefüge, das da senkrecht abstürzt, hat ein Steinmetz, der noch ganz andere Dinge schuf, einen Vorsprung ausgemeißelt – einen endlosen schmalen Balkon ohne Geländer, der mit Treppen und Treppchen seine einzelnen Stücke immer höher schickt – ein Weg des Fegefeuers ohne Fegefeuer, – der Weg zweier Flüchtenden, ein Abseitspfad …
Lengitt muß ihn kennen. Lengitt reitet jetzt voran … Hinter ihm Doris, geborene Schmidt, – – sein Weib, seine Retterin, Helferin …
Und hinter dem Paar mit leichten federnden Sätzen der riesige Sohn der wilden Wälder der Amazonastäler, jetzt dahinschnellend wie der Puma in seiner Heimat, lautlos, sicher, jeden Sprung berechnend …
Und doch kein Puma.
Der Puma ist zumeist feige …
Der Zapara kennt dieses elende Wort nicht, das die Superschlauen stets mit Phrasen übertünchen und … belächeln …
Feigheit?! Selbstsucht?!
Der stille, schweigsame Riese da weiß nichts von der Erbärmlichkeit jener Wichte, die das falsche Glockenläuten des Wortgefasels vor die Tat stellen und hoffen, dieses sanfte Gesäusel würde genügen, auch die Augen zu blenden …!
… Vorsichtig tappt mein Gaul auf diese schmale Brücke … Vorsichtig äugt er in die Tiefe, schrickt zurück …
Hinter mir jault Monte … Das Jaulen ist langgereckt, ist tief und dumpf … So, wie Hunde an der Leiche ihrer Herren ihrem Schmerze Ausdruck geben …
… Das Rabenvieh von Pferd – den dicken Schädel trägt es nicht umsonst! – bekommt meine Jacke über den Kopf geworfen, – – Schenkeldruck, – – er stöhnt, er tappt weiter …
Tappt …
Und die da vor mir wagen ihr Leben …
Schritt um Schritt reiten sie weiter, – – Maultiere sind hier mehr wert als das beste Rennpferd, – – dicht hinterdrein der Zapara, nicht mehr springend, und seine Stimme tönt von dem Urgestein, über das die Lava dunkle blanke Streifen zog, als Echo zurück:
„Hier sein Gascuna … Keine Furcht haben! Wir Freunde sein …!“
Gut gemeint von dem Braven, – nur der Erfolg ist bitter.
Doris Lengitt traut uns nicht … Sie drängt ihr Tier vorwärts, – genau dort sind ein paar Stufen, eine Erhöhung, Geröll, Treppe zum nächsten Balkon … Lengitts Maultier rutscht, Steine poltern in die Tiefe, das Maultier hängt nur noch mit den Vorderbeinen über dem Abgrund, ein Schatten drückt sich blitzschnell an Frau Lengitt vorüber, – – in solchen Augenblicken ist man Automat, mein Gaul macht ein paar Sätze, steht, – – ein gellender Schrei, ich werfe mich nach vorn über den Hals des Rappen, packe im letzten Moment zu, reiße Frau Doris nieder, drei Körper verschwinden, – – Totenstille … nur das Keuchen der fliegenden Atemzüge, dann irgendwo das Splittern von Holz, dumpfe Aufschläge … fernher – wie aus einer anderen Welt …
Ich halte die bewußtlose Frau in den Armen, ihr Maultier drückt sich neben uns an die Steilwand, – – vor uns ist der Felsgrat leer …
Und doch nicht leer …
In einer Spalte am Rande steht aufrecht ein buntes Etwas …
Ein großes lebhaftes Schlangenauge glänzt im Mondlicht …
Es ist der Kopf der Königsanakonda, eingekeilt in den Steinriß, das Maul nach oben gerichtet …
Und dieses eine Auge, das mir zugekehrt ist, erlischt …
Wie eine glühende Kohle langsam an der Luft erstirbt, wieder glanzlos, schwarz wird …
Das Leben schwindet aus ihrem Schlangenblick, das Auge schrumpft, fällt ein …
Ich selbst?!
Ich, mit der ohnmächtigen Frau in den Armen rege mich nicht.
Da ist irgend etwas in mir, das sich sträubt gegen den Glauben an uralte Inkasagen …
Es ist die Scheu vor dem Hinübergreifen rein tatsächlicher Vorgänge in das Reich des Übernatürlichen. Es ist das bewußte Auflehnen eines Menschen, der die Naturwunder der Welt schaute, gegen ein Wunder, das außerhalb der Allschöpferin Natur liegt …
Und doch: Ich bin Zeuge, wie das Auge erlischt, wie schließlich nur noch die Augenhöhle bleibt mit einem faltigen dunklen Etwas darin – kein Auge mehr …
Da ist noch ein weiteres …
Ein Stöhnen kommt von unten, – dicht unter mir, und der Schlangenkopf bewegt sich …
Ich lasse die Frau auf das Gestein gleiten, schiebe mich über den Abgrund.
Mein Herzschlag setzt aus …:
Hell beschienen vom Nachtgestirn hängt da Chester Lengitt an einem Tau, das kein Tau ist …
Es ist der langgereckte, farbige Schlauch der Anakondahaut.
Lengitts weißes Krankengesicht stiert zu mir nach oben … Mit Händen, Füßen und Zähnen hält er sich fest …
Stöhnt …
Schweißbäche der Schwäche laufen ihm über Stirn und Wangen …
So sah ich Chester Lengitt zum ersten Male: Der Mann über dem Abgrund, der Mann, der nicht sterben will, nicht sterben soll …
Ich beuge mich tiefer … Meine rechte Hand krallt sich in seinen Rock, die linke stützt mich, und unendlich langsam ziehe ich ihn empor, drücke ihn an die Felswand, sein Kopf sinkt zur Seite, er sackt zusammen, Zähne und Hände öffnen sich, und die Anakondahaut gleitet samt dem Kopf über den Rand hinweg …
Ich blicke kaum hin.
Ich überlege nicht viel, wie es denn gekommen, daß der Kopf sich ebenfalls wie von selbst aus dem Gesteinriß löste … Ich denke nur an die beiden Menschen, die hier nur mich haben und hinter sich die Verfolger mit der Meute der Hunde, deren blaffende wütende Stimmen die Wildnis mit fremden Lauten erfüllen.
„Monte, hierher …!!“
Freund Monte kommt näher …
„Hinlegen!!“
Der bekannte Pfiff mahnt ihn, – – er liegt, er liegt neben Frau Doris, und ich weiß, daß die Frau nicht abstürzen wird.
Ich nehme Lengitt in die Arme, steige höher, – die Felswand hat eine scharfe Kante, und als ich hinter dieser Biegung in die Tiefe schaue, sehe ich unter mir den Talafata, den Dampfenden, in leichtem Dunst mit seinen schroffen Abhängen, seinen weißen Geiserkatarakten und der kleinen Insel wie ein fahles Auge, – – wie ein Riesenauge …
Gleich darauf kann ich Lengitt unter Nadelbäumen auf weiches Moos betten, kann zurück zu Frau Doris, die ich bereits wach vorfinde, vor ihr Monte – sitzend, – – sie hat die Arme um den Hals des Hundes geworfen, und ihr Schluchzen wird erstickt in Montes buntscheckigem Fell.
