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Die Siegellacktröpfchen

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 25

 

Die Siegellacktröpfchen.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26

 

1. Kapitel.

Der Junge im Koffer.

Wir saßen auf dem Balkon, der zu unserem Wohnsalon im Hotel de Paris in Pondicherry gehörte. Harald Harst hatte mir soeben die Teetasse aufs neue gefüllt und sagte nun, indem er auf die im Sonnenlicht glitzernde, endlose Wasserfläche des Meerbusens von Bengalen deutete, wie der zwischen den Halbinseln Vorder- und Hinterindien liegende Teil des Indischen Ozeans genannt wird:

„Bedauerst Du noch, lieber Schraut, bereits um ½7 Dein Bett verlassen zu haben? Ist dieser Morgen nicht herrlich! – Man sollte in den Tropen eigentlich stets mit Sonnenaufgang den Tag beginnen.“

Wer Harst so kennt wie ich, der merkt jedoch auch, daß in diesen Lobpreisungen ein gewisses Zuviel war, genau wie bei den Handbewegungen, die seine Worte begleiteten.

Ich muß noch erwähnen, daß das Hotel de Paris nur durch die Strandpromenade mit ihren schmalen gärtnerischen Anlagen vom Meere getrennt ist und daß die Hotelterrasse unter unserem Balkon sich bis dicht an die Promenade heranzog. Durch das Milchglasdach der Terrasse waren die Stämme mehrerer Fächerpalmen hindurchgeleitet, so daß die Palmenkronen den häßlichen Anblick des von Eisenschienen in kleine Quadrate geteilten Terrassendaches einigermaßen verhüllten.

Harst deklamierte jetzt mit überlauter Stimme einen englischen Vers aus Miltons Verlorenem Paradies, ließ plötzlich die Stimme sinken und fügte, noch immer im Versmaß des Vorausgegangenen, auf Deutsch hinzu:

„In der dritten Palmenkrone rechts, halb verborgen, hinterm Stamme, hockt ein kleiner brauner Bengel, den ich fangen möchte –“

Er stand auf und verließ den Balkon. Ich tat weiter ganz harmlos, griff nach einer Zeitung, schaute scheinbar hinein und äugte dabei unauffällig nach der Palmenkrone hin. Aber ich entdeckte nichts. Ich erhob mich, langte nach Harsts Krimstecher[1], der auf dem Tisch lag, richtete ihn tief unten auf die Promenade, so daß ich jetzt auch die Palmenkrone im Sehfelde des Glases hatte. Doch – auch so bemerkte ich nichts von einem braunen Burschen. Ich gab nun das Versteckspiel auf, beugte mich weit über das Balkongeländer und suchte mit bloßem Auge diesen kleinen Bengel zu erspähen, in dem Harald doch fraglos einen Spion oder dergleichen witterte.

Leute wie wir müssen ja stets argwöhnisch und auf ihrer Hut sein. Dieses ewig wache Mißtrauen wird einem bald zur zweiten Natur, wenn man wie wir nun bereits seit zwei Jahren fast ununterbrochen den Kampf gegen Verbrecher, Schwindler, Hochstapler und ähnliche fragwürdige Ehrenmänner als Lebenszweck erwählt hat.

Zur Zeit allerdings war es mir ganz unbegreiflich, wer für uns ein so starkes Interesse haben könnte, daß er sogar einen Spion in Gestalt eines indischen Knaben dort in jene Palmenkrone geschickt haben sollte.

Während ich mir dies noch überlegte, sah ich, daß vom Vorplatze des Hotels eine Leiter an das Glasdach gestützt wurde. Gleichzeitig öffnete sich eine der Luftscheiben des Daches und einer der eingeborenen Kellner in blendend weißem Anzug kletterte auf das Dach, während ein zweiter auf der Leiter sichtbar wurde.

Da – jetzt endlich regte sich etwas in der Palme. Aus den grüngelben Blättern der Krone löste sich eine winzige, in einen enganschließenden, ebenfalls grüngelben Zeugfetzen gehüllte Gestalt los und lief mit affenartiger Gewandtheit auf den Nebenbalkon zu, der wie der unsrige etwa anderthalb Meter über dem Glasdach lag.

Ich will nicht allzu eingehend hier schildern, was alles von Harst, mir und den Hotelbedienten angestellt wurde, um des Jungen habhaft zu werden. Eine volle Stunde war das ganze Hotel des braunen Bengels wegen in Aufregung.

Schließlich mußte die Jagd als zwecklos eingestellt werden. Harst gab den Hotelbedienten Trinkgelder und kehrte in unseren Wohnsalon zurück. Ich war dicht hinter ihm, drückte nun die Tür ins Schloß und wollte gerade fragen, weshalb ihm der kleine Bursche denn so wichtig erschienen sei, um ein ganzes Hotel seinetwegen zu alarmieren, als er mich sanft beiseite schob, die Tür von innen verschloß und mir zuraunte:

„Tu’ dasselbe mit der unseres Schlafzimmers und zieh’ den Schlüssel ab.“

Unser Schlafzimmer hatte ebenfalls zwei Fenster und ging gleichfalls nach vorn hinaus. Als ich die Tür versperrt hatte, winkte Harst mir schweigend zu. Er stand in der Verbindungstür der beiden Räume und deutete nun auf den größten unserer Koffer, in dem wir unsere Anzüge einzupacken pflegten, die jetzt aber im Kleiderschranke hingen. Der Koffer war leer und stand auf einem Gestell neben dem Waschtisch.

Oben auf dem Koffer lagen eine Kleiderbürste und einer von Harsts weichen Kragen.

„Sehr geschickt gemacht,“ flüsterte Harst und behielt den Koffer dauernd im Auge. „Als wir auch unsere Zimmer vorhin durchsuchten, wollte der eine Kellner den Koffer da öffnen. Du meintest aber, wenn der Junge dort hineingekrochen wäre, könnten wohl kaum Bürste und Kragen oben auf dem Deckel liegen, was dem Kellner einleuchtete und was – doch ein Irrtum war. Der braune, kleine Bursche steckt nämlich trotz Bürste und Kragen darin! Er hat beide Gegenstände sehr gewandt wieder auf den Deckel gelegt, nachdem er diesen dreiviertel zugeklappt hatte. – Bitte – woran erkennt man, daß der Koffer nicht leer ist?“

Derartige Fragen sollte Harst sich getrost sparen. In den seltensten Fällen wird sie ihm jemand beantworten können. – Ich schwieg, worauf er erklärte:

„Nun, lieber Alter, – das Koffergestell hat oben zwei Gurte, auf denen der Koffer ruht. Würde ein leerer Koffer diese Gurte so straff spannen, wie es dort der Fall ist?“

Dann schritt er auf den Koffer zu und schlug mit kurzem Ruck den Deckel hoch.

Ich war Harst die wenigen Schritte gefolgt; ich sah nun genau wie er in dem Koffer eng zusammengekrümmt den kleinen Inder liegen; wartete wie er, daß der Junge sich rühren würde.

Nichts geschah. Da griff Harst nach dem linken Arm des Knaben, – ließ den Arm wieder fallen. Und dieser Arm schien wie gelähmt.

„Tot!“ sagte Harst leise. „Tot –! Lieber Alter, ich habe nicht zu Unrecht diesem kleinen Spion sofort eine ganz besondere Bedeutung beigemessen. – Bitte – rufe doch durch unser Zimmertelephon den Hoteldirektor herbei. Ich möchte die Leiche nicht anrühren, bevor nicht die Polizei hier ist. Daß das arme Kind tot war, sah ich sofort an den zusammengekrampften Fäusten – und noch an etwas.“

Er schloß den Kofferdeckel wieder. – Eine Viertelstunde drauf war unser alter Bekannter, Kommissar Jean Dalbott, mit dem Polizeiarzt bei uns. Nachdem Harst ihm die Vorgänge am Morgen kurz mitgeteilt hatte, öffnete Dalbott mit einem seine ganze Ratlosigkeit wiedergebenden Kopfschütteln den Koffer und hob den kleinen Toten heraus, legte ihn auf den Boden und ließ ihn durch den Arzt untersuchen.

„Was halten Sie von alledem?“ fragte er Harst und zog ihn an das eine Fenster. „Wie in aller Welt kann der Junge so schnell in dem Koffer erstickt sein? Wie ist dies überhaupt möglich gewesen? Der kleine Bursche hätte doch den Deckel jederzeit lüften können?!“

„Erstickt?!“ meinte Harst „Nein – der Junge ist ermordet worden.“

Dalbotts Kopf schnellte hoch. Auch ich konnte eine Bewegung des Staunens nicht unterdrücken.

„Ermordet?!“ rief der Kommissar jetzt so laut, daß auch der Polizeiarzt aufschaute.

„Allerdings!“ nickte Harst. „Ermordet durch eine in Indien nicht ganz unbekannte, sehr heimtückische, lautlos arbeitende Schußwaffe.“

„Ah – ein Blasrohr,“ sagte Dalbott schnell.

„Ja – durch einen vergifteten Blasrohrpfeil!“

„Und dieser vergiftete Pfeil dürfte irgendwo auf dem Dach der Terrasse[2] liegen,“ erklärte Harst. „Ich behaupte, der Knabe wurde durch den Pfeil getroffen, als er über das Dach auf den Nebenbalkon zulief. Der Schütze muß, da die Wunde an der linken Halsseite sich befindet, irgendwo aus einem Fenster des Hotels rechts von unseren Zimmern geschossen haben, vermutlich aus dem Raume neben unserem Schlafzimmer, da ein Blasrohr doch nur eine geringe Tragweite hat. Ich würde Ihnen raten, Monsieur Dalbott, sofort einmal diese Räume rechts von den unsrigen in Augenschein zu nehmen. Vielleicht ist gar unser Zimmernachbar zur Rechten – es war ein offenbar sehr reicher, europäisch gekleideter Inder mit vielen Brillantringen – plötzlich abgereist.“

Dalbott verließ uns schleunigst, wir aber gingen nun auf Harsts Vorschlag auf den Balkon. Harst schritt voraus. Ich bemerkte, daß er von unserem Frühstückstisch hastig etwas aufhob und in die Brusttasche seines hellgrauen Flanellanzugs steckte.

Wir drei – der Polizeiarzt, Harst und ich – suchten nun mit den Augen das Glasdach ab. Der Arzt erspähte den gefiederten, kurzen Blasrohrpfeil zuerst, der unter dem Nebenbalkon lag.

„Der arme Junge hat natürlich sehr wohl gespürt, wie ihm der Pfeil in den Hals fuhr,“ meinte Harst. „Er hat ihn schnell herausgerissen und fallen lassen. Erst im Koffer wirkte das Gift dann. Dieses Ranadatra soll ja nach 2 bis 3 Minuten blitzartig zunächst eine Lähmung der Gliedmaßen herbeiführen.“

Der Arzt gab Harst recht. „Es kann ja nur so gewesen sein,“ sagte er nachdenklich. „Weshalb aber hat man den Jungen getötet?“ fügte er hinzu. „Dieser Mord ist so merkwürdig, daß Sie doch eigentlich sich damit näher beschäftigen müßten, Monsieur Harst. Hier liegt fraglos irgend etwas ganz Besonderes –“

Hinter uns da des Kommissars Stimme:

„Ich bin zu spät gekommen – leider! Der Inder von nebenan ist wirklich abgereist – vor einer Stunde etwa. Er wollte angeblich den Küstendampfer nach Madras benutzen. Ich habe schon angeordnet, daß die Polizeibarkasse dem Dampfer nachfährt –“

„Das hätten Sie sich sparen können,“ meinte Harst achselzuckend. „Ich bitte Sie, bester Dalbott, – ein Mann, der hier einen Mord beging, wird doch nicht so dumm sein und den Tourdampfer besteigen! Sie werden diesen Menschen kaum finden. Wie nannte er sich denn?“

„Kaufmann Rabindra ben Misore aus Bangalore.“

„Und wohnte hier seit wann?“

„Seit gestern früh.“

„So so –“

Wir kehrten dann zu der Leiche zurück. Dalbott zog dem kleinen Toten den schmierigen, grüngelben Zeugstreifen ab. Der Junge trug darunter nur noch eine zerrissene, hemdartige Jacke mit weiten Ärmeln.

„Ein Kind aus den ärmsten Volksschichten,“ meinte Dalbott und zeigte auf die Schwielen der Fußsohlen und die abschreckende Magerkeit des Körpers. „Können Sie mir irgendwie erklären, Monsieur Harst, ob dieser Knabe gerade auf Sie irgendwie aufpassen sollte?“ wandte er sich dann an Harst.

„Oh – wie soll ich das wohl wissen, bester Dalbott?! Es kann sein – kann auch nicht sein!“

Daß Harst, wenn er gewollt hätte, dem Kommissar ganz anders zu antworten in der Lage gewesen wäre, davon war ich fest überzeugt. Sehr bald erhielt ich hierüber auch Gewißheit.

Dalbott und der Polizeiarzt verabschiedeten sich gleich darauf. Dann wurde auch die kleine Leiche abgeholt. Auch der Koffer mußte mit zur Polizeidirektion.

Wir waren nun wieder allein. Inzwischen war es zehn Uhr vormittags geworden.

„Gehen wir spazieren,“ meinte Harst. „Das Hotel hier ist mir verleidet. Wir werden mit dem Nachmittagszuge nach Madras weiterreisen.“

Wir setzten uns auf eine leere, schattige Bank und dann – dann bekam ich die Siegellacktröpfchen zu sehen, die, so harmlos sie zunächst wirkten, uns doch zu dem seltsamsten unserer indischen Abenteuer verhelfen sollten.

 

2. Kapitel.

Ein Attentat auf Harst.

Vier Siegellacktröpfchen! Eins immer kleiner als das andere. Das größte links, das kleinste rechts auf dem Briefbogen aus feinstem Büttenpapier unter den sieben Zeilen Schrift. –

Harst hatte, nachdem wir uns kaum gesetzt hatten, in die Tasche gelangt und einen Brief hervorgeholt, der ziemlich zerknittert war.

Der Umschlag weiß, Büttenpapier, war nur zugeklebt. Als Adresse stand darauf in etwas ungeübter, lateinischer Schrift:

Herrn Harald Harst.

Nichts weiter. – Es stand „Herrn“ da, nicht etwa „Master“ oder „Monsieur“.

Kaum hatte ich den Brief gesehen, als ich auch schon wußte, was Harst vorhin so schnell vom Frühstückstisch zu sich gesteckt hatte: diesen Brief.

Auf meine Frage hin bestätigte er mir dies lediglich durch ein Kopfneigen. Dann schnitt er den Umschlag sauber auf, nahm den einmal gefalteten Briefbogen heraus und hielt ihn so, daß auch ich das Geschriebene lesen konnte.

Es war dieselbe etwas kindlich-unbeholfene Schrift wie auf dem Umschlag. Die Zeilen lauteten aus dem Englischen ins Deutsche übertragen:

„Ich rate Ihnen dringend, sich nicht mit der Angelegenheit zu befassen, die Sie mit Master Chester Blindley während der Überfahrt von Kapstadt nach Madras besprochen haben. Sie würden sich nur Gefahren aussetzen, wenn Sie trotz dieser Warnung etwa Lord Wolpoore aufsuchen wollten. Eine Probe von dem, was ich zu tun vermag, haben Sie heute erhalten.“

Eine Unterschrift fehlte. Das Englisch war fehlerfrei. Etwa zwei Fingerbreit unter der Mitte der letzten Zeile schimmerten wie mattes Silber vier Siegellacktröpfchen! Sie lagen genau in einer Reihe; fast wie eine besondere Art von Stempel!

Harst hielt den Briefbogen ganz still und blieb auch minutenlang völlig schweigsam.

„Ein recht vielversprechender Anfang!“ meinte er dann, nachdem er auch die leeren Seiten des Briefbogens und ebenso den Umschlag eingehend gemustert hatte. „Auf diese Lösung war ich doch nicht vorbereitet,“ fügte er hinzu. „Ich glaubte, der arme kleine Bursche mußte nur sterben, damit er nicht lebend ergriffen wurde. Jetzt denke ich anders darüber. Dieser Rabindra ben Misore hat ihn geopfert, um mir recht eindringlich vor Augen zu führen, was uns bevorsteht, falls wir die Warnung mißachten.“

„Gestatte eine Frage,“ warf ich ein. „Hat der Junge uns denn wirklich beobachtet? – Ich weiß ja von der Vorgeschichte –“

„Schon gut! – Gewiß, er hat uns beobachtet. Jetzt, wo ich diesen Brief gelesen habe, wird mir auch klar, daß der Knabe von uns bemerkt werden sollte. Wir sollten auf ihn aufmerksam werden, damit der Ausgang des Dramas desto kräftiger auf uns wirkte. Es müssen Leute mit viel verbrecherischer Phantasie sein, die etwas derartiges ersinnen können, – Leute, die über große Machtmittel aller Art verfügen, die kühn, schlau und kaltblütig jede Einzelheit berechnen. – Der Tod des kleinen Burschen ist nichts als eine versteckte Drohung. Der Junge hatte den Brief bei sich. Als Du unsere Zimmer verließest und in den Flur eiltest, ist er zu unserem Balkon hinübergeturnt, hat den Brief auf den Tisch gelegt und sich in dem Koffer verborgen. Daß dieser leer war, muß derjenige gewußt haben, der das arme Kind in den Tod schickte. Und dieser Mann war natürlich unser Zimmernachbar, der am Morgen nach uns in das Hotel einzog. Es ist dies vielleicht die schrecklichste und hinterlistigste Warnung, die jemals Leute, die mich zu fürchten Anlaß hatten, mir zugehen ließen. Besinne Dich auf den Chef der Privatpolizei Lord Edward Wolpoores, auf Chester Blindley, und auf seine Bitte, ihm zu helfen, das bereits durch 17 Attentate bedroht gewesene Leben des Lords vor einem achtzehnten zu schützen und die geheimnisvolle Bande zu ermitteln, die diese Attentate vorbereitet hatte, ohne daß jemals auch nur ein einziger von ihnen dabei abgefaßt wurde. Blindley behauptet, es seien Mitglieder der seiner Überzeugung nach noch immer fortbestehenden Mördersekte der Thug. Tatsache ist ja, daß seit fünfzig Jahren kein einziger Wolpoore, ob Mann oder Weib, eines natürlichen Todes gestorben ist und daß vor sechs Jahren Lord Edwards Gattin und beide Söhne spurlos verschwunden sind. Damals hat Lord Edward seine aus 20 Mann bestehende Privatpolizei sich zugelegt. Und jetzt – jetzt schickt mir jemand einen Warnungsbrief zu, der in seinem Inhalt klar beweist, daß den Verfolgern Lord Edwards sogar meine damalige Unterhaltung mit Chester Blindley bekannt ist! Ist das nicht etwas unheimlich, lieber Schraut? Deutet das nicht darauf hin, daß an Bord der India sich ein Verbündeter dieser Verfolger des Lords befinden muß?! – Jedenfalls: wir haben fortan alle Ursache, um unser Leben sehr besorgt zu sein – sehr! Diese geheimnisvollen Widersacher Lord Wolpoores, mögen es nun wirklich Thug oder andere Leute sein, werden uns nicht schonen. Gegen Blasrohrpfeile kann man sich kaum schützen. Oder doch nur auf eine Art: indem man Indien schleunigst wieder den Rücken kehrt. Und – das werden wir tun.“

Er erhob sich „Komm’, mein Alter, kaufen wir uns einen Koffer, packen wir und reisen wir mit dem nächsten Dampfer nach Kolombo, wo wir leicht ein Schiff nach Europa finden.“

Ich verstand ihn, sagte nur: „Natürlich zum Schein!“

„Was sonst?! – Oder glaubtest Du, lieber Alter, ich würde vor diesem ben Misore ausreißen, von dessen Anwesenheit im Hotel ich leider erst etwas erfuhr, als ich mir hinsichtlich des Todes des armen Jungen das Richtige zusammenreimte. Ich hätte mir diesen Misore zu gern aus der Nähe angesehen. Na – vielleicht später –“

Wir schritten der Stadt wieder zu. Harst ging stumm und nachdenklich neben mir. Ganz unvermittelt meinte er dann: „Diese vier Silbersiegellacktröpfchen scheinen so eine Art Unterschrift zu sein. – Übrigens hast Du auf der Innenseite des linken Armgelenks des kleinen Burschen die blasse Tätowierung gesehen? Sie glich etwa einer sitzenden Puppe mit drei Köpfen. Hm – mir stieg da gleich eine besondere Vermutung auf –“

„Welche denn?“ fragte ich gespannt.

