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Der Einsiedler von Tristan de Cunha

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 24

 

Der Einsiedler von Tristan de Cunha.[1]

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26

 

Lord Balleray, der Gouverneur der Kapkolonie, hatte Harald Harst und mich an einem Donnerstag zu einer Segelpartie auf seiner Jacht Miranda eingeladen gehabt. Wir waren morgens von Kapstadt abgesegelt und verlebten acht behagliche Stunden an Bord des schnellen, eleganten Schiffes und lernten die Gastfreiheit eines vornehmen Engländers von der besten Seite kennen.

Erst auf der Rückfahrt von diesem Ausflug in den Atlantik hinein begann Lord Balleray von jener Angelegenheit zu sprechen, die uns zu unserem nächsten Abenteuer verhelfen sollte.

Wir saßen in bequemen Liegestühlen auf dem Achterdeck der Miranda, als der Lord plötzlich zu Harst sagte:

„Mein sehr verehrter Master Harst, Sie haben doch nun in nächster Zeit keine bestimmte Aufgabe, mit der Sie sich beschäftigen könnten, nachdem Sie hier bei uns in Kapstadt den größten und genialsten Verbrecher aller Zeiten zur Aburteilung der irdischen Gerechtigkeit überliefert haben. Jener James Palperlon sitzt in einer der neuen Mörderzellen des Gefängnisses, aus denen ein Entweichen nur mit Hilfe übernatürlicher Kräfte möglich wäre. Da selbst ein Palperlon über solche nicht verfügt, wird er wohl in nicht allzu langer Zeit den Kopf in die Hanfschlinge stecken müssen. Jedenfalls: für Sie kommt er als Jagdobjekt nicht mehr in Frage! Sie haben der Welt den großen Dienst erwiesen, sie von dieser Geißel, diesem Scheusal befreit zu haben. Würden Sie nun vielleicht ein Geheimnis aufzuklären versuchen, das mit seinen nach außen hin spürbaren Einzelheiten zwar weder lästig noch aufregend ist, immerhin aber so manches enthält, das mich zwingt, mich in meiner Eigenschaft als Gouverneur der Kapkolonie damit näher zu befassen.“

Er rauchte einige Züge und fuhr fort:

„Zu meinem Verwaltungsgebiet gehört auch die weit im Südwesten von Kapstadt gelegene Insel Tristan da Cunha. Eigentlich sind es drei Inseln, aber nur die eine ist umfangreich und fruchtbar genug, um ein paar Kolonisten eine Daseinsmöglichkeit zu gewähren. Darf ich weiterberichten, Master Harst? Oder hätten Sie nicht gerade große Lust, mit meiner Jacht die Insel einmal zu besichtigen?“

„Oh – gewiß habe ich Lust, Mylord!“ nickte Harst. „Ein Geheimnis auf einer nur von 82 Leuten bewohnten, abseits von jedem Schiffsverkehr gelegenen Insel muß doch fraglos recht außergewöhnlich sein, wenn es sogar die Verwaltungsbehörde hier in Kapstadt beschäftigt.“

„Ganz recht. Es ist auch außergewöhnlich, wenn auch scheinbar harmlos. – Vor einem halben Jahr begann das Geheimnis sozusagen, und zwar mit folgendem Vorfall. – Die Ansiedlung auf der Insel liegt am Fuße eines erloschenen Vulkans und besteht aus mehreren farmähnlichen Gehöften. Eines Nachts bemerkten nun zwei Männer auf der Spitze des Kraterberges bei klaren Wetter ein hell schimmerndes Licht, das ähnlich einem Scheinwerfer einen weißen Strahlenkegel ausschickte, wieder verschwand, abermals auftauchte und dann eine bestimmte Richtung beibehielt. Den beiden Männern erschien dieses Licht so seltsam, daß sie am Morgen mit den anderen Kolonisten das Beobachtete besprachen und anfragten, ob jemand denn oben auf dem Krater gewesen sei. Alle verneinten. Damit erhielt jenes Licht sofort notwendig etwas Rätselhaftes. Viele Tage vergingen: es zeigte sich nicht wieder. Dann tauchte es abermals auf; wieder in einer sternklaren Nacht. Diesmal bestiegen vier der Kolonisten den Berg, was mühsam und anstrengend, aber nicht gefährlich ist. Sie sahen während des Aufwärtsklimmens das Licht noch eine ganze Weile. Dann erlosch es. Die Leute entdeckten oben nicht das geringste, was auf die Anwesenheit von Fremden hingedeutet hätte. Sie kehrten enttäuscht wieder um. – In derselben Weise ließen sich die Kolonisten dann noch dreimal zu einer Besteigung des Kraters verleiten, stets ohne Erfolg. Auch am Tage war inzwischen verschiedentlich der Berg abgesucht worden. Der Gemeindevorstand der Kolonie hielt sich nun für verpflichtet, die Sache nach Kapstadt zu melden. Ich schickte einen Polizeiinspektor mit zwei Beamten hin. Sie kehrten nach zwei Monaten, nachdem sie das Licht dreimal beobachtet hatten, unverrichteter Sache zurück. Vor sechs Wochen wurde mir dann gemeldet, daß das weiße Licht nun fast allnächtlich sichtbar sei. Abermals entsandte ich Beamte. Sie erreichten wiederum nichts. Sobald sie in die Nähe des Gipfels des Kraters kamen, verschwand das Licht; wenn sie sich nachts oben verborgen hatten, blieb es aus. Kurz: alles deutete und deutet noch heute darauf hin, daß sich sehr wahrscheinlich Fremde dort auf Tristan da Cunha zu irgend welchen Zwecken verbergen. – Das ist alles, Master Harst. Sie sehen, die Geschichte ist harmlos, wie ich bereits vorhin erwähnte. Ich weiß daher auch nicht recht, ob ich einen Liebhaberdetektiv von Ihrem Weltruf mit einer solchen Angelegenheit überhaupt behelligen darf. Immerhin wäre es mir sehr angenehm, wenn die Sache aufgeklärt würde. Die Kolonisten sind in ihrer Ruhe durch jene Lichterscheinung gestört worden und fürchten, eines Tages könnte ihre Ansiedlung womöglich von einer Rotte geflüchteter Verbrecher oder von dergleichen fragwürdigen Existenzen ausgeplündert werden.“

Harst hatte offenbar nur mit mäßigem Interesse zugehört. Jetzt aber fragte er plötzlich recht lebhaft:

„Rotte von Verbrechern? – Haben sich denn Anhaltspunkte dafür ergeben, daß tatsächlich mehrere Leute heimlich auf Tristan da Cunha hausen?“

„Insofern ja, als bereits fünf Schafe den Kolonisten von der Weide spurlos verschwunden sind.“

„Und daraus schließt man, daß –“

„Allerdings, allerdings, Master Harst. Daraus und aus der Tatsache, daß ohne Zweifel nachts wiederholt auf der Weide auch Kühe gemelkt worden sind.“

„Und man hat im übrigen nie die geringste Spur entdeckt, daß Leute dort in der Verborgenheit leben, Mylord?“

„Nie! Das ist ja gerade das Unheimliche bei alledem.“

„Zeigt sich das Licht stets an derselben Stelle?“

„Jawohl, Master Harst. Stets genau an der Nordwestseite des Kraters. Mit einem Fernglas soll man es von unten ganz deutlich sehen, wenn die Luft klar ist.“

„Nun – ich werde Tristan da Cunha besuchen, Mylord. Nur Stelle ich eine Bedingung: niemand darf außer Ihnen erfahren, daß ich die Absicht habe, dorthin zu reisen. Wenn Sie mir Ihre Jacht zur Verfügung stellen, so soll dieselbe mich angeblich anderswohin bringen, sagen wir nach Sansibar zum Beispiel.“ –

Um 5 Uhr nachmittags machte die Miranda im Hafen von Kapstadt wieder fest. Der Gouverneur hatte für uns alle bereits vorher einen Tisch im Atlantik-Hotel belegen lassen. Wir begaben uns sofort dorthin und fanden in dem prächtigen Speisesaal den Tisch aufs geschmackvollste für ein Diner gedeckt. An unserem Tische ging es bald recht lebhaft zu. Gerade als der Kellner den Fisch reichte, erschien Polizeiinspektor Garner und bat Lord Balleray und uns beide um eine kurze Unterredung. Man merkte ihm die nur mühsam niedergehaltene Erregung deutlich an. Wir erhoben uns und traten an den Springbrunnen.

„Mylord,“ begann der Inspektor sofort, „ich muß leider melden, daß James Palperlon vor etwa drei Stunden aus dem Staatsgefängnis entwichen ist.“

„Nicht möglich!“ rief Balleray geradezu entsetzt. „Wie hat denn das geschehen können?!“

„Der Aufseher, der Palperlons Zelle unter sich hatte, muß diesem zur Flucht verholfen haben. Anders ist diese nicht zu erklären. Der Aufseher Mankay leugnet natürlich. Aber – die Zelle ist leer, verschlossen, und doch ist Palperlon verschwunden.“

Hier mischte sich Harst ein.

„Wer bemerkte denn Palperlons Entweichen zuerst, Master Garner?“ fragte er kurz.

„Mankay tat’s,“ erklärte Garner. „Er machte um vier Uhr seinen gewöhnlichen Rundgang, will dabei durch das Guckloch in der Tür in Palperlons Zelle hineingeschaut und so dessen Verschwinden wahrgenommen haben. Natürlich ist das alles gelogen. Palperlon wird ihm goldene Berge versprochen haben, und da hat sich Mankay eben betören lassen. Palperlon war ja mit Stahlfesseln an die Wand gekettet. Die Fesseln sind unbeschädigt.“

Lord Balleray meinte jetzt recht erregt zu Harst:

„Was halten Sie davon, Master Harst? – Schade – nun wird das Geheimnis von Tristan da Cunha –“ – Er biß sich auf die Lippen, fuhr schnell fort. „Ich rede Unsinn. Nun wird Palperlon Ihre Zeit wieder nur allzu sehr in Anspruch nehmen, und Sie –“

Harsts Gesichtsausdruck ließ ihn den Satz nicht beenden.

„Was haben Sie denn, bester –“

Harst eilte plötzlich davon, kehrte erst nach fünf Minuten zu uns zurück und sagte achselzuckend:

„Ich hätte flinker sein müssen. Mylord, wir sind hier von einem Herrn belauscht worden. Der Mann stand dort hinter jener Palme, kaum drei Schritt von uns entfernt. Als ich ihn bemerkte, verschwand er durch den Nebenausgang dort. Der Mann war ohne Frage – Palperlon!“

„Aber ich bitte Sie, Master Harst!“ meinte Lord Balleray zweifelnd. „Wie wollen Sie das –“

„Ich werde es beweisen, Mylord. Fahren wir nach dem Gefängnis. Diese merkwürdige Flucht Palperlons interessiert mich.“

Inspektor Garners Dienstauto brachte uns in fünf Minuten nach dem Staatsgefängnis, wo die ganze Beamtenschaft sich in einer leicht begreiflichen Aufregung befand.

Im Zimmer des Direktors wurde der Aufseher Thomas Mankay auf Garners Befehl von zwei Kollegen bewacht. Der Direktor hatte bereits alles versucht, Mankay zu einem Geständnis zu bewegen. Thomas Mankay war ein etwa vierzigjähriger, blasser Mensch, ein früherer Feldwebel der Kolonialarmee. Er machte jetzt einen vollkommen verstörten Eindruck. Weinend fast beteuerte er auch Lord Balleray gegenüber seine Unschuld.

„Master Harst, retten Sie mich,“ sagte er mit zitternder Stimme. „Ich habe in Indien zwölf Jahre in der Armee treu gedient. Und jetzt soll ich plötzlich ein Lump sein!“

Ihm traten Tränen in die Augen.

Harst beobachtete ihn scharf, meinte dann gleichgültig: „Ihr Leugnen hilft Ihnen nichts! Sie haben Palperlon die Flucht ermöglicht!“

Mankay knickte förmlich zusammen. „Auch Sie, Master Harst – auch Sie!“ rief er verzweifelt und reckte die Arme wie beschwörend hoch. „Es ist nicht wahr: ich tat es nicht, und ich kann –“

Harst winkte ihm zu. „Lassen Sie all das, Mankay!“ unterbrach er ihn. Dann befahl er den beiden anderen Aufsehern, Mankay in das Vorzimmer zu führen.

Als wir nun allein waren – der Lord, Garner, der Direktor und wir beide –, sagte Harst zu Balleray:

„Mylord, ich will Ihnen zeigen, wie Palperlon entwischt ist. Wir werden hier folgende kleine Komödie spielen. Mankay wird nach fünf Minuten wieder hereingerufen. Inzwischen muß hier ein sehr lebhafter Wortwechsel stattgefunden haben, und Inspektor Garner muß auch einen der Aufseher nach zwei Paar Handschellen schicken. Kurz: es muß der Eindruck erweckt werden, daß wir beide, Schraut und ich, von Garner überführt worden sind, Palperlons Entweichen verschuldet zu haben. Ich bitte uns beide recht grob zu behandeln, zu fesseln und in dieselbe Zelle zu bringen, Mankay aber wieder sein bisheriges Amt zu übertragen. Er wird uns dann fraglos sehr scharf bewachen. Wenn Sie hier warten wollen, Mylord. In zwei Stunden hoffe ich wieder mit Schraut gegen Ihren Willen frei zu sein, das heißt, ich werde in derselben Weise mit Schraut der Zelle entrinnen, wie Palperlon dies tat.“

Ich gebe zu, daß ich damals genau so sprachlos über diesen Vorschlag Harsts war, wie die drei anderen Herren. – Nach einigem Hin und Her wurde die Komödie dann aber genau so in Szene gesetzt, wie Harst dies gewünscht hatte.

Ich will Einzelheiten hier fortlassen. Jedenfalls saßen wir beide nach einer Viertelstunde in der kahlen Mörderzelle auf den Schemeln, waren an die Wand gefesselt und wurden von Thomas Mankay mit den Worten bedacht: „Na – Ihr beide sollt mir nicht entwischen, Ihr verdammten Schufte! Detektive wollt Ihr sein! Inspektor Garner hat Euch bewiesen, was man von Euch zu halten hat!“ Dann ging er hinaus.

– – – – – – – –

Jetzt hatte ich endlich Gelegenheit, Harald zu fragen:

„Was soll dies alles?! Wenn Du mir je unverständlich warst, so ist es jetzt!“

„Aber lieber Alter! Unverständlich?! Hast Du denn gar nichts bemerkt?! Ist Dir an Mankay nichts aufgefallen?“

„Nichts! Er war nur eben sehr erregt.“

„Stimmt! Zu erregt für einen Menschen, der – Doch nein. Ich will Dir den Spaß nicht verderben. Warte ab. Mankay wird sehr bald hier erscheinen und wird schnauben, weil wir die Frechheit besitzen, uns zu unterhalten. Er soll hier erscheinen.“ –

Da hörten wir schon das Öffnen der Türriegel.

Mankay trat ein, rief grimmig und wild mit der rechten Hand uns drohend:

„Werdet Ihr Schufte wohl das Unterhalten bleiben lassen. – Ich begreife nicht, daß man Euch nicht jeden in eine Zelle gesperrt hat! Ich –“

„Mankay!“ fiel ihm Harst leise, aber mit Nachdruck ins Wort. „Thomas Mankay, kommen Sie näher. Ich will Ihnen – nur Ihnen! – mitteilen, wie wir’s angestellt haben, daß Palperlon entwischen konnte.“

Mankay wurde neugierig, verschloß die Zellentür und setzte sich auf das eiserne Bett Harst gegenüber. Er freute sich offenbar, nachher seinen Direktor mit Harsts Beichte überraschen zu können.

In der Zelle brannte unter der Decke eine einzelne elektrische Birne. Mankay hatte aber noch der Vorschrift gemäß eine Laterne mit, die er nun so stellte, daß ihr Lichtschein ihn und Harst gleichmäßig traf.

Daß der Aufseher vor Harst sehr auf der Hut war, merkte man ihm an. Er hatte seinen Dienstrevolver gespannt in der Rechten und den Finger am Abzug.

Harst beugte den Oberkörper weit vor, flüsterte:

„Mankay, Palperlon hatte mir zehn Millionen in Gold versprochen, wenn ich dafür sorgte, daß ihm die Flucht ermöglicht wurde.“

Der Aufseher rief ungläubig: „Zehn Millionen? In Gold?!“

„Ja!“

Mankays Augen beobachteten Harsts Gesicht unablässig. Er wollte feststellen, ob dieser ihn wohl nur zum Narren hielte.

„Ja – zehn Millionen! Das Gold liegt in einem Versteck unweit Kapstadt,“ fuhr Harst in seiner Lügengeschichte fort, deren Zweck mir völlig unerfindlich blieb. „Palperlon sagte mir, das Versteck sei ein hohler, sehr alter Affenbrotbaum unweit einer Farm an der Bellmont-Bucht. Er sagte mir weiter: „Sie müssen schlafen – fest schlafen, wenn Sie beweisen wollen, daß Sie schuldlos sind. Ich will, daß Sie schlafen, Mankay! Ich will es! Schauen Sie mir in die Augen! Sie sollen jetzt die Lider schließen. Ich befehle es!““

Und – Mankay gehorchte.

Ich wußte jetzt Bescheid. Dieser Mankay war ein gutes Medium für hypnotische Beeinflussung; er war nervös, willensschwach wie viele, die lange in den Tropen gedient haben.

Kurz darauf hatte Harst den Aufseher fest eingeschläfert, erteilte ihm nun verschiedene Befehle, zunächst zur Probe, die der Hypnotisierte ganz so ausführte, als befände er sich in normalem Zustand.

Dann ging Harst einen Schritt weiter und verlangte von Mankay, uns genau so zu befreien, wie er dies bei Palperlon getan hätte.

Wie Mankay diese Flucht ahnungslos ermöglicht hatte, erlebten wir jetzt mit allen Einzelheiten. Der Aufseher verließ die Zelle, kam nach etwa fünf Minuten zurück, nahm uns die Fesseln ab und führte uns in eine Vorratskammer, wo er uns einschloß. Wieder nach etwa fünf Minuten (inzwischen hatte er seinen Kollegen im unteren Stockwerk unter einem Vorwand weggeschickt) brachte er uns über eine Nebentreppe in den Garten des Direktors. Wir waren frei, denn uns trennte nur noch eine Mauer von der Straße.

Harst befahl jetzt Mankay noch, bevor wir uns trennten, nach zehn Minuten aus seinem hypnotischen Schlaf zu erwachen und sich dann an nichts mehr zu erinnern, was mit unserer Flucht zusammenhing.

Wir kletterten nun über die Mauer und waren gleich darauf im Verwaltungsgebäude im Zimmer des Direktors, wo unser Erscheinen ebenso laute Ausrufe des Staunens weckte wie Harsts kurze Erklärung über das Geheimnis von Palperlons Entweichen.