„Er lebt … Frau Doris, – – er lebt …!“
Ein marmorblasses Gesicht starrt mich ungläubig an …
Aber dann begreift sie …
„Abelsen, – – es wäre auch zu hart vom Schicksal gewesen …!“
… Wie einst liegt ihr Kopf an meiner Schulter, wie einst trage ich sie eilends davon, damals über das Neuland, das der Ozean soeben geboren hatte, – heute über uralten vulkanischen Boden.
Mit einem leisen Schrei fällt sie über die regungslose Gestalt dort im Moose …
Chester Lengitt ist wach … Matt, ganz matt drückt er sie an sich … Sie hebt seinen Kopf, küßt ihn, flüstert …
In ihr Flüstern mischt sich das drohende Geheul der nahenden Meute, und ich und Monte hasten zurück, holen Maultier und Pferd, jagen sie in das Waldstück, kehren um und verrammeln den schmalen Grat, – ich sehe die ersten Hunde nahen, hinter ihnen Männer, straffe, harte Gestalten, jung und alt, Jüngling und Greis, – –
… „Halt!!“
Hinter meiner Deckung hervor hemme ich den ersten Ansturm.
Tiere, Männer stutzen …
Stehen still …
Da ist der vorderste, derselbe Patriarch, den ich bereits einmal sah … Weißbärtig, eine Fülle weißen Haares um sein runzliges Gesicht, eine Adlernase über schmalem Munde, blanke Augen, in knochigen Fäusten eine Büchse …
Ein Modell für Defreggers[20] Wilderergestalten, – – und doch nur der schlichte deutsche Zimmermann Anton Weber, Tobis Großvater.
Der Greis, der kein Greis ist, ruft mir drohend zu: „Scheren Sie sich zum Teufel, wer Sie auch sein mögen … Platz da …! Der Narrentanz hat ein Ende!“
Das ist eine Stimme, die ein Leben des Kampfes um das tägliche Brot gestählt hat. Das sind da hinter ihm Leute desselben Schlages, hart geworden durch Arbeit, ehrliche Arbeit, die ihnen als Selbstverständlichkeit erscheinen mag. Sie alle haben nie etwas anderes gekannt: Arbeit, von Jugend an …! – Sie sind keine Heißsporne, keine Hitzköpfe, aber die finstere Entschlossenheit prägt sich in ihrer Haltung aus.
Ich rufe nun zurück, – die einfachste Form der Verständigung ist hier die gegebene.
„Ich bin der Mann, der mit seinem Hunde allein wochenlang auf Santa Renata hauste, jedenfalls ein Gegner all derer, die im Trüben fischen. Ich sprach einen von Ihnen auf Santa Renata, Tobi Weber, damals hielt ich mit meinem Namen zurück, weil ich Tobi Weber für einen Verbündeten Professor Mackencies hielt. Ich bin der Schwede Olaf Abelsen, – oder halber Schwede, meine Mutter war Deutsche, Berlinerin … – Wollen Sie noch mehr wissen?“
Zunächst stellte der Alte den Kolben seiner Büchse auf den Boden, und seine Haltung wurde weniger unfreundlich und angriffslustig.
„Wir dachten es uns, daß Sie es seien, Herr“, erklärte er nachdenklich. „Tobi, mein Enkel, hat Ihnen damals an der Bucht neben den Konservenbüchsen die Geschichte von der Expedition, zu der Sie gehören wollten, nicht geglaubt … Tobi ist kein Grünling. – Wer war das, der uns Lengitt entführte? Etwa die Kreolin?“
„Nein, seine Frau …“
Der Greis hob überrascht den Kopf und kam schnell näher.
Nun war nur noch die Steinbarrikade zwischen uns … Wir standen beide aufrecht da, und der Mond, der sich bereits bedenklich den Bergkuppen im Nordwesten näherte, konnte jeden Augenblick verschwinden.
„Anton Weber ist mein Name, Zimmermann mein Handwerk, jetzt Teilhaber der James-Plantage, eines Schwindelunternehmens“, erklärte er sehr gelassen und streckte mir die Hand hin. „Freue mich, Herr Abelsen … Bisher lernten wir hier nur ausgekochte Schurken kennen …“
Sein Händedruck war kaum für ein Damenhändchen berechnet.
„… Also Frau Lengitt tat es, – das verstehe ich nicht“, fügte er hinzu. „Überhaupt ein merkwürdiges Brautpaar, – von Ehepaar kann man noch nicht sprechen, denn diese Doris Schmidt hatte im Hotel ihr eigenes Zimmer, und die Hochzeit war nur … – nun, Sie verstehen mich … Liebe war kaum dabei, am nächsten Tage fuhr Lengitt hierher, Doris Schmidt, man müßte sie ja weiter so nennen, blieb zurück …“
Er lehnte sich an die Felswand und betrachtete mich sinnend …
„… Ich werde daraus nicht klug … Jetzt schon gar nicht …“, murmelte er achselzuckend. Es klang etwas hilflos … „Tobi hält sehr viel von Doris Schmidt … Tobis Urteil trifft immer zu. Er hört das Gras wachsen … Die Fledermausohren sind erblich bei uns, – zu groß, aber praktisch … Nur die Nasenform ist einheitlich …“ Er lachte still in sich hinein. „Trotzdem, – den Lengitt müssen wir haben, Herr Abelsen …“
Die Stelle des zumeist nur meterbreiten Vorsprunges, an der wir hier standen, lag noch vor der Biegung der Steilwand, und der Talafata war durch Bergwälder verdeckt.
Die Stimmung, in der ich hier für das Ehepaar eintrat, wurde stark beeinträchtigt durch die Gedanken an Gascunas Tod. Mein Blick flog über den Abgrund hin.
Der alte Weber hatte einen feinen Instinkt für alles.
„Und wer war Ihr Begleiter, Herr Abelsen?“, fragte er in aller Freundlichkeit.
Ich kam zu einem Entschluß.
„Herr Weber, wir müssen das alles gründlich durchsprechen … Kehren Sie um, ich folge Ihnen, wir können drüben in aller Ruhe die Dinge klar stellen. Lengitt entgeht ihnen nicht … Er ist viel zu krank. Er liegt hinter mir im Moose, halbtot. Seine Frau ist bei ihm …“
„Gut!“ – Der alte Weber nickte zufrieden. „Mit Ihnen läßt es sich reden … Gehen wir … Der Mond verschwindet auch … Wir sind keine Unmenschen, wir wollen nur endlich wissen, woran wir sind …“
Dort, wo der steile Ziegenpfad über eine breite Felsplatte lief, die uns allen Raum bot, loderte sehr bald ein Feuer. Ich zählte zehn Männer, dann noch vier Frauen oder Mädchen, – Weber erledigte die gegenseitige Vorstellung sehr flüchtig, wir beide setzten uns, die anderen hielten sich zurück …
Ich begann zu berichten. Die Geschichte mit Mackencie streifte ich nur kurz. Als ich von dem Seebeben sprach, rückten die Zuhörer näher …
„Davon wissen wir noch mehr“, flocht der alte Weber ein.