„Die Tätowierung kann vielleicht ein Götzenbild vorstellen – kann! Vielleicht gar die blutige Kali[3] oder Bhowani, die Schutzpatronin der Thug!“

„Ah – Du meinst daß –“

„Ich meine gar nichts, mein Alter. Wir werden ja Chester Blindley sprechen – bald, hoffentlich! Dann werden wir über die Thug näheres hören.“ –

Drei Tage darauf gegen Abend.

Der Feuerball der Sonne versank nach einem glutheißen Tage hinter den bewaldeten Bergen von Katschar.

Katschar ist ein kleines, jetzt unter englischer Schutzherrschaft (lies „Kontrolle und Bevormundung“) stehendes Fürstentum im Westen von Madras. Es ist nicht größer, als etwa Mecklenburg-Strelitz. Und – es ist ein armes Land, das heißt, der Radscha hat nur ein Einkommen von 50 000 Pfund Sterling, – für einen indischen Fürsten ein Nichts! Deshalb hatte auch der jetzige Radscha Chan Bir Singbar Dalmi das Schloß seiner Väter an den reichsten Plantagenbesitzer Indiens, Lord Edward Wolpoore, vor acht Jahren für die Kleinigkeit von zwei Millionen (Mark) verkauft und war in das kleinere Schloß seiner „Residenz“ Katschar übergesiedelt, nebenbei bemerkt ein besseres Dorf von 8000 Einwohnern.

An diesem Abend wanderten auf dem Wege nach dem ehemaligen Radschaschlosse zwei jämmerlich abgerissene Inder dahin, ein schlanker, jüngerer Mann und ein kleinerer, wohlbeleibter, der eben nur so schwitzen konnte wie Max Schraut des öfteren schwitzte.

Wir hatten unter allen nur irgend erdenklichen Vorsichtsmaßregeln den Küstendampfer nach Kolombo unterwegs in einem kleinen Hafennest wieder verlassen und ebenso heimlich und vorsichtig uns in zwei zerlumpte Inder verwandelt, hatten uns Gesicht, Nacken, Hände, Arme und Beine mit dem Wurzelsaft der Kukussastaude braun gefärbt, trugen eine durchaus echt wirkende Schmutzkruste mit uns herum und außerdem auf dem Rücken jeder ein Bündel mit den allernotwendigsten Habseligkeiten. Bisher hatten wir auch nicht das geringste davon gemerkt, daß man uns verfolgte oder daß wir irgendwie beobachtet wurden.

Wir wanderten jetzt zwischen endlosen, rotblühenden Indigofeldern dahin. In rote Glut getaucht war auch die alte Radschaburg dort drüben, ein sehr ausgedehnter, auf drei einzelnen Felsen stehender Bau aus Granitquadern. Überdachte Brücken verbanden die drei Teile des Riesenschlosses miteinander, das auch ohne diesen Standort auf den mächtigen Felsen einen recht phantastischen Anblick gewährt hätte.

„Wenn wir nur erst drin wären!“ meinte Harst jetzt und warf seinen Zigarettenrest in die Indigostauden. „Wolpoore läßt ja sein Schloß, wie uns bekannt, besser bewachen, als es bei uns daheim in Deutschland mit einem Zuchthaus geschieht. Ich beneide diesen Milliardär weiß Gott nicht! Was hat er von seinem Gelde?! Nichts – gar nichts! Dauernd schwebt er nur in Angst vor diesen Leuten, die ihn schon 17 Mal umzubringen versucht haben. Siebzehn Mal! Etwas viel selbst für ein noch so mutiges Herz.“

Ich war zu müde um zu antworten. Wir waren bereits acht Stunden auf den Beinen. Und – wir trugen nur elende Sandalen an den Füßen.

Harst griff plötzlich nach meinem Bündel. „Gib her, mein Alter,“ meinte er. „Du bist ja schon total erschöpft. Das kann ich nicht mehr mitansehen.“

Vor uns auf der schnurgeraden Straße tauchte ein offenes Auto auf. Es kam vom Schlosse her. Harst wurde sofort lebhafter.

„Du – die Gelegenheit müssen wir benutzen!“ rief er. „Sobald das Auto auf hundert Meter heran ist, beginnst Du zu taumeln und fällst dann quer über den Weg.“

Mir war das nur lieb. Ich würde den Ohnmächtigen schon ganz naturgetreu spielen.

Harsts Berechnung stimmte. Das Auto hielt zehn Meter vor uns. Ein Europäer sprang heraus: klein, mager, o-beinig, – ganz wie ein Jockey[4] aussehend.

Es war Freund Chester Blindley, der Chef der Privatpolizei des Lords. Er kam langsam auf uns zu. Der andere Europäer, der einem Greise glich und nun im Auto aufrecht stand und argwöhnisch nach uns herüberspähte, war der erst vierzigjährige Lord Edward Wolpoore. Der Chauffeur auf dem Vordersitz, gleichfalls ein Europäer, gehörte fraglos mit zu der Polizeitruppe.

Chester Blindleys mageres Vogelgesicht drückte gleichfalls Argwohn aus. Er traute diesem Ohnmachtsanfall offenbar nicht ganz, zumal ich die Augen offen behalten hatte und ihm allzu vertraulich entgegenschaute. Vor Blindley brauchte ich mich nicht weiter anzustrengen, sehr echt zu wirken.

Zwei Schritt vor uns machte er halt. Bevor er noch etwas sagen konnte, begrüßte Harst ihn schon mit einem kurzen: „’n Tag, Blindley! Wie geht’s?“

Der Detektiv hatte sich gut in der Gewalt.

„Donner noch eins, – Master Harst!“ meinte er leise. „Das trifft sich ja großartig. Wir sind gerade mit Seiner Lordschaft unterwegs nach Madras und wollten versuchen, Sie in Pondicherry telephonisch zu erreichen. Es ist nämlich etwas passiert!“

„Ah – Attentat Nr. 18?“

„Nein. Noch nicht. Nur Anzeichen dafür.“

„Gut. – Fahren Sie nur nach Madras, bleiben Sie dort eine halbe Stunde und kehren Sie dann zurück. Um Mitternacht können Sie uns vor dem Schlosse erwarten. Dort rechts steht eine Felsengruppe mit ein paar Palmen. Um 12 Uhr nachts werden wir an jener Stelle sein. – Ich schleppe jetzt den armen Ohnmächtigen beiseite. Wir müssen unsere Rollen als Eingeborene unbedingt sorgsam weiterspielen. – Auf Wiedersehen.“

Gleich darauf rollte das Auto vorüber. Wir schwenkten dann nach rechts ab auf die Felsengruppe zu, machten es uns unter den Palmen bequem, packten unsere Lebensmittel aus und aßen mit wahrem Heißhunger.

Es wurde dunkler und dunkler. Gegen ½10 kam ein alter Hindu mit einer weißen Ziege am Strick dicht an uns vorbei, blieb stehen und fragte im Dialekt der Küstenvölker, ob wir nicht lieber im Rasthause der Residenz Katschar nächtigen wollten.

Harst deutete an, daß wir taubstumm seien. Der alte Hindu nahm darauf unseren großen Zinnbecher und molk ihn uns voll Ziegenmilch. Dann nickte er uns freundlich zu und zog weiter.

„Ein Gemütsmensch!“ meinte Harald. „Ich bin kein Kostverächter. Deine Abneigung gegen Ziegenmilch kenne ich. Also darf ich den Becher wohl allein leeren. Es lebe der alte Hindu!“

Er trank erst mit langen Schlucken. Dann immer zögernder, dann – spie er plötzlich die Milch, die er im Munde hatte, aus, rief mit verzerrtem Gesicht:

„Gift – der Schuft hat beim Melken Gift in den Becher getan.“ – Er lief abseits und zwang den Magen alles herzugeben, was darin war.

„Schraut – die Kognakflasche!“ verlangte er nun mit einer so matten Stimme, daß mir himmelangst wurde.

Ich mußte ihn stützen, als er die Flasche an den Mund führte. Er trank. Aber – der Magen behielt nichts mehr bei sich – nichts!

Dann kamen Stunden für mich, wie ich sie schon einmal durchgemacht hatte – damals in Palermo, als Harst – starb und begraben werden sollte. In Band 11 habe ich geschildert, welche Angst ich damals um Harst ausstand! Und jetzt – jetzt hier in der Einsamkeit der Nacht genau dasselbe.

Harst lag am Boden mit seinem Bündel als Kopfkissen, hatte die Augen geschlossen, atmete keuchend, war gelb im Gesicht und hatte klebrigen Schweiß auf der Stirn. Er hörte auf keinen Anruf mehr. Er war vollständig apathisch. Wenn ich ihm nach dem Puls fühlte, mußte ich lange tasten, ehe ich eine Spur von Pulsbewegung vernahm.

Endlich – endlich dann ein Geräusch. Chester Blindley kam. Er war entsetzt, als er Harst in diesem Zustand erblickte. Wir stellten schnell aus Ästen eine Tragbahre her. Gegen ein Uhr langten wir am Fuße des nördlichen der drei Felsen an, auf denen die alte Radschaburg sich erhob, deren Hauptzugang jedoch im Osten lag. Hier gab es nur einen geheimen Eingang in Gestalt einer ganz unauffällig vermauerten breiten Felsspalte, in der eine Steintreppe hochlief. Sie mündete in dem Wohngemach Blindleys. Im Wandgetäfel war eine verborgene Tür vorhanden, ähnlich wie unten am Fuße des Felsens. Wir legten Harst auf den Diwan. Dann eilte Blindley davon und holte Lord Wolpoores Leibarzt Doktor Halfing, den wir gleichfalls von der India her schon kannten.

Harst regte sich noch immer nicht. Halfing machte ihm eine Einspritzung. Aber auch sie half nichts. Während wir noch um sein Lager herumstanden, trat Lord Wolpoore ein. Stumm reichte er mir die Hand. Traurig schaute er nun auf Harsts verfallenes Gesicht, sagte dann zu Chester Blindley: „Es ist dasselbe Gift anscheinend, dem auch ich einmal beinahe erlegen wäre.“

Blindley nickte nur.

In dem sehr wohnlich ausgestatteten Gemach brannten außer der elektrischen Deckenlampe noch zwei dreiflammige Wandleuchten. Das Schloß hatte seit Seine Lordschaft es besaß, eigene elektrische Beleuchtung. Das ruhige, kalte elektrische Licht ließ jede Einzelheit der entstellten Züge Haralds genau erkennen.

Plötzlich gewahrte ich, daß er die Augen halb offen hatte. Ich beugte mich schnell über ihn.

„Harald, fühlst Du Dich besser?“

Er wandte jetzt sogar den Kopf zur Seite, musterte die Anwesenden, winkte dann matt. Wir umstanden ganz dicht das Kopfende des Diwans.

„Niemand darf erfahren, daß es mir besser geht,“ flüsterte er. „Niemand – wer es auch sei. Ich muß scheinbar weiter mit dem Tode ringen. Niemand auch zu mir lassen!“

Harst verbrachte die Nacht so gut, daß Halfing ihm nur noch am Morgen eine Einspritzung machte. In allem wurde jedoch Harsts Wunsch sorgsam befolgt. Nur wir vier Herren wußten, daß er in kurzem wieder völlig hergestellt sein würde.

 

3. Kapitel.

Die anderen Siegellacktröpfchen.

Harst hatte nach der neuen Einspritzung bis gegen fünf Uhr nachmittags fest geschlafen. Dann gestattete ihm Doktor Halfing die erste Mahlzeit, eine Fleischbrühe mit Reis.

Dann bat Harst den Doktor, Seine Lordschaft möchte sich abends mit allem, was die Familientragödie der Wolpoore und die Attentate auf den Lord selbst anginge, hier einfinden; er sei jetzt wieder gesund und wolle sofort sein Versprechen einlösen und behilflich sein, den Attentätern ein für allemal das Handwerk legen. Nur müsse er nochmals dringend daran erinnern, daß die Tatsache seiner Genesung unbedingt geheim bleibe und daß es sogar ratsam sei, eher noch im Schlosse zu verbreiten, sein Zustand hätte sich verschlimmert.

Doktor Halfing, ein jüngerer, recht sympathischer Engländer, konnte jetzt doch nicht umhin, Harst zu erklären, daß all das insofern überflüssig wäre, als die hier im Schlosse anwesenden Personen sämtlich durchaus zuverlässig seien.

„Seine Lordschaft hält ja nur die allernotwendigste Dienerschaft,“ fügte er hinzu. „Im ganzen Schlosse gibt es nicht einen einzigen Eingeborenen. Alle Stellen bis hinab zum Küchenmädchen sind mit Engländern besetzt. Gewöhnlich hausen wir hier zu nur zwanzig Personen, die Privatpolizei miteingerechnet, von der allerdings regelmäßig die Hälfte unterwegs ist und in Madras und anderswo herumspioniert. Der Haushalt wird von einer entfernten Verwandten des Lords, einer Miß Dagna Urbington, aufs trefflichste und vorzüglich geleitet. Miß Urbington ist selbst ein halber Detektiv. Das eine Attentat auf Seine Lordschaft hat sie allein verhindert. Man hatte in das Sitzkissen des Schreibsessels des Lords fünf vergiftete Nadeln gesteckt. Miß Urbington merkte dies nur daran, daß das viereckige Kissen mit dem Blumenmuster anders gelegt war, als sie es zu tun pflegte. – Dann steht ihr noch der mustergültige Hausmeister Thomas Barton aufs allergewissenhafteste bei der Führung des Wirtschaftsbetriebes zur Seite. Auch Barton ist bereits viele Jahre in Diensten des Lords. Kurz und gut, Master Harst: ich kann Ihnen nur auf Grund eigener, jetzt vierjähriger Erfahrungen als Leibarzt Seiner Lordschaft versichern, daß Ihnen hier im Schlosse keinerlei Gefahr droht. Die Bewachungsmaßregeln sind jetzt derart streng und sorgfältig ausgeklügelt, daß kein Fremder hier eindringen kann.“

„Hm,“ meinte Harst, „– und die vergifteten Nadeln in dem Sitzkissen?“

„Oh – der Fall liegt ja viele Jahre zurück. Er ereignete sich kurz nach dem Verschwinden Lady Wolpoores und der beiden sechs und acht Jahre alten Knaben. Kurz nachher engagierte Seine Lordschaft dann Chester Blindley, der wieder seine Leute selbst auswählte.“

„Und diese Polizei halten Sie für zuverlässig, Doktor?“

„Aber gewiß, Master Harst, gewiß! Ich kenne doch jeden einzelnen der Leute. Sie alle hängen an Lord Wolpoore mit größter Treue. Es liegt ja auch in ihrem eigenen Interesse, daß ihm nichts zustößt. Er bezahlt sie glänzend, und sie führen doch alles in allem ein sehr bequemes Leben – sehr.“

Gleich darauf verabschiedete Doktor Halfing sich.

Uns war das, was er uns mitgeteilt hatte, recht interessant gewesen. Harst sagte kopfschüttelnd zu mir:

„Weshalb der Lord diesen alten Steinkasten gekauft hat, der doch sicherlich an die hundert Gemächer enthält, ist mir unverständlich. Allerdings – die Lage des Schlosses bietet ja den einen Vorteil, daß niemand ohne weiteres hineingelangen kann. Die drei Felsen sind steil wie Mauern und dreißig Meter mindestens hoch. Nur – nur wenn es zum Beispiel einen zweiten Geheimzugang gibt wie den, der in Blindleys Wohngemach mündet, dann nützt alle Vorsicht nichts. Ich meine natürlich einen Zugang, von dem der Lord nichts weiß. Ob der Radscha von Katschar dem Lord bei der Übergabe des Schlosses dessen sämtliche Geheimnisse mitgeteilt hat, möchte ich stark bezweifeln. Na – wir werden ja sehen!“

Ich rückte ihm die Kissen zurecht. Dann ging ich ins Nebenzimmer, setzte mich an eins der kleinen Bogenfenster mit den bleigefaßten Scheiben, öffnete es und schaute in das Land hinaus.

Dann – im Zimmer ein Geräusch. Ich drehte mich schnell um. Vor mir stand eine überschlanke, blonde Frau mit schmalem, schon etwas scharfgezeichnetem Antlitz, aus dem ein Paar helle, große Augen mich wie prüfend anschauten.

Ich erhob mich schnell. Es konnte ja nur Miß Dagna Urbington sein. Ich verbeugte mich, nannte meinen Namen.

Sie streckte mir zwanglos die Hand hin.

„Geht es Ihrem Freunde wirklich so schlecht?“ meinte sie besorgt. „Ach – dieses Schloß ist wirklich kein angenehmer Aufenthalt.“ Sie seufzte leise. „Ich habe hier schon viele traurige Stunden durchlebt, Master Schraut. Ich bin ganz ehrlich: hätte ich gewußt, welches Verhängnis über den Wolpoores schwebt, dann würde ich mich doch wohl besonnen haben, hierher zu kommen, als Geraldine, ich meine Edwards Frau, mich seiner Zeit bat, hier die Führung des Haushalts zu übernehmen. Sogar sehr besonnen hätte ich mich! Ich lebe hier ja wie im Gefängnis. Und Edward in seiner Zerfallenheit mit sich und seinem Geschick heitert einen wirklich nicht auf. Es ist ja auch nicht von ihm zu verlangen. Wer so viel durchgemacht hat wie er!“

Wir plauderten noch eine Weile miteinander. Ihr freimütiges Wesen gefiel mir sehr. – Dann war ich wieder allein. Ich dachte daran, daß dieses Mädchen, das ich auf vielleicht dreißig Jahre schätzte, wahrlich kein beneidenswertes Dasein führte. Sie tat mir geradezu leid. Fraglos war sie arm. Sonst hätte sie sich hier wohl kaum in ihren Jahren sozusagen lebend begraben. –

Abends acht Uhr. Harst und ich hatten soeben gespeist. Einer der Leute der Polizeitruppe hatte das Geschirr hinausgetragen. Harst saß in einem Ledersessel, den Blindley hier ins Schlafzimmer getragen hatte. Dann kam der Lord, hinter ihm Chester Blindley.

