Sie sind hier

Die Gesellschaft der roten Karten

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 26

 

Die Gesellschaft der roten Karten.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26

 

Wir waren Gäste Lord Wolpoores auf dessen großer Kaffeeplantage an der Westküste Sumatras.

Am achten Tage unserer Anwesenheit dort kehrten Harst und ich von einem Jagdausflug auf Sumpfbüffel erst gegen Abend zurück. Nachdem wir uns in unseren Zimmern in Gesellschaftstoilette geworfen hatten, da uns von dem uns zugeteilten malaiischen Diener mitgeteilt war, daß Gäste eingetroffen seien, begaben wir uns hinab in den Salon des prachtvoll ausgestatteten Wohnhauses des Plantagendirektors Weber, das gleichzeitig für den Lord und ein Dutzend Gäste besondere Räumlichkeiten besaß.

Im Salon trafen wir nur August Weber an, einen deutschen Riesen mit blondem Vollbart, der hier den Herrn über 800 eingeborene Arbeiter und ein Gebiet von fast 2000 Quadratkilometer Größe spielte.

Landsmann Weber war gleichfalls in Smoking und Lackschuhen, zwinkerte uns sofort vielsagend zu und meinte:

„Ganz hoher Besuch ist da! Ein leibhaftiger Prinz, entfernt verwandt mit dem holländischen Königshause. Er hat jedoch seiner Zeit in Europa so allerlei Dummheiten gemacht und wurde nach Batavia verbannt, wo er nun seit vier Jahren wohnt. – Gehen Sie nur in den Speisesaal. Ich wollte nur gerade nach unserem Hafen hinab an Kapitän Pellertan telephonieren, daß die „India“ sich für morgen vormittag zum Auslaufen bereithalten soll. Seine Lordschaft will seine Jacht dem Prinzen zur Rückfahrt nach Batavia zur Verfügung stellen.“

Gleich darauf wurden wir durch den Lord mit dem Prinzen Frederik von Blönheelm bekannt gemacht.

„Durchlaucht gestatten: Herr Harald Harst – Herr Max Schraut, zwei auf unserem Planeten recht berühmte Größen.“

Der Prinz, ein kleiner, beleibter Herr mit verwaschenen Augen, einer tadellosen, dunklen Scheitelperücke und dunkel gefärbtem, langgezogenem Schnurrbart, hatte sich hastig erhoben und streckte zuerst Harst, dann mir die Hand hin, rief dabei in tadellosem Deutsch:

„Wolpoore hatte mich schon darauf vorbereitet, daß ich hier die Ehre haben würde, dem genialsten Detektiv aller Zeiten vorgestellt zu werden. Herr Harst, Sie glauben gar nicht, wie ich mich freue, daß ich heute gerade Gelegenheit hatte, Freund Wolpoore zu besuchen. Endlich sehe ich Sie nun doch auch leibhaftig vor mir. Gelesen hatte ich ja schon übergenug von Ihnen.“

Ich kann nicht sagen, daß des Prinzen Schmeicheleien und übergroße Liebenswürdigkeit, zu der noch eine überhastete Sprache und eine nervöse Lebhaftigkeit hinzukamen, mir sehr sympathisch waren.

Kaum hatte Harst diesen Redeschwall Seiner Durchlaucht überstanden, als Lord Wolpoore uns einem zweiten Gast vorstellte, einem holländischen Großkaufmann namens van Wreeden, der gleichfalls in Batavia ansässig war und mit dem Lord schon jahrelang geschäftlich zu tun hatte.

Wreeden war das genaue Gegenstück zu dem Prinzen: lang, hager, wortkarg und von unerschütterlicher Ruhe.

Er verneigte sich nur vor uns und nahm sofort wieder neben Lady Wolpoore Platz.

Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich um Tiger- und Büffeljagden. Der Prinz war ein leidenschaftlicher Jäger und befand sich auch jetzt auf der Rückkehr von einer Jagdstreife[1], bei der er in drei Tagen vier Tiger erlegt hatte.

Mir fiel auf, daß van Wreeden, der ein bartloses, faltiges, tiefgebräuntes Gesicht mit ernsten, großen Augen hatte, ein paarmal verstohlen lächelte, als der Prinz von seinen Nimrodtaten[2] in der Bergwildnis Inner-Sumatras erzählte.

Wir Herren saßen nach Tisch dann auf der nach dem Meere hinausgehenden Veranda bei eisgekühlten Getränken und vorzüglichen Zigarren und ließen die weiteren Prahlereien Seiner Durchlaucht geduldig über uns ergehen.

Wir waren zu sieben dort versammelt. Außer den schon Genannten befand sich auf der Veranda noch der erste Prokurist Wreedens, ein Herr Hendrik Valdenholm, ebenfalls ein Holländer, gleich seinem Chef die Ruhe und die Zurückhaltung in Person.

Als der Prinz jetzt den Vorrat seiner haarsträubenden Nimrodgeschichten erschöpft hatte, sagte van Wreeden ganz unvermittelt:

„Master Harst (die Unterhaltung wurde in englischer Sprache geführt), hätten Sie wohl Lust, einmal Batavia zu besuchen und einige Zeit zusammen mit Ihrem Privatsekretär Master Schraut mein Gast zu sein? Außer den dortigen Sehenswürdigkeiten könnte ich Ihnen noch eine recht geheimnisvolle Angelegenheit als ein für Sie vielleicht in seinen Einzelheiten neuartiges Problem unterbreiten.“

Harst, der mit übergeschlagenen Beinen in einem Korbsessel saß, meinte liebenswürdig, er nehme die Einladung dankend an. „Ich wollte ohnedies einige Wochen jetzt die Großen Sundainseln bereisen,“ fügte er hinzu. „Ihre geheimnisvolle Angelegenheit lockt mich natürlich ganz besonders, Master van Wreeden. Wenn die anderen Herren nichts dagegen haben, könnten Sie uns die Sache mal vortragen. Gerade weil Sie, ein Mann von so kühlem Verstande, von einem für mich neuartigen Problem sprachen, muß wohl auch ganz Besonderes dahinter stecken.“

Da rief plötzlich der Prinz, indem er seine Worte fast beleidigend ironisch färbte:

„Kann mir schon denken, was Sie da in Bereitschaft haben, bester Wreeden! Natürlich diese lächerlich aufgebauschte Geschichte von den roten Karten!“

„Lächerlich aufgebauschte Geschichten würde ich Master Harst kaum zur Beachtung empfehlen,“ meinte Wreeden sehr gelassen. „Die Gesellschaft der roten Karten existiert, Durchlaucht. Das gibt ja auch unsere Polizei in Batavia zu. Nur war sie bisher nicht imstande, dieser großzügigen Diebesbande das Handwerk zu legen, wozu es nun doch wirklich höchste Zeit ist. Sie, Durchlaucht, sind nicht wie ich schon um Hunderttausende im Laufe der letzten Jahre bestohlen worden. Nur wer das gefährliche Treiben dieser Spitzbuben am eigenen Leibe – oder am eigenen Geldbeutel besser – gemerkt hat, vermag die Schädlichkeit dieser nie zu fassenden Gauner richtig zu würdigen.“

Der Prinz lachte harmlos auf. „Lieber Wreeden – da haben Sie allerdings recht. Entschuldigen Sie nur, daß ich soeben in halber Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse diesen angeblichen Geheimbund kaum für geeignet hielt, Master Harst damit zu belästigen. In letzter Zeit hat man ja auch nichts mehr von dieser Bande gehört.“

„So?!“ meinte der Großkaufmann. „Nichts gehört?! Und dabei bin ich selbst vor vierzehn Tagen wieder um Waren im Werte von 2000 Pfund Sterling bestohlen worden. Wie immer verschwanden die Kisten spurlos. Und es waren natürlich wieder nur ganz wertvolle Sachen, die nicht viel Raum beanspruchen: goldene und silberne Taschenuhren, goldene Uhrketten und sehr teure Chemikalien aus Fabriken in Deutschland!“

Harst bat jetzt, Wreeden möchte doch mehr im Zusammenhang erzählen, was er über diese „Gesellschaft der roten Karten“ wüßte. – „Der Name allein schon ist so vielversprechend,“ sagte er. „Und Batavia ohne ein Abenteuer wäre für mich nur ein halber Genuß.“

„Ja – wenn darüber nur viel zu berichten wäre!“ sagte der lange Holländer etwas erregt. „Aber leider. Das Ganze ist so, als ob man nach Nebelgestalten griffe. Ich will jedoch versuchen, Ihnen wenigstens einen leidlich klaren Einblick in diese mysteriösen Dinge zu geben, die diese Bezeichnung mysteriös wirklich verdienen.

Vor drei Jahren merkte man in Batavia zum ersten Male etwas von dieser Bande. Damals sollte von einem meiner Freunde, einem Edelsteinhändler, eine Sendung ungeschliffener Java-Diamanten nach Amsterdam abgeschickt werden. Die Edelsteine waren in ein Holzkistchen mit verlötetem Blecheinsatz[3] verpackt. Das Kistchen wurde jedoch noch vor der Abfahrt des betreffenden Dampfers gegen ein äußerlich völlig gleiches ausgetauscht. Wie und wann dies geschah, weiß kein Mensch. Jedenfalls erhielt mein Freund nach Ausreise des Dampfers eine in einem Umschlag liegende Karte zugeschickt, auf der ihm mitgeteilt wurde, daß der Dampfer lediglich Kieselsteine nach Europa bringe und daß die Diamanten sich im Besitz der unterzeichneten „Gesellschaft“ befänden, die bereit sei, die Edelsteine gegen eine Summe von 15 000 Pfund Sterling dem Eigentümer wieder auszuhändigen.

Mein Freund telegraphierte sofort nach Kalkutta, wo der Dampfer ein paar Tage liegen bleiben wollte, und ließ das Kistchen öffnen. Es enthielt wirklich nur Kiesel. So kam der Austausch der beiden Kistchen erst ans Tageslicht.

Auf der Karte aber, die die „Gesellschaft“ meinem Freunde zugesandt hatte, stand noch etwa folgendes:

„Wenn Sie Ihr Eigentum zurückerhalten wollen, so fahren Sie mit Ihrem Motorboot 15 Seemeilen nördlich von Batavia nach der Koralleninsel Butong, und zwar am 14. des Monats vormittags. In Sicht der Insel warten Sie auf ein Boot, das Ihnen die Edelsteine bringt. Sollten Sie die Polizei benachrichtigen, so sehen Sie die Diamanten nie wieder.“

Ich gebe den Inhalt dieser Schlußsätze deshalb hier so genau an, Master Harst, weil er typisch für die Diebesbande ist. – Bitte – hier ist zum Beispiel die Karte, die ich vor zwei Wochen von der „Gesellschaft“ erhielt.“

Wreeden hatte seiner Brieftasche eine blutrote Karte in Postkartengröße entnommen.

Ich trat hinter Harsts Sessel und schaute ihm über die Schulter.

Die Karte war auf der einen Seite in schwarzer Farbe bedruckt. In diesem Text waren nur dort Lücken gelassen, wo für den einzelnen Fall Änderungen des Textes nötig waren, so zum Beispiel hinsichtlich des Ortes, wo das gestohlene Gut gegen Hergabe der und der Summe zurückgegeben würde, hinsichtlich des Tages und der Summe selbst. In dem gedruckten Text waren also nur wenige Stellen offen. – Als Überschrift stand da: „Batavia, den …“, und als Anrede: „Euer Wohlgeboren!“, als Unterschrift aber: „Die Gesellschaft“ und darunter ein achtzackiger Stern, dessen Spitzen in seltsame Zeichen ausliefen.

All das war wie gesagt gedruckt. In Rundschrift mit schwarzer Tinte waren lediglich die vorerwähnten freien Stellen ausgefüllt. Der Text und so weiter war holländisch.

„Unglaublich!“ sagte Harald jetzt kopfschüttelnd. „Eine Diebesbande, die sich gedruckter Karten bedient, ist allerdings neu. Da haben Sie ganz recht, Master van Wreeden. – Die Arbeitsmethode dieser Stern-Gesellschaft überschaue ich bereits. Die Spitzbuben bieten regelmäßig das gestohlene Gut dem Eigentümer gegen – „eine Entschädigung für gehabte Mühe“ wieder an; der Austausch von Ware gegen Lösegeld findet stets auf See statt, weil die Bande wahrscheinlich ein sehr schnelles Motorboot besitzt, mit dem sie sich jeder Verfolgung entziehen kann. – Was hat denn die Polizei dagegen unternommen?“

„Alles, was in ihren Kräften stand. Aber diese Kräfte sind eben unzureichend. Außerdem erfährt die Polizei ja auch zumeist erst dann von einem neuen „Geschäft“ der Gesellschaft, wenn dieses schon erledigt ist. Jeder Bestohlene hütet sich, Anzeige zu erstatten, da er sonst seine Ware tatsächlich nie wiedersieht, wie einige Fälle bewiesen haben, wo Kaufleute die roten Karten in ihrer Wut der Polizei einreichten. Die „Gesellschaft“ ist ja so großmütig, den Wert der Ware so zu taxieren, daß der Bestohlene stets nur etwa ¾ des wahren Wertes als Lösegeld zu zahlen hat.“

„Eine Frage,“ meinte Harst lebhaft werdend. „Sie sagten soeben, daß einige Geschädigte Anzeige erstattet hätten. Dann hat man natürlich auf das Motorboot der Gauner an dem in der roten Karte angegebenen Rendezvousort gefahndet.“

„Ja – aber das Boot erschien nicht. Die Gesellschaft muß fraglos stets gewarnt worden sein. Zweimal hatte die Polizei sogar einige zwanzig Motor- und Dampfbarkassen zur Einkreisung des – „Stern-Bootes“ bereitgehalten. Doch – diese Spitzbuben sind eben nicht zu fassen, weder bei den Diebereien selbst, noch nachher bei dem Austausch von Ware gegen Lösegeld.“

Lord Wolpoore nickte Harst zu.

„Nicht wahr, lieber Harst, – ein recht leckerer Bissen für Sie!“

„Man sollte etwas derartiges nicht für möglich halten,“ meinte der Prinz. „Ich habe mich ja um diese Sache bisher nie so recht gekümmert. Ich lebe nur der Jagd und meinen Sammlungen. Jetzt denke ich in der Tat ganz anders über diese Gesellschaft der roten Karten. Würden Sie mir nicht mal die Karte herüberreichen, Master Harst? – Bester Wreeden – eine Bitte: Sie wissen, ich sammle auch Kuriositäten. Wollen Sie mir die rote Karte nicht schenken?“

„Meinetwegen, Durchlaucht.“

„Oh – vielen Dank! Ich werde sie geschmackvoll einrahmen lassen. – Master Harst, würden Sie mir nicht in Batavia die Ehre antun und mich besuchen? Ich habe da in meinem Kuriositätenkabinett sehr seltene Stücke, zum Beispiel den Kopf des Tigers in Spiritus, der die Lady Flarwaater vor zwei Jahren zerriß. Die Bestie hat noch ein Stück des Seidenkleides der armen Lady zwischen den Zähnen.“

Welch alberner Schwätzer war dieser Prinz!

Harst erklärte etwas kühl, er würde gern bei Seiner Durchlaucht in Batavia vorsprechen. Worauf der Prinz dem Großkaufmann vorschlug, morgen vormittag doch ebenfalls die Jacht Wolpoores zur Rückreise nach Batavia zu benutzen.

Wreeden hatte noch geschäftliche Dinge mit Wolpoore zu erledigen. Man einigte sich schließlich dahin, daß die India erst morgen abend in See gehen solle. Dann wollten auch Wreeden und wir die Reise gleich mitmachen. –

Eine halbe Stunde drauf trennten wir uns und gingen in unsere Gastzimmer. Die unsrigen lagen nebeneinander und hatten eine Verbindungstür. Als ich mich schon im Bett befand, kam Harst nochmals zu mir, setzte sich auf den Bettrand und flüsterte mir zu:

„Lieber Alter – was hältst Du von dieser Gesellschaft der roten Karten? – Ich selbst glaube, wir werden die Sache in kurzem zur Zufriedenheit der Kaufleute in Batavia geklärt haben. Den „Hauptmacher“ dabei kenne ich schon. Es ist zweifellos – der Prinz Frederik von Blönheelm.“

Ich fuhr ordentlich hoch im Bett.

„Wie – was – der Prinz?! – So faule Witze kannst Du Dir sparen!“ meinte ich ärgerlich, nachdem ich mir klar geworden, daß Harst, der doch bisher niemals mir von einem bestimmten Verdacht sofort Mitteilung gemacht hatte, mich nur „aufziehen“ wollte. „Du denkst wohl, mir kannst Du alles mögliche vorreden!“ fügte ich in einem Atemzuge hinzu. „Lieber Harald – so dämlich, wie Du mich einschätzt, bin ich doch nicht!“

„Bitte – ich schätze Dich sehr richtig ein, sonst wären wir nicht so gute Freunde geworden. – Von einem faulen Witz ist hier keine Rede, mein Alter. Der Prinz ist der Obermacher! Die Schwierigkeit ist nur die, ihn zu überführen. Leute wie er, die so glänzende Schauspieler sind und so tadellose Beziehungen haben, bilden eine besondere Kategorie von Verbrechern, sozusagen die Elite der Zunft! Du hast diese Durchlaucht sehr wahrscheinlich für so eine Art Simplizissimus-Figur gehalten. Nun – er ist alles andere als das! Er spielt nur den harmlosen Schwätzer! Er ist gefährlicher, als wir heute vielleicht ahnen können. – Gute Nacht. Nun überlege Dir mal noch vorm Einschlafen, ob es sehr wahrscheinlich klingt, wenn ein seit Jahren in Batavia ansässiger Herr behauptet, sich nie um die Gesellschaft der roten Karten gekümmert zu haben, obwohl er vorher von einer „lächerlich aufgebauschten Geschichte“ sprach?! Wer diesen Ausdruck gebraucht, weiß sehr gut mit dieser „Geschichte“ Bescheid, mag er die Einzelheiten auch für nicht zutreffend halten. Und wer sich so beeilt wie er, die rote Karte Wreedens mir zu entziehen, indem er sie sich schenken läßt, – wer dabei aber den kleinen Fehler begeht, die Karte selbst nur ganz flüchtig zu betrachten, der verdient ein großes Fragezeichen. – Das sind so Kleinigkeiten, ist das unwesentliche Belastungsmaterial. Über die Hauptursache meines Verdachts gegen ihn spreche ich bei besserer Gelegenheit.“

– – – – – – – –

Die Reise bis Batavia verlief ohne jeden Zwischenfall. Eines Morgens lief die India dann in den Hafen von Tandschong Priok ein.

Wreedens Ponywagen erwartete uns am Hafen. Nach kurzem Abschied von dem Prinzen, dessen Auto ihn abholte, fuhren wir auf der vorzüglichen Straße längs der Eisenbahn, die von Tandschong Priok nach Batavia neben einem künstlichen Kanal entlang führt, bis zu einer Wegeabzweigung, von der nach Süden eine Chaussee durch endlose, künstlich bewässerte Reisfelder, durch Eingeborenen- und Chinesendörfer, durch Kokospalmenanpflanzungen und Palmenhaine bis zum neuen Viertel von Batavia läuft.

Ich muß nachholen, daß Wreeden Junggeselle war, genau so wie auch der nach Harsts Ansicht so fragwürdige Prinz. – Unser leichter, von zwei Ponys gezogener und von einem Javanen gelenkter Wagen bog gerade in ein neues Kampong (Dorf) ein, als sich plötzlich das linke Hinterrad löste und der Wagen so hart mit der Achse aufschlug, daß diese sich verbog.