Ich erwähnte dann auch die Anakonda, unseren Sprung in die Schlucht mit der Blumenzwischendecke und Tobis vielsagenden Ausruf, der es mir möglich machte, John Buggy zu befreien.
Es war ganz still geworden, nur das Feuer knisterte und beleuchtete die gespannten Mienen der Siedler.
Wieder warf da der Alte eine Bemerkung ein. „Ich muß Ihren Bericht ergänzen, Herr … Ein Stück darin fehlt … Lengitt hat sich häufiger mit jemandem auf Santa Renata getroffen … Das ist richtig. Es war also Mackencie. Dann kenterte das Motorboot vor acht Tagen in der Brandung vor der Laguneneinfahrt, und wir konnten Lengitt nur mit Mühe retten, ein Hai hatte sich in seinem Oberschenkel verbissen. – Tobi ahnte schon längst, daß wir hier beschwindelt wurden, allerdings zu unserem Vorteil. Als er mit Ihnen zusammen gewesen war, war er gegen unseren sogenannten Wohltäter noch mißtrauischer geworden. Er sagte es Lengitt und der Graziosa Guida auf den Kopf zu, daß die junge Plantage niemals die Beträge abwerfen könnte, die man in Guayaquil für uns regelrecht auf der Bank einzahlte. Und dies, Herr, ist und bleibt der springende Punkt: Weshalb all die Geldaufwendungen für uns einfache Leute?! Bei uns ist doch nichts zu ergaunern! – Nun gut, sowohl Lengitt wie die Kreolin waren recht bekniffen, als Tobi loslegte … Und er war nicht gerade wählerisch mit seinen Ausdrücken. Lengitt war krank, wir nahmen Rücksicht auf ihn, aber die Kreolin sollte Farbe bekennen, und Tobi wollte sie mit zu Ihnen nach Santa Renata nehmen. Von dem Neuland wußte auch er noch nichts … Unterwegs sah er dann wohl, wie Santa Renata sich nach Osten vergrößert hatte, wird gelandet sein, die Kreolin kniff ihm aus, nachher erwischte er sie wieder, als sie mit dem Boot davonfuhr und als Sie sie für Frau Lengitt hielten, er konnte sie als Begleiterin nicht brauchen, band sie an das Riff fest, sicherlich so, daß ihr nichts geschehen konnte, denn Tobi ist kein Bandit … – So muß es gewesen sein, Herr …“
„Freilich, – und nun hören Sie den Schluß.“
… Als ich über Zaparas Sturz in den Abgrund sprach, senkten sich die vom Feuerglanz umspielten Gesichter … – Von der Inkaanakonda erwähnte ich nur das Nötigste. Ich wußte ja selbst nicht recht, was ich davon halten sollte, und diesen schlichten, geraden Menschen lag die Welt des Übernatürlichen noch ferner als mir.
Der alte Weber und die Seinen erfuhren nur eins von mir nicht: Daß an der Insel des Talafata der Kutter ankerte! – Ich begnügte mich vorsichtigerweise mit der Bemerkung, der Kutter, Graziosa[21] und Buggy befänden sich in einer Bucht der Ostküste. Es war dies nicht ganz aufrichtig, ich glaubte trotzdem diesen Vorbehalt verantworten zu können, niemand zeigt seine Karten, wenn nicht auch die andere Partei es tut, und bisher war ich über die James-Plantage und ihre Bewohner und über das undurchsichtige Intrigenspiel vollkommen im unklaren.
Freilich, der greise Mann, der mir hier am Feuer gegenübersaß, hatte bereits angedeutet, daß er selbst nichts wüßte – gar nichts …
Und dies betonte er jetzt nochmals.
„Finden Sie eine Erklärung für diese Geldausgaben der Galgenbrüder heraus, Herr Abelsen? – Ich nicht …! Wir alle nicht! Keiner! Nur eins haben wir festgestellt: Daß die Einnahmen nicht stimmen können!! Wir haben Lengitts Bücher durchgesehen. Man hat uns den wie gesagt angeblichen Verdienst ganz einwandfrei gutgeschrieben, der gar nicht vorhanden.“
Einzelne der Männer rückten nun näher heran und erörterten mit mir dasselbe Thema.
Tatsächlich, – die ganzen Zusammenhänge dieser eigentümlichen Auswanderergeschichte und Plantagengründung mit allem Beiwerk blieben undurchsichtig. Zugegeben, daß diese Nacht mich innerlich tief niedergedrückt hatte, Gascunas Tod war für mich ein schwerer Verlust, der heldenhafte Opfertod des riesigen Zapara lenkte meine Gedanken immer wieder ab, – ich kannte nur eins: Die Siedler bitten, heimzukehren und mir das weitere zu überlassen, falls sie das nötige Vertrauen in mich setzten.
Und das beteuerten sie, erklärten sich sofort einverstanden, zumal sie nun einsahen, daß sie die Lagune und die Plantage fast schutzlos zurückgelassen hatten.
Wir schieden als Freunde, sie beschleunigten den Heimritt, das Poltern der Pferdehufe erstarb in der Ferne, und ich war mit meinem Monte allein …
Doris Schmidt …!
Alle hatten geglaubt, sie sei in diese Ehe mit Lengitt hineingehetzt worden … – Sie hatte ihn freiwillig geheiratet, das Grundmotiv war Liebe gewesen, und sogar zweifellos die Liebe einer sehr reifen Frau zu einem sehr fragwürdigen Menschen, der trotzdem in seiner Verlobten die Hoffnung geweckt hatte, das Fragwürdige könnte ausgetilgt werden.
… Und da erhob ich mich. –
Die Zeit, die ich mir selbst gegönnt, mit mir ins klare zu kommen über dies und jenes, war verstrichen.
Die Tat rief … Die Gedanken verblaßten.
Und noch immer war ich am meisten ich selbst, am stärksten ich selbst, wenn ich das Denken zurückstellte hinter das frische, frohe Wagen und Handeln.
Ich schritt am Felsengrat entlang …
An der Stelle, wo Gascuna abgestürzt war, nachdem er Lengitt aus dem Sattel gerissen und so vor dem sicheren Tode bewahrt hatte, machte ich halt. Der Zapara war nicht für Chester Lengitt gestorben, sondern für die Frau, die er, der Sohn der Amazonaswälder und der Inkas, liebte.
… Armer Gascuna mit den traurigen Augen im erzenen Gesicht, ich werde dich dort unten suchen, finden, und dir soll ein Grab werden, das zu dir paßt: Schlicht, bescheiden und doch deine Herzensgüte rühmend!