Wir waren vor Lauschern sicher. Blindley hatte draußen im Flur vor seiner Tür einen der Polizisten postiert.

Harst begann sofort, nachdem er sich aus der kleinen Kiste Importen bedient hatte, die Wolpoore mitgebracht hatte. „Mylord, ich ließ Sie bitten, alles mir heute vorzulegen, was mit Ihrer Familientragödie in Beziehung steht. Ich habe nämlich in Pondicherry eine besondere Art Warnung erhalten –“

„Ich weiß, ich weiß,“ nickte Wolpoore. „Master Schraut hat Blindley davon erzählt; auch von den vier Siegellacktröpfchen. – Nun – ich kann Ihnen mit drei Schreiben ähnlicher Art dienen –“

Wolpoore hatte in die Brusttasche gefaßt und reichte Harst drei Briefe.

„Bitte – das ist alles, was von greifbaren Dingen existiert, die mit unserem Familienschicksal etwas zu tun haben. – Der oberste Brief, der älteste, war an meinen Onkel Horace gerichtet. Sie sehen, das Schreiben enthält nur die Worte: „Übermorgen lebst Du nicht mehr.“ Als Unterschrift stehen da lediglich vier Silbersiegellacktröpfchen. – Mein Onkel Horace starb an demselben Tage, wie ihm angedroht war. Er wurde in Kalkutta im Exzelsior-Klub während eines Diners vergiftet.“

Harst besichtigte diesen Brief, legte ihn auf den Tisch und meinte zu mir: „Es ist genau dieselbe Schrift wie die unseres Warnungsbriefes.“

Wolpoore fuhr fort: „Der nächste Brief ist an mich gerichtet. Dieses Schreiben fand ich vor elf Jahren auf dem Schreibtisch in meinem Hause in Madras. Es lautet: Auch Du mußt sterben. Richte Dich darauf ein. Kein Wolpoore wird eines natürlichen Todes enden. Wieder als Unterschrift die vier Siegellacktröpfchen.“

Harst legte auch diesen Brief weg und erklärte: „Es ist dieselbe Schrift.“

Er hatte nun den letzten Brief in der Hand.

Der Lord hatte plötzlich die Augen mit der Linken bedeckt. Als er nun zu sprechen begann, klang seine Stimme wie von Tränen verschleiert.

„Dieser Brief, Master Harst, wurde mir vor sechs Jahren auf meinen Schreibtisch hier im Arbeitszimmer im Ostflügel des Schlosses gelegt. Ich fand ihn, als ich von einer zweitägigen Bereisung meiner Plantagen bei Bangalore zurückkehrte; ich fand ihn als Ankündigung dessen, was wirklich geschehen war: Meine Frau und meine Söhne waren an demselben Tage verschwunden! – Der Brief lautet ja: Du wirst die drei nie wiedersehen. Sie sind tot. Wenn der Kummer Dein Herz genügend zermürbt hat, wirst auch Du endlich sterben? Und wieder die vier Siegellacktröpfchen als Unterschrift, abermals dieselbe Handschrift.“

Harst saß jetzt vornübergebeugt da und hatte den Brief auf dem Schenkel liegen.

„Wie verschwand Ihre Gattin, Mylord?“ fragte er erst nach mehreren Minuten.

„Das weiß niemand, Master Harst. Niemand kann sagen, ob sie mit den Knaben hinab in den Park gegangen war, der sich vom Westflügel des Schlosses aus im Bogen nach Norden zieht. Sie war eben verschwunden – sie und die Kinder! Ach – was ist alles versucht worden, sie wieder zu finden!“ Seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Wir hörten ein wehes Aufschluchzen. Dann stand der Lord schnell auf und trat an eins der Fenster.

Eine beängstigende, endlose Stille folgte. Niemand wagte zu sprechen. Vor diesem übergroßen Schmerz eines bedauernswerten Vaters und Gatten verstummte selbst jede Regung des Mitleids, die sich vielleicht in Worten äußern wollte.

Harst, der jetzt genau wie ich einen der Leinenanzüge trug, die der Lord für uns leidlich passend besorgt hatte, behielt seine Haltung bei, hatte noch immer den Brief auf den Knien und starrte auf die Schrift, wobei er fraglos mit seinen Gedanken weit weg war.

Dann hob er etwas den Kopf und schaute mit einem weltentrückten Blick zu mir hinüber. Ich sah nun ganz deutlich all jene Anzeichen erhöhter geistiger Anspannung in seinen Zügen, die mir so gut bekannt waren. Nur der Ausdruck seiner Augen paßte nicht ganz dazu. – Noch ein paar Sekunden, dann sagte er plötzlich mit recht matter Stimme:

„Mylord, wir wollen’s für heute genug sein lassen. Sie regt die Erinnerung auf, und ich fühle mich doch noch zu schwach, um heute schon alle Einzelheiten mit Ihnen erörtern zu können. – Nur noch eine Frage. Ich interessiere mich sehr für alte, indische Bauten. Besitzen Sie vielleicht einen Grundriß des Schlosses?“

„Ja. Ich habe denselben durch einen Architekten kurz nach Erwerb des Schlosses anfertigen lassen. Er steht Ihnen zur Verfügung. Soll Blindley ihn Ihnen bringen? – Ich möchte Sie nicht länger stören. Sie müssen zu Bett. Ich fürchtete gleich, daß Sie sich zu viel zumuten würden. – Gute Nacht, meine Herren.“

Blindley begleitete den Lord. Kaum waren wir allein, als Harst sehr elastisch aufsprang. „Schraut, schließe die Tür von Blindleys Wohngemach von innen ab,“ befahl er kurz.

Ich hatte schon gemerkt, daß seine Mattigkeit nur Komödie war. Er folgte mir denn auch sofort in Blindleys Wohnzimmer. Als ich die Tür abgeschlossen hatte und mich umdrehte, stand er vor dem hohen Bücherregal und schaute sich die Rücken der dicken Bände in einer der oberen Reihen an. Dann zog er eins der Bücher heraus, ging in unser Zimmer zurück und winkte mir, die Tür wieder aufzusperren. Als ich darauf an den Tisch trat, wo er wieder in seinem Sessel Platz genommen hatte, meinte er: „Schweig’ von dem Buche.“

Blindley kehrte mit dem Grundriß des Schlosses zurück. Es war das eine große Rolle Zeichenpapier mit zwei Leisten ähnlich einer Landkarte.

„Setzen Sie sich, Blindley. Ich habe nachher mit Ihnen zu reden,“ sagte Harst mit frischer Stimme. „Ich wollte den Lord nicht unnötig noch mehr ängstigen. Ich habe nämlich etwas sehr wichtiges herausgefunden. Spielen Sie mit Schraut eine Partie Schach und stören Sie mich vorläufig nicht.“

Unsere Schachpartie wurde von beiden Seiten nur mit recht geringer Aufmerksamkeit gespielt. Das war weiter kein Wunder. Wir saßen ja mit Harst an demselben Tisch.

Zunächst hatte er den dritten Brief, die Ankündigung von der Beseitigung der Lady Geraldine und der Kinder, zerrissen, die anderen beiden Briefe in eine Reihe gelegt und unseren Drohbrief darüber. Seine Augen verglichen offenbar jeden einzelnen Buchstaben. Verschiedentlich nickte er sehr befriedigt. So verging gut eine halbe Stunde.

Dann holte er sich vom Nachttisch einen Leuchter mit Kerze, steckte das Licht an, nahm sein Taschenmesser und löste mit der großen Klinge von jedem der vier Briefe das größte Siegellacktröpfchen ab, die er dann nacheinander auf die Messerklinge legte und über der Flamme des Lichtes schmelzen und anbrennen ließ. Jedes Tröpfchen prüfte er dem Geruche nach, nickte wieder sehr befriedigt, murmelte auch einmal undeutlich „Etwas sehr unvorsichtig!“ vor sich hin und griff nun nach dem dicken Buch, das er hinter sich auf den Sessel gelegt hatte.

Er blätterte, suchte offenbar eine bestimmte Stelle und las dann sehr aufmerksam mehrere Seiten, klappte das Buch zu, schob es wieder hinter sich und breitete nun den Grundriß des Schlosses auf seinen Knien aus.

 

4. Kapitel.

Die Erbin.

Blindley flüsterte mir zu: „Hören wir auf! Wir passen ja beide doch nicht genügend auf.“

„Mir sehr recht,“ sagte Harst da. „Ich möchte Sie verschiedenes fragen, bester Blindley. – Können Sie mir angeben, wo die Bewohner des Schlosses ihre verschiedenen Räume haben, wo also jeder untergebracht ist? – Ich sehe, daß diese Zeichnungen jedes der vier Stockwerke darstellen: Kellergeschoß, Hochparterre, ersten Stock, Dachgeschoß.“

Blindley stand auf und beugte sich über Harsts Sessel, zeigte auf die Räume und gab an, welche davon und von wem sie bewohnt waren.

„Danke,“ meinte Harst. „Das genügt mir. Jedenfalls ist diese Verteilung etwas sonderbar. Weshalb wohnt nicht alles im Ostflügel zusammen? Weshalb haust dort nur der Lord mit fünfen der Polizisten und seinem Kammerdiener?“

„Weil Seine Lordschaft sich sicherer dünkt, wenn jeder Flügel bewohnt ist,“ erklärte Blindley achselzuckend. „Den Westflügel meidet der Lord überhaupt. Dort hatten seine Gattin und die Kinder seiner Zeit ihre Gemächer. Die Räume werden nie betreten. Es war eine Laune des Lords, die Türen vermauern zu lassen. Er sagte zu mir einmal: „Ich habe die, die ich liebte und die mir entrissen wurden, nicht wie andere ihre Toten beerdigen können. Nun habe ich jene Räume in ein Grab verwandelt und stelle mir vor, daß mein Weib und meine Kinder dort ruhen.“ – Jedenfalls sind es acht Räume, die miteinander in Verbindung stehen, zu denen nun jeder Zugang fehlt. Die Zimmer sind genau so belassen, wie sie damals aussahen, als die Lady und die Knaben verschwanden. Acht Monate später kam ich hierher. Da waren die Türen schon vermauert. Ich hätte mich gern einmal dort umgesehen. Aber Lord Edward hatte wohl recht, als er meinte, ich würde dort nichts wichtiges entdeckten, da ja bereits die berühmtesten Detektive der Welt dort umsonst nach[5] irgendwelchen Spuren gesucht hätten, die vielleicht einen Lichtstrahl in das Dunkel dieser Tragödie werfen könnten.“

Harst nickte. „Das mag schon sein. In den Zimmern wird man auch kaum etwas finden. Dazu waren die Leute doch wohl zu schlau, die die drei Personen entführten. – Hat man denn nie irgend etwas darüber ermittelt, ob an jenem Tage verdächtige Leute in der Nähe des Schlosses sich herumgedrückt haben?“

„Nein – nichts!“

„So so – das würde also ebenfalls in meine Theorie hineinpassen.“ Harst rauchte jetzt eine seiner Mirakulum-Zigaretten mit geradezu behaglichem Lächeln.

„Theorie?“ Blindley hatte dieses Wort einen ordentlichen Ruck gegeben. „Theorie?! Bester Harst – dann müssen Sie ja bereits –“

„Halt – halt!“ warnte Harst. „Keine verfrühte Freude, Blindley! Es kann alles auch ein Fehlschlag werden. – Noch eine Frage: Befindet sich außer dem Lord, Doktor Halfing, Ihnen und Ihren Detektiven zur Zeit noch jemand hier im Schlosse, der damals während der Überfahrt von Kapstadt nach hier mit an Bord der India war?“

„Gewiß. Zunächst Seiner Lordschaft Kammerdiener Alexander Bebragson. Dann noch der Sohn des Hausmeisters Thomas Barton, der junge Reginald Barton, der hier den Hausingenieur für die Beleuchtungs- und Warmwasseranlage spielt, übrigens ein sehr fleißiger Mensch, der all das ganz allein erledigt, was doch nicht ganz einfach ist. Er setzt seinen Ehrgeiz darein, keinerlei Hilfe zu gebrauchen.“

Harsts Mienen strafften sich plötzlich. Er stand auf.

„Blindley,“ sagte er ganz leise und jedes Wort betonend. „Holen Sie uns jetzt mal Doktor Halfing her. Dann will ich Ihnen beiden so einiges mitteilen, was Ihnen etwas die Augen öffnen dürfte.“

Drei Minuten später saß Halfing in dem Sessel, den vorhin der Lord innegehabt hatte.

„Doktor,“ begann Harst. „Ich bitte Sie, jetzt ganz ehrlich zu sein. Ich sage Ihnen gleich: Ich teile Ihren Verdacht! – Also – ehrlich, Halfing!“

Dieser senkte verlegen den Blick.

„Ich verstehe Sie nicht, Master Harst,“ stammelte er.

„Oh – Sie verstehen mich sehr gut. Sie fürchten nur, ein offenes Wort könnte Ihnen vielleicht Ihre Stellung kosten. – Weshalb sangen Sie vorhin hier ein so stark übertriebenes Loblied auf Miß Dagna Urbington und auf Thomas Barton? Die Ausdrücke „aufs trefflichste“, „aufs allergewissenhafteste“ und „mustergültig“ und „vorzüglich“ fielen mir auf. Ich hatte das Gefühl, als wollten Sie mich auf recht harmlose Art so etwas mit der Nase auf diese beiden Personen stoßen. – Schütteln Sie nicht den Kopf: Es ist so! Ich sollte auf diese Leute aufmerksam werden. – Und – trösten Sie sich, ich wäre auch ohne Sie auf Miß Urbington als eine Frau gekommen, die Beachtung verdient! – Sehen Sie, ich habe mir hier aus Blindleys Bibliothek ein Werk über das englische Erbrecht herausgesucht. In den Anmerkungen zu ein paar Paragraphen fand ich auch Erläuterungen über die Erbfolge in englischen Adelsgeschlechtern. Ich holte mir das Buch, nachdem ich von Ihnen gehört hatte, daß Miß Dagna eine entfernte Verwandte des Lords sei. Vermutlich ist sie die einzige von seinen direkten Verwandten, sagte ich mir, die noch als seine Erbin in Betracht kommt. Das Buch hier bestätigte mir, daß die Erbfolge in England auf die entferntesten, auch bürgerliche Verwandte selbst bei Adelsgeschlechtern zurückgreift. – Das wäre das eine. Um nun noch etwas anderes zunächst nachzuholen: Als ich hierher gebracht, forderte ich nicht ohne Grund, daß niemand mein Zimmer hier betreten dürfte und daß mein wahrer Zustand verschwiegen werden sollte. An Bord der India mußte sich jemand befunden haben, der irgendwie mit den Feinden des Lords in Verbindung stand. Wie hätte sonst der Warnungsbrief an mich die Bemerkung enthalten können, daß ich mit Chester Blindley über die Familientragödie gesprochen und ihm meine Hilfe zugesagt hätte?! – Bitte, geben Sie nun genau auf meine Ausführungen acht – ganz genau! Thug, die Mörderfanatiker, sollten aus Rache auch Edward Wolpoore nachstellen. Der Drohbrief an mich rührte von einem geheimnisvollen Inder her. Der ermordete Knabe, dessen Heimat bisher nicht ermittelt ist, trug im linken Armgelenk eine Tätowierung in Gestalt einer dreiköpfigen Puppe.“

„Ah!“ rief Blindley aufspringend. „Das ist ja das Zeichen der Thug –!“

„Behalten Sie Platz Blindley. – Ich dachte es mir. Der Knabe gehörte also zu der Mördersekte – unzweifelhaft. Ebenso fraglos auch der Inder Rabindra ben Misore. – Woher wußte dieser nun, daß ich mit Ihnen, Blindley, jenes Gespräch an Bord der India geführt hatte – woher?! – Ich habe mir auf meinem Krankenlager hier genau die Szene damals auf Deck ins Gedächtnis zurückgerufen, als wir dieses Thema verhandelten. Und da erinnerte ich mich an einen jungen Menschen, der unweit von uns mit einer Angel den Haifischen auflauerte.“

„Ganz recht – ganz recht,“ nickte Blindley. „Es war dies der junge Reginald Barton.“

„Ja. Den Namen erfuhr sich erst vorhin von Ihnen. Dieser Barton kann als einziger verraten haben, was nach der Vereinbarung zwischen Wolpoore, Ihnen und mir streng geheimgehalten werden sollte: daß ich hierher kommen würde! – Und – als ich kam, als ich jeden Verfolger abgeschüttelt hatte, da – da versucht man mich hier dicht vor dem Schlosse zu vergiften! Man hatte mich also hier erwartet, man hatte den alten Hindu mit der Ziege sozusagen bereitgestellt, damit man jede Chance ausnützen könnte, mich zu beseitigen, bevor ich das Schloß betrat. Ich behaupte nun: dieser Hindu ist von Leuten angeworben worden, die hier im Schlosse wohnen. Nur von dem hochgelegenen Schlosse aus konnte nämlich festgestellt werden, daß zwei Männer von Madras her sich näherten und dann bei der Felsengruppe lagerten; nur von hier aus kann der alte Hindu mit seiner Ziege zu uns hindirigiert worden sein! – Weil ich dies annahm, wollte ich mich hier nach Möglichkeit schützen; und weil ich hier Fremde vermutete, war mein Ohr für jede Kleinigkeit geschärft und mein Geist beständig auf der Suche nach diesen Feinden. Dann kamen Sie, Doktor, und hielten ihre Lobreden auf die einzige Erbin des Lords und auf den Hausmeister, dann bat ich mir den Grundriß des Schlosses aus und ließ mir von Blindley erläutern, wo jeder hier wohnte; dann teilte Blindley mir mit, daß – gerade Miß Urbington und die beiden Bartons, Vater und Sohn, allein im Westflügel wohnen. Also auch der Hausmeister, den Sie, Doktor, mir so ganz besonders verläßlich schilderten, so mit einem gewissen Zuviel im Ausdruck!“

Harst schwieg und schaute Halfing ernst fragend an.