„Daß Palperlon nur so sein Entkommen bewerkstelligt haben konnte, war mir sofort klar,“ sagte Harst zum Schluß. „Und daß er irgendwo sich einen Gesellschaftsanzug gestohlen hat, werden die weiteren Nachforschungen ergeben. Er muß sich auch erkundigt haben, wo ich mich heute aufhielt. So nur konnte er im Hotel Atlantik erscheinen und uns belauschen. Dies beweist wieder einmal seine Kaltblütigkeit und Frechheit. Ihm ist eben alles möglich – alles!“

Weshalb ich diese Episode, Palperlons Flucht, hier eingehender schildern mußte, wird dem Leser später unschwer einleuchten. –

Tristan da Cunha!

Was hatten wir uns darunter vorgestellt, und was fanden wir! – Schon von der See aus wirkte der ungeheure Vulkankegel imposant und geheimnisvoll. Wie schön aber diese so weltferne Insel war, wie sauber und behaglich ihre Gehöfte, in frisches Grün eingebettet, dalagen, wie zufrieden und glücklich die Kolonisten hier in der meerumrauschten Einsamkeit dahinlebten, – das alles nahmen wir erst wahr, als die Jacht Miranda den kleinen Hafen angelaufen und als ein Empfehlungsschreiben Lord Ballerays den beiden deutschen „Naturforschern“ Professor Hirt und Doktor Schratt (diese Titel gehörten nun mal mit zu der harmlosen Rolle, die wir hier spielen wollten) sofort das liebenswürdige Entgegenkommen sämtlicher Bewohner gesichert hatte.

Der Vorsteher der Kolonie, ein Master Allan Molbott, hatte uns in seinem geräumigen Hause bereitwilligst ein Zimmer überlassen. Ein Hotel oder einen Gasthof gibt es ja auf Tristan da Cunha nicht. Mittags waren wir angekommen, besichtigten nachmittags die Insel, ohne den Berg zu erklimmen und verlebten den Abend im Kreise der Kolonisten, wobei natürlich auch die Rede auf das rätselhafte Licht kam, ohne daß Harst dieses Thema etwa irgendwie berührt hätte. Er tat auch bei der Erörterung dieses Inselgeheimnisses ganz so, als ließe ihn die Sache recht kalt.

Gegen Mitternacht wollten wir uns in unser Zimmer zurückziehen. Molbott schlug vor, einmal nach dem Lichte Ausschau zu halten, bevor wir schlafen gingen. Wir traten also sämtlich auf den Hof hinaus. Gerade vor uns ragte dunkel und massig der ungeheure Vulkan empor. Molbott beschrieb uns die Stelle, wo auf der abgeplatteten Bergspitze das Licht sich stets auf demselben Fleck zeigte. Kaum hatte er die ersten Sätze gesprochen, als einer der Kolonisten rief: „Da – da ist es!“

Die Luft war sehr klar. Molbotts Gehöft lag auf der dritten Bergterrasse. Die Entfernung bis zum Kratergipfel mochte etwa 1000 Meter betragen. Trotzdem war die Lichterscheinung auch mit bloßem Auge genau zu erkennen. Lord Ballerays Bemerkung, daß es sich vielleicht um einen Scheinwerfer handele, war recht zutreffend gewesen. Auch ich nahm wahr, daß das Licht erst einen Strahlenkegel schräg aufwärts sandte, dann aber wie ein weißer Punkt unverrückbar dieselbe Stellung beibehielt.

An sich hätte die Lichtquelle, dieses strahlende Pünktchen, kaum etwas Rätselhaftes an sich gehabt. Es waren eben nur die ganzen Begleitumstände, die ihm erst das Geheimnisvolle verliehen. Kannte man diese wie auch Harst und ich sie kannten, so wirkte das Licht doch seltsam aufregend. Unwillkürlich ließ einen die Frage nicht los: Wer ist’s, der es dort aufglühen läßt und zu welchem Zwecke geschieht’s?

Ich hatte mir dies schon während der Überfahrt von Kapstadt nach hier des öfteren überlegt und hätte auch Harsts Ansicht darüber gern eingeholt. Aber er hatte nur die Achseln gezuckt. „Sehen geht vor Sagen,“ war seine Antwort gewesen.

Auch jetzt schwieg er sich aus, gähnte sogar sehr ungeniert und ließ erkennen, daß er für Geheimnisse nichts übrig hätte.

Als wir ins Haus zurückgingen, nachdem Molbotts Gäste sich verabschiedet hatten, sagte er zu unseren liebenswürdigen Wirt: „Manch einer, der nach Tristan da Cunha kam, ist wohl sehr bald wieder in die kultivierte Welt zurückgekehrt. Trotz all der Naturschönheiten hier dürfte es nicht jedem gegeben sein, so vollständig auf die Zerstreuungen und Annehmlichkeiten einer größeren Gemeinschaft von Menschen zu verzichten.“

„Oh – da sind Sie sehr im Irrtum, Master Hirt, sehr!“ entgegnete Molbott eifrig. „Wer sich hier niederläßt, hat stets ein bestimmtes Ziel im Auge: er will so viel sparen, daß er nach vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahren als leidlich wohlhabender Mann in die alte Heimat zurückkehren kann. Nur insofern wechseln also unsere Kolonisten: haben sie genug erübrigt, sagen sie Tristan da Cunha natürlich lebewohl. Auch ich gedenke nur noch vier Jahre hier zu bleiben. Daß jemand schon nach kurzer Zeit unserer Insel wieder den Rücken kehrt, ist während der zwölf Jahre, die ich hier ansässig bin, erst ein einziges Mal geschehen.“

Dann trennten wir uns. Harst ging sofort zu Bett. Ich – hätte gern noch mit ihm ein wenig geplaudert. Aber auf meine Frage, was er denn jetzt nach persönlicher Beobachtung der Lichterscheinung dazu zu bemerken hätte, erklärte er gähnend: „Nicht viel mehr wie früher. Nur – der Kolonist Draaken hat mir ganz besonders gefallen. Der Mann hat so ein nettes Lächeln an sich. – Gute Nacht, Schraut.“

Draaken?! Nettes Lächeln?! Hallo – dahinter steckte etwas! Das war mein letzter Gedanke, bevor ich einschlief.

Am folgenden Nachmittag um zwei Uhr bestiegen wir den Berg unter Führung des siebzehnjährigen Sohnes Molbotts, eines strammen Burschen, der leidenschaftlicher Robbenfänger war.

Getreu unserer Rolle als Naturforscher schenkten wir sowohl dem Pflanzenwuchs als auch den Gesteinarten während des Aufstieges die größte Beachtung und füllten unsere Rucksäcke mit allerlei Dingen, von denen wir wohl nicht viel mehr verstanden als unser gesprächiger und heiterer Führer Austin Molbott. Gegen vier Uhr nachmittags erreichten wir den Gipfel und sahen nun auch den merkwürdigen Kratersee, eine etwa eiförmige Wasseransammlung von etwa 90 Meter größtem Durchmesser.

Der See hatte ringsum vollständig abschüssige Ränder. Am besten war er mit einem ungeheuren Topf zu vergleichen, der nur teilweise gefüllt ist. Die Steilufer des Beckens waren an manchen Stellen bis zu vierzig Meter hoch, und nur an drei oder vier schluchtähnlichen Einschnitten konnte man so tief hinabklettern, daß der dunkle Wasserspiegel etwa sechs bis sieben Meter unter einem lag.

Harst erklärte jetzt dem jungen Molbott, daß wir seiner nicht mehr bedürften; den Rückweg fänden wir schon allein, und es würde für ihn nur langweilig sein, zuzusehen, wie wir hier oben das Gestein und alles andere untersuchten. Er verabschiedete sich denn auch und verschwand sehr bald unseren Blicken.

„So,“ meinte Harald, plötzlich sehr lebhaft werdend. „Nun an die Arbeit, mein Alter. Es muß hier ja für gute Augen fraglos allerlei zu finden sein. Denn wer hier oben als Einsiedler haust und dazu nachts mit einem Scheinwerfer operiert – einem sehr großen Scheinwerfer! – wer also sogar elektrischen Strom zur Verfügung hat, der verfolgt hier ganz bestimmte Absichten. Von seiner Tätigkeit müssen Spuren vorhanden sein, – müssen, mag er auch noch so vorsichtig und schlau alles in Szene setzen.“

Harst suchte nun einen Punkt auf dem Kraterrande auf, von dem aus er etwa feststellen konnte, wo das Licht sich ungefähr befunden haben mußte. Er deutete auf die Niederlassung hinab und meinte: „Dort liegt Molbotts Gehöft. Also muß die Stelle, wo der Scheinwerfer arbeitete, etwa dort gewesen sein.“ Seine Hand wies auf einen ungeheuren, einzelnen Felsblock, der auf dem Kraterrande ruhte und etwa der Ruine eines Turmes glich. „Der Felsblock also muß den Ausgangspunkt unserer Nachforschungen bilden. Er ist ungefähr 30 Meter hoch, verbreitert sich nach unten und ist von Spalten und Sprüngen zerfurcht wie das Gesicht eines alten Fischers. Was bemerkst Du in etwa dreiviertel Höhe des Felsblockes, mein Alter? Nun: einen kanzelartigen Vorsprung, dahinter eine Vertiefung, deren Umfang wir erst zu erkennen vermögen, wenn wir die Kanzel erklommen haben. Das will ich jetzt versuchen. Da – nimm meinen Rucksack an Dich und – nimm noch etwas zur Hand, unsere kleine, stets nützliche mechanische Lebensversicherung auch Selbstladepistole genannt. Man kann nie wissen, ob dieser Einsiedler – es mögen auch mehrere sein! – nicht seine Geheimnisse sehr nachdrücklich verteidigt. Bemerkst Du was Bedrohliches, so knalle nur sofort los. Ich traue dem Frieden hier nicht.“

Wir standen, während Harst mir diesen Vortrag hielt, mit dem Rücken nach dem Kratersee hin und zwar an einer stark geneigten Stelle.

Harst legte seinen Rucksack ab, bückte sich etwas, legte auch seinen derben, selbstgeschnittenen Spazierstock daneben.

Da – hinter uns plötzlich ein so gellender Hilferuf, daß wir ordentlich zusammenzuckten und blitzschnell herumfuhren.

Merkwürdig dabei war, daß wir ganz deutlich das Wort „Hilfe“ – das deutsche Wort Hilfe verstanden hatten.

„Das kam vom See her,“ flüsterte Harst und eilte dem Rande des Steilufers zu.

Wir beugten uns vor, blickten hinab. Fünfzehn Meter unter uns schimmerte die fast schwarz erscheinende Oberfläche des Sees.

Aber – nirgends – nirgends auch nur die Spur eines Menschen. Lediglich eins merkte ich: der Wasserspiegel war jetzt nicht glatt, sondern warf kleine Wellen auf, die von einer bestimmten Stelle auszugehen schienen.

Dann – dann geschah das, was Harst später als „raffiniertes Attentat“ bezeichnete.

Ganz plötzlich löste sich ein Teil des Felsrandes, scheinbar ohne jede äußere Ursache ab, – gerade der Teil, auf dem wir standen.

Ich stieß vor Schreck noch ein höchst zweckloses: „Wir stürzen hinab!“ aus; da schlug ich auch schon mit der Seite auf das Wasser auf. Der Anprall aus solcher Höhe war so heftig, daß mir sofort schwarz vor den Augen wurde. Ich verlor halb die Besinnung, machte nur mechanisch einige Schwimmbewegungen, fühlte dann Harsts Hand am Kragen meiner Lodenjoppe und hörte seine Stimme:

„Raffe Dich auf! Es geht ums Leben!“

Ich will nicht im einzelnen berichten, was wir dann alles taten, um nicht in diesem Riesentopf wie die Mäuse zu ertrinken. Ein Erklettern der Steilufer war ausgeschlossen. Wir versuchten es rundum. Wir wurden immer matter. Wir klammerten uns an der Felswand fest und suchten mit den Füßen gleichfalls irgendwo einen Halt. Aber mit der Zeit starben uns die Arm- und Fingermuskeln ab. Ich fühlte meine Kräfte schwinden. Ich sah auch, daß Harst vor Anstrengung der Schweiß über das Gesicht lief. Dicht nebeneinander hingen wir an der Ostseite der Felswand bis zum Halse im Wasser. Dann sagte Harst mit seltsam heiserer Stimme:

„Diesmal hilft kein noch so geistreicher Gedanke uns hier heraus. Lieber Alter, vielleicht wird die Welt nie erfahren, wie jämmerlich wir hier ertrunken sind, und wo wir eigentlich endeten. Wir hätten noch vorsichtiger sein sollen. Dieser Einsiedler von Tristan da –“

Mehr hörte ich nicht. Ich spürte in meinen Armen einen schmerzhaften Muskelkrampf; vor meinen Augen stoben Feuerräder auf; ich versank – immer tiefer; hörte noch in meinen Ohren ein donnerndes Brausen, glaubte noch zu fühlen, wie meine Beine sich in Schlingpflanzen verfingen, wie diese Schlinggewächse mich noch tiefer zerrten.

Dann nichts mehr – nichts.

– – – – – – – –

Es war das erste und das letzte Mal in meinem Leben, daß ich alle Stadien des allmählichen Erwachens durch Wiederbelebungsversuche durchmachte.

Als ich endlich so weit war, mit klarem Verstande die Vorgänge um mich her unterscheiden zu können, als ich die Augen auftat, gewahrte ich dicht über mir das Gesicht Allan Molbotts.

„Ah – er kommt zu sich!“ rief Molbott freudig. „Master Schratt – Master Schratt, Sie haben uns verdammt mehr Mühe gemacht als Master Hirt. Na – nun haben wir Sie ja auch so weit! – Da – ein Schluck Brandy! Trinken Sie nur!“

Er richtete mich auf. Ich sah nun, daß Harst vor mir auf dem kahlen Fels saß, mit dem Rücken an den ungeheuren Steinblock gelehnt; sah weiter den jungen Austin Molbott, dann noch einen der Kolonisten namens Reperton; sah auch, daß das Abendrot den Kratergipfel in wundervolle Röte tauchte und – aus Harsts Gesicht ein zufriedenes Lächeln.

Ich trank. Der Brandy war scharf. Aber es war wirklich die beste Kur. Ich wurde schnell wieder kräftiger, atmete tief und frei und sagte dann zu Molbott:

„So haben Sie uns doch noch zur rechten Zeit aus dem See herausgeholt! Ohne Sie wären –“

„Aus dem See?!“ unterbrach er mich. „Nein, Master, – keine Rede davon. Das ist ja gerade das Sonderbare. Sie und Master Hirt lagen hier nebeneinander auf dem Felsboden, als wir anlangten. Wir waren Ihnen entgegengekommen. Wir fürchteten, Sie würden den Rückweg – den bequemsten – nicht finden.“

Ich schaute ihn ungläubig an. Da erklärte Harst schon:

„Ich holte Dich heraus, Freund Schratt. Aber – dann war’s auch mit mir vorbei. Ich verlor das Bewußtsein.“ –

Zwei Stunden drauf waren wir wieder unten in Molbotts Heim, aßen mit gutem Appetit zu Abend und zogen uns dann in unser Zimmer zurück. Als ich schon im Bett lag, als Harst dann die Petroleumlampe ausgelöscht hatte, als tiefste Dunkelheit uns umgab, setzte Harald sich zu mir auf den Bettrand. Ich vernahm sein Flüstern. Aber – zunächst begriff ich kaum, was er sprach. So unglaublich waren diese Mitteilungen.

„Mein Alter, ich habe Molbott und die anderen hier belogen. Nicht ich war es, der Dich aufs Trockene brachte. Nein – ich versank genau so wie Du, als es mit meinen Kräften vorbei war. Ich war überzeugt: das ist das Ende! – Aber – der Einsiedler von Tristan da Cunha hatte uns nur einen halben Tod als Warnung zugedacht. Kein anderer als er kann uns aus dem See herausgezogen und nebeneinander auf den Kraterrand gelegt haben – nur er! Der Mann wollte uns zeigen: „Laßt die Finger von dieser Sache! Ich weiß, wer Ihr seid!“ – Das Felsstück, mit dem wir abrutschten, war vorbereitet. Das heißt: das Ganze war ein raffiniertes Attentat. Man hat uns absichtlich durch den Hilferuf an jene Stelle gelockt. Das Felsstück mag schon früher lose gewesen sein, ist dann aber eigens zu unserem Empfang völlig gelockert worden. Wenn zum Beispiel ein dünner Draht von einem Stein, der diesen losgesprengten Randteil des Seeufers stützte, irgendwohin lief, wenn dann an diesem Draht gezogen wurde, dann verlor das Felsstück den Halt und – die Sache hatte geklappt, wie es ja auch tatsächlich geschehen ist. – Nun – dieser Einsiedler ist trotz alledem ein Dummkopf. Ich weiß jetzt nicht nur seinen Namen, sondern auch vieles andere. Er wird es sich gefallen lassen müssen, daß ich ihm noch in dieser Nacht einen Besuch abstatte. Ich werde nach einer Stunde, wenn hier alles schläft, aufbrechen. Der Mann soll merken, daß Harald Harst sich nicht ungestraft halb ersäufen läßt. – So – jetzt gute Nacht, mein Alter.“

„Ich komme mit!“ flüsterte ich und packte seinen Arm. „Du mußt mich mitnehmen. Ich lasse Dich auf keinen Fall allein gehen.“ –

Unser Zimmer hatte zwei Fenster und lag im Erdgeschoß nach der Falmouthbai hinaus, wie der Meereseinschnitt im flachen Vorlande der Insel getauft ist. Wir gelangten bequem und unbemerkt ins Freie.

Um elf waren wir aufgebrochen. Wir schritten kräftig aus. Schon nach zehn Minuten rann mir der Schweiß den Rücken entlang. Harst machte den Führer und ging so sicher, als hätte er den erloschenen Vulkan schon so und so oft bestiegen.

Es war ½1 Uhr, als wir uns jetzt mit größter Vorsicht dem Gipfel näherten. Das Licht war nicht zu bemerken. Dunkel und düster ragte die abgeplattete Kraterspitze in das Sternengefunkel hinein.

Je höher wir jetzt kamen, desto behutsamer wählten wir den Weg, hielten uns stets im Schatten höherer Felspartien und vermieden jedes Geräusch.

Die letzte Strecke krochen wir auf allen Vieren. Harst richtete es so ein, daß wir von Osten her an den großen Felsblock uns sacht heranschlängelten. Dann blieben wir in einer Bodenvertiefung zwischen Steingeröll liegen und harrten der Dinge, die vielleicht kommen würden – vielleicht!

Aber – es geschah nichts. Vor uns auf etwa zwanzig Meter hatten wir den ungeheuren Block. Die Felskanzel, auf die Harst mich nachmittags aufmerksam gemacht hatte, sahen wir von der Seite wie einen Buckel.

Da die Nacht windstill war, vernahmen wir nur ganz undeutlich das Getöse der Brandung, die dauernd die Westseite von Tristan da Cunha umdonnert; hin und wieder erklang der klagende Schrei eines Seevogels. Das war alles.