… Weiter wanderte ich, kam zu dem Felsverhau, den ich hier aufgeschichtet, bog um die Krümmung der Felsenbalkone und hatte den Talafata in der Tiefe unter mir, vor mir das baumbestandene Plateau.
Monte, fünf Schritt voraus, stand plötzlich wie angewurzelt, duckte sich zusammen, knurrte …
Obwohl das Mondlicht geschwunden war, gaben die Sterne noch genügend Licht …
„Rühren Sie sich nicht!“, warnte eine schroffe Stimme aus den nächsten Büschen …
… Ich hatte zu sehr darauf vertraut, daß die zwölf Herren – nein, es waren nur noch acht – Santa Renata nicht verlassen könnten …
Mein Blick glitt über das Gestrüpp …
Vier Büchsenläufe spielten dort allzu gerade gewachsene Äste.
Mein Blick huschte rückwärts …
Anfänger!! – – Der drohende Anruf war zu früh gekommen … Dicht vor mir gab es die letzte der Naturtreppen, die die Felsengrate zur fortlaufenden, ansteigenden Linie machten.
Ich sackte zusammen … kroch vorwärts …
Die Partie stand jetzt gleich … Nur daß ich die bessere Deckung hatte.
Drei, vier Steine genügten, ich schob die Winchester vor, und ich wußte auch ganz genau: Die Leute da würden sich hüten, einen Schuß abzufeuern und dadurch die Siedler zu alarmieren!
Meine Rechnung stimmte.
Derselbe Mann meldete sich: „Mr. Abelsen, falls Sie Dummheiten machen, – – wir haben Lengitt und Frau und den Tobi Weber hier, und …“
„Wer sind Sie?“, – ich wollte doch wenigstens wissen, mit wem ich dieses nächtliche Zwiegespräch führte.
„Doktor Guida …“, kam die Antwort …
„Also der Henker der Galgenbrüder, der Obermacher …!“ – Ich nahm die Herrschaften nicht ernst … Vor Gericht mochte Guida als Anwalt eine Leuchte in Rechtsverdrehung sein, hier in der Wildnis blieb er Stümper.
„Gestatten Sie mal!!“, empörte er sich. „Galgenbrüder?! Sie phantasieren wohl …! Wir sind alles angesehene Persönlichkeiten, die …“, – – da setzte die Denkmaschine aus, schon der Anfang dieser Sätze hatte mehr überrascht und ängstlich als ehrlich aufgebracht geklungen, und das ganze Gestammel war nur ein Beweis dafür, wie arg den Leuten dieser unerwartete Angriff und Vorwurf in die Glieder gefahren war. Jedenfalls: Wenn sie jetzt noch eine Trumpfkarte gegen mich in der Hand gehabt hätten, würden sie sie ausgespielt haben. Diese Trumpfkarte wäre der Kutter samt Graziosa und Buggy gewesen! Mithin waren ihre Möglichkeiten, mir zu drohen, erschöpft, und ich brauchte diesen Zwischenfall nicht allzu stark in Rechnung zu ziehen, irgendwie mußte sich für das Ehepaar Lengitt und für Tobi Weber etwas tun lassen, selbst ohne die Hilfe der Siedler.
Nach dieser Unterbrechung der gegenseitigen Hochachtungsbeteuerungen, bei denen „Henker“ wohl eine sehr empfindliche Stelle der schwarzen Seele Doktor Guidas getroffen hatte, blieb es eine Weile still.
Also – – abwarten …! Ich hatte Zeit, und die Siedler drunten würden schon aufpassen, und was Buggy betraf, – der war ja auch kein Säugling und dürfte ebenfalls die Augen gut offen halten …
Das Kriegspalaver da drüben dauerte nun allerdings erheblich lange, die Herren vom T-Klub schienen einander so etwas in die Haare geraten zu sein, der schwache Wind trug mir aus den Büschen Wortfetzen zu, einmal erkannte ich deutlich Mackencies Stimme, dann wieder einen verächtlichen Ausruf Doris Lengitts, und endlich meldete sich nun Doktor Guida aufs neue …
„Hallo, Mr. Abelsen …! – – Hallo …!“
Ich ließ ihn zappeln … Ich war doch wohl, nur nach der anständigeren Seite hin, etwas gerissener als die Leutchen …
„… Entschuldigen Sie, Doktor Guida, ich war etwas eingenickt …“
Ob er darauf wohl anbiß?! – Er biß an …
„Oh, das macht nichts … Wir beraten noch … Wir wollen eine Stunde Waffenstillstand vereinbaren, Mr. Abelsen, wir möchten nichts übereilen.“
„Sehr richtig! Zumal mit Eile hier nichts getan ist … Von mir aus einverstanden …!“
„Also abgemacht – eine Stunde …! Es ist jetzt zwei Uhr morgens, genau zwei Uhr …“
„Gut, ich werde meine Uhr stellen … Bilden Sie sich aber nicht ein, daß Sie mich überrumpeln können … Mein Hund wird wachen … – Also um drei …“
„Um drei!!“, – – und dann war Waffenruhe …
Brüderchen Guida, dachte ich schadenfroh, – eine Stunde!! In dieser Stunde wollt ihr auskneifen und von der anderen Seite an die Plantage heran!!
Und ich spitzte die Ohren, ich gab auf jeden Ton acht, ich zerlegte die wenigen Geräusche, die mir verdächtig erschienen, ich vernahm Stimmen, – sie wurden leiser, lebten wieder auf, – die Brüder taten ihrerseits alles, um mich zu täuschen …
So vergingen die ersten zwanzig Minuten …
Dann hörte ich gar nichts mehr …
Ich gab noch fünf Minuten zu …
„Monte, – – allons, – – suche mein guter Hund!“
Und Monte setzte über die Steine hinweg …, verschwand in dem Waldstück, ich pfiff leise, er kehrte zurück, ich wußte nun, daß die Helden, wie ich vorausgesehen, abgezogen waren …
Mit ein paar langen Sätzen erreichte ich die Büsche und den Baumschatten, drang weiter vor, stand am Rande einer steil abfallenden Terrasse, unter der eine zweite, eine dritte und vierte, alle dicht bewaldet, zum Talafata-Kessel lotrecht abfielen. Es waren dieselben Bergterrassen, von denen Graziosa behauptet hatte, sie seien nicht zu erklimmen.
Das stimmte nicht ganz … Nur über diese Terrassen konnten die Herrschaften vom Tennisklub hier nach oben gelangt sein.
„Monte, – hierher!!“ – Es half ihm nichts. Er hatte eine starke Abneigung gegen den Rucksack, er mußte hinein …
Die Spur der Herrschaften war in der Dunkelheit nicht gut zu verfolgen, trotzdem gelang es, und an der äußersten Südwestecke der Terrasse, wo eine Steilwand den weiteren Weg versperrte, fand ich des Rätsels Lösung …: Ein einzelner Nadelbaum stand auf der unteren Terrasse, ein Riese seines Geschlechts, seine Krone war nur drei Meter vom Rande der Terrasse entfernt, und zweifellos hatte hier am Rande des Abhangs ein Brett gelegen und die Verbindung nach der Krone hergestellt. – Das Brett fehlte …
Nun, ein abgestorbener Baum tat es auch …
Ich schleppte ihn heran, vermied jedes Geräusch, kippte ihn in die Krone hinein …
Drei Meter nur …
Aber drei Meter, die mir und Monte das Leben kosten konnten.