Dieser zauderte noch etwas, platzte dann aber heraus: „Nun gut – wenn ein Mann wie Sie meinen Verdacht teilt, will ich sprechen. Ja – sowohl die Bartons als auch die Urbington sind mir seit langem verdächtig. Ich hatte bemerkt, daß die Urbington sich alle Mühe gab, den Lord in ihre Netze zu locken. Sie wollte von ihm geheiratet sein. Als ihr dies nicht glückte, hatte der junge Barton mehr Glück. Ich weiß, daß sie zum mindesten heimlich verlobt sind. Jedenfalls stecken die drei unter einer Decke. Ich habe schon viermal beobachtet, wie sie im Keller des Westflügels, wo die maschinellen Anlagen sich befinden, stundenlang verweilten. Ich spürte ihnen so etwas auf eigene Faust nach. Und jetzt, wo Sie, Master Harst, soeben den Verdacht aussprachen, der alte Hindu mit der Ziege müßte vom Schlosse aus nach Ihrem Lagerplatz hindirigiert worden sein, ist mir eingefallen, daß die Urbington vorgestern abend gegen ½8 Uhr das Schloß verlassen hat und erst nach einer Stunde zurückgekehrt ist. Sie kauft nun vieles für die Küche in einem Hindudorfe ein, das drei Kilometer nördlich in den Bergen liegt. Vielleicht wäre der Mann mit der Ziege dort zu finden.“

Harst hatte sich eine neue Zigarette angezündet. Wie er nun stoßweise den Rauch in die Luft blies und dabei mit der linken Hand den einen der Briefe, die Ankündigung des Verschwindens der Lady und der Knaben, hoch emporhielt, da beugten wir drei anderen uns weit vor und lasen ihm die nächsten Sätze gespannt von den Lippen ab.

„Dieser Brief ist eine Fälschung!“ sagte er. „Die Schrift ist ganz geschickt nachgeahmt. Aber – es ist nicht dieselbe wie auf den drei anderen Briefen. Und – der Siegellack, der zu den Tröpfchen auf dieser Fälschung benutzt wurde, ist ebenfalls nicht derselbe wie bei den übrigen Schreiben. Der Geruch verriet mir das ganz deutlich. Bei dieser Fälschung hat man einen stark parfümierten Siegellack verwandt, wie er nur in Europa für Damen hergestellt wird als halbe Spielerei. – Wer sind nun diese Fälscher? – Die drei anderen Briefe, zwei an die Wolpoores gerichtete, einer für mich bestimmt, stammen wohl fraglos von den Leuten her, die seit mehr als fünfzig Jahren alles, was Wolpoore heißt, unerbittlich verfolgen und vernichten. Aber nun diese Fälschung, die der Lord bei seiner Heimkehr auf seinem Schreibtisch fand? Wer steckt als Urheber dahinter? Ich behaupte: die Urbington und ihre Verbündeten! – Ich werde das auch beweisen. Die Urbington hatte ein Interesse daran, daß die Lady und die Knaben verschwanden. Sie wollte zunächst selbst Lady Wolpoore werden. Um den Verdacht auf andere abzuwälzen, wurde der Brief angefertigt – nach dem Muster der beiden, die der Lord besaß.“

Abermals sprang Chester Blindley auf.

„Herr im Himmel, Master Harst – wenn Sie recht hätten!“ rief er gepreßt. „Wenn dieses Weib schon damals mit 22 Jahren so verderbt gewesen wäre, die Lady und die Kinder mit Hilfe der beiden Bartons zu beseitigen! – Ja – wenn ich daran denke, daß die Bartons gleichzeitig mit der Urbington aus England hierher kamen, wenn ich das in Erwägung ziehe, was Doktor Halfing über die drei uns mitteilte und –“

„– wenn man schließlich noch sich fragt, weshalb wohl Reginald Barton jede Hilfe bei der Bedienung der Maschinen ablehnt!“ fügte Harst schnell hinzu, – „dann, meine Herren, dann muß man auf den Gedanken kommen: die Leichen der Lady und der Kinder sind in den Kellern des Westflügels irgend wo verscharrt!“

Doktor Halfing fuhr empor. „Man muß dort suchen – unbedingt! Wir werden es tun! Wir –“

Harst hatte ihm energisch zugewinkt. „Ruhe, Doktor. Ruhe! Gewiß werden wir suchen – noch in dieser Nacht! – Blindley, sind Ihre Leute absolut zuverlässig?“

„Ja – durchaus!“

„Gut. Dann geben Sie Befehl, daß sofort der Gewandteste herauszubringen sucht, was die Urbington und die Bartons jetzt treiben. Es ist gerade ½10. Vielleicht hocken sie wieder beisammen. Sollte dies der Fall sein, so können wir ja sofort in die Keller hinab.“

Blindley eilte davon.

 

5. Kapitel.

Überraschungen.

Endlich kehrte Blindley zurück.

„Ich bin selbst im Westflügel gewesen,“ flüsterte er. „Die drei Verbündeten sitzen in dem Zimmer des alten Barton. Leider konnte ich nichts von dem verstehen, was sie sprachen, nur dreimal Ihren Namen, Master Harst. Und dann von den Lippen der Urbington einen halben Satz, genau die Worte: „Ihr habt sie ja schonen wollen!“ Das war alles.“

Harst blickte Blindley sinnend an. „Das kann sich auf Schraut und mich beziehen oder –“ Er schwieg, kniff die Augen zusammen, rief etwas lauter: „Wenn – wenn aber das andere stimmte?! Wenn –! – Gehen wir – gehen wir! – Blindley, Ihre Leute brauchen wir nicht. Nur vielleicht ein paar Werkzeuge – Stahlsägen, Feilen, eine Brechstange.“

„Die hole ich sofort.“ – Blindley lief abermals davon. Man merkte ihm an, wie er vor Ungeduld fieberte. –

Harst steckte seine Repetierpistole und seine Taschenlampe zu sich. Dann kam auch schon Blindley zurück. Er führte uns durch die läuferbelegten Gänge über schmale Seitentreppen ins Erdgeschoß vor eine starke, geschnitzte Tür, die auf eine der überdachten Brücken zwischen Nord- und Westflügel mündete.

Sie war verschlossen. Aber Blindley hatte den Reserveschlüssel aus dem Schlüsselschrank geholt. Die Tür ging lautlos auf. Sie war gut geölt. Wir traten ein. Wir hörten jetzt das Puffen des Gasolinmotors der Beleuchtungsanlage. Im Vorraum brannte eine einzelne Birne. Links ging es in das Gewölbe, wo der Motor und die Dynamomaschine standen, rechts in den Heizungskeller der Warmwasserversorgung.

Der Boden bestand überall aus nacktem Fels, ebenso die Decke, die Wände. Wir leuchteten jeden Zentimeterbreit des Bodens ab. Im Heizungskeller lag ein hoher Berg Steinkohlen in einer Ecke. Als wir gerade davor standen, – ganz plötzlich in unserem Rücken eine Stimme:

„Guten Abend, meine Herren!“

Wir fuhren herum vor Schreck. In dem Tonfall dieser Stimme hatte ebensoviel Drohendes wie Ironisches gelegen.

Vor uns lehnte Reginald Barton in der Türöffnung nach dem Vorraum. Es war ein großer, schlanker Mensch mit bartlosem Gesicht und stark vorgebautem Kinn. Die Hände hatte er in den Taschen seines gelben Leinenjaketts vergraben.

„Was suchen Sie hier, Master Blindley?“ meinte er nun, fixierte aber gerade mich dabei scharf.

Jetzt erst wurde ich gewahr, daß Harst fehlte. Wo konnte er stecken – wo nur?! Er war doch noch soeben hier neben mir gewesen?!

Chester Blindley hatte sich schnell gefaßt. „Suchen tun wir gar nichts, Barton,“ erklärte er gelassen. „Wir wollten uns nur mal die Anlagen hier ansehen.“

„So so! Nur die Anlagen!“ lächelte Barton und wandte den Kopf zur Seite, flüsterte etwas, worauf neben ihm sein Vater und Miß Urbington erschienen. Diese sagte nun zu Blindley in einem Ton, der schrill und wie vor Wut halb erstickt klang: „Sie lügen ja! Sie spionieren hier herum. Gehen Sie sofort wieder –“

Blindley hatte schon gerufen: „Ah – also Sie fürchten, wir könnten hier spionieren! Nun – Sie haben sich verraten! Ich –“

Er schwieg. Die Glühbirnen an der Decke waren plötzlich erloschen. Wir hörten noch das Zufallen der eisernen Tür. Dann hatte ich bereits meine Taschenlampe eingeschaltet.

„Ihnen nach – Sie fliehen!“ brüllte Chester Blindley.

Aber – die Tür war von außen verschlossen, und der Schlüssel steckte im Schloß! Wir waren eingesperrt.

Blindley tobte fast, hämmerte gegen die Tür. Alles das war so zwecklos! Wer sollte uns hier im Westflügel hören?!

Dann – aus dem Heizungsraum etwas wie ein dumpfer Knall und ein lautes Zischen. Wir eilten hinein.

Und – wir sahen, wie aus dem Kohlenberg weiße Dämpfe aufstiegen, wie bläuliche Flämmchen hochleckten. Die Kohlen brannten! Man mußte eine unter dem Steinkohlenhaufen verborgene Höllenmaschine elektrisch zur Explosion gebracht haben, die dann die Kohlen im Nu entzündet hatte.

Wir standen wie gelähmt da. – Löschen?! Womit?! – Als wir den Hahn der Wasserzuleitung für den Kessel aufdrehten, lief nur wenig Wasser ab. Man hatte den Haupthahn abgestellt!

Und – wo war Harst?! – Ich rief; ich suchte nebenan in dem Gewölbe, wo der Motor arbeitete. Nichts – kein Harst zu sehen. – Wir suchten die Kohlen auseinanderzureißen. Die erstickenden Schwaden trieben uns zurück, jagten uns schließlich in den Vorraum, weiter in den Lichtanlagekeller. Wir mußten hier ja in kurzem ersticken, wenn nicht bald Hilfe kam. Gewiß – oben an der einen Wand liefen kleine Luftschächte nach außen. Aber sie waren so eng, daß man kaum den Kopf hätte hineinzwängen können.

Gelber Rauch wälzte sich langsam in den Keller der Lichtanlage; wir husteten; die Augen tränten uns. Es gab keine Rettung: das wurde uns jetzt mit jeder Sekunde klarer.

Dann – eine Gestalt tauchte in dem Qualm vom Vorraum her auf; Harsts Stimme:

„Hierher – schnell! – Reicht Euch die Hände! Ich führe Euch –! Nur schnell!“

Durch den beißenden, dicken Dunst tappte ich hinter Blindley drein, der Harsts Hand ergriffen hatte.

„Bücken!“ brüllte Blindley.

Ich tat’s. Es ging zehn Steinstufen abwärts durch eine niedrige Tür, die in Form einer Felsplatte in die Rückwand des Vorderraums[6] eingeführt war und die nur Harst vorhin bemerkt hatte.

Doktor Halfing drückte die Tür wieder zu. Wir standen jetzt in einem niedrigen Gewölbe am Fuße der Treppe. Vor uns bemerkten wir eine stark verrostete Eisentür, deren Riegel schon zurückgeschoben waren.

„Ich habe die, die von den beiden Bartons geschont, das heißt am Leben gelassen wurden, gegen den Wunsch der Urbington gefunden,“ sagte Harst feierlich. „Diese Tür führt in zwei Gewölbe, in denen Lady Wolpoore und ihre Kinder seit sechs Jahren von den drei Unmenschen gefangen gehalten werden! Die Lady ist eine gebrechliche Greisin geworden, die jungen Leute Gerippe!“

Ich will das Folgende nur kurz streifen. Im Dunkeln, in den nur mit Kisten als Möbelstücken ausgestatteten Kellern hatten die drei Ärmsten diese Jahre verbracht. Es war ein Wunder, daß ihr Verstand all den Leiden getrotzt hatte.

Die Freude dieser Bedauernswerten zu schildern, ist unmöglich. Ströme von Tränen entquollen ihren Augen. Sie konnten gar nicht fassen, daß sie nun wirklich befreit waren.

Einer der Detektive, der für diese Nacht das Schloß von außen zu überwachen hatte, war auf die aus den Luftschächten der Maschinenkeller hervordringenden Rauchmassen aufmerksam geworden, hatte seine Kollegen alarmiert, die Eisentür aufgeschlossen und den brennenden Kohlenhaufen nach stundenlanger Arbeit löschen lassen. Lord Wolpoore war geweckt worden, hatte unser Fehlen sehr bald festgestellt, ebenso das der Bartons und der Urbington, vermochte sich die Zusammenhänge nicht zu erklären und wurde dann Zeuge, wie seine Gattin an Harsts Arm den verborgenen Gewölben als eine vom Tode Erstandene, als Greisin, entstieg.

Was dann folgte, kann sich jeder leicht selbst ausmalen, der auch nur etwas Gemüt besitzt.

Noch in derselben Nacht wurde eine der Türen zu den Gemächern der Wiedergefundenen erbrochen. Die alten Räume empfingen die Geretteten. Noch in derselben Nacht machte sich Blindley auch mit zehn seiner Leute auf und setzte den drei Flüchtlingen nach. Er fand sie; aber – lebend gerieten sie nicht in seine Gewalt. Sie hatten sich in einem Rasthause unweit Bangalore gemeinsam vergiftet, als sie merkten, daß es für sie kein Entrinnen mehr gab.

Deshalb konnte auch nicht aufgeklärt werden, welcher Art die Beziehungen der drei zu den Feinden der Familie Wolpoore gewesen waren. Denn auch den alten Hindu, den Mann mit der Ziege, vermochte man nirgends aufzuspüren. –

Hiermit will ich dieses Abenteuer schließen.

 

 

Das Fernrohr Kapitän Pellertans.

 

1. Kapitel.

Der tote Maschinist.

Es war ein altehrwürdiges Sehfernrohr aus Messing mit sechs Auszügen, so ein Ding, wie man es heute in der Handelsmarine kaum noch gebraucht. Es hatte vorn einen Durchmesser von 12 Zentimeter, und Harald Harst meinte einst scherzend zu dem glücklichen Besitzer, Kapitän Joe Pellertan, eigentlich gehöre zu diesem Rieseninstrument beim Gebrauch stets ein Stativ, da man schon über gehörige Muskelkräfte verfügen müsse, um es frei in den Händen still zu halten.

Joe Pellertan war jedoch noch ein Seemann aus der alten Schule, der von modernen Trieder-Binokeln[7] und so weiter nichts wissen wollte, der noch manchen Aberglauben festhielt und der bessere Münchhausiaden[8] erfand als der älteste Förster. –

Die große Motorjacht „India“ Lord Wolpoores schaukelte bei völliger Windstille auf einer langen Dünung träge auf und[9] ab. Über dem Meere lag eine erschlaffende Backofenglut. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel unbarmherzig auf das stets feucht gehaltene Deck der India herab. Aber was nützte diese stete Bewässerung der Deckplanken bei einer Temperatur von 35 Grad im Schatten?!

Es war kurz nach der gemeinsamen Mittagsmahlzeit im Salon der Jacht. Die Familie Wolpoore hatte sich in ihren Wohnsalon zurückgezogen. Daß der Lord mit den Seinen gern allein sein mochte, konnte man verstehen. Wer wie er seine Gattin und seine Söhne jahrelang als tot betrauert hatte, wem sie dann plötzlich wiedergegeben werden, der will auch das lang entbehrte Glück eines trauten Familienlebens ohne Zeugen auskosten.

Wir saßen jetzt zu fünfen in der Kajüte Kapitän Joe Pellertans um den ovalen Tisch herum in bequemen Korbsesseln und lauschten mit jener völligen Abspannung, die die Folge der Tageshitze war, der Erzählung des Kapitäns, deren spannende Momente an unserer matten Gleichgültigkeit heute sozusagen wirkungslos abprallten.

Pellertans braunrotes, zerfurchtes Gesicht mit dem grauen Schifferbart wurde immer finsterer.

„Den Deubel!“ rief er jetzt. „Ihr hört ja gar nicht zu! Ich rede mir das Maul trocken, und Ihr sitzt da wie schlafkranke Nigger.“ Er langte nach seinem steifen Eispunsch und nahm einen tüchtigen Schluck, fuhr dann fort: „Natürlich glaubt Ihr nicht an derlei Vorkommnisse, Ihr modernen Herren! Natürlich nicht! Und doch: es ist Tatsache, was ich soeben berichtete. Der Kopf des enthaupteten Piraten sprach wirklich noch den Satz, den ich vorhin wiederholte. Der Unterkiefer bewegte sich. Es war, daß einem das Grausen ankam!“

In diesem Augenblick trat nach kurzem Anklopfen der Jachtingenieur Moore ein, nickte uns zu und wandte sich dann an Pellertan:

„Käp’ten[10], haben Sie sich mein Fernglas ausgeliehen? Es ist aus meiner Kabine verschwunden.“

„Ich – nein! – Aber – verschwunden?! Deubel, was ist denn jetzt eigentlich los auf der Jacht? Heute früh fragt mich Sinclair (das war der Steuermann) genau dasselbe. Auch dessen Glas ist futsch!“

„Nicht möglich?!“ meinte der Ingenieur, ein noch junger Mann von sehr gewinnenden Umgangsformen, der einen ölfleckigen Leinenanzug anhatte und recht übermüdet aussah. „Wir haben doch keine Diebe an Bord! Bei der Polizeiaufsicht, unter der wir dauernd stehen!“ fügte er hinzu.

Und er lachte Chester Blindley vergnügt an, denn dieser kleine dürre Herr war ja der Chef der Privatpolizei Lord Wolpoores, die dieser sich lediglich zum Schutz seiner Person hielt. Sie bestand aus zwanzig ausgesucht tüchtigen Detektiven.

Blindley zuckte die Achseln. „Die Ferngläser werdet Ihr verlegt haben! Macht doch nicht so viel Aufhebens davon!“

Doktor Halfing, des Lords Leibarzt, meldete sich jetzt jedoch gleichfalls und gab der Angelegenheit plötzlich ein weit ernsteres Aussehen.

„Leider muß ich hierzu bemerken, daß auch ich meinen Krimstecher seit zwei Tagen umsonst suche. Er ist – verschwunden – spurlos!“ meinte er bedächtig und schaute Blindley ein wenig ironisch an. „Verschwunden, obwohl der Herr Polizeichef mit fünf Detektiven die Reise wie stets so auch jetzt mitmacht. Lieber Blindley, Sie haben also Arbeit! Suchen Sie die drei Ferngläser. Wenn Sie sie finden, können Sie wenigstens in diesem Monat behaupten, Ihr fürstliches Gehalt nicht umsonst bezogen zu haben.“

Es war das eine ganz harmlose Neckerei von Seiten des Doktors. Denn Halfing kränkte nie jemanden mit Absicht.

Blindley lachte. „Das ist ja die reine Fernglasflucht! Bester Pellertan, ich rate Ihnen, legen Sie Ihr Kanonenrohr an die Kette, sonst reißt es auch noch aus!“

„Oho – das sollte mal einer wagen, mir mein Glas zu stehlen!“ brummte der alte Seebär und schaute nach dem Wandbrett hin, wo das Messingperspektiv halb ausgezogen lag.