Nachdem wir uns von dem Schreck erholt, denn wir hatten gehörige Püffe abbekommen, und nachdem wir auch festgestellt hatten, daß der Wagen jetzt nicht mehr zu benutzen war, gingen wir drei zu Fuß weiter. Wreeden wollte in dem zumeist von Chinesen bewohnten Kampong sich nach einem anderen Gefährt für uns umsehen und ließ uns in einer recht sauberen chinesischen Teestube allein, wo wir im Schatten eines Zeltdaches an einem kleinen Tische Eislimonade tranken.

Als Wreeden nach einer halben Stunde immer noch nicht zurückgekehrt war, wollten wir ein wenig durch das Dorf wandern. Wir bezahlten unsere Zeche und traten auf die Straße hinaus, sahen uns sofort von einer Unmenge bettelnder Chinesenrangen umkreist und waren froh, diesem Geheul und Geschrei durch das Erscheinen eines leichten Bambuswägelchens zu entgehen, dessen Lenker, ein fetter Chinese, uns bedeutete, Mynheer Wreeden hätte noch eine Abhaltung, wir sollten nur vorausfahren.

Der Einspänner raste geradezu mit uns davon. Das Pferd, ein Brauner, machte dem chinesischen Kutscher viel zu schaffen. Der Gaul war eines jener angenehmen Tiere, die vor jeder Kleinigkeit scheuen, mit einem Satz zur Seite springen und dann wie besessen dahinjagen.

Gerade als wir uns einem einzelnen Gehöft näherten, sprang aus einem Reisfelde ein kleiner schlitzäugiger Knirps hervor und bewarf das Pferd mit Steinen. Dieses ging jetzt durch. Der Kutscher verlor jede Gewalt über den Gaul, und plötzlich lenkte diese Bestie dann durch den Torweg des Bambuszaunes in den Hof des kleinen Anwesens ein und raste so gegen einen Brunnenrand, daß der Wagen umkippte und wir auf einen Haufen Maisstroh flogen, der jedoch nur die Deckschicht für eine – richtige Fanggrube bildete, das heißt, – wir sanken sehr schnell samt dem Maisstroh in die Tiefe, rappelten uns freilich schnell auf, sahen aber nur noch, wie man oben über die quadratische Öffnung wieder ein Bambusgitter warf und darüber neues Maisstroh so hoch aufhäufte, daß wir sehr bald nicht einen Lichtstrahl mehr von oben empfingen.

Ich war so sprachlos über diese ungeheure Schurkerei, die ich jetzt erst voll durchschaute, daß ich kein Wort herausbekam.

Harsts kurzes Auflachen brachte mich dann etwas zu mir.

„Da sind wir ja in Batavia gleich gebührend empfangen worden!“ sagte er. „Und wir berühmte Herren lassen uns so – so einwickeln! Schämen sollten wir uns!“

Ohne unser gewöhnliches Handwerkzeug: Taschenlampe, Selbstspanner und Taschenmesser, waren wir nie. Auch jetzt nicht. Harst schaltete also seine Taschenlampe ein und leuchtete das etwa 6 Meter tiefe und drei Meter breite Erdloch ab. Es hatte Bretterwände, die stellenweise schon verfault waren.

Der Lichtkegel blieb dann auf einer Stelle der Holzverschalung haften. Ich schaute genauer hin, nahm zunächst nur etwas wie einen roten Fleck wahr.

„Siehst Du,“ meinte Harst noch immer in demselben Tone heiterer Selbstironie, „siehst Du, mein Alter, da ist sogar eine der berüchtigten roten Karten an das Holz genagelt, damit wir ja wissen, mit wem wir es hier zu tun haben.“

Er trat näher heran. Ich ebenfalls. Wir lasen gleichzeitig den vorgedruckten Text, der hier jedoch noch etwas verändert war, indem man mit Rundschrift verschiedenes über die ausgestrichene Druckschrift geschrieben hatte.

„Welche Frechheit!“ rief ich leise. „Wir beide sind als Ware behandelt worden, wir sollen für unsere Freilassung an die „Gesellschaft“ eine halbe Million Mark zahlen. Also Erpresser sind’s auch, diese Halunken.“

„Ja – und einen Scheck über diese Summe soll ich ausstellen, den die Java-Bank hier schon einlösen würde!“ fügte Harst hinzu. „Das ist in der Tat eine ganz großzügige Bande. Da – zum Schluß steht noch, ich solle auch einen Brief an Lord Wolpoore schreiben und diesen bitten, für mich bei der Bank gutzusagen!“ Eine kurze Pause. Dann ganz leise: „Ich werde den Brief schreiben! Die Halunken sollen sich wundern!“ Das klang so drohend, daß ich fragte:

„Was hast Du mit diesem Briefe vor?“

„Das wirst Du schon –“

Weiter kam er nicht. Wir standen noch immer mit dem Gesicht nach der roten Karte hin; wir hatten nicht das geringste verdächtige Geräusch gehört. Und doch wurden wir jetzt plötzlich zu Boden gerissen, während man uns gleichzeitig Decken über den Kopf warf. Ich wehrte mich verzweifelt gegen die unsichtbaren Angreifer, bis ich ganz dumpf Harsts Stimme vernahm: „Keinen Widerstand, Schraut, – zwecklos!“

Ich sah das selbst ein. – Man band mir die Hände über der Brust gekreuzt so fest zusammen, daß der Druck der Riemen mir das Atmen erschwerte. Dann führte man mich – ich zählte die Schritte mit – genau vierzig Schritt in horizontaler Richtung über dumpf dröhnende Holzdielen – also einen von der Fanggrube abzweigenden Gang entlang, bis in einen Raum, wo mir die Decke vom Kopf genommen wurde. Ich erblickte Harst vor mir, der gleichfalls in derselben Weise gefesselt war; neben mir aber einen langen Kerl in abgerissenen Leinenkittel und einer Art Zeugmaske vor dem Gesicht. An der Decke dieses kleinen Raumes, der keine Fenster hatte und dessen Wände und Fußboden aus getrockneten Lehmziegeln bestanden, hing eine sehr große, brennende Petroleumlampe mit rundem Glasschirm. Außer zwei kastenähnlichen, mit Reisstroh gefüllten Betten, einem rohen Tisch und zwei Schemeln enthielt unser Kerker noch ein Holzgestell, auf dem ein Dutzend Bücher lagen, daneben eine Löschblattunterlage, Federhalter, ein neues noch verkorktes Tintenfaß und einige weiße Bogen Schreibpapier.

Der lange, hagere Mensch, der Hautfarbe der Hände und des Halses nach ein Chinese, leerte uns nun wortlos die Taschen aus, entnahm Harsts Portefeuille das Scheckbuch, legte es auf den Tisch, legte die rote Karte, die vorhin an der Wand der Grube befestigt gewesen, daneben und deutete stumm auf Papier und Tintenfaß. Dann ging er durch die niedrige Balkentür hinaus, die nach innen zu keinerlei Drücker oder Schloß hatte, – ging stumm und mit einer gewissen sicheren Ruhe davon, die diesen Burschen als recht gefährlichen Gegner kennzeichnete.

Wir waren allein. Wir sehen uns an. Dann begann Harsts zu schimpfen, zu wettern, – so, wie ich’s noch nie von ihm gehört hatte. Er schlug mit den Füßen gegen die Tür, belegte die Gesellschaft der roten Karten mit Ehrentiteln, von denen Mörderbande noch der zahmste war. Aber – mitten zwischen diese Blütenlese von Kraftausdrücken flocht er die Sätze ein, die er mir nur kaum vornehmlich zuraunte: „Spiele die gleiche Komödie! Die Schufte müssen denken, wir meinten es ernst mit unserer Wut!“

Ich gab mir alle Mühe, genau wie er den bis zur Sinnlosigkeit Erregten vorzutäuschen. Erst nach einer geraumen Weile beruhigten wir uns, setzten uns auf die Schemel und – warteten. Es mußte ja jemand kommen und Harst die rechte Hand frei machen, wenn er den Scheck ausfüllen und den Brief an den Lord schreiben sollte.

Stunden vergingen. Nichts regte sich. Ich wurde müde. Ich legte mich auf das Strohlager. In unserer Zelle herrschte eine entsetzliche Hitze. Ich schlief ein. Als ich erwachte, sah ich auch Harst auf seiner Strohschütte liegen. Er atmete tief und ruhig. Ich empfand quälenden Hunger und Durst. Schließlich begann ich Stroh zu kauen. Dann wachte auch Harst auf, rief:

„Die Bande will uns verhungern lassen! Oh – wenn ich einen davon erwischte –! – Wie spät mag es sein, Schraut?“

„Keine Ahnung,“ sagte ich matt. Mir war so elend zumute, daß ich nicht mal sprechen mochte. – Harst erhob sich, taumelte dabei.

„Man wird verrückt in dieser stickigen Luft!“ brüllte er.

Dann schaute er zu der Lampe empor. „Das Glasbassin ist frisch gefüllt, Schraut. Es dürfte jetzt Nacht sein,“ erklärte er mit einem ärgerlichen Auflachen. „Unsere erste Nacht in Batavia!“

In der Tür war plötzlich der lange, maskierte Chinese erschienen, schritt bis zum Tisch, legte eine rote Karte darauf und ging wieder hinaus.

Auf dieser Karte stand in schöner Rundschrift auf der nichtbedruckten Seite:

„Ersparen Sie sich jedes Komödienspiel! Sie werden es schon lernen, sich wirklich zu fürchten.“

Wir lasen das Geschriebene gemeinsam, Kopf an Kopf.

Harst flüsterte: „Es war eine falsche Spekulation, diese Wutanfälle. Die Schufte durchschauen mich. Ich wollte so tun, als ob diese Äußerungen eines grimmen Ärgers auf meine Enttäuschung über meine geringe Fähigkeit, selbst eine solche Falle wie diese hier rechtzeitig durchschauen zu können, zurückzuführen seien. Aber ich habe die Intelligenz dieser Bande unterschätzt. Sie haben ganz richtig sich gesagt, daß ein Harald Harst niemals in einer solchen Lage ein solches Benehmen zeigen würde. Meine Spekulation, die Leute also glauben zu machen, ich hätte meine Kaltblütigkeit und damit meine große Überlegenheit eingebüßt, war verfehlt! – Ich weiß jetzt auch, was sie vorhaben: sie wollen uns durch Hunger und Durst erst so weit marode machen, daß wir unfähig sind, ihnen einen Streich zu spielen.“

Er richtete sich wieder auf, sagte laut – natürlich in der Annahme, daß wir ständig beobachtet und belauscht würden:

„Wir sollen also das Gruseln lernen, Schraut! Ich meine, auch in dieser javanischen Schule werden wir’s nicht lernen! Ich habe meine Nerven jetzt wieder in der Gewalt.“ –

So sprach Harst zu einer Zeit, in der wir immerhin noch leidlich bei Kräften waren. – Es begannen nun Stunden, Tage, über deren Zahl wir uns nicht klarwerden konnten. Unsere Zelle hatte, während wir schliefen, ein neues Möbelstück erhalten, daß ich hier nur seiner Beschaffenheit nach andeuten will: ein Faß mit einem Holzdeckel, das man in anderer Aufmachung in modernen Wohnungen stets ins Badezimmer verlegt. – Unser schweigsamer Wärter ließ sich nicht mehr blicken. Unsere gefesselten Arme starben uns ab; die Muskeln wurden von Krämpfen befallen. Wir litten entsetzlich. Sehr bald vermochten wir uns kaum mehr von unseren Lagerstätten zu erheben. In der von Gestank erfüllten, verbrauchten Luft trockneten unsere Kehlen aus, daß wir kaum noch sprechen konnten. Die Petroleumlampe wurde stets wieder gefüllt, ohne daß wir jemand gewahr wurden.

Nach einem bereits von leichten Fieberträumen gestörten Schlaf erwachte ich jetzt abermals zu jenem Zustand interesselosen Hindämmerns, in dem man kaum noch einen klaren Gedanken zu fassen vermag.

Dann vernahm ich ein Geräusch, das ich langsam seiner Eigenart nach erkannte: das Kratzen einer Feder auf Papier.

Mein matter Blick richtete sich auf einen Mann, der an dem Tischchen unter der Lampe saß und mühsam Wort für Wort mit der Feder hinmalte: Harst! – Harst mit ungefesselten Armen! Vor ihm auf dem Tisch ein Wasserkrug aus rotem Ton, aus dem er hin und wieder einen Schluck nahm.

Die Feder kratzte weiter, geführt von einer zitternden Hand.

Und an der Tür lehnte unser Wächter mit über der Brust gekreuzten Armen, – das Bild lässigen Sicherheitsgefühls und Kraftbewußtseins.

Dann sagte Harald mit rauher, ganz fremder Stimme: „Da – Scheck und Brief sind fertig!“

Der lange, gelbe Kerl mit dem Zeuglappen vor dem Gesicht nahm beides entgegen, kam dann auf mein Lager zu und schnitt meine Riemen durch. Wie Bleiklötze sanken mir die Arme herab.

Der Wächter verließ die Zelle. Harst stand schwerfällig auf, stützte sich auf den Tisch, benutzte dann den Schemel als Stock und schwankte mit dem Wasserkrug zu mir hin.

Ich trank, bis Harst mir den Krug von den Lippen nahm. Dann holte er genau so schwerfällig von dem Wandbrett eine Schüssel mit gekochtem Reis, formte Kügelchen und fütterte mich. Gleich darauf war ich wieder eingeschlafen. Als letztes merkte ich, daß Harst meine Arme massierte.

Wieder erwachte ich. Harst schlief jetzt. Ich taumelte nach dem Wandbrett, stillte meinen Hunger aus der Schüssel, trank Wasser dazu. Ich hatte mich an den Tisch gesetzt. Auf der Tischplatte links lag ein beschriebener Bogen Papier. Harsts Handschrift war nur schwer zu erkennen.

Es war der an Lord Wolpoore gerichtete Brief. Ich las folgendes:

Mylord!

Wir werden irgendwo in strenger Haft gehalten. Selbst einem Manne wie Ihnen, jedenfalls keinem einzelnen Menschen, wäre es möglich, uns in diesem Hause zu finden. Hinter uns her wird man jetzt mit größtem Eifer von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf suchen. Alles umsonst! Wo wir verborgen sind, kann nicht einmal Wreeden ahnen, der sich fraglos Vorwürfe macht, daß er sich von uns trennte. Schnelle Besorgung von einer halben Million Lösegeld bringt uns die Freiheit und Rettung. Es tut not, daß Sie bei der Java-Bank dafür sorgen, daß mein Scheck schnell eingelöst wird. Mein Guthaben auf der Deutschen Bank in Berlin beträgt jetzt genau 456 836 Mark. Ich bin also für eine halbe Million stets gut. Meine Kontonummer dort ist 4891234. Meine Telephonnummer in Berlin ist Schmargendorf 1245. Bitte erledigen Sie alles Nötige. Dank im voraus

Ihr

Harald Harst.

Dieselben Wörter, die in diesem Briefe hier stärker gedruckt sind, waren auf dem Original mit roter Farbe oder Tinte in derselben Weise kenntlich gemacht.

Daß dies nicht durch Harst geschehen, lag auf der Hand. Ich las jetzt diese Wörter der Reihe nach, und – da sah ich mit einem Male völlig klar. Denn der Sinn dieser Sätze sagte genug. Lauteten sie doch:

In einem einzelnen Hause hinter Dorf, wo Wreeden sich von uns trennte. Schnelle Rettung tut not.

Harst hatte diese Sätze also versteckt in den anders lautenden Brieftext hineingebracht, um Wolpoore auf unsere Spur zu leiten. Und natürlich hatte er sie niemals irgendwie gekennzeichnet, diese Wörter! Nein – rot unterstrichen hatte sie ein anderer, der sie richtig herausgefunden und zusammengestellt hatte. Und dies konnte nur einer von der Gesellschaft der roten Karten gewesen sein!

Einer? – Wer? – Und – da fiel mir wieder der Prinz Blönheelm ein, den Harald ja für das Haupt dieser Bande hielt.

Blönheelm?! – Aber – wie nur hatte er es fertig gebracht, diese Wörter und Sätze mit ihrer so schwerwiegenden Bedeutung zu entdecken?! Und – wie hatte Lord Wolpoore sie finden sollen, wenn die Wörter nicht irgendwie gekennzeichnet waren?!

Ich saß da, starrte auf den Brief und – erkannte, daß ich mir soeben irrtümlicherweise eingebildet hatte, jetzt in allem, was dieses Schreiben betraf, klar zu sehen.

Nur eins war sicher: man hatte den Brief hier wieder auf den Tisch gelegt mit diesen rot unterstrichenen Wörtern, damit Harst merken sollte, daß man seine List durchschaut hätte, – eine List, die auszuklügeln und unter den Augen des Wächters ohne langes Überlegen zu Papier zu bringen einem durch Hunger und Durst halbtoten Menschen geglückt war!

– – – – – – – –

Rechts von mir eine Stimme: „Schade! Ich habe die Leute wieder unterschätzt! Es war abermals eine verfehlte Spekulation – total verfehlt! Das lag aber nur an meiner körperlichen und geistigen Abspannung. Ich fand eben im Augenblick nichts Besseres!“

Ich hatte mich umgewandt. Harald saß aufrecht auf seinem Lager.

„Lieber Alter,“ fuhr er fort, „die roten Striche kann ich von hier sehr gut sehen. Ja – ja, nun ist die halbe Million futsch! Na – trösten wir uns; wir gewinnen dadurch die Freiheit! – Bitte, dreh’ doch mal den Bogen um! Vielleicht –“

Ich hatte es schon getan. Und da stand in schöner Rundschrift folgendes:

Harald Harst sollte anderen Leuten auch soviel Geist zutrauen wie Lord Wolpoore oder besser dessen Detektivchef Blindley! Das Guthaben von 456 836 Mark und die beiden anderen Zahlen waren für uns als Wegweiser zum Auffinden des versteckten Sinnes zu plump gewählt!

Schnell drehte ich den Bogen abermals um. Mir war ein Licht aufgegangen! Mit dem vierten Worte des Brieftextes begann der versteckte Sinn. Von diesem vierten Worte an gerechnet war wieder das fünfte das zweite der geheimen Mitteilung – und so fort, wobei für die Zahlen über 9 die Einer gesetzt waren –!

Und – das hatte ich, Harsts getreuer Begleiter, nicht herausbekommen! Aber – die Gesellschaft der roten Karten war so klug gewesen – klüger also als ich! –

Auf der anderen Seite stand jedoch noch etwas in Rundschrift und zwar:

„Der Brief an den Lord ist nochmals sofort zu schreiben in demselben Wortlaut wie hier angegeben.“

Dann schloß sich dieser Briefentwurf an.

Harst kam an den Tisch. „Mach’ mir bitte Platz. Ich will also schreiben, wie’s unsere Kerkermeister wünschen!“

Kaum war er damit fertig, als die Tür lautlos aufging und der lange, so unheimlich stumme Wächter eintrat, den neuen Brief ergriff und wieder verschwand.

„Der Kerl macht mich nervös,“ sagte Harst halblaut. „Ich würde ihn gern zu bestechen versuchen, daß er uns fortläßt. Aber – man kann ja kein Wort mit ihm wechseln.“

Er hatte sich in dem Stuhl weit zurückgelehnt. „Ich muß mir Bewegung machen,“ fuhr er fort. „Gib mir bitte Deinen Schemel. Ich will ihn als Hantel mitbenutzen.“ – Er erhob sich, begann mit den Schemeln Freiübungen, bis – bis er plötzlich so stark gegen das gläserne Lampenbassin stieß, daß dieses zersplitterte, das Petroleum zusammen mit den Splittern auf den Lehmboden fiel und die Lampe nun sehr bald trüber und trüber brannte.