Beim ersten Schritt schon gab die Brücke nach, es knackte verdächtig, – die nächsten Schritte waren Spiel mit dem Tode, waren tollkühne Seiltänzersprünge, – – und dann hatte ich den harzigen Stamm umarmt, atmete auf …
Der Baumriese war gut fünfzig Meter hoch! Und selbst wenn die Äste mich aufgefangen hätten, – das hätte allzuviel Lärm gegeben …!
Das Spiel war halb gewonnen … Ich kletterte hinab …
Ich kletterte hinab … Der Nadelbaum steht zwischen Felsen, die von Dornen überwuchert sind.
Die ewigen Nebel und feinen Sprühregen der Vulkankuppen der James-Insel lagern dort drüben rechter Hand hoch droben über allem Menschenleid und aller Menschengier …
Um mich her Wildnis …: Dornen, Kakteenfelder, Gestrüpp, Schlingpflanzen, Bäume …
Plötzlich erreiche ich, lautlos schleichend, eine Stelle, die vom Mondlicht noch getroffen wird, – gleich darauf eine Lichtung etwa mitten auf der Terrasse …
Das Bild vor mir wirkt bei der unsicheren Beleuchtung seltsam unwirklich, fast wie eine Bühnenszenerie.
Ich kauere im Dunkel eines Busches, vor mir auf der Lichtung steht ein Baum, halb abgestorben, halb ohne Rinde, nur noch mit Aststümpfen: Unverkennbar Galgenform!
Drüben im Schatten geistern die Konturen einer mit Zweigen verkleideten kleinen Blockhütte.
Ein einziger verlorener Lichtstrahl einer Lampe fällt nach draußen wie ein rötlich blanker Strich.
Nicht eine Menschenseele ist zu bemerken, – doch das Stimmengemurmel von der Hütte her schwillt zuweilen an …
Monte wird unruhig … röhrt dumpf …
Und mit einem Male richtet sich da neben mir eine Gestalt auf …
„Weber, – – Sie?!“
„Allemal der Tobi Weber!!“
„Ich denke, man hat Sie gefangen genommen, Herr Weber?!“
Wir flüstern nur …
„Hat man Ihnen das vorgelogen?! – Ach nein, Herr Abelsen … Sie wissen ja, zwischen Wollen und Vollbringen klafft oft ein Hindernis. – Die Sache liegt so … Ich wollte die ganze Bande hierher schaffen, ich ließ ein Floß bauen, wir spannten das Motorboot vor, und ich steuerte. Die Kerle sind ja außer Mackencie ungeborene Esel, und Mackencie hat Pech gehabt … Er kollerte da auf Santa Renata bei Ihrer Verfolgung den Abhang hinab … – Das so nebenbei … – Guida befahl mir, am Anfang der Einfahrt in den Talafata-See anzulegen … Daß die Burschen hier so eine Art Klubhaus hatten, ahnte ich längst … Ich legte also nicht an, steuerte Boot und Floß in die Klippen, die Brandung besorgte das übrige, und die Herren mußten schwimmen – – ich auch! Das schadete nichts, die meisten von ihnen mußten ihre Büchsen fallen lassen, vielleicht gab es auch Rippenbrüche, ich selbst – –, na, Sie sehen ja, schön sehe ich nicht aus … Sie krabbelten an Land, fluchten, stöhnten und setzten sich in Marsch. Ich habe meinen Schießprügel noch, und Mister Buggy hat auch einen, – der horcht jetzt drüben, was die Herrschaften beraten.“
„Buggy?! Wie fanden Sie den?!“
Er lachte leise … „Da war nichts zu finden. Der war mit Graziosa Zuschauer bei dem Theater, als die nassen Pudel übel durchweicht an Land kraxelten … Buggy sorgte sich um Sie und den Zapara und hatte die Insel im Talafata verlassen.“
„Und wo steckt Graziosa?!“ Ich wurde ungeduldig … Tobi Webers gemütliches Gerede war mir zu langatmig …
„Kunststück! Wo Graziosa steckt?! – Immer bei Buggy …! Ich habe mich natürlich bei ihr fein säuberlich entschuldigt, und …“
„Stopp!! – Was wird nun werden …?!“
Tobi kratzte sich den Kopf … „Werden?! – Die Sache wird wohl sofort losgehen … – Dies hier ist offenbar seit langem der Tanzplatz der Galgenbrüder … Was man so Tanzplatz nennt … Man kann auch Bürogebäude sagen – – oder Tempel oder Richtstätte, alles stimmt … Ich weiß ziemlich viel über diese Brüderschaft, ich wollte nur meine Landsleute nicht ängstigen, daher schwieg ich, schon als Kellner in Guayaquil reckte ich die Ohren, was bei mir kaum noch möglich ist …“
„Und Sie wissen auch, weshalb die Leute Sie und die anderen Deutschen hier so verlockend schön ansiedelten?“
„Nein, – das nicht … Aber das wird nun wohl endlich an den Tag kommen … – – Still, – da kommen sie … Sie sind ja nicht mehr ganz vollzählig … – Aha – – Lengitt, Frau Doris. – – Na wartet, – die Suppe wird euch versalzen …!“
… Sie kamen … Es waren noch acht Mann, aber Mackencie schlich hinterdrein, nur noch ein klägliches Wrack, nicht mehr jener Mackencie, der auf Santa Renata goldene Träume geträumt hatte, – sein linker Arm hing in einer Schlinge, sein rechtes Bein schleifte nach, er zeigte kaum noch Interesse für das Treiben seiner Verbündeten …
Lengitt und Doris waren nicht gefesselt, aber neben ihnen schritten ein paar Burschen, deren nahe Verwandtschaft mit der Hölle kaum noch schriftlich nachgewiesen zu werden brauchte, – – man sah es ihren Gesichtern an.
Der gespenstische Zug hatte es eilig …
Unter dem Galgenbaum machte er halt, und derselbe Mann, dem ich durch einen Stein zu starken Kopfschmerzen verholfen und dem Buggy die Nadel weggenommen hatte, erkletterte den Galgen, knotete ein Seil daran fest und ließ die Schlinge herabfallen.
Da war einer der acht, dem man die Ähnlichkeit mit Graziosa sofort ansah, ein schlanker Gentleman mit gezierten Bewegungen: Herr Doktor Guida!