„Scherz beiseite!“ sagte nun aber Blindley in ganz anderem Tone. „Wer wie ich in diesen Jahren, seit ich über Seiner Lordschaft Leben und Gesundheit wache, die scheinbar auch noch so gleichgültigsten Vorfälle mit ganz anderen Augen anzusehen gelernt hat, wer wie ich stündlich auf der Lauer liegt und nach irgendwelchen Anzeichen für ein neues Attentat sucht, der beachtet selbst das Verschwinden von drei Ferngläsern, zumal wenn diese an Bord einer Jacht abhanden kommen, deren Besatzung aus alterprobten Leuten besteht.“

Ich schaute unwillkürlich zu Harst hinüber. Ich war neugierig, wie er über diese Sache dächte. Aber er rauchte sehr gelassen seine Zigarette weiter und blickte durch das runde Fenster hinaus auf die wie flüssiges Blei schillernde endlose See.

Ingenieur Moore hatte sich ein Glas mit Eislimonade aus der großen Kanne gefüllt, die auf einem Stuhl in einem Eiskühler stand, trank, sagte dann: „Wenn es so weiter geht, haben wir sehr bald kein einziges modernes Fernglas mehr auf der India. Es muß doch jemand die Dinger gestohlen haben! Drei Krimstecher – drei! – Das ist doch kein Zufall! Die können doch nicht alle drei verlegt worden sein!“

Eine Weile herrschte Schweigen. Dann wandte Chester Blindley sich an Harald.

„Was halten Sie davon, lieber Harst?“

„Ich möchte Sie bitten, mir mitzuteilen, weshalb Sie heute vor neun Tagen, als wir uns vor dem Schlosse des Lords auf der Landstraße trafen, mir zuraunten, daß „etwas passiert sei“. – Sie haben mir bisher nichts näheres darüber gesagt, Blindley.“

„Ganz richtig. Ich habe es nicht vergessen, aber ich glaubte, durch diese Seereise, die wir auf Ihre Veranlassung nun unternehmen, wäre jede Gefahr vorläufig beseitigt. Wenn ich mich damals wirklich so ausgedrückt habe: „Es ist etwas passiert“, dann meinte ich damit nur, daß gewisse Anzeichen dafür sprachen, es sei wieder etwas im Gange. Sie verstehen: gegen Seine Lordschaft!“

„Und diese Anzeichen?“ fragte Harst ohne besonderes Interesse.

„Waren vier Siegellacktröpfchen!“

„Ah!“ machte Harst und beugte sich vor.

Dieser Ausruf war berechtigt. Der Leser besinnt sich noch auf unser vorheriges Abenteuer, bei dem ja die vier silbernen Siegellacktröpfchen eine so große Rolle spielten.

„Vier Siegellacktröpfchen auf der Schreibunterlage des Herrn Daberton, Eigentümer der Daberton-Werft in Madras,“ erklärte Blindley weiter. „Ich bemerkte sie, als ich Daberton kurz nach unserer letzten Seereise mit der India von Kapstadt nach Madras besuchte. Ich war eine Weile allein in seinem Privatkontor, bevor er kam. Da fiel mein Blick auf die rote Löschblattunterlage auf dem Schreibtisch. Sie war noch ganz sauber. Die vier silbernen Tröpfchen hoben sich deshalb sehr scharf ab. Als ich eins davon berührte, war es noch nicht völlig erhärtet, wie ich sehr wohl fühlte. Ich ging sofort nebenan in den großen Raum, wo die Buchhalter und so weiter arbeiteten. Man antwortete mir auf meine Frage, daß soeben ein vornehmer Hindu bei Daberton gewesen sei. Daberton wäre aber nicht sofort von der Werft herübergekommen, und da hätte der Inder sich wieder empfohlen mit dem Versprechen, nachher nochmals sich einfinden zu wollen. Niemand kannte den Inder. Auch Daberton hatte keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. – Mithin dürfte dieser vornehme Eingeborene die Tröpfchen auf dem Löschblatt zurückgelassen haben.“

„Wie – und das erzählen Sie mir erst jetzt, Blindley!“ meinte Harst kopfschüttelnd. „Die Sache hätten wir doch in Madras genau untersuchen müssen!“

„Ja – und dann hätte seine Lordschaft davon erfahren, und wir würden ihm die ganze Freude über die Wiedervereinigung mit den Seinen verdorben haben!“

„Aber Blindley – welch falsche Rücksichtnahme! Bedenken Sie doch: es muß ja unbedingt etwas auf sich haben, daß der Inder gerade dort seinen berüchtigten „Stempel“ zurückließ, wo Sie kurz darauf auftauchten! Begreifen Sie nicht, daß der Mann gewußt haben muß, Sie würden Philipp Daberton aufsuchen?! Verstehen Sie nicht, daß dieser Inder Ihnen beweisen wollte, wie gut er über jeden Ihrer Schritte unterrichtet ist?! – Sehr schade, daß Sie sich aus einem Sicherheitsgefühl heraus, das ich nicht teilen kann, dazu verleiten ließen, über dieses Vorkommnis bisher zu schweigen. – Ich will Ihnen etwas sagen, lieber Blindley: ich beurteile dieses Verschwinden der drei Ferngläser hier an Bord inmitten einer durchaus zuverlässigen Besatzung keineswegs harmlos. Im Gegenteil, ich werde jetzt die Augen sehr gut offenhalten und rate Ihnen und Ihren fünf Leuten dasselbe. Natürlich darf der Lord vorläufig nichts erfahren. Nur das nicht! Er ist jetzt endlich wieder aufgelebt und heiter. Nein – wir anderen haben nur die Pflicht, wir alle hier, jeder Kleinigkeit, mag sie auch noch so geringfügig aussehen, eine gewisse Bedeutung beizumessen, sofern sie nur irgend aus dem Rahmen alltäglicher Vorgänge herausfällt.“

Nach diesen Sätzen Harsts waren die Gesichter der Anwesenden urplötzlich verändert.

In demselben Moment klopfte es auch schon gegen die mattglänzende Mahagonitür der Kajüte.

Joe Pellertan hatte sich erhoben. „Deubel – es muß was passiert sein!“ meinte er und öffnete die Tür.

Davor standen der Steuermann Sinclair und zwei Matrosen.

„Käp’ten,“ meldete Sinclair erregt, „Käp’ten – der Maschinist Ambermakry hat sich im großen Vorratsraum aufgehängt. Soeben hat der Bill hier ihn gefunden.“

Harst warf mir einen langen Blick zu. Das hieß nichts anderes als: Da ist schon etwas, das aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfällt!

Blindley war aufgesprungen.

„Ambermakry – aufgehängt?!“ sagte er bestürzt und trat auf Sinclair zu. „Dieser frische, lebensfrohe Mensch soll, das ist ja Unsinn, das ist einfach unmöglich!“

„Es ist so. Er ist tot. Er ist auf eins der Butterfäßchen gestiegen, hat die an einem Wandhaken befestigte Schlinge um den Hals gelegt und dann das Fäßchen umgekippt. Das geht[11] aus dem Befund an Ort und Stelle klar hervor.“

Blindley winkte Harst zu. „Gehen wir! Die Sache gefällt mir nicht!“ meinte er kleinlaut.

Pellertan, Halfing, Blindley und wir beide folgten dem Steuermann. Der sogenannte große Vorratsraum lag im Vorschiff hinter der blitzsauberen, geräumigen Schiffsküche, hatte aber noch einen zweiten Zugang vom Gange des Mannschaftslogis aus. Diese Tür wurde jedoch selten benutzt. Den Schlüssel hatte Pellertan in Verwahrung.

Der Erhängte war von Sinclair abgeschnitten und auf den Boden des Proviantraumes gelegt worden. Dieser Ambermakry, ein Mann von etwa vierzig Jahren, war klein und schmächtig und als witziger Spaßmacher allgemein beliebt gewesen. Jedem ging sein Tod nahe. Niemand konnte sich erklären, weshalb er dieser Erde lebewohl gesagt hatte, auf der es ihm bisher stets nur gut gegangen war.

Blindley ließ Harst den Vortritt bei der Untersuchung des Strickes, der zur Hälfte noch an dem Haken hing, und bei allem anderen, was man hier in Augenschein nehmen mußte, um nachzuprüfen, ob nicht vielleicht nur ein vorgetäuschter Selbstmord, also ein Verbrechen, vorliege.

Harst war sehr bald mit dieser Nachprüfung fertig, lehnte sich nun an den großen, in der Mitte des Raumes stehenden Trinkwassertank aus Eisenplatten und meinte zu Blindley:

„Bitte – jetzt sind Sie an der Reihe.“

Halfing, der Arzt, untersuchte den Toten noch immer, sagte nun, während der Polizeichef gerade den Strick und den Haken sich ansah:

„Ambermakry ist kaum eine Stunde tot. Aber tot ist er. Wiederbelebungsversuche sind zwecklos.“

Harst kniete neben Halfing nieder und befühlte den dick angeschwollenen Hals des Erhängten. Dann wandte er sich an den Schiffskoch, einen Franzosen namens Chaprin.

„Ambermakry muß doch durch die Küche gegangen sein. Sahen Sie ihn nicht, Chaprin?“

Der Koch stand in der Tür nach der Kombüse.

„Nein, ich sah ihn nicht. Vor einer Stunde war ich gerade drüben in Sinclairs Kabine. Wir saßen und plauderten. Dann kam Bill und bat um den Schlüssel zur Kombüse. Er wollte Trinkwasser aus dem Tank holen. So fand er Ambermakry.“

„Wie ist dieser dann aber hier in den Proviantraum hineingelangt?“ fragte Joe Pellertan zögernd. Man sah ihm an, wie sehr ihn dieser Selbstmord aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte. „Den Kombüsenschlüssel hatten Sie doch bei sich, Chaprin,“ fügte er hinzu. „Und den anderen Schlüssel zur Tür nach dem Mannschaftslogis weiter vorn habe ich eingeschlossen! – Mir ist das alles ganz unerklärlich!“

Harst hatte sich wieder aufgerichtet.

„Vielleicht hatte Ambermakry sich hier versteckt, um später in aller Ruhe sich aufknüpfen zu können,“ meinte er nun.

„Ja ja – so wird es sein!“ nickte Pellertan.

In der Kombüse drängten sich jetzt die Leute der Jacht und machten lange Hälse, um einen Blick auf den Toten werfen zu können.

„Der Maschinist hat nicht mal sein Mittag verzehrt,“ rief einer der Matrosen. „Ich mußte es ihm in seine Kabine bringen. Aber es steht noch unberührt da.“

„Sehr wichtig!“ mischte sich jetzt Chester Blindley ein. „Dies ungenossene Mittag beweist, daß Ambermakry sich tatsächlich hier eingeschlichen und verborgen hatte, ganz wie Master Harst soeben vermutete.“ Dann drehte er sich nach Harald um. „Na – Selbstmord oder etwas anderes?“ fragte er leiser.

„Selbst–mord!“ erwiderte Harst. Wohl nur mir fiel es auf, daß er die beiden Silben mit einer winzigen Pause aussprach, daß er sie also trennte.

„Auch meine Ansicht!“ sagte Blindley. „Wer sollte auch dem braven Ambermakry was zuleide tun?!“

„Was wird nun?“ warf Pellertan ein. „Sollen wir Seiner Lordschaft sofort Meldung erstatten?“

„Sofort?! – Das hat ja noch Zeit,“ erklärte Blindley. „Ich werde Seiner Lordschaft dann vorschlagen, Ambermakry in aller Stille nach Seemannsbrauch bestatten zu lassen. Lady Geraldine und die Knaben sollen nicht beunruhigt werden.“

Die Leiche des Maschinisten wurde nun in dessen Kabine getragen und dort auf das schmale Bett gelegt.

Harst hatte mir einen heimlichen Wink gegeben. Er blieb in der Kombüse, unterhielt sich mit dem Koch und ließ die anderen erst alle hinaus, bevor er dann zu dem Franzosen sagte:

„Hören Sie, Chaprin, – ganz im Vertrauen: hier stimmt etwas nicht!“

 

2. Kapitel.

Der bunte Seidenfaden.

Chaprin war ein älterer Mann mit einem stets tadellos gepflegten Knebelbart. Er hatte bereits dieselbe Stellung bei dem Vater Lord Edwards innegehabt, der so auch ermordet worden war wie alle Wolpoores, so daß jetzt nur noch von der Familie drei männliche Mitglieder vorhanden waren: der Lord und seine beiden Söhne.

Chaprin erblaßte, stieß ein angstvolles: „Mon Dieu – etwa ein Attentat?!“ hervor und stierte Harst geradezu hilfeflehend an.

„Attentat?!“ meinte dieser. „Noch nicht! Noch – nicht! Aber – es kann sich eins vorbereiten!“

Dann zu mir gewandt. „Schraut, schließe die Kombüsentür nach dem Gange. – So, nun möchte ich Sie einiges fragen, Chaprin. – Haben Sie, seit wir Madras mit der Jacht vor drei Tagen verließen, jemals hier in Ihrem Küchenreich etwas besonderes bemerkt? – Denken Sie genau nach. Sehr genau. Es kommt auf jede Kleinigkeit an.“

Der Koch verneinte.

„Besinnen Sie sich,“ sagte Harst wieder.

Chaprin schaute grübelnd vor sich hin.

„Hm,“ meinte er dann, „ob Sie das gerade interessieren wird –“

„Was denn?“

„Wir haben wieder Ratten im Schiff, obwohl doch letztens in Madras Kapitän Pellertan alle Räume mit dem Gasapparat hat säubern lassen. Es wurden auch nur sechs tote nachher gefunden. Und jetzt – jetzt müssen wieder eine Anzahl von den Bestien an Bord sein. Gestern haben sie mir abermals das frische Brot angenagt, und auch von der Reisspeise von vorgestern mittag fraßen sie eine gehörige Menge weg.“

„Und sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?“

„Wirklich – gar nichts!“

„Haben Sie denn schon Ratten hier oder im Vorratsraum zu Gesicht bekommen, Chaprin?“

„Nein, Master Harst, nicht eine. Aber es sind welche da, das ist sicher.“

„So so –. Nun – sprechen Sie zu niemandem von dem, was wir hier soeben verhandelten. Schraut und ich werden uns jetzt nochmals den Proviantraum ansehen. – Haben Sie ein Metermaß zur Hand?“

„Gewiß. – Bitte – hier ist eins.“

„Danke. – Falls Blindley nach uns fragt, sagen Sie nur, wir seien an Deck gegangen.“ –

Wir waren in dem Proviantraum allein. An den Wänden standen Regale und Kisten und Fässer; in der Mitte erhob sich der schwarz lackierte Trinkwassertank, der gut 2½ Meter Durchmesser hatte und fast bis an die Decke reichte, wo sich die Umrahmung einer großen Ladeluke abzeichnete.

Seltsamerweise raunte Harst mir jetzt sehr leise zu: „Schweig’ und antworte auf meine Fragen nur ganz ausweichend. Hier ist eine böse Teufelei im Gange!“

Dann nahm er den Meterstock, stellte das Fäßchen unter den Haken, an dem sich Ambermakry erhängt hatte, Maß die Entfernung vom Deckel des Fäßchens bis zum Ende des durchschnittenen Strickes, stieg auf das Fäßchen, betrachtete den Strick, nahm ihn vom Haken und steckte ihn in die Tasche.

Nachdem er wieder hinuntergestiegen war, meinte er zu mir: „Ich fürchte, ich habe soeben eine sehr schwerwiegende Entdeckung gemacht.“

Ich wußte nicht recht, was ich erwidern sollte und sagte nur: „Vielleicht irrst Du Dich auch.“ Diese Antwort war doch gewiß unverfänglich.

„Du magst recht haben,“ meinte er darauf, trat dicht an die Tür, die ins Mannschaftslogis führte, holte seine Taschenlampe hervor und beleuchtete das Schloß, klappte dann sein Messer auf, wickelte sein Taschentuch eng um die Klinge und schob sie so in das Schlüsselloch.

Als er sie wieder herauszog und das Taschentuch besichtigte, wies er stumm auf ein paar Ölflecke auf dem blendend weißen Batisttuch.

Was all das sollte, begriff ich nicht recht.

Er lehnte sich nun an die Tür und ließ seine Augen langsam von Gegenstand zu Gegenstand gleiten. Es brannten hier an der Decke vier elektrische Birnen, die jeden Winkel erleuchteten.

Wohl fünf Minuten verstrichen so. Harst regte sich nicht. Ich kannte diese völlige Bewegungslosigkeit schon an ihm. Dann durfte ich ihn nicht stören; dann wandelte sein scharfer Geist Pfade, die den meisten Menschen ungangbar sind.

Endlich schien er wie aus einem Traum zu erwachen.

„Gehen wir,“ meinte er. „Wir werden jetzt –“ – und diese zweite Hälfte des Satzes sprach er schon in der Küche – „den Maschinenraum besuchen.“ –

Ich hatte zu Anfang dieser Schilderung unseres Abenteuers mit dem Fernrohr Kapitän Pellertans eine Bemerkung eingeflochten, die dem aufmerksamen Leser unbedingt hatte aufstoßen müssen. Leider werden ja aber wohl die meisten Freunde meiner kleinen Erzählungen, die unter dem Gesamttitel „Der Detektiv“ veröffentlicht sind und in denen Harald Harsts Erfolge in anspruchsloser Form wiedergegeben sind, diese meine schriftstellerischen Versuche genau so überfliegen wie etwa einen Liebesroman oder eine Abenteuergeschichte. Leider –! Denn – jeder soll doch schließlich aus jedem Buche etwas lernen! Und gerade Detektiverzählungen sind oft recht geeignet dazu, zum Nachdenken anzuregen und das zu schärfen, was man als „Kombinationstalent“ bezeichnet.

Hand aufs Herz, lieber Leser! Ist Dir aufgefallen, daß es vorn auf der ersten Seite heißt: „Die India schaukelte auf und ab“ –? – Und – die India ist doch eine Motorjacht, also unabhängig vom Winde! Aber – „sie schaukelt träge auf und ab“! Das sagt man doch nur von Schiffen, die nicht in Fahrt sind!

Was folgt daraus? Nun – entweder lag die India absichtlich mit abgestoppten Maschinen still, oder – diese Maschinen waren in Unordnung. Zu ersterem war bei dem glutheißen Wetter kein Grund vorhanden. Im Gegenteil: der bei schneller Fahrt entstehende Luftzug wäre nur angenehm gewesen! – Mithin – und dies hätte der Leser sich selbst herausklügeln müssen – mithin schien etwas an den Motoren der India nicht in Ordnung zu sein, worauf ja auch später der blauleinene, ölfleckige Arbeitsanzug des übermüdet aussehenden Ingenieurs Moore hindeutete. Denn für gewöhnlich trägt ein Ingenieur einer eleganten Milliardärsjacht nicht gerade einen solchen schmierigen Anzug.