Eine Stunde mochte vergangen sein. Ich war halb eingeschlummert. Da fühlte ich Harsts Hand auf meinem Arm, wurde schnell wieder munter. Sein Mund berührte mein Ohr, als er mir zuraunte:

„Ein Mann erklimmt den Felsblock –“

Ich schaute hin. – An der rissigen, kahlen Wand des riesigen Blocks bewegte sich etwas. Ich hörte das Poltern losbrechender Steine. Meine Augen gewöhnten sich an die schwache Beleuchtung. Ich gewahrte den Kletterer nun deutlicher, der bereits der Felskanzel nahe war. Jetzt streckte er den rechten Arm aus, suchte sich an der Oberseite der Felsnase festzuhalten. Nun schwang er sich mit dem halben Leib hinauf.

Aber – seine Kräfte schienen ihn plötzlich verlassen zu haben. Ein lauter Angstruf. Der Mann verlor den Halt, stürzte ab, prallte gegen einen kleinen Vorsprung, versuchte sich hier festzuklammern, glitt wieder aus und schlug mit dumpfem Krach auf den Steinboden am Fuße des Felsens auf.

Harsts Hand hielt mich zurück. Ich hatte mich aufrichten wollen. „Keine Bewegung!“ flüsterte er. „Wir schweben hier in nicht geringerer Gefahr als der, den man hier soeben aus fünfzehn Meter Höhe hinabbefördert hat!“

Wieder dieselbe Stille wie vorhin. – Ich kann nicht behaupten, daß mir damals besonders behaglich zumute war. Nein – der Gedanke, daß da vor uns vielleicht ein Mensch mit gebrochenem Genick lag, daß ein anderer Mensch hier mit allen Mitteln ein Geheimnis unbekannter Art verteidigte, hatte zu viel Aufregendes an sich.

Wir warteten. Der harte Steinboden bildete gerade keine sehr angenehme Sitzgelegenheit. Und dabei durfte ich nicht einmal versuchen, mir hin und wieder eine andere Lage zu geben. Sofort preßte Harst meinen Arm mit aller Macht. Das hieß: Verhalte Dich gefälligst still!

Dann – endlich im Osten ein fahler Schimmer des neuen Tages; dann – stand Harst auf, meinte halblaut:

„Wagen wir es jetzt, dem vorwitzigen Draaken Hilfe zu bringen, falls er überhaupt noch lebt.“

„Wem: Draaken?“ fragte ich erstaunt.

„Ja – nur er kann der Abgestürzte sein – nur er! Sein Lächeln vorgestern abend bei der Erörterung des Tristan da Cunha-Geheimnisses war so vielsagend, daß ich mir gleich dachte: Draaken muß dem Geheimnis halb und halb auf der Spur sein! – Es ist ein kräftiger Mensch, bedächtig, wie alle Holländer, aber doch zu unvorsichtig einem Gegner gegenüber wie diesem Einsiedler. – Komm’, – hoffentlich ist er nur bewußtlos und hat nur mit ein paar Rippenbrüchen seine Kühnheit bezahlt.“ –

Nun – Draaken lebte. Er war nur bewußtlos. Wir trugen ihn schnell aus der Nähe des Felskolosses weg. Harst schien sich vor einem Angriff durch Felsstücke von oben zu fürchten. –

Es wurde heller und heller. Draaken hatte am Hinterkopf eine blutige Wunde. Auch sein linker Unterarm war gebrochen. Als er schließlich wieder zu sich kam, als er uns erkannte, schien er seinen Augen nicht trauen zu wollen, daß gerade wir beide neben ihm knieten. – Er mußte einen sehr widerstandsfähigen Körper besitzen, da er sehr bald sich aufrecht setzte und auch Harsts Fragen beantwortete.

Er gab zu, sich seit langem mit der geheimnisvollen Lichterscheinung auf eigene Faust beschäftigt zu haben. So hatte er schließlich auch herausgefunden, daß das Licht nur auf dem einzeln stehenden großen Felsblock seinen Standort haben könne. Als er einmal diesen Felskoloß am Tage näher untersucht hatte, war jedoch plötzlich von der Höhe ein Stein von fast 2 Zentnern Gewicht herabgesaust und hätte ihn beinahe erschlagen. Ob hierbei Menschen die Hand mit im Spiel gehabt hätten, war nicht festzustellen gewesen. Immerhin warnte ihn dieser Vorfall und kühlte auch seine Unternehmungslust bedeutend ab. Er ließ viele Wochen verstreichen, ehe er sich wieder einmal auf den Berg wagte und zwar an einem stürmischen, regnerischen Abend, an dem man, wie er betonte, wirklich keinen Hund hinter dem Ofen hervorgejagt hätte. „Diesmal nun hatte ich Glück, Master Hirt,“ berichtete Draaken weiter. „Sogar sehr großes Glück. Ich überraschte nämlich dort am Fuße des Felsblockes zwei Menschen –“

„Aha,“ warf Harst ein. „Einen Mann und eine Frau!“

„Ganz recht, Master. Das heißt: ich hütete mich natürlich, mich sehen zu lassen. Ich wußte ja: bei dem schlechten Wetter war keiner der Kolonisten hier oben! Es konnte sich also nur um die Leute handeln, die mit dem Licht irgend etwas vorhatten und die mir vielleicht auch mit dem 2-Zentnerstein das Leben hatten verkürzen wollen. – Aber, Master Hirt, mir fällt da eben ein: Haben Sie denn auch schon den Mann und die Frau beobachtet, die hier allerhand dunkle Dinge treiben?“

„Ja,“ erwiderte Harst zu meinem Erstaunen. „Ich beobachtete die beiden. Aber mit dem geistigen Auge.“

„So so. Das ist wohl so ’n moderner Name für ’ne neue Sorte Fernglas, dieses „geistige Auge“, Master Hirt?“

„So ähnlich!“ nickte Harst. „Was taten der Mann und das Weib denn, bester Draaken?“

„Sie unterhielten sich sehr eifrig. Und dann –“ er lächelte trotz seiner Verletzungen ein wenig – „dann –“

„– küßten sie sich, und die Frau eilte davon,“ vollendete Harst.

Draaken riß den Mund vor Staunen auf.

„Waren Sie denn dabei, Master Hirt?“ fragte er kopfschüttelnd und musterte Harst nun sehr argwöhnisch, fügte plötzlich hinzu: „Sie – Sie sind gar keine Gelehrten, keine Naturforscher! Sie sind –“

„Detektive – allerdings!“ bejahte Harst leise. „Aber das bleibt unter uns, lieber Draaken. Wir sind auch nur sogenannte Liebhaberdetektive. Wir lassen uns unsere „Arbeit“ nie bezahlen. Der Gouverneur Lord Balleray bat mich, das Geheimnis von Tristan da Cunha aufzuklären. Die Hauptsachen habe ich aufgeklärt. – Doch, jetzt müssen wir an Sie denken, Draaken. Ich werde Ihnen den Arm schienen. Können Sie wohl zu Fuß den Berg hinab?“

„Gewiß kann ich’s! Wir sind hier zäh, Master Hirt.“

– – – – – – – –

Den Abstieg erledigten wir in aller Gemächlichkeit und mit verschiedenen Ruhepausen, so daß Harst Zeit genug hatte, Draakens Bitte zu erfüllen und sich eingehender über das zu äußern, was er bisher über die Lichterscheinung ermittelt hatte.

Mir war dieser Vortrag genau so interessant wie Draaken. Harst hatte ja – eine alte Schwäche von ihm – auch mir gegenüber bisher nur allgemeine Redensarten über diesen „Fall“ gemacht, aus denen als Hauptsache lediglich das eine hervorgegangen war, daß er den Namen des Einsiedlers; wie er den rätselhaften Urheber der Lichterscheinung bezeichnet hatte, bereits kannte. – Ich will das, was Harst uns mitteilte, im Zusammenhang hier angeben und nur die wichtigsten unserer Zwischenbemerkungen mit anführen.

„Es war mir bereits in Kapstadt klar,“ begann Harst, „daß der Scheinwerfer dazu diente, den Kratersee, besser dessen Tiefen zu durchleuchten. Wer nun an dem Kratersee so viel Interesse hatte, in der Verborgenheit auf der Insel zu leben und den See mit Hilfe einer starken Leuchtquelle nachts bis auf den Grund zu bestrahlen, der – suchte dort etwas – etwas von hohem Wert. Sonst hätte er wohl nicht all die Unannehmlichkeiten eines solchen Daseins, das dem eines beständig Verfolgten glich, auf sich genommen. Was er dort sucht, weiß ich bisher nicht. Man könnte ja vielleicht an Gold denken, das auf dem Grunde des Kraters im Gestein oder als Goldkiesel vorhanden sein mag. Ich glaube dies jedoch nicht. Wir wollen diesen Punkt vorläufig auch unerörtert lassen. – Eine Beleuchtung des Kraterbodens hätte nun nur einen Zweck gehabt, wenn der Unbekannte auch in der Lage gewesen wäre, mit Hilfe einer Taucherausrüstung in die Tiefe des Sees hinabzusteigen und sich dort wie auf dem Trockenen zu bewegen. Ich mußte also in Verbindung mit meinen ersten Kombinationen zu dem Schluß kommen: der Mann besitzt außer dem wahrscheinlich durch Akkumulatoren gespeisten Scheinwerfer auch einen Taucheranzug. Dann mußte er aber auch einen Gefährten haben, der die Luftpumpe der Taucherausrüstung bediente. – Als ich hier anlangte, rechnete ich also nicht mit einem, sondern mit zwei Einsiedlern.

Wer konnten nun diese Leute sein? Woher hatten sie erfahren, daß der Kratersee wertvolle Dinge irgendwelcher Art enthielt. Dies waren die Fragen, mit denen ich mich erst hier an Ort und Stelle beschäftigen konnte. – Am ersten Abend in Molbotts Wohnzimmer fielen Sie mir dann durch Ihr besonderes Lächeln auf, bester Draaken. Damals argwöhnte ich: dieser Draaken weiß mehr von dem Geheimnis als die übrigen, ist vielleicht gar selbst einer der Einsiedler. Denn ich mußte ja sehr wohl mit der Möglichkeit rechnen, daß Kolonisten bei dieser Sache beteiligt waren, obwohl hiergegen etwas sprach. Nun, was wohl?“ Dabei schaute er mich aufmunternd an.

Ich hüllte mich jedoch notgedrungen in Schweigen.

„Na – es sind doch Schafe verschwunden und in der Nacht auch Kühe heimlich gemelkt worden,“ meinte Harst lebhaft. „Mithin brauchten der oder die Einsiedler Lebensmittel. Wären diese „Einsiedler“ Kolonisten gewesen, hätten sie sich ja daheim satt essen können. Und weiter: wäre ein Kolonist Helfershelfer des Einsiedlers gewesen, so würde er diesen wohl genügend mit Nahrungsmitteln versorgt haben. Die Wahrscheinlichkeit, daß Kolonisten mit eingeweiht waren, blieb also nur sehr gering.“

„Die Schafe und die Milch sind auch nur in der ersten Zeit nach Auftauchen des Lichtes abhanden gekommen,“ warf Draaken ein. „Nachher nie wieder. Etwa in den ersten sechs Wochen verschwanden die Schafe.“

„Das erfuhr ich schon von Molbott,“ meinte Harst. „Ich habe ihn so nach allerlei ausgefragt, ohne daß er es merkte. Hauptsächlich lag mir daran, herauszubringen, ob hier ein Kolonist in letzter Zeit nach kürzerem Aufenthalt Tristan da Cunha wieder verlassen hat. Ich kombinierte nämlich so: Einer der Kolonisten mag zufällig entdeckt haben, daß der Kratersee wertvolle Dinge enthält. Er wollte diese sich heimlich aneignen, kehrte scheinbar in seine alte Heimat zurück, landete dann aber wieder auf der Insel und begann sein Einsiedlerleben.“

Hier äußerte Draaken ein lautes: „Ah – da ist ja der –“

„Ja – der aus Österreich[2] gebürtige Mechaniker Werner Schadlmeyer vielleicht derjenige, welcher!“ fiel ihm Harst ins Wort. „Schadlmeyer hat es hier auf der Insel nur ein Jahr ausgehalten. Dann zog er wieder von dannen, nachdem er mit dem Kolonisten Tom Silling sich – dessen Tochter wegen entzweit hatte.“

Jetzt war es an mir, mein Licht leuchten zu lassen.

„Sillings Tochter ist natürlich die Frau, die Draaken damals oben auf dem Krater mit dem Manne beobachtet hat,“ sagte ich schnell.

„Allerdings!“ nickte Harst „Als Molbott mir von dieser Liebschaft erzählte, die der alte Silling in keiner Weise billigte, da – sah ich mit dem „geistigen Auge“ alles ganz genau: da erkannte ich, weshalb der Einsiedler nie nachts überrascht worden war, wenn er den Scheinwerfer auf der Kanzel des Felskolosses aufgebaut hatte. Ellen Silling hat ihn eben stets warnen können. Sie hat sicherlich stets gewußt, ob etwas gegen ihren Geliebten unternommen werden sollte; sie wird auch die Luftpumpe bedient haben; sie konnte nur selten von Hause sich fortschleichen; deshalb erschien das Licht auch nicht jede Nacht, sondern oft erst nach vierzehn Tagen abermals; sie wird in der ersten Zeit Werner Schadlmeyer nicht genügend mit Lebensmitteln versorgt haben; daher stahl er Schafe und Milch.“

„Donner noch eins!“ rief Draaken. „Die ganze Sache ist nun ja so – so sonnenklar und einfach, daß man sich eigentlich ärgern muß, nicht selbst auf Schadlmeyer und die Ellen gekommen zu sein!“

„Sehr einfach!“ lächelte Harst. „Und genau so einfach ist die Erklärung für den 2-Zentnerstein, der Sie warnen sollte und den Schadlmeyer herabgestürzt haben wird, ferner für unser Bad im Kratersee und Ihren heutigen Absturz von der Kanzel, wobei der Österreicher abermals seine rücksichtslose Schlauheit bewies, da er alles so einrichtete, als seien Geisterhände dabei im Spiel.“

Draaken schaute Harst an. „So so!“ meinte er. „Ich habe also richtig vermutet. Ich glaubte gleich nicht recht daran, daß bei Ihrem Sturz in den See lediglich ein Unfall vorlag, Master, wie Sie’s uns darstellten.“

„Es war ein Attentat, Draaken, und zwar das raffinierteste, das je auf mich versucht wurde. Man hat mir schon oft Fallen gestellt und mir nach dem Leben getrachtet. Sie sollen nun auch unsere richtigen Namen wissen: mein Freund hier heißt Schraut und ich Harst!“

„Oho – Harst – Harst!“ rief Draaken begeistert. „Die Jacht Miranda hat uns ja die neuesten Kapstadter Zeitungen mitgebracht. Und da habe ich den Namen Harst in einem langen Artikel über den Edelstein „Rose von Rondebosch“ gefunden.“ – Er streckte Harst die gesunde Hand hin. „Wie freue ich mich, Sie kennen gelernt zu haben! Ich bin nur ein einfacher Tischler von Beruf, aber ich kann sehr wohl ermessen, was Sie für ein Genie von Weltruf sein müssen und –“

Harst wehrte lachend ab. „Draaken – keine Schmeicheleien. Vielleicht blamiere ich mich hier; vielleicht bringe ich nie heraus, was der Schadlmeyer im Kratersee sucht; vielleicht fasse ich ihn nie ab! – Doch jetzt wollen wir erst mal alles Theoretische unseres Falles erledigen. – Ich sagte: raffinierteste Attentat! – Der Einsiedler wollte uns nämlich nur halb ertrinken lassen. Er muß ahnen, wer wir sind. Deshalb wollte er die beiden „Naturforscher“ recht nachdrücklich daran erinnern, daß sie besser täten, das Geheimnis dieser Insel unbehelligt zu lassen. Unsere Rettung – wir gingen ja an derselben Stelle unter – ist nur so zu erklären, daß Schadlmeyer uns – erwartet hat! Und zwar – im Taucheranzug auf dem Grunde des Kratersees! Sowohl Schraut als auch ich hatten beide das Gefühl, mit den Füßen in Schlingpflanzen geraten zu sein, die eine bestimmte Zugkraft ausübten. Es waren – Stricke, die man uns um die Beine legte! Stricke, mit denen man uns aufs Trockene zog. – Nur auf diese Weise werden alle Einzelheiten dieses „Unfalls“ restlos klar – eben durch die Annahme, daß Schadlmeyer uns aus der Tiefe im Taucheranzug herausholte. – Ich wette, Ellen Silling ist gestern nachmittag nicht daheim gewesen! Sie mußte ja die Luftpumpe bedienen, als der Einsiedler auf uns lauerte. Und – sehr wahrscheinlich wird sie auch das Felsstück zum Absturz gebracht haben, auf dem wir standen. – Ich möchte nun nur noch als letztes bemerken: wo war die Luftpumpe aufgestellt, wo war Ellen Silling, wo war der Luftschlauch, der zu Schadlmeyer hinabführte?! Wir hätten doch diesen Luftschlauch bemerken müssen, als der Hilferuf uns an den inneren Kraterrand lockte, als wir dann mit unseren Blicken den See absuchten! – Der Hilferuf – das deutsche Wort „Hilfe“. Auch ein Beweis für die Richtigkeit meiner Annahme, daß Schadlmeyer der Einsiedler ist! Aber – wie war es ihm möglich, diesen Ruf auszustoßen, obwohl er sich doch schon im Taucheranzug unter Wasser befinden mußte? Also eine neue Frage, die schwer zu beantworten ist und die doch nur eine einzige Antwort den ganzen Umständen nach zuläßt: es muß in der Uferwand des Sees unter Wasser so etwas wie eine Höhle geben, die sich nach aufwärts zieht, die also in ihren oberen Teilen wasserfrei ist. In dieser Höhle kann dann die Luftpumpe aufgestellt sein, kann auch Ellen Silling sie bedienen; und aus dieser Höhle kann Schadlmeyer unbemerkt in den See hinabsteigen! – Nur so kann es sein!“

Draaken stieß ein begeistertes: „Nein – was Sie schlau sind!“ hervor, und ich erklärte gleichfalls:

„Harald, Du findest wirklich stets das Richtige heraus.“

„Nur eins nicht,“ lächelte er. „Und das ist: Was lockt Schadlmeyer immer wieder auf den Grund des Kratersees? Was? – Ich habe mir diese Frage nach allen Richtungen hin überlegt. Aber – mein Hirn versagt hier leider. Es muß sich da um etwas ganz Besonderes handeln, etwas, worauf man selbst durch schärfstes Nachdenken nicht kommen kann. – Gold? Nein! Dagegen spricht nämlich folgendes. Der See ist, wie mir Molbott zu berichten wußte, am Nordende zehn Meter, am Südende 25 Meter und in der Mitte fünfzehn Meter tief. Wie sollte also Schadlmeyer, während er hier als Kolonist lebte, ohne Taucheranzug den Seegrund untersucht haben! Und daß er erst später mit einer Taucherausrüstung hierher zurückkehrte, ist doch wohl als sicher zu unterstellen. Wozu sollte er als angehender Kolonist einen Taucheranzug nach Tristan da Cunha mitgebracht haben?! – Ja – die Frage: Was lockt ihn auf den Seegrund? – ist das schwierigste dieses Falles. Ich habe nun, um auch sie zu klären, der Jacht Miranda einen Brief an Lord Balleray mitgegeben. Der Lord soll für mich schleunigst verschiedene Nachforschungen anstellen und mir dann die Miranda mit dem Ergebnis hersenden. Bis dahin werden Schraut und ich uns um das Geheimnis, das ja kein Geheimnis mehr ist, nicht weiter bemühen. Sie aber, bester Draaken, müssen so tun, als ob Ihr Absturz ebenfalls ein Unfall war. Ebenso müssen Sie sich hüten, irgendwie zu verraten, wer wir sind. Schraut und ich bleiben Schratt und Hirt, obwohl ja der Einsiedler zweifellos schon weiß, daß die Naturforscher für ihn recht gefährliche Gegner sind. Vielleicht hat Ellen Silling ihm die Kapstadter Zeitungen gebracht; vielleicht [ist ihm ja][3] da die „Rose von Rondebosch“ aufgefallen; vielleicht besitzt er genug Geist, um sich zu sagen: „Halt – diese Naturforscher könnten recht gut die beiden Detektive sein, die da in Kapstadt gearbeitet haben!“ – So reime ich es mir wenigstens zusammen, daß der Einsiedler uns durchschaut hat!“

Ich will hier gleich bemerken: Harst hatte auch in diesem Punkte recht, wie sich später herausstellte. –

Morgens kurz nach sieben Uhr langten wir in der Ansiedlung an. Draaken, der mit Mutter und Schwester zusammen wohnte, wurde von Molbott in Behandlung genommen, der ein halber Arzt war. Als Molbott Harst und mich fragte, weshalb wir denn in der Nacht nochmals den Berg erstiegen hätten, meinte Harald: „Wir wollten diesen meinen Ring suchen, den ich oben auf dem Krater verloren hatte. Er ist ein Andenken und mir sehr teuer.“

Molbott gab sich mit dieser Erklärung zufrieden. So ganz geglaubt hat er sie nicht. Aber er konnte sich auch nicht recht etwas anderes zusammenreimen, das uns zu dem nächtlichen Ausflug veranlaßt haben könnte. Nachher hat er uns dies offen zugegeben.

