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Die Uhrkette des Bill Hamilton

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 27

 

Die Uhrkette des Bill Hamilton.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26

 

Der Union-Klub in Semarang hatte zu Ehren des Besuchs meines Freundes sogar die holländische Flagge auf dem niedrigen Turm des Klubgebäudes gehißt.

Harald Harst und ich hatten vom Vorstand eine schriftliche Einladung zu einem Abendessen erhalten und uns dazu auf Anraten unseres liebenswürdigen Wirtes und Landsmannes, des Kriminalinspektors August Schliepner in Smoking und Lackschuhe geworfen.

Der Klub ist ziemlich international. Alles, was in Semarang von Herren irgendwie mit zur „Gesellschaft“ gerechnet zu werden wünscht, gehört ihm an. Das Klubhaus ist das frühere, der Neuzeit entsprechend umgebaute Schloß der einstigen Fürsten von Semarang.

Etwa achtzig Herren saßen an der hufeisenförmigen Tafel. Harst hatte seinen Platz rechts neben dem Klubpräsidenten, dem holländischen Großkaufmann van Diemen. Ich saß ihm gegenüber zwischen zwei anderen Vorstandsmitgliedern. Die Unterhaltung war von Anfang an lebhaft und ungezwungen. Auf der früheren Estrade für den Thronsessel des Radschas konzertierte die Kapelle des in Semarang stationierten Kolonial-Infanterieregiments hinter einer Wand von jungen Palmen. Die Weine waren vorzüglich; die Speisenfolge hätte jedem Welthotel Ehre gemacht.

Der Klubpräsident hatte soeben einem meiner Nachbarn gegenüber seiner Verwunderung über das Fehlen eines der Klubmitglieder namens Melprove Ausdruck gegeben, so daß der Herr zu meiner Linken sich verpflichtet fühlte, mir zu erklären, Armand Melprove sei der reichste Mann der Stadt und der glückliche Vater zweier reizender Töchter, die leider nur allzu stolz auf die Millionen ihres Erzeugers und deshalb wenig zugängliche Damen wären.

Mein anderer Nachbar beugte sich vor und meinte jetzt:

„Glückliche Vater?! Glücklich?! – Ich möchte das bezweifeln. Melprove läuft seit acht Tagen mit einem Gesicht umher, das recht wenig heiter aussieht. Ihm muß irgend etwas zugestoßen sein. Heute glänzt er hier auch wieder durch Abwesenheit, obwohl er doch mit zum Vorstand gehört und gerade auf seine Veranlassung dieses Festessen zu Ehren Ihres Freundes veranstaltet worden ist.“

Ich merkte, daß Harst genau hinhorchte, was wir sprachen. Auch der Präsident van Diemen hatte wohl einiges von den letzten Sätzen verstanden und sagte nun:

„In der Tat, Melprove ist mir seit einiger Zeit ein wahres Rätsel! Ich habe es noch nie erlebt, daß ein frischer, blühender Mann in so wenigen Tagen förmlich dahinschwindet. Was ist nur aus ihm geworden! – ein reines Skelett mit blassem Leidensgesicht. Melprove muß irgend einen geheimen Kummer oder ein schweres körperliches Leiden haben! Er selbst behauptet ja, ihm fehle nichts. Aber – er lügt! Und daß er selbst mich, seinen besten Freund, zu täuschen sucht, kränkt mich sehr.“

„Am merkwürdigsten ist jedenfalls, daß er heute hier nicht erschienen ist,“ meinte der Herr links von mir.

„Ganz recht,“ nickte van Diemen. „Er hat mir erst vor einer Stunde einen Brief geschickt, daß er sich nicht ganz wohl fühle. Daraufhin rief ich ihn telephonisch an. Sein Hausmeister erklärte, Mynheer Melprove läge bereits im Bett. – Ob er wirklich krank sein mag?! Ich bin seinetwegen sehr in Sorge. Er ist sonst eine so heitere, offene Natur.“ –

Dieses Gespräch fand während der ersten Gänge statt. – Nach dem Souper wurde der Eiskaffee in den anderen Klubräumen eingenommen. Van Diemen wollte uns jetzt das ganze Haus zeigen, in dem noch viele kostbare Antiquitäten sich befanden. So gelangten wir drei denn auch in das Vorstandszimmer, das im ältesten Flügel des Schlosses lag und holzgetäfelte Wände besaß, deren kunstvolle Schnitzereien Harsts ehrliches Entzücken hervorriefen.

Dieser Raum, im ersten Stock gelegen, hatte drei Fenster, die nach dem Parke hinausgingen. Sie standen weit offen. Da die alte Radschaburg teilweise auf einer schroffen Felsgruppe erbaut war, fiel gerade unter diesen Fenstern Mauer und Felswand dreißig Meter tief senkrecht ab.

Wir standen an dem einen Fenster und blickten über die Parkbäume auf das tief unter uns in der Ebene liegende Semarang hinab. Zur Linken glänzte das Meer im Lichte des soeben aufgetauchten Mondes.

Da – wir drei fuhren herum – da plötzlich hinter uns eine tiefe Stimme:

„Guten Abend, meine Herren –“

An der Tür stand ein graubärtiger, auffallend blasser Mann in einem dunkelgrauen, gestreiften Flanellanzug.

„Melprove, – Du –?!“ rief Diemen erstaunt.

Armand Melprove legte mit seltsam müder Handbewegung den Zeigefinger auf die Lippen. Dann – schaltete er das Licht aus, sagte nun erst wieder:

„Schließe die Fenster, Diemen, – schnell! Es geht um mein Leben!“

Wir halfen. Wir zogen im Dunkeln die Vorhänge vor.

Jetzt flammte eine der Stehlampen mit grünem Glasschirm auf einem Seitentischchen auf. Melprove hatte sie angedreht, kam nun auf uns zu, stellte sich vor und sagte zu Harst:

„Ich habe Sie hier erwartet. Ich hoffte, daß Diemen Ihnen das Haus zeigen würde. Wenn Sie mir nicht helfen, Herr Harst, bin ich in kurzem ein Bettler. Aber – ob Sie mir werden helfen können, ist sehr die Frage. Das, was mich seit acht Tagen bedrückt, ist mehr, als ein einzelner Mensch seelisch und körperlich zu ertragen vermag. Ich bin bereits halb verrückt, halb krank vor Angst und vor stetem Grübeln, wie ich mich und meine Kinder, meine Töchter, retten könnte. Heute habe ich nun alles auf eine Karte gesetzt! Wenn es herauskommt, daß ich mit Ihnen gesprochen habe, bin ich vielleicht schon morgen ein toter Mann und meine Kinder Sklavinnen irgend eines reichen malaiischen Schuftes.“

Harst verbeugte sich. „Ich helfe Ihnen, Mynheer Melprove. – Setzen wir uns. Und dann erzählen Sie.“

Melprove trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

„Ja – ja, ich werde mich Ihnen anvertrauen,“ sagte er hastig. „Nur darf außer Ihnen dreien, meine Herren, keine Menschenseele erfahren, daß ich heute hier im Klubgebäude war. Ich habe die Tür verschlossen. Wir wollen auch ganz leise sprechen. Ich fürchte überall Spione – überall, selbst in meinem Bungalow. Ich habe Beweise, daß ich auf Schritt und Tritt überwacht werde, auch daheim. Es ist entsetzlich! Es ist, als ob eine Schar unsichtbarer Feinde mich umgibt –“

„Nehmen wir Platz!“ mahnte Harst. „Und – fassen Sie Mut, Mynheer Melprove! Es gibt ja keine Geister. Und mit Leuten, die sich als solche aufspielen, bin ich noch stets fertig geworden.“

Diemen holte aus einem Schränkchen eine besponnene Flasche und vier Gläschen. Es war alter Malagawein. Melprove füllte sich dreimal das Glas. Seine Hand zitterte. Er machte ganz den Eindruck eines Schwerkranken.

Dann faßte er in die Westentasche und legte vor Harst auf die seidene, gestickte Tischdecke ein längliches, blinkendes Etwas hin, sagte dazu:

„Hiermit begann das Unheil. Wie Sie sehen, ist es ein Glied aus einer jener billigen Nickeluhrketten, deren viereckige schmale Glieder aus einem dunkelgrünen Kunststein mit goldenen Arabesken verziert und mit einem Nickelrand umgeben bestehen.“

Harst beugte sich vor und besichtigte den kleinen Gegenstand. Dann reichte er ihn mir hinüber und meinte:

„Fahren Sie fort, Mynheer Melprove.“

„Ja – also mit diesem Ding da fing das Fürchterliche an. Am vorigen Donnerstag fand ich auf meinem Schreibtisch im Herrenzimmer meines Bungalows einen Brief, in dessen dickem Umschlag dieses Uhrkettenglied lag. – Hier ist der Brief, Herr Harst. Sie sind wohl einverstanden, daß wir Deutsch sprechen, wenn ich Ihre Muttersprache auch nur leidlich beherrsche.“

Ich stand auf und trat hinter Harsts Sessel, um mir den Brief gleichzeitig mitanzusehen.

Der Umschlag war versiegelt. Als Petschaft war eine holländische Münze benutzt worden. Die Aufschrift war mit Maschine gefertigt.

Der Brief selbst war ein großer halber weißer Bogen Schreibpapier. Auch er trug dieselbe lila Maschinenschrift, der Inhalt lautete:

Mynheer Melprove!

Ihre Privatjacht Antje hat Semarang am Montag früh mit Ihren beiden Töchtern und deren Gesellschaftsdame Miß Backerley zu einer Fahrt nach Batavia verlassen und ist am Montag nachmittag von mir gekapert worden. Ich kann der Besatzung nur das Zeugnis ausstellen, daß sie sich bis zum Schiffsjungen herab tadellos bewährt hat. Nicht einer der acht Leute lebt mehr. Sie teilen das Schicksal aller Tapferen. Ehre ihrem Andenken. – Ihre Töchter und die Engländerin befinden sich jetzt bei mir und werden, falls Sie nicht bis zum übernächsten Montag zwei Millionen Gulden Lösegeld in größeren Banknoten in der unten angegebenen Weise gezahlt haben, meinem Harem einverleibt werden. – Ich warne Sie davor, etwa die Polizei zu benachrichtigen oder sonstwie irgend welche Schritte zur Befreiung Ihrer Kinder zu tun. Ganz besonders warne ich Sie aber vor dem deutschen Detektiv Harald Harst, der jetzt in Batavia weilt, wie ich erfahren habe. Sie könnten leicht auf den Gedanken kommen, ihn um Hilfe zu bitten. Wagen Sie dies – Sie werden beständig aufs schärfste beobachtet, – so leben Sie keine zwölf Stunden mehr. Ich werde Ihnen als Beweis dafür, daß ich die Macht besitze, Sie jederzeit beseitigen zu können, in Zwischenräumen noch einige Uhrkettenglieder wie dieses hier zustellen lassen. Setzen Sie nicht leichtfertig Ihr Leben aufs Spiel! Mein Arm reicht überall hin; mein Auge sieht alles!

Die zwei Millionen sollen Sie mir am übernächsten Montag auf folgende Weise übergeben. Sie packen die Banknoten in Papier ein, umschnüren das Ganze und versiegeln es. Dann begeben Sie sich nachmittags 4 Uhr allein zum Hafen, besteigen Ihr kleines Motorboot, das Sie bequem allein bedienen können, und nehmen Kurs auf die Karimon Djawa-Inseln. Sollte am Montag die See unruhig sein, so verschieben Sie die Fahrt, bis der Wind sich gelegt hat. Jedenfalls aber halten Sie die 4. Nachmittagsstunde stets ein. Alles weitere wird sich dann von selbst ergeben.

Ich weiß, daß Ihnen zwei Millionen Gulden nichts ausmachen. Seien Sie nicht so töricht, des Geldes wegen Ihr Leben und die Zukunft dreier junger Weiber zu gefährden.

Der Pirat von Kap Kotaringia. (Kap a. d. Südküste Borneos.)

Ich hatte Wort für Wort ebenso langsam wie Harst gelesen.

Als dieser nun den Kopf hob und das Blatt auf den Tisch legte, sagte Melprove zu van Diemen:

„So – nun lies Du den Wisch. Lies und staune! Der Pirat von Kap Kotaringia rührt sich wieder! Er ist’s, der Doortje und Antje entführt hat, er, von dem man seit zwei Jahren nichts mehr hörte.“

Harst gab van Diemen den Brief und fragte dann Melprove:

„Was hat es mit diesem Piraten auf sich?“

„Oh – übergenug! Er war ein Jahr lang der Schrecken der Küstenschiffahrt hier, machte die ganze Java-See unsicher. Früher, noch vor 20–30 Jahren, waren malaiische Seeräuber hier keine Seltenheit. Aber unsere Regierungsdampfer räumten gehörig unter dem Gesindel auf. Ich besinne mich noch, daß hier in Semarang im Jahre 1891 an einem Tage 42 von diesen braunen Banditen aufgeknüpft wurden. Wir lebten dann in Ruhe und Frieden, bis eines Tages vor drei Jahren festgestellt wurde, daß in einem Monat 21 Küstenfahrzeuge spurlos verschwunden waren. Allmählich kam an den Tag, daß ein kleiner, sehr schneller Zweimastschoner hier das Piratenhandwerk betrieb, dessen Kapitän sich stets den „Piraten von Kap Kotaringia“ nannte. Wenn er wohlhabendere Leute gefangennahm, erpreßte er stets ein Lösegeld für ihre Freilassung. Im übrigen ließ er alles über die Klinge springen. Es soll ein wahrer Riese von Malaie gewesen sein, dieser Seeräuberkapitän. Man hat ihn nie erwischt. Plötzlich hörten seine Schandtaten auf, und bis jetzt war man vor ihm völlig sicher. Nun aber bin sich sein erstes Opfer – sein erstes neues Opfer!“

Melprove seufzte und goß wieder ein Glas Wein hinab.

„Was nun seine Drohungen angeht,“ fuhr er fort, „so kann ich folgendes dazu angeben. Am Donnerstag erhielt ich diesen Brief. Am Montag, also vor fünf Tagen, fand ich morgens auf meinem Nachttischchen ein zweites Uhrkettenglied; am Mittwoch beim Frühstück in meiner Serviette ein drittes, dazu diesen Zettel.“

Er entnahm seiner Brieftasche ein quadratisches Stück weißes Papier, etwa 10 mal 10 Zentimeter groß, auf dem wieder in lila Maschinenschrift folgendes stand:

„Harald Harst ist jetzt in Semarang. Sie haben gestern zu van Diemen geäußert, der Klub müßte ihm zu Ehren eigentlich ein Festessen geben. Sobald Sie mit Harst irgendwie schriftlich oder mündlich in Verbindung treten, sind Sie ein toter Mann.“

Eine Unterschrift fehlte.

Als Harst diese Zeilen laut vorgelesen hatte, rief van Diemen halblaut:

„Das ist in der Tat geradezu unheimlich! Ich besinne mich, – wir waren doch Dienstag beide allein auf Deiner Veranda, als wir über das Festessen sprachen!“

Melprove nickte. „Ja – und wir standen dicht an der Haupttreppe nach dem Garten zu, wo es in der Hauswand nicht mal Fenster gibt. Da ich ja von vornherein die Absicht hatte, hier im Vorstandszimmer des Klubs Herrn Harst mich anzuvertrauen. Niemand kann uns belauscht haben, niemand!“

„Dann müßte ja gerade van Diemen mit dem Piraten unter einer Decke stecken!“ meinte Harst mit feinem Lächeln. „Nein – Sie sind belauscht worden! Das ist wohl selbstverständlich. – Haben Sie sonst noch etwas zu bemerken?“

„Ja. Ich will Ihnen nämlich noch mitteilen, Herr Harst, auf welche Weise ich diese Unterredung hier ermöglichte. Ich stellte mich nachmittags krank und ließ mir ein Schlafpulver verschreiben. Ich nahm es zum Schein und spielte dann den fest Schlummernden. Gegen halb zehn, also vor einer Stunde etwa, hörte ich, wie die Tür nach dem Flur leise geöffnet wurde. Jemand lauschte etwa fünf Minuten lang regungslos in mein Schlafgemach hinein und verschwand dann wieder. Wer es war, weiß ich nicht. Ich habe im ganzen 18 Diener in meinem großen Bungalow. Nicht einer ist dabei, dem ich mißtraue – nicht einer. Sie sind sämtlich seit vielen Jahren bei mir und anhänglich wie alle Javanen, die man gut behandelt. – Ich lag dann noch zehn Minuten still, zog mich darauf lautlos an, legte in mein Bett ein paar Kissen und ein zusammengerolltes Tuch, das meinen Kopf vorstellen sollte, und schlich durch das Fenster in den Garten und weiter hierher.“

„Ah – ich begreife!“ meinte van Diemen jetzt. „Du bist durch den geheimen Gang heraufgekommen. – Es gibt hier nämlich im Wandgetäfel eine Tür und dahinter eine Treppe, die unten am Fuße des Felsens mündet, wo sich ein beweglicher Teil der Felswand befindet. Diesen Zugang kennen nur die Vorstandsmitglieder.“

Harst fragte nun, ob in Melproves Haus noch andere Personen außer den Dienern beständig wohnten.

„Allerdings. Ich bin seit Jahren Witwer. Deshalb halte ich mir eine Hausdame. Es ist eine Witwe. Sie steht seit acht Jahren in meinem Dienst und ist die Harmlosigkeit selbst. Dann die Mutter der Gesellschaftsdame meiner Töchter, die alte Frau Backerley, ein unglückliches Wesen, stets kränklich und mit einem schrecklichen Gesichtsleiden, einer fressenden Flechte, behaftet. Sie macht sich nützlich, wo sie nur kann. – Auch diese Personen sind über jeden Verdacht erhaben, Herr Harst.“

Harst schaute mit halb zusammengekniffenen Lippen vor sich hin, schwieg und spielte zerstreut mit dem einen Uhrkettenglied. Erst nach einer geraumen Weile fragte er:

„Haben Sie auch die beiden anderen Glieder hier?“

Melprove reichte sie ihm.

„Danke. – Den Brief und den Zettel behalte ich,“ erklärte Harst nun. „Wir haben heute Freitag, haben also noch zwei und einen halben Tag Zeit, denn Montag sollen Sie ja die Millionen erst übergeben.“

Melprove stöhnte plötzlich auf, stieß dann hervor:

„Ja – ja – die Millionen – das letzte, was ich habe! Herr Harst, niemand weiß es hier, auch Diemen nicht: ich habe im letzten Jahr ungeheure Verluste gehabt! Wenn ich die beiden Millionen opfere, dann – bin ich bettelarm!“

„Sie werden sie behalten!“ sagte Harst ruhig. „Kehren Sie jetzt nach Hause zurück. Seien Sie aber vorsichtig, daß niemand Sie sieht. – Auf Wiedersehen! Vertrauen Sie mir! Wir werden Ihre Töchter und die Miß befreien.“

Er drückte ihm kräftig die Hand.

– – – – – – – –

Kaum war Melprove durch die Geheimtür verschwunden, als Harst van Diemen bat, ihm eine Skizze des Bungalows Melproves aufzuzeichnen, aus der auch die Lage der einzelnen Zimmer hervorgehen müsse, und gleichzeitig hineinzuschreiben, wozu die Räume benutzt würden.