Ja – die Motoren der India hatten tatsächlich plötzlich versagt. Einzelne Teile hatten sich heißgelaufen, sogar die Lager der Schraubenwellen, wodurch ein Bruch der Lager[12] eingetreten war, der erst durch Einfügen von Ersatzteilen ausgeglichen werden mußte.

Moore hatte schließlich auch herausgefunden, daß das Maschinenöl an alledem die Schuld trug. Es war so minderwertig, daß die Zuleitungen der selbsttätigen Ölzuführung nicht funktioniert hatten. –

Als wir jetzt die eiserne Treppe zum Maschinenraum hinabstiegen, kam uns der Obermaschinist Blonk entgegen, machte aber sofort kehrt und sagte dann zu Harst ganz aufgeregt:

„Denken Sie, Master Harst, soeben habe ich festgestellt, daß nur gerade der Ballon Schmieröl, den wir jetzt benutzen, verdorben ist. Ich wette: jemand hat in den Ballon irgend eine Säure hineingegossen. Die anderen drei Ballons sind tadellos. – Ich will ja niemand verdächtigen. Aber – merkwürdig bleibt es doch, daß sich Ambermakry gerade jetzt erhängt hat! Er hatte die Ölausgabe unter sich. – Ich werde jetzt sofort dem Kapitän Meldung erstatten.“

„Tun Sie es!“ nickte Harst. „Gehen wir wieder mit nach oben, Schraut. Blonk hat bereits das ermittelt, was ich argwöhnte: daß das Öl absichtlich verunreinigt worden war.“ –

In Pellertans Kajüte fanden wir diesen, Blindley und auch den Lord vor.

Lord Wolpoore saß mit düsterem Gesicht in einem der Korbsessel, rief Harst nun sofort zu: „Weshalb in aller Welt hat sich der wackere Ambermakry nur erhängt?! – Ach – ich werde meines Lebens wirklich nicht mehr froh! Sein Tod geht mir sehr nahe! Wie oft bat er uns durch seine kleinen Lieder mit Ziehharmonikabegleitung erheitert!“

Harst erwiderte nichts, wandte sich nur an Blonk und bat ihn, doch einmal nach der Kabine Ambermakrys zu gehen und dessen Körperlänge genau festzustellen.

Als der Obermaschinist mit etwas verdutztem Gesicht verschwunden war, sagte Harst zu Lord Wolpoore:

„Mylord, ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß hier an Bord der India sich Dinge abspielen, die nur einen einzigen Schluß zulassen. – Gestatten Sie, daß ich diese Dinge etwas näher erörtere. Zunächst sind hier drei Ferngläser verschwunden. Sie gehören Moore, Halfing und Sinclair. Die Frage, wo sie geblieben sind, kann ich noch nicht beantworten. Aber diese Antwort ergibt sich nachher vielleicht von selbst. – Nun zu dem – angeblichen Selbstmord Ambermakrys.“

Lord Wolpoore war zusammengezuckt.

„Angeblich – angeblich?!“ entfuhr es ihm.

„Ja, Mylord. Es ist so. Der Maschinist wurde zunächst mit einer Schlinge, wahrscheinlich mit einem zu einem Strick gedrehten Tuche, halb erdrosselt und dann in die Strickschlinge am Haken hineingehoben.“

Chester Blindley war ehrlich genug, jetzt zu rufen: „Ich ahnte so etwas! Ich fand nur nicht die Beweise dafür!“

„Oh – die sind sehr einfach und sehr ins Auge fallend,“ erklärte Harst. „Als ich die Proviantkammer betrat und mit den Augen die Größe der Leiche abschätzte, dazu die ganze Länge des durchschnittenen Stricks und die Höhe des Fäßchens, das Ambermakry umgestoßen haben sollte, fehlten nach meinem Augenmaß zehn Zentimeter etwa, um es als möglich erscheinen zu lassen, daß der Maschinist, auf dem Fäßchen stehend, sich selbst hätte die Schlinge um den Hals legen können, zehn – Zentimeter an seiner Körpergröße! Meiner Überzeugung nach hätte er bei der Länge des benutzten Strickes sich die Schlinge, selbst wenn er sich auf den Fußspitzen hochgereckt haben würde, nur bis zur Hälfte der Nase etwa über den Kopf ziehen können.“

Es klopfte. Obermaschinist Blonk trat ein und meldete:

„Master Harst, Ambermakry ist 152 Zentimeter[13] groß.“

„Danke, Blonk. Bleiben Sie nur hier. Ich brauche Sie noch. – Mylord, Sie haben soeben gehört: 152 Zentimeter! Dann fehlen sogar 13 Zentimeter mindestens! Ambermakry hätte nur die Schlinge sich selbst umtun können, wenn er geschickt wie ein Akrobat auf dem Fäßchen stehend einen Sprung in die Höhe gemacht hätte. Und hiermit dürfen wir nicht rechnen. Es ist denn doch zu schwierig, es so einzurichten, daß die Schlinge dabei auch wirklich bis zum Halse hinabrutscht. Selbst wenn ihm dies nun gelungen wäre, dann hätte er ja mit den Füßen über dem Fäßchen geschwebt, hätte dieses also nicht mehr umzustoßen brauchen. Und es lag doch umgekippt unter dem Haken! – Der zweite Beweis ist der Befund der sogenannten Strangulationsmarke am Halse. Der Maschinist war klein und hager, wog vielleicht alles in allem 115 Pfund. Bei diesem Gewicht hätte die Schlinge sich nie so ungeheuer tief in den Hals eindrücken können, daß sogar blutrünstige Stellen entstanden sind. Nein – derjenige, der den Maschinisten in die Strickschlinge hob, hat den Körper des Unglücklichen mit starkem Ruck nach unten gerissen, so daß die Schlinge sich mit übergroßer Gewalt zuzog. – Weiter noch: Unterhalb der Genickwirbel sind auf der Haut zwei Flecke zu erkennen, die nur von den Daumenspitzen dessen herrühren dürften, der Ambermakry mit den Händen und einer Tuchschlinge halb erdrosselte und dabei die Daumen in das Genick einstemmte, um den Druck zu verstärken.“

„Die – die übliche Mordart der – Thug!“ flüsterte der Lord geistesabwesend und mit völlig verstörtem Gesicht.

„Schließlich der letzte Beweis,“ fügte Harst hinzu und faßte in die Tasche, holte das Strickende hervor, das er vorhin vom Haken genommen hatte. „Mylord, Blindley, – hier um diesen Strick ist ein Seidenfaden gewickelt – in sehr langen Windungen, ein Seidenfaden, der aus vier einzelnen, farbigen Fäden besteht. Ich habe nun einmal irgendwo über die Thug gelesen, daß sie für ihre zu Ehren der blutigen Göttin Kali ausgewählte Opfer zumeist geweihte Seidentücher benutzen. Vielleicht ist der Mörder des Maschinisten ein Thug; vielleicht hat er den Strick mit Fäden seines geweihten Tuches umschlungen, damit wenigstens ein Teil dieses dem Opfer den Tod gab.“

Lord Wolpoore starrte Harst entgeistert an. „Dann – dann müßte ja dieser Mörder hier an Bord sein!“ sagte er langsam und bewegte die nervös zitternde Hand hin und her, als wollte er die Länge der Jacht andeuten. „Hier an Bord! Blindley – sogleich Ihre Leute zur Bewachung meiner Frau und –“

„Das wird nicht nötig sein,“ fiel ihm Harst ins Wort. „Der Mörder ist an Bord, gewiß! Aber – er wird sich jetzt kaum sehen lassen!“

„Ja – ja, Halfing ist ja auch bei meiner Frau und den Knaben,“ nickte Wolpoore und suchte seine Angst und Aufregung zu unterdrücken.

„Der Mörder war es auch,“ fuhr Harst fort, „der das Maschinenöl absichtlich verdorben hat, um die Jacht in dieser Windstille, die seit gestern früh herrscht, an denselben Platz zu fesseln. – Blonk, nun sprechen Sie!“

Der Obermaschinist tat’s.

„Das Öl muß genau untersucht werden,“ befahl der Lord dem Kapitän. „Es muß doch festzustellen sein, was der Schurke in das Öl hineintat, damit es so schnell dick und körnig wurde.“ Dann blickte er wieder auf Harst.

Dieser erklärte nun, indem er sich an Joe Pellertan wandte:

„Kapitän, halten Sie es für möglich, daß trotz der kürzlich vorgenommenen Säuberung der Jacht von Ratten bereits so viele dieser Nager wieder hier sich eingeschlichen haben können, daß sie dem Koch Brot angenagt und Reis weggefressen haben? Er behauptet, er spüre ihre Anwesenheit schon recht unangenehm, wenn er auch noch keine gesehen hätte.“

„Ausgeschlossen!“ rief Pellertan. „Ganz ausgeschlossen.“

„Nun – dann dürfte ich wohl nicht ganz fehl gehen mit meiner Vermutung, daß Ambermakrys Mörder hier die Ratten vorstellt, das heißt, daß er von Speisen und so weiter nascht, aber dabei eben so vorsichtig ist, den Anschein zu erwecken, als hätten es Ratten getan. – Wenn wir nun noch an die drei verschwundenen Ferngläser denken, dann –“

Lord Wolpoore war aufgesprungen. „Die Jacht wird sofort durchsucht. Kein Winkel bleibt undurchforscht, keine Kiste, keine Tonne!“ sagte er mit einer Energie, die ihm wohl die Angst um die Seinen eingab. „Der Schurke kann uns alle in die Luft sprengen! Vielleicht ist er schon dabei –“

„Halt, Mylord, – halt, keine Überstürzung!“ unterbrach Harst ihn. „Diese Durchsuchung muß insofern vorbereitet werden, als wir verhindern müssen, daß der Mensch Gelegenheit findet, womöglich aus einem noch nicht durchsuchten Raum in einen bereits durchsuchten zu schlüpfen und uns so zu entgehen. Es müssen Wachen verteilt werden – überall in den Gängen, auf Deck, auf den Treppen und so weiter. Ich selbst will mit Blindley und Schraut das Schiff von oben bis unten durchforschen. Wir drei genügen. Nur noch zwei der Detektive sollen uns mit Werkzeugen begleiten, damit wir Kisten, Fässer usw. öffnen können.“

Der Lord war sehr einverstanden damit, drückte Harst wiederholt die Hand und meinte: „Mein lieber Harst, – wenn wir Sie nicht hätten! Welches Unheil hätte entstehen können!“

„Wir werden den Mann finden, Mylord!“ sagte Harst sehr bestimmt. „Ich glaube – im Proviantraum! Dort stehen ein Paar große Kisten. Und dort ist auch das Schloß der Tür ganz frisch geölt, die nach dem Mannschaftslogis führt. Haben Sie das Schloß ölen lassen, Kapitän? Nur Sie haben ja doch den Schlüssel dazu.“

„Ich – nein! Niemals!“ erklärte Pellertan. „Es ist ein englisches Kunstschloß übrigens. Mit einem Dietrich läßt es sich nicht öffnen.“ Er trat an seinen Schreibtisch, zog ein Schubfach auf, rief dann: „Verdammt – der Schlüssel ist weg.“

„Nun also!“ meinte Harst. „Mithin ist Ambermakrys Mörder selbst hier bei Ihnen gewesen, Kapitän.“

 

3. Kapitel.

Der Ventilator.

Eine halbe Stunde später begannen wir mit der Durchsuchung der Jacht. Wir fingen in der Kombüse mit unserer Arbeit an, begaben uns von da in den Vorratsraum, auf den Harst sein besonderes Augenmerk gerichtet hatte. Hier standen ja in der einen Ecke drei sehr große Kisten, von denen zwei kondensierte Milch in Büchsen, die dritte Fischkonserven in Büchsen enthalten sollten. Harst ließ diese Kisten öffnen – gleich zuerst. Aber – und sein enttäuschtes Gesicht sprach Bände! – wir fanden tatsächlich nur das darin, was als ihr ordnungsmäßiger Inhalt in Frage kam.

Nachher besichtigte Harst sogar den eisernen Wassertank ganz genau, obwohl Blindley darauf aufmerksam machte, daß dieser auf dem Oberteil doch nur eine Reinigungsöffnung von Kopfdurchmesser und eine Füllöffnung besaß, außerdem aber nach dem Wasserstandsrohr dreiviertel voll war.

„Wir können nicht sorgfältig genug sein!“ verteidigte Harst sich und begann den Raum auszumessen, um später nachprüfen zu können, ob es nicht irgendwo doppelte Zwischenwände gäbe. –

Um fünf Uhr nachmittags hatten wir die Kombüse betreten; um ½8 abends war die ganze Jacht durchforscht. Zuletzt hatten wir den Schornstein, die mit Öltuch überspannten Rettungsboote und die Ventilatoren mit derselben Genauigkeit in Augenschein genommen wie alles andere.

Der Erfolg? – Nun – es war ein vollständiger – Mißerfolg. Nirgends hatten wir auch nur die geringsten Anzeichen dafür gefunden, daß ein Fremder sich in einem Versteck an Bord aufgehalten hätte.

Jetzt schritten wir dem Achterdeck zu, wo der Lord mit den Seinen in Liegestühlen das Ende der Durchsuchung abgewartet hatte.

Harald zog einen freien Korbstuhl näher heran und setzte sich. Wir anderen bildeten einen Halbkreis um die beiden. Bisher hatte Harst sich in keiner Weise zu Blindley und mir darüber geäußert, was er jetzt von dem Morde an Ambermakry halte.

„Mylord,“ sagte er leise zu Wolpoore, „ich gebe zu, daß die Situation für uns bedrohlicher als bisher ist. Es muß sich unter der Besatzung ein Verräter befinden. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Dieser Mann muß von Ihren Feinden gewonnen worden sein. Er ist auch der Mörder des Maschinisten.“

Der alte Graubart Pellertan stampfte wütend mit dem Fuße auf.

„Master Harst, für meine Leute garantiere ich, – für jeden!“ knurrte er. „Ich kenne ihre Gesinnung ganz genau. Nicht einer ist darunter, der nicht für Seine Lordschaft durchs Feuer ginge!“

„Sie können niemandem ins Herz sehen,“ meinte Harst kühl.

„Und Sie können sich mit Ihrer ganzen Mordtheorie und mit allem anderen sehr auf dem Holzwege befinden!“ brummte Pellertan bissig. „Ambermakry hat sich selbst erhängt! Sehr einfach! Ihre sogenannten Gegenbeweise sind Spitzfindigkeiten – nichts weiter!“ – Der Alte war nur deshalb so ergrimmt, weil Harst die Zuverlässigkeit der Besatzung in Zweifel gezogen hatte.

„Lieber Kapitän, Sie werden eines Besseren belehrt werden,“ entgegnete Harst gelassen. Dann zu Lord Wolpoore gewandt: „Wir können jetzt zunächst nur eins: Vorsichtig sein! – Wir wollen jedoch diese Vorsicht mit Klugheit verbinden. Bitte, treten Sie näher heran, meine Herren. Was wir jetzt besprechen, muß unbedingt unter uns bleiben. – Ich schlage folgendes vor: Wir tun so, als ob ich von meiner ursprünglichen Annahme, Ambermakry sei ermordet worden, wieder abgekommen bin. Mag die Ansicht des Obermaschinisten, Ambermakry hätte das Schmieröl verdorben und sich dann aus Angst vor einer Entdeckung seiner Schuld selbst entleibt, nunmehr als die richtige gelten. Wir müssen eben den Mörder in Sicherheit wiegen. Deshalb darf auch die bisherige Bewachung der Jacht in keiner Weise verschärft werden. Alles muß so aussehen, als wiegten wir uns nun wieder in lässiger Sicherheit. Nur so werden wir den Betreffenden zu einem neuen Streich verführen, den ich schon zu parieren gedenke. – Mylord, Sie können mir Ihr und der Ihrigen Leben getrost anvertrauen. Wenn der Verräter nicht gerade durch einen Sprengstoff das ganze Schiff in die Tiefe schickt, vermag ich Sie mit Blindleys und Schrauts Hilfe sehr wohl zu schützen. Aber nur dann, wenn eben meine soeben geäußerten Wünsche genau befolgt werden.“

Lord Wolpoore streckte Harst impulsiv die Hand hin.

„Ja – es soll alles geschehen, was Sie anordnen, alles,“ flüsterte er. „Pellertan, ich befehle dies –! Richten Sie sich danach.“

Der Alte faßte an die Mütze. „Sehr wohl, Mylord! Mir liegt Euerer Lordschaft Sicherheit wahrhaftig am Herzen.“ –

Eine halbe Stunde später saßen wir im großen Salon beim Abendessen. Harst verstand es, die gedrückte Stimmung schnell zu beleben. Die Unterhaltung wurde zwanglos und angeregt.

Erst gegen elf wollte sich der Lord dann mit den Seinen zurückziehen. Ich sah, daß Harst ihn beiseite nahm. Sie flüsterten nur wenige Minuten miteinander.

Als die vier Wolpoores sich in ihre Schlafgemächer begeben hatten, blieben wir noch eine halbe Stunde beisammen, rauchten und plauderten. Pellertan erzählte wieder Erlebnisse aus seinen Jugendjahren, und wir hörten scheinbar aufmerksam zu.

Scheinbar! In Wahrheit lastete auf uns, die wir in die wahre Sachlage eingeweiht waren, eine Art elektrische Hochspannung. Wir waren nervös, zerstreut. Nur Harst hatte sich besser in der Gewalt.

Endlich sagten wir uns Gute Nacht. Pellertan stampfte in seine Kajüte im Mittelschiff. Wir anderen – Halfing, Blindley, Harst und ich – stiegen die Achterschifftreppe wieder hinab und verschwanden in unseren Kabinen, die auf demselben Gange auf Steuerbordseite lagen.

Harst und ich bewohnten eine der großen Luxuskabinen. Wir waren kaum drei Minuten allein, und ich hatte gerade anfangen wollen mich auszuziehen, als Harst mir zuwinkte. „Laß das, mein Alter!“ flüsterte er. „Wir bleiben nicht hier. Ich drehe das Licht sofort wieder aus.“

Er tat es. Wir standen nun im Dunkeln. Dann wurde viermal leise gegen die Tür gepocht. Harst öffnete. Ich sah, daß auch auf dem Gange draußen das Licht ausgeschaltet war, das sonst doch die ganze Nacht über brannte. Harst hatte meine rechte Hand erfaßt. Ich merkte, daß mehrere Personen in unsere Kabine huschten. Harst zog mich nun in den Gang, wo es stockdunkel war. Wir tappten weiter, betraten eine andere Kabine. Ich roch dasselbe Parfüm, das Lady Wolpoore benutzte.

„Wir sind im Schlafgemach des Ehepaares,“ raunte Harst mir zu. „Die vier Wolpoores aber werden bis zum Morgen bei uns logieren. – Ah – da kommt auch Blindley schon.“

Auch hier herrschte tiefste Dunkelheit. Ich vernahm nur ganz leise das Einschnappen eines Türschlosses und das Knacken der Riegel, die der Detektivchef vorschob.