Zunächst schliefen wir beide uns nun erst mal gehörig aus. Um 6 Uhr nachmittags begannen wir dann den einzelnen Kolonisten unsere Anstandsvisiten zu machen. Die Ansiedlung hatte damals vierzehn Gehöfte. Nachdem wir zwei dieser Besuche erledigt hatten, gingen wir nach dem Gehöft des alten Silling, der mit Frau, zwei Söhnen und einer Tochter, eben der für uns so wichtigen Ellen, auf der vierten Bergterrasse allein hauste. Als wir bei ihm eintrafen, fanden wir die Familie beim Abendbrot in der offenen Vorhalle. Wir mußten uns sofort mit an den Tisch setzen und auch an der Mahlzeit teilnehmen. Silling war früher in England Pächter eines Bauernhofs gewesen. Jetzt hatte er es längst zu Reichtum gebracht. Er weilte bereits 16 Jahre auf Tristan da Cunha.

Ellen Silling war ein blondes, stattliches Mädchen von 22 Jahren. Sie zeigte sich sehr zurückhaltend und wortkarg. Ich merkte sehr bald, daß sie Harst und mich dauernd beobachtete.

Harst sagte unter anderem, er hätte nun vorläufig von dem Krater übergenug. „Ich muß erst dieses Abenteuer im See vergessen. Es ist keine Kleinigkeit, dem Tode so dicht ins Auge zu schauen. Es geht an die Nerven. Ich werde mir ein paar Tage mit Robbenfang die Zeit vertreiben. Der junge Molbott will uns in seinem Boot gern mit auf die Jagd nehmen.“

Nachher begleitete uns der alte Silling noch ein Stück Wegs. Harst fragte so nebenbei, ob Ellen denn nicht heiraten wolle; es seien doch genug ledige Kolonisten hier vorhanden.

Da wurde Silling sofort erregt. „Oh, Master Hirt, – heiraten könnte das Mädel jeden Tag. Da ist zum Beispiel der Pieter Draaken. Der wirbt um sie schon zwei Jahre.“

Ah – Draaken als Bewerber Ellens! Das war uns neu; das hatte Draaken uns verschwiegen!

„Aber Ellen spukt ein anderer im Kopf herum!“ hatte Silling hinzugefügt. „So ein Windhund, so ein Mensch, auf den kein Verlaß war. Der Mensch hat hier eine Weile gelebt. Aber – er hatte so – so etwas an sich, das mir nicht gefiel. Arbeiten mochte er nicht. Ich hatte ihn bei mir aufgenommen. Er bummelte aber nur umher, schoß Vögel, angelte, – kurz, zur Feldarbeit war er nicht zu brauchen. Als ich merkte, daß er mit Ellen schöntat, setzte ich ihn an die Luft. Hier muß jeder fest mit zufassen, der es weiterbringen will. Dann fuhr er eines Tages mit einem Dampfer auf Nimmerwiedersehen nach Kapstadt zurück. Ellen heulte sich erst die Augen rot. Na – nun ist sie wieder vernünftig geworden. Aber – heiraten will sie nicht. Sie liebt die Einsamkeit. Sie wohnt ganz allein drüben auf der fünften Terrasse in einem Hüttchen und beaufsichtigt meine Rinderherde. Ein tüchtiges Mädel – aber für die Ehe ist sie nicht zu haben!“

„Weshalb sagte Ihnen denn der Schadlmeyer nicht zu? Nur weil er etwas Arbeitsscheu war?“ meinte Harst darauf.

„Hm – der Mensch sah ganz so aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen, Master Hirt. Ich merkte zum Beispiel genau: wenn der Regierungsdampfer hier erschien, verschwand er stets spurlos und ließ sich erst nachher wieder blicken. Es machte den Eindruck, als ob der Schadlmeyer sich vor der Dampferbesatzung nicht sehen lassen wollte. Er war auch mit einer Brigg von Kapstadt hierher gekommen, die uns Ackergeräte brachte, und er hatte sich in Kapstadt scheinbar so als blinder Passagier an Bord geschlichen. Na – zum Glück hat er Tristan da Cunha ja bald wieder den Rücken gekehrt.“ –

Silling verabschiedete sich gleich darauf. Als wir allein nun Molbotts Gehöft zuschritten, sagte Harald, indem er seinen Arm in den meinen schob:

„Lieber Alter, Sillings Herzenserguß war sehr wertvoll. Ellen wohnt allein! Und Schadlmeyer hatte ein schlechtes Gewissen offenbar! – Ich glaube, ich hätte den Brief an Lord Balleray der Jacht gar nicht mitzugeben brauchen. Ich ahne, was Schadlmeyer auf dem Grunde des Kratersees sucht. – Was meinst Du, wenn wir auch diese Nacht wieder auf dem Berge zubringen würden? Oder – wollen wir uns in der Nähe von Ellens Almhütte auf die Lauer legen? Ich hätte die größte Lust dazu.“

Ich schwieg. Ich hatte nämlich gar keine Lust dazu! Ich hätte mich in meinem Bett ja fraglos wohler gefühlt als auf dem vertrackten Krater oder im Grase als Lauscher.

Harst drückte meinen Arm. „Du – vielleicht können wir das Pärchen abfassen; vielleicht führt uns Ellen zu Schadlmeyers Versteck, zu seiner Einsiedelei! Ich jedenfalls bleibe diese Nacht nicht daheim!“

– – – – – – – –

Ich warne den verehrten Leser vor voreiligen Schlüssen, zu denen er vielleicht durch die Überschrift dieses Kapitels verführt wird. Er wird denken: „Aha – Schadlmeyer ist James Palperlon, das Verbrechergenie!“

Ein großer Irrtum, sehr geneigter Leser. – Wäre Schadlmeyer James Palperlon gewesen, dann hätte derselbe Palperlon ja kaum zu derselben Zeit, als er auf Tristan da Cunha als Einsiedler wirkte, uns auch anderswo in Atem halten können, zum Beispiel in Kopenhagen und Stockholm, wie aus den vorhergehenden Bänden dieser Sammlung ersichtlich ist.

Nein – Palperlons Ende war insofern tragischer, als hier ein Verbrecher den anderen beseitigte. Nicht ein Diener der strafenden Gerechtigkeit erschoß Palperlon etwa in der Notwehr, nein, – der Lebensfaden dieses außerordentlichen Menschen, hinter dem die Polizei aller Kulturstaaten her war, wurde auch entsprechend seiner Laufbahn als ungewöhnlicher Verbrecher auf ungewöhnliche Weise durchschnitten.

Ich glaube diese Vorbemerkung Palperlon gewissermaßen schuldig zu sein. Ich bringe sie zu Anfang dieses Kapitels, da eine Einschaltung in die Schilderung der weiteren Ereignisse mir unzweckmäßig erscheint. –

Als wir bei Molbotts Haus anlangten, war es kurz vor elf Uhr nachts. Der junge Molbott stand noch auf dem Hofe und spannte bei Laternenlicht Robbenfelle zum Trocknen aus. Er hatte nachmittags fünfzehn Robben erlegt und erzählte uns ganz stolz von seinem Jagdglück.

Dann meinte er plötzlich, etwas geheimnisvoll tuend:

„Ich habe nachmittags etwas beobachtet, das mir sehr zu denken gibt. Ich bemerkte nämlich ein Segelboot, das auf die Nachbarinsel Inaccessible zuhielt. Als ich darauf zusteuerte, verschwand es in den hohen Klippen, zwischen denen es ja eine Unmenge Kanäle gibt. Das Segelboot war wie eine Jacht getakelt. Leider war die Entfernung zu groß. Wieviel Leute an Bord waren, konnte ich nicht feststellen. Vielleicht steht das Boot aber zu der Lichterscheinung irgendwie in Beziehung. Ich will morgen jedenfalls die Gestade der Nachbarinsel mal ganz genau absuchen.“

„Und uns nehmen Sie mit!“ bat Harst. – Dann gingen wir in unser Zimmer, blieben hier aber nur eine halbe Stunde, kletterten wieder zum Fenster hinaus und schlichen die Terrassen[4] empor nach Ellen Sillings Hütte, die aus luftgetrockneten Ziegeln mit einem Dach aus Moos und Strauchwerk sehr sauber errichtet war. Es gab da nur ein Fenster. Es war erleuchtet. Der rote Leinenvorhang stand an der linken Seite etwas ab. Wir waren lautlos bis dicht an das Fenster gelangt, sahen nun Ellen Silling an einem Tisch dicht vor dem Fenster sitzen. Eine kleine Petroleumlampe brannte auf einer Kommode neben dem Tisch. Das Mädchen hatte die Arme aufgestützt, die Hände vor das Gesicht und weinte, – weinte so sehr, daß ihr Körper unter diesen Ausbrüchen eines wilden Schmerzes förmlich bebte.

Wir zogen uns dann in ein nahes Gebüsch zurück. Kurz nach Mitternacht erlosch das Licht. Dann hörten wir die Tür der Hütte knarren. Ellen erschien, spähte erst mehrere Minuten argwöhnisch umher und begann nun den Vulkan zu ersteigen. Sie wählte einen Weg, der wohl nur ihr bekannt war.

Die Nacht, sternenklar, aber windig, erleichterte es uns, ziemlich dicht hinter ihr zu bleiben. Sie fühlte sich offenbar ganz sicher. Ohne sich auch nur ein einziges Mal auszuruhen, klomm sie bergan. Für mich bedeutete dieser Marsch ein Schwitzbad. Harst war mir stets um einige zehn Schritt voraus. Der Wind, der in den Büschen und den hohen Rohrstauden rauschte und knisterte, verschlang alle verräterischen Geräusche unserer Füße.

Da – als wir uns noch etwa fünfzig Meter unterhalb des eigentlichen Vulkankraters befanden, ertönte oben ein Schuß – gleich darauf noch einer.

Ellen hatte halt gemacht. Ich sah an ihrer Körperhaltung, daß sie lauschte. Dann stieg sie hastiger bergan, lief beinahe.

Inzwischen war der Mond aus dem Meere aufgetaucht. Es wurde so hell, daß Harst aus Vorsicht weiter zurückblieb. Wir mußten warten, bis das Mädchen oben auf dem Kraterrand verschwunden war.

Nach fünf Minuten setzten wir uns wieder in Bewegung.

Plötzlich über uns von dem Felskoloß her eine blendende Lichtbahn. Diesmal aber nicht in Richtung auf die Oberfläche des Kraters, sondern genau hinab auf die Ansiedlung, bis zu der die Scheinwerferstrahlen freilich nicht reichten. Immerhin war jetzt ein Teil der Terrassen klar erleuchtet, was ein Bild von eigenem Reiz abgab. Ich starrte wie gebannt auf dieses Bild. Jeden Augenblick mußte ja der Scheinwerfer die Richtung ändern. Aber – es geschah nicht!

Harst umklammerte meinen Arm.

„Du – hier ist etwas besonderes im Gange!“ flüsterte er. „Ohne Grund läßt Schadlmeyer den Lichtkegel nicht auf die Ansiedlung fallen! – Vorwärts – nimm Deine Pistole zur Hand. Ich ahne was der Schuft vorhat. Er will Tristan da Cunha verlassen. Der Lichtkegel ist der höhnische Abschiedsgruß für die Kolonisten!“

Er sprang in langen Sätzen aufwärts. Ich keuchte hinterdrein. Oben auf dem ringförmigen Kraterplateau war es jetzt so hell, daß wir sofort Ellen Silling gewahrten, die unweit des riesigen Felsblockes am Boden neben einem lang ausgestreckt daliegenden Manne kniete.

Als sie uns hörte, fuhr sie empor, schrie entsetzt auf, wollte fliehen. Harst vertrat ihr den Weg.

„Bleiben Sie, Miß Silling!“ sagte er befehlend. „Ich weiß alles. Sie haben Schadlmeyer hier beim Absuchen des Seegrundes geholfen.“

Sie stand jetzt regungslos da. Harst winkte mir, auf sie achtzugeben, beugte sich dann über den Fremden, dessen Mütze zwei Schritt weiter auf den Felsen lag. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf.

„Miß Silling, – kennen Sie diesen Mann?“ fragte er.

Sie schüttelte wie geistesabwesend den Kopf.

„Der Mann hat einen Schuß quer durch die Brust,“ fuhr Harst fort. „Daß Schadlmeyer ihn niedergeschossen hat, unterliegt keinem Zweifel.“

Der Scheinwerfer erstrahlte noch immer. Er war oben auf der Felskanzel aufgestellt.

„Wissen Sie, Miß Silling, weshalb Schadlmeyer heute dem Lichtkegel diese Richtung gegeben hat?“ meinte Harst jetzt freundlicher.

Wieder nur das Kopfschütteln.

„Weil er – fliehen will!“ sagte Harst laut. „Weil er jetzt ein Boot zur Verfügung hat – das dieses Mannes, seines Opfers!“

Ellen Silling trat auf Harst zu. „Ich will alles – alles gestehen!“ flüsterte sie unter Tränen. „Schadlmeyer hat mich zu umgarnen gewußt. Er – er hatte in den Diamantgruben von Waterkool Diamanten gestohlen. Er flüchtete hierher. Als dann eines Tages der Regierungsdampfer hier eintraf, glaubte er, daß Polizeibeamte an Bord seien. Da hat er die Diamanten – es waren gegen zweihundert in allen Größen – in den Kratersee geworfen – lose – hat sie über die ganze Seefläche ausgestreut. Sie sollten niemals mehr gefunden werden. Nachher, als er erkannte, daß er sich unnötig gefürchtet hatte, wollte er sie wieder herausholen. Ich – half ihm dabei. Ich habe die Luftpumpe seiner –“

„Das ist mir bekannt,“ meinte Harst. „Nicht wahr – es zieht sich eine Höhle vom Steilufer des Sees bis zu dem Felskoloß hin?“

„Ja – so ist’s. Der Scheinwerfer mußte auf dem Felsvorsprung dort aufgestellt werden, weil er sonst nicht die ganze Oberfläche des Sees beleuchtet hätte. Die Diamanten waren zum Teil in Spalten und Risse des Kraterbodens gefallen. Das Suchen war sehr mühsam. – Ich liebte Schadlmeyer. Aber wir haben uns jetzt entzweit, weil er Sie beide und Draaken beinahe getötet hätte. Diesen Unglücklichen da kenne ich wirklich nicht.“ Sie schluchzte laut auf und sank in die Knie, hob den Kopf des Fremden etwas an. „O mein Gott – retten Sie den Ärmsten doch, helfen Sie ihm!“ flehte sie. „Sie sind doch Harald Harst, der Detektiv! Sie werden –“

Da hatte der Bewußtlose die Augen geöffnet, stützte sich mit den Händen auf das Gestein, schaute erst das Mädchen, dann uns an.

„Harst!“ – Wie ein geröchelter Hauch klang’s nur. „Harst, – ich bin – James Palperlon. Ich – fühle, – es geht zu Ende mit mir. Ich – hatte Sie in Kapstadt – im Hotel Atlantik – belauscht. Ich – wollte auch – das Geheimnis hier – aufklären, – kam gestern nachmittag mit einer kleinen Jacht allein –“

Ein Blutstrom schoß ihm aus dem Munde. Er sank zurück.

Aber noch einmal erholte er sich für Sekunden.

Auch wir knieten jetzt neben ihm.

Sein Blick suchte Harsts Gesicht.

„Ich – möchte – gutmachen, was ich – gefehlt. Sie – sollen – mein – Testamentsvollstrecker sein –“

Das folgende vernahm nur noch Harst, der sich ganz tief über den Sterbenden gebeugt hatte.

Dann ging es wie ein krampfhaftes Zucken durch Palperlons Leib.

Dann – war alles vorüber.

James Palperlon war tot. –

Wir ließen die Leiche wo sie lag, hasteten den Berg hinab, alarmierten die Kolonisten, damit Schadlmeyer mit Hilfe des der Ansiedlung gehörigen Motorkutters sofort verfolgt würde. –

Ich will diese Verfolgung nicht näher schildern. Wir machten sie auf dem Kutter mit. Die mondhelle Nacht gestattete uns, mit Fernrohren das Meer abzusuchen. Der Windrichtung nach mußte Schadlmeyer einen westlichen Kurs eingeschlagen haben, wenn er schnell aus der Nähe der Inseln fortkommen wollte.

Als der Morgen zu grauen begann, schlief die leichte Brise völlig ein. Um ½7 hatten wir den Flüchtling auf 500 Meter vor uns.

Wir sollten seiner nie habhaft werden. Wir wurden Zeugen, wie er, auf dem Kajütendach der kleinen Jacht stehend, die Edelsteine hoch in die Luft warf, wie sie ins Meer fielen, versanken.