„Es braucht nur eine ganz flüchtige Zeichnung zu sein,“ meinte er. „Aber auch etwas von der Umgebung, bitte; vielleicht den Garten und besonders hervorstehende Punkte in nächster Nähe.“

Van Diemen war in wenigen Minuten damit fertig. Dann kehrten wir zu den übrigen Herren zurück. Unsere Abwesenheit war nicht weiter aufgefallen.

Um 1 Uhr morgens erst verließen wir das Klubhaus. Eines der leichten Bambuswägelchen brachte unseren Landsmann Schliepner und uns heim in dessen geräumigen Bungalow. Unterwegs nickte ich verschiedentlich ein. Ich war müde, und der Wein trug die Schuld daran. Ich hörte, daß Harst mit Schliepner über die malaiischen Piraten sprach und daß der Kriminalinspektor von dem berüchtigten Piraten von Kap Kotaringia allerlei erzählte, hörte aber alles nur halb.

Dann aber, als wir in Schliepners Heim angelangt waren, wurde ich rasch munter. Harst sagte nämlich in der Vorhalle leise zu dem Inspektor:

„Sie müssen mich noch ein wenig zum Chinesen umwandeln, bester Schliepner. Ich will noch ein paar Stunden das Nachtleben Semarangs kennen lernen.“

In Schliepners Schlafzimmer entstanden dann bei dicht geschlossenen Vorhängen in aller Stille zwei Söhne des himmlischen Reiches, die auch bei Tage kaum als „unecht“ aufgefallen wären und die nun mit aller Vorsicht das Haus und den Garten verließen.

Harst schlug sofort die Richtung nach der Westseite der die Stadt umgebenden Höhen ein, dort lag der Bungalow Melproves.

Während dieser halben Stunde, bis wir an die niedrige Mauer des Parkes gelangt waren, hatte Harst sich in Schweigen gehüllt. Ich kannte ihn ja nur zu gut. Es hätte keinen Zweck gehabt, ihn zu fragen, wie er über diese Entführung der drei Damen dächte. Er wäre mit ein paar allgemeinen Redensarten über das Thema hinweggegangen. Und dabei war jetzt doch bei mir das Interesse für diesen unseren neuesten Fall unendlich gestiegen. Wenn Harst dem Bungalow Melproves zur Nachtzeit einen Besuch abstattete, dann vermutete er ja fraglos darin einen Verbündeten des Piratenführers; obwohl Melprove so nachdrücklich betont hatte, er hege gegen niemand von seinen Hausgenossen den geringsten Verdacht. Und – es mußte ja auch ein Mitschuldiger des Piraten im Hause sein! Wer sollte sonst die Uhrkettenglieder und den Zettel auf den Nachttisch und in die Serviette gelegt haben?!

Die Uhrkettenglieder! – Als wir jetzt die Mauer an der Rückseite des Parkes überklettert und rechts neben dem Bungalow in einem Gebüsch uns verborgen hatten, dachte ich seltsamerweise fortgesetzt an diese merkwürdigen Warnungszeichen, die man Melprove auf so rätselhafte Art zugestellt hatte. – Uhrkettenglieder! Ein jedenfalls nicht alltäglicher Gedanke, gerade diese Teile eines billigen Schmucks für verbrecherische Zwecke zu benutzen, vielleicht war’s von dem Piraten so etwas wie Effekthascherei! Vielleicht wollte er dadurch dieser Entführung, die mit einer blutigen Wegnahme der Jacht begonnen hatte, einen besonderen Anstrich geben. – Die Uhrkettenglieder waren jetzt der Mittelpunkt, um den sich mein Denken drehte. – Sollten sie doch mehr darstellen als nur Sensationslust und Effekthascherei?! Sollten sie –

„Hier habe ich genug gesehen,“ flüsterte Harst mir da zu. „Jetzt wollen wir dort drüben im Schatten des Hauses die Veranda erklettern. Ich möchte mich für alle Fälle davon überzeugen, daß Melprove nichts zugestoßen ist. Sein Schlafzimmer hat ja die Fenster nach Süden hinaus. Gerade dort trifft der Mondschein nicht hin.“

An der Vorsicht, mit der er sich auf allen Vieren mir voranschob, merkte ich abermals, daß er hier mit unangenehmen Zwischenfällen rechnete. Als wir dann auf der Veranda im Schatten der Brüstung kauerten, als wir eine Weile lauschten, ob sich nicht irgendwo etwas Verdächtiges rührte, als Harst mit einem Male meinen Arm drückte und wie ein Hauch seine Worte an mein Ohr drangen: „Hörst Du es auch?“ – da erst vernahm ich irgendwoher ein dumpfes Stöhnen, bald anschwellend wie zu wütendem Brummen, bald wieder leiser in ein klägliches Winseln übergehend.

„Melprove!“ flüsterte Harald wieder. „Kein Zweifel – die Laute kommen dort aus den oberen Fenstern, die mit Drahtgaze überzogen sind! Wir müssen hinein! Aber – doppelte Vorsicht jetzt. Decke mir den Rücken, bis ich die Gaze zerschnitten und das untere Fenster aufgeriegelt habe.“

Wir krochen weiter, bis wir die beiden Schlafstubenfenster vor uns hatten. Harst stieg auf das Fenstergesims. Ich hörte das Knirschen der Drahtgaze unter der Messerklinge. Dann lag Harst mit dem halben Leib über dem Fensterkreuz, den Oberkörper nach innen, den Kopf tief gesenkt und langte mit den Händen nach den Riegeln.

Ich stand jetzt aufgerichtet da, drückte mich in das Blättergewirr der Rankengewächse eines der Verandapfeiler und schaute bald nach rechts, bald nach links, konnte jedoch nirgends etwas Auffälliges wahrnehmen. Harsts Gestalt sah ich in der hier unter dem Verandadach noch stärkeren Dunkelheit nur ganz undeutlich.

Wieder blickte ich nach ihm hin. Ich wunderte mich, daß er mit dem Öffnen der Riegel so gar nicht fertig wurde.

Da – die merkwürdige Regungslosigkeit seiner Gliedmaßen machte mich stutzig, auch seine Haltung. Sein Körper hing jetzt so unheimlich schlaff über dem Fensterkreuz.

Kein Zweifel: hier war irgend eine Teufelei im Gange. Ich wollte nach dem Fenster eilen. Aber – mit einem Ruck schnellte mein Kopf zurück, schlug gegen den Pfeiler. Ich fühlte, wie ein Strick sich um meinen Hals fester und fester zog. Ich packte mit den Händen zu, wollte den Strick lockern. Meine Arme wurden jedoch von hinten zurückgerissen, lagen wie in eisernen Klammern. Dann drückte man mir ein Tuch auf das Gesicht. Ich roch den widerlich süßen Duft von Chloroform; Funken sprühten mir vor den Augen auf; ein rasender Wirbel schien mich in eine bodenlose Tiefe zu reißen.

Dann nichts mehr – nichts. Ich hatte das Bewußtsein verloren.

Aber – nur für kurze Minuten. Die, von denen dieser heimtückische Überfall ausgegangen war, hatten Besonderes mit mir, mit uns vor. Wir sollten sehen und hören, sollten erkennen, daß wir hier in der Tat gegen eine unheimliche Macht ankämpften.

Ich kam zu mir. Ich schlug die Augen auf. Ich saß auf einem Stuhl, war gefesselt, hatte einen Knebel im Munde. Und neben mir stand ein zweiter Stuhl. Harst saß darauf, wehrlos wie ich, genau wie ich so gebunden, daß wir uns nicht erheben, nicht uns drehen konnten.

Und vor uns – kaum zwei Meter vor uns, erblickte ich nun im matten, rötlichen Lichtschein einer Laterne, die irgend jemand hinter uns hochhielt, auf seinem Bett den Herrn dieses Hauses, Armand Melprove, lang ausgestreckt auf der Matratze liegend, gefesselt wie wir. Und über ihm pendelte an einer langen Schnur, die oben an der Decke an einem Nagel befestigt war, eine armlange, in der Mitte des Leibes festgebundene grün-braune Schlange langsam hin und her.

Das Reptil machte verzweifelte Anstrengungen, freizukommen. Dadurch geriet die Schnur immer aufs neue ins Schwingen.

Melprove war wach. Seine weitaufgerissenen Augen verfolgten stier die Bewegungen des Schlangenpendels; seine Mienen verrieten ein ungeheures Entsetzen.

Was er fürchtete, was sich nur zu leicht ereignen konnte, war nur zu klar ersichtlich: sobald die Schlange sich dem Gesicht des in seiner ausgestreckten Lage unverrückbar Festgehaltenen nähern würde, mußte sie in ihrer blinden Wut genau so danach schnappen wie sie es auch mit der Schnur tat, in die sie immer wieder hineinbiß. Fraglos war es eine gefährliche Giftschlange, so daß Melproves Schicksal besiegelt war, wenn das Pendel einmal weit genug ausschlug und seinem Kopfe nahe kam.

Wie hypnotisiert starrte nun auch ich auf dieses raffiniert ersonnene Mittel, einen Menschen dauernd in Todesangst zu halten. Melproves Augen wandten sich zuweilen blitzschnell mit einem Ausdruck stummen Flehens uns zu. Dann drang auch stets jenes dumpfe, qualvolle Stöhnen aus seiner Brust hervor, das wir vorhin gehört hatten.

Nur Sekunden konnte ich dieses entsetzliche Bild vor mir beobachten. Dann – in unserem Rücken eine leise, tiefe Stimme, die das Englische merkwürdig abgehackt sprach, wie jemand, der die Sätze auswendig gelernt hat:

„Melprove, das ist die Strafe, weil Sie sich mit Harst eingelassen haben. Wir wollen jedoch dieses Mal noch gnädig sein. Wenn Sie jetzt tun, was man von Ihnen verlangt, dann sollen Sie Ihr Leben behalten und Ihre Töchter und die Miß wiedersehen. Wollen Sie bis Montag das Geld flüssig machen?“

Melprove nickte eifrig. Worauf der Unsichtbare hinter uns erklärte:

„Sie beide aber werden die Strafe erleiden, die allen Störenfrieden und Schnüfflern Ihrer Art gebührt.“

Dann erlosch das Laternenlicht. Eine Hand drückte mir von hinten abermals einen mit Chloroform getränkten Lappen auf den Mund. Doch – ich hatte von früher her so manches gelernt. Ich war nicht so töricht, mich allzu kräftig durch Kopfbewegungen zu wehren. Ich tat so, als wäre ich schnell betäubt worden, ließ den Kopf matt nach vorn sinken und erreichte so, daß der Rauschzustand nur Sekunden währte. Ich wollte bei Besinnung sein, ich mußte es, denn ich sagte mir, daß die Leute, mit denen wir es hier zu tun hatten, uns nicht schonen würden.

Mein Kopf war jetzt mit einem Tuche umhüllt, welches mir um den Hals durch eine Schnur festgebunden war. Zwei Leute trugen mich davon. Ich erlangte die volle Besinnung wieder zurück, als ich eine Treppe emporgeschleppt wurde. Ich hörte das leise Knarren einzelner Stufen und jenes besonders geartete, knisternde Geräusch, das die auf Java so viel verwandten Reisstrohläufer beim Darüberschreiten hervorrufen. Dann wurde ich auf kahle Dielen gelegt. Ich merkte, daß die beiden Leute sich entfernten. Sie erschienen jedoch bereits nach drei Minuten abermals neben mir. Nur Harald Harst konnte es sein, den sie jetzt herbeigebracht und neben mich gelegt hatten. Ich vernahm Flüstern, vernahm andere Geräusche. Dann hob man mich empor. Es war ein Strohsack, der jetzt mein Lager bildete. Meine Arme und Beine wurden nacheinander von den Stricken befreit und anders gefesselt. Unter den Kopf schob man mir ein Bündel Stoff.

Nach einer Weile wieder das vorsichtige Schließen einer Tür. Dann Stille. Nur das Stroh unter mir raschelte. Meine Handgelenke waren jetzt bei zur Seite gestreckten Armen offenbar mit Riemen an Haken gebunden, die man in den Fußboden eingeschraubt hatte. Meine Beine, gleichfalls etwas gespreizt, mußten in derselben Weise an Haken befestigt sein. Die Lage war nicht allzu unbequem.

Genau vor mir dasselbe Rascheln von Stroh. Dort würde wohl Harst liegen. – Jetzt – ein leises Räuspern. Er war’s! Unsere Strohsäcke mußten sich an den Fußenden berühren. – Ich gab ebenso leise Antwort. Auf mein Hüsteln hin wurde jedoch rechts von mir eine Tür aufgerissen und eine Stimme flüsterte drohend:

„Wenn Ihr euch nicht still verhaltet, bekommt Ihr wieder die Chloroformlappen auf den Mund!“

Dann fühlte ich abermals den kühleren Luftzug, der durch das Schließen der Tür entstand. In unserem Kerker herrschte nämlich eine fürchterliche, stickige Hitze. Ich roch trotz des Tuches, das mich am Sehen hinderte und das recht dick war, ganz deutlich die Ausdünstungen harzigen, von der Sonne erhitzten Holzes.

Ich lag still. Ich war so müde und abgespannt, daß ich sehr bald gegen meinen Willen einschlief.

Plötzlich fuhr ich zusammen. Ich fühlte, wie man mir das Tuch vom Kopfe nahm. Ich war noch zu schlaftrunken, um mich sofort in die Wirklichkeit zurückzufinden. Ich erinnerte mich nur allmählich an das Vorgefallene.

Dann – dicht an meinem Ohr Harsts Stimme:

„Na – ganz munter, mein Alter?“

Ich wollte mich aufrichten. Aber ich war noch gefesselt.

Harst zog mir jetzt den Knebel aus dem Munde.

„Liege ruhig,“ fuhr er fort. „Ich darf Dich leider noch nicht befreien.“

„Und Du selbst? Du bist doch frei!“

„Ja – es sind blutige Anfänger die uns diesen Streich gespielt haben; fraglos schlau und rücksichtslos; aber nicht schlau genug. Es ist mir gelungen, die beiden Haken, an die meine Hände festgebunden waren, herauszudrehen. Nachher drehe ich sie wieder in dieselben Löcher ein. Dann merkt niemand, daß ich jede Minute loskommen kann.“

Ich hatte den Kopf etwas zur Seite gedreht. Dort fiel nämlich ein schmaler, langer Streifen Sonnenlicht in diese Finsternis hinein. Von Harst sah ich nichts. Es war hier im übrigen stockdunkel.

„Wo befinden wir uns?“ fragte ich schnell. „Weißt Du, Harald, – ich mag mich ja täuschen,“ fügte ich sofort hinzu. „Aber mir scheint, wir sind noch jetzt in Melproves Bungalow. Ich war kaum halb betäubt, und die Leute, die mich forttrugen, legten nur einen sehr kurzen Weg zurück – auch eine Treppe empor –“

„Sieh da, Du hast es also auch gemerkt, lieber Alter! Es stimmt, wir sind Melproves Gäste, freilich Gäste besonderer Art.“

Gewiß – ich hatte es vermutet, daß man uns gar nicht zum Hause hinausgeschafft hätte. Jetzt aber, wo mir Harald dies mit einer so ironischen Redewendung bestätigte, war ich doch förmlich sprachlos. Und ich konnte dann nur wie ungläubig wiederholen:

„Gäste, – Gäste besonderer Art?“

„Dja, mein Alter,“ meinte Harald, „es soll Leute geben, die, wenn sie vor dem Konkurs stehen, auf die seltsamsten Tricks kommen, um einen guten Freund zur Hergabe eines ansehnlichen Darlehns zu bewegen. Van Diemen ist ja gleichfalls mehrfacher Millionär.“

– – – – – – – –

Mich hatten diese Sätze wie Keulenschläge getroffen. Ich war im ersten Moment wie betäubt von diesen Andeutungen, deren vollen Sinn ich nur zu gut begriff.

„Du glaubst also, daß die Entführung der Töchter und der Miß Backerley Schwindel ist?“ fragte ich dann, nachdem ich mich von dieser Überraschung erholt hatte.

„Glauben?! – Nein. Das ist zuviel gesagt. Ich muß es jedoch der jetzigen Sachlage nach annehmen. Nur annehmen. Glauben werde ich erst daran, wenn ich bessere Beweise habe, als die bisherigen, obwohl auch diese schwerwiegend genug sind. Melprove hat auf mich einen sehr guten Eindruck gemacht. Einen so guten, daß trotz dieser schwerwiegenden Verdachtsgründe allerlei Zweifel diese Gründe bekämpfen. – Wir können jetzt in ziemlicher Ruhe uns unterhalten. Unser Gefängniswärter war vorhin hier, hat unsere Fesseln geprüft und ist dann davongegangen. Ich hörte, wie er zum Frühstück gerufen wurde. Wer es ist, weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, daß dies hier eine Dachkammer ist, daß von hier eine Tür in ein nettes Zimmer führt, neben dem noch ein zweites liegt. Und in diesem zweiten muß unser Wächter hausen. Die Bodenkammertür selbst ist verschlossen. Ich habe aber durch das Schlüsselloch geschaut.“

„Unglaublich!“ murmelte ich. „Also wirklich in Melproves Bungalow gefangen, – unglaublich!“

„Allerdings! Denn wenn die Entführung Schwindel ist, wenn also auch alles andere – der Brief des Piraten, die Uhrkettenglieder und so weiter – lediglich Requisiten einer raffinierten, frechen Komödie sind, dann – dann ist eben Melprove der Anstifter, dann hat er gestern nacht auf seinem Bett nur den Angstgefolterten geheuchelt, dann – hält er uns hier nur deshalb fest, damit wir ihm das Spiel nicht „vermasseln“!“

„Aber – aber, wozu hat er dann gestern sich in das Klubhaus eingeschlichen, – weshalb hat er uns dann überhaupt all das erzählt?!“

„Max Schraut – Max Schraut, schäme Dich! Du bist nun bereits über zwei Jahre mein treuer Gefährte. Und doch kannst Du Dir nicht zusammenreimen, weshalb Melprove gerade diese geheimnisvolle Art wählte, uns und – van Diemen sein „Unglück“ mitzuteilen?! Bedenke: van Diemen war dabei! Und der soll doch – zur Ader gelassen werden, der soll seinem Freund Melprove mit Geld helfen! Gab es eine überzeugendere Art, diese Entführungsgeschichte jemand anzuvertrauen, als diese?! Konnten da wohl in van Diemen irgendwie Zweifel an ihrer Wahrheit aufsteigen, wo doch Melprove mich gleichzeitig um Hilfe bat?!“

Ich verstand. „Allerdings. Das war überaus geschickt eingefädelt,“ sagte ich leise. Sofort setzte ich aber hinzu:

„Trotz alledem – mir will diese Deine Theorie nicht gefallen, Harald! Melprove kann unmöglich als Kaufmann ein so glänzender Schauspieler sein, um so täuschend Verzweiflung, Angst, Verstörtheit und alles andere zu heucheln!“

„Sehr richtig, mein Alter. Auch mir behagt diese Theorie nicht. Aber, sage selbst: wie hätte sich in einem Hause mit so zahlreicher Dienerschaft wohl etwas derartiges abspielen können, wie in dieser Nacht, wenn nicht der Hausherr selbst mit alledem einverstanden war und dafür gesorgt hat, daß die Komödie im Schlafzimmer nicht durch das Erscheinen eines der Diener gestört werden konnte?! Überlege Dir, welches Wagnis diese Szene mit dem Schlangenpendel und so weiter für Verbrecher gewesen wäre, wenn diese eben nicht sich vollkommen sicher gefühlt hätten! Überlege weiter: wie können wir hier in Melproves Bungalow festgehalten werden, wenn der Besitzer davon nichts weiß?! Wir sind eine Treppe emporgetragen worden; die Stufen knarrten. Aber – die, die uns wegschleppten, kümmerten sich nicht um diese Geräusche! – Mein Alter, das sind so schwere Verdachtsmomente, daß dagegen Melproves Gesamteindruck auf uns nicht aufkommt. – Immerhin – wir wollen uns auf diese Theorie nicht festlegen. Es gibt da noch eine andere Möglichkeit, bei der Melprove ein tadelloser Ehrenmann bleibt.“

„Und die wäre?“ fragte ich rasch.