Dann saßen wir drei nebeneinander auf dem Rande eines Bettes, Harst in der Mitte, ich links von ihm. Bisher hatten wir mit Harst in keiner Weise erörtern können, weshalb eigentlich der Mörder den armen Ambermakry umgebracht hatte. Jetzt schnitt Blindley diese Frage an. Wir unterhielten uns nur im vorsichtigsten Flüsterton.

„Der Mörder ist von Ambermakry fraglos im Proviantraum überrascht worden,“ erklärte Harst. „Bei der Durchsuchung der Jacht und der Kabine des Toten habe ich in dessen Wandschrank ein Heft mit tagebuchartigen Aufzeichnungen gefunden. Ich konnte nur flüchtig vorhin im Baderaum hineinschaun, fand aber doch ein paar Notizen, aus denen hervorgeht, daß Ambermakry auf eigene Faust einem Menschen nachgespürt hat, den er einmal nachts im Maschinenraum flüchtig erblickte.“

Harst machte eine kurze Pause. Dann fuhr er fort:

„Ich will hier einfügen, daß ich meine Meinung wieder geändert habe. Der Mörder ist doch ein Fremder, gehört nicht zur Besatzung und muß – muß sich an Bord befinden! Denn Ambermakry schreibt an jener Stelle, wo er sein Zusammentreffen mit dem Unbekannten kurz erwähnt: „Ich prallte zurück. Ich war über das braune, bärtige Gesicht und das turbanartige Kopftuch des nackten Menschen so erschrocken, daß ich kostbare Sekunden verlor, die dem Manne genügten, spurlos zu verschwinden. Wie sollte ich auch ahnen, im Maschinenraum um diese Stunde einem Eingeborenen zu begegnen?!“ – So etwa hat der Maschinist sich ausgedrückt.“

„Herr Himmel – also wirklich ein Inder!“ stieß Blindley hervor. „Wo aber – wo in aller Welt steckt der Mensch?“

„Still!“

Harsts Stimme war nur wie ein Hauch gewesen.

Ich muß noch nachholen, daß vom Deck her ein Rohr eines Ventilators in diese Schlafkabine gerade in der Mitte mündete. Auch unsere Kabine besaß einen solchen Ventilator. Ich wußte daher, daß die Ventilatoröffnung in der Decke durch ein engmaschiges Drahtgeflecht verschlossen war, welches zwar die Luft durchließ, aber sonst nicht einmal Gegenstände in Erbsengröße.

Wir lauschten; wir saßen jetzt sozusagen sprungbereit da. All unsere Sinne waren aufs äußerste angespannt; wir wagten kaum zu atmen; wir horchten, verließen uns lediglich auf unsere Ohren.

Da – ein kaum wahrnehmbares Geräusch schräg über uns.

Abermals Stille.

Nun wieder dasselbe Geräusch – etwa wie ein feines Knistern.

Es dauerte mit Unterbrechungen wohl fünf Minuten an.

Jetzt nichts mehr – nichts.

Mir lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Was ging hier vor – was?!

Dann – von draußen aus der Richtung der Kabinentür eine Stimme, halblaut, aber sehr energisch:

„Mylord – Mylord, einen Augenblick!“

Ich fühlte plötzlich Harsts Finger meinen Arm umkrallen.

Da – meldete sich Blindley anstelle des Lords:

„Was gibt’s?“ rief er. Ich hörte, daß er aufstand, – hörte dann etwas wie ein qualvolles Ächzen und einen dumpfen Schlag.

Harst ließ meinen Arm frei. Er hatte seine Taschenlampe eingeschaltet. Der weiße Lichtkegel zerteilte das Dunkel blieb nun auf etwas haften, das mir einen Ruf des Entsetzens entlockte.

Ich war hochgeschnellt. Ich stierte empor. Dort – dort – mit dem Kopf in der Ventilatoröffnung hing Chester Blindley und schlug krampfhaft mit Armen und Beinen um sich!

Harst hatte jetzt meine Schulter gepackt schob mich mehr zur Seite.

„Steh’ still!“ rief er. Dann kletterte er an mir empor, stellte sich auf meine Schultern, nahm sein Taschenmesser, öffnete es mit den Zähnen und langte an Blindleys Nacken vorbei in den Ventilator hinein.

„Fang’ ihn auf!“ rief er wieder.

Da fiel Blindley auch schon herab. Ich griff zu, ließ ihn auf den Teppich gleiten.

Und ich sah nun, daß Blindley eine Schlinge um den Hals hatte, daß der Strick der Schlinge durchschnitten war.

Harst kniete neben dem halb Erdrosselten, löste die Schlinge, trug Blindley auf einen Wanddiwan.

Der Detektivchef kam wieder zu sich. Inzwischen hatte Harst mir den Strick unter die Augen gehalten. Ich sah, daß um den Strick der gleiche bunte Seidenfaden gewunden war wie um den, der Ambermakrys Tod verschuldet hatte.

 

4. Kapitel.

Auch das Fernrohr …

Ich hatte in der Kabine schon vorhin die mattrosa Ampel eingeschaltet, nachdem ich den Detektivchef auf den Teppich gelegt hatte.

„Wie fühlen Sie sich, Blindley?“ fragte Harst und beugte sich über ihn, indem er ihm ein nasses Handtuch auf den Hals legte. „Dieses raffinierte Attentat galt natürlich dem Lord. Der Halunke erwischte jedoch den Falschen mit seiner Schlinge. Er muß ebenso geschickt wie kräftig sein. Bedenken Sie, jemandem im Dunkeln, sozusagen nur nach Gehör, in einem Ventilator hockend eine Schlinge über den Kopf zu werfen und das Opfer dann urplötzlich mit solcher Gewalt hochzureißen, daß dieses mit dem Schädel hart gegen den Ventilatorrand schlägt – das nenn’ ich eine besondere Art von Kraftkunststück!“

Blindleys Augen waren auf das offenbar mit einer Blechschere zerschnittene Gitter des Ventilators gerichtet.

„Es – müssen – also sogar zwei Leute sein!“ brachte er mühsam hervor. „Einer stand vor der Kabinentür und lockte den „Lord“ – mich – aus dem Bett! Oh – diese Schufte – diese Schufte!“

„Strengen Sie Ihre Kehle besser nicht so an, lieber Blindley!“ warnte Harst. Dann wandte er sich an mich. „Erneuere die Kompresse. Ich will mal in den Ventilator hineinklettern.“

Er baute aus einem Tisch und drei Stühlen eine Pyramide und verschwand nun mit dem Oberleibe in dem senkrecht hochgehenden Rohr. Ich sah, daß er seine Taschenlampe eingeschaltet hatte. Dann warf er das andere Ende des Schlingenstricks herab, auch einen zweiten, der ähnlich wie ein Handgriff zusammengeknotet war. Gleich darauf zog er sich völlig hoch. Auch seine Füße waren jetzt nicht mehr zu sehen.

Blindley hatte das alles gleichfalls beobachtet.

„Ich habe schon manches erlebt, Master Schraut,“ flüsterte er heiser. „Aber so etwas doch noch nicht! Nein – diese Jacht ist eine Mördergrube! Wer sind nur diese beiden Verräter unter der Besatzung, wer?! Denn jetzt wird Harst wie auch ich eingesehen haben, daß Ambermakry nur einen als Inder herausgeputzten Mann damals im Maschinenraum erblickte.“

Ich nickte nur. Selbst mir leuchtete dies ein.

Blindley stöhnte leise. Er mußte starke Schmerzen haben. Dann klopfte es gegen die Kabinentür. Es war Harst. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben den Diwan. Sein Gesicht war auffallend ernst, geradezu sorgenvoll.

„Der Mann im Ventilator muß wirklich gewandt wie ein Affe und kräftig wie ein Athlet gewesen sein,“ begann er. „An der Innenwand des Ventilators sind zwei Schrauben – inmitten der Außenhandgriffe etwas gelöst, so daß um die Schrauben starke Drähte als Schleifen befestigt werden konnten, an deren einer der Mann an dem Handgriff hing, während an der anderen Sie aufgehängt waren, lieber Blindley. Einen anderen Halt hatte der Mann nicht als den einen Handgriff. Er wird sich mit der Linken festgehalten und mit der Rechten die Schlinge dirigiert und Sie nachher hochgerissen haben. Jedenfalls war das Attentat vorbereitet. Die Schraubenmuttern müssen schon vorher gelockert worden sein. Sie waren eingerostet. Wir hätten es hören müssen, wenn der Mann sie erst in dieser Nacht um drei bis vier Windungen zurückgedreht hätte.“

Blindley erklärte nun Harst dasselbe, was er auch mir vorhin als seine jetzige Überzeugung mitgeteilt hatte: daß zwei Leute der Besatzung in Frage kämen.

Harst hatte sich währenddessen eine Zigarette angezündet, formte tadellose Rauchringe und schwieg eine Weile. Dann sagte er zu mir: „Lieber Alter, hole doch mal den Detektiv herein, der diese Nacht draußen im Hauptgang die Wache hat.“

Ich tat’s. Der Detektiv hieß Narkolly und war Blindleys bester Beamter.

„Master Narkolly, wiederholen Sie hier vor Blindley das, was Sie mir soeben erwiderten,“ meinte Harst.

„Nun, Master Harst fragte, ob ich im Gange draußen irgend jemand bemerkt hätte. – Nein, ich habe niemand bemerkt. Ich saß so auf einem Klappstuhl, daß ich sowohl den Haupt- wie den Seitengang beobachten konnte, in denen wieder Licht brannte, nachdem Seine Lordschaft nebst Familie in Master Harsts Kabine geschlüpft war. Es ist ganz ausgeschlossen, daß ein Mann vor der Tür dieser Schlafkabine gestanden und etwas gerufen haben kann. Ich war gerade heute noch wachsamer als je.“

„Danke!“ nickte Harst. Worauf Narkolly wieder auf seinen Posten zurückkehrte.

Blindley und ich schauten uns verdutzt an. – Daran hatten wir beide nicht gedacht, daß die Wache im Gange den einen Mann unbedingt hätte bemerken müssen.

Wenn nun aber kein Mensch von draußen gerufen hatte, wie sollte man dann eine einleuchtende Erklärung für die Stimme finden, die doch ganz unzweifelhaft von der Kabinentür und zwar von außen den Lord durch den Zuruf hatte wecken wollen?!

Blindley richtete sich jetzt halb auf, flüsterte ganz kopflos und verstört: „Harst – bester Harst, – soll etwa gar Narkolly mit zu den –“

Harald hatte schon sehr energisch abgewinkt. „Tun Sie doch Narkolly nicht so bitter Unrecht! – Die Lösung ist sehr einfach.“

„Ah – Bauchredner!“ rief Blindley wie befreit. „Natürlich, natürlich, – nur so kann es gewesen sein! Ich habe ja selbst schon verschiedentlich indische Gaukler gesehen, die sich unter eine Palme stellten und sich mit einem scheinbar in der Krone versteckten Gefährten unterhielten.“

Allerdings, diese Lösung war verblüffend einfach. Es blieb somit auch Harsts Behauptung voll bestehen, daß ein einzelner Mann und zwar ein Inder hier sein Unwesen trieb. – Harst schien diese meine Gedanken erraten zu haben, sagte jetzt:

„Es ist ein unheimliches Gefühl, nicht zu wissen, wo dieser Mensch steckt, der so vielseitig ist. Ich will doch mal –“

Auf Deck hatte plötzlich eine Pfeife geschrillt. Wir hörten oben mehrere Leute hin und herlaufen. Dann neigte die Jacht sich stark nach Backbord über; gleichzeitig drang ein fernes, dumpfes Brüllen an unser Ohr.

„Der Sturm kommt!“ rief Blindley. „Pellertan hat ihn richtig vorausgesagt.“

Harst und ich eilten nach oben. Im Norden blitzte es unaufhörlich. Die Stöße des Orkans fegten immer häufiger über die See hin. Wir griffen mit zu, halfen die Sturmsegel hissen. Dann prasselte eine wahre Sintflut von Regenguß herab. Die Jacht raste vor dem Sturm nach Südost. Man konnte auf Deck nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Nach einer halben Stunde waren wir aus dem Sturmzentrum glücklich heraus. Wir hatten auf der Brücke im Steuerhäuschen bisher gestanden. Als nun über uns wieder der klare Sternenhimmel blinkte und die India bei dem noch immer kräftigen Winde stolz und sicher mit ihrer Zweimastschonertakelung dahinjagte, als im Osten bereits der erste helle Streifen des heraufziehenden neuen Tages erschien, da ereignete sich das, was mich veranlaßt hat, diesem Abenteuer den Titel „Das Fernrohr Kapitän Pellertans“ zu geben.

Genauer gesagt: es hatte sich bereits etwas ereignet. Dieses Geschehnis wurde jedoch jetzt erst entdeckt.

Pellertan hatte einen Matrosen nach seiner Kajüte geschickt, um sein Fernrohr holen zu lassen. Gleichzeitig hatten wir dem Kapitän erklärt, wir würden, sobald es Tag sei, das Schiff nochmals durchsuchen. Was in der Schlafkabine inzwischen geschehen, hatten wir ihm verheimlicht. Wir wollten nun im Salon in den Sesseln noch eine Stunde schlafen. Pellertan war aber argwöhnisch geworden.

„Master Harst – nur heraus damit, es ist etwas passiert,“ meinte er, uns scharf fixierend.

Da kam der Matrose zurück. „Das Fernrohr ist nicht zu finden, Käp’ten,“ meldete er.

Harst trat sofort vor. „Wo lag es denn, Pellertan?“ fragte er hastig.

„Auf dem Wandbrett. – Unsinn – es muß ja da sein,“ brummte der Kapitän.

„Warten Sie, – Schraut und ich werden es suchen,“ sagte Harst. „Ist die Kajüte unverschlossen? Und – seit wann?“

„Seit den ersten Sturmanzeichen,“ erklärte Pellertan. „Verdammt, bester Harst, Sie machen einen ganz nervös. Sollte nun etwa auch mein altes Fernrohr –“

Harst eilte schon die Brückentreppe hinab. Ich war dicht hinter ihm. Pellertans Kajüte lag im Mittelaufbau nach Backbord zu.

Nun – das Fernrohr blieb verschwunden. Als dies nicht mehr anzuzweifeln war, setzte sich Harst auf das Wandsofa und winkte mich neben sich. Wir waren allein in der Kajüte.

„Was bedeutet das nun wieder?“ fragte ich kleinlaut. „Fraglos hat ja doch dieser geheimnisvolle Mörder nun auch das Fernrohr gestohlen. Bei der Dunkelheit und dem Wirrwarr an Deck während des Orkans konnte er recht gut hier in die Kajüte schlüpfen.“

Harst antwortete erst nach einer längeren Pause. „Lieber Alter, wenn ich wüßte, was das bedeutet! Was gäbe ich darum! Du glaubst nicht, wie sehr ich in Sorge unser[14] aller wegen bin. Der Mörder Ambermakrys spielt mit uns wie die Katze mit der Maus! Er ist ein Inder, und er wird wohl auch ein Thug sein. Es gibt ja nur diese eine Erklärung für diese über einen Zeitraum von fünfzig Jahren sich ausdehnenden Nachstellungen gegen eine einzige Familie.“ Wieder eine Pause. Harst legte mir die Hand fest auf den Arm. Seine Stimme klang fast rauh, als er dann fortfuhr: „Ich habe das Gefühl, daß sich hier ein entsetzliches Unheil vorbereitet, daß die Feinde Lord Wolpoores jetzt zum letzten Schlage ausholen. Sie müssen alles so sorgfältig vorbereitet haben, daß sie ihrer Sache völlig sicher sind. Sie müssen sich doch selbst sagen, daß dies Verschwinden der Ferngläser auffallen mußte, daß ferner, wenn das Attentat auf den Lord geglückt wäre, nach dem Mörder wie nach einem eingekreisten Raubtier hier an Bord gesucht worden wäre. Sie machen sich nichts aus einer solchen Suche! Sie wissen eben: der, den sie hier auf die India als ihr Werkzeug schickten, kann nicht gefunden werden. Und – weil dieser Mann eben nicht zu fassen ist, deshalb werden sie ihm den Befehl gegeben haben, diese für sie so günstige Situation auch voll auszunutzen. Erst sollte der Lord durch die geweihte Schlinge sterben; dann die Seinen, Frau und Kinder. Und mit diesen sehr wahrscheinlich alles Lebende hier an Bord. Die India soll – auf den Grund des Meeres geschickt werden, soll verschwinden, ohne daß jemand ahnt, wo sie ihr nasses Grab gefunden –“

Ich saß wie gelähmt da. Schon einmal hatte der Lord ja diese Möglichkeit einer Vernichtung des ganzen Schiffes nebst Besatzung kurz gestreift. Aber damals erschien mir die Gefahr gering – sogar übertrieben von seiner Seite. Jetzt ging es mir wie ein Eiseshauch über den Rücken; jetzt starrte ich Harst an und merkte, wie mir der kalte Schweiß auf die Stirn trat.

Kein Wunder, daß ich erschrocken hochfuhr, als nun plötzlich die Kajütentür aufgerissen wurde und Kapitän Pellertan hereinstampfte, als hinter ihm Chester Blindley mit umwickeltem Halse sichtbar wurde und dann noch Detektiv Narkolly folgte, alle drei mit seltsam erregten Gesichtern.

„Master Harst!“ rief Pellertan, „jetzt – jetzt ist hier an Bord ganz und gar der Deubel los! Denken Sie an: es gibt auf der India kein einziges Fernglas mehr, wenigstens kein brauchbares.“

Sehr bald wußten wir dann, was inzwischen geschehen war. Blindley war zu Narkolly in den Gang hinausgetreten, um ihn nochmals zu fragen, ob er auch wirklich sorgfältig gewacht hätte und nicht vielleicht für Sekunden eingenickt wäre. Bei diesem Gespräch hatte Narkolly erwähnt, daß er erst abends festgestellt hätte, daß aus seinem Krimstecher zwei Linsen fehlten, so daß das Fernglas nicht mehr zu benutzen war. Da hatte Blindley ihn sofort herumgeschickt und bei den anderen Detektiven anfragen lassen, wie es mit deren Ferngläsern stände. So war herausgekommen, was die davon Betroffenen bisher selbst nicht wußten: in den schärferen Ferngläsern fehlten zwei der Linsen, bei den minderwertigeren eine. – Jedenfalls: auf der India existierte zur Zeit kein einziges brauchbares Glas!

Pellertan trat jetzt an den Schrank, wo die Instrumente zur Berechnung des jedesmaligen Schiffsortes aufbewahrt wurden. Bekanntlich gehört dazu auch ein besonderes Instrument mit einem kleinen Fernrohr.

Der alte Kapitän stieß einen greulichen Fluch aus. „Auch weg – auch beseitigt!“ brüllte er und wandte sich nach Harst um.

Der hatte jetzt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Auf seiner Stirn standen drei senkrechte Falten. – Ich winkte Pellertan schnell zu. Ich kannte ja Harald. Ich kannte diese starre Ruhe an ihm, diese Stirnfalten. Es war stets das Zeichen, daß er einen neuen Weg zur Lösung irgend eines dunklen Rätsels gefunden hatte.