Harst hatte bei dem scheinbaren Mißgeschick ärgerlich gerufen: „Nun werden wir bald im Finstern sitzen! Ein solches Pech!“

Jetzt glühte der Docht nur noch ganz schwach. Da – dicht neben mir Harsts leise Stimme: „Es war die Probe, ob wir auch jetzt beobachtet werden! Wenn der lange Halunke nach drei Minuten nicht erscheint, beginnen wir!“

Niemand kam. Es war jetzt völlig dunkel in unserem Kerker.

„Ich hole die Lampe herab,“ flüsterte Harald. „Das Eisengestell ist stark genug für die Lehmwände, wird uns zwei kleine Brecheisen liefern. Der lange Kerl ist natürlich mit dem Brief sofort zu seinem Chef geeilt – zu Seiner Durchlaucht! Damit rechnete ich! Daher meine Freiübungen!“

Dann – dann kamen zehn Minuten, wie ich sie nicht wieder erlebt habe. Nie wieder habe ich so ohne jede Rücksicht auf meine Hände mit einem kantigen Eisenstab gearbeitet wie damals. Wir hatten die Wand gegenüber der Tür in Angriff genommen; wir hatten bald ein mannsbreites Loch hergestellt; aber dahinter gab es eine Luftschicht von etwa 20 cm Breite und dann eine zweite Lehmziegelmauer. Auch diese bewältigten wir. Harst schlüpfte hindurch; ich folgte. Wir standen hart an der Böschung eines drei Meter breiten Bewässerungsgrabens. Das Häuschen aber, in dem unser Kerker gelegen hatte, war das Stallgebäude des einsamen Gehöfts.

Harst stieg schon in den Graben hinab. Gleich darauf waren wir in einem Reisfelde verschwunden.

„Jetzt hin zu Wreeden!“ meinte ich. „Und dann diesen Halunken an den Kragen!“

„Ich denke auch gar nicht daran!“ lachte Harst vergnügt. „Nein – wir werden im Bogen von vorn an das Wohnhaus heranschleichen.“

Er eilte mir schon voraus. – Ich will die nächsten Ereignisse nur kurz streifen. Sie sind nicht allzu wichtig. Wir klopften vorn an die verschlossene Haustür. Eine unheimlich fette, schmierige Chinesin öffnete, kreischte auf vor Schreck, wurde von Harst mir in die Arme geworfen. „Halte sie fest!“ rief er.

Er lief ins Haus hinein, kehrte nach drei Minuten etwa zurück, schwang ein großes Bündel in der Hand, gab der Chinesin einen Stoß, daß sie ins Haus zurückflog, und zog mich über die Straße in ein Palmenwäldchen hinein.

Das Bündel enthielt nicht nur all unser Eigentum, sondern auch zwei Chinesenkittel von sehr fragwürdiger Sauberkeit.

„Wie sicher die Schufte sich fühlten,“ meinte Harald, „beweist die Tatsache, daß unsere Sachen in einem Schranke im Zimmer des Hausherrn ganz offen dalagen.“

Wir verbargen uns dann, aßen uns an Feigen und dem Fleische reifer Kokosnüsse satt und warteten bis zum Abend, ehe wir uns, jetzt zwei dreckige, krumme Chinesen mit Kopftüchern um die mit dem Blütenstaub einer großblumigen Pflanze leidlich gelbbraun gefärbten Gesichter, auf den Weg nach dem Konningsplein (Königsplatz) im Europäerviertel machten, an dem Wreedens Junggesellenheim lag. Harst fand sich ganz gut bis dorthin durch. Niemand beachtete uns.

Wie alle Häuser der Europäer im neuen Batavia besaß auch das Wreedensche einen ausgedehnten Garten, war sehr geräumig mit flachem Dach, einstöckig und hatte eine sehr breite, umlaufende Veranda, glich mithin ganz den indischen Bungalows. Der Holzzaun des Gartens war leicht zu überklettern. Wir strebten nun von rückwärts mit äußerster Vorsicht dem Hause zu. Harst rechnete damit, daß es von Mitgliedern der Gesellschaft der roten Karten beobachtet würde, da diese nach unserer Flucht uns gerade hier vermuten mußten.

Es war inzwischen elf Uhr nachts geworden. Als wir der Vorderfront schräg gegenüber hinter ein paar Büschen hockten, kehrte Wreeden im Wagen von irgendwoher zurück. Gleich darauf wurden zwei Fenster hell. Wreeden trat einen Augenblick an die Verandabrüstung vor diesen Fenstern und verschwand dann wieder.

Da – gerade als wir nun auf die Veranda schleichen wollten, glitt eine Gestalt über den Grasplatz vor dem Hause und dann die Verandatreppe empor.

„Unser Wächter!“ flüsterte Harst. „Ihm nach! Den Kerl müssen wir haben!“

Lautlos krochen wir die Treppenstufen nun gleichfalls hinan. Der aus den beiden Fenstern fallende Lichtschein zeigte uns den Spion, der vor dem einen Fenster kniete und ins Zimmer lugte.

Harst hatte ihn wenige Sekunden später bei der Kehle und streckte ihn durch einen Schläfenhieb mit dem Pistolenkolben zu Boden.

Wreeden traute seinen Augen nicht, als wir nun durch das offene Fenster zu ihm hineinstiegen. Er hatte am Schreibtisch gesessen.

Der Chinese trug jetzt keine Maske. Es war ein Mann in besten Jahren mit dünnem Schnurr- und Kinnbart. Wir fesselten ihn. Er kam bald wieder zu sich. Aber – er blieb stumm. Harst versprach ihm 10 000 Mark und möglichste Straffreiheit. Nichts machte auf den kaltblütigen Halunken Eindruck. Er wurde in eine Kammer getragen und dort eingeschlossen.

Auf Harsts Wunsch saßen wir nun im Dunkeln in Wreedens Arbeitszimmer, rauchten und erörterten das Geschehene. Der Holländer war sprachlos über die Raffiniertheit, mit der wir durch ein scheinbar durchgehendes Pferd in jene Falle hineingeführt worden waren. Er hatte jenen Wagen natürlich nicht für uns bestellt gehabt, war vielmehr von einem chinesischen Kaufmann, einem der gelben Millionäre Batavias, in einer der Dorfstraßen in ein geschäftliches Gespräch verwickelt worden, das ihn sehr lange aufgehalten hatte.

„Wie heißt dieser Chinese?“ fragte Harst jetzt.

„Lian Tschio,“ erwiderte Wreeden. „Es ist einer der anständigsten und ehrlichsten Chinesen hier, feingebildet und sehr angesehen.“

„Und doch ein Mitglied der „roten Karten“ und ein Genosse des Prinzen Blönheelm!“ meinte Harst leise.

Ich konnte mir Wreedens Gesicht bei dieser Eröffnung recht gut vorstellen. Zu sehen war ja nichts als die glimmenden Zigarren.

„Wessen?!“ fragte der Holländer schnell. „Blönheelms?!“

„Ja. Der Prinz dürfte das Oberhaupt dieser Bande von Spitzbuben sein, die ihr Gewerbe mit Hilfe gedruckter Karten treiben. – Besitzt Blönheelm vielleicht ein Motorboot?“

„Allerdings. Es ist weiß gestrichen wie alle hier. Aber – es läuft keine 15 Knoten. Und das der „Gesellschaft“ schafft bequem 25 Knoten. Im übrigen ist das auch sehr gleichgültig, bester Harst, denn der Prinz ist ein harmloser Narr – nichts weiter. Drüben in Holland hat er geradezu kindische Streiche gemacht. Er ist mit seinen Verwandten gänzlich zerfallen, will von innen nichts mehr wissen. Wenn mal einer davon hierher kommt, reist er ins Innere, nur um einem seiner Sippe nicht zu begegnen.“

„Und doch ist Blönheelm der – Obermacher der „roten Karten“!“ erklärte Harst sehr bestimmt. „Die Beweise hierfür erhielt ich schon auf der Plantage Lord Wolpoores. Als ich mir Ihre rote Karte, die sich dann Blönheelm schenken ließ, ansah, ganz besonders den Sternstempel mit den Zacken und den merkwürdigen Arabesken an den Spitzen, als ich schließlich hier an den Sternspitzen dieselben Buchstaben wie in Blönheelms Namen feststellte, freilich durcheinander gemischt, da –“

„Ah – das wäre allerdings –“

„– da,“ fuhr Harst, Wreeden unterbrechend, fort, „– da gewann das, was ich vorher als Belastungsmaterial gegen Blönheelm gefunden und was ich Schraut bereits damals mitgeteilt hatte, eine sehr schwerwiegende Bedeutung, da hatte ich allen Grund, mich auf der Jacht so etwas an des Prinzen malaiische Diener und Jagdgefährten heranzumachen und aus diesen beiden Leuten herauszulocken, daß Seine Durchlaucht gar nicht auf der Tigerjagd gewesen war, als er bei Wolpoore einkehrte, sondern ziemlich direkt von Batavia nach der Plantage gereist war und zwar – geben Sie acht, Wreeden! – immer hinter Ihnen her! Ich behaupte nun, Blönheelm wußte aus den Zeitungen, daß ich als des Lords Gast dort weilte; er wußte ferner, daß Sie mit Wolpoore dort Geschäfte hatten; er sah voraus, daß Sie mir nahelegen würden, der Gaunerbande der roten Karten hier einige Aufmerksamkeit zu schenken; er wollte wissen, ob ich Ihre Bitte –“

– – – – – – – –

Harst schwieg. Durch die offenen Fenster war plötzlich vom Garten her lautes Rufen, Gelächter und Stimmengewirr zu uns hereingedrungen.

Jetzt vor der Veranda eine heisere, helle Stimme:

„Wreeden – hallo! Wir sind hier zu vieren und haben Durst auf Ihren alten Rheinwein, kommen gerade aus dem Klub –! Wreeden – raus aus dem Bett, aufgemacht! Hier stehen vier halbvolle, die – ganz voll werden wollen.“

Offenbar war dieser Herr stark bezecht.

„Der Prinz!“ flüsterte Wreeden.

„Ah – wie schlau!“ meinte Harst. „Lassen Sie sie ein! Aber nicht hier. Der Zigarrenrauch könnte verraten, daß Sie schon Gäste haben. Können Sie uns irgendwo verbergen?“ – Harst hatte noch mehr Wünsche. Wreeden verstand schnell, worauf es ankam. –

Zehn Minuten später. – Harst und ich hatten in der Bibliothek Wreedens hinter einem indischen Vorhang Platz gefunden, der eine Tür verdeckte und durch einen Stern von Lanzen eingeborener Stämme halb verdeckt wurde. Drei Meter vor uns saßen Wreeden und die vier Klubmitglieder um den großen Tisch in Ledersesseln und tranken aus grünen Römern goldgelben Rheinwein.

Daß der Prinz nur Trunkenheit vortäuschte, merkte ich an Kleinigkeiten. Und daß er nur hierher gekommen, um zu sehen, ob wir, seine Opfer (denn nur auf seinen fraglos der Jacht vorausgeschickten Befehl waren wir ja hier in Batavia in solcher Weise empfangen worden!) bei Wreeden bereits nach unserer geglückten Flucht eingetroffen seien, war ebenso offensichtlich.

Harst und ich hatten in den Vorhang kleine Löcher in Augenhöhe gebohrt. Nichts entging uns – kein Wort, keine Miene des Prinzen, den wir gerade vor uns hatten.

Wreeden machte seine Sache sehr gut. Er begann von unserem Verschwinden zu sprechen.

„Ich wette, die beiden Deutschen sind der Gaunerbande sehr dicht auf den Fersen,“ sagte er jetzt. „Ich habe zwar von Harst seit diesen vier Tagen – nein fünf sind es ja! – weder etwas gesehen noch gehört, aber eine ganz bestimmte Tatsache gibt mir die Gewißheit, daß ich mich nicht irre.“

„Tatsache?!“ lachte Blönheelm ironisch. „Welche denn?!“

„Nun – die Tatsache, daß ich jetzt herausgefunden habe, daß irgend jemand absichtlich am linken Hinterrade meines Wagens die Buchsenschraube gelockert hat, damit der Wagen nach einiger Zeit das Hinterrad verlöre und unbrauchbar würde. Ich nehme nun an, daß Harst dies auch argwöhnt und daß er jetzt den Mann sucht, der am Hafen, als der Wagen dort wartete, sich an diesem zu schaffen machte.“ – Wreeden war wirklich ein gelehriger Schüler. Genau so hatte Harst ihm diese Sätze vorher in den Mund gelegt.

„Aber bester Wreeden, weshalb sollte denn jemand Ihren Wagen haben beschädigen wollen?!“ rief der Prinz überlaut und lachte abermals ironisch auf.

„Ja – das weiß ich nicht. Aber eins weiß ich: daß ich jetzt, wo Harst in Batavia ist, endlich wagen werde, meine Sammlung ungeschliffener Edelsteine nach Amsterdam zum Schleifen zu senden. Morgen nachmittag 5 Uhr verläßt der große Frachtdampfer „Antje von Grooningen“ den Hafen. Der nimmt den kleinen Lederkoffer mit, in dem mein steinerner Schatz in einer Stahlkassette[4] ruht. Kein Mensch ahnt etwas davon, daß die Antje diesmal Edelsteine im Werte von einer Million davonführt. Sie, meine Herren, werden ja schweigen.“ –

– Die Falle war gestellt! Nun sollte sich zeigen, ob sie auch nach Wunsch zuklappen würde. –

Blönheelm hatte es plötzlich sehr eilig, nach Hause zu kommen, gähnte dauernd und sagte dann beim Abschied zu Wreeden:

„Sie müssen mir sofort mitteilen, wenn Harst sich bei Ihnen sehen läßt. Im Vertrauen: ich glaube ihm einen Weg angeben zu können, wie er der Gaunerbande auf die Spur zu kommen vermag.“

„Was Sie so alles behaupten, Durchlaucht!“ meinte Wreeden kopfschüttelnd. „Sollten Sie nicht etwas renommieren?!“

„Darüber mag Harst entscheiden. Jedenfalls: sobald er sich hier einfindet, telephonieren Sie mich an, und wenn es mitten in der Nacht ist.“ –

Der Prinz wohnte im östlichsten Teile der Europäerstadt, in Weltevreden. Wir waren ihm dicht auf den Fersen geblieben. Nachdem er sich von seinen drei Freunden getrennt hatte und wir drei, freilich in Abständen von fünfzig Schritt, in eine genau nach Nordost verlaufende Straße eingebogen waren, bemerkten wir in weiter Ferne einen Feuerschein. Blönheelm blieb bei einem der eingeborenen Polizisten stehen. Als wir denselben Beamten dann fragten, wo es brenne, erwiderte er, danach hätte soeben auch Seine Durchlaucht gefragt. Nun, das Feuer wüte schon zwei Stunden, und zwar sei es ein dem chinesischen Millionär Lian Tschio gehöriges Gehöft, das dort in Flammen stehe. „Der Verwalter seiner Reispflanzungen wohnt dort, auch ein Chinese,“ fügte er hinzu.

Wir dankten bescheiden und gingen[5] weiter. Der Polizist hielt uns sicher für chinesische Kulis, die hier noch fremd waren. –

Eine halbe Stunde drauf – es war genau 2 Uhr morgens – verließ ein dicker Chinese das elegante Haus des Prinzen und wanderte gemächlich der Altstadt von Batavia zu. Ihm folgten zwei schmierige, andere Chinesen bis vor das Gartentor eines am Hauptkanal gelegenen Grundstücks.

Inzwischen war es bereits ziemlich hell geworden und in der Altstadt herrschte ein so lebhafter Verkehr, wie dies nur in einem so buntscheckigen Ameisenhaufen wie Batavia möglich ist, wo die farbigen Bewohner sehr früh ihre Tagesarbeit beginnen.

Wir mit unseren nur ungenügend gefärbten Gesichtern mußten nun doch fürchten, daß wir bei zunehmender Tageshelle auffallen würden. Nachdem wir von einem kleinen chinesischen Bengel, der einen einräderigen Karren mit Früchten vor sich herschob und seine Waren in allen Sprachen mit schriller Stimme anpries, allerlei eingekauft und dabei erfahren hatten, daß das Grundstück dem „großmächtigen, sehr ehrenwerten und sehr reichen Lian Tschio“ gehörte, wählten wir eine verfallene, leerstehende Bambushütte in einer Seitengasse als vorläufiges Quartier, aßen und streckten uns zum Schlafe aus. Wir waren beide jetzt mehr tot als lebendig. Nach den Aufregungen der verflossenen Tage folgte nun der Rückschlag. Entkräftet wie wir waren, mußte dieser Rückschlag sich auch in vollständiger Erschöpfung bemerkbar machen. Ich schlief sozusagen schon während unserer bescheidenen Mahlzeit ein, hörte nur noch halb hin auf das, was Harst sprach, obwohl doch einige seiner Bemerkungen gewiß derart waren, daß man aufmerksam werden mußte. Als letztes hörte ich noch, wie Harst seine Taschenweckuhr aufzog und sagte „Um elf Uhr müssen wir den Polizeidirektor aufsuchen.“ –

Harst weckte mich. So schlaftrunken ich auch noch war: ich hörte sofort, daß sich gerade jetzt eines der hier so häufigen schweren Gewitter über Batavia entlud. In strömendem Regen eilten wir nun auf die Straße, fanden einen der leichten, einspännigen Mietwagen und ließen uns von dem javanischen Kutscher, der von zwei so fragwürdigen Gestalten Vorausbezahlung verlangte, nach Weltevreden fahren, wo am Waterlooplein (platz) das Regierungsgebäude und die Polizeidirektion liegt. Als wir den Herrn Polizeidirektor zu sprechen wünschten, lachte uns der Pförtner ins Gesicht. Dreckige Kulis und diese Bitte – eine Frechheit!

Schließlich wurde ein vorübergehender, breitschultriger Holländer auf uns aufmerksam. Wir standen noch mit dem Pförtner in der Vorhalle. Der in tadellos weißes Leinen gekleidete Holländer fixierte uns scharf. Dann trat er näher. Ich hörte, wie Harst hastig ihm zuflüsterte – auf Deutsch:

„Harald Harst. – Bitte unauffällig. Möchte Sie allein sprechen.“

Der Herr schickte den Pförtner weg, winkte uns und ging uns voran in den ersten Stock hinauf.

Wir hatten Glück gehabt: es war der Leiter der Kriminalpolizei der Residentschaft Batavia, der Polizeirat Baron van Zeerten.

In van Zeertens Dienstzimmer gab es dann eine sehr lebhafte Unterhaltung zwischen dem Polizeirat und Harst, nachdem der liebenswürdige, lebhafte Holländer unverhohlen seiner Freude darüber Ausdruck gegeben hatte, daß er Harst nun endlich auch persönlich näher treten dürfte, von dem er schon so viel gehört hätte.

Harst ging sofort auf sein Ziel los, fragte, was der Baron von dem Prinzen Blönheelm hielte.