„Ja – die wäre eben nachzuprüfen! Und das werden wir in der kommenden Nacht tun, natürlich unter den erdenklichen Vorsichtsmaßregeln. – Die Sachlage für uns ist eben die: Melprove kann ein Schuft sein! – Wüßten wir das schon jetzt ganz bestimmt, dann könnten wir sofort mit Leichtigkeit ins Freie und ihn festnehmen. – Aber – er kann ebenso gut auch wirklich das Opfer einer Erpresserbande sein. Wenn wir dann jetzt von hier fliehen, besser ausbrechen würden, hätten wir uns aller Aussichten beraubt, ihm helfen und seine Kinder befreien zu können. – Du verstehst mich, nicht wahr: Bevor wir nicht die Gewißheit haben, daß meine erste Theorie absolut zweifelsfrei richtig ist, müssen wir weiter die wehrlosen Gefangenen spielen. – Sollte sich herausstellen, daß meine zweite Theorie, die sich in der Hauptsache auf die Bauart des Hauses stützt, die wahrscheinlichere ist, so dürfte dieses Abenteuer uns noch viel Aufregungen und viel Kopfzerbrechen eintragen.“

„Bauart des Hauses?“ meinte ich nachdenklich. „Bitte, Harald, – teile mir auch diese zweite Möglichkeit mit. Laß mich nicht wieder wie zumeist halb im unklaren über Deine Schlußfolgerungen. Was hat es mit dieser Bauart des Hauses auf sich?“

„Hm – besinne Dich nur auf das, was Melprove über das Gespräch mit van Diemen hier auf der Veranda, als sie über das Festessen redeten, so bestimmt äußerte. Erinnerst Du Dich? Er sagte doch, niemand könnte ihn und van Diemen belauscht haben! Und trotzdem fand er am nächsten Morgen in der Serviette den Zettel, aus dessen Inhalt hervorging, daß man die beiden dennoch belauscht haben müßte. Denn Melprove hat ja van Diemen gebeten, nur die Vorstandsmitglieder wissen zu lassen, daß von ihm die Anregung zu dem Festessen ausgegangen sei. Mithin können die Verbrecher kaum von einem dieser Herrn das erfahren haben, was sie am nächsten Morgen auf den Zettel mit Maschine geschrieben hatten.“

„Ein recht unklarer Fall alles in allem,“ äußerte ich jetzt und ging schnell in Gedanken die Ereignisse nochmals durch, fügte dann hinzu: „Wenn ich mir so Melproves angstverzerrtes Gesicht auf dem Bett und das Schlangenpendel darüber vorstelle, dann –“

„Pst – man kommt!“ hauchte Harst und zog mir wieder das Tuch über den Kopf und befestigte den Knebel.

Ich hörte seinen Strohsack rascheln. Mir wurde noch heißer vor Aufregung. Wenn Harald nicht schnell genug die Haken einschrauben konnte, dann würde vielleicht schon jetzt entdeckt, daß wir nur noch freiwillige Gefangene waren; dann fand dieses Abenteuer vielleicht ein unerwünscht rasches Ende.

Ich lag mit wild klopfendem Herzen da. Jetzt – tat sich fast lautlos die Kammertür auf. Ein etwas kühlerer Luftzug drang zu uns herein.

Die Tür wurde wieder geschlossen. Irgend jemand bewegte sich in der Kammer hin und her; blieb erst neben meinem Lager stehen; schien einen Bohrer in das Dachgebälk zu treiben; ging zu Harst hinüber. Abermals vernahm ich das leise Knirschen eines arbeitenden Bohrers; abermals schritt der Unsichtbare auf und ab, machte sich allerlei zu schaffen.

Dann entfernte er das Tuch von meinem Kopf. Gespannt blickte ich auf, sah einen hageren Menschen in einem weißen Leinenanzug mit einer aus einem Stück Zeug gefertigten Maske vor dem Gesicht und einer Art Turban auf dem Kopf.

Der Mann nahm gerade Harst das Tuch ab, so daß auch Harald mich nun sehen konnte, wie ich ihn sah, da wir mit den Füßen zueinander in einer Linie lagen.

Aber – ich sah auch, wie der Unbekannte jetzt oben am Dachbalken mit den Händen eine Schnur losband – eine Schnur, an der unten eine gelbbraune Schlange hing – genau so wie über Melproves Bett!

Ich sah – die Laterne stand links von mir auf einem großen Koffer – wie der Mann das Schlangenpendel so lang machte, daß das Reptil genau drei Handbreit über Harsts Magengrube etwa hing, – wie er die Schnur oben festband, wie er dann bei mir genau dasselbe tat, wie das kleine Reptil, das mich bedrohte, in wilder Wut sich drehte und wand, wie es an der Schnur hochzuklettern suchte, wie es wieder herabglitt an diesem von Öl triefenden, schlüpfrigen Bindfaden, wie es hineinbiß in die Schnur, wie das Pendel zu schwingen begann.

Ich hatte für nichts anderes Augen als für diese Schlange, die menschliche Bosheit für mich als dauerndes Schrecknis hier aufgehängt hatte; ich hörte kaum hin, als der Unbekannte jetzt mit tiefer Stimme – wieder in englischer Sprache, sagte:

„Jeder Fluchtversuch bringt euch den Tod! Laßt euch warnen! Armand Melprove ist nicht der Mann danach, umsonst zu drohen!“

Armand Melprove! – Erst als wir wieder allein waren, erfaßte mein Geist vollständig die Bedeutung dieses Satzes! Also war Melprove doch mitbeteiligt an dieser ungeheuren Schurkerei.

– – – – – – – –

Die Laterne hatte der Maskierte auf dem Koffer zurückgelassen. Nur ganz flüchtig hatte er, bevor er ging, unsere Fesseln besichtigt. Nichts war ihm an denen Harsts aufgefallen.

Nun hatten wir Licht, nun konnten wir uns sehen, nun konnten wir beobachten, wie die beiden Schlangen sich unermüdlich anstrengten, aus der Schlinge, die sie festhielt, herauszukommen. Aber diese Schlingen waren so fest zugezogen, daß selbst der glatte Leib der Reptile sich nicht herauswinden konnte.

Die Pendel schwangen hin und her. Und – Harst lächelte und nickte mir aufmunternd zu. Ich bemerkte, wie seine rechte Hand den Haken oben umspannte. Er drehte ihn – drehte, bis seine Hand samt dem Haken sich hob. Gleich darauf hatte er auch die Linke frei. Er nahm das Tuch, das er bisher über dem Kopf gehabt hatte und das nun auf den Dielen lag, und ließ die Schlange hineinbeißen, reizte sie absichtlich, daß sie immer wieder nach dem Tuche schnappte.

Ich erkannte sofort, was er beabsichtigte: das Reptil sollte beim Beißen den Inhalt seiner Giftdrüsen in den Stoff entleeren! – Es ist dies ja ein bekannter Trick indischer Schlangenbeschwörer, die vor der Vorstellung ihre Schlangen auf diese Weise so gut wie unschädlich machen.

Harst packte jetzt plötzlich zu, indem er gleichzeitig dem kleinen Reptil das Tuch hinhielt, bekam die Schlange auch dicht hinter dem Kopf in die Hand, hielt sie fest, richtete sich vollends auf und faßte nun mit der Linken in die Tasche.

Merkwürdig genug: man hatte uns die Taschen nicht ausgeleert! Wir besaßen noch alles, was wir zu uns gesteckt hatten, nachdem unsere Maskerade als chinesische Kulis fertig gewesen war.

Harst nahm sein Taschenmesser, öffnete mit den Zähnen die kleine Klinge, schob sie dem Reptil zwischen die Kiefer, öffnete gewaltsam das Maul und – zog mit einem Ruck die Klinge nach vorn.

Bekanntlich sind die beiden Giftzähne der Schlangen beweglich und können (sie befinden sich stets im Oberkiefer) zumeist nach innen umgelegt werden. Nur wenn das Tier gereizt ist und beißen will, schnellen die Zähne nach vorn und stehen dann sichelartig nach hinten, nach dem Schlunde zu gerichtet.

Harst schob jetzt die Klinge abermals zwischen die Kiefer, öffnete das Maul und schaute aus nächster Nähe nach, ob er die Giftzähne umgebrochen hätte. Er wiederholte dann das ruckartige Herausziehen der Klinge, deutete nun auf den Kopf der Schlange und nickte mir zu.

Er gab das Reptil frei. Ich war überzeugt: er hatte jetzt die winzigen Giftzähne wirklich entfernt.

Jetzt kam mein Pendel an die Reihe. Es dauerte nur kurze Zeit, dann brauchte ich es nicht mehr zu fürchten. Harst hatte die vier weißen, haarscharfen Zähnchen aufgelesen, zeigte sie mir in der flachen Hand und warf sie dann in eine Ecke der Kammer. Er legte sich darauf wieder auf seinen Strohsack, brachte seine Fesselung in Ordnung, streckte sich bequem aus und – atmete sehr bald tief und ruhig. Er schlief. – Und auch ich schlummerte ein. Mochte das Reptil jetzt auch mein Gesicht erreichen! Es war ja ungefährlich.

Ich will das folgende nur kurz streifen. Unser Wächter fütterte uns am Nachmittag mit Brot und gab uns auch zu trinken, nachdem wir durch Kopfnicken versprochen hatten, nicht um Hilfe zu rufen. Der Mann sprach dabei nur das Nötigste. Gegen elf Uhr abends – wir hörten unten im Hause deutlich eine Uhr schlagen – prüfte er unsere Fesseln, hing die Schlangenpendel etwas höher und verließ uns wieder. Ich glaubte, Harst würde nun sofort uns freimachen. Aber er rührte sich nicht. Der Mann hatte die Laterne mitgenommen. Wir lagen also wieder im dunkeln.

Kurz nach ½12 erschien unser Wächter ganz plötzlich abermals. Harst stellte sich schlafend. Der Mann besichtigte unsere Fesseln und ging. Er mochte wohl gedacht haben, daß, wenn wir überhaupt an Flucht dachten, wir jetzt versucht haben würden, unsere Fesselung zu lockern.

Wieder waren wir allein; wieder verstrich eine halbe Stunde. Dann begann Harsts Strohsack zu rascheln; dann war ich frei.

Der Lichtkegel meiner Taschenlaterne leuchtete Harst, als dieser nun das mit Pappe übernagelte und mit einem dicken Vorhang verdeckte Kammerfenster zu öffnen suchte. Es gelang nicht. Wir hätten eine der Scheiben eindrücken müssen. Und das durften wir nicht tun. Es hätte sich auch kaum geräuschlos bewerkstelligen lassen.

Wir trugen als chinesische Kulis jetzt nur Bastsandalen auf den nackten, schmutzigen Füßen. Die Dielen der Kammer knarrten nicht. Wir konnten uns also ganz lautlos und ungehindert bewegen.

„Wir müssen hinaus!“ flüsterte Harst. – Er begann die Holzwände zu untersuchen. Dann: „Leuchte mal das Dach ab!“– Ich tat’s. – Wir hätten viel Zeit gespart, wenn wir gleich an eine Dachluke gedacht hätten. Harst kletterte auf meine Schultern. Das Dach fiel wie in einer Mansarde schräg ab. Er reichte ganz bequem bis zu der Luke hinauf. Der Lukendeckel war nur von innen festgehakt.

Nachdem Harst sich glücklich oben befand, stellte ich den Koffer unter die Luke, stieg hinauf und wurde dann von Harst emporgezogen. Als ich den Koffer zurechtgerückt hatte, war mir ein Messingschildchen auf dem Deckel aufgefallen, mit dem eingravierten Namen:

Jane Backerley.

Also die Gesellschafterin der beiden Töchter Melproves oder deren Mutter, dachte ich. –

Vom Dache hinabzugelangen war weiter nicht schwer. Wir kletterten an einer Regenrinne hinunter, schlichen nun zunächst einmal um das Haus, fanden nur noch im Erdgeschoß zwei Fenster erleuchtet und im Wirtschaftsanbau ein einzelnes, hinter dem wir einen älteren Javanen schreibend an einem Tische bemerkten.

„Sicher der Hausmeister,“ flüsterte Harst.

Wir kauerten dicht unter dem Fenster, wollten nun vorn auf die Veranda und durch die beiden anderen erleuchteten Fenster in das betreffende Zimmer hineinlugen, das, wie Harst mir erklärt hatte, nach van Diemens Gebäudeskizze die Bibliothek Melproves war.

Der Himmel war klar. Der Mond stand so, daß der Giebel des Hauptgebäudes uns im Schatten ließ. Links von uns begann der Park mit einer weiten Rasenfläche. Mitten darin erhob sich ein Marmorspringbrunnen.

Wir wollten also gerade wieder nach vorn schleichen, als Harst mir zuraunte: „Achtung!“

Ich hörte jetzt schnelle Schritte von rechts, von der Hintertür des Bungalows her. Auch dort war tiefer Schatten, so daß ich zunächst nur etwas Langes, Hellschimmerndes erkannte.

Harst preßte meinen Arm.

Dicht an uns vorbei schritt eine weiße Gestalt, ein Mensch, der sich völlig in weiße Tücher eingewickelt hatte. Nicht genug damit: dieser „Geist“ hatte als Kopf einen richtigen – Totenschädel! – Als er aus dem Schatten in das Mondlicht trat, leuchtete der Schädel wie poliert.

Die Gestalt strebte dem Springbrunnen zu, verschwand hinter einer Gebüschgruppe.

Harst lachte leise in sich hinein.

„Begreifst Du, mein Alter?“ flüsterte er. „Dieses Gespenst spricht für Melproves Schuldlosigkeit – trotz der Bemerkung unseres Wächters!“

Nun – ich begriff nichts! – Ich schwieg.

„Die Javanen sind ungeheuer abergläubisch,“ meinte Harst. „Gib acht – der Geist wird sehr bald zurückkehren. Er macht nur die übliche Schreckpromenade.“

Da ging mir ein Licht auf.

„Also deshalb konnten die Verbrecher sich so sicher fühlen,“ erklärte ich leise. „Die Diener trauen sich nachts nicht ins Freie, weil –“

Das Gespenst erschien wieder. Harst zog mich schnell hinter einen Stapel Kisten, der ein paar Schritte weiter an der Wand des Wirtschaftsanbaus lehnte. – Zum Glück hatte Harst daran gedacht, daß der Geist bei dem alten Javanen vielleicht sich melden würde. Es geschah auch. Der Mensch mit dem Totenschädel pochte an das Fenster. Wir hörten einen leisen Schrei. Dann eilte der weiß Vermummte der Hintertür zu.

„Unser Wärter!“ sagte Harst mit besonderer Betonung. „Wenn er jetzt unsere Zelle betritt, wird mein schöner Plan zu Wasser. Sehen wir zu, daß wir dieser Gefahr begegnen. – Schnell – zurück aufs Dach, hinein in die Kammer!“

Wir lagen dann kaum eine Minute wieder auf unseren Strohsäcken, als unser Wächter tatsächlich die Tür öffnete und uns mit der Laterne beleuchtete. Er fand jedoch nichts Verdächtiges und schloß die Tür wieder.

Nach zehn Minuten standen wir auf der Veranda vor den Fenstern des Bibliothekzimmers. Die Vorhänge waren dicht zugezogen. Wir sahen jedoch darauf den Schatten Melproves immer wieder auftauchen und verschwinden. Er wanderte rastlos auf und ab, die Hände auf dem Rücken, – so recht wie einer, den schwere Sorgen ruhelos machen.

Harst pochte an die Scheibe – ganz vorsichtig. Dann wurde dieser Vorhang zurückgeschlagen. Harst hatte den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Melprove mußte uns sofort erkannt haben, denn er ließ den Vorhang zurückfallen, schaltete das Licht aus und öffnete dann erst das Fenster. Wir stiegen ins Zimmer, blieben im dunkeln am Fenster stehen.

„Wo kommen Sie her?“ flüsterte Melprove keuchend. „Mein Gott – wie freue ich mich, daß ich Sie beide lebend vor mir habe! Ich bin ja jetzt völlig von Sinnen vor Angst und all den Gedanken.“

„Wir haben nicht viel Zeit,“ erwiderte Harst schnell. „Hören Sie genau zu, Melprove. – Doch – erst noch eine Frage: weiß jemand, was gestern nacht geschehen ist? Haben Sie etwa Schliepner oder van Diemen ins Vertrauen gezogen?“

„Oh – ich wollte es! Aber – wie durfte ich es wagen! Man hat mich ja nur vom Bett wieder losgebunden, nachdem ich geschworen hatte, zu schweigen und zu gehorchen! Man hat mir diesen Schwur erpreßt und gleichzeitig gedroht, ich würde Ihr beider Schicksal teilen, falls ich irgendwie an Verrat dächte. Ich hielt Sie für tot – tatsächlich! Oder doch jedenfalls für verloren. – Als ich aus dem Klub heimkehrte, als ich kaum in meinem Schlafzimmer war, wurde ich zu Boden geschlagen –“

„Mit einem Sandsack – wie ich, als ich den Fensterriegel öffnen wollte,“ warf Harst ein. „Lassen wir das alles jetzt, Melprove. Hören Sie also: Sie werden zu Montag die zwei Millionen auftreiben. Sie gehorchen in allem. Es wird Ihnen dann ein Fischerboot begegnen, von dem zwei Chinesen rechtzeitig sich ins Wasser gleiten lassen und unbemerkt zu Ihnen an Bord kommen werden. Sorgen Sie dafür, daß dies auch wirklich ganz unauffällig geschehen kann. – Dann – richten Sie an Schliepner von mir am Montag früh, ebenfalls heimlich, folgendes aus. Er soll eine Polizeibarkasse als harmlosen Kutter in aller Stille herausstaffieren, soll sechs Beamte mitnehmen und drei Seemeilen westlich von Ihrem Kurs gleichfalls auf die Karimon Djawa-Inseln zuhalten, aber so, daß der Kutter keinerlei Verdacht erregt. Alles hängt von Schliepners Geschicklichkeit ab. Seien Sie doch außer Sorge! Wir werden Ihre Töchter befreien. Bei – Miß Backerley ist das nicht mehr nötig. – Nicht wahr, die Gesellschafterin ist eine sportgeübte Dame, sehr kräftig und groß?“

„Allerdings – das reine Mannweib. Sie reitet, schießt, spielt Tennis, Golf – alles vorzüglich! – Aber, was haben Sie mit der Backerley?!“

„Davon später. – Noch etwas Neues sonst, Melprove?“

„Ja – ich fand heute früh wieder ein Uhrkettenglied in der Serviette.“

„Also Nummer vier! Nun wird die Uhrkette bald verbraucht sein. – Haben Sie eine Schreibmaschine hier im Hause?“

„Eine, die nicht mehr benutzt wird. Sie ist nicht in Ordnung.“

„So! – Sie war nicht in Ordnung, behaupte ich. Wo befindet sie sich?“

„Hier im Schranke.“

„Dann werden Sie jetzt sofort auf irgend ein Stück Papier ein paar Sätze tippen, Melprove. So lange werden Schraut und ich uns hier verbergen. Nachher schalten Sie das Licht wieder aus und geben mir den Zettel. – Hat die Backerley vielleicht einen Bruder?“

„Nein. Sie ist das einzige Kind. Ihr Vater war Kapitän der Handelsmarine.“

„Hm –! – Also dann bitte – den Zettel tippen!“ –

Fünf Minuten später waren wir wieder oben in unserer Dachkammer. Harst fesselte mich und setzte sich dann neben mich auf die Dielen.