Guida führte das große Wort …
Er war nervös, man fühlte geradezu, daß ihm die Angst im Nacken saß, daß er sich bemühte, sich als Herrn der Situation aufzuspielen … – Ein klägliches Getue …
„Lengitt“, sagte Doktor Guida höhnisch. „du warst einer der unsrigen, du hast uns betrogen und bestohlen, dein Urteil ist gesprochen … Ich frage dich zum allerletzten Male: Willst du herausgeben, was wir dir anvertrauten?“
Chester Lengitt erwiderte klar und laut:
„Nein!! Denn es liegt nicht mehr in meiner Macht, etwas euch auszuliefern, was ich nicht mehr besitze, außerdem würde ich es auch nicht tun – – niemals, niemals, selbst wenn ich es noch besäße …“
Guida verlor jede Selbstbeherrschung …
„Verliebter Narr, du kennst dein Urteil …!“ Er hatte die Schlinge des Seiles ergriffen … „So stirb denn, du hast das, was uns gehört, versteckt … – lüge nicht!!“
Lengitt lachte leise, zärtlich …
„Für dich, Guida, mag diese Wandlung in meinem Innern unbegreiflich bleiben …“ Er zog Doris fester an sich … „Menschen deines Schlages sind nicht mehr fähig, Reue zu empfinden und sich zu bessern …! Und wenn ich hier sterbe, Guida: Ich werde ohne Furcht hinübergehen in das unbekannte Land, – – ich habe mein Weib lieb, ich habe mein Versprechen gehalten, das ich ihr gab: Ich habe euch um die Beute betrogen!! Doris weiß alles, und sie hat mir verziehen!“
Das schrille Hohngelächter Raffaelo Guidas brach jäh ab …
Eine Gestalt war von der Blockhütte herbeigehuscht, und Graziosa stand vor ihrem Bruder …
Das war dieselbe Graziosa, wie ich sie kennen gelernt hatte, als sie so flammend vor Empörung mir die kleinen Fäuste entgegengereckt hatte.
Äußerlich[22] dieselbe …
Innerlich ein anderer Mensch – genau wie Lengitt.
Neuland war geboren in diesen Seelen, ein ganz neuer Boden, aus dem nur das Gute emporkeimte …
„Ich schäme mich deiner!“, sagte Graziosa zu dem zurückweichenden Guida … „Ich verachte dich noch mehr …! Niemals hätte ich geglaubt, daß du so tief sinken würdest. – Sprich, – was soll Lengitt euch gestohlen haben …?! Ich bin sehr neugierig darauf, und andere sind es auch …! Denen von euch, die noch Waffen tragen, rate ich dringend, sie schleunigst wegzuwerfen … – – Da – schaut nur hin … Bei dem Licht trifft jede Kugel!“
Dort wo die Blockhütte stand, leckte eine Flammenzunge empor – – noch eine – – noch eine …
Das trockene Gebälk brannte an allen Ecken und Enden …
Die tänzelnden Flammen vereinigten sich, im Nu brach die rote Lohe durch das Dach, und polternd und krachend stürzte das dünne Gebälk nach innen, während eine schwarze Qualmwolke und ein Funkenregen gen Himmel stoben und unter den Baumkronen sich verteilten.
Doktor Guida und die Seinen konnten nur das eine annehmen: Daß sie eingekreist seien!
Der rote Lichtschein tanzte über bestürzte, verstörte Gesichter hin, und als Graziosa nochmals wiederholte: „Werft die Waffen weg, ehe es zu spät ist!“, schleuderte Doktor Guida als erster seine Büchse und seine Pistole von sich …
Die wilde Verwünschung, die er dabei ausstieß, klang nur sehr matt … Er wollte die schmachvolle Niederlage bemänteln, aber jeder durchschaute ihn, sogar seine Leute …
„Halten Sie besser Ihren Mund, Sie großer Schwätzer und Feigling“, fauchte ihn sein eigener Bürovorsteher an, und das war der Mann, dem Buggy die verräterische Nadel abgenommen hatte. „Sie haben uns mit diesem Unsinn hineingeritten. Guida, nur Sie!! Nun fällt auch die Hauptschuld auf Sie allein … – Ich spiele nicht mehr mit … Ich wünschte, ich hätte ebenfalls rechtzeitig einen moralischen Halt gefunden wie Lengitt, aber nicht jedem wird eine Doris Schmidt beschert … – Jetzt ekelt mich das ganze Treiben an … – Miß Guida“, wandte er sich an die junge Kreolin, „ich will mich hier nicht reinwaschen, ich werde meine Strafe auf mich nehmen, aber eins werde ich für Sie tun: Hier bezeugen, daß Ihr Bruder Sie schändlich ausgenutzt, belogen und betrogen hat! Verfügen Sie über mich, – ich halte zu Ihnen und Lengitts, und der Satan mag die ganzen Galgenbrüder holen, die mich genau wie Sie durch gleißnerische Reden und Versprechungen betörten. Ich bin Harry Goß, ich nannte einmal England mein Vaterland, nun bin ich Harry Goß, ein Lump, – – und all das wegen dieser albernen Millionen, die da als reife Früchte in Griffweite hängen sollten!“
Dieser Harry Goß meinte es ehrlich. Der Mann gefiel mir, seine Worte zündeten, und mit einem Male stellten sich noch drei Leute neben ihn, ebenfalls Europäer, ebenfalls Abenteurer jenes Schlages, die dem leichten Verdienst in aller Herren Länder nachjagten …
Eigentümlich war Mackencies Benehmen. Er hatte sich an den Galgenbaum gelehnt, sein scharfes Profil hob sich klar gegen den roten Hintergrund der brennenden Blockhütte ab. Er starrte unverwandt irgendwo ins Weite, er rührte sich nicht, und doch hoffte Doktor Guida vielleicht noch immer auf ein Eingreifen gerade dieser starken Persönlichkeit zu seinen Gunsten. Guida blickte immer wieder zu ihm hinüber, schließlich verlor er die Geduld, brauste auf, trat rasch auf den Professor zu …
„Und Sie, – – wollen auch Sie mich nun im Stiche lassen?! Rühren Sie sich, reden Sie, – letzten Endes soll ich wohl als einziger Schuldiger übrigbleiben?!“
Mackencie, der Gescheiterte, war trotz allem unbedingt eine starke Persönlichkeit.
Langsam wandte er den Kopf, sein Blick streifte Guida nur, blieb auf dem Ehepaar Lengitt haften.
Mackencie sprach …
Er, der große, berühmte Forscher, den die unselige Spielleidenschaft vom schmalen Pfade der Redlichen auf die düstere, dornige Winkelgasse der Entgleisten geführt hatte, warf all den traurigen, kläglichen Schwulst von einst über Bord und sprach als Mensch.