Zeerten wurde stutzig. „Daß Sie hier sozusagen beruflich tätig sind, Herr Harst,“ meinte er, „beweist ja schon Ihr und Ihres Freundes Kostüm. Hat der Prinz mit Ihrer hiesigen Aufgabe etwas zu tun? – Blönheelm ist nämlich ein guter Bekannter von mir. Und Ihre Frage nach ihm macht ja fast den Eindruck, als ob Sie –“

„– ja – als ob ich diesem Blönheelm nicht ganz traute. Es ist auch so. Der Mann ist ein Verbrecher, sogar das Oberhaupt der berüchtigten „roten Karten“!“

Zeerten lächelte ein wenig überlegen. „Herr Harst, wenn Sie auch Weltruf als Detektiv besitzen, – hier sind Sie auf falscher Fährte. Blönheelm ist ein harmloser – na, sagen wir – Schwätzer. Nichts weiter. Dabei aber eine Seele von Mensch.“

„Hat er mit Ihnen nicht recht oft über die Gesellschaft der roten Karten gesprochen? Haben Sie ihm nicht jedes Mal mitgeteilt, wenn die Hilfe der hiesigen Kriminalpolizei von einem der Geschädigten angerufen worden war?“

„Allerdings. Blönheelm ist ja so absolut verschwiegen, daß –“

„Schon gut. – Hat der Prinz nach seiner Übersiedelung hierher Ihre Bekanntschaft gesucht? Besinnen Sie sich bitte genau. Ich vermute nämlich, daß er nur Ihr Freund wurde, um Sie aushorchen zu können.“

Der Baron machte plötzlich ein ganz anderes Gesicht.

„Donner noch eins, Herr Harst, Sie verstehen es, einen mißtrauisch zu machen!“ rief er leise. „Allerdings – ich wunderte mich damals, daß der Prinz gerade mir so sehr liebenswürdig entgegenkam und –“

„Danke. Das genügt mir. – Gibt es hier einen Herrn, der den Prinzen bereits von Holland her kennt?“

„Allerdings. Der Verwaltungsrat van Druysen ist Blönheelm mal im Haag flüchtig vorgestellt worden.“

„Hm – da war Seine Durchlaucht freilich seiner Sache ziemlich sicher, zumal er ja stets ins Innere reist, sobald sich hier Verwandte von ihm sehen lassen. – Nun – ich will Ihnen jetzt offen alles mitteilen, Baron. Mein Verdacht gegen den Prinzen stützte sich auf folgendes.“

Er berichtete von dem Abend bei Lord Wolpoore, von dem Stern mit den aramäischen Buchstaben und von allem anderen, schilderte auch unsere Gefangennahme und Kerkerhaft und fügte hinzu: „Der Millionär Lian Tschio hielt Wreeden damals in jenem Dorfe so lange auf, bis der Wagen mit dem scheinbar so leicht scheuenden Pferde mit uns davongefahren war. Demselben Lian Tschio gehörte das Gehöft, in dem wir gefangen waren. Dasselbe Gehöft ist in der verflossenen Nacht niedergebrannt. Es mußte abbrennen, da wir dort eingekerkert waren. Es mußte besonders der Stall verschwinden, den wir doch nach unserer Flucht wiedererkannt hätten. Er mußte so gänzlich zerstört werden, daß unser Kerkermeister nachher frech behaupten konnte, wir hätten uns geirrt; wir wären anderswo eingesperrt gewesen und irrten uns in der Örtlichkeit, die wir ja nur bei der Dunkelheit gesehen hätten. Diese Chinesen verstehen das Lügen wie selten ein Volk. Gewiß – wir sind am Tage dort in das Gehöft mit dem Wagen hineingerast. Aber – der Chinese, dieser große Schweiger, hätte trotzdem alles abgeleugnet, hätte es auch können, da es dort jetzt nur noch verbrannte Trümmer und fraglos eingerissene Mauern gibt. Er hätte leugnen können! Er wird es nicht mehr tun, wenn sein Herr und Meister Lian Tschio entlarvt ist; er wird durch seine jetzige Haft bei Wreeden schon genügend mürbe gemacht sein.“

Der Polizeirat hatte bisher geschwiegen. Er war wohl förmlich benommen durch diese Fülle von Neuigkeiten, besonders durch diese Tatsachen, die so klar eine Schuld des Prinzen an unserer Einkerkerung und eine enge Verbindung zwischen Lian Tschio, Blönheelm und dem Verwalter der Reispflanzung bewiesen. Jetzt aber sagte er ganz erregt:

„Sie haben ganz recht Herr Harst: nur Blönheelm kann für Sie hier diesen brutalen Empfang, diese hinterlistige Falle, vorbereitet haben! Nur eine sehr hochstehende Intelligenz konnte auch aus jenem Schreiben an Lord Wolpoore den geheimen Text herausfinden. Der Prinz ist bei aller Renommiersucht ein feiner Kopf. Das habe ich oft gemerkt. Und jetzt durchschaue ich auch sein falsches Spiel mit mir. Das Motorboot der Gesellschaft der roten Karten konnte deshalb nie erwischt werden, wenn es das Lösegeld in Empfang nahm und das Diebesgut wieder aushändigte, weil Blönheelm stets wußte, ob die Polizei benachrichtigt war. Ja – er ist der Leiter dieser Diebesbande. Das sehe ich nun selbst ein! Er – ein holländischer Prinz!“

Harst lächelte jetzt in besonderer Weise.

„Und doch ist er’s nicht!“ meinte er. „Blönheelm ist nicht der „Obermacher“. Ich habe meine Ansicht geändert. Er ist ganz unbeteiligt bei alledem – ganz!“

Der Baron und ich riefen gleichzeitig:

„Unmöglich! Er muß es sein!“

Harst schüttelte den Kopf. „Ein großer Irrtum. Auch hierfür werde ich den Beweis erbringen und zwar nachmittags um 4 Uhr am Hafenkai, wenn Wreeden wie vereinbart den kleinen Lederkoffer an Bord der „Antje van Grooningen“ trägt, in dem angeblich für eine Million Diamanten liegen. – Lassen wir jetzt alle weiteren Erörterungen. Ich bitte Sie, Baron, daß Sie unsere Masken als chinesische Kulis etwas verbessern und daß Sie sich dann persönlich, aber gleichfalls verkleidet vor dem Liegeplatz des Dampfers einfinden. Einige Ihrer Detektivbeamten aber mögen den Gefangenen im geschlossenen Wagen von Wreeden abholen und ebendorthin schaffen. Sollten Sie Zeit haben, Baron, so sehen Sie sich mal in aller Stille des Prinzen Motorboot genauer an. Es dürfte sehr kräftige Motoren haben, wenn es auch nur 15 Knoten für gewöhnlich läuft, – so kräftige Motoren, daß es damit in Wahrheit fast die doppelte Schnelligkeit erreicht und jeden anderen Fahrzeug deshalb entkommt – wie das Boot der „roten Karten“ es stets tut.“

Der Polizeirat machte ein sehr ungläubiges Gesicht, sagte zögernd: „Ich denke, Blönheelm hat mit der Diebesbande nichts zu schaffen?! Und jetzt behaupten Sie wieder, Herr Harst, daß –“

„Ganz recht – daß der Prinz kein Verbrecher ist!“ vollendete Harald. – Dann wurde diese Angelegenheit nicht weiter berührt.

– – – – – – – –

Das gewaltige, künstlich geschaffene Bassin des Hafens von Tandschong Priok hat die Form einer länglichen Kuppel, deren Spitze die Hafeneinfahrt bildet.

Die Antje von Grooningen lag am Westkai vor den Speichern des Niederländischen Lloyds. Gegen vier Uhr nachmittags herrschte auf dem Kai noch ein wildes Durcheinander. Kaffee-, Tabak- und Gewürzballen wurden noch immer von den farbigen Stauern in den scheinbar abgrundtiefen Riesenleib des Dampfers geschleppt. Alles spielte sich unter dem im Orient nun einmal üblichen Lärm ab. Chinesische Kulis, die sich gegenseitig mit ihren Lasten anrannten, beschimpften sich mit der ganzen unerschöpflichen Fülle echt chinesischer Kraftworte; Neger und Malaien bewiesen auf dieselbe Weise ihr Temperament. Zwischen ihnen arbeiteten still und ernst die schlanken Javanen mit ihren etwas weichlichen Gesichtern. Europäische Seeleute standen in kleinen Gruppen umher und scherzten mit den hübschen Javanesinnen, die vielleicht den schönsten farbigen Menschenschlag darstellen.

Neben einem Stapel Kisten saßen auf einem umgekippten Boot zwei chinesische Kulis mit riesigen Strohhüten, sogen an ihren Tabakpfeifen und schienen lediglich Interesse für den Würfelbecher zu haben, mit dem sie sich die Zeit vertrieben.

Ein zweispänniger Wagen fuhr jetzt an der Anlegestelle des Dampfers vor. Ihm entstieg van Wreeden, der Großkaufmann, einen kleinen, neuen Lederkoffer von rotbrauner Farbe in der Hand.

„Achtung!“ flüsterte der größere der beiden chinesischen Würfelspieler da. „Wir müssen die Augen gut aufhalten, Schraut! Ich bin gespannt, wie man diesmal den Streich ausführen wird.“

Wreeden schritt mit seinem Koffer der Laufplanke zu, die nach dem Mittelschiff hinaufführte. Plötzlich gerieten zwei malaiische Stauer in Streit, packten sich, und der Kräftigere warf dann seinen Gegner mit solcher Wucht zu Boden, daß der braune Bursche Wreeden mit umriß. Der Holländer schlug hintenüber, lag ein paar Sekunden wie betäubt da und raffte dann wieder seinen Koffer auf, fuhr die beiden Malaien grob an und verschwand auf dem Dampfer.

Diese Szene war in dem allgemeinen Wirrwarr ganz unbeachtet geblieben.

Neben den beiden chinesischen Würflern tauchte jetzt ein langbärtiger Inder auf, sprach sie an und erhielt von dem größeren – und das war ja Harst – die Antwort: „Sie irren, Baron. Die Sache ist schon perfekt. Ich hätte diese Lösung allerdings nie für möglich gehalten. – Der dicke, reichgekleidete Chinese dort drüben ist doch wohl der berühmte Lian Tschio. Sein schwarzer Kinn- und Schnurrbart, sein quittengelbes Gesicht und die große Hornbrille auf der so unchinesisch großen Nase mit den aufgeblähten Nüstern erinnern sehr – sehr an denselben Chinamann, dem Schraut und ich in dieser Nacht nachschlichen – bis zu Lian Tschios Grundstück am Kanal. Sehen Sie, jetzt nimmt der quittengelbe Millionär seinen Bastkoffer auf und winkt seinem Wagen. Bleiben wir hinter ihm. Sie haben ja den Gefangenen im Polizeiauto herschaffen lassen. Es hält dort hinten. Benutzen wir es gleichfalls.“

Gleich darauf saßen wir in dem geschlossenen Kraftwagen dem Verwalter der Reispflanzung – der Chinese hieß Budeng Ma – und zwei Beamten gegenüber. Der Baron war vorn bei dem Chauffeur aufgestiegen. Das Auto setzte sich langsam in Bewegung. – Ich gebe zu, daß ich bei dieser ganzen Geschichte in vielem durchaus noch nicht klar sah. Was sollte Harsts Bemerkung „die Sache ist schon perfekt“?! Was sollten so manche andere Äußerungen, die ich immer noch nicht zu deuten wußte und die doch fraglos sehr wohl begründet waren?!

Das Auto glitt die Straße am Kanal entlang, bog dann aber links nach dem Europäerviertel ab. Also fuhr Lian Tschio nicht nach Hause! Wollte er vielleicht zu Blönheelm? – Es war so. Der Kraftwagen hielt jetzt in einer Straße des Stadtteiles Weltevreden. Der Polizeirat – der bärtige Inder – erschien am offenen Türfenster. – „Er ist bei Blönheelm,“ flüsterte er. „Was nun, Herr Harst?“

„Zu Fuß ihm nach, damit wir der Sache ein Ende machen. – Beeilen wir uns!“

Wir drei gingen schnell weiter. Das Auto sollte nach einer Viertelstunde folgen und vor dem Hause des Prinzen halten.

Am Garteneingang versperrte uns ein malaiischer Diener den Weg. Es war einer der beiden Leute, die Blönheelm mit auf der Plantage Wolpoores gehabt hatte.

„Wir sind in Geschäften herbestellt,“ erklärte der Baron im Küstenkauderwelsch. „In sehr dringenden Geschäften.“

In demselben Augenblick verließ der Wagen Lian Tschios das Grundstück wieder. Der reiche Chinese saß jedoch nicht darin.

Der Malaie führte uns durch den Garten dem Hause zu, wollte uns dann anmelden. Der Baron jedoch hielt dem braunen Burschen jetzt seinen Ausweis unter die Augen und flüsterte ihm einige Worte zu, die den Malaien sofort völlig einschüchterten.

Zeerten wußte hier ja gut Bescheid. Wir betraten ein Zimmer linker Hand, eine Art Salon, durchschritten dann leise drei weitere Räume. Da erst fanden wir eine verschlossene Verbindungstür nach dem nächsten Zimmer. – „Sein Schlafgemach,“ flüsterte der Polizeirat und klopfte dann kräftig an.

Erst auf ein drittes Klopfen von drinnen eine ärgerliche Stimme: „Was gibt’s denn?“ – Offenbar vermutete Blönheelm einen seiner Diener vor der Tür. – Wieder klopfte Zeerten. Da wurde die Tür aufgerissen. Bei unserem Anblick fuhr der Prinz leicht zusammen. Bevor er jedoch noch zu Worte kam, hatte Harst bereits mit leichter Verbeugung gesagt:

„Wir kennen uns ja schon. Ich bin Harald Harst. Sollten Sie ohne meine Erlaubnis auch nur einen einzigen Schritt tun, schieße ich. Ich drohe nie umsonst.“ Er hob den rechten Arm. Und in seiner Hand lag der breite Kolben der mattierten Selbstladepistole.

Blönheelm schwieg, senkte etwas den Kopf, warf ihn dann mit einem Ruck wieder hoch und meinte gelassen:

„Was wünschen Sie eigentlich, bester Harst?“

„Gehen Sie uns voraus in Ihr Arbeitszimmer. Dort werde ich Ihnen erklären, was mich herführt.“

Der Prinz mußte sich auf einen Sessel zwischen den Baron und mich setzen. Wir hatten auf Stühlen Platz genommen. Harst lehnte uns gegenüber am Türpfosten. – Die Szene war merkwürdig genug: drei schmierige Farbige als Richter eines sehr elegant gekleideten Europäers – einer Durchlaucht.

„Ich will alles Unwichtige weglassen,“ begann Harst. „Ich war früher Assessor bei der Staatsanwaltschaft in Berlin. Damals vor etwa sieben Jahren hatte nun ein Schwindler, der mit dem Prinzen Frederik von Blönheelm sehr große Ähnlichkeit besaß, diese Ähnlichkeit zu allerlei Betrügereien benutzt und wurde von Holland aus steckbrieflich gesucht. Im internationalen Fahndungblatt las ich von den zum Teil wahrhaft genialen Hochstaplerstückchen dieses Menschen, von dem niemand so recht wußte, wer er war und woher er stammte.

An diese große Ähnlichkeit dieser beiden Männer und an die verbrecherischen Talente jenes Gauners erinnerte ich mich, als van Wreeden mir mitteilte, daß der Prinz Blönheelm in seiner Heimat stets nur als überaus gutmütiger, harmloser Verschwender bekannt gewesen sei. Dieses Charakterbild paßte nun zu dem Blönheelm, den ich nun als Oberhaupt der „roten Karten“, worauf das Stern-Siegel hindeutete, hier wiederfand, so wenig, daß ich allmählich die Überzeugung gewann, derselbe Gauner von damals spiele hier den Prinzen, wobei hauptsächlich die Tatsache meinen Verdacht zur Gewißheit machte, das der angebliche Prinz hier seiner Verwandtschaft und wohl auch ebenso früheren Bekannten ängstlich auswich – durch Reisen ins Innere.

Dann weiter zu dem Chinesen Lian Tschio. Dieser hat sich hier erst vor etwa vier Jahren niedergelassen. In der verflossenen Nacht bekam ich im Laufe des Gesprächs mit van Wreeden allmählich heraus, daß er den sehr häufig kranken Lian Tschio noch niemals gleichzeitig mit dem Prinzen irgendwo gesehen hätte. Schon diese Angabe allein genügte mir zu dem Argwohn, der Prinz könnte hier, geschickt verändert, als Lian Tschio auftreten, also eine Doppelrolle geben. Gestern nacht kehrte der Prinz, nachdem er als Spion sehr gewandt bei Wreeden erschienen war, nach Hause zurück. Sehr bald verließ dann ein Chinese, der ihm in Größe und Wohlbeleibtheit glich, dieses Haus und betrat später das Grundstück Lian Tschios. Gewisse Eigentümlichkeiten des Ganges und der Armbewegungen des Prinzen fanden sich bei diesem Chinesen wieder. Und dieser Chinese war eben Lian Tschio. Oder besser: es gibt keinen Lian Tschio; es gibt hier nur einen Betrüger, der vielleicht den Prinzen und ebenso den Chinesen ermordet hat, bevor beide hier landeten oder doch ganz kurz nach ihrer Landung, bevor sie noch mit jemandem näher bekannt geworden waren. Derselbe Betrüger hat dann die „Gesellschaft der roten Karten“ ins Leben gerufen. Er dürfte dabei nur ein paar ihm völlig ergebene malaiische Diener und –“

Wir hörten draußen das Polizeiauto vorfahren.

„– und den Chinesen Budeng Ma als Genossen gehabt haben,“ fügte Harst nach kurzer Pause hinzu. „Budeng Ma wird hier sofort eintreten. Ich kenne nun die Chinesen zur Genüge. Budeng Ma wird jetzt, wo er alles verloren sieht, schleunigst ein Geständnis ablegen. – Dasselbe rate ich Ihnen,“ sagte er erhabenen Tones zu dem angeblichen Prinzen. „Geben Sie zu, hier den Chinesen Lian Tschio gespielt zu haben? Dieser müßte sich jetzt ja in diesem Hause befinden! Sein Wagen ist leer davongefahren. – Sie sind Lian Tschio! Ihr höhnisches Lächeln hilft Ihnen wenig! Ich werde die Kleider schon entdecken, die der Chinese getragen hat, ebenso aber auch den rotbraunen Lederkoffer Wreedens, den Sie als Lian Tschio heute auf dem Kai gegen einen gleichen Koffer vertauschten, der in Ihrem Bastkoffer verborgen war. Die Balgerei zwischen den beiden Malaien dicht vor Ihnen war bestellte Arbeit! Ich sah sehr wohl, wie Sie blitzschnell den Koffer Wreedens, der diesem aus der Hand gefallen war, gegen den anderen vertauschten. Ich sah es, weil das Ganze ja nur eine Falle war, weil ich Sie entlarven wollte. Ich wußte, daß Sie als Prinz Blönheelm heute zu Wreeden gehen und sich Gelegenheit verschaffen würden, den Diamantkoffer sich anzusehen, damit Sie den gleichen beschaffen könnten. Deshalb sollte Wreeden ja auch einen neuen Koffer kaufen, von dem das betreffende Geschäft noch mehrere auf Lager hatte. Das – war meine Falle und die Quittung für unsere brutale Behandlung in dem Gehöft Budeng Ma’s[6]!“

Baron van Zeerten war inzwischen ans Fenster gegangen und hatte[7] dem Chauffeur des Polizeiautos etwas zugerufen. – Jetzt trat Budeng Ma in Begleitung eines Beamten ein.