Dann – schoß er sich eine Revolverkugel in die Schläfe, taumelte über Bord, ging unter, tauchte nicht mehr auf. –

Am folgenden Tage wurde Palperlon beerdigt. Kurz vorher begaben wir uns in das Vorratshaus, wo der Sarg aufgestellt war. Harst zog dem Toten den linken Schuh aus, schraubte mit der Messerklinge von dem Absatz das Hufeisen ab und hob so eine Lederplatte ab, unter der in dem hohlen Absatz ein ganz eng zusammengefaltetes Papier lag.

Harst steckte es zu sich, brachte den Schuh wieder in Ordnung und zog ihn dem Toten wieder an.

Das Papier war Palperlons Testament. Er hatte gewünscht, daß Harst von diesem Schriftstück zunächst niemandem, nur mir, Mitteilung machte. So geschah es auch. –

Auf dem weltfernen Tristan da Cunha liegt der große Verbrecher unter einer Palme begraben. Die Kolonisten haben auf den Hügel eine aus gebranntem Ton hergestellte Tafel mit der Aufschrift gesetzt, die auf Deutsch lautet:

„Das friedliche Eiland gab Dir Frieden.“ –

Ellen Silling ist jetzt Pieter Draakens Weib. Harst hat von Draaken verschiedentlich Briefe erhalten und diese auch stets beantwortet. –

Und Palperlons Testament?

Ich will über dessen Inhalt und über das, was es uns und der Welt eintrug, im nächsten Band berichten in:

 

James Palperlons Vermächtnis.

 

 

James Palperlons Vermächtnis.

 

Wir saßen in der Kabine nebeneinander auf dem kleinen Wandsofa. Harst hatte das eng zusammengelegte Testament Palperlons nochmals eingewickelt gehabt, entfernte nun die Hülle und faltete das Papier auseinander. Es war ein weißer Briefumschlag in Größe 12 mal 15 Zentimeter. Als Adresse stand darauf in einer steilen, schmucklosen und sehr energischen Handschrift:

Nach meinem Tode an Herrn Harald Harst, Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, uneröffnet zu senden. – James Palperlon.

Der Umschlag war nur zugeklebt. Nachdem Harst ihn von außen so genau besichtigt hatte, wie eben nur er dies tat, selbst wenn es sich um scheinbar noch so lächerliche Kleinigkeiten handelte, reichte er ihn mir uneröffnet und meinte:

„Bitte – Vortrag!“

Das hieß: ich sollte nun ebenfalls den Umschlag erst fünf Minuten lang hin und her drehen und dann mein Licht leuchten lassen, also erklären, was mir an dem Kuvert auffiel.

Etwas Auffallendes war ja fraglos daran. Sonst hätte Harald nicht um „Vortrag“ gebeten. – Ich gab mir die redlichste Mühe, irgend etwas zu entdecken.

Aber obwohl ich genau wie Harst mit einem Vergrößerungsglas den Umschlag Millimeter für Millimeter absuchte, ich mußte schließlich den Brief doch wieder auf den Tisch zurücklegen und erklären:

„Mein Vortrag fällt kurz aus: Ich finde an dem Ding nichts Auffälliges!“

Harst hatte sich eine seiner geliebten Mirakulum-Zigaretten angezündet.

„So so, – schade!“ meinte er. „Sieh mal, lieber Alter, dort auf dem Wandbrett steht eine sicher hier nur als Dekoration dienende Briefwage. Vielleicht langst Du mal hin und stellst sie auf den Tisch.“

Ich tat’s.

„Was wiegt ein leerer Briefumschlag von dieser Größe und Papierstärke?“ fragte er nun.

„Offen gesagt: ich habe keine Ahnung.“

„Drei bis vier Gramm, schätze ich. – Wiege mal nach.“

Er hatte recht: vier Gramm wog der Briefumschlag, den er seiner Brieftasche entnommen hatte und der in Größe und Papierstärke dem Palperlonschen sehr ähnlich war.

„So – und nun Palperlons Brief auf die Wage!“ ordnete er weiter an.

Der Erfolg? –: auch Palperlons Testament wog vier Gramm – vielleicht ganz wenig mehr.

Da ging mir ein Licht auf. „Der Umschlag ist leer!“ rief ich.

„Vermutlich!“ nickte Harst. „Das geringe Gewicht dieser letztwilligen Verfügung hättest Du merken müssen, mein Alter. Außerdem verriet einem ja auch das Gefühl, wie dünn der Brief war.“

„Es hätte nur ein einzelnes dünnes Blatt darin stecken können,“ verteidigte ich mich.

Harst schnitt schon den Umschlag vorsichtig auf und – zog dann – doch etwas heraus!

Ich triumphierte. Dieses Etwas war allerdings ein sehr merkwürdiges Testament, nämlich eines jener hauchdünnen Seidenpapierblätter, wie sie in Konfitürengeschäften als Decke für einen gefüllten Konfektkarton benutzt werden.

Jeder kennt diese Seidenpapierblättchen. Sie sehen wie ein etwas faseriger Seidenstoff aus, haben einen verzierten Rand und tragen oft in Golddruck den Namen des Bonbonladens oder der Fabrik.

Auch dieses Blättchen hier – es war fünf mal vierzehn Zentimeter groß – zeigte einen solchen Firmenaufdruck:

Vapaures Freres,
Confiserie,
Pondicherry, Boulevard de la Gare 19

Also:

Gebrüder Vapaures,
Konfektgeschäft,
Pondicherry, Bahnhofs-Boulevard 19

Pondicherry ist bekanntlich eine kleine französische Kolonie an der Westküste Vorderindiens mit gleichnamiger Hauptstadt.

„Recht eigenartig,“ lächelte Harst und hielt das Seidenpapierblättchen gegen das Licht. „Siehst Du etwas darauf außer dem Firmenaufdruck? – Ich nicht! Und – es dürfte auch nichts darauf zu sehen geben, denn auf solchem Seidenpapier kann kein Mensch etwa mit wieder verschwindender Tinte schreiben, – ausgeschlossen!“

„Mithin hat Palperlon uns – gefoppt,“ meinte ich zögernd. Ich glaubte selbst nicht an eine solche Möglichkeit.

Harst hatte meinem Ton diese Zweifel angemerkt.

„Du bist Dir Deiner Sache bei diesem „gefoppt worden sein“ nicht ganz sicher. Und mit Recht. Bedenke, daß Palperlon in seinen letzten Sekunden von seinem Vermächtnis sprach. Wie wird er, nur um uns zum Narren zu halten, wohl für dieses „Testament“ ein solches Versteck wie seinen Absatz gewählt haben! – Nein, mein Alter, – es ist schon ein Testament! Nur eben eins, das, falls es in andere Hände und nicht gerade in die meinen geriet, nicht entziffert werden sollte. Palperlon hat hier also eine geheime Urkunde in der Überzeugung geschaffen, daß ich ihren Text schon heraustüfteln würde. Na – unser ehemaliger Feind hat sich in mir nicht getäuscht. Der Text ist schon gefunden.“

Ich blickte ihn überrascht an.

„Du meinst wohl, ich renommiere?“ lachte er.

Als ich schwieg und das Seidenpapierblättchen abermals gegen das Licht hielt, fuhr er fort: „Gib Dir keine Mühe, lieber Alter. So kommst Du nicht dahinter. Niemals! – Ich werde Dir hier auf ein Stück Papier etwas aufschreiben. Das Papier tue ich in den Umschlag, den wir zu der Wiegeprobe benutzten. Wenn wir dann Palperlons letzten Willen erfüllt haben, kannst Du den Umschlag öffnen, den Du bis dahin bei Dir behalten magst. Dann wirst Du auf dem Zettel das finden, was ich vorläufig verschweigen möchte, um Dir die Spannung an diesem neuen Abenteuer nicht zu verderben. Denn – ein Abenteuer wird es auf jeden Fall. – So – da hast Du den Umschlag. Verwahre ihn gut.“

Ich legte ihn zwischen Stoff und Futter meiner weichen Reisemütze.

„Brav so!“ lobte Harald. „Da ist er vorläufig gut aufgehoben! Sobald wir in Kapstadt sind, erkundigen wir uns nach dem nächsten Schiff nach Indien. Ich bin sehr neugierig, was wir in der Confiserie Vapaures Freres erleben werden.“

Wir hatten Glück. Als wir Lord Balleray, den Gouverneur der Kapkolonie, gleich nach unserem Eintreffen in Kapstadt besuchten und ihm mitteilten, was es mit dem Geheimnis der Insel Tristan da Cunha auf sich gehabt hätte, und als Harst dann von seiner Absicht sprach, wieder ein paar Monate Indien zu bereisen, für das er ja von jeher eine Schwäche gehabt hätte (von Palperlons Testament fiel kein Wort), rief Balleray freudig.

„Oh – das trifft sich ja vorzüglich, mein lieber Master Harst – ganz vorzüglich! Mein alter Freund Wolpoore ist heute früh mit seiner Motorjacht India in unseren Hafen eingelaufen. Kennen Sie Wolpoore – wenigstens dem Namen nach? – Nein?! Nun, Lord Edward Wolpoore ist der größte Plantagenbesitzer Indiens, vielleicht der reichste Mann Englands überhaupt. Er hat seinen ständigen Wohnsitz in einem früheren Radschaschloß unweit Madras. Jetzt kommt er von London und befindet sich auf der Heimreise. Ich werde ihn bitten, Sie als seine Gäste mitzunehmen. Seine Jacht läuft 23 Knoten. Eine schnellere und bequemere Überfahrt nach Indien dürften Sie kaum haben.“

Abends lernten wir dann Lord Edward Wolpoore kennen. Als wir ihm durch Balleray vorgestellt wurden, ahnten wir nicht, daß wir gerade durch ihn vielleicht den interessantesten Abschnitt unserer Tätigkeit als Liebhaberdetektive durchmachen sollten.

Wolpoore war vierzig Jahre alt, sah aber wie ein Sechziger aus. Selten bin ich einem Gesicht begegnet, auf dem jede Falte so sehr der Ausdruck ständiger nervöser Unruhe war. Der ganze hochgewachsene schlanke Mann schien nur ein Bündel[5] kranker Nerven zu sein.

Als Lord Balleray ihm dann mitteilte, wir hätten die Absicht, von hier nach Indien zu reisen, war Wolpoore es, der uns sogleich einlud, auf der India ihn bis Madras zu begleiten. Harst nahm dankend an.

Wolpoore hatte seinen Privatsekretär bei sich, einen kleinen, mageren Herrn namens Chester Blindley, der wie ein Jockey aussah, aber ein Moltke[6] war, was die Schweigsamkeit anging.

Am nächsten Morgen gingen wir an Bord der India, die um neun Uhr in See stach.

Am Abend – wir hatten eine gemeinsame, geräumige und sehr elegant ausgestattete Kabine – sagte Harst beim Auskleiden leise zu mir:

„Na – hast Du was bemerkt, mein Alter?“

„Gewiß. Jedes Kind hätte hier aus tausend Kleinigkeiten feststellen können, daß Lord Wolpoore sich mit einem raffiniert ausgeklügelten Wall von Vorsichtsmaßregeln zum Schutze seines ihm offenbar sehr kostbaren Lebens umgeben hat.“

„Und sein Gesicht?“ meinte Harald.

Ich blickte Harst fragend an.

„Nun – sein Gesicht verrät, daß er ständig den Tod fürchtet – den Tod von der Hand irgendwelcher Feinde,“ erklärte Harst.

Ich nickte. „Du magst recht haben.“

„Ich habe recht. Chester Blindley hat sich mir anvertraut. Er ist nur dem Namen nach bei Wolpoore Privatsekretär. In Wahrheit ist er Berufsdetektiv und seit fünf Jahren Chef der Detektivpolizei, die Wolpoore lediglich zu seinem eigenen Schutz unterhält. Die Truppe besteht aus zwanzig auserwählten Leuten, von denen zur Zeit sechs sich hier auf der Jacht befinden.“

„Aber – weshalb das alles?!“ rief ich leise. „Das sieht doch fast nach der Marotte eines –“

Harst hatte mir mit sehr ernstem Gesicht zugewinkt.

„Hast Du Eugen Sues[7] Roman Der ewige Jude gelesen?“ fragte er. „Natürlich kennst Du das Buch. Jeder kennt es. Besinne Dich auf die dort erwähnte Mördersekte der Thug, die zu Ehren der blutigen Göttin Bhowani oder Kali[8] mit einer geweihten Schlinge ihre Opfer erdrosseln. Lord Wolpoores Großvater hat als Vizekönig von Indien die Thug erbarmungslos auszurotten versucht. Die Mordbande, die besser organisiert sein soll als irgend eine andere Geheimgesellschaft, schwor ihm Rache – ihm und allen seinen Nachkommen. Es genügt, wenn ich Dir sage, daß seit diesem Schwur kein Träger des Namens Wolpoore eines natürlichen Todes gestorben und daß Lord Edward der letzte Wolpoore ist, nachdem seine Gattin und seine beiden Söhnchen vor sechs Jahren spurlos verschwunden sind. Begreifst Du nun, weshalb dieser reiche, arme Mann alles daransetzt, den Nachstellungen der Thug zu entgehen?“

Ich gebe zu: mir war es kalt über den Rücken gelaufen bei diesem Bericht über die Tragödie einer ganzen Familie.

Harst schaute mich sinnend an. „Bisher sind auf Edward Wolpoore siebzehn noch rechtzeitig vereitelte Attentate verübt worden,“ sprach er nachdenklich weiter. „Chester Blindley sagte zu mir: „Offiziell sind ja die Thug längst ausgerottet. Die indische Regierung glaubt nicht daran, daß die Mördersekte noch existiert. Ich behaupte das Gegenteil. Wer sollte wohl diese siebzehn Attentate versucht haben? – Die Regierung beruhigt sich selbst und antwortet: Es handelt sich lediglich um eine sehr schlaue Erpresserbande! – Na – Erpresser verschwenden kaum wie hier viele Tausende für die Vorbereitungen ihrer Attentate. Es sind Thug, Master Harst! Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir helfen wollten, dies auch zu beweisen. Bisher haben wir nämlich auch nicht einen einzigen dieser Schurken zu Gesicht bekommen; sie sind schlauer als schlau!“ – So sprach Chester Blindley heute nachmittag zu mir auf dem Achterdeck. – Was habe ich wohl geantwortet, mein Alter, – he?“

– – – – – – – –

Zu einer Antwort kam ich nicht.

Irgendwo im Schiff war ein gellender, überlauter Schrei erklungen. Woher er kam, konnten wir nicht sagen.

Wir waren beide hochgeschnellt. Der Schrei war so schrill, so nervenaufpeitschend gewesen, daß wir uns entsetzt anstarrten.

Dann wurde an unsere Kabinentür gehämmert.

Es war Chester Blindley. Sein weißer Leinenanzug war über und über mit Blut bespritzt.

„Ein neues Attentat, Master Harst!“ keuchte er. „Ein Kerl hatte sich, in Kapstadt wahrscheinlich, an Bord geschlichen. Ich kam gerade hinzu, wie er die Tür der Schlafsalons Seiner Lordschaft zu öffnen versuchte. Er stieß nach mir mit einem Dolch. Aber ich war flinker. Mein malaiischer Kris, den ich stets bei mir trage, fuhr ihm durch die linke Halsschlagader. Sie müssen den Schrei gehört haben, den der braune Bursche ausstieß. – Kommen Sie, kommen Sie, vielleicht ist aus dem Menschen noch etwas herauszulocken, bevor er stirbt. Er ist auf meinen Befehl in meine Kabine getragen worden.“

Wir zogen schnell unsere leichten Gummimäntel über unsere schon etwas mangelhafte Bekleidung und liefen hinter Blindley den Mittelgang entlang. Blindley war fünf Schritt voraus. Plötzlich sahen wir ihn stutzen. Er war gerade vor der offenstehenden Tür seiner Kabine angelangt.

Er drehte sich nach uns um, rief:

„Der – der Bursche ist verschwunden!“

Wir standen sogleich neben ihm. In der Kabine brannte Licht. Mitten auf dem Teppich lag eine Bastmatte, mit denen der Gang zwischen den Kabinen belegt war. Sie war mit Blut förmlich durchtränkt. In einer Ecke aber hockte ein Matrose mit den Händen vor dem Gesicht und wimmerte kläglich.

Blindley trat ein und rüttelte den Mann.

„Meine Augen – meine Augen!“ heulte der Matrose auf. „Er hat mir etwas in die Augen geworfen –“

Blindley sagte schnell: „Es ist derselbe Matrose, der den Inder zuerst bemerkte und mich heimlich holte. Ich ließ ihn dann den Schwerverwundeten hier in die Kabine tragen.“

Jetzt erschienen auch der Kapitän der Jacht und Wolpoores Leibarzt Dr. Halfing im Gange.

„Schnupftabak, nichts weiter,“ erklärte Halfing. Er nahm den Matrosen mit, um die Augen auszuwaschen. Moostler teilte nur noch kurz mit, daß der Inder ihm plötzlich zugewinkt, daß er sich über den matt Daliegenden gebeugt und dieser ihm dann etwas in die Augen geworfen hätte; wo der Inder geblieben sei, wisse er nicht.

Harst war an das offene, runde Kabinenfenster getreten, dessen dicke, messingumrahmte Scheibe nach innen aufgeklappt war.

„Der Inder hat sich in die See gestürzt,“ sagte Harst dann nach wenigen Sekunden. „Hier sind überall Blutspuren am Fensterrahmen. – Ich will mal zu Doktor Halfing hinüber,“ setzte er hinzu. „Hier ist ja doch nichts mehr zu tun. Der Inder kann nichts mehr ausplaudern.“

Ich folgte Harst. Des Doktors Kabine lag im Seitengange linker Hand. Wir klopften und traten ein. Halfing nickte uns zu.

„Gar nicht schlimm!“ meinte er. „Natürlich hat Moostler böse Schmerzen gehabt. Wäre es ein schärferer Schnupftabak gewesen, so hätten vielleicht Komplikationen entstehen können.“

Moostler hielt die tränenden Augen noch immer fest zugedrückt.

Harst legte jetzt den Finger auf die Lippen, sah Halfing vielsagend an, bückte sich zu Moostler hinab und schüttete aus einer Falte von dessen weißer Matrosenbluse etwas Schnupftabak in seine flache Hand, richtete sich wieder auf, trat zurück und meinte:

„So so – also nicht schlimm! Das freut mich.“ Dann winkte er Halfing zu und flüsterte ihm ins Ohr:

„Schweigen Sie von dem Schnupftabak in meiner Hand.“

Laut fügte er hinzu: „Gute Besserung, Moostler. – Wir wollen dann also Blindley bestellen, daß keinerlei Gefahr für die Augen vorhanden ist.“

Wir verließen die Kabine und kehrten in die Chester Blindleys zurück.

Hier wurde zwischen diesem, dem Kapitän und den inzwischen gleichfalls erschienenen fünf Detektiven der Privatpolizei des Lords der Vorfall nach allen Seiten hin besprochen. Wolpoore selbst blieb unsichtbar.