„Wir können jetzt noch ein wenig plaudern, mein Alter,“ meinte er. „Sie schläft nämlich. Wir sind sicher vor ihr.“

Ich hatte mir jetzt doch schon so allerlei unschwer zusammengereimt, was unseren Fall anbetraf.

„Sie – also die Mutter der Miß Backerley!“ erklärte ich flüsternd.

„Mutter?! Wer weiß! Vielleicht ist’s auch irgend ein anderes Weibsbild. Ein Weib ist’s jedenfalls. Das verrieten mir die Hände und der Turban, mit dem sie ihr Haar verbarg. – Ich sehe, Du bist jetzt so ziemlich im Bilde. Unsere erste Theorie war also falsch. Es kommt nur die zweite in Betracht, bei der Melprove außerhalb jedes Verdachts steht.“

„Und die Tochter, die Gesellschafterin, war die andere, zweite Person, die gestern nacht uns den Streich spielte?“ fragte ich jetzt.

„Ja. Man muß es annehmen, denn es waren beides Weiber. Als sie mich die Treppe emportrugen, stieß die eine gegen das Geländer, wodurch[1] sie ein wenig in Streit gerieten. Sie flüsterten zwar nur, aber ich hörte doch den Stimmen an, daß es Frauen waren.“

„Nicht zu glauben! Das muß ja eine nette Sorte von Damen sein! – Allerdings – wenn das „zarte“ Geschlecht die Verbrecherlaufbahn ergreift, leistet es darin oft mehr als –“

„Gestatte – hier ist die treibende Kraft fraglos ein Mann. Die Weiber sind nur seine Werkzeuge. Und – recht mangelhafte, denke ich! Unsere Bewachung ist doch sehr fehlerhaft. Damit wir das Theoretische nun gleich erledigen: ich schöpfte gegen diese kranke, gesichtsleidende Frau Backerley sofort Verdacht, als mir van Diemen die Skizze des Hauses gezeichnet hatte. Mutter und Tochter wohnen hier oben im Dachgeschoß allein. Die Fenster ihrer Zimmer gehen nach vorn heraus, liegen also über dem Eingang und der Haupttreppe zur Veranda. Nur von diesen Fenstern konnte man Melprove und van Diemen belauscht haben. So wurde ich auf die Backerley aufmerksam. Ich fragte dann van Diemen, wie lange die beiden Backerleys hier bei Melprove sind und woher sie kamen. Er erwiderte: „Die Jane, die Tochter, ein halbes Jahr; die Mutter erst drei Monate etwa. Sie stammen aus London.“ – Und als ich weiter fragte, welchen Eindruck die Jane auf ihn mache, erklärte er: „Das ist schwer zu sagen. Mir jedenfalls ist das Weib unheimlich. Sie benimmt sich ja tadellos, aber sie hat etwas im Blick, das mir nicht gefällt.“ – Das war für mich ein weiterer Grund, die Backerleys zu beargwöhnen. Ich halte nun folgenden Zusammenhang für feststehend: Die Jane ist schon mit der Absicht hergekommen, bei dieser Entführung mitzuhelfen. Den Brief des Piraten von Kap Kotaringia und den Zettel in der Serviette hat ihre Mutter dann hier mit Melproves Maschine geschrieben.“

Er breitete das Blatt Papier, das Melprove ihm vorhin gegeben hatte, auf dem Knie aus.

„Bitte – betrachte diese Schriftprobe. Lila Farbband, und dazu dieselben Unregelmäßigkeiten bei der Stellung der Buchstaben wie in dem Brief und dem Zettel. Wenn Melprove nur ein wenig Polizeiaugen hätte, würde ihm dies aufgefallen sein.“

„Und der Pirat, – natürlich kein Pirat, sondern ein ganz gewöhnlicher europäischer Verbrecher,“ meinte ich gespannt.

„Du irrst, mein Alter! Doch ein Pirat! Bei der Heimfahrt vom Klub erzählte Schliepner so allerlei von dem einst so berüchtigten Seeräuber von Kap Kotaringia, auch davon, daß dieser einst den alten Buddha-Tempel von Bandjermasin[2] ausgeplündert hätte. Der Tempel ist berühmt, weil der Altar vollständig mit kostbarem Mosaik bedeckt ist, einem Mosaik aus indischem Plasma, einem dunkelgrünen Halbedelstein. – Und – die Steine in den Uhrkettengliedern sind keine Kunststeine, wie Du bisher dachtest, – nein, es sind eben Plasma-Halbedelsteine, und die vergoldeten Arabesken darauf sind altchinesische Schrift, bedeuten „Seele des Weltalls“, eine der vielen Bezeichnungen für Buddha. – Und weiter: ich erkannte sofort, daß diese Plasma-Steine erst nachträglich in die Uhrkette, in die Nickeleinfassung, eingefügt waren, erkannte die Steine als Teile des Mosaiks des Altars jenes von dem Piraten geplünderten Tempels wieder und zwar nach einer Beschreibung in einem Werke über buddhistische Heiligtümer. Der Pirat dürfte also aus Eitelkeit die Mosaiksteine in eine billige Nickelkette eingefügt haben, weil sie dort gerade hineinpaßten. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so gelangt man zu dem Schluß: der Mann, der Melprove um zwei Millionen erleichtern will, ist tatsächlich der einstige Seeräuber von Kotaringia, der nie ein Malaie, sondern ein Europäer gewesen ist, und – vielleicht der Vater der Jane sein dürfte, der ja Kapitän der Handelsmarine war!“

„Ah – das reiht sich alles sehr gut aneinander!“ meinte ich nachdenklich. „Du meinst also, daß diese Jane jetzt hier in Semarang weilt – natürlich verkleidet.“

„Ganz recht! – Das alles wird ja hoffentlich Montag ans Tageslicht kommen! Jetzt wollen wir uns gute Nacht sagen.“

– – – – – – – –

Harst mit seinen eisernen Nerven war tatsächlich im Nu eingeschlafen und auch ich schlief bald ein.

Vormittags fütterte das als Mann verkleidete Weib uns abermals. Der Tag verging, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete. Harst machte sich nicht ein einziges Mal frei. Die Laterne stand jetzt wieder auf dem Koffer. Ich sehnte mich danach, meine Arme ein wenig bewegen zu können. Aber meine Zeichen mit dem Kopf und meine Grimassen schien Harst nicht verstehen zu wollen.

Die Nacht brach an. Um zehn Uhr trat das maskierte Weib wiederum ein; nach einer halben Stunde nochmals. Sie prüfte jetzt unsere Fesseln viel sorgfältiger als bisher. Als sie nun wieder gegangen war und die Laterne mitgenommen hatte, hörte ich nach einer Weile an dem Rascheln des Strohsacks, daß Harst die Haken herausschraubte. Dann nahm er mir den Knebel ab und band mich los.

„Sie hat ein Loch in die Tür gebohrt,“ flüsterte er. „Deshalb wagte ich nicht, uns am Tage etwas Bewegungsfreiheit zu verschaffen. – Hast Du gemerkt, daß sie mißtrauischer uns gegenüber geworden ist? Ich kann mir nur denken, daß Melproves Benehmen ihr aufgefallen sein wird. Er hat fraglos nach unserer Unterredung gestern neue Hoffnung geschöpft und wird nicht mehr so bedrückt sein wie bisher. Jedenfalls haben wir allen Grund, jetzt mit noch größerer Vorsicht zu Werke zu gehen. Ich bin im Laufe des Tages auch auf einen neuen Gedanken gekommen. Mein Plan für Montag sagt mir nicht mehr zu.“

„Ah – ganz wie mir!“ meinte ich lebhaft.

„Ja, der Plan kann zu leicht mißglücken. Außerdem – nimm mal folgendes an. Die Person, die uns bewacht, also die Mutter der Jane, hat hier doch Gelegenheit, alles im Hause auszukundschaften, was ihr irgend wichtig erscheint. Wir wissen ja, wie frech sie hier den Geist spielt, wie geschickt sie die warnenden Uhrkettenglieder Melprove zustellt, wie keck sie dessen Schreibmaschine benutzt und anderes. Wenn sie nun zum Beispiel mit ihren Genossen verabredet hätte, Melprove einen neuen Streich in der Art zu spielen, daß sie versucht, ihm das bereitgehaltene Geld hier schon zu stehlen?! Wenn die Bande vielleicht beabsichtigt, Melproves Töchter noch weiter als Erpressungsmittel zu benutzen?! – Weise diese Möglichkeit nicht ohne Nachprüfung von Dir, mein Alter! Wir müssen hier mit allem rechnen. Der geringste Fehler kann Melproves um die beiden Millionen bringen und uns – unsterblich blamieren!“

Er schaltete plötzlich seine Lampe ein und ließ den Lichtkegel in die Ecke fallen, wo bisher der große Koffer gestanden hatte. Der Koffer war verschwunden.

„Das deutet auf Flucht – Abreise hin!“ flüsterte Harst. „Wir müssen uns um jeden Preis darüber Gewißheit verschaffen, was die Bande eigentlich vorhat. Ich kann nicht recht daran glauben, daß das Geld wirklich auf See ausgehändigt werden soll. Diese Befehle in dem Briefe des Piraten können lediglich eine Falle sein. Zunächst wollen wir in dieser Nacht feststellen, in welcher Weise die Frau hier mit dem anderen Weibe, der Jane, sich in Verbindung setzt. Daß dies irgendwie geschieht, ist ja sicher. Vielleicht kommt diese Jane heute nächtlicherweile sogar wieder ins Haus. Am besten ist, wir überwachen vom Dach aus das Gebäude und die Umgebung. Also hinauf mit uns.“

Eine halbe Stunde drauf gewahrten wir in einer Baumgruppe, die etwa dreihundert Meter entfernt im Nordwesten vor dem Bungalow jenseits der Straße sich erhob, ein weißes Licht, das in kürzeren und längeren Zwischenräumen auftauchte und wieder verschwand. Dann – wir lagen jetzt ausgestreckt auf dem Dache und hatten die Fenster der beiden Zimmer der Backerleys gerade unter uns – sahen wir aus einem dieser Fenster ebenfalls ein Licht aufblitzen und erlöschen, wieder erscheinen und abermals verschwinden. – Also Lichtsignale wurden hier ausgetauscht! Offenbar wagten die Verbrecher nicht mehr, persönlich miteinander zu verkehren.

„Vorwärts – hin nach der Baumgruppe!“ meinte Harst, der plötzlich wie ausgewechselt war. Auch mich hatte das Jagdfieber gepackt. Ich ahnte, daß es in dieser Nacht zu irgend einer Entscheidung kommen würde. Es war dies die Nacht von Sonnabend zu Sonntag. Ich denke gern an sie zurück. Jetzt, wo ich diese Erinnerungen niederschreibe, liegt vor mir eine scheinbar wertlose Nickeluhrkette mit einem Kompaß als Anhänger, mit sechs dunkelgrünen flachen Steinen, in die Arabesken in Gold eingraviert sind: Bill Hamiltons Uhrkette, das Andenken an jene Nacht! –

Harst war mir stets ein paar Schritt voraus. Sehr bald hatten wir den betreffenden Baum herausgefunden. Es war ein junger Rasamala-Baum mit sehr dichter Krone. Jetzt konnten wir drüben auch den Bungalow Melproves und das noch immer aufleuchtende Licht sehen. – Wir warteten im Schatten einiger Sträucher. Vielleicht zehn Minuten vergingen. Dann kletterte jemand von dem Baume herab. Es war ein großer, starkknochiger Mann, der vom untersten Ast etwas schwerfällig auf den Grasboden sprang. Er schaute sich nur flüchtig um und schlug dann den Weg nach dem Hafen ein.

Die gepflasterte Straße verlief sehr bald schnurgerade, so daß wir weit zurückbleiben mußten. Wir kamen durch die von Chinesen zumeist bewohnte Hafenvorstadt. Hier rückten wir näher auf, gingen aber einzeln mit 20 Schritt Abstand etwa. Jetzt passierten wir eine schmutzige, schmale Gasse, in der es noch recht lebhaft war. Es gab hier allerlei verrufene Schenken und Singspielhallen niedrigster Sorte. Allerlei abgerissene Melodien drangen an unser Ohr, Gelächter, Gekreisch. Trunkene torkelten vorüber. Eine Schar amerikanischer Seeleute kam Arm in Arm daher, versperrte Harst den Weg, hetzte ihn johlend in einen Hof. Es war ja einer der verhaßten chinesischen Kulis, den man hier aus nationaler Abneigung ein wenig verprügeln wollte.

Als wir uns dann wieder zusammengefunden hatten, war der Europäer verschwunden. Harst kochte vor Grimm. Er geriet so selten in Erregung. – Dann eilte er auf einen eingeborenen Polizisten zu, kehrte sofort zu mir zurück. – „Wir haben Glück gehabt. Der Polizist kennt unseren Mann offenbar sehr gut. Er behauptet, es sei ein Kapitän Bill Hamilton, Besitzer eines Schoners, der seit Jahren hier in der Java-See durch Frachtfahrten sein Brot verdient. – Ahnst Du etwas, mein Alter!“ fügte er triumphierend hinzu. „Dieser Bill Hamilton und –“

Er schwieg plötzlich. Er packte meinen Arm, deutete auf eine verschleierte, große Frau in langem Seidenmantel, die soeben in eine bessere Kneipe gerade vor uns durch das Fenster hineinschaute. – „Sie kam von dorther,“ flüsterte er. „Also aus der Richtung von Melprove Bungalow. Diese Größe! Ich wette, sie ist’s! – Sie hat unsere Flucht entdeckt. – Los denn – wir riskieren’s!“

Was wollte er nur? Was?! – Mit drei Sätzen war er hinter der Frau. Ich blieb dicht hinter ihm. Er drängte sich an die Verschleierte heran, sagte auf englisch: „Guten Abend, Mistreß Backerley!“

Das Weib prallte zurück. – „Kommen Sie mit!“ befahl Harst kurz. „Gehorchen Sie! Das Spiel ist aus! – Schraut, hole den Polizisten.“

Er faßte die Frau rücksichtslos am Handgelenk und zerrte sie hinüber auf die andere Straßenseite. Das Weib war noch immer vor Schreck wie gelähmt. Dann stand der eingeborene Polizist vor Harst. Und – dieser schmierige Kuli sagte jetzt sehr kurz: „Ich bin Harald Harst, ein guter Bekannter des Inspektors Schliepner. Bringen Sie diese Frau sofort nach der Wache, telephonieren Sie an Schliepner, er solle sich sofort hier einfinden, und kommen Sie mit zweien Ihrer Kollegen zurück.“

Der Schleier der Frau war so dicht, daß man von den Gesichtszügen nichts erkennen konnte. Sie schien ganz teilnahmslos zu sein – schien! Plötzlich aber suchte sie sich loszureißen, kreischte gleichzeitig überlaut ein warnendes:

„Bi –“

Es hatte das Wort Bill werden sollen, kein Zweifel!

Harst war ihr schon an die Kehle gesprungen. Der Schrei erstickte in einem Röcheln. Das Weib wehrte sich verzweifelt. Wir zogen es hinter das Holztor eines Hofraums. Der Polizist jagte davon. Bereits nach fünf Minuten kam ein geschlossenes Auto. Das Weib flog hinein. Das Auto fuhr weiter.

Harst postierte die drei Polizisten jetzt vor der Schenke. Wir traten ein. Sofort stürzte der dicke, holländische Wirt auf uns zu. – „Raus, gelbes Gesindel, – raus! Hier habt Ihr nichts zu suchen!“

Harst nannte ganz leise seinen Namen – diesen Namen, der durch die Entlarvung des Doktor Drygaarden hier so schnell bekannt geworden. – Der Wirt trat zurück.

In einer Ecke war ein vollbesetzter, runder Tisch. Alles daran europäische Seeleute: Kapitäne, Steuerleute, Schiffsingenieure. – Auf dem Glanzledersofa in einer Ecke saß ein wahrer Riese mit dunkelgebräuntem, faltigem, bartlosem Gesicht: Bill Hamilton!

Harst ging auf den Tisch zu, sagte sehr laut auf englisch: „Die Herren gestatten, daß ich mich vorstelle. Ich bin der deutsche Detektiv Harald Harst. Ich habe hier mit Master Hamilton eine kleine Rechnung glatt zu machen.“

Hamilton war hochgeschnellt. Harsts Mehrlader jedoch hielt ihn in Schach. – „Bill Hamilton, keine verdächtige Bewegung! – Sie haben der Hitze wegen Ihre Jacke abgelegt. Ihre Uhrkette dort ist wohl der Ersatz für die, deren einzelne Glieder Sie Armand Melprove zugehen ließen?! Diese Uhrkettenglieder haben Sie verraten. Bill Hamilton, Sie sind der Pirat, der den Buddha-Tempel[3] in Bandjermasin geplündert hat, – Sie sind der berüchtigte, vielgesuchte Pirat von Kap Kotaringia!“

Totenstille für Sekunden. – Dann – von der Tür her Schliepners Stimme: „Im Namen Ihrer Majestät, der Königin von Holland, – Sie sind verhaftet, Bill Hamilton!“

Fünf, sechs eingeborene Polizisten stürzten sich auf den Riesen. Der schüttelte sie mit ein paar Fausthieben ab, brüllte: „Ich gehe freiwillig mit! Da, Inspektor, legt mir nur Handschellen an! Es war mein Pech, daß ich diese Zwei-Millionen-Sache gerade eingeleitet hatte, als einer hier auftauchte, der mehr Hirn im Schädel hat als alle holländischen Polizisten zusammengenommen!“

Ein furchtbarer Lärm erhob sich. Die Gäste deuteten diese Worte richtig: als Zugeständnis Hamiltons, daß es der Pirat von Kotaringia sei. – Die ganze Wut der Seeleute gegen diesen Piraten, der ein Jahr lang[4] der Schrecken der Java-See gewesen, kam jetzt zum Ausbruch. Nur mit Mühe konnte Hamilton ins Freie und in das Polizeiauto gebracht werden.