Harst hatte alles richtig vorausgesehen: der Chinese gab jetzt sofort sein Geständnis zu Protokoll. Daß hier nur ein Betrüger den Prinzen Blönheelm spielte, wußte er ganz offenbar nicht. Dafür konnte er aber über das Schicksal des wahren Lian Tschio genaue Angaben machen, deren Einzelheiten hier nicht weiter interessieren. Jedenfalls waren Lian Tschio und Budeng Ma früher in China Flußpiraten gewesen, hatten flüchten müssen und kamen schließlich nach Batavia, wo durch eine Verkettung besonderer Umstände der falsche Blönheelm erst Lian Tschio ermorden und berauben und dann in Budeng Ma ein gehorsames Werkzeug gewinnen konnte. Die „Gesellschaft der roten Karten“ hatte nur aus acht Personen insgesamt bestanden. Oberhaupt der Bande war der angebliche Prinz, der bei seinen nahen Beziehungen zu den Kaufleuten und zu der Polizei sowohl die Gelegenheit zu einem Streich bequem ausbaldowern als auch jede Verfolgung der Diebe ebenso leicht unmöglich machen konnte, wobei ihm seine wirklich staunenswerten verbrecherischen Fähigkeiten und hochentwickelte Intelligenz sehr zustatten kamen. –

Der Prozeß gegen die Mitglieder der „roten Karten“ fand erst ein halbes Jahr später statt. Da erst hatte die holländische Polizei es aufgegeben, den Namen jenes genialen Verbrechers zu ermitteln, der bei all seinen Vernehmungen beharrlich schwieg. Ebensowenig war es möglich herauszubekommen, wo und wie dieser namenlose Doppelgänger des Prinzen diesen beseitigt hatte. All das blieb für alle Zeit in Dunkel gehüllt.

Die berüchtigte „Gesellschaft der roten Karten“ war nunmehr aufgelöst; ihre Mitglieder konnten im Gefängnis in Batavia über ihre Schandtaten nachdenken.

 

 

Doktor Satanas.

 

Baron van Zeerten, der Polizeirat und Bezirkschef der Kriminalpolizei der niederländisch-indischen Hauptstadt Batavia auf der Insel Java, winkte uns schon von weitem zu.

Wir befanden uns auf der Veranda des prächtigen Bungalows (Wohnhaus) des Großkaufmanns van Wreeden. Über uns rauschten die Kronen riesiger Palmen, und vor uns auf dem Rasenplatz sprühte eine Riesenfontäne ihre vom Abendwind zur Seite gedrückte, in Millionen von Tröpfchen zerstobene Wassersäule fast bis zu unserem Tische hin, an dem nur der Hausherr, Harst und ich saßen.

Der Baron eilte die Verandatreppe trotz seiner massigen Gestalt leichtfüßig empor, drückte uns jetzt die Hände, begann sofort:

„Ich komme mit einer großen Bitte, lieber Harst. Vor einer halben Stunde teilte mir Kriminalinspektor Schliepner aus Semarang telephonisch mit, daß dort offenbar ein Kapitalverbrechen, ein Mord mit gleichzeitiger Beseitigung der Leiche verübt worden ist. Er fügte hinzu, er wüßte, daß jetzt gerade hier in Batavia der berühmteste Detektiv aller Zeiten –“

Harst hielt sich lachend die Ohren zu.

„Hören Sie auf, Baron! Ich hätte Ihnen derart faustdicke Schmeicheleien nicht zugetraut!“ meinte er gutgelaunt. „Um aber Ihre Angelegenheit schnell und nach Ihrem Wunsche vorläufig aus der Welt zu schaffen: ich hatte ohnedies die Absicht mir Semarang anzusehen, und bin daher gern bereit, Sie sofort nach dem Bahnhof zu begleiten.“

So begann unser tragisches Abenteuer mit der schönen javanischen Prinzessin Shorikindio von Surakarta.

Eigentlich war sie keine Prinzessin mehr, seit sie den holländischen Bezirksarzt Dr. Drygaarden vor drei Jahren geheiratet hatte.

Alle Welt hatte sich gewundert, als Ihre Hoheit gerade den wahrlich nicht reizvollen Doktor Drygaarden erhört hatte, nachdem sie bereits von ganz anderen Bewerbern, sowohl was Stellung als Äußeres anbetraf, umschwärmt worden war. Galt sie doch als die feingebildetste und liebreizendste der eingeborenen Damen Javas. Ihr Vater hatte seiner Zeit schon als Jüngling den Holländern sein Fürstentum gegen eine jährliche Abfindungssumme überlassen und auf jede Selbständigkeit verzichten müssen. Titel und Rang sowie sein Stammschloß in der Hauptstadt Surakarta waren ihm geblieben, ebenso eine Anzahl Vorrechte, die Holland jedem der nunmehr länderlosen Fürsten seiner Sunda-Kolonien gewährt hatte.

Jetzt nun war Doktor Drygaarden in seinem Bungalow in Semarang ermordet und seine Leiche beiseite geschafft worden. Niemand wußte, wer die Täter sein könnten, denn es waren offenbar mehrere Personen dabei beteiligt gewesen. Man hatte morgens das Schlafzimmer des Arztes leer gefunden, dafür aber untrügliche Beweise dafür, daß er einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Die Prinzessin, die seit einer Woche zum Besuch bei ihrem Vater in Surakarta geweilt hatte, war sofort nach Semarang zurückgekehrt. Sie war es gewesen, die dem Kriminalinspektor Schliepner, einem geborenen Deutschen, nahe gelegt hatte, Harst durch Baron van Zeerten bitten zu lassen, mit nach Semarang zu kommen. –

Dies alles erzählte uns Zeerten gleich nach der Abfahrt des Eilzuges in unserem Abteil, wo wir es so bequem wie in einer geräumigen Dampferkabine hatten.

Am folgenden Mittag waren wir in Surakarta. Wir hatten hier 20 Minuten Aufenthalt. Zeerten begrüßte auf dem Bahnsteig einen Offizier der Kolonialarmee, so daß ich nun endlich Gelegenheit fand, Harst nach etwas zu fragen, was mir gestern abend aufgefallen war.

„Weshalb erklärtest Du dem Baron, Du hättest ohnedies nach Semarang fahren wollen?“ meinte ich. „Das kann doch nur eine kleine Höflichkeitsflunkerei gewesen sein! Bisher war der Name Semarang nie über Deine Lippen gekommen.“

„Höflichkeitsflunkerei?! – Nein – es war nur eine Ungenauigkeit,“ erwiderte er zerstreut.

Wir lehnten am breiten, offenen Fenster unseres Abteils und hatten das interessante Bild eines Bahnhofs mit ausgesprochen internationalem Leben und Treiben dicht vor uns.

„Eine Ungenauigkeit insofern, als ich bestimmt hier nach Surakarta gereist wäre und mich etwas näher mit dem Fürsten Madja Draga Bir, dem Vater der Frau Doktor Drygaarden beschäftigt hätte,“ fügte Harst sehr langsam die Sätze bildend hinzu.

Eine Weile schwieg er nun. Dann ganz plötzlich:

„Ah – merkwürdig!“ rief er leise. „Sollte etwa –“

„Was sollte denn –? So beende doch den Satz!“ mahnte ich.

„Solltest Du etwa in der Batavia-Post[8] von vor zehn Tagen nicht auch den Artikel über den Fürsten bemerkt haben?“ sagte er darauf. „Ich versprach mich vorhin nur. Ich wollte den Satz mit „Solltest Du“ und nicht mit „Sollte etwa“ beginnen.“

Dies war nun ganz offenbar Schwindel. Ich war überzeugt, daß Harst auf dem Bahnsteig etwas entdeckt hatte, das er mir verheimlichen wollte.

„In dem Artikel, lieber Alter, stand nämlich so allerlei für Feinschmecker wie wir es sind. Ich durchstöberte bekanntlich vorgestern abend bei Wreeden einen Stoß Zeitungen, wohlgeordnete Nummern der Batavia-Post. Auch Du nahmst ja die Zeitungen zur Hand. Ist Dir der Artikel wirklich entgangen?“

„Das nicht. Dick genug war ja die Überschrift. Nur weiß ich nicht recht, was diese an sich ja recht spannende Schilderung des Unfalls bei den Tierkämpfen im Palastgarten des Fürsten –“

Da kam der Baron auf uns zu und stellte uns den Major der niederländischen Kolonialarmee Jan de Bartreux vor.

Bartreux betrat dann unser Abteil und blieb bei uns. Er gehörte zu der Garnison von Semarang und wollte nach einem achttägigen Urlaub dorthin zurückkehren.

Es war nur natürlich, daß Zeerten das Gespräch sehr bald auf den Mord in Semarang brachte.

„Sie kennen doch Drygaardens Gattin,“ meinte er zu Bartreux. „Herr Harst will sich ja mit diesem Kriminalfall näher beschäftigen, und deshalb dürfte es ihm vielleicht angenehm sein, wenn Sie ihm über den Doktor und die Prinzessin nähere Auskunft geben würden. Ich selbst kenne das Paar nur sehr oberflächlich. Einen sympathischen Eindruck hat Drygaarden auf mich nie gemacht. Der Teufel mag wissen, weshalb die Prinzessin diesen „schwarzen Satanas“ geheiratet hat, wie er hier auf Java allgemein heimlich genannt wird, denn öffentlich traut sich niemand, Drygaardens Unwillen hervorzurufen. Er ist ja der reinste Raufbold anscheinend.“

Der Major rauchte sehr hastig einige Züge aus seiner Zigarre und hüllte sich förmlich in blaugraue Wölkchen ein. Aber das half ihm nichts. Er war plötzlich zu rot geworden, als daß dies Harsts und meinen Polizeiaugen entgehen konnte.

Als er nun erwiderte: „Oh – meine Bekanntschaft mit Drygaardens ist auch nur sehr oberflächlich,“ klang das so unsicher und zögernd, daß ich Harsts vielsagenden Blick recht gut verstand.

Hier war irgend etwas nicht in Ordnung! Dieser schlanke, frische Major unterschlug etwas.

Zeerten rief denn auch sofort: „Wie – Sie wollen die Drygaardens nicht kennen – oder doch nicht näher kennen?! Aber Bartreux! Die auch hier heimischen Spatzen pfeifen es ja von den Dächern, daß ein gewisser Jan de Bartreux einst zu den glühendsten Verehrern der Prinzessin gehörte.“

„Gestatten Sie, Baron, – das war einmal!“ erklärte der Major recht schroff. „Doktor Satanas ist keine Persönlichkeit, der ich das Recht einräumen möchte, mich zu seinem engeren Bekanntenkreis zu zählen. Ich bedauere deshalb auch, Herrn Harst in nichts hier unterstützen zu können. Ich bedauere es sehr, möchte ich betonen. Ich weiß nämlich, daß Inspektor Schliepner [in][9] Semarang bereits den hirnverbrannten Verdacht hat, die Prinzessin sei an der Beseitigung ihres Mannes irgendwie beteiligt. Und diese Dame von diesem schmählichen Verdacht zu befreien, würde ich alles tun!“

Harst warf mir wieder einen Blick zu. Ich verstand abermals: Bartreux liebte die Prinzessin noch immer, haßte aber wohl den Doktor Satanas ebenso sehr.

Alles in allem spielten bei diesem Morde also besondere Verhältnisse mit, die das Verbrechen nicht gerade als Durchschnittsfall erscheinen ließen.

Harst begann über Semarang zu sprechen, über das gesellschaftliche Leben in der dortigen Europäerkolonie und die Leute, mit denen Doktor Drygaarden hauptsächlich verkehrt hatte.

Der Major äußerte sich jetzt recht eingehend zu diesen Fragen Harsts. Aber seine Antworten und freiwilligen Schilderungen einzelner Personen boten nur etwas Wichtiges: daß Drygaarden wenig beliebt gewesen war und daß er eigentlich nur zwei Freunde gehabt hätte, den arabischen Großkaufmann Mohammed ben Mahsud und den englischen Konsul Master Reginald Towsend. – Mit dem Inspektor Schliepner hätte er sehr schlecht gestanden, da jener den Doktor wiederholt als gänzlich unwissend in seinem Beruf bezeichnet hätte, – ein Urteil, zu dem Schliepner vielleicht berechtigt war, da Drygaarden gleichzeitig den Polizeiarzt in Semarang spielte. „Der Inspektor ist ein Landsmann von Ihnen, Herr Harst, und ein Ehrenmann durch und durch. Dabei ein Original und ein feiner Kopf, den ich sehr schätze. Wir sind befreundet, und ich will Ihnen nun auch ganz ehrlich sagen, daß Schliepner selbst mir gestern abend telephonisch mitteilte, er hielte die Prinzessin für mitschuldig. Wir haben uns dann am Telephon entzweit, da ich grob wurde. Ich bezeichnete diesen Verdacht als Blödsinn.“

Harst schaute sinnend vor sich hin.

„Pflegt Schliepner sich gelegentlich als Eingeborener oder sonstwie zu verkleiden?“ fragte er dann.

Bartreux lächelte. „Das ist nicht gut möglich bei seiner Nasengröße. Eine solche Hakennase hat kein Farbiger, nicht mal ein Araber. Sie ist wie ein Zubehörteil für einen Riesen hineingeraten in ein Gesicht, das einem Kinderantlitz gleicht, sowohl was die Rundung, die Pausbacken, als auch die zarten Farben anbetrifft.“

Das weitere Gespräch hat für dieses unser Problem keinerlei Interesse. –

Um 7 Uhr abends waren wir in Semarang; um ½8 saßen wir zu dreien im Speisezimmer des Bungalows August Schliepners, eines vielseitigen, in jungen Jahren nach dem Orient verschlagenen Deutschen.

Wir hatten seine Einladung, bei ihm zu wohnen, gern angenommen. Zeerten war bei Major Bartreux zu Gast.

– – – – – – – –

Der Haushalt Schliepners war wie der aller höheren Kolonialbeamten, ähnlich wie man dies in Indien findet, durch Großzügigkeit, Behaglichkeit und eine Unmenge Diener ausgezeichnet. Diese, sämtlich Farbige, führten das faulste Leben von der Welt. In einem Junggesellenheim wie dem des Detektivinspektors, wo der Hausherr so häufig abwesend war, mußte jemand vorhanden sein, der die Oberaufsicht über dieses Dutzend javanischer Diener sowie über den Herrn Küchenchef, einen Chinesen, und dessen Leibgarde von sechs bis acht Küchenjungen führte. Dieser Hausmeister war ein ehemaliger Polizeiwachtmeister, ein Holländer namens Swaardam, der den Dienst hatte quittieren müssen, weil ihm bei einem Unternehmen gegen malaiische Schmuggler die rechte Hand abgehauen worden war. Diese Hand bewahrte Swaardam, ein kleiner, fetter Mann mit rotblondem Vollbart, in einem Glase in Spiritus sorgfältig auf. Er war ein sehr ulkiger Herr, dieser Pieter Swaardam, und bereits zehn Minuten nach unserer Ankunft hatte er uns stolz seine in Spiritus liegende Hand gezeigt und erklärt: „Es ist mein Orden. Wenn ich mal sterbe, muß die Hand auf einem Kissen meinem Sarge vorangetragen werden.“

Als wir noch bei Tisch saßen, erschien Pieter Swaardam abermals und meldete, daß er nun für den gestern „ausgekniffenen“ zweiten Kutscher einen Ersatz gefunden hätte, einen Javanen aus Surabaja, der dort bei einem englischen Kaufmann längere Zeit in Dienst gestanden habe.

Der dicke, kleine Hausmeister hatte uns gerade bei einer Erörterung der Einzelheiten der Ermordung des Doktors Drygaarden gestört. Als Swaardam wieder verschwunden war, teilte uns Landsmann Schliepner nun auch mit, weshalb er gegen die Prinzessin Shorikindio Verdacht geschöpft hätte. Erstens wäre es stadtbekannt, daß ihr Verhältnis zu ihrem Manne das denkbar schlechteste sei. Doktor Satanas sei ja auch kein Charakter, mit dem eine Frau von Feingefühl und Gemüt eine auch nur nach außen hin friedliche Ehe führen könnte. Gerade weil er in seinem Wesen so viele abstoßende Züge habe, und weil er auch alles andere, oft nur kein Adonis sei, besitze er eine krankhafte Eifersucht, mit der er seine Gattin beständig in einer erst lächerlichen Weise quäle.

„Den alten Grundsatz der Kriminalisten,“ fuhr Schliepner fort, „bei jedem Verbrechen innerhalb einer nicht ganz einwandfreien Ehe zunächst mit „Cherchez la femme“ zu operieren, also den weiblichen Teil scharf unter die Lupe zu nehmen, befolgte ich natürlich bei Vorliegen so besonderer Verhältnisse auch hier. Deshalb schickte ich sofort zwei Beamte nach Surakarta und ließ heimlich Erkundigungen einziehen, wo die Prinzessin in der betreffenden Nacht – es war die Nacht vom Dienstag zum Mittwoch – geweilt hätte. So kam denn heraus, daß Frau Drygaarden am Montag früh mit zwei Dienern zur Jagd auf Wasserbüffel nach den nördlich gelegenen Bergen und Sümpfen aufgebrochen war. Sie ist eine sehr eifrige Jägerin, genau so, wie[10] sie auch allerlei anderen Sport treibt. Sie werden sie ja selbst kennen lernen, Herr Harst. Nehmen Sie sich aber in acht: sie ist ein verführerisches Weib, und vor ihrer Schönheit ist schon mancher eingefleischte Junggeselle und Frauenhasser zum heißblütigen Verehrer ihrer Reize und zum unbefriedigten Lobredner der Ehe geworden. – Die Prinzessin hatte also Montag früh, zwei Tage vor dem Morde, zu Pferde das Schloß ihres Vaters in Surakarta verlassen. Sie kehrte am Mittwoch vormittag gegen elf Uhr zurück. Ihre beiden Jagdbegleiter, zwei langjährige Diener ihres Vaters, sollten dann sofort, behauptet sie, um Urlaub gebeten haben, um ihre Eltern irgendwo im Innern besuchen zu dürfen. Die beiden Javanen sind denn auch eine halbe Stunde nach der Heimkehr der Prinzessin, die inzwischen von mir telephonisch von dem Verbrechen benachrichtigt worden war, auf zwei ihnen von dem Radscha zur Verfügung gestellten Bergponys davongeritten, so daß für die Behauptung der Frau Doktor Drygaarden, sie habe die fragliche Nacht in ihrem Jagdgebiet zugebracht, nur ihr eigenes Zeugnis als Beweis vorhanden war. Ich telegraphierte dann sofort nach der Militärstation, die dem Heimatdorfe der Eltern jener Diener am nächsten liegt, und ersuchte um die Vernehmung der beiden Javanen, die inzwischen längst dort hätten eingetroffen sein müssen. Die Antwort erhielt ich gestern nachmittag: die Diener waren nicht in jenem Gebirgsdörfchen und konnten auch auf der Straße, die für sie die geeignetste war, durch eine Patrouille nirgends gefunden werden. – Dieses Antworttelegramm las ich der Prinzessin vor, die denn auch deutlich verlegen wurde, sich aber ebenso schnell wieder faßte und erklärte, sie sei doch nicht dafür verantwortlich zu machen, daß diese Zeugen nicht gefunden würden, worauf ich ihr eröffnete, ich müßte ihr leider verbieten, vorläufig ihre Gemächer zu verlassen; von einer Verhaftung wolle ich zunächst noch Abstand nehmen.