Blindley befahl dann, daß das ganze Schiff nochmals durchsucht würde, wie dies schon kurz nach der Abfahrt von Kapstadt geschehen war. Wir sollten uns beteiligen, aber Harst lehnte mit den Worten ab:

„Ich möchte mir lieber diesen Anschlag in meiner Kabine nochmals durch den Kopf gehen lassen. Ich hoffe Ihnen damit mehr zu nützen, lieber Blindley.“

Wir zogen uns also in unser Luxusgemach zurück. Harst setzte sich in einen der Ledersessel und legte die in Morgenschuhen steckenden Füße auf einen Schemel, langte nach seiner Zigarettendose und meinte:

„Nimm gleichfalls Platz, lieber Alter. – Bitte – eine Mirakulum gefällig? Die Sache ist wert, bei einer Zigarette noch darüber zu plaudern.“

Harst rauchte ein paar Züge und schaute den tadellosen Rauchringen nach, die immer größer und verschwommener wurden, je höher sie stiegen.

„Chester Blindley ist eine ganz tüchtige Kraft,“ sagte er nun sehr leise. „Aber Moostler ist ihm über.“

„Was – was heißt das?“ fragte ich unsicher.

„Meinst Du, daß ein Mensch, dem die eine Halsschlagader durchschnitten ist, nach etwa vier Minuten noch imstande ist, sich durch ein enges Kabinenfenster hindurchzuzwängen?!“ lautete seine Gegenfrage.

Da begann es bei mir zu dämmern.

„Ah – Du argwöhnst, daß Moostler den tödlich Verwundeten aus Wut in die See geworfen hat?“ sagte ich und blickte Harst forschend an.

Er schüttelte den Kopf. „Nur zur Hälfte richtig, mein Alter. – Etwas ist auch mir bei der Geschichte noch unklar. – Hm – am besten ist, ich gehe mal gleich ins Vorschiff ins Mannschaftslogis. Komm’ nur mit.“ –

Auf der India hatte jeder Matrose eine kleine behagliche Kammer für sich. Diese Kammern waren jetzt sämtlich leer, da die Matrosen sich an der Durchsuchung des Schiffes beteiligten.

An jeder Kammertür hing eine Papptafel mit dem Namen des Inhabers. So fanden wir unschwer die richtige. Harst durchwühlte Moostlers Wandschrank. Ich mußte derweil draußen im Gange aufpassen, denn der Matrose konnte ja jeden Augenblick vom Doktor entlassen werden.

Ich sah, wie Harst nun auch unter das niedrige Kojenbett kroch, wie er dort mit seiner Taschenlampe den Boden ableuchtete und mit der Hand etwas zusammenfegte.

Dann schaltete er die Lampe wieder aus, drückte die Tür ins Schloß und meinte:

„So – nun haben wir ihn. Mag er heute noch auf seinen Lorbeeren hoffnungsfroh schlafen. Morgen früh soll er sehen, daß es hier doch noch Leute gibt, die ihm über sind.“

Wir kehrten in unsere Kabine zurück. Umsonst bat ich Harst, mir zu erklären, was es denn mit diesem Attentat nun eigentlich auf sich hätte.

„Morgen!“ sagte er und gähnte so laut, daß dies für mich hieß: „Bitte – laß mich jetzt in Ruhe!“

Das Frühstück nahmen wir gemeinsam im Salon ein. Wolpoore erschien als letzter. Er war bleich und wortkarg. Doktor Halfing, der Kapitän und der Jachtingenieur Moore beglückwünschten den Lord zu der Vereitlung des Anschlags. Wolpoore reichte Chester Blindley die Hand.

„Ich danke Ihnen. Es war Attentat Nummer 18,“ meinte er trübe. „Vielleicht verliere ich bei Nummer 19 das Leben.“

Harst verbeugte sich jetzt gleichfalls vor Wolpoore.

„Mylord, ich kann Ihnen leider nicht gratulieren,“ sagte er zum Erstaunen aller. „Es war nämlich gar kein Attentat. Oder besser: es wäre nie eins geworden. Vielleicht lassen Sie Moostler einmal rufen, dessen Augen ja schon wieder völlig gebrauchsfähig sind. Ich werde den Herren dann beweisen, daß Moostler ein Schurke ist.“

Chester Blindley, der Polizeichef, stierte Harst entgeistert an.

„Aber – aber, ich bitte Sie, Master Harst,“ meinte er fast empört. „Moostler war es ja, der den Inder über das Deck kriechen sah! Er alarmierte mich dann! Und – er soll ein Schurke sein?! Daraus werde ein anderer klug!“

Der Lord hatte sich gesetzt.

„Moostler wird geholt,“ befahl er kurz. „Master Harst wird nichts ohne Grund behaupten.“

Der Kapitän ging hinaus. Harst hatte ihn noch gebeten, Moostler zu erklären, daß der Lord vor allen Herren seinen Dank aussprechen wolle.

Gleich darauf trat der Matrose ein. Wir saßen jetzt schon um den Frühstückstisch herum. Nur Harst lehnte an dem Besanmast, der durch den Salon hindurchlief.

Moostler machte dem Lord eine tiefe Verbeugung.

„Master Harst will mit Ihnen reden,“ sagte Wolpoore ernst.

Der Matrose konnte eine Bewegung jähen Schrecks nicht verbergen. Er wußte ja, daß ein berühmter Liebhaberdetektiv an Bord war.

„Sie sind Schnupfer, Moostler,“ begann Harst, indem er den Mann fest anblickte. „Sie hätten nicht so unvorsichtig sein sollen, sich Ihren eigenen Tabak in die Augen zu werfen.“

Moostler wurde merkwürdig fahl im Gesicht, brummte nur:

„Ich verstehe Sie nicht, Master.“

„Sie sind sehr töricht, nicht sofort alles einzugestehen. Die Belohnung lockte Sie. Und daher haben Sie den Plan sich ausgeklügelt. Mylord hatte jedem von Ihnen, der die Augen gut offen hielt und alles Verdächtige schnell meldete, 1000 Pfund versprochen, wie mir Master Blindley anvertraut hat. Um diese 1000 Pfund war es Ihnen zu tun. – Wollen Sie jetzt gestehen?“

Moostler fuhr wütend auf. „Master, ich verbitte mir solche Anschuldigungen. Kein Mensch wird den Unsinn begreifen, den Sie schwatzen!“

Harst trat auf Moostler zu. „Sie sind ein gefährlicher Bursche, wie ich sehe. Ich warne Sie! Ich schieße vorzüglich. Und diese Pistole hier ist gespannt und entsichert. Ziehen Sie sofort die rechte Hand wieder leer aus der Hosentasche – sofort – und leer! Lassen Sie Ihr Messer nur stecken. Mit Leuten wie Ihnen mache ich nicht viel Umstände. – Die Sache hat sich so zugetragen. Sie haben in Kapstadt irgendwo einen armen, harmlosen Inder aufgegabelt, an Bord geschmuggelt und unter Ihrem Bett versteckt. Ich fand dort noch die Krümel von Brot und ein paar Körner von gekochtem Reis, also Reste der Mahlzeit des Inders. Was Sie dem Inder vorgeredet haben, daß er dann gestern nacht nach Lord Wolpoores Schlafsalon schlich und am Türschloß sich zu schaffen machte, ist gleichgültig. Dann spielten Sie den Verräter, eilten zu Master Blindley, von dem Sie wußten, daß er den Inder ohne weiteres niederstoßen würde, falls dieser sich zur Wehr setzte. So geschah es auch. Sie schleppten auf Blindleys Befehl den Sterbenden in dessen Kabine und warfen ihn nun durch das Fenster in die See, weil Sie fürchteten, ich könnte aus dem tödlich Verletzten noch etwas Sie Belastendes herausholen. Sie streuten sich Ihren eigenen Tabak in die Augen und konnten nun weiter den Harmlosen vorstellen. In Ihrem Wandschrank fand ich eine Büchse Schnupftabak von derselben Sorte, die auf Ihrer Bluse lag. – Ein Sterbender kann sich nicht mehr durch ein Kabinenfenster zwängen. Dies sagte ich mir sofort. Und das weitere kombinierte ich dann ebenfalls ganz richtig. – Sie sind ein Mörder, Moostler! Sie haben den Inder der 1000 Pfund wegen in den Tod gehetzt und dann einen noch Lebenden ertränkt. Leugnen ist zwecklos. Ihr Aussehen verrät Sie!“

Moostler hatte jetzt seine vorige Frechheit völlig eingebüßt. Plötzlich warf er sich auf die Knie und streckte flehend die Arme nach Lord Wolpoore aus.

„Ich gebe alles zu!“ heulte er. „Das Geld hat mich verführt. – Gnade, Mylord, – Gnade!“

Wolpoore beachtete ihn nicht.

„Kapitän, lassen Sie ihn in Eisen legen!“ befahl er. „Eine so ungeheure Schurkerei hätte ich einem meiner Leute nie zugetraut!“

Als Moostler über das Deck geführt wurde, riß er sich los und – sprang über Bord. Drei mächtige Haie waren der Jacht schon gestern gefolgt. Eine dieser Meeresbestien zog Moostler in die Tiefe. –

Das war sozusagen die Einleitung zu unseren späteren Abenteuern, die wir im Kampf gegen Lord Wolpoores unerbittliche Feinde zu bestehen hatten. Bis jetzt hatten wir uns meistenteils selbst schützen müssen – erst vor Warbatty-Doogston, dann vor Palperlon. Sehr bald sollten wir nun einen anderen schützen helfen: Lord Wolpoore.

Vorher ereignete sich dann aber all das Merkwürdige, was mit Palperlons Testament zusammenhing.

Kaum war die India in den Hafen von Madras eingelaufen, als wir uns auch schon an Bord eines Küstendampfers begaben, der nach Pondicherry fuhr.

– – – – – – – –

In Pondicherry hatten wir in dem Unterkunftshause des hopfendürren Herrn Mo-Tschi ein Zimmer im Erdgeschoß nach einer Seitenstraße hinaus gewählt und blieben bis Dunkelwerden daheim. Dann erst brachte uns der alte Fischer die Leinenanzüge, die wir bestellt hatten. Wir machten Toilette und verließen unser Quartier um halb zehn abends durch das Fenster als zwei bärtige, braune Gesellen, an denen so leicht niemand Harst und Schraut wiedererkannt hätte.

Wir fragten uns bis zum Bahnhof durch. Ganz in der Nähe lag auf dem Boulevard de la Gare das elegante Konfitürengeschäft der Gebrüder Vapaure, auf das wir es zunächst abgesehen hatten.

Harst hatte mir schon vorher erklärt, weshalb wir den Dampfer vor der Stadt verlassen hatten. Er rechnete bestimmt damit, daß die Nachricht von Palperlons Tod auch hier bereits durch den Depeschendienst der Zeitungen bekannt geworden sei und daß die Inhaber der Confiserie[9] Vapaure uns hier erwarten würden. „Wenn sie den Bahnhof und den Hafen überwacht haben,“ hatte er gemeint, „würden sie uns vielleicht herausgefunden haben. Dann hätte es uns Mühe gekostet, diese Spione wieder loszuwerden.“

Jetzt, als wir auf der anderen Straßenseite an dem Geschäft vorbeischlenderten, richtete ich an ihn dieselbe Frage, die ich schon einmal gestellt hatte:

„Du vermutest, die Brüder Vapaure kennen Palperlon?“

„Sie kennen ihn bestimmt,“ erwiderte er. „Aber – er warnt vor ihnen.“

„Warnt?!“

„Nun ja – in dem Firmenaufdruck!“

Ich war so klug wie vorher. Weitere Fragen mochte ich nicht an ihn richten. Seine Geheimniskrämerei ärgerte mich.

Wir bogen in eine Nebenstraße ein, bogen wieder nach links ab. Dann blieb Harst stehen.

„Dies muß die Rückfront des Grundstücks Nr. 19 sein,“ meinte er. „Hm – eine hohe Gartenmauer mit Pforte. Dahinter ein offenbar alter Garten. Dort auch ein Seitenarm des Kanals. Es wird gehen. Wir werden noch eine halbe Stunde warten. Dann wollen wir die Vapaures besuchen.“

„Wie – jetzt so spät abends?“ sagte ich.

„Gewiß. Ich muß die Leute unbedingt zunächst heimlich, ohne ihr Wissen, kennen lernen, bevor ich sie offen aufsuche. – Essen wir noch schnell im Bahnhofsrestaurant zu Abend. Der Kellner dort dürfte uns vielleicht einiges über die Brüder mitteilen können.“

So war es auch. Harst gab sich als Reisender einer Pariser Konfitürenfabrik aus. Der Kellner erklärte, die Vapaures seien zwei sehr angesehene, ältere Franzosen. Das Haus Nr. 19 gehöre ihnen. Sie bewohnten den ersten Stock. Nur der 2. Stock sei an einen Hafenbeamten vermietet. Den unverheirateten Brüdern führe eine jüngere Verwandte, eine Engländerin, die Wirtschaft, ein hübsches Mädchen, das aber stets sehr traurig aussehe. –

Harst war sehr zufrieden mit dieser Auskunft. Um ¼12 kletterten wir über die Mauerpforte und befanden uns nun auf einem kiesbestreuten Wege, der schnurgerade auf das Haus zulief.

Auf der Hälfte der Strecke nach dem Gebäude hin hörten wir Stimmen und duckten uns schleunigst ganz tief in den Schatten der nahen Büsche. Die Stimmen näherten sich nicht. Wir stellten fest, daß es rechter Hand eine Art Pavillon gab, vor dem auf einer Bank zwei dunkle Gestalten saßen. Ihre Zigarren schimmerten wie Glühwürmchen und bewegten sich langsam in langen Pausen auf und ab.

Ohne viel Mühe gelangten wir den beiden in den Rücken und hörten nun jedes Wort ihres Gesprächs. Sie unterhielten sich französisch. Es waren fraglos die Brüder Vapaure. Zu sehen war wenig. Dazu war es zu dunkel.

Der eine gähnte jetzt, sagte dann:

„Ich glaube nicht, daß er das Testament gefunden hat. James hat die Sache zu verzwickt gemacht.“

„Du meinst, er müßte sein, wenn er es gefunden hätte. Nun, ich bin anderer Überzeugung. Ein Mann wie er kommt selbst auf das, was hundert andere auch nicht im entferntesten ahnen. Er wird erscheinen! Er müßte gerade ein sehr schnelles Schiff benutzt haben, um in Indien bereits angelangt zu sein. Jedenfalls können wir ihn nächste Woche bestimmt erwarten.“

„Viktor, Du bist zu sehr eingenommen von seiner Findigkeit! – Nun – ich wünschte wahrhaftig, er käme. Wenn James uns wirklich die Wahrheit gesagt hat, so müssen –“ Er schwieg plötzlich.

Wir hörten Schritte. Eine hell gekleidete Frauengestalt bog auf den freien Platz vor dem Pavillon ein. Sie näherte sich sehr langsam. In ihrer Art, wie sie mit schlaff herabhängenden Armen müden und schleppenden Schrittes daherkam, mußte etwas liegen, das den Brüdern Vapaure auffiel.

„Was hat denn Ellen nur?!“ meinte Viktor Vapaure halblaut. „Sieh nur, Charles, sie schleicht geradezu wie krank dahin.“

Von dem Gesicht des Mädchens – es war ja fraglos die junge Verwandte, die den Vapaures die Wirtschaft führte – war leider nichts zu erkennen, selbst als sie nun dicht vor den Brüdern stehen blieb und mit tränenerstickter Stimme sagte:

„Weshalb habt Ihr mir verschwiegen, daß er tot ist?! – Mag die Welt ihn auch einen Verbrecher nennen: zu mir war er stets gut! Er war mein Wohltäter, mein Freund, mein Beschützer! Soeben habe ich ganz zufällig in Deinem Papierkorb, Onkel Viktor, ganz unten eine zusammengeballte Zeitung gefunden. Es war gerade die, die jene mir fehlende Romanfortsetzung enthielt. Und – in dieser Zeitung war der Artikel über seinen Tod auf der Insel Tristan da Cunha blau angestrichen. Ihr wußtet also davon. Aber Ihr wolltet mir sein Ende verheimlichen. Weshalb nur – weshalb?! Soll ich ihn nicht einmal beweinen dürfen?!“

Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte bitterlich.

Die Brüder schwiegen eine Weile. Dann sagte Charles, der einen halben Kopf größer als Viktor war:

„Liebes Kind, – wir taten es nur aus Rücksicht auf Dich. Wir wollten Dich nicht traurig sehen.“

Das Mädchen ließ die Hände sinken.

„Oh – das war eine falsche Rücksichtnahme! Ich werde ihn betrauern wie einen Vater. Nun habe ich niemand mehr, an den ich so recht lieb denken kann – niemand! Er war ja nur ein Unglücklicher, einer, den ein krankhafter Trieb zum Verbrecher gemacht hatte. Wie sollte wohl James Palperlon ein schlechter Charakter gewesen sein, – er, der so gütig, so herzlich stets zu mir war, der sogar weinte, als ich ihn damals vor einem Jahr anflehte, doch bei uns zu bleiben und dieses unstäte, furchtbare Leben aufzugeben.“

Sie wandte sich um und ging ebenso langsam wieder davon.

Als sie verschwunden war, lachte Charles Vapaure häßlich auf.

„Das Blut verrät sich,“ meinte er.

„Ja, ja, sie sollte ahnen, daß es ihr Vater ist!“ sagte Viktor Vapaure so leise, daß wir’s kaum verstanden. „Was würde sie dann alles in ihrem Schmerz anstellen. Sie besitzt dasselbe weichliche Gemüt wie Dasy. Die konnte auch um einen toten Sperling Tränen vergießen.“ –

Ah – welch eine Neuigkeit! Palperlon besaß eine Tochter. Diese Ellen war sein Kind, der gegenüber er freilich stets verschwiegen hatte, wie nahe sie beide verwandt waren.

Harst drückte meinen Arm. – Ich wußte, was er damit andeuten wollte: daß auch ihm diese Entdeckung äußerst unerwartet gekommen war.

„Nun – sie wird es nie erfahren,“ erklärte Charles Vapaure jetzt mit einer Stimme, die fast drohend klang. „Sie darf es nie erfahren! Überhaupt – am besten wäre, sie würde heiraten. Dann käme sie aus dem Hause. Sie ist manchmal doch recht unbequem. Sie besitzt jene Klugheit, der nichts entgeht. Sie sieht alles. Letztens zum Beispiel, als sie mich fragte, wo all die frische Erde über Nacht hergekommen sei, wurde ich wahrhaftig verlegen. Sie kann einen so ansehen – so, als wollte sie einem bis in den tiefsten Seelenwinkel schaun!“

„Da würde sie manches Erstaunliche bemerken,“ lachte Viktor Vapaure ironisch. „Zum Glück kann sie’s nicht!“

Eine Weile schwiegen sie wieder und rauchten bedächtig.