Schliepner, wir beide und acht Beamte eilten dann zum nahen Hafen, wo Hamiltons Schoner lag. In einem Verschlage im Vorschiff fanden wir Melproves Töchter; fanden in der Kajüte die sportgeübte Gesellschaftsdame, die angebliche Jane Backerley, wie sich dann herausstellte: Jane Hamilton, des Piraten Tochter, während deren Mutter Hamiltons zweites Kind, die ältere Tochter Ellen war, die tatsächlich an einem bösen Gesichtsausschlag litt.

Der Schoner hatte nur Malaien als Besatzung, insgesamt zehn Mann. Die gerichtliche Untersuchung ergab, daß dies dieselben Leute waren, die schon vor zwei Jahren dem Piraten von Kotaringia gedient und mit ihm ungezählte Morde verübt hatten. Weiter aber wurde auch noch ermittelt, daß Ellen und Jane Hamilton bereits damals die Raubzüge ihres Vaters als Malaien verkleidet, mitgemacht hatten, und daß Harsts Annahme, Ellen hätte die bereitgehaltenen zwei Millionen Melprove stehlen sollen, richtig gewesen war.

Die Entlarvung Bill Hamiltons erregte ungeheures Aufsehen. Damals erhielt Harst seinen ersten Orden – einen holländischen. Für mich fiel als Andenken Hamiltons Uhrkette dabei ab und eine kostbare Brillantnadel, die Melprove mir schenkte.

 

 

Die Wahrsagerin von Jorjakara.

 

Oft genug sind Harald Harst und ich lediglich durch einen Zufall zu einem neuen Abenteuer, einem neuen „Problem“ gekommen, meist dann auf sehr merkwürdige Art, sobald es sich um einen solchen Zufall handelte.

Am seltsamsten jedenfalls war in dieser Beziehung die Verkettung von Umständen, die uns nach Jorjakara führte, wo wir vom Union-Klub zu einem Herrendiner eingeladen waren, das um 5 Uhr nachmittags begann und dessen letzter Gang etwa um 9 Uhr abends serviert wurde.

Der Großkaufmann van Diemen, der Klubpräsident, hatte dann eine besondere Überraschung vorbereitet; ein Wasserfeuerwerk auf dem kleinen, malerischen See, der mitten in dem ausgedehnten Parke des Klubhauses lag.

Der von Palmen umgebene See besaß nun eine besondere Merkwürdigkeit, eine kleine Felseninsel, die schroff aus dem Wasser wie ein halb verfallener Turm aufstieg.

Dicht vor diesem Inselchen war ein Bambusfloß verankert, auf dem die Feuerwerkskörper abgebrannt wurden, die ein Chinese aus Semarang geliefert hatte. Bekanntlich sind gerade die Chinesen im Erfinden neuer Feuerwerkseffekte groß. Lange bevor man in Europa die erste Rakete abbrannte, erfreuten sich die bezopften Bewohner Chinas schon an buntsprühenden Feuerrädern, an selbsttätig aufsteigenden Drachen und ähnlichem.

Am Ostufer des Sees waren für uns Zuschauer in zwanglosem Durcheinander Bänke und Korbsessel aufgestellt. Van Diemen, ein paar Vorstandsmitglieder, Harst und ich saßen auf einem breiten, ein Stück in den See hinausgebauten Bootssteg.

Der chinesische Pyrotechniker, der Feuerwerkskünstler Lian Schen, brannte das Feuerwerk selbst ab. Ich war überrascht, mehr noch, ich war entzückt von dem, was ich sah. Wie kläglich nahm sich gegenüber diesen eigenartigen Erfindungen Lian Schens doch eine gleiche Vorführung in der Heimat aus! Wie glänzend gelang der Aufstieg einer Riesenrakete, die in fünfzig Meter Höhe einen leuchtenden Schmetterling ausspie, der sich dann graziös auf die Seeoberfläche niederließ und hier als Wasserlibelle zischend und farbige Sterne auswerfend hin und her schoß.

Harst saß rechts von mir. So und so oft rief er mir leise ein „Famos! Großartig!“ oder ähnliches zu.

Jetzt stieg von dem Floße ein gut zwei Meter langer Papierlindwurm auf, in dessen aufgeblähtem Leibe rote Flämmchen strahlten und der aus seinem Schweif wie ein Komet weiße Feuergarben in das nächtliche Dunkel schickte.

Langsam segelte das Ungetüm heran, fiel dann dicht vor dem Bootssteg ins Wasser und ging in Flammen auf.

Sofort folgte ein zweiter, ganz ähnlicher Drache, nur mit grünen Flämmchen im Innern. Er flog über uns weg und im die Krone einer Palme hinein, wo er kurz aufflackernd wie der erste verbrannte.

Und ein dritter kam, strich kaum ein Meter über uns hinweg und rief unter den am Ufer sitzenden Herren einige Verwirrung hervor, da er mitten zwischen den Sesseln landete.

Gelächter, laute Rufe, Händeklatschen begleiteten den Feuertod dieses kecken Papieruntiers.

Ich war aufgestanden und hatte die Szene beobachtet, wie die Herren mit ihren Sesseln schleunigst ausgerissen waren.

Da – ein harter Griff an meinem Arm. Gleichzeitig Harsts Stimme – leise, aufgeregt, überstürzt:

„Schraut – eine Teufelei! Vorsicht!“

Dann rief er den anderen vier Herren, die mit uns auf dem Stege saßen, halblaut zu:

„Sollte noch einer dieser Drachen aufsteigen und auf uns zufliegen, so müssen wir schleunigst weg von hier. – Ah – da kommt er schon! Fort mit uns – nur fort!“

Und er riß van Diemen hoch, der etwas viel getrunken hatte, rannte ans Ufer, brüllte hier: „Unter die Bäume, meine Herren, – unter die Bäume – und alles sich lang hinwerfen!“

Hätte nicht gerade Harst die warnenden Worte ausgestoßen, würde man sie vielleicht als schlechten Scherz aufgefaßt und nicht befolgt haben. So aber rannte alles der nahen Palmenallee zu. Im Nu war das Ufer leer.

Ich stellte mich hinter einen Stamm; ich sah den gelbleuchtenden Drachen heransegeln, sah, wie er sich senkte – wie er gerade auf den Brettersteg fiel.

Ein furchtbarer Krach dann.

Holzstücke flogen umher, Balkenenden sausten durch die Luft. Und der Luftdruck der Explosion warf mich wie einen Ball meterweit rückwärts in ein Gebüsch, wo ich halb betäubt liegen blieb.

Ein ungeheurer Tumult erhob sich jetzt. Alles rief, schrie, fragte wild durcheinander.

Dann eilten Diener mit Fackeln herbei. Ich rappelte mich auf. Van Diemen stürzte auf mich zu.

„Wo ist Harst? Was ist eigentlich passiert?“

Er war leichenblaß.

Man umdrängte uns. Immer wieder wollte man von mir wissen, was diese Explosion zu bedeuten hätte, wo Harst geblieben wäre.

„Es kann sich nur um ein Attentat handeln,“ erklärte ich. „Ein sehr raffiniertes Attentat gegen meinen Freund, der jetzt sicher schon dabei ist, der Sache auf den Grund zu gehen.“

Allmählich trat Ruhe ein.

Dann – von der Insel her ein lauter Ruf – Harsts Stimme:

„Schraut, nimm ein Boot, komm hierher!“

Ich riß einem der Diener eine der Harzfackeln aus der Hand und rannte nach dem völlig zertrümmerten Stege hin, fand auch noch ein unbeschädigtes Boot und trieb es mit den Rudern, nachdem ich die Fackel vorn festgeklemmt hatte, der Insel zu.

Der See war etwa 150 Meter breit. Das Bambusfloß war bald erreicht. Harst stand dort mit triefenden Kleidern, rief mir sofort leise entgegen:

„Das galt uns, mein Alter! Ich ahnte es. Ich sah es voraus. Die ersten drei Drachen waren sozusagen das Einschießen auf das Ziel. Der erste ging zu kurz, zweite zu weit, der dritte traf schon besser, und der vierte sollte uns dann das Lebenslicht ausblasen.“

Ich stieg auf das Floß.

„Komm,“ fügte Harald hinzu, „ich werde Dir etwas zeigen.“

Am anderen Ende des Floßes lagen – der Chinese Lian Schen und sein Gehilfe (es war sein Sohn) gefesselt, geknebelt und bewußtlos da.

„Sie haben böse Beulen am Hinterkopf,“ meinte Harst. „Sie sind niedergeschlagen worden. Dann haben zwei andere Leute ihre Rollen übernommen: Die Attentäter! – Ich wurde argwöhnisch, als der dritte Drache hinter uns in die Sesselreihen am Ufer fiel. Das sah mir doch zu sehr nach „Einschießen“ auf ein bestimmtes Ziel aus. Deshalb auch meine Warnung.

Schade – ich kam zu spät,“ fuhr Harst fort. „Ich lief sofort um den See herum nach links, sprang ins Wasser und schwamm dem Floße zu. Leider war ja alles in tiefste Finsternis gehüllt. Ich konnte nichts sehen – nichts von den Leuten, die von hier flüchteten. Als ich auf das Floß kletterte, lagen nur die beiden Chinesen hier.“

Ich hatte die Fackel in der linken Hand. Ich merkte, daß Lian Schen sich zu regen begann.

Harst war schon niedergekniet, hob des Chinesen Kopf etwas an und fragte auf holländisch:

„Wie fühlt Ihr Euch? Könnt Ihr mir einige Fragen beantworten?“

„Ja, Mynheer. Es geht mir leidlich. Nur der Kopf – der Kopf!“

Das dürre Männchen mit dem faltigen, quittengelben Gesicht schloß wieder erschöpft die Augen.

„Sie müssen ins Haus geschafft werden,“ meinte Harst. „Eine Eisblase wird nötig sein. Sie sind fraglos mit einem sandgefüllten Schlauch von einem sehr kräftigen Menschen mit zwei Hieben niedergestreckt worden.“ –

Eine Stunde später.

In einem der Klubzimmer lagen auf den Wandsofas die beiden Chinesen, jeder mit einem Eisbeutel auf dem Kopf. Im Zimmer befanden sich außer Harst und mir noch van Diemen, Kriminalinspektor August Schliepner, unser Landsmann, und der Arzt Dr. Lockmeeren.

Harst saß auf einem Stuhl neben dem Lager Lian Schens. Wir anderen vier standen hinter Harsts Stuhl.

Lian Schen hatte soeben mit weinerlicher Stimme bei all seinen Ahnen beteuert, daß er an dem Attentat ganz unschuldig sei.

„Beruhigt Euch nur, Lian Schen,“ sagte Harst freundlich. „Daß Ihr nichts mit dieser Schurkerei zu tun habt, geht schon aus der brutalen Art hervor, wie man Euch wehrlos gemacht hat. – Wann wurdet Ihr niedergeschlagen, Lian Schen?“

„Als ich die große Rakete abgebrannt hatte und gerade den ersten Drachen fertigmachte.“

„Wie viele von diesen Drachen hattet Ihr mit auf dem Floß?“

„Drei im ganzen.“

„Ah – also hatten die Attentäter den vierten mitgebracht. Ihr habt nichts von den Leuten gesehen, die Euch fesselten?“ fragte er dann den Chinesen.

„Nichts. Der Schlag traf mich von hinten ganz unvorbereitet.“

Lian Schens Sohn, ein Bursche von achtzehn Jahren etwa, erklärte dasselbe.

„Gibt es hier in der Umgebung von Semarang oder in Semarang selbst noch einen Mann, der wie Ihr Feuerwerkskörper herzustellen versteht?“ forschte Harst weiter.

„Nein,“ erwiderte der Chinese bestimmt. „Nicht einen, Mynheer! Auf ganz Java sogar bin ich der einzige, der besseres Feuerwerk anfertigt. Insbesondere sind die fliegenden Drachen meine Erfindung und mein Geheimnis. Keiner kann sie herstellen. Es ist nämlich ein Trick dabei, sie zum Aufsteigen zu bringen.“

„Und diesen Trick habt Ihr niemandem bisher gezeigt, Lian Schen?“

„Nein. Er ist Geschäftsgeheimnis. Nur mein Sohn kennt ihn.“

„Nun – das kann nicht stimmen. Ihr habt ja heute erlebt, daß noch ein Anderer einen solchen Drachen anfertigen und hochsteigen lassen kann. – Besinnt Euch genau: habt Ihr wirklich keinem Fremden das Geheimnis mitgeteilt?“

„Mynheer, wo werde ich das tun! Ich würde mich ja dadurch schwer schädigen. Ich liefere nach Batavia, Surakarta – überallhin Feuerwerkskörper und werde zumeist persönlich hinberufen, wenn ein größeres Fest stattfindet. Jedenfalls lasse ich Drachen nur persönlich aufsteigen. Ich verkaufe auch keine, wenn ich nicht selbst mitengagiert werde.“

Harst flüsterte jetzt Lian Schen ganz leise zu: „Ist Euer Sohn zuverlässig? Vielleicht hat er sich bestechen lassen und das Geheimnis preisgegeben.“

Der Chinese schüttelte lächelnd den Kopf.

„Er ist zuverlässig, Mynheer. Kein Chinese verrät ein Geschäftsgeheimnis, das sich in der Familie weitervererbt hat.“

Wieder schwieg Harst eine Weile. Dann fragte er Lian Schen:

„Wann und wo habt Ihr in den letzten Wochen Eure Drachen bei Festlichkeiten steigen lassen?“

„Oh – im letzten Monat nur dreimal, mit heute viermal, Mynheer. Zuletzt vor fünf Tagen in Surabaja bei Mynheer van den Broock, dann in Batavia bei Mynheer Hußmann, und – ja, es war vor zwei Wochen – bei Mistreß Bellingson in Jorjakara.“

„Jorjakara?“

„Ja – so eine Art Badeort oder Luftkurort in den Bergen südlich von Semarang,“ beeilte sich der Klubpräsident van Diemen zu erklären. „Übrigens ein reizendes Dörfchen, bester Harst, dessen größte Sehenswürdigkeit die alte Mistreß Bellingson ist.“

Schliepner hatte leise aufgelacht.

„Sehenswürdigkeit paßt hier wohl nicht recht,“ meinte er. „Man sagt besser: Rarität! – Die Dame ist nämlich eine Wahrsagerin, die wirklich Erstaunliches leistet.“

„Gibt sie denn auch Feste mit Feuerwerk?“ fragte Harst interessiert.

„Gewiß. Sie ist noch recht lebenslustig und macht ein großes Haus,“ erwiderte[5] van Diemen. „Sie sollten sie mal besuchen, Harst. Lassen Sie sich nur von ihr die Zukunft vorhersagen. Die Art, wie sie es tut, ist recht eigenartig. Überhaupt: die Frau ist das, was man so eine rätselhafte Persönlichkeit nennt. Über das, was man von ihr weiß, oder besser, was man von ihr nicht weiß, muß man in allem ein „Soll“ setzen. Sie soll die Gattin eines Majors der indischen Armee gewesen sein; sie soll dann eines Brahmanen Gattin geworden sein, der irgend einer besonderen Sekte angehörte; dieser Inder soll wegen verschiedener Verbrechen vor etwa fünfzig Jahren gehängt worden sein; worauf Mistreß Bellingson aus Indien geflüchtet sein soll unter Mitnahme ungeheurer Schätze an alten Schmuckstücken und Edelsteinen. – Wie gesagt – alles über sie kann man nur mit „Soll“ angeben. In Jorjakara haust sie seit fünfzehn Jahren, hat dort einen alten Steinkasten, ein ehemaliges Jagdschloß eines eingeborenen Fürsten, gekauft und sich den Behörden gegenüber ordnungsmäßig durch Papiere ausgewiesen, die auf den Namen Maria Bellingson lauten, Witwe des in Bangkok vor etwa dreißig Jahren verstorbenen Kaufmanns englischer Nationalität Allan Bellingson!“

Harst hob jetzt abwehrend und mit etwas ironischer Miene die Hand.

„Genug, bester Diemen, – übergenug! Vielleicht würde ich Mistreß Bellingson wirklich besuchen, wenn ich Zeit dazu hätte. Aber ich muß morgen früh bereits nach Batavia zurück. Freund Schliepner wird dieses Attentat hier ja hoffentlich aufklären und mir dann schriftlich mitteilen, was dabei herausgekommen ist. Ich bin jetzt doch zu der Überzeugung gelangt, daß dieses in seiner Art wohl einzig dastehende Verbrechen sich nicht gegen meine und meines Freundes Person richtete, sondern vielleicht Ihnen, van Diemen, oder Schliepner galt.“ –

Die beiden Chinesen wurden jetzt in einem Wagen nach Hause geschafft. Da im Klub keine rechte Stimmung mehr aufkam, was nach diesem rätselhaften Vorfall auch nicht weiter wunderbar war, fand der Festabend ein ungewohnt frühes Ende. Bereits um Mitternacht waren wir wieder daheim, das heißt in Schliepners behaglichem Bungalow, wo wir hier in Semarang ein geradezu glänzendes Unterkommen gefunden hatten. Wir plauderten mit Schliepner noch eine Weile auf der Veranda und sagten ihm dann gute Nacht. Wir mußten um 6 Uhr aufstehen, wenn wir noch zum Frühzuge nach Batavia rechtzeitig auf dem Bahnhof sein wollten.

– – – – – – – –

„Wenn man auch auf die geringste Kleinigkeit achtet, – aber auch nur dann! –, findet man stets etwas wie das Ende eines Fädchens, an dem man sich weiter dem verhüllten Ziele entgegentasten kann,“ sagte Harald Harst zu mir in unserem reservierten Abteil, als der Zug sich gerade wieder wie ein Maulwurf in einem der Tunnel verkroch, die auf der Strecke Semarang–Surakarta so häufig sind.

Harst hatte obige Sätze ganz unvermittelt gesprochen, ohne daß irgend ein Gespräch vorausgegangen wäre, zu dem sie irgendwie in Beziehung gestanden hätten.

Ich blickte ihn fragend an. Das elektrische Licht war in unserem Abteil selbsttätig eingeschaltet worden, als der Zug im Tunnel verschwand.

Harst saß bequem zurückgelehnt in seiner Ecke mit übergeschlagenen Beinen und zwinkerte mir jetzt vergnügt zu.

„Glaubtest Du wirklich, wir würden nach Batavia fahren?“ meinte er nun.

„Keine Spur! – Aber da Du Dich über Deine wahren Absichten so hartnäckig ausschweigst, wollte ich –“

Er hatte sich vorgebeugt, fragte schnell: „Kennst Du diese Absichten?“

„Nein. Ich vermute nur, daß Du hinsichtlich des Attentats ganz anderer Meinung bist, als Du den Herren des Klubs –“

„Ganz recht,“ unterbrach er mich wieder. „Bitte, lieber Alter, nun denke mal an das, was ich soeben über die „geringsten Kleinigkeiten“ sagte, die man „beachten“ soll. – Die beiden Chinesen sind schuldlos. Das steht außer Zweifel. Man hat lediglich Lian Schens hübsche Feuerdrachen dazu benutzt, nach ihrem Muster einen Feuerdrachen herzustellen und – auf uns, versehen mit einer Sprengladung, loszulassen. Uns galt das Attentat, uns allein! Daß dabei noch mehrere harmlose Leute mit in die Luft fliegen mußten, war den Anstiftern sehr gleichgültig. Mithin muß der Haß und die Rachsucht dieser Anstifter das gewöhnliche Maß derartiger verwerflicher Gefühle weit übersteigen. – Wer sind nun diese Menschen, die uns morden wollten?“

Das war eine Frage, die ich offenbar beantworten sollte. Ich konnte jedoch nur die Schultern heben und erklären: „Bedauere – ich weiß es nicht!“

Harst krauste unzufrieden die Stirn.