Wir schwiegen und warteten. Minutenlang regte sich niemand. Dann –

 

5. Kapitel.

Der linke Arm.

„Pellertan,“ sagte Harst wie geistesabwesend und schaute dabei zur Deckenlampe empor, „wir sind unterwegs nach Sumatra, wo der Lord eine große Kaffeeplantage besitzt. Er hat sich dort angemeldet – telegraphisch, so viel ich weiß. Wann werden wir in der Hafenstadt Singkel eintreffen?“

„Morgen früh – etwa gegen 6 Uhr,“ meinte der Kapitän widerwillig und fügte achselzuckend hinzu: „Was hat das aber mit dem Schuft hier an Bord zu tun, der die Ferngläser gestohlen oder unbrauchbar gemacht hat, der auch das schärfste Glas verschwinden ließ, das wir hatten, nämlich mein altes Fernrohr, das besser ist als all das moderne Zeug zusammengenommen?“

„Morgen früh!“ sprach Harst ebenso geistesabwesend vor sich hin. „Also nach 28 Stunden etwa – etwa!“

Kurze Pause. Nun schaute er Pellertan voll an.

„Wenn wir den Mörder Ambermakrys bis dahin nicht aufgestöbert haben,“ fuhr er fort und betonte die Worte „bis dahin“ sehr stark, „dann – dann sind wir alle verloren. Nein – nicht bis dahin! Wenn wir ihn bis morgen früh zwei Uhr etwa nicht in unsrer Gewalt haben, müssen wir die India in den Rettungsbooten verlassen, damit wir nicht mit ihr – in die Luft fliegen.“

Pellertan hatte sich auf eine Sessellehne gestützt.

„Master Harst, entschuldigen Sie schon: aber – sind Sie verrückt geworden?!“ rief er jetzt. „Was heißt das: in die Luft fliegen?! Und was –“

„Setzen Sie sich bitte, meine Herren,“ sagte Harst kalt. „Nur eins kann uns retten: unsere ruhige Überlegung und zielbewußtes Handeln.“ – Blindley und der Kapitän nahmen in den Sesseln uns gegenüber Platz.

Harst entwickelte ihnen dann etwa denselben Gedankengang, durch den er mir vorhin den eisigen Hauch über den Leib getrieben hatte.

„So – und jetzt zu den Ferngläsern,“ meinte er nun. „Ich behaupte folgendes: der Mann, der sich hier verborgen hält, hat genügend Sprengstoff mit, die Jacht und uns alle zu vernichten. Er will jedoch nicht selbst mit zugrunde gehen; er will noch lebend die Küste erreichen; er will aber auch die Jacht so weit ab von Land in die Tiefe schicken, daß dieses Verbrechen unbemerkt bleibt. – So, und jetzt beachten Sie bitte meine Ausführungen ganz genau. – Der Mann hat sämtliche Ferngläser an Bord beseitigt oder unbrauchbar gemacht, hat auch die Schiffsinstrumente verschwinden lassen. Er allein besitzt jetzt besonders in Pellertans scharfem Fernrohr ein Glas, das ihm – früher als uns – morgen die Küste von Sumatra zeigen wird. Dann kann er ans Werk gehen, kann seine Höllenmaschine einstellen, daß sie nach vielleicht einer Stunde irgendwo im Schiffsinnern explodiert; dann geht er von Bord; er wird ein guter Schwimmer sein; aber – er müßte fürchten, falls die See ruhig ist, im Morgengrauen durch einen Zufall dann bemerkt zu werden, wenn die India ihm schon weit voraus ist, – eben durch ein Fernglas! Diesen ihm ungünstigen Zufall, der ja zur Folge hätte, daß die Jacht wenden und ihn wieder herausfischen würde, will er unmöglich machen. Daher beseitigt er die gefährlichen Ferngläser.“

Pellertan lachte jetzt dröhnend auf, so daß Harst schweigen mußte.

„Aber Master Harst!“ rief er mit unverkennbarer Ironie, „das alles sind doch nur so weit hergeholte Vermutungen, daß –“

„Noch einen Augenblick!“ fiel ihm Harst ins Wort. „Wollen Sie mir eine andere, einleuchtendere Erklärung für dieses Verschwinden der Ferngläser geben? – Dann bitte! Dieser Mensch müßte ja ein Irrsinniger sein, wenn er – doch fraglos recht gefährliche Wagnisse! – in die Kabinen heimlich eindringt und –“

Da mischte sich auch Blindley eifrig ein. „Verzeihung, bester Harst, – ich als Detektiv stehe Ihnen bei. Mir erscheint Ihre Erklärung durchaus nicht so gesucht. Sie haben ganz recht: der Mensch kann sich nur schwimmend retten, wenn er nicht mit uns das Leben einbüßen will; er kann erst dann die Jacht verlassen, wenn er die Küste erspäht hat, so daß er nicht allzuweit davon entfernt etwa seine Schwimmtour beginnt; anderseits muß er aber auch die Jacht, wie Harst schon betonte, außerhalb Sichtweite für unbewaffnete Augen, also mindestens drei Seemeilen von der Küste ab, zerstören, damit die Vernichtung der India nicht beobachtet wird. Er wird also bis kurz vor Sonnenaufgang warten müssen, ehe er sich ins Wasser gleiten läßt. Dann ist es hell genug, um mit einem Glase den Kopf eines Schwimmers leicht zu erkennen.“

Pellertan konnte da nicht länger an sich halten. „Aber ich bitte Sie!“ meinte er erregt, „wir haben doch nun durch den Maschinenschaden einen vollen Tag eingebüßt! Wir hätten dadurch ebensogut in der Nacht in Sicht des Landes kommen können! Dann fällt Master Harsts ganze Theorie wie ein Kartenhaus zusammen.“

„Lieber Pellertan,“ erklärte Harst freundlich, „– diese Theorie bleibt in jedem Falle anwendbar. Da Sie gerade den Maschinenschaden erwähnen: daß er auf des Inders Konto kommt, ist doch wohl sicher. – Weshalb hat der Mann die Motoren nun für einige Zeit unbrauchbar gemacht? – Ich bin der Ansicht, nur deshalb tat er’s, um Zeit zu gewinnen, die seiner Rettung gefährlichen Ferngläser sämtlich beseitigen zu können. – Er wollte eben absolut sicher gehen. Ihm lag daran, daß kein Fernglas mehr benutzt werden könnte. Wann die India die Küste ansteuerte, konnte er ohnedies nicht genau wissen. Geschah es nachts, – dann hatte er eben nur besonderes Glück. Aber auf dieses Glück wollte er sich nicht verlassen. Es konnte ebenso gut am hellen Tage geschehen. Dann mußte er zunächst unbemerkt aus der Nähe der Jacht weg, mußte unter Wasser eine Strecke schwimmen, durfte stets nur für Sekunden zum Atemholen auftauchen, konnte erst weiter von der Jacht ab, die sich ja von ihm entfernte, seine Schwimmertätigkeit voll entfalten. – Das, was ich vorhin als meine Theorie entwickelte, war eben nur den Umständen angepaßt, – nämlich, daß wir morgen früh etwa gegen sechs Uhr den Hafen von Singkel anlaufen werden. – Ich betone nochmals: nennen Sie mir eine bessere Deutung für diese Fernglasdiebstähle, und ich will reumütig bekennen, daß ich mich geirrt habe!“

Pellertan jedoch ließ nur ein „Hm – hm!“ hören, zuckte wieder die Achseln und schwieg. –

Daß Harsts Beweisführung in noch überzeugenderer Art ergänzt werden konnte, sollten wir dann durch die folgenden Ereignisse erfahren. –

In der Kajüte Pellertans folgte nun eine lange Beratung, deren Ergebnis zuvörderst in einer nochmaligen Durchsuchung der Jacht bestand. Lord Wolpoore wurde von den Ereignissen der Nacht nichts mitgeteilt. Er und die Seinen sollten nicht zwecklos beunruhigt werden. Im übrigen war alles an Bord in die Sachlage eingeweiht. Es war daher erklärlich, daß wir, die Detektive und die Matrosen mit gleichem Eifer die India durchstöberten. Es wurde an den unwahrscheinlichsten Orten gesucht, sogar durch Taue, die man unter dem Schiffsboden außen entlangzog, geprüft, ob nicht etwa der gemeinsame Feind irgendwie unter der Wasserlinie hing. Man sieht: wir ließen nichts, aber auch gar nichts außeracht; wir übertrieben unsere Sorgfalt fast ins Lächerliche[15].

Es wurde auf diese Weise mittag. Alles war vergeblich gewesen – alles! – Die Enttäuschung hierüber war deutlich auf allen Gesichtern zu lesen. Flüsternd standen die Matrosen herum; Pellertan schritt oben auf der Brücke grimmig auf und ab. Harst, Blindley, Doktor Halfing und ich saßen auf dem Achterdeck und betrachteten den Lord und die Seinen, die kaum zehn Schritt entfernt an der Reling lehnten und einen Dreimaster beobachteten, der unter vollen Segeln stolz und schön unseren Kurs kreuzte.

Wir führten eine Unterhaltung, nur um zu sprechen. Ein unheimlicher Druck lastete auf uns. Harst allein hatte sich wieder so weit in der Gewalt, um seine Unruhe verbergen zu können. – Dann meldete Ingenieur Moore dem Lord, daß die Motoren wieder in Ordnung seien. Wolpoore befahl, mit Höchstgeschwindigkeit zu fahren, um etwas von der versäumten Zeit einzuholen.

Die Stunden dieses Tages vergingen uns gerade deshalb so schnell, weil wir sie so gern hätten ins unendliche recken wollen. Denn mit jeder verrinnenden Minute kam ja das Furchtbare näher, drohte uns der Untergang! Das schlimmste dabei war, daß wir nicht ein einziges Fernglas mehr hatten, mit dem wir nach der Küste hätten Ausschau halten können. Pellertan blieb dabei, daß wir früh morgens den hohen Felsgestaden der Westküste Sumatras uns nähern würden. – Abends gegen neun Uhr legten Harst, Blindley und ich uns schlafen. Wir wollten um Mitternacht wieder aufstehen. Unser Plan ging dahin, das Schiff von Mitternacht an unauffällig so zu bewachen, daß niemand es unbemerkt verlassen könnte. Wir wollten den „Feind“ eben abfassen, sobald er seine Schwimmtour antrat. Hatten wir ihn ergriffen, so sollte alles schnell in die Boote gehen; diese wieder sollten in tausend Meter Entfernung der India nahe bleiben; dann mußte sich ja in ein bis zwei Stunden herausstellen, ob die Jacht durch eine Explosion zerstört werden würde. Lord Wolpoore hatte nun doch von Harst die ganze Wahrheit erfahren. Er mußte ja seine Gattin und seine Kinder vorbereiten, damit das Einbooten rasch vonstatten ginge.

Wir wollten schlafen, um frisch zu sein. Aber wir taten kein Auge zu. Bereits um ½12 nachts waren wir oben auf der Brücke. Auf der Jacht verriet nichts, daß etwas Besonderes im Gange war. Nur die gewöhnliche Wache war an Deck. Die Matrosen hielten sich angekleidet in ihren Vorschiffkabinen auf. – Der Wind war flau, der Himmel klar. Von der Brücke konnte man das ganze Deck übersehen. – Pellertan saß im Steuerhäuschen und schwor dem Schuft blutige Rache, der ihm sein Fernrohr gestohlen hatte. Harst meinte dazu, eine Tracht Prügel mit einem Tauende tue es zunächst auch, – „falls wir den Menschen wirklich erwischen.“ – Auch den[16] Ingenieur Moore hatte die Unruhe oben auf die Brücke getrieben. Er lehnte neben uns am Geländer.

„Wenn dies der India letzte Fahrt sein sollte,“ sagte er nun finster und mit verbissener Wut gegen den unheimlichen Gegner, „dann hätte der Lord sich die Kosten für den neuen Wassertank sparen können, der noch kurz vor unserer Abfahrt auf der Werft von Daberton in Madras im Vorratsraum aufgestellt wurde und der uns so viel Arbeit machte. Dies Ungetüm ging gerade noch durch die große Ladeluke hindurch.“

Harst wandte sich plötzlich sehr hastig dem Ingenieur zu.

„Bei Philipp Daberton wurde der Wassertank eingefügt?“ fragte er.

„Ja – dort war er auch gebaut worden. Der Lord wünschte eine besondere Art von Filteranlage für das Trinkwasser.“

„Blindley!“ rief Harst da leise, „Blindley – denken Sie an die vier Siegellacktröpfchen auf dem Löschblatt bei Daberton!“

Der Detektiv meinte darauf: „Was soll das?! – Was haben denn –“

Harst ließ ihn nicht ausreden. „Ich weiß jetzt, wo der Bursche steckt!“ flüsterte er. „In dem Trinkwassertank, den die Bande, die dem Lord nach dem Leben trachtet, durch Bestechung der beteiligten Arbeiter leicht hat so einrichten lassen können, daß darin ein Raum mit einer Tür in der Außenwand für einen Menschen als Versteck geschaffen wurde. – Blindley, Schraut, – wir legen uns im Gange des Mannschaftslogis vor der stets verschlossen gehaltenen Tür des Vorratsraums auf die Lauer. Dort wird der Bursche hinausschlüpfen. In seinem Versteck dürfen wir ihn nicht überraschen. Sonst sprengt er sich und uns in die Luft.“

Morgens drei Uhr. Im Gange des Mannschaftslogis Stille und Dunkelheit. Jetzt ein ganz leises Knarren einer sich ein wenig klemmenden Tür. Dann – riß Harst die Decke von der großen Schiffslaterne, deren Lichtschein uns nun einen braunen, nackten Menschen zeigte, der entsetzt in die blendende Lichtquelle starrte. Wir sprangen zu, packten zu. Aber der Inder hatte sich über und über mit Fett eingerieben. Ein Fausthieb traf Blindley, dann raste der schlanke Bursche den Gang entlang. Harst stieß den verabredeten Pfiff aus, der die drei Matrosen oben an dem Deckausgang der Treppe alarmierte.

Wir liefen hinterdrein, hörten Flüche, Schreien, – dann einen schrillen Ruf. – Als wir auf Deck ankamen, trat uns einer der Matrosen entgegen, der sich mit einem Schiffsbeil bewaffnet gehabt hatte. Er hielt in der Linken uns einen blutigen, oberhalb des Ellbogengelenks abgetrennten braunen Arm entgegen, rief:

„Der Schuft war nicht festzuhalten. Als er sich über die Reling schwang, schlug ich blindlings zu, und die breite, scharfe Schneide tat das ihrige!“ –

Die Jacht stoppte. Während ein Boot ausgesetzt wurde, untersuchten wir den Wassertank. Harst hatte das Geheimnis sehr bald heraus. Die Eisenplatten des Tanks waren zusammengenietet. Zwei senkrechte und eine wagerechte Nietnaht waren die Umrisse einer schmalen, niedrigen Tür, von der man selbst bei genauestem Hinsehen nichts bemerkte.

Das Versteck selbst war so eng, daß der Inder darin nur hatte sitzen können. Wir fanden in diesem Sonderbehälter nicht nur die Ferngläser, sondern auch Pellertans Fernrohr – das berühmte Riesenrohr. – Aber von einer Höllenmaschine oder dergleichen war nichts zu bemerken.

Harst hatte es merkwürdig eilig, wieder an Deck zu gelangen. Er hatte Pellertans zusammengeschobenes Riesenperspektiv in der Hand, eilte damit auf die Brücke, rief dem Kapitän zu: „Da – sehen Sie es sich zum letzten Male an, Pellertan!“ – Dann – warf er es in weitem Bogen in die See, fügte hinzu: „Pellertan, es mußte sein! Es war kein Fernrohr mehr; es war eine Höllenmaschine! Der Bursche hatte die inneren Auszüge entfernt! Ein Uhrwerk tickte darin. Ihr Perspektiv sollte uns alle in die Tiefe schicken!“ –

Der Inder wurde nicht mehr aufgefischt. Er war fraglos sofort untergegangen. An dem linken, abgeschlagenen Arm war an der Innenseite des Ellbogengelenks eine Tätowierung zu erkennen, die einen Götzen mit drei Köpfen darstellte: das Zeichen der Thug! –

Eine halbe Stunde drauf setzte die India ihre Fahrt wieder gen Osten fort. Wir standen noch auf der Brücke, als Doktor Halfing, der mit seinem wiedergefundenen Fernglas den Horizont absuchte, auf Backbordseite ein Segelboot meldete. Der Morgen dämmerte bereits herauf. Trotzdem hatte das Boot am Mast eine sehr hell brennende, rote Laterne. – Harst bat Pellertan, auf den Kutter zuzuhalten. „Ich behaupte, jenes Boot ist dazu bestimmt, den Inder aufzunehmen,“ sagte er. „Daher das rote Licht am Mast. Und dieses Boot ist ein weiterer Beweis für die Richtigkeit meiner Theorie. Wir sollten es nicht bemerken! Also mußten die Ferngläser verschwinden.“

Der so harmlos scheinende Kutter floh vor der India, holte plötzlich die Segel ein und – entpuppte sich als Motorboot, das an Geschwindigkeit der Jacht weit überlegen war. Es entwischte uns.

Pellertan aber reichte Harst jetzt die Hand und meinte: „Ich gebe zu: Ihre Theorie war doch richtig! – Nur schade, daß mein braves Fernglas geopfert werden mußte!“ –

Meine Geschichte ist hiermit aus. Vorläufig war jede Gefahr für Lord Wolpoore und die Seinen beseitigt. Wir verlebten dann acht genußreiche Tage auf seiner Plantage, bis uns ein Freund des Lords bat, in Batavia „Die Gesellschaft der roten Karten“ entlarven zu helfen. – Hierüber im nächsten Bande.

 

 

Anmerkungen:

  1. Feldstecher, der erstmals im Krimkrieg (1853–1856) zur Anwendung kam.
  2. In der Vorlage steht: „Terasse“.
  3. In der Vorlage steht: „Chali“. Zwei Vorkommen geändert auf „Kali“.
  4. In der Vorlage steht: „Jokei“.
  5. Hier ist eine Zeile doppelt.
  6. In der Vorlage steht: „Verderraums“.
  7. Prismenfernglas.
  8. In der Vorlage steht: „Münchhausieaden“.
  9. Doppeltes Wort „und“ entfernt.
  10. „Käpt’en“ / „Käp’ten“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich geändert auf „Käp’ten“.
  11. In der Vorlage sind zwei Zeilen vertauscht.
  12. In der Vorlage steht: „Lagen“.
  13. In der Vorlage steht: „1,52 Zentimeter“. Zwei Vorkommen geändert auf „152 Zentimeter“.
  14. In der Vorlage steht: „unsere“.
  15. In der Vorlage steht: „lächerliche“.
  16. In der Vorlage steht: „der“.