„Ich wünschte, die Sache wäre erst erledigt,“ meinte Viktor dann. „Dieser Harst ist ein gefährlicher Bursche. Man kann ihm gegenüber nicht vorsichtig genug sein.“

„Na, wir werden schon mit ihm ins Reine kommen. Jedenfalls war’s ein merkwürdiger Zufall, daß er Palperlons letzte Minuten miterlebte. Auf diese Weise wird James ihm vielleicht noch das große Geheimnis haben anvertrauen können. Wenn man so bedenkt, daß ein Verbrecher gerade seinen eifrigsten Verfolger zum Testamentsvollstrecker erwählt, – fürwahr ein reiner Witz!“

„James wußte eben, daß ein Mann wie Harst unbedingt zuverlässig ist. Ihm war es sehr gleichgültig, daß wir beleidigt taten, weil wir bei seinem Vermächtnis nur eine Nebenrolle spielen sollten. Wenn wir erst wüßten, ob es sich dabei tatsächlich um Juwelen handelt, wie wir annehmen.“

Er stand auf. Ich erkannte nun doch, daß dieser Viktor einen Spitzbart trug.

„Gehen wir schlafen. Ich bin wahrhaftig schon nervös geworden durch diese Unsicherheit, wie die Sache auslaufen wird,“ sagte er.

Auch Charles erhob sich. Sie gingen dem Hause zu. Als letztes hörte ich noch die Worte:

„– muß glücken! Rücksicht kenne ich nicht!“

Das hatte Charles Vapaure gesprochen. Er war ohne Zweifel der gefährlichere.

Wir blieben noch eine Viertelstunde in unserem Versteck. Dann machten wir uns davon, gelangten glücklich auf die Straße und schlenderten der Eingeborenenstadt zu. Auf der Brücke über den Kanal, der die Schwarze und die Weiße Stadt trennt, lehnte Harst sich an das steinerne Brückengeländer und schaute zum Monde empor, der soeben über fernen, bewaldeten Höhen aufging.

Bisher hatte er sich in Schweigen gehüllt. Nun meinte er versonnen: „Arme Ellen! Du bist von Schurken umgeben, die Dich um das Vermächtnis Deines Vaters betrügen möchten! Sie werden sich täuschen! Palperlon soll nicht umsonst mir sein Kind anvertraut haben. Das tat er nämlich damals auf dem Krater von Tristan da Cunha! Er tat’s mit wenigen Worten, mein Alter. „Schützen Sie Ellen!“ Das war alles. Ich wußte also, daß wir dieser Ellen hier begegnen würden. Nur glaubte ich, es sei sein Weib.“

Unter der Brücke fuhr ein großes, plumpes Lastboot durch. Ein wehmütiges Lied sangen die vier Ruderer, bei dem der Mann am Steuer stets durch einen klagenden Schrei die Strophenanfänge einleitete und die Begleitung auf einem der zumeist dreisaitigen indischen Zupfinstrumente spielte. Auf dem Deck brannten drei große Laternen und beleuchteten Körbe, die mit Gemüse und Obst gefüllt waren. Das Boot kam sicherlich aus dem Innern. Vielleicht war morgen hier in Pondicherry großer Markttag.

Dieses nächtliche Bild dort unter uns auf dem Kanal hatte Harsts Gedanken offenbar abgelenkt. Wir machten uns nun auf den Heimweg und bald befanden wir uns wieder in der Eingeborenenstadt. Aus einer Opiumspelunke taumelte ein Dutzend französische Seeleute heraus, gröhlte die Marseillaise und schimpfte hinter uns drein[10], obwohl wir uns ganz dicht an die Lehmhütten gedrückt hatten.

„Sie sind das Opium-Gift aus südfranzösischen Häfen gewöhnt. Absinth und Opium helfen Frankreichs Einwohnerzahl immer mehr verringern,“ sagte Harst, wie so oft ganz unvermittelt das Thema wechselnd. „Hast Du übrigens die eine Andeutung des Bahnhofskellners über die Brüder Vapaure verstanden? – Nein? – Nun – die Vapaures unterhalten fraglos einen Opiumsalon für Pondicherrys vornehme Welt. Es läßt sich das ganz gut mit einem Konfitürengeschäft vereinen.“

Eine kurze Pause. Dann: „Überhaupt – diese Vapaures! Erst sprachen sie fraglos über mich. Viktor fürchtet mich. Das merkte man. – Was wohl die Bemerkung über die frische Erde sollte, die Ellen zu einer Frage und Charles zur Verlegenheit Veranlassung gegeben hat? Und – weshalb ist Ellen ihnen unbequem? Des Opiumsalons wegen? Oder – sollten die Herren noch andere Geschäfte betreiben?! – Alles in allem hat uns dieser Abend das eine bestimmt eingebracht: die Leute sind wirklich mit Vorsicht zu genießen, – ganz abgesehen davon, daß schon Palperlon ihnen nicht traute und vor ihnen warnte, obwohl es doch seine Schwäger sind. Die Dasy mit dem „weichlichen“ Gemüt kann nur ihre Schwester gewesen sein.“

Ich merkte, daß Harald seine mitteilsame Stunde hatte und sagte daher geradezu:

„Du sprichst zum zweiten Male von einer Warnung Palperlons vor den Vapaures. Sein merkwürdiges Testament enthielt also doch wohl eine Mitteilung in einer besonderen Art?“

„Gewiß, mein Alter, gewiß. – Sieh mal, wenn man solche Dinge wie dieses Testament, das scheinbar nur aus einem Seidenpapierblättchen mit Firmenaufdruck bestand, untersucht, muß man ungeheuer sorgfältig vorgehen. Wenn Du Dir den Goldaufdruck des Firmenstempels auf dem Blättchen genau beschaut hättest, wenn Du jeden einzelnen Buchstaben dieser Reklameschrift geprüft hättest, wäre Dir fraglos aufgefallen, daß darin einzelne Buchstaben etwas schärfer hervortraten. Man hatte diese Buchstaben sehr vorsichtig mit feinem Pinsel und Goldfarbe nachgetuscht. Man – also natürlich Palperlon.

Vergegenwärtige Dir den Aufdruck. Er lautete:

Vapaures Freres,
Confiserie,
Pondicherry, Boulevard de la Gare 19.

Aus diesem Aufdruck hoben sich die Buchstaben hervor:

Vapaures Freres,
Confiserie,
Pondicherry, Boulevard de la Gare 19.

Es waren also auch die beiden Zahlen 1 und 9 kenntlich gemacht. Stellt man alles zusammen, so ergibt sich:

pre Cosion de 19.

Das ist fehlerhaftes Französisch aus Not, soll heißen:

precaution de 19,

deutsch also:

Vorsicht vor 19,

was doch nur bedeuten kann: Vorsicht vor den Bewohnern von Nr. 19, also – vor den Vapaures! – Das ist Palperlons Warnung. – Ganz fein ausgeklügelt! Aber noch feiner das andere, mein Alter! Das eigentliche Testament, nämlich der – Umschlag!“

„Ah – ich verstehe! Auf der Innenseite des Umschlags war etwas geschrieben!“ rief ich gespannt.

„Kein Wort!“ erklärte Harald jedoch zu meiner Enttäuschung. „Nicht eine Silbe. Nur – mit Bleistift war innen ein Viereck ganz dünn gezeichnet, nichts als ein Viereck. Und dieses harmlose Viereck war die Veranlassung zu unserem heutigen Besuch des Gartens, die Hauptveranlassung, wie ich jetzt ehrlich zugeben will.“

Ich dachte angestrengt nach, fragte dann:

„Und außer dem Viereck war nichts auf die Innenseite des viereckigen Hauptstücks des Umschlags gezeichnet – nichts?“

„Tatsächlich – nichts! Hätte Palperlon das getan, so hätte ich seinen Erfindungsgeist nur sehr mäßig zensieren können. So aber kann ich nur sagen: Ich selbst hätte es nicht besser machen können!“

„Was denn?“

„Sei nicht unbescheiden. Ich will mir für morgen doch auch noch einige Überraschungen vorbehalten. Wir werden um 9 Uhr vormittags die Vapaures besuchen, nachdem ich mich noch zu dieser Visite für alle Fälle so etwas gerüstet habe. Ich traue den beiden Herren alles mögliche zu. Besonders diese – „frische Erde“ gefällt mir nicht. Auch sonst, mein lieber Alter, ist mir noch manches bei diesem Vermächtnis unklar. Vollständig durchschaue ich Palperlons Absichten noch nicht.“

Ich war stehen geblieben, hatte Harst die Hand auf die Schulter gelegt.

„Du – ein Gedanke! Wenn das Ganze nur eine raffinierte Rache Palperlons wäre?! Wenn wir nur in eine Falle gelockt –“

„Stopp – stopp!“ unterbrach er mich. „Diesmal bist Du total auf dem Holzwege. – Nein – von Rache oder dergleichen ist kleine Rede! Erinnere Dich: die Brüder sprachen davon, daß sie bei diesem Vermächtnis nur eine Nebenrolle spielen, – offenbar sehr zu ihrem Ärger. Aber – sie erwarten uns! Sie wissen also, daß ohne dieses seltsame Testament und ohne mich das Vermächtnis niemals verwirklicht werden kann. Es gibt da noch eine Menge Nebenfragen, die man unschwer aufwerfen kann. Lassen wir jedoch alle theoretischen Erörterungen. Morgen werden wir wissen, woran wir sind.“

Wir hatten den einen Fensterflügel in unserem Zimmer nur zugedrückt, so daß wir ganz bequem und ungesehen in unser Quartier zurückgelangten.

– – – – – – – –

Harst war als erster durch das Fenster gestiegen, rieb nun ein Streichholz an und zündete eine Wachskerze an. Bevor ich mich in dem mit Bambusmöbeln ganz behaglich ausgestatteten Zimmer noch hatte umsehen können, hörte ich schon Harsts Stimme:

„Ah – wir haben Besuch!“

Von dem Bambussofa neben der Tür erhob sich ein eingeborener Polizist. – Harst hatte englisch gesprochen, und der Beamte sagte nun ebenfalls auf englisch:

„Ich verlange Ihre Papiere zu sehen. Zwei Europäer, die hier in der Schwarzen Stadt Wohnung nehmen und die verkleidet durch das Fenster sich entfernen, wie der Wirt beobachtet hat, sind stets verdächtig.“

„Allerdings!“ meinte Harst. „Es war ein Fehler, sich hier einzumieten. Wenn es nicht schon so spät wäre, würde ich noch in ein Hotel des Europäerviertels übersiedeln. – Papiere?! Hm – Sie meinen irgend einen Ausweis. Damit kann ich leider nicht dienen.“

„Dann muß ich Sie verhaften. Sie haben sich dem Wirt gegenüber als französische Kaufleute namens Beroux und Maxim ausgegeben. Heißen Sie wirklich so?“

„Nein. – Verhaften Sie uns nur. Bestellen Sie aber auf meine Kosten einen Wagen, der uns nach dem Polizeigebäude bringt. Hoffentlich kann ich Ihren Vorgesetzten noch sprechen.“

Harsts ganze Art machte den Beamten verwirrt. Aber er tat dann alles, was Harst wollte. Daß dieser hierbei eine bestimmte Absicht verfolgte, merkte ich sofort.

Wir fuhren also wieder zurück in die Europäerstadt. Im Polizeigebäude behandelte man uns durchaus höflich. Nach einer halben Stunde betrat Kommissar Jean Dalbott das Vernehmungszimmer, in dem wir auf einer Bambusbank saßen.

Harst bat, den Kommissar ohne Zeugen sprechen zu dürfen. Dieser schickte darauf den Beamten hinaus. Als er nun Harsts Ausweis mit der abgestempelten Photographie darauf sehr genau geprüft hatte, wurde er sehr liebenswürdig. Nicht alle Herren von der Polizei, denen wir bisher begegnet waren, besaßen so viel weltmännische Höflichkeit wie dieser Monsieur Dalbott. Er führte uns sofort in sein Dienstzimmer, erklärte, uns in jeder Weise unterstützen zu wollen, falls wir hier etwa „beruflich“ tätig seien, und ließ auch unser Gepäck aus dem Unterkunftshaus des neugierigen Chinesen holen.

Harst blieb etwas zurückhaltend, meinte, wir seien mehr als Vergnügungsreisende nach Pondicherry gekommen und hätten heute nur in der Verkleidung uns einige Opiumhöhlen ansehen wollen.

„Gibt es hier eigentlich auch Lasterstätten dieser Art für die Begüterteren?“ fragte er nun ganz beiläufig.

Der Kommissar lächelte vielsagend. „Es dürfte keine geben! Aber – natürlich muß die Polizei beide Augen zudrücken, wenn sogar die höchsten Beamten und ihre Damen dem Opiumgenuß frönen. Sollten Sie Lust haben, Monsieur Harst, einmal eine Pfeife Opium in einer sehr eleganten Umgebung zu rauchen, so gehen Sie zu den Brüdern Vapaure nach dem Bahnhofsboulevard 19 und verlangen Sie in deren Konfitürengeschäft „anregende Bonbons“. Das ist das geheime Kennwort, das Ihnen zu dem vornehmsten Opiumsalon Zutritt verschafft. Sie werden staunen, wie schlau diese Herren Vapaure ihr Haus für diesen Zweck eingerichtet haben. Die Polizei muß diesem Treiben gegenüber die Blinden spielen, denn es wäre doch peinlich, bei einer Razzia die Frau des Polizeichefs mit aufzugreifen.“

„Wohl recht fragwürdige Leute, diese Vapaures?“ meinte Harst gleichgültig.

„Im Gegenteil – im Gegenteil! Sehr angesehen hier, sehr! – Oh – ich freilich, ich denke anders über sie. Europäer, die nachts so oft in aller Stille alle möglichen zerlumpten Inder empfangen und bei sich behalten, sind – anrüchig! Aber – ich will mir die Finger nicht verbrennen. Wer so mächtige Gönner hat wie die Vapaures, der belächelt einen simplen Polizeikommissar.“

„Schmuggler?“ fragte Harst kurz.

Dalbott schüttelte den Kopf. „Nein. Das würde nicht lohnen.“

„Hehler?“ meinte Harst.

Der Franzose zog die Schultern hoch. „Ich weiß nichts und will nichts wissen!“ –

Gleich darauf begleitete er uns nach dem nahen Hotel de Paris, wo wir, obwohl es nach Mitternacht war, sofort zwei Zimmer im ersten Stock erhielten.

Als Dalbott sich verabschiedete, sagte Harst nach einigen Dankesworten, die des Kommissars Liebenswürdigkeit galten: „Wir werden vormittags mal zu den Vapaures gehen. – Dürfte ich Sie dann mittags zum Diner hier im Speisesaale des Hotels einladen, Monsieur Dalbott? Vielleicht hätte ich für Sie einiges Interessante in Bereitschaft.“

Dalbott schaute Harst prüfend an. Er merkte, daß wir doch nicht als Touristen hier waren. „Ich nehme mit Dank an,“ äußerte er. „Hoffentlich können wir so ein wenig zusammen – arbeiten!“ erklärte er mit feinem Lächeln.

Als wir allein waren, meinte Harald: „Siehst Du, mein Alter, nun haben wir hier einen ganz brauchbaren Verbündeten gefunden und auch – eine Rückversicherung abgeschlossen.“

„Rückversicherung?“

Harst begann sich bereits zu entkleiden. „Ja – Rückversicherung. Hoffentlich brauchen wir sie nicht. Sollten die Umstände aber danach sein, so wird sie sich als nützlich erweisen. Dieser Dalbott ist ja nicht auf den Kopf gefallen.“

Ich verstand ihn nicht. Aber – ich sollte ihn sehr bald verstehen und Gelegenheit haben, seinen weitschauenden Geist zu bewundern. –

Der Laden der Brüder Vapaure hätte auch in Paris den Besitzern Ehre gemacht. Drei Steinstufen führten zu dem Geschäftseingang hinauf, einer breiten Glasflügeltür, auf deren Scheiben in Porzellanbuchstaben je ein scherzhafter französischer Spruch stand, der auf die Süßigkeiten des Lebens Bezug hatte.

Wir traten ein. Innen eine Einrichtung, wie sie kaum geschmackvoller und intimer sein konnte.

Hinter dem Ladentisch stand Ellen. Es mußte Ellen, die Tochter Palperlons, sein. Ich hatte gestern abend ganz richtig gemutmaßt: sie war nicht gerade eine Schönheit, aber hold und lieblich wie ein Gemälde des Pariser Genremalers Baptiste Greuze[11], dessen Brustbilder von jungen Frauen noch heute unübertroffen sind.

Harst stellte sich vor.

„Mademoiselle, mein Name ist Harald Harst.“

Sie wich sofort zurück, erblaßte, suchte umsonst ihre Verwirrung zu verbergen.

Bevor Harst noch etwas hinzufügen konnte, teilte sich ein kostbarer indischer Vorhang an der linken Wand und ein älterer, schlanker Herr mit offenbar gefärbtem Haar und Bart schoß förmlich hinter den Ladentisch, dienerte und fragte nach unseren Wünschen, sagte im gleichen Atem zu Ellen: „Geh’ nach oben und besorge mir das Frühstück.“

Das junge Mädchen zog sich widerstrebend zurück. Bevor sie den Vorhang zufallen ließ, warf sie noch einen langen, keineswegs freundlichen Blick auf Harst.

Charles Vapaure dienerte abermals. „Womit kann ich dienen, Messieurs?“

Harst sagte leise: „Wir möchten Sie privatim sprechen. Sie sind Herr Vapaure?“

„Jawohl – Charles Vapaure.“

Ich hatte das schon gewußt. Viktor trug ja einen Spitzbart. Ebenso hatte ich das Gefühl, dieser Charles müßte hinter dem Vorhang gestanden und gehört haben, wie Harst seinen Namen Ellen nannte. Diese Hast, mit der Charles Vapaure hier erschienen war, ließ den Schluß zu, daß er eine Unterhaltung zwischen Ellen und Harst hatte unmöglich machen wollen.

„Ich heiße Harald Harst,“ erklärte dieser nun leise.

Sofort rief Vapaure: „Ah – endlich, endlich! Sie kommen wegen des Testaments Palperlons. Eine sehr merkwürdige Angelegenheit – sehr! – Aber bitte – wollen die Herren mir freundlichst in unser Privatkontor folgen. Dort sind wir ganz ungestört. Mein Bruder wird mich hier vertreten.“

Er führte uns durch die durch den Vorhang verdeckte Tür in einen kleinen Salon und dann nach rechts in ein größeres Zimmer, das halb elegantes Herrenzimmer, halb Kontor war.

Hier erhob sich von einem Schreibtisch der andere Vapaure, – Viktor. Nachdem Charles ihn uns vorgestellt und Harst auch meinen Namen genannt hatte, ging Viktor in den Laden hinüber.

Wir waren mit Charles allein. Wir saßen in sehr schönen Klubsesseln. Charles bot uns Zigarren, Zigaretten und Likör an. Harst nahm nur eine Zigarre; ich desgleichen. Den Likören traute er wohl ebensowenig wie dem gefärbten, geschmeidigen Franzosen.

Charles Vapaure begann dann sofort über Palperlon zu sprechen.