Ihre Erwiderung bestand einzig und allein in einem schmerzlichen Blick und einem tiefen Seufzer. Sie ist jetzt also eine halbe Gefangene. Das Haus wird von meinen Leuten bewacht. Eine Flucht der Prinzessin ist ausgeschlossen. Sehr bald nach dieser höflicherweise ein wenig verschleierten Verhaftung schickte sie mir einen Brief zu, indem sie die Bitte aussprach, ich möchte doch versuchen, ob nicht vielleicht Sie, Herr Harst, sich dieses Falles annehmen würden. – So – das wäre alles.“

Harst schüttelte jetzt den Kopf. „Lieber Landsmann, – Ihren Verdacht gegen die Prinzessin teile ich nicht. Sie besitzen gegen sie als Belastungsmaterial lediglich die eine Tatsache, daß der Aufenthalt der Prinzessin während der kritischen Nacht nicht einwandfrei festzustellen ist. Sie argwöhnen, sie hat die beiden Diener absichtlich aus Surakarta entfernt, damit diese nicht vernommen werden können. – Gewiß: auf den ersten Blick erscheint dies recht bedeutungsvoll. Aber – alles kann auch vielleicht eine sehr harmlose Erklärung finden. Wie wär’s, wenn wir jetzt sofort uns nach dem Hause des Doktors begeben würden. Daß es Abend ist, stört mich nicht. Das Haus hat ja fraglos elektrische Beleuchtung. Ich kann also in Augenschein nehmen, was mir wichtig dünkt, und die Prinzessin dürfte ja auch wohl noch zu sprechen sein.“

August Schliepner machte ein etwas betretenes Gesicht.

„Donnerwetter,“ meinte er, „sollte ich wirklich einen so groben Bock geschossen haben?! Das wäre mir sehr peinlich. Ich bin ja stets so überaus vorsichtig bei Amtshandlungen. Sie hätten nur sehen sollen, Herr Harst, wie verlegen die Prinzessin wurde! Es war sogar mehr als Verlegenheit; es war schon beinahe schuldbewußte Angst, die aus ihren Mienen sprach. Bedenken Sie auch: nur die Prinzessin war ja mit den vier außerordentlich bissigen Doggen, die nachts regelmäßig im Garten des Doktors frei umherschweifen, so vertraut, daß sie sich über die hohe Mauer auf das Grundstück wagen durfte. Die Doggen waren ihr Eigentum. Ihr Vater, der Radscha, besitzt eine Hundezucht, die weithin berühmt ist.“

„Und auch wohl eine förmliche Menagerie,“ fügte Harst hinzu. „Letztens ist ja bei einem Tierkampf in der Arena des Fürsten ein Unglück passiert. Ich las davon in der Batavia-Post.“

„Ganz recht, Herr Harst, ein Tiger benutzte eine schadhafte Stelle des Eisengitters zum Entweichen und –“

„Schon gut. Brechen wir auf, lieber Schliepner, sonst wird es immer später. Über den Unfall bei dem Tierkampf sprechen wir ein andermal. Ganz unter uns: Die Geschichte ist nicht sauber, wie man zu sagen pflegt.“

„Wie?! Nicht – sauber?! Was heißt das?!“ Der Kriminalinspektor war aufgesprungen.

„Nun – es mag das meinerseits auch ein irrtümlicher Verdacht sein,“ meinte Harst. „Lassen wir das jetzt aber. Mich interessiert des Doktors Schlafzimmer zur Zeit weit mehr.“

Es war kurz nach acht Uhr abends, als wir drei durch die hell erleuchtete Hauptstraße des sogenannten Regierungsviertels zu Fuß dem Bungalow Doktor Drygaardens zuschritten. Der Weg stieg sehr bald steil an. Die Häuser zu beiden Seiten wurden[11] seltener.

Harst, der links neben Schliepner ging, während ich an dessen rechter Seite mich hielt, war sehr schweigsam. Schliepner erzählte von seiner dienstlichen Tätigkeit mancherlei Interessantes. Harst warf nur einmal eine Frage ein, die jedoch gar nicht zu unserem Thema, das Schliepner und ich gerade erörterten, paßte.

„Woher mag die Prinzessin erfahren haben, daß ich in Batavia weilte, oder besser: woher mag sie überhaupt meinen Namen kennen und wissen, daß ich aus Liebhaberei den Detektiv spiele?“ lautete diese Frage.

„Das vermag ich nicht zu sagen,“ erwiderte unser Landsmann achselzuckend. „Ich vermute aber, daß sie’s in der Batavia-Post gelesen hat, wo ja Ihre glänzenden Erfolge in Sachen der Gesellschaft mit den roten Karten ganz eingehend geschildert waren.“

Hiernach verfiel Harst wieder in die frühere nachdenkliche Schweigsamkeit. –

Das Grundstück des Doktors lag für sich allein am Rande eines ausgedehnten Palmenwaldes und war mit einer sehr hohen und offenbar sehr alten Ziegelmauer umgeben. Schliepner erzählte uns, während wir vor der Mauerpforte standen, daß dieser Besitz noch aus den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stamme, als die Holländer Java noch nicht völlig unterworfen hatten und Aufstände der Eingeborenen keine Seltenheit waren. Da wurde eben noch jedes Europäerwohnhaus als kleine Festung angelegt, sobald es außerhalb der eigentlichen Stadt lag.

„Auch das Haus ist sehr alt,“ fügte er hinzu. „Man hat es nur vor etwa fünfzehn Jahren insofern umgebaut, als das einzige Stockwerk heruntergerissen und auf dem alten Fundament ein luftiger Holzbau errichtet wurde, wie er dem Klima hier entspricht. Der Garten zieht sich etwa zweihundert Meter weit in den Palmenwald hinein, ist aber dicht hinter dem Hause durch einen Bretterzaun so abgeteilt, daß die Doggen stets in der Nähe des Gebäudes bleiben müssen. Ich werde jetzt läuten. Wir müssen denn fraglos noch eine Weile warten, da die Hunde erst eingesperrt werden müssen.“

„Und das kann nur die Prinzessin selbst tun?“ meinte Harst.

„O nein, dem Doktor gehorchten die Tiere auch, aber weniger aus Zuneigung, als aus Angst. Er soll über die gefährlichen, riesigen Bestien eine geradezu unerklärliche Macht besessen haben. Sie sollen ihn gehaßt, aber ebenso gefürchtet haben, wie ja überhaupt dieser Mann in vielem so eine Art Übermensch war. Die Bezeichnung „Doktor Satanas“ bezog sich ja nicht lediglich auf sein pechschwarzes Haar, seine dicken, schwarzen Augenbrauen und den glänzend schwarzen Spitz- und Schnurrbart, sondern auch auf sein ganzes Wesen. Man mied ihn. Er war nicht beliebt. Aber – man ließ es ihn nicht merken.“

Harald hatte sehr interessiert zugehört, meinte jetzt lebhaft: „Das alles ist ja ungeheuer wichtig, bester Schliepner! Jetzt erst habe ich ein richtiges Bild von diesem Drygaarden, der –“

Er machte eine kurze Pause. Und dann kam die große Überraschung, wie ein Blitz, der ohne viel Geräusch herniederfährt und doch wie eine Bombe wirkt.

„– der vielleicht gar nicht tot ist!“ fügte Harst hinzu. „Nein – der sogar ganz bestimmt noch lebt, was ich heute schon beweisen könnte.“

Der dürre Schliepner starrte Harst ganz entgeistert an, weit vorgebeugt und die gewaltige Nase reibend, wie er’s stets zu tun pflegte, wenn er erregt wurde, stotterte dann ganz fassungslos:

„Wie – nicht[12] tot?! Aber – daß ist doch unmöglich! Das widerspricht dem Befund im Schlafzimmer –“

Hier wurde er durch einen Eingeborenen unterbrochen, der plötzlich neben uns auftauchte. Es war ein Polizeibeamter, ein Kriminalpolizist, der mit drei anderen das Grundstück bewachte. Der Mann meldete dem Inspektor, daß alles in Ordnung sei.

Schliepner winkte ab, und der Beamte verschwand wieder in der Dunkelheit. Dann hörten wir auch schon durch das Guckloch der Pforte eine Stimme, die fragte, wer jetzt noch Einlaß begehre. Der Inspektor nannte seinen Namen.

„Die Hunde sind im Zwinger?“ fuhr er fort. „Du bist Dschongo Lei, der Hausmeister, nicht wahr?“

Die Pforte ging auf, ein Javane mit einer Petroleumlaterne stand vor uns. Es war ein Greis in gelbem Leinenanzug.

„Dschongo Lei, Herr,“ dienerte er. „Die Hunde sind diese Nacht nicht freigelassen worden.“

Eine Allee zog sich auf das Haus zu, das hinter Palmen und Gebüsch halb versteckt war. Wir folgten dem Alten, der, wie Schliepner uns zuflüsterte, zu den Dienern gehörte, die die Prinzessin aus dem väterlichen Palast hierher mitgebracht hatte.

Wir hatten dann etwa die Hälfte der Strecke bis zum Wohngebäude zurückgelegt, als von links her aus der Tiefe des Gartens, der mit seinen Bäumen und Buschwerkgruppen in tiefster Finsternis dalag, ein kurzes, mehrstimmiges Aufheulen erklang, das den Hausmeister derart erschreckte, daß er sich blitzschnell umwandte und uns zurief: „Sollte die Herrin etwa –“

Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen. Harst hatte meinen Arm gepackt, riß mich zur Seite, brüllte überlaut: „Auf die Bäume! Die Hunde sind frei!“

Wie ich damals auf die untersten Äste eines der Alleebäume gelangte, ist mir heute noch unklar. Ich weiß nur, daß Harst mich halb emporschleuderte und mir dann half, bis ich den ersten Ast packen konnte.

Auch Schliepner hatte Zeit gefunden, sich auf dem nächsten Baum in Sicherheit zu bringen. Nur der alte Javane und Harst standen noch auf dem mit Kies bestreuten Wege. Harst drängte den Hausmeister, der völlig den Kopf verloren hatte, auf den Baum zu, auf dem ich mich befand. Doch – es war bereits zu spät. Über den hellen Kies schossen vom Hause her vier hohe Tierkörper dahin, einer dicht hinter dem anderen.

Die letzten Vorgänge hatten sich in wenigen Sekunden abgespielt. Was dann folgte, was Schliepner und ich von oben herab der Dunkelheit wegen nur ganz undeutlich wahrnahm, dauerte ebenfalls nur Sekunden.

Harst drückte den Alten an den Stamm, stellte sich schützend vor ihn. Dann rief er die Hunde an, – so energisch, daß die Bestien stutzten und stehen blieben. Jetzt blitzte Harsts elektrische Taschenlampe auf. Er hielt sie in der Linken. Und in der vorgestreckten rechten Hand hatte er den Mehrlader.

Der weiße Lichtkegel blendete die Tiere. Absichtlich ließ Harst den Strahlenkegel immer wieder schnell über sie hinweggleiten. Ihr dumpfes wütendes Knurren wurde schwächer. Trotzdem war die Lage für Harst und den Javanen mehr als bedrohlich. Jeden Augenblick konnte eine der Doggen zuspringen. Dann richtete Harst auch mit der Schußwaffe nichts mehr aus.

Jetzt Schliepners Stimme.

„Soll ich schießen, Herr Harst?“

„Nein – nur das nicht!“ rief Harald. „Vielleicht wird –“

Da – vom Hause her eine helle Frauenstimme. Aber – die Bestien gehorchten augenblicklich; kniffen die Schwänze ein, schlichen davon. Die Dunkelheit verschluckte sie. Nun abermals die helle Stimme. Dann nichts mehr. Minutenlang hörte ich nur das Rauschen der Blätter und das keuchende Atmen des halb ohnmächtigen alten Javanen.

Schliepner tauchte neben Harst auf. Er hatte seinen Baum verlassen.

„Es war die Prinzessin,“ meinte er mit einem tiefen, erleichterten Aufseufzen. „Den Teufel auch – wer kann nur den Hundezwinger geöffnet haben?!“

Auch ich kletterte herab. Gleich darauf erschien vor uns eine helle Gestalt: Frau Doktor Drygaarden!

– – – – – – – –

Ich hatte bisher diesem neuen Fall „Doktor Satanas“ offen gesagt wenig Geschmack abgewinnen können. – Weshalb? – Nun, weil er für mich so ziemlich klar lag und weiter keine besonderen Überraschungen versprach. Ich war in dieser Beziehung ja reichlich verwöhnt durch unsere bisherigen Abenteuer. Zumeist war deren Ausgang nie vorauszusehen gewesen. Die Spannung auf die endgültige Lösung hielt gewöhnlich bis zum letzten Moment an. Hier aber schien mir alles sehr friedlich und ohne sogenannte Knalleffekte ablaufen zu wollen, obwohl ja Harsts Behauptung, Doktor Drygaarden lebe noch, einige Aussicht auf besondere Zwischenfälle eröffnet hatte.

Ich habe unlängst in einem der vorhergehenden Bände betont, der Leser sollte versuchen, aus diesen meinen Berichten über Harsts Detektivabenteuer etwas zu lernen: nämlich das Kombinieren, das Ziehen von Schlußfolgerungen aus einer Anzahl nur lose zusammenhängender Tatsachen. Vielleicht hat der Leser dies auch in diesem Falle getan und ist bereits zu derselben Ansicht über die Hauptpunkte unseres Problems „Mord ohne Toten“ gelangt. – Ich möchte die Hauptpunkte gleich hier aufzählen, da ich sie später ja doch in derselben Weise Harald Harst gegenüber entwickelte und mir mithin nachher dies an einer Stelle sparen kann, wo eine solche längere Erörterung nur störend wirken würde.

Für mich stand folgendes fest: Der Doktor hat die Prinzessin vor drei Jahren auf irgend eine Weise gezwungen, ihn zu heiraten. Nach der Eheschließung ist der durch das Verhalten ihres Gatten schwer enttäuschten[13], vielleicht gar angewiderten jungen Frau erst klar geworden, daß sie den Major de Bartreux liebt, der sie ja schon früher umworben hat. Beide mögen nun so ehrenwerte Charaktere sein, daß sie sich scheuen, sich ein verbotenes Liebesglück zu schaffen. Immerhin wissen sie, wie es um ihre Herzen bestellt ist. Sie wollen sich nun einmal fern von Semarang und in Sicherheit vor dem eifersüchtigen Doktor ungestört aussprechen. Die Prinzessin reist zu ihrem Vater nach Surakarta, und der Major nimmt Urlaub und folgt ihr dorthin. Während des Jagdausfluges treffen sich beide. Dieses Beisammensein soll geheim bleiben. Deswegen entfernt die Prinzessin die beiden treuen Diener, damit diese nicht bei einer polizeilichen Vernehmung (die Prinzessin erfährt ja kurz nach der Rückkehr von der Jagdpartie von dem Morde und muß mit einer solchen Vernehmung rechnen!) gezwungen wären, entweder das Beisammensein mit Bartreux abzuleugnen oder es ganz zu verschweigen. Vielleicht fürchtet sie auch, Inspektor Schliepner könnte die Wahrheit doch aus den Dienern herauslocken. Jedenfalls ist die Prinzessin in der betreffenden Nacht nicht in Semarang gewesen und hat mit dem, was in ihres Mannes Schlafzimmer sich abspielte, nichts zu tun. Deshalb kann sie auch getrost Schliepner nahelegen, Harst herbeizurufen. –

Dies glaubte ich, stünde unzweifelhaft fest. Bartreux’ und der Prinzessin Benehmen schienen mir auf das Vorliegen dieser Tatsachen einwandfrei hinzuweisen. – Der Leser wird zugeben, daß eine solche Schlußfolgerung sich in ganz zwangloser Weise aus dem Vorhergehenden ableiten läßt. – Was in jener Nacht sich hier im Hause des Doktors wirklich ereignet hatte, war mir jetzt erst leidlich klar geworden durch Harsts Äußerung, Drygaarden sei gar nicht ermordet worden. Ich dachte an ein vorgetäuschtes Verbrechen, das heißt, an eine von Doktor Satanas zu irgend welchen Zwecken schlau vorbereitete Irreführung der Polizei. Vielleicht wollte er spurlos verschwinden; vielleicht hatte er schwerwiegende Gründe, Java zu verlassen. Dies war meine Ansicht über den „Mord“ selbst, – war es in dem Augenblicke, als die Prinzessin uns in der Allee ansprach und in sehr ruhiger Weise ihr Bedauern äußerte, daß wir beinahe von den Doggen zerrissen worden wären.

Dann stellte Schliepner uns der schönen Frau vor.

Sofort wurde sie lebhafter, als sie kaum Harsts Namen gehört hatte, reichte Harald impulsiv die Hand und meinte:

„Oh, wie freue ich mich! Nun habe ich Hoffnung, daß alles geklärt werden wird!“

Auch diese Worte klangen so gar nicht nach Schuldbewußtsein.

Harst erwiderte, er würde sich alle Mühe geben, die Prinzessin von einem Verdacht zu befreien, der seiner Überzeugung nach ganz haltlos sei.

Der Hausmeister schritt wieder voran. Dann kamen die Prinzessin und Harst. Schliepner und ich gingen drei bis vier Meter hinterdrein. – Es ist dies wichtig, wie sich sofort herausstellen wird. Jedenfalls hätte es mit der „Gemütlichkeit“ dieser unseres Abenteuers auch ohne die Hunde jetzt ein Ende gehabt.

Über den Eingang des Bungalows flammte jetzt eine elektrische Lampe in Form einer großen, altertümlichen Laterne auf. Das Haus war bis zu etwa 1½ Meter Höhe aus Steinquadern erbaut. Auf diesem Kellergeschoß ruhte der moderne, gefällige Holzbau mit der üblichen, umlaufenden Veranda, die hier durch Holzpfeiler gestützt wurde. Eine breite Steintreppe führte zu der mit Schnitzereien verzierten, schweren Flügeltür des Eingangs empor. Der eine Flügel tat sich auf. Der alte Javane war am Fuße der Treppe stehen geblieben und hatte die Prinzessin vorüber gelassen. Sie trat ein, sagte noch zu Harst mit halb zurückgewandtem Kopf in englischer Sprache, da wir das Holländische nicht fließend beherrschten:

„Ich habe unbegrenztes Vertrauen zu Ihnen –“

Da – erlosch plötzlich die elektrische Laterne, die an einem schmiedeeisernen langen Haken in Höhe des oberen Randes der Fenster des ersten Stockes hing; dann ein lauter Krach – ein Klirren von Glas, ein Aufschrei der Prinzessin.

Die schwere Laterne war dicht hinter Harst auf die oberste Stufe aufgeschlagen, so daß sämtliche Scheiben in Trümmer gegangen waren. – Dicht hinter Harst! So dicht, daß sie noch dessen Strohhutkrempe gestreift und ihm den Hut in den Nacken geschnellt hatte.

Auch Schliepner und ich waren vor Schreck zurückgeprallt. Aus der offenen Haustür fiel jetzt immerhin genug Licht auf die Treppe, daß wir sofort erkennen konnten, was sich ereignet hatte. Ich sah, wie Harst den Hut wieder zurechtschob, wie er einen Blick in die Höhe warf, wie er jetzt plötzlich in die Vorhalle lief und verschwand.

Auch wir traten ein. Die Prinzessin hatte sich in einen Korbsessel gesetzt und starrte uns ganz verstört entgegen.

„Was – was bedeutet das alles?!“ sagte sie mühsam. „Erst die Doggen – jetzt die Laterne! Das kann doch kein Zufall sein!“

Schliepner zuckte die Achseln. „Eine Teufelei, Hoheit, – ohne Frage! Aber – wer steckt dahinter?!“

Jetzt erst konnte ich die Prinzessin Shorikindio von Surakarta zum ersten Male bei hellstem Lampenlicht betrachten. Ich begriff vollständig, daß diese Frau nur zu geeignet war, Männerherzen zu entflammen. Ein ganz eigener Zauber lag in diesen zarten Gesichtszügen, in diesen großen, dunklen Augen. Sie hatte ein weißes, leichtes Spitzenkleid an und trug um den Hals einen sehr eigenartigen Schmuck in Form einer dünnen, goldenen Schlange.

Auf Schliepners halbe Frage, wer diese beiden Attentate gegen uns versucht haben könnte, meinte die Prinzessin mit einem schweren Seufzer, nachdem sie sich scheu umgeblickt hatte:

„Ich vertraue von der Dienerschaft lediglich dem alten Dschongo Lei, meiner Dienerin Masmi und dem Koch Plastavaux. Alle übrigen –“ Sie machte eine vielsagende Handbewegung.