„Du weißt es nicht, weil Du gedankenträge bist, mein Alter. Wenn Du auf das, was im Klubzimmer gesprochen wurde, als ich die Chinesen verhörte, genau achtgegeben hättest, wenn Du die Sätze sofort geistig genügend in allen Einzelheiten verarbeitet hättest, dann würdest Du unschwer herausgefunden haben, daß unser nächstes Ziel jetzt Jorjakara sein muß.“

„Aha – die geheimnisvolle Mistreß Maria Bellingson!“ rief ich sofort.

„Bitte – weshalb gerade die?!“

Da hatte ich mich festgefahren, erklärte aber doch mit aller Sicherheit: „Nun, weil damals im Klubzimmer nur von ihr die Rede war!“

Harst lachte. „Das nenn’ ich sich fein herauswinden! – Wovon war denn die Rede, he?! – Meinst Du, sie interessiert mich, weil sie die Wahrsagerin spielt, weil van Diemen sie als rätselhafte Persönlichkeit hinstellte? – Genügte das, um mich zu veranlassen, Jorjakara als nächstes Reiseziel Dir soeben anzugeben?!“

„Oh – Lian Schen hat ja bei ihr ein Feuerwerk abgebrannt!“

„Gut so! Nun kommen wir dem Kern der Sache schon näher. – Ich will Dir wiederholen, was van Diemen damals erzählte:

– Sie soll dann die Gattin eines Brahmanen geworden sein, der irgend einer besonderen Sekte angehörte; dieser Inder soll wegen verschiedener Verbrechen gehängt worden sein – vor etwa fünfzig Jahren.

Na – dämmert’s Dir nun?!“

Er hatte die hier gesperrten Wörter stark betont. Nur dadurch kam mir jetzt wie ein Blitz die Erleuchtung.

„Thug!“ flüsterte ich. „Der Brahmane war ein Thug! Vor fünfzig Jahren hat der indische Vicekönig[6] Lord Wolpoore die Mördersekte der Anbeter der blutigen Göttin Kali[7] so energisch verfolgt, daß man seitdem kaum mehr etwas von diesen Mordgesellen gemerkt hat.“

„Kaum – mehr – etwas!“ nickte Harst ernst. „Nur wir und der jetzige Träger des Namens Wolpoore und dessen Familie haben am eigenen Leibe gespürt, daß die Thug allem, was Wolpoore heißt, furchtbare Rache geschworen haben. Wir wissen – wissen bestimmt, daß es ein Thug war, der die Jacht India des Lords vor ein paar Wochen in die Luft sprengen wollte; wir waren es, die dieses Attentat verhinderten. Und – deshalb stehen auch wir jetzt auf der schwarzen Liste dieser Geheimsekte. – Haben wir also Grund, uns die alte Mistreß Bellingson genauer anzusehen oder nicht?“

„Hm – Grund hätten wir. Aber wir täten fraglos klüger, schleunigst den Staub dieses schönen Landes von unseren weißen Leinenschuhen zu schütteln und uns nicht in einen Kampf mit dieser Mörderbande einzulassen, die –“

„ja – die nicht eher ruhen wird, bis sie uns beide kalt gemacht hat!“ führte Harst den Satz mit schwerer Betonung zu Ende. „Die uns auch drüben in Europa suchen und finden würde, genau so wie sie es fertiggebracht hat, das Geschlecht der Wolpoores bis auf drei männliche Träger dieses Namens auszulöschen! – Nein, mein Alter: wenn wir beide je wieder in Ruhe uns irgendwo bewegen oder irgendwo in Ruhe uns zum Schlaf ausstrecken wollen, dann müssen wir die jetzt noch vorhandenen Mitglieder der Sekte vorher unschädlich machen! Wir müssen es! Leute, die so raffiniert die Vorführung eines Feuerwerks zu einem derartig vernichtenden Streiche, wie dieser Bombendrache es hätte werden können, ausnutzen, sind Gegner, vor denen man nicht flieht, wenn man sich vor ihnen schützen will. Die muß man angreifen! Angriff ist noch stets die beste Verteidigung gewesen!“

Ich schwieg dazu. Es wäre zwecklos gewesen, Harst diesen Entschluß ausreden zu wollen.

„Du machst ein Gesicht, mein Alter, das mir genug sagt,“ meinte Harald darauf und lehnte sich wieder zurück. „Ich stelle Dir anheim, nach Berlin zurückzukehren, garantiere Dir aber dann jetzt schon, daß Du lebend nicht dorthin gelangst!“

„Spare Dir derartiges!“ fuhr ich ärgerlich auf. „Ich habe Dich bisher nicht im Stiche gelassen und tue es auch jetzt nicht.“

Er reichte mir die Hand. „Ich wußte, daß Du so antworten würdest. Also – dann zu zweien nach Jorjakara. – Dicht vor Surakarta kommt der Tunnel mit den kurzen Kurven,“ fügte er in anderem Tone hinzu. „Dort wird die Komödie beginnen. Mit den Vorbereitungen fangen wir jetzt schon an. – Schneide also unsere beiden Koffer entzwei und streue den Inhalt hier umher!“

Was er mir weiter an Anweisungen für die „Komödie“ gab, kam auf nichts anderes heraus, als daß er einen hier im Abteil verübten Mordanschlag auf uns vortäuschen wollte.

Nur ein Mann wie Harst konnte all die Feinheiten ersinnen, um diese Täuschung vollkommen zu machen. Zum Schluß schob er seinen linken Ärmel hoch und brachte sich am Unterarm einen Schnitt bei, aus dem genügend Blut hervordrang, um unserem reservierten Abteil auch durch Blutflecke ganz das Bild des Schauplatzes eines Raubmordes zu geben.

Es dunkelte bereits, als der letzte Tunnel vor Surakarta den Zug verschluckte, der hier der Kurven wegen sehr langsam fuhr. Wir ließen die eine Tür hinter uns offen und uns selbst dann vom Trittbrett auf den kahlen Fels neben die Schienen fallen, rollten uns sofort weiter bis an die Tunnelwand und blieben hier regungslos liegen, da wir befürchten mußten, daß der aus den Fenstern fallende Lichtschein uns treffen und wir bemerkt werden könnten.

Alles ging glücklich von statten. Der Zug verschwand. Um uns her lastete jetzt schwärzeste Finsternis. Wir hatten unsere Leinenanzüge vorher gegen unsere dunkelgrauen Sportanzüge vertauscht und trugen in unseren Taschen nur das Notwendigste bei uns.

Eine Stunde drauf waren wir im Eingeborenenviertel von Surakarta. Wir schlichen durch dunkle, enge Gassen, wichen jedem Menschen aus, bis Harst dann über einen Bambuszaun auf einen Hof kletterte. Wir belauschten eine Chinesenfamilie (in Surakarta mit seinen 105 000 Einwohnern gibt es einige 20 000 Zopfbrüder) beim Abendessen und – gaben dann zum ersten Mal eine Gastrolle als Einbrecher, indem wir aus dem nach der Straße zu gelegenen Laden desselben Chinesen, der mit allem zu handeln schien, ums nur irgend Nutzen abwarf, für uns zwei vollständige Anzüge herausholten, wie sie bessere indische Kaufleute hier zu Lande zu tragen pflegen. Aber – wir legten Geld dafür auf den Tisch, so daß der Chinamann dabei ein recht gutes Geschäft machte.

Nachher verbargen wir unsere Sportanzüge in einer Felsspalte eines öden Tales, verbrachten hier die Nacht, gingen bei Sonnenaufgang auf die Suche nach dem überall in Ostindien wildwachsenden Kukussastrauche, dessen Wurzelsaft eine sehr dauerhafte dunkelbraune Beize liefert, die wir jetzt nicht als Anfänger in der Kunst, aus Europäern dunkelhäutige Inder zu machen, verwendeten.

Wir legten diesmal den allergrößten Wert auf tadellose Durchführung unserer Masken, beschauten uns gegenseitig immer wieder und banden uns dann zum Schluß die bunten Kopftücher turbanartig tief in die Stirn. Die Augenbrauen hatten wir wegrasiert und ebenso die Schläfenhaare, ganz so, wie nach Harsts Behauptung die Bewohner von Süd-Birma dies zu tun pflegen, die gerade die Sunda-Inseln als Händler in größerer Zahl stets bereisen und in der Hauptsache Edelsteinaufkäufer sind. Die Diamanten, die auf Java gefunden werden, haben keinen sehr großen Wert, da sie sämtlich einen leicht gelblichen Schimmer besitzen. Immerhin gelten sie in Europa noch als erstklassig. Das so nebenbei.

Vormittags elf Uhr benutzten zwei Inder, die jeder einen bescheidenen Bastkoffer trugen, den Bummelzug nach Semarang, verschafften sich durch ein Trinkgeld Plätze im Dienstabteil der Schaffner und schliefen hier bis zur Station Bandjala, wo sie dann ausstiegen und in dem Dorfe gleichen Namens von einem Javanen ein leichtes, zweiräderiges Wägelchen sowie einen mageren Pony kauften.

Mit diesem Gefährt fuhren sie in die wildromantischen Berge von Jorjakara hinein.

– – – – – – – –

Am späten Abend hielten wir mit unserem Wägelchen unseren Einzug in Jorjakara, die sogenannte Bergperle von Semarang.

Jorjakara liegt am Nordabhang des erloschenen Vulkans gleichen Namens in etwa 1500 Meter Höhe auf einer etwa ein Kilometer breiten Vorterrasse. Da der Mond bereits aufgegangen und die Nacht sehr hell war, konnten wir nach Norden zu in weiter Ferne selbst mit bloßem Auge das Meer unterscheiden.

Wir hatten vereinbart, hier die indischen „Gumu Galfar“, die „ewig Stummen“ zu spielen, daß heißt Hindu, die das Gelübde ewigen Schweigens getan haben. Man begegnet diesen Gumu Galfar nicht allzu selten, wie ja überhaupt Indien das Land der „sonderbaren Heiligen“ ist.

Jorjakara ist hauptsächlich Solbad. Es hat sehr kräftige Schwefelquellen. Das Eingeborenenviertel des etwa 5000 Einwohner zählenden Ortes liegt nach Osten zu und ist von dem Europäerviertel Weltevreden benannt (wie der berühmte moderne Stadtteil in Batavia), durch eine ungeheure Felsspalte getrennt, über die eine Hängebrücke führt.

Wir stiegen in einem chinesischen Gasthof ab, der dicht an dieser Brücke lag. Unser Wirt verständigte sich sehr leicht mit uns durch Zeichen. Wir nahmen in dem aus Schlammziegeln erbauten, großen Hause ein Zimmer, dessen Fenster auf die Anlagen hinausgingen, die sich längs der Felskluft hinzogen.

Um Mitternacht verließen wir unser Quartier durch das Fenster, überschritten die Hängebrücke, waren plötzlich mitten in einem eleganten Villenort, der ebenso gut irgendwo in der Umgebung Berlins hätte liegen können. Elektrische Bogenlampen erhellten die sauberen, breiten Straßen, die Vorgärten, die meist hell gestrichenen Gebäude, an denen sich vielfach Aufschriften befanden, die sie als Pensionate kennzeichneten.

Hier gab es Cafees mit breiten, überdachten Terrassen, hier tönte uns Walzermusik entgegen, umrauschte uns das bunte Getriebe eines bevorzugten Badeortes.

Jetzt Ende November hatte hier die „Saison“ begonnen, denn von Oktober bis April, wo unten an der Küste der Nordwestmonsun häufige Regenfälle hervorruft, wo in den Küstenstädten dann alles – aber auch alles in der feuchtwarmen Luft sich mit Schimmelpilzen überzieht, wo kein Klavier einen vernünftigen Ton hergibt, wo furchtbare Gewitter sich entladen, flieht der wohlhabende Europäer in die Berge nach Jorjakara.

Bereits in Semarang hatte Harst sich von unserem Landsmann Schliepner ungefähr beschreiben lassen, wo das alte Jagdschloß lag, das Mistreß Bellingson von einem eingeborenen Fürsten erworben hatte. Nachdem wir das Europäerviertel durchquert hatten und auf eine ziemlich steil ansteigende Bergstraße gelangt waren, erblickten wir linker Hand inmitten eines Parkes riesiger Bäume einen dicken Turm, hinter dessen kleinen Fenstern Licht schimmerte.

Zehn Minuten drauf standen wir im Schatten eines verfallenen Pavillons und hatten nun diesen düsteren Steinkasten von uraltem Jagdschloß dicht vor uns, nur getrennt davon durch einen vernachlässigten Rasenplatz, aus dem hie und da die Trümmer von allerlei Steinfiguren hervorragten. – Das Schloß war nichts als ein zweistöckiges Viereck mit flachem Dach, aus dem in der Mitte der runde Turm herauswuchs.

Ringsum das starke Rauschen der Parkbäume und allerlei Tierlaute von nächtlichen Jägern: das scheußliche Geplärr der großen Baumeidechse, das Kreischen von Affen, die die Obstbäume hinter dem Schlosse plünderten, das schrille Pfeifen von Riesenfledermäusen, die auf leuchtende Insekten Jagd machten, von fernher auch das helle Geheul jenes dachsähnlichen Raubtiers, das auf Java etwa den deutschen „Meister Reineke“ darstellt.

Mit Ausnahme von vier Fenstern im Turme war das Gebäude nicht erleuchtet. Erwähnen will ich noch, daß die Parkmauer größtenteils eingestürzt und von Unkraut überwuchert war.

Der Pavillon, dessen Schatten wir aufgesucht hatten, war von der östlichen Parkmauer etwa hundert Schritt entfernt und bestand nur noch aus dem steinernen Unterbau und drei Säulen. Das Dach und die vierte Säule waren nach der Seite umgestürzt und versperrten halb die Treppe, die einst zu dem kleinen Bauwerk emporgeführt hatte.

Ich wunderte mich, daß Harst noch immer regungslos auf demselben Fleck ausharrte und mit einem mir unverständlichen Interesse angestrengt nach dem Steinkasten hinüberspähte. Wir konnten meines Erachtens sehr gut jetzt umkehren, nachdem wir das Terrain sondiert hatten. Wir wußten hier jetzt genügend Bescheid. Weshalb also nicht besser zurück in unser Quartier?! Müde genug waren wir doch nach der vorigen Nacht!

Ich berührte Harsts Arm.

„Still!“ hauchte er. „Siehst Du denn nicht, das –“

Das weitere verstand ich nicht. – Nun, wenn es hier etwas zu sehen gab, denn würde ich’s ja wohl auch herausfinden. Ich schaute mir also den verwitterten Bau sehr sorgfältig an. Die eine Hälfte der Vorderfront war vom Monde beschienen, die linke; die andere war in Schatten getaucht.

Ah – jetzt sah ich wirklich etwas! – Auf dem flachen Dache gerade vor dem Turme hing – ja – es war ein Mensch, ein Mann – an der Mauer, zog sich jetzt an dem geschweiften Eisengitter eines der dunklen Turmfenster empor und verschwand, weil dort gerade die Schattengrenze begann.

„Die Bellingson scheint noch mehr Verehrer von der Art wie wir zu haben,“ flüsterte Harst. „Wollen doch mal feststellen, wie die Kerle auf das Dach gelangt sind.“

„Kerle? – Einer war’s nur!“

„Nein – zwei, mein Lieber. Der eine stand auf den Schultern des anderen, von dem nur noch der Kopf zu sehen war.“

Wir schlichen stets im Schatten der Bäume und Büsche um das Haus herum. Seitengebäude oder Stallungen gab es hier nicht.

Plötzlich blieb Harst stehen und deutete nach oben. Ich bemerkte eine Leiter, die aus der Krone einer Eiche etwa horizontal nach dem Dach hinübergelegt war. Die Seitenstangen und Sprossen dieser dünnen Bambusleiter hoben sich scharf gegen den ausgestirnten Himmel ab.

„Warten wir,“ flüsterte Harst und zog mich hinter ein paar Riesenfarnkräuter.

Es wurde eine harte Geduldsprobe. Endlich kletterten dann wirklich zwei Männer, die dunkle Kniehosen und dunkle Jacken sowie schwarzgefärbte Strohhüte trugen, über die Leiter sehr gewandt hinweg. Die Leiter wurde darauf eingezogen, und die beiden Männer turnten nun an einem Seil zur Erde herab, das sie dann einholten und mit sich nahmen. Sie waren im Nu in der Dunkelheit verschwunden.

„Die Leiter haben sie oben im Baume versteckt,“ raunte Harst mir zu. „Wie wär’s, wenn ich mal denselben Weg hinüber auf das Dach machte?! – Komm’, ich muß wissen, was die Kerle hier treiben.“

Ich riet sehr eindringlich davon ab. Es half nichts. Harst packte meinen Arm, zerrte mich nach der Eiche hin und schwang sich auf meine Schultern. Ich durchlebte dann eine sehr unangenehme halbe Stunde. Ich sah die Leiter über mir aus dem Blättergewirr auftauchen, sah Harst hinüberrutschen nach der Dachkante, sah – dann nichts mehr von ihm, fühlte nur, wie meine Angst um ihn sich von Minute zu Minute steigerte. Aber – er kehrte wohlbehalten zurück, meinte nur: „Schade – ich hätte mir die Anstrengung sparen können. Es gab da oben nichts, was meinen Verdacht bestärkt hätte.“

Erst als wir wieder auf der Straße waren, fragte ich: „Welchen Verdacht? – Was hatten die Kerle denn Deiner Ansicht nach vor?“

„Fensterln!“ erwiderte er kurz.

Ich verstand. Die Javanen sind ein Volk, das in der Liebe Poesie und Romantik pflegt. Der junge Javane scheut sich nicht, seiner Angebeteten wegen selbst Gefahren sich auszusetzen und so ein Stelldichein zu ermöglichen. „Fensterln“ ist ja nun die Bezeichnung für eine heimliche Zusammenkunft eines Liebespaares und spielt in Gebirgsgegenden eine große Rolle.

Gleich darauf bogen wir in die Hauptstraße des Villenortes ein. Es war jetzt fast 2 Uhr morgens. Trotzdem ging es auf der Terrasse des Musikcafees[8] noch sehr lebhaft zu. Zu meinem Erstaunen schwenkte Harst nach dem Eingang ab. Wir setzten uns an ein Tischchen unweit der Brüstung. Die Kapelle spielte noch. Der eingeborene Kellner brachte uns den bestellten Mokka und einen Teller mit Zwieback. Wir waren hier wieder die „Gumu Galfar“, verständigten uns durch Zeichen. Links von uns an der Wand saßen an einem langen Tisch etwa ein Dutzend Herren und Damen, alles Europäer. – Harst trank, flüsterte mir mit der Tasse am Munde zu:

„Die auf dem Rohrsofa!“

Was er mit diesen Worten meinte, war klar. Auch mir war bereits inmitten der fröhlichen Gesellschaft eine weißhaarige Frau aufgefallen, in deren Ohrläppchen ein Paar riesige Brillanten blitzten. Das schmale, noch immer frische Gesicht dieser Greisin erhielt einen besonderen Reiz durch die großen mandelförmigen, sehr lebhaften Augen, über denen die offenbar künstlich nachgedunkelten Brauen wie schwarze Striche lagen. Die Frau war sehr elegant gekleidet. Kopfhaltung, jede Bewegung, selbst das feine, liebenswürdige Lächeln verrieten ein gewisses Selbstbewußtsein und natürliche Vornehmheit. Mir fiel auf, daß die Greisin als einzige der Damen Schwarz trug; sogar der Hut war schwarz und mit einem schwarzen Schleier umwunden. – Es konnte nur Maria Bellingson sein, die dort an dem langen Tisch so offenbar den Mittelpunkt der Gesellschaft bildete.

Ich beobachtete sie unauffällig. Und ich sagte mir sehr bald, daß Harst hier sehr wahrscheinlich mit seinem Verdacht arg daneben gegriffen hätte. Diese Frau sollte die Verbündete einer Mörderbande sein, wie die Thug es doch waren?! Ausgeschlossen! –

Etwa eine Viertelstunde drauf fuhr ein Ponywagen vor dem Eingang des Cafees vor. Mistreß Bellingson brach auf. Die Damen und Herren geleiteten sie bis an den Wagen, der von einem Kutscher gelenkt wurde.

Unter den Herren befand sich ein älterer Herr, den die anderen stets mit „Doktor“ anredeten. Diesem Herrn folgten wir abermals eine Viertelstunde drauf bis zu einer großen Villa, einem Sanatorium, wie ein Schild über dem Gartentor verriet.

„Das ist nämlich der Doktor ten Brinken,“ erklärte mir Harst. „Ein dicker Freund van Diemens.“

Der Arzt und Sanatoriumbesitzer schloß jetzt die Gartenpforte auf. Harst ging auf ihn zu, flüsterte mit ihm. Ich hörte, wie ten Brinken leise ausrief: „Wie – Sie sind –“

Da winkte mich Harst schon herbei, stellte mich vor. Der Doktor reichte mir stumm die Hand und führte uns dann in seine Wohnung im Erdgeschoß der Villa. Wir saßen in einem behaglichen Herrenzimmer. Ten Brinken hatte dafür gesorgt, daß wir weder belauscht noch von einem der Diener gesehen werden konnten. Er war Junggeselle und offenbar ein sehr genußfroher Herr, so eine Art von ewigem Jüngling mit fröhlichen Augen und einer recht sorgenlosen Lebensauffassung. Natürlich platzte er jetzt sofort mit der Frage heraus, was wir hier vorhätten. Van Diemen hätte ihm nachmittags von Semarang telephonisch mitgeteilt, wir beide wären offenbar die Opfer eines Raubmordes im Zuge nach Surakarta geworden. Man hätte schon die Umgebung der Bahnstrecke nach unseren Leichen abgesucht, jedoch ohne Erfolg. Inspektor Schliepner wäre jetzt persönlich an der Arbeit, dieses Verbrechen aufzuklären.

„Ich begreife, ich begreife!“ fügte er schmunzelnd hinzu. „Sie beide haben nur verschwinden wollen! Nun – ich werde schweigen wie das Grab. Und wo ich Ihnen helfen kann, meine Herren – ich stehe Ihnen zur Verfügung. Mir wird es eine Ehre sein, Herr Harst, gerade Ihnen –“

„Sehr liebenswürdig,“ fiel ihm Harst ins Wort. „Deswegen haben wir uns Ihnen ja auch zu erkennen gegeben, Herr Doktor. Ich möchte von Ihnen Auskunft über eine Dame haben, die hier bereits längere Zeit ansässig ist, genau wie auch Sie, Herr Doktor.“

„Dame – Dame?! – Hm – das kann dann nur Mistreß Bellingson sein, schätz’ ich.“

Harst nickte.

Da lachte der Doktor leise auf, schüttelte den Kopf und meinte:

„Oh, mein verehrtester Herr Harst, die Bellingson ist das harmloseste Tierchen von der Welt. So eines jener Weiber mit ein wenig Geist ist’s, die gern von sich reden machen. Eitel, putzsüchtig, herrschsüchtig, dabei aber im Grunde ein Kindergemüt. Van Diemen oder Schliepner wird Ihnen wohl von den Wahrsagermätzchen erzählt haben. Na – da kann ich – gerade ich Ihnen die beste Aufklärung geben. Ich habe die Bellingson längst durchschaut, will ihr aber den Spaß nicht verderben. Sehen Sie, sie macht es so. Sie ist ungeheuer reich. Sie unterhält fraglos rein zu ihrem Vergnügen ein Heer von Spionen. Sie spioniert alles aus – alles. Sie weiß über jeden einzelnen Bescheid, mag der Betreffende hier oder sonstwo in Ostindien wohnen. Sie spielt so gewissermaßen die Vorsehung. Sie ist klug, sehr klug, auch wohl das was man geistvoll nennt. Kommt jemand zu ihr, den sie noch nicht kennt, dann bestellt sie ihn nach ein oder zwei Wochen wieder zu sich. Inzwischen hat sie dann Material gesammelt, verblüfft nun durch eine besondere Art, mit der sie ganz intime Einzelheiten über des Betreffenden Daseinsführung vorbringt.“

„Das alles habe ich mir gedacht,“ sagte Harst gleichgültig. „Sie arbeitet nach einer Methode, die schon berühmtere Vorgängerinnen von ihr angewandt haben. – Einige Fragen, Herr Doktor. – Die Bellingson hält sich wohl nur Inder als Diener?“

„Ganz recht, ausschließlich Inder, und zwar eine solche Menge, daß die Leute vor Nichtstun sich zu Tode langweilen dürften. Ihr Haus ist das reine Pensionat oder Erholungsheim. Aber – sie ist anderseits keine angenehme Herrin. Sie wechselt häufig mit ihren Leuten. Dann wieder tut es ihr leid, daß sie sie entlassen hat, und sie holt sie wieder zurück. Vielleicht sind diese Entlassungen auch nur ein Trick, vielleicht sind diese „Gekündigten“ dann eben als Spione tätig!“

„Letzteres dürfte zutreffen. Nur – diese Spionage ist nicht so harmlos, wie Sie annehmen, Herr Doktor,“ meinte Harst ernst. „Wissen Sie genaueres über die Vergangenheit dieser Frau?“

„Hm – das ist ein Punkt, den ich offen gestanden ungern erörtere. Die Bellingson war vor fünf Jahren einmal sehr schwer krank: Lungenentzündung, Herzschwäche. Da hat sie im Fieber so allerhand ausgeplaudert. Und – na – das fällt doch mit unter das ärztliche Berufsgeheimnis, besonders das, was ich – so besonderes an – an ihrem Arm entdeckte. Sie werden dies nicht verstehen, Herr Harst, – ich meine, diese Andeutung. Daher nur ließ ich mich überhaupt so weit darüber aus. Sie können es nicht verstehen. Jedenfalls – die arme Frau hat ein Leben hinter sich, das in gewisser Beziehung grauenvoll gewesen sein muß – grauenvoll!“

Harst schaute ten Brinken voll an.

„Sie irren sich, Herr Doktor,“ erklärte er leise. „Ich verstehe alles –! Die Andeutung über den Arm genügte. Sie haben auf der Innenseite des linken Ellenbogengelenks eine Tätowierung gefunden: das Bild der Göttin Kali oder Bhowani, die die Thug anbeten und der zu Ehren sie einst mit geweihten Schlingen unzählige Menschen heimlich erdrosselten.“

Ten Brinken war hochgefahren, stotterte:

„Ja – aber woher in aller Welt haben Sie –“

Harst hatte ihm schon die Hand hingestreckt, sagte schnell:

„Machen Sie sich keine Gewissensbisse, weil Sie mir nun doch etwas verraten haben, was mir wertvoll ist, obwohl es sich lediglich um die Bestätigung eines Verdachtes handelt, der bei mir schon so gut wie Gewißheit war. – Frau Bellingson ist durchaus kein harmloses Weib, Herr Doktor. Im Gegenteil: von ihrem Hause hier wird ein heimlicher Kampf geführt, ein Vernichtungskrieg gegen die Angehörigen einer Familie, gegen – die Familie Wolpoore!“

„Herr Gott!“ entfuhr es ten Brinken. „Wolpoore – Wolpoore –! Ich kenne das Schicksal des einstigen Vicekönigs von Indien und seiner Nachkommen! Er ist ermordet worden, und alle Träger dieses Namens –“

Harst winkte ab. „Wir haben nicht viel Zeit, Herr Doktor. Es muß sehr bald hell werden. Dann müssen wir in unserem Gasthof sein. – Noch eine Frage: Trägt die Bellingson stets Trauer?“

„Nein. Sie hat erst vor zwei Wochen etwa diese schwarzen Gewänder angelegt. Bis dahin –“

„Danke – ob sie Kinder besitzt?“

Der Doktor hob die Schultern „Sie soll einen Sohn haben – soll! In ihrem Salon ist auffallenderweise ebenfalls seit etwa vierzehn Tagen die photographische Vergrößerung des Brustbildes eines jungen Inders mit Trauerflor überspannt, wie ich bei einem meiner häufigen Besuche im sogenannten Jorjakara-Schlosse feststellen konnte. Als ich – wir sind ja recht gut bekannt miteinander – die Bellingson fragte, weshalb das Bild jetzt schwarz verhüllt wäre, wurde sie ohne jeden Grund leichenblaß. Ihre Augen flammten auf. – „Es ist der Sohn einer Freundin!“ stieß sie hervor. „Er ist – plötzlich gestorben in Erfüllung einer heiligen Pflicht!“ – Dann sprach sie sofort von etwas anderem.“

Harst erhob sich. „Auch dies ist mir sehr wertvoll, Herr Doktor,“ meinte er nachdenklich. „Sehr – wertvoll, weil es – den Bombendrachen erklärt –“ Er sagte das so, als ob er mit seinen Gedanken weit weg wäre.

„Ah – das Feuerwerk im Klub!“ flüsterte ten Brinken erregt. „Eine tolle Geschichte. Van Diemen hat –“

Harst schien gar nicht auf diese Sätze hingehört zu haben.

„Ist Ihnen bekannt,“ fiel er dem Doktor unhöflich ins Wort, „wo Mistreß Bellingson ihre Juwelen und so weiter aufbewahrt?“

Ten Brinken stutzte, meinte dann zögernd:

„Sie soll sie im Turme verborgen haben – soll! Sie bewohnt ja auch nur die Turmgemächer. Es gibt dort im ganzen vier Räume, je zwei in den beiden obersten Turmgeschossen. Die Fenster hat sie stark vergittern lassen. Sie scheint sich dort oben wohl am sichersten zu fühlen, nachdem sie vor drei Jahren von ein paar europäischen Gaunern – damals wohnte sie noch im Hauptgebäude – beinahe umgebracht worden wäre. Die beiden Spitzbuben hatten es fraglos auf die Juwelen abgesehen. Die alte, aber noch überaus rüstige Frau verdankte ihre Rettung nur ihren zahmen schwarzen Panthern. Die beiden Schufte entkamen damals. Man ermittelte lediglich, daß es zwei Europäer gewesen waren.“

Harst verabschiedete sich jetzt, nachdem er sich von ten Brinken noch hatte mitteilen lassen, wann und wie man am besten Zutritt bei der Wahrsagerin erhielte.

Wir gelangten dann ungehindert in unser Quartier zurück. Auf dem Wege dorthin war Harst still und nachdenklich. Nur einmal sagte er zu mir:

„Ich glaube, mein Alter, wir sind gerade zur rechten Zeit hierher gekommen.“

Im übrigen mußte ich mich gedulden. Ich hätte so gern gewußt, was er nun eigentlich beabsichtigte. Mir schien, als ob das Attentat im Union-Klub für Harald jetzt nur noch nebensächliche Bedeutung hätte.

– – – – – – – –

In unseren Bastkoffern, die wir in Surakarta gekauft hatten, befanden sich in der Hauptsache ein paar kostbare indische, golddurchwirkte Decken, die wir dort bei einem Chinesen aufgestöbert und teuer bezahlt hatten.

Am nächsten Vormittag gegen elf Uhr begannen wir zum Schein unsere Handelsgeschäfte, wobei die indischen Decken die ihnen vorherbestimmte Rolle spielten. Wir besuchten ein paar Villen im Europäerviertel, forderten aber – alles durch Zeichensprache – so hohe Preise, daß wir überall abgewiesen wurden. Ebenso fragten wir nach Edelsteinen, gingen auch in zwei Basare, alles nur, um möglichst jeden Verdacht zu vermeiden, wir könnten unecht sein, denn wir mußten ja mit dem fein arbeitenden Spionagesystem der Bellingson rechnen.

Gegen ½1 Uhr mittags betraten wir den Park des Schlosses und setzten dann den Türklopfer am Haupteingang in Bewegung. Unsere Lage war kritisch. Gerade weil die Bellingson lediglich indische Dienerschaft hielt, konnten wir in unseren Masken nur zu leicht durchschaut werden.

Erst nach einer geraumen Weile öffnete ein alter, langbärtiger Inder, der uns unheimlich durchdringend fixierte.

Harst bedeutete ihm, daß wir Edelsteinaufkäufer seien und auch die seltenen, kostbaren Decken der Herrin des Hauses anbieten möchten.

Der Alte schloß die Tür und ließ uns draußen auf der Treppe warten. Vor der Treppe zog sich ein breiter Kiesweg hin. Dann kam der Rasenplatz, der sich nach dem Parktor zu bis zum Anfang einer Allee aus indischen Koniferen hinzog. Die Entfernung bis zu den ersten Alleebäumen betrug vielleicht hundert Meter. Dichtes Gebüsch und kleinere Bäume rahmten diesen eiförmigen Rasenplatz ein.

Harst hatte sich auf die oberste Stufe der Steintreppe gesetzt. Er blickte scheinbar tief in Gedanken geradeaus – dorthin, wo das von einer Buschkulisse halb verdeckte, noch leidlich erhaltene Parktor lag.

Dann – und er flüsterte die Sätze, fast ohne die Lippen zu bewegen – dann hörte ich folgendes, als ich mich neben ihn gesetzt hatte:

„Erste Konifere links – Reste von buntem Papier – dazu ein paar dünne Bambusstäbchen –“

Ich suchte mit den Augen, bis ich das entdeckt hatte, worauf er mich aufmerksam machen wollte. Es stimmte: dort oben hingen an einem der dem Hause zugekehrten Äste Papierfetzen und ein paar ganz dünne Stäbe, dazu noch ein paar lange Bindfadenenden.

Hinter uns knarrte der schwere Türflügel. Wir standen schnell auf. Der alte Inder winkte. Wir folgten ihm in eine große Vorhalle, deren Rückwand die gekrümmte Mauer des durch die Mitte des Gebäudes hindurchgehenden Turmes bildete. Eine schmiedeeiserne, kunstvolle Tür verschloß den Zugang zum Turm. Der Alte öffnete sie. Es ging eine Steintreppe hinauf, die in einem engen Schacht emporlief. Sie endete auf einem Vorplatz in Form eines Sechsecks. Die holzgetäfelten Wände zeigten nirgends eine Tür. Trotzdem war eine solche gerade gegenüber der Treppe vorhanden. Der alte Hindu pochte in besonderer Art an das Getäfel, worauf zwei große, zusammenhängende Quadrate der Schnitzerei sich nach innen auftaten. Er deutete in das sonnenhelle Gemach hinein, worauf wir eintraten. Der Raum glich mehr einem orientalischen Museum als einem Wohngemach. Niemand befand sich darin. Die Tür hatte sich hinter uns lautlos geschlossen. Auch hier war keinerlei Eingang wahrzunehmen. Durch die drei Bogenfenster, die oben bunte Scheiben hatten, fielen leuchtende Sonnenstreifen auf seltsame, reich eingelegte Sessel, Truhen und Schränke.

Harst hatte sich flüchtig umgeschaut, markierte jetzt eine frei erfundene Fingersprache und setzte sich auf einen niedrigen Elfenbeinhocker. Ich folgte seinem Beispiel. Gerade vor mir an der Wand hingen in breiten Ebenholzrahmen unter Glas auf rote Pappe geheftete bunte, offenbar indische Seidentücher, in Kranzform geschlungen. Ich zählte: es waren vier von diesen merkwürdigen, eingerahmten Tüchern vorhanden. Aber ich sah noch mehr: unter jedem Tuche war mit goldenen Buchstaben, offenbar in indischen Schriftzeichen, etwas geschrieben.

Ich blickte nach Harst hin, wollte ihn auf diesen seltsamen Wandschmuck aufmerksam machen. Doch er hielt den Kopf gesenkt und hantierte an dem Schloß seines Bastkoffers herum, öffnete diesen jetzt, holte zwei der kostbaren Decken hervor und breitete sie dann über einem Muschelschemel aus, wobei er sich ganz so benahm, wie ein Händler, der seine Ware möglichst gefällig zur Schau stellen will.

Dann – ich prallte mit einem Satz bis an das mittelste Fenster zurück und Harst tat sofort ein Gleiches – dann war ganz lautlos von hinten neben uns ein glänzend schwarzer Panther aufgetaucht, dessen langer Schweif langsam hin und her pendelte.

Erst als wir (Harst spielte fraglos nur den heftig Erschrockenen) bei der Flucht zum Fenster hin uns umschauten, sahen wir noch zwei weitere, ebenso prächtige Panther und – Mistreß Maria Bellingson in einem langen, schwarzen Seidengewand.

Heute, wo kein Hut ihr schneeweißes, volles Haar bedeckte, wo das Tageslicht die hohe, schlanke Gestalt und das vornehme, feinlinige Greisinnengesicht traf, gewann man sofort den Eindruck, hier einer Frau von ganz besonderer Veranlagung gegenüberzustehen. Das Hoheitsvolle, Gebieterische ihrer Erscheinung wirkte so stark, daß ich über diesem Anblick beinahe vergaß, daß ich doch nur ein einfacher, brauner Händler war und ihr beinahe eine sehr europäische Verbeugung gemacht hätte.

Sie stand ganz regungslos und fixierte uns scharf mit ihren großen, dunklen Augen. Einmal war’s mir, als ob um ihren Mund etwas wie ein spöttisches überlegenes Lächeln flog. Aber ich konnte mich auch getäuscht haben.

Harst begann jetzt auch schon, nachdem er sich mit über der Brust gekreuzten Armen mehrfach sehr tief verneigt hatte, durch Zeichen dieser ungewöhnlichen Frau zu erklären, weshalb wir sie aufgesucht hätten, hob die eine Decke auf, brachte sie in die richtige Beleuchtung und deutete durch Abzählen an den Fingern den Preis an.

Maria Bellingson schüttelte den Kopf. – Dann legte Harst zwei ungeschliffene Edelsteine auf die Hand und wiederholte seine stummen Erklärungen, die jetzt auf die Frage hinausliefen, ob die Hausherrin Edelsteine kaufe oder zu verkaufen hätte.

Wieder nur das Kopfschütteln als Antwort.

Währenddessen strichen die drei Panther unruhig im Zimmer umher. Ich kann nicht behaupten, daß mir sehr wohl bei alledem war. Im Gegenteil: ich hatte nur den Wunsch, wir möchten wieder ganz heil ins Freie gelangen.

Nun – meine Angst war überflüssig. Plötzlich tat sich die unsichtbare Tür wieder auf. Der alte Inder winkte, und Harst packte seine Decken wieder ein. –

Mistreß Bellingson hatte noch immer dieselbe Stellung inne. Ihre Augen ließen nicht von uns ab. Wir verbeugten uns mit den Armen über der Brust mehrmals bis zur Erde und gingen hinaus. Als ich die Treppe hinabschritt, glaubte ich, daß jeden Moment irgend etwas uns Ungünstiges sich ereignen würde. Nichts geschah. Wir waren jetzt wieder im Park, durchschritten die Koniferenallee und betraten die Straße. Harst „unterhielt“ sich mit mir in der Fingersprache. Erst als wir in unserem Zimmer waren, als Harst auch nochmals die Tür geöffnet und sich überzeugt hatte, daß niemand draußen lausche, trat er dicht vor mich hin und flüsterte:

„Lieber Alter, wir werden Mühe haben, hier wieder unversehrt davonzukommen. Nachmittags wollen wir noch ein wenig die Händler spielen und dann diesen Ort, der für uns eine so ungesunde Luft hat, mit unserem Wägelchen wieder verlassen. Nur so hoffe ich – ich hoffe nur! –, werden wir diesem Weibe entgehen, die ten Brinken doch sehr – sehr unterschätzt. Wir beide richten gegen sie nie etwas aus. Wir müssen Hilfe haben: Freund Schliepner mit einem ganzen Polizeiaufgebot. Nur so wage ich es, gegen sie vorzugehen. – Mach’ dazu kein so zweifelndes Gesicht. Ich meine es völlig ehrlich mit alledem. Vergiß nicht, daß das alte Jagdschloß das Hauptquartier derjenigen Leute ist, die der Familie Wolpoore ewige Rache und Vernichtung geschworen haben, daß alles, was gegen die Wolpoores unternommen wurde, von dieser hochintelligenten Frau ausging! Ich habe jetzt die Beweise, daß sie das Oberhaupt der Reste der Thugsekte ist, daß sie es war, die das Attentat gegen uns angestiftet hat, daß sie – auch Grund hat, mich – uns beide wie Todfeinde zu hassen! Die Papierfetzen und die Stäbchen in der Konifere waren zweifellos Reste eines der Versuchsdrachen, die sie hergestellt hatte. Denn das Feuerwerk wurde ja bei dem Feste, das sie letztens veranstaltet hatte, in den rückwärtigen Teilen des Parkes abgebrannt, wie Lian Schen uns mitteilte. Maria Bellingson dürfte uns heute als Europäer erkannt haben – vielleicht als Harst und Schraut trotz der auch hier verbreiteten Nachricht von unserem Tode. Mithin – abends geht’s nach Semarang!“

– – – – – – – –

Wir taten bis gegen zehn Uhr abends so, als ob wir gar nicht an eine Abreise dächten. Dann aber bezahlte Harst unseren chinesischen Wirt, wir spannten sehr schnell unseren Pony ein und fuhren denselben Weg zurück, den wir gekommen waren.

Das Wägelchen war zweiräderig. Wir saßen nebeneinander auf dem Sitzbrett. Ich kutschierte. Es ging zumeist bergab auf der tadellosen Bergstraße. Nur selten begegneten wir einem Wagen, einem Büffelkarren oder ein paar Eingeborenen. Nach einer Viertelstunde passierten wir einen Kampong. Harsts Augen waren überall. Ich merkte, wie argwöhnisch er war. Daß er irgendwie und -wo einen Überfall befürchtete, räumte er ohne weiteres ein.

Der Kampong lag hinter uns. Wir kamen jetzt durch einen Hohlweg.

„Galopp fahren! Hau’ auf den Gaul ein, daß er seine Faulheit verliert!“ rief Harst leise. Er hatte jetzt seinen Mehrlader in der Hand.

Wir rasten davon. Der Pony ging fast durch.

Dann – wie vom Blitz getroffen überschlug er sich plötzlich, das Wägelchen flog über das Pferd hinweg, und wir sausten im Bogen mitten auf die Straße.

Ich fiel so unglücklich, daß ich mit dem Kopf aufschlug, verlor sofort die Besinnung. Mein letzter Gedanke war: „Die Schufte haben ein Seil über den Weg gespannt gehabt –!“

Als ich wieder zu mir kam, als ich die Lider mühselig öffnete, bohrten sich mir sofort, rasende Schmerzen erzeugend, grelle Lichtstrahlen in die Augen ein. Trotzdem behielt ich die Augen offen. Jemand reichte mir einen Becher. Ich trank. Es war ein süßer, schwerer Wein. Ich konnte nun auch unterscheiden, was um mich her vorging, wo ich mich befand.

Ich saß in einem tiefen, altertümlichen Armsessel; rechts neben mir Harst in einem geschnitzten Lehnstuhl; uns gegenüber aber – Mistreß Maria Bellingson in einem kostbaren Elfenbeinsessel. Und ihr zu Füßen lagen die drei schwarzen Panther.

Es war dasselbe Turmgemach, in dem sie uns vorher empfangen hatte. Jetzt aber brannte an der Decke eine große, blaßgrüne Lampe, und vor den drei Fenstern befanden sich hölzerne Laden.

Der Wein belebte mich schnell. Meine Gedanken klärten sich immer mehr.

„Ich nehme an, Sie sind jetzt wieder völlig bei Besinnung, Master Schraut,“ sagte da die Greisin mit klarer, ruhiger Stimme. „Ihrem Freunde Harst ist es besser ergangen. Er fiel nicht so unglücklich!“

Was sollte ich antworten?! Ich machte nur eine etwas verlegene Verbeugung. – Wir waren also wirklich in ihrer Gewalt –! Harsts Sorge war nur zu berechtigt gewesen!

„Wir können dann also das besprechen, was es hier zu besprechen gibt,“ fuhr die seltsame Frau fort. „Master Harst, wissen Sie, weshalb ich Sie beide gefangen nehmen ließ?“ Ihr Englisch war tadellos, Ihr Benehmen uns gegenüber durchaus höflich und zwanglos.

„Gewiß weiß ich das, Mistreß Bellingson,“ erwiderte Harst gelassen. „Sie haben aus Ihrer Ehe mit dem Brahmanen einen Sohn gehabt, dessen Bild in einem Ihrer Gemächer hier hängt. Das Unglück wollte es, daß ich damals auf Lord Wolpoores Jacht India das Versteck entdeckte, wo er sich verborgen hatte, um die Jacht in die Luft zu sprengen. Er fand dann den Tod. Und für dieses Ende Ihres Kindes machen Sie jetzt mich verantwortlich.“

Ich sah, wie sich in den Zügen der Greisin größtes Staunen ausdrückte.

„Woher – woher –“

Harst unterbrach sie kurz. „Vergessen Sie nicht, Mistreß, daß Sie es mit einem Detektiv zu tun haben. Mir genügten Kleinigkeiten, die ich erfuhr, um auf den Gedanken zu kommen, jener Inder, der vor etwa drei Wochen im indischen Ozean mit abgehauenem Arm ertrank, müsse Ihnen nahe – sehr nahe gestanden haben. Sie tragen seit kurzem Trauer; das Bild in Ihrem Salon ist mit Flor bespannt. Und – Ihre Genossen, Thug, waren es, die mich im Garten des Union-Klubs zur Strafe –“

Maria Bellingson war jäh aufgesprungen. Ihr Gesicht war verzerrt; ihre Augen ruhten in maßlosem Haß auf Haralds unbewegtem Antlitz.

„Ja – Sie sollten sterben!“ zischte sie förmlich. „Sie werden auch sterben! Denn Sie haben mir das Einzige genommen, woran noch mein Herz hing: meinen Sohn! – das Andenken an einen Mann, den ich über alles geliebt habe, obwohl er – das Oberhaupt der Thug war. Ich wußte es! Was galt dies meiner Liebe?! Mich hat Javisindra auf den Händen getragen! Mit ihm verlebte ich vier Jahre eines seligen Glücks! Dann – wurde er gehenkt – auf Befehl Lord Wolpoores, des damaligen Vicekönigs von Indien! Und – und jetzt – jetzt haben Sie sich meiner heiligen Rache hindernd in den Weg gestellt, haben Lord Edward Wolpoore und die Seinen gerettet und – mein Kind geopfert!“

Sie sank wie ermattet in den Sessel zurück, bedeckte das Gesicht mit den Händen.

„Ich weiß noch mehr,“ sagte Harst ebenso ruhig wie bisher. „Dort an der Wand die vier eingerahmten Seidentücher sind geweihte Tücher der Thug, mit denen vier Träger des Namens Wolpoore erdrosselt wurden. Ich las heute vormittag die goldene Schrift, die auf jedem der Pappstücke die gleiche ist:

Einer weniger! – Vergiß die Rache nicht!

So lautet die Unterschrift, ins Englische übertragen. – Mistreß Bellingson, Sie drohen mir jetzt mit dem Tode. Sie sind ungerecht. In Ihrer blinden Rachgier übersehen Sie, daß es meine Pflicht war, Lord Edward Wolpoore, der nichts dafür kann, daß sein Großvater in rechtmäßiger Ausübung seines Amtes eine Mördersekte vernichtete, vor den Nachstellungen einer wahnwitzigen Mörderbande zu schützen, deren geistige Leiterin Sie sind. Ihre Drohungen fürchte ich nicht. Ihr Haus hier ist jetzt von der Polizei umstellt. Ich brauche nur –“

Ein schrilles Hohnlachen schnitt ihm das Wort ab.

„Polizei?! Umstellt?! – Master Harst, versuchen Sie nicht bei mir Ihre Tricks!“ rief die Greisin laut. „Ich verachte die Polizei! Mein Haus hier ist wie ein Fuchsbau, hat unzählige Gänge, die irgendwo weit draußen münden. Ich habe mich gesichert gegen jede – jede Gefahr! – Doch – genug hiermit! Es ist jetzt ½12 nachts. Bis 1 Uhr morgens gebe ich Ihnen noch Frist. Dort liegt Papier und Feder. Sie und Ihr Freund werden[9] noch letztwillige Verfügungen zu treffen haben. Dies sei Ihnen gestattet. Aber – schreiben Sie nichts davon, wo Sie sich befinden und weshalb Sie die Sonne nie mehr sehen werden!“

Sie erhob sich. „Ich lasse meine Panther hier bei Ihnen zurück. Wagen Sie nicht, etwa zu entfliehen. Sobald Sie sich der verborgenen Tür oder den Fenstern nähern, springen die Tiere zu.“

Sie trat an die linke Seitenwand heran, schlug einen Vorhang zurück. Dahinter war eine kleine eiserne Tür sichtbar. – Sie drehte sich nochmals um, zeigte auf zwei seidene Tücher, die auf einer Truhe lagen. – „So werden Sie beide sterben!“ sagte sie wieder mit einer von Haß halb erstickten Stimme. „Meine Getreuen streiten sich darum, wer das heilige Amt der Würger an Ihnen ausüben darf!“

Die eiserne Tür schnappte hinter ihr ins Schloß.

Wir waren allein mit den drei Bestien, die nach Katzenart lautlos herumstrichen.

Ich wandte den Kopf nach Harst hin. Auch er drehte sich mir zu, meinte leise:

„Ja, mein Alter, – was nun?! Hast Du Lust, Dich hier erdrosseln zu lassen?! – Ich nicht! Mistreß Bellingson hat eins nicht beachtet: daß sie es mit uns zu tun hat, mit uns, die doch schon ganz andere Dinge erlebt haben als diese Gemeinschaft mit drei schwarzen Panthern! Sieh mal, dort auf dem Tischchen neben dem Schreibzeug liegt ein Brieföffner in Dolchform, und wenn man sich jene Tischdecke dort um den linken Arm wickelt, dann –“

Ich hatte meine Taschen befühlt.

„Ja – ausgeplündert!“ nickte Harst. „Unsere Mehrlader sind weg! Mithin müssen wir –“

Er horchte plötzlich auf, deutete dann mit dem Kopf nach dem von uns am weitesten entfernten Fenster.

„Still –, vielleicht sind es die beiden Kerle von gestern!“ flüsterte er. „Die – angeblich auf Liebespfaden Wandelnden, wie ich Dir weismachte. In Wahrheit: auf Diebespfaden Wandelnde, denn ich stellte fest, daß sie das eine Fenstergitter an mehreren Stellen fast ganz durchgesägt hatten –“

Er stand auf, trat an die Lampe heran, schraubte sie niedriger, bis sie nur noch ganz schwach leuchtete.

„Setzen wir uns an den Tisch,“ meinte er, ganz unbekümmert um die drei Panther, die sich jetzt vor dem Vorhang gelagert hatten, der die eiserne Tür verdeckte. –

Wir saßen und lauschten. Bald wurde das feine Knirschen, das Harst gehört hatte, etwas lauter. Dann arbeitete ohne Zweifel ein Drillbohrer im Holze der Fensterladen, die von innen vorgelegt waren.

Wieder verstrichen gut fünf Minuten. Dann von jenem Fenster her ein ganz, ganz leises Knarren und Quietschen.

Die drei Bestien wurden plötzlich unruhig, fauchten, liefen hin und her.

Die Lampe war jetzt fast erloschen. Der häßliche Geruch eines schwelenden Petroleumdochtes durchzog das Gemach.

Wieder ein Geräusch vom Fenster.

Einer der Panther fauchte lauter. Um uns kümmerten sie sich nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt lediglich dem einen Fenster, in dessen Laden die Gauner von draußen fraglos ein Loch bohrten.

Abermals andere Geräusche. Nun – fiel irgend etwas klatschend auf den Teppich – etwas, das durch den Fensterladen geworfen sein mußte.

Wir hörten die Panther knurren. Zu sehen war nichts. Dann – ohne Zweifel kaute und verschlang der eine etwas.

Harst packte meinen Arm. „Du – Gift! Vergiftete Fleischbrocken!“ sagte er.

Wieder klatschte etwas herab – nochmals – nochmals.

Die Panther waren jetzt still, kauten schmatzten, schnurrten behaglich.

Abermals endlose Minuten. Die Bestien liefen wieder hin und her, stießen gegen die Sessel, winselten, rollten jetzt offenbar in Krämpfen auf dem Teppich!

Stiller und stiller wurden sie. Bis schließlich in dem Gemach eine fast unheimliche Ruhe herrschte.

„Tot!“ meinte Harst nicht allzu leise. „Jetzt, mein Alter, ist der Weg für uns frei! Los denn, hin zu dem letzten Fenster, wir –“

Da – von nebenan ein halb erstickter Schrei.

Harst schnellte hoch.

„Sie sind dem Weibe an der Kehle!“ flüsterte er hastig. „Vorwärts, den Burschen soll –“

Er war schon nach der Eisentür geeilt. Ich blieb dicht hinter ihm, trat auf einen Tierkadaver, stieß gegen einen Stuhl.

Die Tür hatte einen altertümlichen Drücker. Harst stieß sie auf, sprang in das erleuchtete Nebengemach.

Auf einem Diwan lag die Greisin, wehrte sich verzweifelt gegen einen braunen Burschen, der ihr die Kehle zudrückte. Ein zweiter Einbrecher stand daneben, ein Messer stoßbereit in der Hand.

Harst hatte schon einen schweren Ebenholzschemel gepackt. Noch ein Satz. Die Kerle brüllten auf vor Schreck. Der Schemel sauste herab – einmal – nochmals.

Ächzend waren die beiden umgesunken.

Harst half Mistreß Bellingson auf. Sie war noch bei Bewußtsein.

Hier waren die Fensterladen nicht geschlossen. Ein Fenster stand weit offen. Es war der Salon. Über einem zierlichen Damenschreibtisch hing das verhüllte Bild.

Harst teilte unserer Feindin mit, was sich nebenan ereignet hatte. Sie ging an das offene Fenster, fühlte mit der Hand hinaus.

„Das Gitter fehlt,“ sagte sie leise. Dann schaute sie uns lange wortlos an.

„Warten Sie hier,“ meinte sie dann kurz. „Ich schenke Ihnen das Leben. Wir sind quitt, Master Harst – für diese Nacht!“

Sie verschwand durch die Eisentür.

Auf dem Schreibtisch lag der Inhalt unserer Taschen. Wir steckten alles wieder zu uns, behielten nur die Mehrlader entsichert in der Hand, – warteten – warteten, nachdem wir die beiden Kerle gefesselt hatten.

Kein Laut im Hause. Nur aus dem Parke drang das Rauschen der Bäume zu uns herauf.

Wir warteten; eine halbe Stunde – noch eine halbe Stunde; wir hatten uns gesetzt; horchten – warteten.

Eine neue halbe Stunde war um.

„Entflohen!“ sagte Harst da. „Ich dachte es mir –“

Wir gingen in das Nebengemach. Unsere Taschenlampen zeigten uns die toten Panther.

Die vier eingerahmten Tücher an der Wand waren verschwunden.

„Es stimmt: entflohen!“ sagte Harst wieder.

Da – die Eisentür fiel knallend ins Schloß. Wir sprangen zu, rüttelten daran: verschlossen!

„Zum Fenster hinaus!“ rief Harst.

Wir öffneten den Laden, in den die Verbrecher ein Loch gesägt hatten. Auch hier fehlte das Gitter. Wir sprangen auf das flache Dach hinab, fanden wieder die Bambusleiter, kletterten in die Krone der Eiche hinüber. –

Es war genau 2 Uhr morgens, als wir mit Doktor ten Brinken und fünf Polizeibeamten auf demselben Wege wieder in den Turm eindrangen.

Die beiden Einbrecher lagen noch im Salon, aber – erdrosselt mit bunten Seidentüchern. Das verhüllte Bild war verschwunden. Das ganze Haus war leer. Schließlich entdeckte Harst im Keller einen unterirdischen Gang, der etwa 300 Meter westwärts in einer Schlucht endete. –

So endete auch dieses unser Abenteuer mit der Wahrsagerin von Jorjakara. Ich will nur noch hinzufügen, daß die beiden Einbrecher Europäer waren, – vermutlich dieselben, die es schon vor drei Jahren auf die Juwelen der seltsamen Frau abgesehen hatten. –

Wir sollten Mistreß Maria Bellingson nochmals begegnen. Hatte sie doch auch gesagt: „Wir sind quitt – für diese Nacht!“ – Wo wir ihr begegneten, wird der Leser im nächsten Bande finden, in der nächsten Erzählung, in

 

Der Tempel der Khali.[10]

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „wogurch“.
  2. In der Vorlage steht: „Bandjermansin“ – Bandjermasin ist die niederländische Schreibweise für Banjarmasin. Siehe auch Wikipedia: Banjarmasin.
  3. In der Vorlage steht: „Budda-Tempel“.
  4. In der Vorlage steht: „Jahrlang“.
  5. In der Vorlage steht: „erwiederte“.
  6. „Vicekönig(s)“ / „Vizekönigs“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Vicekönig(s)“ geändert.
  7. In der Vorlage steht: „Chali“. Zwei Vorkommen geändert auf „Kali“.
  8. In der Vorlage steht: „Musicafees“.
  9. In der Vorlage steht: „werde“.
  10. Sowohl hier im Verweis als auch auf der Titelseite und der Hauptüberschrift des folgenden Bandes wird die Schreibweise „Khali“ verwendet. Daher so belassen.