„Er war unser Schwager. Daß er ein so gefährlicher internationaler Verbrecher war, erfuhren wir zu spät. – Nun zu dem Testament –“

Es ging aus seinem ganzen Verhalten klar hervor, daß er Harst nicht recht zu Worte kommen lassen wollte.

„Ja – dieses Testament!“ fuhr er fort. „Sie haben es ja nun in Ihrem Besitz, Monsieur Harst. Oder genauer gesagt: die andere Hälfte.“

Ich schaute Harst überrascht an. Aber Harald nickte nur. – Was sollte das?! Die andere Hälfte?! – Da hatte Harst mir doch offenbar wieder etwas verschwiegen.

„Haben Sie diese Hälfte bei sich, Monsieur Harst?“ fragte Vapaure nun. Ich merkte wie begierig er auf die Antwort war.

„Ja – ich habe das Testament bei mir,“ sagte Harst kurz. „Wollen Sie mir Ihre Hälfte bitte zeigen –“

„Sofort – ich habe sie gut verborgen. James händigte sie uns vor einem Jahre aus. Er gab dazu nur folgende Erklärung ab: „Ich werde gerade den Mann, der mein gefährlichster Feind ist, zu meinem Testamentsvollstrecker machen: Harald Harst! Er wird sich nach meinem Tode – denn ich rechne mit einem baldigen Ende so oder so – hier bei Euch einfinden und die Ergänzung zu dem von mir mitten durchgerissenen Schriftstück bringen, das ohne diese Ergänzung ohne Wert ist.“ – Das war alles, was er sagte.“

Charles Vapaure trat an die Wand und nahm ein kleines Ölbild vom Nagel. Dahinter befand sich ein verstecktes Fach in der Mauer. Er öffnete es mit einem langen, dünnen Schlüssel und nahm ein Stück Papier heraus, reichte dieses Harst und sagte: „Bitte – es ist das Original!“

Ich stellte mich hinter Harsts Sessel und schaute ihm über die Schulter.

Das Papier war ein dreieckiges Stück gewöhnliches weißes Schreibpapier. Es war etwa 20 Zentimeter breit und lang, während die Grundlinie dieses Dreiecks, und das war die Rißstelle, vielleicht 28 Zentimeter maß.

Das, was auf diesem Papier geschrieben stand, lautete auf Deutsch folgendermaßen:

 

Pondicherry

Mein letzter Wun

In der Überzeugung, daß sofort
erreicht, bestimme ich, falls
meine Hinterlassenschaft in
unter Mitwirkung un
viele Millionen in
leicht zu finden
geteilt zwischen
Harst stets
niemals ge
Millionen
selten so
reich
bis

Der Inhalt dieses Dreiecks war also vollständig unklar. Lediglich, daß es sich um eine Millionenerbschaft handelte, schien daraus mit Sicherheit hervorzugehen.

„So – und nun Ihre Hälfte, Monsieur Harst,“ meinte Charles Vapaure förmlich zitternd vor Ungeduld. „Erst das Ganze wird uns ja darüber Aufschluß geben, wo diese Millionen zu finden sind.“

Harst blickte nicht auf, sagte nur nachdenklich: „Bitte einen Augenblick. Ich muß mir erst klar darüber werden, ob ich befugt bin, Ihnen das zu zeigen, was James Palperlon mir anvertraute.“

„Befugt?! Befugt?!“ rief Vapaure. „Sie sind verpflichtet, Ihre Hälfte diesem Stück hinzuzufügen! Wir sind genau so Palperlons Testamentsvollstrecker wie Sie! Ich müßte die Hilfe der hiesigen Behörde anrufen, die mir rücksichtslos beistehen würden, falls –“

Harst hatte eine sehr energische Handbewegung gemacht.

„Regen Sie sich nicht auf. Mir droht man nicht. Das ist sehr unzweckmäßig!“ sagte er kalt. „Ich kenne jetzt Palperlons letzten Wunsch. – Bitte – hier haben Sie Ihre halbe Urkunde zurück.“

Er stand auf. – Charles Vapaure war blaß geworden.

„Ich fordere Sie nochmals auf, mir –“

Er kam nicht weiter, Harst hatte aufgelacht. „Niemals!“ sagte er so höhnisch, wie ich ihn noch nie ein Wort hatte aussprechen hören.

Der Franzose hatte sich auf die Lehne eines Sessels gestützt. Wir standen mitten im Zimmer.

Da flog ein fast diabolisches Grinsen über Vapaures Gesicht.

„Nun – wie Sie wollen!“ meinte er eisig. „Sie werden –“

Dann – dann war’s mir, als ob eine unsichtbare Gewalt den Teppich, auf dem wir standen, an den Rändern hochschnellen ließ. Ich wurde gegen Harst geworfen. Dunkel wurde es um uns her. Nun ein harter Anprall mit den Füßen – so stark, daß die Erschütterung mir fast die Besinnung raubte.

Erst nach Sekunden spürte ich, daß man uns, die wir in den Teppich ganz eingehüllt waren, noch mit Stricken umwand. Ich wurde so eng gegen Harst gepreßt, daß mein Gesicht auf seine Brust zu liegen kam. Gerade im Genick fühlte ich einen Strick, der mit aller Kraft angezogen wurde.

Dann warf man uns wie ein Bündel in irgend einen engen Behälter. Ein Deckel flog knallend zu; schaukelnde Bewegungen folgten; nach einer Weile pendelte der Behälter hin und her, schlug irgendwo auf, blieb nun in derselben Lage.

Harst hatte sich bisher nicht gemeldet. Sollte er etwa ohnmächtig sein.

„Harst?“ fragte ich. „Harst, bist Du –“

„Ja – ich bin recht zufrieden jetzt,“ führte er meinen Satz zu Ende. „Die Schufte haben sich nun verraten. Deshalb trat ich ja auch so unhöflich auf. Daß die Vapaures etwas derartiges planten, ahnte ich. Ich wußte nur nicht, was es sein würde. Nicht umsonst habe ich mir heute früh, als Du Dich noch rasiertest, sowohl ein paar Stahlfeilen, eine kleine Stahlsäge und ein kleines Federmesser gekauft, das ich geöffnet im Ärmelaufschlag verbarg. Ich wollte für alle Fälle gerüstet sein. – Nun wissen wir auch, was es mit der frischen Erde auf sich hatte. Die Vapaures haben unter den Dielen ihres Privatkontors ein großes Loch ausgegraben, das mit dem Keller in Verbindung steht. Den Fußboden hatten sie zur Falltür umgewandelt. Wir versanken blitzschnell, und der Teppich rutschte mit hinab und wickelte uns ein. Unten wurden wir erwartet. Jetzt dürften wir uns an Bord eines kleineren Fahrzeugs befinden. Ein Seitenkanal fließt ja am Garten der Vapaures vorbei. – Nun – ich beginne bereits, den Teppich und die Stricke zu zerschneiden. Halte nachher Deine Pistole bereit. Sobald der Deckel dieser Kiste geöffnet wird, schnellen wir hoch. Sollte die Situation dann bedenklich aussehen, so knalle sofort los. Nur keine Rücksicht hier!“

– – – – – – – –

Um uns herum war es völlig still. Harst bewegte jetzt dauernd die Arme. Die Stricke lockerten sich. Sehr bald schwand auch der unerträgliche Druck im Genick. Ich konnte nach hinten in die Schlüsseltasche der Beinkleider langen und die Pistole herausziehen, entsicherte sie und flüsterte nun aufatmend: „So – ich bin bereit!“

Harst keuchte jetzt vor Anstrengung. – „Nein – der Kistendeckel sitzt fest,“ meinte er. „Ich werde mal unser Gefängnis ableuchten. Faß’[12] mir doch in die Brusttasche und nimm die Taschenlampe –“

Da – wir hörten Stimmen; es wurde gerufen – irgend etwas. Zu verstehen war jedoch nichts.

„Aha – die Rückversicherung!“ brüllte Harst plötzlich derart mit allem Stimmaufwand, daß ich erschrocken zusammenfuhr. „Hallo – Dalbott! Hier stecken wir!“

Gleich darauf fiel der Lichtstrahl einer Laterne in unseren Kasten. Harst sprang schon auf die Füße.

„Verbindlichsten Dank!“ sagte er zu Kommissar Dalbott, der mit zwei Polizisten gebückt in dem niedrigen Laderaum zwischen allerlei gefüllten Obst- und Gemüsekörben vor uns stand. „Ich hatte halb und halb auf Sie gerechnet. Ich dachte mir, daß Sie an diesen harmlosen Besuch bei den Vapaures nicht glauben und das Haus überwachen lassen würden. Absichtlich machte ich Ihnen gegenüber die Bemerkung, ich hätte Ihnen beim Diner vielleicht etwas Interessantes mitzuteilen. Sie sollten ahnen, daß ich etwas Berufliches vorhätte. Es war dies – meine Rückversicherung.“

Dalbott half mir aus der großen Kiste heraus und erklärte dabei: „Ja – ich habe das Haus beobachten lassen, Monsieur Harst. Ganz unauffällig. Als diese Kiste dann von drei Indern durch den Garten nach dem Kanal und auf dieses Frachtboot getragen wurde und die beiden Vapaures den Transport begleiteten, wurde mir dies sofort gemeldet. Da griff ich zu. Nun sitzt die ganze Bande in der Kajüte – die Brüder und vier Inder. – Hm – sehr behaglich ist mir bei alledem nicht, offen gestanden. Was haben Sie denn eigentlich mit den Vapaures vorgehabt? Gewiß – diese Art Freiheitsberaubung ist strafbar. Aber – Sie wissen ja, wie es mit den Vapaures steht! An die wagt man sich nicht gern heran.“

„Nun – vielleicht einigen wir uns im Guten mit ihnen,“ meinte Harst. „Gehen wir also in die Kajüte. Ich werde mit den Brüdern reden.“

Die sechs Gefangenen wurden von zwei Polizisten in der kleinen Kajüte bewacht, die in Gestalt eines Bambushüttchens auf dem Hinterdeck des Frachtbootes stand. Dieses kam mir sofort bekannt vor. Und – es war auch dasselbe, das in der verflossenen Nacht unter der Brücke hindurchgefahren und von Chester Blindley so scharf aufs Korn genommen war.

Die Vapaures saßen nebeneinander auf der Seitenbank der Kajüte und rauchten in aller Gemütsruhe ihre Zigarren. Als wir drei eintraten, sagte Charles Vapaure sehr gehässigen Tones zu Dalbott: „Ich fürchte, diese Dummheit wird Sie Ihre Stellung kosten. Die beiden Deutschen da wollten ein Testament unterschlagen. Ich werde gegen sie Anzeige erstatten. – Nochmals, Dalbott, es liegt in Ihrem Interesse, die beiden zu verhaften. Wenn Sie es sofort tun und ihnen alles an Papieren abnehmen und uns aushändigen, will ich von dieser Ihrer Rücksichtslosigkeit gegen uns schweigen. Aber auch nur dann!“

Harst lehnte sich an den Türpfosten.

„Sie scheinen ja zu den Justizbehörden Pondicherrys ein ungeheures Vertrauen zu haben, Charles Vapaure!“ meinte er ironisch. „Glauben Sie wirklich, daß man es wagen wird, Sie zu schonen, wenn ich als Ankläger auftrete?! Die ganze zivilisierte Welt würde zu mir stehen, würde mir helfen, mein Recht zu finden! – Sie sprachen soeben von der Unterschlagung eines Testaments. Sie spielen also auf die andere Hälfte der Urkunde an, die Sie in Verwahrung hatten. Nun – diese andere Hälfte existiert nicht. Das, was Palperlon Ihnen beiden aushändigte, war sozusagen eine genial erdachte Vorsichtsmaßregel gegen Ihre von ihm angezweifelte Redlichkeit, war nichts als ein Prüfstein. – Damit auch Kommissar Dalbott alles versteht, will ich diese Dinge nochmals kurz erläutern.

Ihr Schwager Palperlon händigt Ihnen anscheinend die eine Hälfte eines Testaments aus, in dem von einer Hinterlassenschaft von Millionen die Rede ist. Er sagt Ihnen, die Ergänzung zu dieser Hälfte würde ich einst in Besitz haben. – Ich war dann Zeuge seines Sterbens, nahm sein wahres Testament an mich. Hier ist es. Es besteht, wie Sie sehen, aus diesem Briefumschlag mit zahlreichen Kniffen und der Adresse an mich, dann aus diesem Seidenpapierblättchen, das aus Ihrem Geschäft stammt. Dieses Blättchen stellt eine Warnung vor Ihnen dar.“

Er erklärte die Bedeutung des Firmenaufdrucks, fuhr dann fort: „Das eigentliche Testament ist der Umschlag. Hier – ich habe die Klappen des Mittelstücks des Umschlags gelöst. Auf der Innenseite des Mittelstückes steht hier ein Viereck, mit Bleistift gezeichnet. Der Umschlag war sehr eng zusammengefaltet worden, damit er in die Höhlung eines Absatzes hineinging. Aber – er war nicht willkürlich so eng gefaltet, – nein, diese Linien, die durch die Falten im Papier entstanden, haben – und das herauszufinden kostete mich einiges Nachdenken – eine ganz bestimmte Bedeutung. Sie sind nämlich – eine Skizze der Wege Ihres Gartens, Charles Vapaure! Hier ist der Mittelweg, der auf das Viereck, das Haus, zuläuft; hier sind die Seitenwege. Gestern abend habe ich nachgeprüft, ob alles auch stimmte. – Und hier – hier ist an der Kreuzung dreier Seitenwege mit einer Nadel das Papier durchlöchert. An dieser Stelle werde ich sofort nachher nachgraben. Und dort dürften wir Palperlons Vermächtnis finden. – Das Papierstück, das er Ihnen gab, sollte lediglich dazu dienen, Ihre Ehrlichkeit zu prüfen. Die darin angedeuteten Millionen haben Sie beide denn auch wirklich verführt, zu versuchen, mir die andere Hälfte des Testaments, die es gar nicht gibt, in der Absicht zu rauben, Ihres Schwagers Vermächtnis für sich zu behalten und seine Tochter Ellen leer ausgehen zu lassen. Sie wollten Schraut und mich spurlos verschwinden lassen. Dann hätten Sie ungestört, so glaubten Sie, die Erbschaft an sich reißen können. – Kommissar Dalbott wird Sie beide jetzt hier noch festhalten, bis Schraut und ich in Gegenwart Ellen Palperlons zu Tage gefördert haben, was deren Vater an der bestimmten Stelle vergraben hat.“ –

Ich will alle Einzelheiten übergehen. – Als wir Ellen mitteilten, daß Palperlon ihr Vater sei, nahm sie dies mit einem glücklichen Lächeln hin.

In ein Meter Tiefe gruben wir dann an der Kreuzung der drei Seitenwege ein flaches Eisenkästchen heraus, in dem ein versiegelter Brief mit der Aufschrift:

An Herrn Harald Harst, oder

meine Tochter Ellen

lag.

Es war dies Palperlons richtiges Testament, in dem er ganz genau ein bestimmtes Felsental in den Bergen des zentralistischen Fürstentums Railpur beschrieb, wo er auf einem Jagdausflug vor Jahren auf eine Ader goldhaltigen Gesteins gestoßen war.

Dann hieß es weiter: „Sollte sich mein Verdacht bestätigen, sollten also meine Schwäger Vapaure versucht haben, meine Millionenerbschaft durch Heimtücke an sich zu bringen, so mag Harald Harst als mein Testamentsvollstrecker für meine Tochter allein die Anrechte an jene Goldader sichern. Meine Schwäger aber sollen leer ausgehen. – Der Ertrag der Goldader darf jedoch nur zu ein Fünftel von Ellen für sich verwandt werden. Vier Fünftel sollen zur Unterstützung von Familien benutzt werden, deren Ernährer zu lebenslänglichem Zuchthaus oder zum Tode verurteilt worden sind, in erster Linie solcher französischer Abstammung. – Wenn meine Schwäger sich als zuverlässig erwiesen haben, soll Ellen ein Sechstel des Ertrages erhalten, ein zweites Sechstel die beiden Vapaures, der Rest aber wie oben verteilt werden.“

Es folgten dann noch Worte hingebender Liebe für Ellen und für Harst wärmster Dank für alles, was er in Ellens Interesse tun würde. –

So sah das Testament dieses seltsamen Mannes aus, der auf diese Weise für die Familien von Verbrechern eine Millionenstiftung schuf, die in ihrer Art einzig dasteht. Die Goldfundstelle erwies sich als äußerst reich, und der Abbau der Goldader nahm volle drei Jahre in Anspruch. Harst hat mit diesem Vermächtnis noch viel Arbeit gehabt. Ellen Palperlon heiratete einen Ingenieur und ist sehr glücklich geworden.

Die Vapaures machten damals gute Miene zum bösen Spiel, ließen Ellen und Kommissar Dalbott unbelästigt und verschwanden bald aus Pondicherry, wo sie sich nicht mehr recht behaglich fühlen mochten.

Und der Zettel, den Harst mir auf dem Dampfer während der Überfahrt nach Kapstadt gegeben und den ich in einem Umschlag in meiner Mütze verwahrt hatte?

Nun – als ich ihn an demselben Tage noch las, als wir Palperlons Testament ausgegraben hatten, fand ich nur folgende Worte: „Goldaufdruck Warnung, Umschlagkniffe Skizze bestimmter Örtlichkeit.“

Harst hatte also tatsächlich schon auf dem Dampfer das Richtige vermutet. –

Hiermit endete die Episode „James Palperlon“ für uns. Es begann ein neuer Abschnitt unsrer Erlebnisse, die vielfach mit der Person Lord Wolpoores zusammenhingen, so auch die Geschichte, die ich betitelt habe

 

Die Siegellacktröpfchen

 

und mit der ich diesen neuen Abschnitt im nächsten Band einleiten will.

 

 

Anmerkungen:

  1. Auf der Titelseite und in der Hauptüberschrift heißt diese Insel „Tristan de Cunha“. In der gesamten Geschichte dagegen heißt diese Insel durchgängig „Tristan da Cunha“. Daher Text so belassen.
  2. In der Vorlage steht: „Östererich“.
  3. Hier sind zwei Worte mit der nächsten Zeile identisch, dafür fehlen Worte in dieser Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  4. In der Vorlage steht: „Terraren“.
  5. In der Vorlage steht: „Bünder“.
  6. Helmuth Karl Bernhard von Moltke (1800–1891), volkstümlich genannt „Der große Schweiger“. Siehe auch Wikipedia: Helmuth von Moltke.
  7. Eugène Sue (eigentlich Joseph-Marie Sue, 1804–1857) war ein französischer Schriftsteller. Siehe auch Wikipedia: Eugène Sue.
  8. In der Vorlage steht: „Chali“.
  9. „Confiserie“ / „Konfiserie“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Confiserie“ geändert.
  10. In der Vorlage steht: „drei“.
  11. Jean-Baptiste Greuze (1725–1805) war ein französischer Maler, der für seine Darstellungen junger Mädchen und Frauen bekannt war. Siehe auch Wikipedia: Jean-Baptiste Greuze.
  12. In der Vorlage steht: „Fass’“.