Da kehrte Harst zurück. Er kam lautlos aus dem Hintergrunde der Diele hervor, wo rechts und links der Flur abzweigte. Ich bemerkte ihn zuerst. Unsere Augen begegneten sich. Er lächelte mit zu, verbeugte sich dann vor der Prinzessin und erklärte:

„Ich war auf dem Hausboden. Nur von dem Bodenfenster über dem Eingang aus konnte die Laterne losgehakt werden. Ich fand jedoch nichts Verdächtiges. – Ich bitte jetzt, daß der Hausmeister die gesamte Dienerschaft hier zusammenruft.“

Die Prinzessin erteilte die nötigen Befehle. Nach und nach fanden sich zwölf Javanen, darunter zwei Mädchen, und der Koch Plastavaux ein.

Auch wir saßen jetzt neben der Prinzessin in Korbsesseln. Als der Hausmeister erklärte, daß dies das ganze Hauspersonal sei, stand Harst auf und rief jeden einzelnen ohne Ausnahme unter die elektrische, fünfflammige Krone. Wo es nottat, spielte Schliepner den Dolmetscher. Harsts Fragen wurden so gestellt, daß die Leute kaum merkten, worauf es dem, der bald dieses, bald jenes wissen wollte, eigentlich ankam. Dabei hatte es Harst offenbar lediglich darauf abgesehen, festzustellen, ob jemand von dem Personal die Hunde befreit und die Laterne zum Absturz gebracht haben könnte.

Dieses Verhör dauerte eine geraume Zeit. Das Ergebnis war auch durchaus zufriedenstellend. Es zeigte sich, daß[14] die meisten Javanen im Wirtschaftsanbau des Bungalows in dem gemeinsamen Speiseraum sich aufgehalten hatten und daß die, die in der letzten halben Stunde nicht dort mit den übrigen zusammengewesen waren, für die beiden Attentate in keiner Weise in Frage kämen. Mithin mußte jemand anders den Zwinger geöffnet und die Laterne vom Haken gehoben haben.

Harst ordnete jetzt an, daß das Personal unter Aufsicht Schliepners hier in der Vorhalle bleiben solle. Dann bat er die Prinzessin, uns nach dem Schlafzimmer ihres Mannes zu führen. Schliepner händigte uns noch die Schlüssel zu den beiden Türen des Zimmers ein, das er hatte versiegeln lassen. Die eine Tür war die Verbindung nach dem Schlafzimmer der Prinzessin, die zweite ging vom Flur in das große Eckzimmer, das wir vom Flur aus erst betraten, nachdem Harst die Siegel sehr sorgfältig geprüft hatte. Rechts neben der Tür war der Schalter für das elektrische Licht. Die Beleuchtung bestand aus einer mattrosa Ampel. Außerdem flammten auch gleichzeitig neben einem hohen Stehspiegel zwei Wandleuchter auf. Bevor wir die Besichtigung des Raumes in Gegenwart der Prinzessin begannen, stieg Harst auf das Fußende des helleichenen Bettes und schraubte die Ampel ab, sodaß die starkkerzige Birne jetzt mit grellem Licht das ganze Zimmer bestrahlte. Die Prinzessin setzte sich in einen niedrigen Sessel neben den breiten Kleiderschrank.

Das Zimmer hatte zwei Fenster mit Stabjalousien. Diese waren herabgelassen. Die Fensterflügel waren geschlossen und gleichfalls versiegelt. Auch diese Siegel waren unverletzt. Einen weiteren Zugang als Türen und Fenster gab es nicht.

In der Mitte stand das Bett. Das Kopfende befand sich gerade zwischen den beiden Fenstern. Über dem Bett an der Decke war der große Propeller eines offenen elektrischen Ventilators sichtbar. Auf den ersten Blick gewahrte man nichts, das irgendwie auffällig gewesen wäre. Die seidene Steppdecke des Bettes war bis zu den Kopfkissen hochgezogen, lag aber in krausen Falten. Schliepner hatte uns schon vorher erklärt, daß er das Zimmer nach der von ihm vorgenommenen Durchsuchung wieder in genau denselben Zustand gebracht hätte, wie er es vorgefunden hatte.

Harst schlug die Steppdecke zurück. Kissen und Bezüge waren mit schwarzen Flecken in allen Größen völlig besät. Es war getrocknetes Blut. Auf dem Kissen lag ein Büschel schwarzes Haar mit einem Hautfetzen daran, außerdem noch eine blutbesudelte, mitten durchgeschnittene Zigarre, die eben erst angeraucht gewesen war. Der Bezug des Kissens zeigte an der linken Seite einen fingerlangen Schnitt, der halb durch Blut verklebt war. Neben dem Bett auf einem Stuhl lagen Kleidungsstücke, wie sie ein ordnungsliebender Mensch beim Zubettgehen sauber aufschichtet. Obenauf befand sich ein Paar gelbseidener Herrensocken. Auf dem Nachttisch wieder bemerkte ich eine goldene Uhr nebst Kette, eine Lederbörse, eine Brieftasche, einen silbernen Zahnstocher, ein Federmesser und ein Etui mit Kämmchen und kleiner Bürste.

Von dem Bett führte nach dem linken Fenster eine Blutspur. Der Fensterkopf war blutbesudelt. Als Harst dieses Fenster jetzt öffnete und draußen das Fenstersims mit der Taschenlaterne ableuchtete, zeigten sich hier ebenfalls sehr große, freilich längst getrocknete Blutflecken.

Ich stand hinter Harst, als er sich jetzt zum Fenster hinausbeugte und den Lichtkegel der Lampe auf den Dielenbelag der offenen Veranda fallen ließ, die sich auch hier entlangzog. Die Blutspur setzte sich bis zur Verandabrüstung fort.

„Merkwürdig!“ flüsterte Harst. „Ich hatte etwas ganz anderes zu finden vermutet. – Lieber Alter, was für einen Eindruck machen die Blutspritzer und -flecke auf Dich?“

Ich zögerte mit der Antwort. „Es scheint, daß hier tatsächlich ein Mensch ermordet wurde, indem man ihm im Bett die Kehle durchschnitt. Die Leiche ist dann zum Fenster hinaus verschleppt worden.“

„Ja – alles hier sieht so – so auffallend natürlich aus, so gar nicht nach einem vorgetäuschten Morde,“ murmelte Harald Harst und schloß das Fenster, ließ auch wieder die Stabjalousie herab.

Dann wandte er sich der Prinzessin zu und fragte, ob festgestellt wäre, daß keiner der Anzüge des Doktors fehle.

„Keiner,“ antwortete sie bestimmt. „Auch von seiner Wäsche fehlt nur ein feines, gesticktes Nachthemd.“

Harst nickte zerstreut. Er hatte sich an das Fußende des Bettes gelehnt und schaute starr auf das blutbesudelte Kissen. Dann fragte er wieder, jetzt, ohne die Prinzessin anzusehen:

„Ist damals das Gitter des Käfigs untersucht worden, als der Tiger ausbrach, Hoheit?“

„Ja. Die Stäbe waren durchgerostet.“

„Nur gerade die vier Stäbe?“

„Nein. Auch an anderen Stellen zeigten sich schwere Rostschäden.“

„Danke, Hoheit. – Etwas anderes –“ Er drehte sich der schönen Frau langsam wieder zu. „Ihr Herr Vater kommt mit seinen Einkünften nie recht aus, wie ich gehört habe. Vor dreieinhalb Jahren war er, so erwähnte Baron van Zeerten so nebenbei, in Europa, in – Monte Carlo. Er soll dort Unsummen verspielt haben. Ihr Gatte ist reich, Hoheit, nicht wahr?“

Die Prinzessin war flammend rot geworden, senkte den Kopf und hauchte ein widerwilliges: „Sehr reich. Aber – jetzt nicht mehr.“

„Ich bitte Sie, ganz offen zu sein,“ sagte Harst nun in jenem gütigen, herzlichen Tone, dem niemand so leicht widersteht. „Es handelt sich hier ja um sehr ernste Dinge, Hoheit. – Haben Sie sich mit dieser Heirat geopfert, um Ihren Herrn Vater wieder zu geordneten Verhältnissen zu verhelfen?“

Sie nickte nur schwach.

„Und – der Kaufpreis?“ fragte Harst leise.

„Zwei Millionen Gulden –“ Sie schluchzte auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

„Ah – so reich ist Drygaarden! Das hätte ich nicht gedacht! – Hat er ein Testament hinterlassen?“

„Ja. Seine Hinterlassenschaft ist jedoch nur noch gering, beträgt kaum 300 000 Gulden, von denen nur ein Drittel an mich fällt, der Rest an seinen Bruder, einen Kaufmann in Amsterdam.“

Abermals wanderte nun Harsts Blick nach dem blutbefleckten Kissen hin.

– – – – – – – –

Lautlose Stille im Zimmer. Die Prinzessin schluchzte nur hin und wieder kaum hörbar auf.

Dann schritt Harst auf das Nachttischchen zu. Dort lag halb auf dem Bettvorleger, einem prächtigen Tigerfell, eine Zeitung. Sie lag so, wie sie der Hand desjenigen entglitten sein konnte, der vielleicht im Bett noch bei einer Zigarre gelesen hatte.

Harst kniete jetzt, hatte sich tief über die Zeitung gebeugt. Es war die Batavia-Post. Die Titelseite lag nach oben. Auch das Papier hatte drei Blutspritzer.

„Es ist die Ausgabe von Montag vor dem Morde,“ sagte er nun, ohne den Kopf aufzurichten. „Sie ist am Dienstag abend[15] hier in Semarang eingetroffen und zur Verteilung gelangt.“ Er nahm das Blatt empor und trat damit vor den Ankleidespiegel, hielt die Titelseite schräg gegen das Licht des einen Wandleuchters und meinte:

„Wie ein Stempel hat er sich infolge der weichen Fellunterlage abgedrückt! In der Druckschrift fällt er kaum auf. Schliepner hat das übersehen.“

Er legte die Zeitung genau so wieder hin, wie er sie gefunden hatte.

Dann sagte er in leichtem Plauderton zu der Prinzessin:

„Hatten Sie viel Regen während der Jagdpartie, Hoheit?“

„Nein. Nur ein kurzes Gewitter.“

Dieses Gespräch über den Jagdausflug dauerte etwa fünf Minuten. Ich hatte dabei das deutliche Empfinden, daß die Prinzessin jede ihrer Antworten vorher genau erwog. Sie wurde auch zusehends nervöser und bleicher, während in ihren Augen ein unruhiges Flimmern die hochgradige, aber mit aller Gewalt niedergehaltene Erregung verriet.

Ich verfolgte jedes Wort, jede Miene, jede Bewegung der beiden mit atemloser Spannung.

Jetzt schwieg Harst wieder minutenlang. Dann trat er ganz dicht auf die Prinzessin zu.

„Hoheit, wann sind Sie in diesem Zimmer zum letzten Male gewesen?“ fragte er ernst. „Ich bitte dringend, mir die Wahrheit zu sagen, denn – ich kenne diese Wahrheit bereits. Hat Inspektor Schliepner Sie nach Ihrer Rückkehr aus Surakarta hierher geführt?“

Sie schaute nicht auf. Ein Zittern lief über ihre Gestalt hin. Dann stieß sie überhastet hervor:

„Seit Wochen habe ich diesen Raum nicht betreten. Der Inspektor hat mich sofort in meine Gemächer eingesperrt. Ich war nach meiner Rückkehr nicht hier – ganz bestimmt nicht!“

Harst nickte. „Ja ja – nach Ihrer Rückkehr nicht –“

Ich hielt den Atem an. Ich wartete auf einen Nachsatz. Aber – er kam nicht! Harst ging vielmehr wieder an das Bett und hob die Zigarre auf – die in der Mitte glatt durchhauene Zigarre, deren Hälften mit zwei Händen Zwischenraum in dem Blute des Kissens festgeklebt waren. Er prüfte die Stücke sehr sorgfältig, beugte sich dann über das Kissen und murmelte wieder:

„Ein Brandfleck ist vorhanden. Vielleicht ist dies der Weg zu einer Lösung –“

Er richtete sich auf und wandte sich an die Prinzessin: „Wir können jetzt gehen, Hoheit. – Noch eine Frage:

Besitzt Ihr Gatte eine Waffensammlung?“

„Ja. Sie hängt an der Wand des Bibliothekzimmers.“

„Würden Sie uns bitte dorthin führen –“

Die Bibliothek war das dritte Zimmer auf der anderen Seite des Hauses. Harst nahm dann verschiedene Schwerter von der Wand und besichtigte die Klingen. Dies dauerte gut eine Viertelstunde. Dann ließ er Schliepner das Schlafgemach wieder versiegeln und erklärte nun der Prinzessin, er möchte den Hundezwinger noch in Augenschein nehmen. Dieser befand sich im Stallgebäude, das sich an den Wirtschaftsanbau rechtwinklig anlehnte. Die Doggen wurden durch den Zuruf der Prinzessin schnell beruhigt.

Dann verabschiedeten wir uns und schritten der Stadt wieder zu. Schliepner ging zwischen uns. Er brannte förmlich vor Neugier, was Harst wohl ausgerichtet haben könnte.

„Gedulden Sie sich!“ sagte Harst jedoch. „Ich weiß noch nicht alles, lieber Landsmann. Jedenfalls aber: die Prinzessin war in der Mordnacht hier in Semarang. Und ermordet ist auch jemand worden, nur nicht der Doktor Satanas. Nein – dieser selbst ist der Mörder bei dieser Mordtat ohne Toten! Suchen wir also nun den Toten!“

Wir, Schliepner und ich, waren wie angewurzelt stehen geblieben. Und der Inspektor schob sich nun den Hut aus der Stirn, strich sich mit der Hand über seine übergroße Nase und stammelte: „Aus alledem werde der Teufel klug!“

„Möglich, daß der wirklich schlauer ist als wir,“ meinte Harst. „Gehen wir aber weiter. Ich habe Sehnsucht nach meinem Bett und dem dicken Pieter Swaardam.“

Er zog uns halb gewaltsam mit sich fort. „So kommt doch! Ich habe noch allerlei zu erledigen!“ fügte er hinzu. „Wir werden Drygaarden hoffentlich in dieser Nacht noch fassen. Dazu bedarf es noch einiger Vorbereitungen. – Damit Ihr nun aber in dieser Sache etwas klarer seht, soll zunächst Schraut seine Weisheit zum Besten geben. Lege also los, mein Alter. Wie denkst Du über unseren Fall.“

Ich erklärte nun genau dasselbe, was ich vorhin schon angeführt habe, ließ mich in meiner Überzeugung auch dadurch nicht beirren, daß Harst soeben behauptet hatte, die Prinzessin sei in der Mordnacht hier in Semarang gewesen.

„Sehr gut!“ meinte Harst, als ich jetzt schwieg. „Genau dasselbe hatte ich mir anfänglich ebenfalls zusammengereimt, freilich sofort mit dem inneren Vorbehalt, daß es falsch sein müsse. Denn diese Annahme eines Stelldicheins zwischen der Prinzessin und dem Major war mir eben zu einfach; sie lag zu klar auf der Hand. Derartigen Teillösungen eines Falles soll man stets mißtrauen – stets! Und hier war dieses Mißtrauen durchaus berechtigt. Gehen wir die Sache nun kurz in ihren einzelnen Abschnitten durch. Dieses Verbrechen hat eine Vorgeschichte, eine Einleitung, die man betiteln könnte: „Die Opferfreudigkeit einer Tochter“. – Die Prinzessin heiratet den Doktor, weil der alte Fürst sich durch das Spiel ruiniert hat. Zwei Millionen gibt Drygaarden für die schöne, heißumworbene Javanerin hin, offenbar den größten Teil seines Vermögens. Er muß sie also bis zum Wahnsinn geliebt haben. Ein Mann, dem die Liebe nicht den Verstand verwirrt hat, kauft sich nicht ein Weib, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, da er sich notwendig sagen muß, daß eine solche Ehe niemals für ihn ein Glück werden kann. Es kommt denn auch alles, wie es kommen muß: die Prinzessin verliebt sich als verheiratete Frau in einen anderen!“

„Aha – Jan[16] de Bartreux!“ rief Schliepner.

„Nein, mein Bester, nicht Jan de Bartreux! Welche Rolle dieser in unserem Drama spielt, ist noch nicht geklärt. – Es ereignet sich dann folgendes: Der Doktor merkt, daß die Liebe seines Weibes einem anderen Manne gehört. In seiner tollen Eifersucht will er diesen beseitigen. Sein erster Anschlag gegen dessen Leben mißglückt. Dann reist die Prinzessin zu ihrem Vater nach Surakarta, nimmt zwei treue Diener mit auf den angeblichen Jagdausflug und kehrt zu Pferde nach Semarang zurück, wo sie – sehr wahrscheinlich – ein Rendezvous mit ihrem Geliebten verabredet hat. Dieser Teil der Tragödie liegt noch etwas in Dunkel gehüllt da. Jedenfalls ist sie in der betreffenden Nacht im Mordzimmer gewesen. Auf der Zeitung vor dem Bett ist der Absatz eines Frauenstiefels mit acht etwas hervorstehenden Nägeln abgedrückt. Die Nägelköpfe gehören zu einem Messinghufeisen, wie es die Prinzessin unter ihren Jagdstiefeln trägt. Sie gab das zu, als wir über den Jagdausflug sprachen. Sie ahnte nicht, weshalb ich mich mit ihr darüber so lange unterhielt.“

„Ganz recht!“ warf ich ein. „Auch mir war Deine Absicht unklar, die Du –“

„Schon gut. – Ich behaupte, die Prinzessin hat ihren Geliebten im Verdacht, ihren Mann ermordet und die Leiche beseitigt zu haben. Sie glaubt, ihr Liebhaber sei jetzt entflohen. Sie wird das Schlafzimmer von der Veranda aus durch das Fenster erst betreten haben, als alles schon vorüber, das heißt, als der Mord und die Wegschaffung des Toten schon geschehen war. Sie, bester Schliepner, erwähnten ja gelegentlich, daß das eine Fenster offenstand. Die Prinzessin fand die Blutspuren, wird in hellem Entsetzen davongestürmt und ebenso überhastet nach Surakarta zurückgeritten sein. Ein guter Reiter braucht für die Entfernung Semarang–Surakarta mindestens zehn Stunden. Um elf Uhr vormittags traf die Prinzessin bekanntlich in Surakarta wieder ein. Mithin muß sie Semarang spätestens gegen Mitternacht verlassen haben, und das Verbrechen dürfte am Dienstag zwischen zehn und zwölf Uhr nachts verübt worden sein. – Wie wurde der Mord nun ausgeführt: – Mit Hilfe eines indischen Hauschwertes mit sehr dünner Klinge aus der Waffensammlung des Doktors! Denn dieses eine Hauschwert war frisch geschliffen, wenn auch nachher künstlich wieder mit Rostflecken versehen worden. Aber der Mörder[17] – der Doktor – hatte sich zur Hervorrufung dieser Rostflecken nach der Tat nur wenig Zeit gelassen. Die Arbeit war nur sehr oberflächlich. Wahrscheinlich wurde Essig dazu benutzt. – Das Hauschwert allein war imstande, eine einem Schlafenden aus dem Munde gefallene Zigarre mit seiner dünnen Klinge gleichzeitig mit dem Halse des Opfers so glatt zu durchschlagen. Die Zigarre ist nicht im geringsten zerblättert, ist wie mit einem Rasiermesser durchschnitten. – Ich sage: einem Schlafenden! – Denn das Opfer war von Drygaarden durch irgend ein Mittel in einen Zustand versetzt worden, der es zwang, des Doktors Bett aufzusuchen, um sich zu erholen. Bald überwältigte den Mann der Schlaf; die Zigarre entfällt ihm, brennt ein kleines Loch in das Kissen. Dieser Brandfleck verriet mir, daß das Opfer künstlich eingeschläfert worden war. So leicht wird ja kein Raucher im Bett die brennende Zigarre verlieren. Daß kann nur bei außergewöhnlich starker Übermüdung geschehen, die in diesem Falle auf einen Schlaftrunk zurückzuführen sein dürfte[18], da dieser dem Mörder noch den Vorteil bot, in aller Ruhe den Mann kaltblütig abschlachten zu können. Die Leiche beseitigt er dann. Der Park und die Umgebung sind umsonst, selbst mit Spürhunden, nach dem Toten abgesucht worden. Dies ist so auffallend, daß man notwendig auf den Gedanken kommen muß, Drygaarden hat die Leiche dort verscharrt, wo Sie, bester Schliepner, sicher nicht gesucht haben: im Zwinger der Doggen!“

„Donnerwetter – das kann stimmen!“ rief der Inspektor.

„Es wird stimmen. Es war ja für Drygaarden auch das bequemste und sicherste! – So, nun zu der Frage, wie ich erfuhr, daß der Doktor noch lebte. Als der Zug auf dem Bahnhof in Surakarta hielt, bemerkte ich einen Javanen, der mir dadurch auffiel, daß er den Baron van Zeerten und den Major scharf beobachtete. Die Javanen setzen nun ohne Ausnahme wie die meisten farbigen Völker die Füße einwärts. Dieser Javane aber ging so stark auswärts daß ich stutzig wurde. Ganz nebenbei fragte ich den Major dann im Zuge, ob Drygaarden auswärts gehe. Er bejahte und erwähnte noch, daß der Doktor sehr große Füße hätte. Dies traf auch auf den Javanen zu, dessen Gesichtsschnitt mir zudem verdächtig erschien. Schon damals argwöhnte ich, der Doktor sei noch am Leben und habe aus irgend welchen Gründen den Major belauert. Als ich dann hier noch erfuhr, daß die vier Doggen so außerordentlich bissig sind und nachts keinen Fremden an das Haus heranlassen, war dies ein weiteres Glied in der Kette der gegen Drygaarden sprechenden Beweise. Ein weiteres! Das erste Glied hatte ich schon in Batavia in der Batavia-Post gefunden. Doch davon später. – Drygaarden ist jetzt hier in Semarang. Er dürfte mit demselben Zuge eingetroffen sein wie wir. Und – er weiß, daß ich jetzt diesen Mord ohne Toten aufklären will. Da hat ihn die Angst gepackt, es könnte ihm an den Kragen gehen. Nur er kann die Doggen herausgelassen haben, nur er hat die schwere Laterne mir auf den Kopf fallen lassen wollen. Er fürchtet mich, – und deshalb wird er fraglos noch in dieser Nacht ein neues Attentat versuchen. Dabei will ich ihn abfassen, obwohl ich ihn auch ganz gefahrlos jetzt schon festnehmen könnte. Ich kenne seinen Aufenthaltsort. Swaardam wird dies sofort bestätigen.“

„Swaardam – Swaardam?!“ meinte Schliepner und rieb sich wieder seine große Nase. „Herr im Himmel – mir schwirrt der Kopf. Was müssen Sie nur für Augen und was für einen Verstandskasten haben, Herr Harst, um –“

„Übung – Routine!“ lachte Harst. „So – da sind wir ja daheim angelangt. Bitte holen Sie nun Swaardam ganz unauffällig herbei, Landsmann. Wir setzen uns derweil in Ihr Arbeitszimmer.“

– – – – – – – –

Harst streckte sich behaglich in einem Klubsessel lang, rauchte eine Zigarette und lächelte mich an. „Ein feines Problem, mein Alter. Sehr fein, obwohl es noch ungeklärte Stellen aufweist. Zum Beispiel: weshalb ruft die Prinzessin mich zu Hilfe, wenn sie ihren Geliebten als Mörder im Verdacht hat? Sie müßte ihren Liebhaber folgerichtig doch zu schützen suchen! – Das wäre so ein dunkler Punkt.“

„Wer ist denn nun eigentlich dieser Liebhaber?“ fragte ich leise.

„Oh – Du kennst ihn dem Namen nach –“

Da kehrte Schliepner mit dem dicken Hausmeister zurück.

Harst winkte Swaardam neben sich.

„Sie haben doch heute abend einen neuen Diener eingestellt,“ flüsterte er. „Hat der Mann den Abend hier zu Hause verbracht?“

„Nein. Kaum waren die Herren weggegangen, als er um Urlaub bat. Er wollte hier Bekannte besuchen.“

„Danke, lieber Swaardam. – Ist er schon wieder daheim?“

„Ja. Er erschien gegen halb elf.“

„Wo schläft er?“

„Im Wirtschaftsgebäude.“ – Als Harst nichts mehr fragte, wandte der kleine Dicke sich an Schliepner.

„Herr Inspektor, denken Sie, man hat mich bestohlen. Meine Hand, mein Verdienstorden, ist verschwunden. Das Glas ist leer. Nur der Spiritus ist noch drin. Ich habe den Diebstahl erst vor einer halben Stunde bemerkt, als ich aus meiner Stammkneipe heimkehrte. Ich bitte Sie, mir zu meinem Orden zu verhelfen. Jetzt bin ich ja erst wirklich ein Einhänder. Bisher lag doch wenigstens meine zweite Hand noch in Spiritus. Das war mir ein Trost.“

Schliepner nickte dem Alten zu. „Morgen suchen wir die Hand! Auch Herr Harst wird sich alle Mühe geben, diese Ihnen so wertvolle Reliquie[19] wieder herbeizuschaffen. – Gute Nacht, Swaardam.“

Der Dicke verschwand. Er war wirklich ganz geknickt über den Verlust.

Harst erhob sich. „Gehen wir zu Bett,“ meinte er. „Das heißt: zum Schein zu Bett! Ich bitte Sie, Landsmann, nach zehn Minuten etwa ganz leise und im Dunkeln in unser Schlafzimmer zu kommen. Das Ihrige schließen Sie ab und verriegeln auch die Fenster. Bei uns soll eines offen bleiben, damit der Doktor es bequemer hat.“

„Ich verstehe!“ flüsterte Schliepner eifrig. „Mein neuer Diener ist der Doktor. Wer aber kann nur der Tote sein?! Ich habe mir bereits den Kopf über diese Frage zerbrochen. Ich finde keine Antwort.“

„Haben Sie nur etwas Geduld! Sie sollen auch dies noch in dieser Nacht erfahren.“ –

Harst tat dann beim Zubettgehen ganz harmlos, sprach mit mir bei offenem Fenster (es ging auf die Veranda auch hier hinaus) über den Mord und zwar so, daß jedes seiner Worte für einen Lauscher berechnet zu sein schien. Er erklärte unter anderem, er glaube nicht, daß dieser „Doktor Satanas“ wirklich das Opfer dieses Verbrechens sei, fügte hinzu: „Wir werden hier noch allerlei Überraschungen erleben, mein Alter!“ – Dann schaltete er das Licht aus. Ich lag bereits im Bett. Lautlos schloß er die Tür wieder auf. Er hatte mir vorhin noch zugeflüstert, ich solle später mit kurzen Unterbrechungen recht kräftig schnarchen.

Ich hörte dann Schliepner eintreten. Zu sehen war nichts. Das Verandadach sperrte jeden hellen Schein des ausgestirnten Himmels ab. Der Inspektor wurde von Harst an mein Bett geführt. Sie setzten sich auf den Bettrand. Dann flüsterte Harst: „Schliepner und ich werden uns neben dem offenen Fenster postieren. Aber wir wollen Drygaarden erst vollends ins Zimmer lassen, bevor wir zupacken. Sobald ich „Halt“ rufe, springst Du aus dem Bett und schaltest das Licht ein.“

Dann entfernten sie sich. Ich hatte das Fenster gerade vor mir, getrennt durch die ganze Breite des Zimmers, von diesem etwas helleren länglichen Viereck, das ich als solches nur bei genauem Hinsehen erkannte.

Die Zeit verstrich. Ich schnarchte, aufgestützt auf den rechten Arm, und ließ kein Auge von dem Fenster. Nichts geschah – nichts! – Im Nebenzimmer schlug eine Uhr die zweite Morgenstunde. Im Garten schluchzte eine Bul-Bul, eine indische Nachtigall, ihr sehnsüchtiges Nachtlied. Ich wurde müde; so müde, daß mir die Augen sehr bald zufielen. Ich kämpfte mit aller Energie gegen das Schlafbedürfnis an. Trotzdem nickte ich für Sekunden ein. Über meinem Bett drehte sich lautlos der Propeller der Ventilation. Ich fühlte den Luftzug, der bei der furchtbaren Hitze nur angenehm war, ganz deutlich. Es war genau so, als ob jemand dauernd einen Fächer über mir bewegte.

Dann – flog irgend etwas links von mir klatschend gegen die Wand und warf von einem Wandbrett eine Blumenvase herab, die krachend auf dem Fußboden zerschellte. – Ich war erschrocken hochgefahren. Ich wartete auf irgend eine Äußerung Harsts. Nichts erfolgte.

Mir wurde unheimlich zumute. „Harst – hast Du gehört?“ flüsterte ich.

Da – von seinem Bett aus seine halblaute Antwort – aber nicht seine, sondern Schliepners Stimme:

„Licht! Hier ist irgend eine Schurkerei –“

Ich war schon aus dem Bett. Bis zum Lichtschalter an der Tür hatte ich nur wenige Schritte. Die Deckenlampe flammte auf.

Und dann – kaum daß meine Augen sich an die plötzliche Helle gewöhnt hatten – dann zwei Schüsse, die aber so kurz hintereinander folgten, daß sie fast wie ein einziger klangen, nur daß der eine hier im Zimmer abgegeben worden war. Dicht neben mir spritzte der Kalk von der Wand. Und ich sah, wie Harst und hinter ihm Schliepner durch das Fenster sprangen. – Ich ahnte das richtige: Drygaarden hatte uns wecken und dann niederschießen wollen! Harst war ihm aber mit seiner Kugel zuvorgekommen! – Ich schaute mich nach dem Gegenstande um, der soeben die Vase herabgeworfen hatte. Es war – Swaardams Orden, Swaardams abgehauene Hand! Sie lag mitten unter den Scherben der Blumenvase.

Ein Geräusch vom Fenster her ließ mich wieder herumschnellen. Ich bemerkte Harst, der gerade dem Inspektor einen bewußtlosen Eingeborenen abnahm und ihn nun mitten auf den Bastteppich legte. – „Ein Kissen!“ rief er mir zu. Wir schoben es dem falschen Javanen unter den Kopf. Harsts Kugel war dem bartlosen Menschen dicht über dem Herzen quer durch die Brust gegangen. Es war Doktor Drygaarden. Harst hatte das Hemd auf der Brust geöffnet. Die Haut hier war weiß und ungefärbt.

Schliepner flößte Drygaarden Kognak ein. Der auf den Tod Verwundete röchelte schwer. Zwei Blutfäden liefen aus den Mundwinkeln zum Kinn hinab.

Noch einmal kam der Doktor zu sich, schlug die Augen voll auf, richtete den klaren Blick erst auf Schliepner, dann auf Harst, der neben ihm kniete.

„Geben Sie zu, Ihren Freund, den hiesigen englischen Konsul Reginald Towsend aus Eifersucht ermordet und die Leiche im Hundezwinger unter einer Steinschicht verscharrt zu haben?“ fragte Harst eindringlich.

Drygaarden nickte. Mit furchtbarer Anstrengung röchelte er dann die Worte hervor:

„Er – wollte – mit Shorikindio fliehen, hatte hier – erzählt, er – verreise auf – zwei – Monate. Ich lockte ihn – in mein Haus – Schlaftrunk – dann –“

Ein Blutstrom erstickte das weitere. Seine Augenlider sanken herab; der Körper dehnte sich krampfhaft. Dann war alles vorüber. Der Mörder des englischen Konsuls war tot.

Swaardam pochte an die Tür. Die Schüsse hatten ihn geweckt. Als Harst stumm auf die zwischen den Scherben liegende Hand deutete, rief der kleine Dicke: „Wie kommt denn mein Orden hierher?“

„Doktor Drygaarden wollte die Hand dazu benutzen, dem Meuchelmord an Schraut und mir einen möglichst geheimnisvollen Anstrich zu geben. – Ja, lieber Swaardam, es ist der Doktor, freilich glatt rasiert und als Javane sehr geschickt verkleidet. Jetzt will ich auch erwähnen, weshalb ich schließlich darauf kam, daß nur Reginald Towsend der Ermordete sein könne. In der Batavia-Post stand ein Artikel über einen Unfall bei einem Tierkampf in der Arena des fürstlichen Schlosses in Surakarta, bei dem ein Tiger auf zwei Wasserbüffel losgelassen worden war. Der Fürst veranstaltete diese für europäischen Geschmack brutale Vorstellung zu Ehren des Besuches des Konsuls Towsend nach einem Diner, bei dem der Konsul den Weinen so stark zugesprochen haben sollte, daß er dann, als der Tiger das verrostete Gitter durchbrach, nicht imstande war, wie die übrigen zu fliehen. Er blieb wie gelähmt sitzen und wäre von der Bestie fraglos zerrissen worden, wenn nicht einer der Diener den Tiger noch im letzten Moment niedergeschossen hätte. – In diesem Zeitungsbericht fiel mir auf, daß der Tiger die Gitterstäbe so leicht durchbrochen haben sollte. Sie sollten verrostet gewesen sein. Wie stark hätten diese Rostschäden sein müssen, um dem Tiere zu gestatten, so bequem die Freiheit zu gewinnen! Ich argwöhnte sofort, es könnten hier eine absichtliche Beschädigung des Gitters und ebenso auch eine absichtlich herbeigeführte Bewegungsunfähigkeit Towsends vorliegen. Als ich dann von des Doktors krankhafter Eifersucht hörte, reimte ich mir das richtige zusammen: Drygaarden war damals ebenfalls Gast seines Schwiegervaters! Es war nichts als ein sehr raffiniertes Attentat auf Towsends Leben! – Heute vormittag aber wird uns die Prinzessin mitteilen müssen, wie sie in jener Nacht in das Mordzimmer gelangte, und was Major de Bartreux mit alledem zu tun hat.“ –

Um acht Uhr bereits weckte uns Schliepner und führte den alten Hausmeister der Prinzessin zu uns hinein. Der Javane war völlig gebrochen. Die Prinzessin hatte sich heute morgen vergiftet, nachdem ein Diener ihr gemeldet hatte, daß die Doggen einen menschlichen Arm in ihrem Zwinger aus dem Boden hervorgescharrt hätten, und nachdem dann Towsends Leiche ausgegraben worden war. Freiwillig war sie dann dem Geliebten in den Tod gefolgt.

Jetzt konnte uns nur noch Major de Bartreux das aufklären, was noch dunkel in diesem Drama war. Er war auch sofort dazu bereit, als er hörte, daß Towsend, der Doktor und die Prinzessin nicht mehr unter den Lebenden weilten. Er hatte die Prinzessin aufrichtig geliebt, hatte sie wiederholt in letzter Zeit vor ihrem Manne gewarnt, als er festgestellt hatte, daß die Prinzessin offenbar mit dem Konsul vertrauter stand. Aus Sorge um ihr Wohlergehen war er ihr nach Surakarta gefolgt, hatte sie beobachtet und dann in weiter Entfernung hinter der kleinen Jagdgesellschaft den Ritt nach Semarang mitgemacht. Die Prinzessin hatte Towsend am Hafen nicht getroffen, wo bereits des Konsuls Segeljacht bereitlag. Sie war schließlich nach dem Hause ihres Mannes geschlichen, wohl getrieben von der dumpfen Ahnung, daß irgend ein Unglück geschehen sei. Als sie dann ganz verstört wieder den Garten durch eine Seitenpforte verlassen hatte, sprach Bartreux sie an. Sie war wie von Sinnen; sie weinte, redete nur von dem blutbesudelten Bett und davon, daß Towsend vielleicht ihretwegen zum Mörder geworden sei. Bartreux suchte sie zu beruhigen. Er erklärte ihr, daß er die Ereignisse anders beurteile, daß Towsend niemals eine solche Tat begehen würde; hier läge fraglos ein weit verwickelterer Sachverhalt vor. Er riet ihr dann, Schliepner zu bitten, Harst herbeizurufen. Gemeinsam kehrten sie nach Surakarta zurück. – Das war alles, was der Major uns mitteilen konnte. Er sah jetzt um ein Jahrzehnt gealtert aus. Er mußte die Prinzessin über alles geliebt haben. Er nahm denn auch sehr bald seinen Abschied, erwarb eine Plantage und lebte dort ganz als Einsiedler. –

Das ist die tragische Lebensgeschichte eines schönen Weibes. Harst hatte nur zu sehr recht, als er hierzu äußerte: „Und – wer trägt die Schuld an alledem? Doch nur der Vater der Prinzessin und dessen unselige Spielwut! Hätte sich seine Tochter nicht an Drygaarden verkauft, dann wären drei Menschenleben erhalten geblieben. – Daß der Doktor übrigens seine Frau in jener Nacht in Semarang und in seinem Hause gesehen hat, steht für mich fest. Da erst wird der Plan in ihm aufgetaucht sein, sich als den Ermordeten und seine Frau als die Mitschuldige an diesem Verbrechen hinzustellen. Das sollte seine Rache gegen sein Weib sein! Mich als den einzigen, der ihm durch diese schlaue Rechnung einen Strich machen konnte, wollte er beseitigen! Nur so finden die Attentate gegen uns eine genügende Erklärung. Wäre ich nicht aufgetaucht, hätte er fraglos den weiteren Verlauf der Dinge in seiner Verkleidung abgewartet und wäre dann erst anders wohin geflüchtet, um als lebender Toter ein neues Dasein zu beginnen.“ –

Ein besonderer Zufall sollte uns dann schon in den nächsten Tagen Gelegenheit geben, mit malaiischen Piraten einen Strauß auszufechten, den der Leser in der nächsten Erzählung geschildert findet, in

 

Die Uhrkette des Bill Hamilton.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Jagdstreifte“.
  2. Altorientalischer Held und König sowie „gewaltiger Jäger vor dem Herrn“. Er gilt als Sinnbild für die Selbstüberschätzung des Menschen, Gott gleichzukommen. Siehe auch Wikipedia: Nimrod sowie Turmbau zu Babel.
  3. In der Vorlage steht: „Bleicheinsatz“.
  4. In der Vorlage steht: „Stahlkassete“.
  5. In der Vorlage steht: „ging“.
  6. „Budeng Ma“ / „Budeng-Ma(’s)“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Budeng Ma(’s)“ geändert.
  7. In der Vorlage steht: „hatten“.
  8. „Batavia-Post“ / „Bataviapost“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Batavia-Post“ geändert.
  9. Fehlendes Wort „in“ ergänzt.
  10. In der Vorlage steht: „uie“.
  11. In der Vorlage steht: „wurde“.
  12. In der Vorlage steht: „nich“.
  13. In der Vorlage steht: „entäuschten“.
  14. In der Vorlage steht: „das“.
  15. In der Vorlage steht: „Abend“.
  16. In der Vorlage steht: „Ja“.
  17. In der Vorlage steht: „Mörer“.
  18. In der Vorlage steht: „düfte“.
  19. In der Vorlage steht: „Relique“.