„Guida, Sie hatten eine Stütze … – Ihre Schwester! Sie haben diese Stütze mißbraucht. Ich hatte nie derartiges, nie, ich blieb und war immer allein … Aus meinem Munde mag es recht widerspruchsvoll klingen: Jetzt graut mir vor dieser Verlassenheit! Ich beneide Lengitt, – – wohl ihm, daß er aus Liebe sich zurückfand zu sich selbst … – Mein Leben ist wertlos … Vielleicht … vielleicht kann ich der Wissenschaft noch etwas nützen. Noch keiner hat den Gipfel des Talafata-Vulkans dort über dem See erstiegen … Es sind zu viele natürliche Gasquellen dort … Ich werde es versuchen … Und sollte man einmal meine Leiche finden, so werden wenigstens meine Aufzeichnungen noch brauchbar sein …“
Er raffte sich empor, schritt straff auf das Ehepaar Lengitt zu. „Ich wünsche Ihnen alles Gute, – – leben Sie wohl!“
Aller Blicke folgten ihm …
Aber keiner rief ihn zurück …
Er entschwand, – – wir sollten ihn trotzdem noch ein allerletztes Mal sehen.
Es lag wie ein Bann über dieser lichterfüllten Waldterrasse, und erst John Buggys Erscheinen, der rechts neben der Blockhütte aus dem Gestrüpp trat, löste diese Erstarrung der Seelen und ließ uns das beenden, was auf keinen Widerstand mehr stieß. –
Guida und die drei Mulatten, die vielleicht noch zu ihm hielten, waren beim ersten Aufblitzen der Frühsonne in einem der Häuser der James-Plantage sicher untergebracht.
Der alte Anton Weber nahm mich bei sich auf … Lengitts, Graziosa, Buggy und Tobi Weber und ich, – uns allen erging es in gleicher Weise: Wir hatten nur einen Wunsch: Schlafen! Ausruhen!! – –
Und nachmittags dann, als wir die nötigen Taue, Leitern und Seile und zwei Maultiere verladen hatten, ritt ein stiller Zug zu den Felsenbalkonen empor, von denen Gascuna, der Zapara, abgestürzt war.
Ich hatte bisher nichts über die Millionen erfahren, denen Doktor Guida irgendwie beizukommen gedacht hatte, – es schien eine stillschweigende Vereinbarung zwischen meinen Freunden zu bestehen, mir den Kern des Rätsels bis zu einer überraschenden Lösung zu verheimlichen.
Ich war auch nicht neugierig … Der braune Riese, der dort unten im Abgrund zerschmettert lag, beschäftigte all meine Gedanken. Was wußte das Ehepaar Lengitt, das da vor mir ritt, von der heiligen Königsanakonda …?! – Nichts – so gut wie nichts …! – Was wußten Buggy und Graziosa davon, die hinter mir die einstige Freundschaft schleunigst in wärmere Gefühle umzuprägen trachteten?! Oder gar Tobi Weber, der alte Weber und die drei kräftigen Siedler, die diesen Ritt mitmachten?!
Dann waren wir am Ziel …
Die Nachmittagssonne beleuchtete den Abgrund, die tiefliegenden Baumwipfel, – – Eisenhämmer dröhnten, Eisenstangen wurden in das Gestein getrieben, Taue wurden sorgsam verknotet, an einem dünnen Drahtseil schwebten Leitern hinab, und ich schickte mich an, den Abstieg zu beginnen.
… Ich kletterte hinab …
Meine Gedanken eilten mir voraus … Meine Augen genossen die Fernsicht, spähten nach scharfen Kanten, die etwa das Tau durchscheuern könnten.
Der Steilhang hier hing etwas über, und ich schwebte zumeist frei in der Luft, die wenigen Felsbuckel waren glatt, – – wir hatten ja sorgsam die günstigste Stelle ausgewählt.
Die Siedler hatten mir einen eisernen Schnapphaken für das Tau mitgegeben, und der Haken, an den ich angeseilt war, glitt mit mir mit in die Tiefe – über das Tau hinweg.
Nun klemmte ich ihn fest, ich hatte die Hände frei, zog mein Fernglas, stellte es ein und suchte die Lavawände des Talafata ab.
Ein Windstoß zerriß die ewige Nebelkappe …
Und da sah ich Mackencie, da rief ich den Freunden nach oben zu, was ich sah …
Selbst im Blickfeld des scharfen Glases war die Gestalt dort oben an der Nebelgrenze winzig klein. Aber hinter ihr lagerten weiße Salze eines Geisers, eine weiße Wand wie ein Marmorblock, wie eine Gedenktafel …
Dann ballten die Nebel sich wieder zusammen, – – ich sah nichts mehr …
Ich kletterte weiter …
Ich berührte die ersten Baumäste, nur die äußersten Spitzen, glitt hindurch, fand wieder freien Raum, und ich sah unter mir den Boden des Abgrundes: Felsen, Büsche, Schlingpflanzen, dicke Moospolster überall, – – und die Kadaver der abgestürzten Tiere …
Von Gascuna … nichts!
Ich hatte festen Boden erreicht …
Die Sonne malte helle Streifen über Busch und Gestein. Ich tat einige Schritte auf die toten Tiere zu …
Da war ein Gestrüpp wie eine riesige Wiege, von hellblühenden Ranken dicht überwuchert, und inmitten diesen weißen Bettes lag der Sohn der Amazonaswälder, der Nachkomme der Inkas, mit offenen Augen, aber um diese Augen bereits die Schatten des Todes, und in dem dunklen Gesicht die erdfahle Blässe der letzten Lebensstunde.
Er sah mich …
Er lächelte schwach … Und zum ersten Male ohne jenen Schmerz, ohne jene tiefe Melancholie, die seinem ganzen Wesen aufgedrückt war als trübes Zeichen der dahinsiechenden Ursprungsbevölkerung eines riesigen Erdteiles.
Seine rechte Hand lag auf seiner Brust, und diese Hand hielt den Kopf der Inkaanakonda, während der Schlauch der Schlangenhaut neben ihm im Gestrüpp sich verlor.
Die Augen der Königsanakonda strahlten wie schwarze Diamanten, waren nicht mehr eingesunken, zusammengeschrumpft, – sie hatten Leben, und neben ihnen leuchtete der grüne Stein des Ringes aus Pferdehaaren, den der Zapara jetzt am rechten kleinen Finger trug.
Gascuna bewegte die Lippen …
Ich drang in das Gestrüpp ein, beugte mich über ihn und sprach irgend etwas …
Mein Gesichtsausdruck wird dem Sterbenden mehr gesagt haben als meine Worte, die mir in der Kehle fast stecken blieben angesichts dieses Lächelns, aus dem nur Freude leuchtete.
„Nehmen … den Ring … Abelsen … meinen Ring … du nehmen … und heilige Schlange ins Maul stecken … Du das tun, – – dann Doris Lengitt Glück haben …“
Ich mußte fast erraten, was die fahlen Lippen mit allerletzter Kraft zu formen suchten.
„Ich werde es tun, Gascuna …!“ – So eindringlich ich es sprach, – er hörte es nicht mehr.
Seine Augen schlossen sich …
Sein Leib wurde schlaff, die Hand gab den Schlangenkopf frei.
Der Zapara war hinübergegangen in das unbekannte Land, das sich auch mir einst erschließen würde – wie jedem von uns.
Ich spürte wieder jene seltsame Lähmung, jenen nicht näher zu beschreibenden Einfluß des Anakondakopfes, und es kostete mich größte Überwindung, dem Toten den Ring abzustreifen, mein Messer zu ziehen und die Kiefer des Schlangenkopfes zu öffnen … Als ich das Haupt des Reptils umfaßte, als die Klinge keinen Widerstand fand und das Maul sich wie von selbst öffnete, wurde es mir dunkel vor den Augen, ich raffte mich zusammen, ließ den Ring hineinfallen in den Schlund, – – und die Kiefer klappten zu.
Ich handelte halb wie im Traum …
Ich beeilte mich, hob den Toten empor, trug ihn hinüber zu dem Tau, seilte ihn sicher an und gab nach oben das Zeichen, ihn emporzuhissen …
Gascunas Leiche schwebte …
Und als der schlaffe Körper zusammensackte, entfiel den Fetzen der Jacke eine schmale Aluminiumkassette und lag vor mir auf dickem Moos: Das Geheimnis bot mir seine Lösung an, und ich öffnete die Kassette, fand darin ein Testament, das auf einem Bogen mit dem Briefkopf des Doktor Guida niedergeschrieben und beglaubigt war.
Der in Ecuador, Peru und Chile zu großem Reichtum gelangte Plantagenbesitzer Alfred Tobias Karl Schmidt hatte in diesem Testament seine noch in Deutschland lebenden Verwandten zu Erben eingesetzt und Doktor Guida beauftragt, diese Erben zu suchen und ihm hierfür einige Anhaltspunkte gegeben. Der Wert der Hinterlassenschaft war auf zehn Millionen geschätzt. –
Der ganze Betrug war nun aufgedeckt. Guida hatte Lengitt nach Deutschland geschickt, dieser hatte die vier Familien Weber, Schmiedeck, Grotjahn und Tümmel als Miterben schließlich ermittelt, und als fünfte Erbin kam Doris Schmidt in Betracht.
Der Plan der Galgenbrüder, die Deutschen nach der James-Insel zu bringen und ihnen dort alle Bequemlichkeit zu schaffen, damit sie Guida Vollmacht über all ihre Geschäfte gäben, war nicht schlecht erdacht gewesen. Mit Hilfe dieser Vollmacht hätte Doktor Guida das Vermögen und den Grundbesitz des Erblassers in aller Stille an sich bringen können. Am gefährlichsten von allen Miterben erschien den Verschworenen wohl Doris Schmidt, zunächst hatte Guida sie heiraten wollen, dann mußte Lengitt sich um sie bewerben, und hierin lag die Falschspekulation der Gauner: Lengitt verliebte sich in Doris, – – und das Ende des fein ausgeklügelten Planes war durch Chester Lengitts gänzliche innere Wandlung herbeigeführt worden. – –
Dann von droben ein Pfiff …
Das Tau gleitet herab, ich werde emporgehißt …
* * *
Zwei Wochen sind dahingegangen …
Die kleine Regina Tümmel zaust meinem Monte nicht mehr das Fell, reitet nicht mehr auf meinen Knien, nennt mich nur noch in der Erinnerung Onkel Olaf …
Jede Geschichte muß ja einen Schluß haben …
Gestern hat ein großer Dampfer die deutschen Siedler und meine anderen Freunde davongeführt gen Guayaquil: Glückliche Erben, die schleunigst in ihre deutsche Heimat zurückkehren wollen.
Ich habe keine Heimat …
Ich habe nur mich selbst, den treuen Monte und den Kutter …
Und droben auf den Bergen Gascunas Grab.
Der große Bluff der James-Plantage wird verfaulen, zerfallen, die Wildnis wird zurückerobern, was man ihr entriß, und nach Jahren werden hier nur noch Ruinen an die große Tragikomödie erinnern …
Kein Mensch hat ein Interesse mehr an der James-Plantage.
Sie gehört mir … Sie gehört der Wildnis.
Vorläufig wohne ich noch in Vater Webers Häuschen …
Vorläufig …
Gestern hat der Vulkan von Abingdon wieder recht tüchtig gewettert und Feuer geblasen und Lavagranaten emporgeschickt … Heute früh war ich mit dem Kutter halbwegs bis Santa Renata gefahren, und da sah ich denn, daß der Ozean abermals meine Renata beschenkt hat …
Das Neuland ist gewachsen …
… „Nicht wahr, alter Monte, morgen brechen wir hier unsere Zelte ab und beginnen einen neuen Weg …“
Monte blafft …
Das heißt „Ja!!“
… Niemandsland wartet auf uns …
Vielleicht wird das meine Heimat … Für den Weltentramp wäre dieser jungfräuliche, aus dem Pacific geborene herrenlose Boden die neue Heimat … Meine junge braune Stute von Santa Renata werde ich wiederfinden, und wir werden mit Monte zusammen über das Niemandsland galoppieren, wir werden Wildschweine jagen und in den Kanälen Haifische schießen, und dann werde ich auch das vergessen, was sich hier immer wieder in meinen Träumen vordrängt: Die schwarzen blanken Augen der heiligen Inkaanakonda …!
… „Also morgen, Monte …!“
Und er bellt freudig …
Morgen verlassen wir den großen Bluff der James-Plantage und geben der Wildnis zurück, was ihr gehörte …
Uns gehört das Niemandsland …
Nächster Band:
Verlagswerbung:
Tropenglut und Leidenschaft
Eine Reihe einzigartiger tropischer Erzählungen
Die Frau,
die vom Himmel fiel
ist keine ungewöhnliche Erscheinung, denn im Zeitalter der die Kontinente verbindenden Flüge gibt es keine Unmöglichkeit. Die Frau, die vom Himmel fiel, landet auf einem verlorenen Gebiet Innerafrikas. Zwei Männer nehmen sie auf. Der eine höflich und hochgebildet, der andere eine herrische Kraftnatur. Beide Flüchtlinge vor dem Gesetz. Und die Frau muß Zeuge werden, wie der, dem ihr Herz vertrauend sich zuneigt, in einer Nacht des Rausches und der Zügellosigkeit den Partner erschießt. Da flieht sie den Ort voller Entsetzen. Doch als ein seltsames Schicksal ihr die wahre Bedeutung der Vorgänge enthüllt, eilt sie zurück, gehetzt von der Angst, ob sie noch rechtzeitig eintreffen werde …
Es ist ein selten großes Talent, das hier zu dem Leser spricht. Von der ersten bis zur letzten Seite versteht es der Autor seine Leser in Spannung zu halten. Derjenige, der sich dieses Buch erwerben darf, kann von einem großen Glück sprechen.
Preis des 160 Seiten starken Bandes nur 50 Pfg.
Der Roman „Die Frau, die vom Himmel fiel“, der durch jede Buch- und Schreibwarenhandlung bezogen werden kann, ist der 4. Band der Serie „Tropenglut und Leidenschaft“. Man erhält diese Bände auch gegen Einsendung von 50 Pfg. (auch in Marken) portofrei vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Anmerkungen: