Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band: 28
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26
„Ich finde das Leben jetzt ziemlich öde,“ meinte Harst und gähnte verstohlen hinter der vorgehaltenen Hand. „Vierzehn Tage fast reisen wir nun schon wie jeder gewöhnliche Globetrotter. Ich fühle mich geradezu krank infolge dieser Untätigkeit. Und Dir, mein lieber Schraut, bekommt dieses behagliche, friedfertige Dasein auch nicht. Du wirst täglich dicker.“
Wir saßen im Speisesaal des Exzelsior-Hotels in Dehli, der ältesten und an Baudenkmälern reichsten Stadt Indiens, hatten soeben gefrühstückt und bisher am heutigen Morgen sehr wenig gesprochen. Gab es doch ringsum genug, übergenug zu sehen, denn kaum eine Stadt Indiens ist ja so sehr das Ziel und die Sehnsucht ganzer Scharen von Touristen wie gerade dieses wunderbare, märchenhaft schöne Dehli am rechten, hoch aufgemauerten Ufer des Dschamna-Flusses[2].
Auf Harald Harsts Stoßseufzer über „das öde Leben“, mit dem ich übrigens sehr zufrieden war, wollte ich gerade erwidern, daß man doch schließlich auch als Liebhaberdetektiv einmal sich „Urlaub gönnen“ könnte, als ein kleiner, magerer, glattrasierter Herr auf unseren Tisch zugesteuert kam, davor stehen blieb, sich leicht verbeugte und in etwas mangelhaftem Deutsch erklärte:
„Sie gestatten. Mein Name ist Garratt Molgedey. Ich habe doch die Ehre, Herrn Harald Harst und Herrn Max Schraut vor mir zu sehen, nicht wahr? – Ich las schon gestern abend Ihren Namen im Fremdenbuch. Da konnte ich nicht anders, – ich mußte mir einen seit langem gehegten Wunsch erfüllen, nämlich den, Sie persönlich kennen zu lernen, Herr Harst.“
Wir hatten uns höflich erhoben.
„Bitte – wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Molgedey,“ meinte Harst liebenswürdig. – Wir setzten uns wieder. Molgedey strahlte. Er hatte wohl gefürchtet, Harst könnte sich ihm gegenüber sehr zugeknöpft zeigen.
„Ich bin nämlich begeisterter Verehrer von Leuten, die wie Sie, Herr Harst, den Kampf gegen das Verbrechertum zu einer Kunst erhoben haben,“ begann der kleine Herr sofort wieder und entnahm seiner Zigarrentasche eine offenbar sehr kostbare Importe, deren Stanniolpapierumhüllung[3] er gewandt loslöste. „Ja, sogar ein so begeisterter Bewunderer, daß ich Ihre Kunst, Herr Harst, weit über alle anderen Talente stelle,“ fuhr er fort. „Mit größtem Interesse habe ich stets in den Zeitungen Ihre neuesten Erfolge gelesen, habe mir diese Artikel gesammelt und kann mich rühmen, über Ihre Erlebnisse so gut unterrichtet zu sein wie selten einer.“
Er rieb sein Feuerzeug an und setzte seine Zigarre in Brand.
„Sie sind Tabakplantagenbesitzer und wohnen den größten Teil des Jahres auf der Insel Kuba,“ sagte Harst, dem diese Schmeicheleien Molgedeys sichtlich angenehm waren. „Vor etwa einem Jahr hatten Sie wohl ein ernsteres Abenteuer mit jener Sorte von Leuten, die mich nicht gerade lieben dürften.“
Molgedey nickte eifrig und lächelte pfiffig. „Aha – Sie wissen, daß diese Art Zigarren mit dem braun-grün gestreiften Deckblatt im Handel nicht zu haben ist und nur von Tabakzüchtern auf Kuba für sich selbst und sehr gute Freunde hergestellt wird. Deshalb nehmen Sie an, ich sei Tabakplantagenbesitzer.“
Harst nickte nur.
„Hm,“ meinte Molgedey darauf und schaute Harst gespannt an, „aus welchem Grunde aber behaupten Sie, ich hätte mit Einbrechern ein Renkontre gehabt. Lasen Sie davon in einer Zeitung?“
„Nein, Herr Molgedey. Ich las es aus Ihrem Gesicht und von Ihren Händen ab. Sie wollen durch die in die Stirn gekämmte rechte Scheitellocke eine Schußnarbe verbergen, die nach dem Grade ihrer Vernarbung etwa ein Jahr alt sein dürfte. Ebenso alt schätze ich die Schnittwunde, die über die Unterglieder der vier Finger Ihrer linken Hand hinläuft und die ganz so aussieht, als ob Sie jemand mit dieser Hand einmal gepackt hätten, der sich durch einen Messerschnitt von dieser Umklammerung zu befreien suchte. Die Wunden rühren also offenbar von demselben aufregenden Ereignis her. Und dieses kann bei einem Herrn von Ihrem friedlichen Beruf doch nur ein Zusammenstoß mit Einbrechern oder dergleichen Leuten gewesen sein.“
„Sehr richtig, Herr Harst, sehr richtig,“ erklärte Molgedey, plötzlich ganz ernst, ja fast traurig werdend. „Man stahl mir[4] in jener Nacht eine der wertvollsten Raritäten der ganzen Welt: eine echt goldene Inka-Krone, besser, einen goldenen Stirnreif, wie ihn die Herrscher des alten Inkareiches in Peru einst trugen. Der erhabene Bildschmuck dieser Krone war allerfeinste Künstlerarbeit und stellte die Lebensgeschichte eines der Inkakönige dar. Ich besitze in New York noch ein zweites Heim außer dem auf meiner Plantage in Kuba. Und New Yorker Einbrecher waren es, die mir unter sehr merkwürdigen Begleitumständen den Goldreifen raubten und mich dabei fast umgebracht hätten. Ich lag drei Monate infolge der Stirnwunde schwer krank danieder. Wäre ich damals gesund gewesen, hätte ich sofort nach dem Diebstahl an Sie depeschiert und Sie gebeten, mir wieder zu meinem Eigentum zu verhelfen. Unsere New Yorker Detektive, selbst die berühmte Firma Pinkerton, haben nichts in dieser Sache ausgerichtet. Sie glauben gar nicht, wie sehr mich der Verlust der Inka-Krone schmerzt. Nicht etwa des Geldwertes wegen. Nein, lediglich weil ich selbst sie einst als junger Mensch während meiner Sturm- und Drangperiode – ich bin von Hause aus Schneider, Herr Harst – in den peruanischen Anden (Anden oder Kordilleren, der Hauptgebirgzug Südamerikas) in einem uralten Bergwerk gefunden habe.“
Harst blickte Garratt Molgedey jetzt freundlich an, nickte ihm vertraulich – aufmunternd zu und meinte:
„Nun wollen Sie mir Ihren Fall vortragen, in der Hoffnung, ich könnte den Goldreifen jetzt noch wieder herbeischaffen, – nicht wahr? – Wenn Sie diese Hoffnung hegen, müssen Sie wohl Beweise dafür haben, daß von den Spitzbuben die Goldkrone nicht etwa eingeschmolzen worden ist. Dieses Einschmelzen liegt ja so nahe, da eine solche Rarität als Ganzes in ursprünglicher Gestalt kaum zu veräußern ist.“
Molgedey streckte Harst freudig erregt die Hand hin.
„Verehrtester Herr Harst, ich bin überglücklich! Ich sehe, mein Fall interessiert Sie bereits etwas. – Ja, es ist so: ich wollte versuchen, mich Ihres Beistandes zu versichern. Die Diebe haben mir nämlich die Krone zum – Rückkauf angeboten und zwar vor drei Wochen. Bis zum 30sten dieses Monats soll ich mich entscheiden, ob ich die halbe Million Dollar opfern will. Die Krone ist also noch unversehrt. Sie haben ganz recht.“
„Die Gauner schrieben mithin an Sie einen Brief, Herr Molgedey. – Kann ich den einmal sehen, haben Sie ihn hier bei sich?“
„Natürlich – natürlich!“ Und der ehemalige Schneider holte seine dicke Brieftasche hervor und begann darin herumzusuchen, legte allerlei Papiere auf den Tisch, wurde immer nervöser und rief dann mit hochrotem Kopf:
„Verdammt, Herr Harst, der Brief ist verschwunden! Ich weiß genau, daß ich ihn gestern noch in der Brieftasche hatte – ganz genau. Mir ist’s völlig unerklärlich, wo er geblieben sein kann. Meine Brieftasche gebe ich nie aus Händen, nie. Nicht mal meine Frau und Tochter dürfen sie anrühren.“
Harst langte nach seinem Zigarettenetui und nahm eine seiner Mirakulum, seine Spezialmarke, heraus.
„Wollen Sie mir nicht erst den Diebstahl genauer schildern, Herr Molgedey,“ sagte er mit einem so geistesabwesenden Blick nach dem Glasdach des Speisesaale hinauf, daß ich sofort merkte, wie sehr er sich in Gedanken bereits mit dieser gestohlenen Krone beschäftigte. „Bitte fassen Sie sich aber ganz kurz. Erwähnen Sie nur das, was wirklich wichtig ist.“
„Sehr gern, Herr Harst. – Der Diebstahl liegt jetzt fünf Monate zurück. Die Inka-Krone bewahrte ich in meinem Arbeitszimmer in einem kleinen, halb in die Wand eingemauerten Geldschrank auf. An jenem Abend kehrte ich gegen elf Uhr mit den Meinen aus dem Theater heim. Ich wollte noch ein paar Geschäftsbriefe erledigen, wurde dann jedoch so müde, daß ich mich auf den Diwan in meinem Arbeitszimmer legte und erst ein wenig ruhen wollte. Ich schlief ein. Ich erwachte aber plötzlich durch einen Schuß, fühlte gleichzeitig einen stechenden Schmerz an der Stirn, taumelte hoch und sah undeutlich vor dem Geldschrank, dessen Tür offenstand, zwei Leute, die miteinander rangen.“
„Halt,“ meinte Harst, indem er sich sichtlich gespannt vorbeugte. „Sie sagten, die Leute rangen miteinander?“
„Ja – es war so. Es waren zwei Kerle mit Stoffmasken vor den Gesichtern. Ein dritter Bursche stand mehr nach der Flurtür zu. Ich machte trotz des arg schmerzenden Streifschusses einen Satz nach dem Tresor hin, bekam den Kerl zu packen – mit der Linken an der Schulter, konnte dann jedoch nichts mehr erkennen, da mir das aus der Wunde herausströmende Blut die Augen verklebte. Ich fühlte dann auch den Messerschnitt über die Finger hin, ließ los und rief um Hilfe. Ich hörte noch, wie der Tresor zugeschlagen wurde und verlor dann die Besinnung. – Nachher stellte die Polizei fest, daß aus dem Geldschrank die Krone verschwunden war, die in dem untersten, offenen Fache gelegen hatte, und daß der Tresor mit meinem eigenen Schlüssel, der, am Schlüsselring befestigt, auf dem Schreibtisch gelegen hatte, geöffnet worden war. – Mehr könnte ich nicht über die Art, wie die Inka-Krone gestohlen wurde, angeben, höchstens noch, daß die Einbrecher vom Garten aus – ich besitze in New York ein villenartiges Haus – durch das Fenster des Nebenzimmers eingedrungen waren.“
„Danke, Herr Molgedey, – vorläufig genügt das,“ meinte Harst und blies nachdenklich ein paar wohlgelungene Rauchringe, denen er aufmerksam nachschaute. „Nun erzählen Sie bitte, was Sie gestern abend taten,“ fügte er nach kurzer Pause hinzu. „Sie sagten doch, Sie hätten den Brief der Spitzbuben noch gestern in der Hand gehabt. Wann war das?“
„Vor dem Zubettgehen, Herr Harst. Unsere Reisegesellschaft traf hier im Hotel abends um 8 Uhr ein. Um 10 Uhr begab ich mich mit den Meinen auf unsere Zimmer. Meine Frau und meine Tochter – übrigens mein einziges Kind – schlafen im Zimmer neben dem meinen. Wir haben die Nummern 32 und 33 in der zweiten Etage. Ich hatte im Fremdenbuch Ihre Namen entdeckt, sprach noch mit meiner Frau über Sie, sagte den Meinen dann gute Nacht und ging in mein Zimmer, wo ich, bereits den Gedanken erwägend, Ihnen meinen Fall vorzutragen, den Brief aus der Brieftasche herausnahm und nochmals überflog. Ich steckte ihn wieder zurück und schob die Brieftasche unter mein Kopfkissen. Ich hatte mir noch ein Bad bestellt und wollte nun ins Badezimmer hinübergehen. Es liegt auf demselben Flur. Ich verschloß meine Tür, nahm den Schlüssel mit –“
„Sie meinen die Flurtür Ihres Zimmers,“ warf Harst ein.
„Ja – die Flurtür. – Aus dem Bad wurde jedoch nichts. Das Badezimmer war noch besetzt, und warten wollte ich nicht. Ich hatte dann auf dem Rückweg nach meinem Zimmer so ein kleines Erlebnis, aus dem ich nicht recht klug geworden bin. Aber – das ist ja Nebensache. – Ich kehrte in mein Zimmer zurück und legte mich schlafen. Die Flurtür hatte ich von innen verriegelt. Es muß also wohl jemand, während ich im Vorraum des Badezimmers war, mit einem Nachschlüssel die Flurtür geöffnet und den Brief gestohlen haben. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht Herr Harst?“
„Vielleicht, Herr Molgedey. – War der Brief mit Maschine geschrieben?“
„Nein. Mit der Hand. Aber – Rundschrift, Herr Harst! Und Rundschrift verrät nichts von sogenannten Schriftmerkmalen.“
„Ja ja – zu vorsichtig – allzu vorsichtig!“ nickte Harst, abermals seinen Rauchringen mit den Augen folgend. „Wie war’s denn mit dem kleinen Erlebnis auf dem Flur, Herr Molgedey? Erzählen Sie doch mal.“
„Oh – es hat nichts auf sich damit. Gegenüber von Nr. 32, wo meine Frau und Tochter logieren, liegt Zimmer Nr. 46, oder besser: die Tür zu einer der sogenannten Luxuswohnungen des Hotels, die aus drei besonders eleganten Räumen bestehen. Als ich den Flur vom Badezimmer her entlangkam, wurde diese Tür geöffnet und eine tief verschleierte, schlanke Dame in hellem Seidenmantel trat bald heraus, stutzte, als sie mich bemerkte, kehrte sehr schnell wieder ins Zimmer zurück und zog die Tür geräuschlos ins Schloß. Mir schien es so, als hätte diese Dame kein ganz reines Gewissen. Jedenfalls habe ich heute früh aus Neugier festgestellt, daß die drei Luxusgemächer mit der Nummer 46 von dem französischen Oberst Dardogne und dessen beiden eingeborenen Dienern bewohnt werden. Der Hoteldirektor sagte mir vorhin, der Oberst sei halb gelähmt und lasse sich von seinen Dienern meist im Rollstuhl umherfahren.“
„Das ist richtig, Herr Molgedey. Wir sind dem alten Herrn in den drei Tagen seit unserer Ankunft hier schon wiederholt begegnet,“ meinte Harst gleichgültig.
Wenigstens mögen die Sätze Molgedey gleichgültig geklungen haben. Mir, der ich jede Tonfärbung der Stimme Harsts so genau kenne, machte es stark den Eindruck, daß er diese Gleichgültigkeit nur vortäusche.
Bevor das Gespräch zwischen Harst und Molgedey noch fortgesetzt werden konnte, tauchte der Hoteldirektor vor uns auf und wandte sich recht aufgeregt an Harst. „Entschuldigen Sie vielmals, Herr Harst, daß ich mir die Freiheit nehme, die Herren zu stören. Es ist jedoch in der verflossenen Nacht hier im Hotel einem der Gäste eine namhafte Summe Geld gestohlen worden –“
„– auf Zimmer Nr. 46, also dem Oberst Dardogne,“ fiel Harst dem eleganten Hoteldirektor ins Wort.
„Allerdings. Aber – aber – es weiß doch noch niemand von –“, stotterte der Direktor verblüfft.
„Nun – wir wissen’s!“ lächelte Harst. „Der Oberst hat den Diebstahl wohl soeben erst bemerkt?“
„Ja. Und da war ich es, der ihm den Vorschlag machte, Sie zu bitten, vielleicht ausnahmsweise auch einmal eine so alltägliche Sache wie einen Diebstahl –“
Harst hatte sich schon erhoben. „Gut – sehr gern will ich dem Herrn Oberst behilflich sein, sein Eigentum wiederzuerlangen. – Ist die Polizei schon benachrichtigt?“
„Nein. Wir möchten dies auch gern vermeiden, Herr Harst. Es könnte sonst bekannt werden, daß der Oberst hier im Exzelsior bestohlen wurde. Ein solcher Diebstahl ist stets ein schlechtes Renommee für ein Hotel. Ich bitte die Herren deshalb auch, über die Sache zu schweigen.“
„Gewiß!“ nickte Harst. „Wir tun es gern, und auch Herr Molgedey wird selbst seinen Damen nichts davon erzählen. Nicht wahr?“
„Nein – bestimmt nicht!“ versicherte Molgedey eifrig. „Weiber können nie rechten Mund halten. – Über unsere Angelegenheit reden wir dann wohl später nochmals, Herr Harst. Jetzt wollen Sie doch zu Oberst Dardogne hinauf.“
„Ja. Auf Wiedersehen, Herr Molgedey.“
Er drückte dem kleinen Herrn die Hand.
Dann folgten wir dem bereits vorausgeeilten Hoteldirektor. Als wir die Treppen hinanschritten, fragte ich leise, indem ich Harst dabei prüfend von der Seite anschaute:
„Harald, weißt Du bereits, wer der Dieb ist?“
Er wandte mir das Gesicht voll zu. Er sah merkwürdig ernst aus, als er nun erwiderte:
„Es ist derselbe, der auch aus übergroßer Vorsicht den Brief stahl, mein Alter. Ich hoffe, Du hast diese recht einfache Geschichte auch bereits ergründet, wenigstens so weit sie jetzt schon zu ergründen ist, wobei es sich allerdings nur um die Nebenumstände handelt. Die ganze Sache ist ja so durchsichtig daß –“
„Durchsichtig?!“ warf ich ein. „Gestatte – dann hätten wohl auch die New Yorker Detektive sie klargestellt!“
„Nein, das konnten sie nicht, wenigstens nicht so bequem wie wir, mein Alter.“
Plötzlich fiel mir die verschleierte Dame mit dem „schlechten Gewissen“ ein.
„Die Diebe sind Molgedey gefolgt und haben hier jetzt auch den Oberst bestohlen,“ erklärte ich siegesgewiß.
Harst schüttelte den Kopf. „Falsch! Wenigstens zur Hälfte. Gefolgt ist der Dieb Molgedey – das trifft in gewissem Sinne zu. Aber den Oberst haben andere Langfinger heimgesucht, nehme ich ziemlich bestimmt an.“
– – – – – – – –
Inzwischen waren wir in den zweiten Stock gelangt. Der Hoteldirektor, ein Engländer namens Warton, führte uns in den Wohnsalon des Obersten.
Dardogne war ein älterer Mann mit grauem Spitzbart, frischem gebräunten Gesicht und noch sehr vollem, straff gescheiteltem Haupthaar, – alles in allem eine vornehme militärische Erscheinung. Er war uns gleich am ersten Tage hier im Hotel aufgefallen. Er mußte sehr reich sein, denn er hatte sich für die Ausflüge in die Umgebung einen eleganten Ponywagen gemietet, der dauernd zu seiner Verfügung stand. Der Hoteldirektor hatte uns gelegentlich erzählt, Dardogne bereise seit Wochen zu seinem Vergnügen Indien und sei bereits vorher in Japan gewesen. Seine Diener waren Inder. Er hatte sie wahrscheinlich erst hier in Indien gemietet.
Der Oberst saß in einem hochlehnigen Korbsessel an einem Seitentischchen. Er trug wie immer seinen Hornkneifer mit grauen Gläsern, dessen Seidenschnur er hinter das Ohr gelegt hatte.
Er begrüßte uns sehr liebenswürdig in seiner Muttersprache, entschuldigte sich deswegen, weil er des Deutschen nicht genügend mächtig wäre, dankte Harst für die Bereitwilligkeit, mit der dieser sich sofort bei ihm eingefunden hätte und berichtete dann folgendes.
Er war gestern bereits um ½10 zu Bett gegangen, da er am Tage einen Ausflug nach den Ruinen des alten Dehli gemacht hatte, der ihn sehr ermüdet hatte. In der Schublade des Schreibtisches des Salons hatte er ein Päckchen Banknoten verwahrt gehabt. Dieses Geld – 1800 Pfund Sterling – war nun heute früh nicht mehr zu finden gewesen.
Das war kurz der Sachverhalt. – Harst stellte dann durch Fragen noch fest, daß einer der Diener stets im Schlafzimmer des Obersten die Nacht über bleiben mußte, da Dardogne infolge seines Leidens auch nachts jederzeit jemand zu seiner Bedienung brauchte. Der andere Diener schlief dann in dem Zimmer links vom Salon. Die Flurtür mit der Nummer 46 führte direkt in diesen hinein. Die Schublade war verschlossen gewesen. Der Oberst betonte wiederholt, seine beiden Diener seien bereits ein Jahr in seinem Dienst und hätten sich bisher auch nicht die geringste Unredlichkeit zu Schulden kommen lassen. Daher sei jeder Verdacht gegen sie von vornherein von der Hand zu weisen.
Harst untersuchte darauf das Schloß von der Schublade, ebenso das der Flurtür und fragte dann den Oberst, ob dieser vielleicht in den letzten Tagen irgendwie auf eine verschleierte, schlanke Dame aufmerksam geworden sei.
Dardogne lachte kurz auf. „Dame – Dame?! – Monsieur Harst, ich bin stets Weiberfeind gewesen, kümmere mich nie um Weiber. – Wie kommen Sie denn gerade auf eine verschleierte –“
Er schwieg plötzlich, schlug mit der Faust auf die Lehne des Korbsessels und rief dann: „Ah, zum Teufel, – da fällt mir ein, daß ich in der Tat einem solchen Frauenzimmer schon dreimal – ja ja, dreimal! – begegnet bin! Und denken Sie, Monsieur Harst, stets an derselben Stelle. Waren Sie schon in der Ruinenstadt des alten Dehli oder genauer der uralten Stadt Indraprastha, wie Dehli um das Jahr 500 nach Christi noch hieß? Kennen Sie schon den berühmten Kutab Minar, das 76 Meter hohe Minarett[5] einer unvollendeten Moschee in dieser Ruinenstadt?“
Harst schüttelte den Kopf. „Wir haben zunächst die Sehenswürdigkeiten Dehlis besichtigt. Heute wollten wir eine Tagestour nach den Ruinen unternehmen.“
„Ja ja – lassen Sie sich nur nicht diese meilenweite Ruinenstätte entgehen!“ meinte Dardogne begeistert. „Wer auch nur etwas Sinn für Romantik hat: dort findet er sie! – Doch zurück zu der Verschleierten! Also vor dem Kutab Minar traf ich sie – dreimal wie gesagt! Sie hatte stets einen Eingeborenen bei sich, der ihre Staffelei und sonstiges Malgerät schleppte. Ich besinne mich jetzt sehr genau: das Weib trug stets einen hellen, karierten Seidenmantel und ein großes Fernglas mit hellgelbem Lederfutteral umgehängt. – Nun erklären Sie mir aber, weshalb Sie diese Dame – es war ja fraglos eine Europäerin – mit dem Diebstahl hier in Verbindung bringen?“
Harst erzählte Garratt Molgedeys Erlebnis am gestrigen Abend und fügte hinzu: „Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die Verschleierte, die sich beim Anblick Molgedeys wieder in dieses Zimmer zurückzog, die Diebin gewesen ist. Die Zeit stimmt. Sie sind um ½10 schlafen gegangen, und Molgedey kam nach 10 Uhr vom Badezimmer zurück den Flur entlang.“
Dardogne bearbeitete abermals die Sessellehne mit der Faust. „Zum Teufel, das ist ja hier eine nette Wirtschaft in Ihrem Hotel!“ fuhr er den Direktor, mehr einen scherzhaft groben Ton anschlagend, in seiner abgehackten Sprechweise an. Er hatte so eine Art, manche Worte wie einen Trompetenton hervorzustoßen, daß man daran schon den alten Soldaten erkannte. „Wie mag das Weib nur zu dem Tür- und dem Schreibtischschlüssel gekommen sein? Es handelt sich doch um moderne Kunstschlösser, die nicht mit jedem Drahthaken zu öffnen sind. Um das Geld ist es mir nicht so sehr zu tun, als um die Aufklärung der Frage: wer ist diese Verschleierte, und wie konnte sie wissen, wo das Geld lag und daß ich überhaupt so viel in bar mit mir führte!“
Harst versprach Dardogne, sich nach Kräften zu bemühen, die Frau zu finden. – „Sollte sie noch in Dehli sein, so werden wir sie schon aufstöbern,“ meinte er und verabschiedete sich dann von Dardogne mit einem Händedruck. Daß der Oberst Kraft hatte, merkte ich jetzt, als er auch mir die Hand reichte und dabei meine Finger derart drückte, daß ich vor Schmerz zusammenzuckte.
Wir gingen dann in das Bureau des Direktors hinab, wo Harst das Fremdenbuch durchsah und Warton noch allerlei fragte, was mit dem Diebstahl der 1800 Pfund zusammenhing. Warton vermochte jedoch keinen einzigen Hotelgast irgendwie als „fragwürdig“ hinzustellen. – Harst vermutete offenbar die Verschleierte unter den Hotelgästen selbst. Mir erschien dies durchaus unwahrscheinlich. Der ganze Verdacht gegen diese Frau, die doch den Oberst vor der berühmten Moschee in der Ruinenstadt genau so bemerkt haben mußte, wie er sie gesehen hatte, erschien mir hinfällig, oder genauer ausgedrückt: Ich bezweifelte, daß es sich hier um ein und dieselbe Person handelte.
Als wir das Bureau dann gerade wieder verlassen wollten, erschien der kleine Herr Molgedey, schwenkte eine Zeitung in der Hand und rief: „Herr Harst, ich habe Sie überall gesucht! Hier steht in der heutigen Morgennummer der Dehli-Post (in Dehli erscheinen 12 englische Zeitungen) Ihr letztes Abenteuer in Jorjakara auf Java ganz genau beschrieben!“
Die Veränderung währte nur Sekunden. Sein Gesicht entspannte sich wieder. Er faltete die Zeitung wie spielend eng zusammen und sagte zu Garratt Molgedey:
„Wollen Sie uns nicht mit Ihrer Gattin und Tochter bekannt machen? Vielleicht haben Ihre Damen gestern abend ein verdächtiges Geräusch gehört, als Sie nach dem Badezimmer gingen!“
Molgedey brachte uns an den Tisch, wo seine Frau und seine Tochter Dasy zusammen mit einer anderen amerikanischen Familie saßen.
Frau Molgedey war gut anderthalb Köpfe größer als ihr Gatte. Dasy hatte dieselbe schlanke, volle Gestalt und war ein recht hübsches Mädchen, nur schien sie etwas ungewandt und ängstlich zu sein. Die Bekannten Molgedeys verließen uns sehr bald. Wir waren nun allein an dem Tisch. Harst begann sofort von dem Verschwinden des Briefes zu sprechen. Die beiden Damen hatten jedoch nichts Verdächtiges gehört.
„Ich war todmüde und schlief sofort ein,“ erklärte Frau Molgedey, die für gut eine halbe Million Brillanten an sich trug.
Jedenfalls verlief diese Unterredung, wie ich annahm, ganz ohne Ergebnis.
Mittlerweile war es elf Uhr geworden. Harst und ich empfohlen uns, gingen auf unsere Zimmer und rüsteten uns zum Aufbruch zu der Tagestour nach der Ruinenstadt.
„Vergiß Deinen Mehrlader nicht, mein Alter,“ sagte Harst plötzlich. „Stecke auch Deine Taschenlampe zu Dir, ebenso ein paar Ersatzbatterien. Hier ist irgend eine Teufelei im Gange! Ich wittere Unrat, wie ja wohl die anrüchige Redensart lautet.“
Ich fuhr förmlich herum.
„Teufelei?“ fragte ich ungläubig.
„Ja, mein Alter. – Hier, bitte lies mal!“ Er holte die Zeitung aus der Tasche hervor, die er im Bureau des Direktors unauffällig zu sich gesteckt hatte, entfaltete sie und deutete auf eine gesperrt gedruckte Notiz auf derselben Seite, wo auch der Artikel über unser Abenteuer in Jorjakara stand.
Ich las folgendes:
Lord Edward Wolpoore, der bekannte Plantagenbesitzer, ist in der verflossenen Nacht unweit Dehli auf der Straße Agra–Dehli offenbar von Wegelagerern überfallen und zusammen mit einem seiner Begleiter entführt worden. Es handelt sich fraglos um einen Versuch, von dem reichsten Manne Indiens eine größere Summe zu erpressen. Der Lord kam im eigenen Auto von Agra, und zwar in Begleitung des Chefs seiner Privatpolizei Chester Blindley sowie zweier Detektive, von denen einer den Chauffeur spielte. Gerade dieser Detektiv entging den Wegelagerern, die quer über die Straße eine Stahltrosse gespannt hatten, so daß das in voller Fahrt dahinjagende Auto sich überschlug, wobei der eine Detektiv getötet wurde, während der Chauffeur nur mit einer schweren Stirnverletzung davonkam. Die Banditen werden ihn wohl ebenfalls für tot gehalten haben, ließen ihn liegen und dürften sich mit ihren beiden Gefangenen in einen der zahlreichen Schlupfwinkel geflüchtet haben, die die Ruinenstadt des alten Dehli so zahlreich bietet. Der Detektiv liegt jetzt im Krankenhause und hat angegeben, daß die Wegelagerer fünf maskierte Eingeborene waren. Wir werden in der Abendausgabe über diesen frechen Überfall noch genauer berichten.
Ich ließ das Blatt sinken und schaute Harst ganz entsetzt an, sagte kopfschüttelnd:
„Wegelagerer?! Glaubst Du daran? Ob es sich hier nicht weit eher um ein neues Attentat gegen den Lord handelt, ob nicht auch hier wieder diese unerbittliche Rächerin ihres Gatten, die Mrs. Bellingson, dahinter steckt?“
„Weshalb fragst Du noch?“ meinte Harst achselzuckend. „Wenn ich vorhin von Teufelei sprach, wenn ich mich zu einem Ausflug nach der Ruinenstadt wie zu einem Kampfe rüste, dann –!“ Und er füllte den Patronenrahmen seines Mehrladers, schob die Waffe in die Tasche und überließ mich einem Sturm von Gedanken.
Mrs. Bellingson! – Ich dachte an die Panther im alten Schlosse in Jorjakara; ich dachte mit Wehmut daran, daß die schöne Globetrotter-Zeit nun wieder vorbei war, daß wir jetzt gleich – drei Fälle auf einmal „in Arbeit“ hatten: Molgedey, Oberst Dardogne und nun noch unseren Freund Wolpoore!
Der Leser wird sich erinnern, daß wir Wolpoore in Kapstadt kennen gelernt hatten. Ich habe dies alles – auch die ersten Attentate auf den Lord von seiten der Thugs – in einem früheren Bande „Die Siegellacktröpfchen“ erwähnt. – Jetzt war Edward Wolpoore also wirklich den rachsüchtigen Feinden in die Hände gefallen! Und Chester Blindley, der Detektivchef der Leibwache des Lords, ebenfalls!
Harst mahnte zur Eile.
Auf der Treppe holten wir die Familie Molgedey ein.
Ich zuckte zusammen, als mein Blick Dasy Molgedeys am Riemen über dem weißen Kleide hängende Fernglas traf, – denn dieses Fernglas hatte ein hellgelbes Lederfutteral.
Ich war so verwirrt über diese Entdeckung, daß ich Garratt Molgedey eine ganz verkehrte Antwort gab.
Harst ging mit Dasy Molgedey vor uns und lachte sie heiter an. Offenbar hatte er soeben einen Scherz mit ihr gemacht. Sollte er das hellgelbe Futteral nicht bemerkt haben?!
Vor dem Hotel trennten wir uns von Molgedeys, die sich das imposanteste Gebäude Dehlis, die größte Moschee der Welt, den Dschama Masdschid, ansehen wollten, ein Genuß, den wir schon hinter uns hatten.
Wir mieteten einen Wagen zur Fahrt nach der 8 Kilometer von dem neuen Dehli entfernten Ruinenstätte Indraprastha, durchquerten Teile der engen, schmutzigen Eingeborenenstadt, die im Südwesten liegt, und gelangten bald auf eine halb zerstörte Prachtstraße, deren metergroße Marmorplatten zumeist durch Unkraut und Baumschößlinge aus ihrer Lage gebracht sind und nur noch einen schmalen, geschlängelten Pfad benutzbar machen, auf dem unser Wagen wie auf einer Tenne dahinrollte.
Die Ruinenstadt beginnt eigentlich schon vor den Toren des neuen Dehli, das vollständig als Festung gebaut ist. Verläßt man das Südtor, so breitet sich vor dem Wanderer eine hügelige, mit teilweise urwaldartigen Hainen, einzelnen bebauten Feldern und vielfachen Trümmerstätten bedeckte Ebene aus, die, je weiter man sich von Dehli entfernt, desto mehr den Eindruck einer zerstörten, uralten Stadt macht. Die Trümmerfelder, überragt von Resten größerer Gebäude, gehen bald ineinander über, sind von Unkraut und Bäumen überwuchert und auch hie und da durch vom Winde aufgehäufte Sandmassen so dicht bedeckt, daß auf diesen kahlen Lichtungen Dörfer entstanden sind, die meist von Hindus bewohnt werden. Das Wahrzeichen dieser Stätte einer einst hochentwickelten Kultur (das alte Indraprastha soll über eine Million Einwohner gehabt haben) ist der Kutab Minar, das Minarett der unvollendet gebliebenen Moschee.
Harst ließ den Wagen weit vor dem schlanken Turme halten, lohnte den eingeborenen Kutscher ab und schwenkte dann nach links mitten in die Trümmerstadt ein. In großem Bogen näherten wir uns, oft zu recht unbequemen Kletterpartien gezwungen, dem Kutab Minar von Süden, bemerkten schon von weiten vor dem Turme eine Menge Touristen und beobachteten nun zunächst die Fremden von der Höhe einer Mauer aus, die wir mit Hilfe einer Platane erklettert hatten. Wir standen hier völlig verborgen zwischen ungeheuren Distelstauden, die sich in den Mauerritzen angesiedelt hatten, schauten aber umsonst nach einem hellen, karierten Seidenmantel aus, so daß Harst nach einer Weile sagte:
„Mischen wir uns zwischen die Touristen und warten wir ab. Etwas ereignet sich ohne Frage.“
Inzwischen hatte ich mit Harst bereits über Dasy Molgedeys hellgelbes Fernglasfutteral gesprochen. Er hatte aber dazu erklärt: „Ein Zufall, mein Alter, – tatsächlich! Du bist hier – halb auf falscher Fährte, halb!“ – Was dieses „halb“ bedeutete, das wollte er mit erst später mitteilen.
Kaum tauchten wir vor dem Kutab Minar auf, als sich auch schon drei, vier der gewerbsmäßigen eingeborenen Fremdenführer an uns herandrängten. Die Touristen aus Dehli lassen sich nämlich sämtlich zur Besichtigung der Ruinenstadt zunächst bis vor die unvollendete Moschee fahren und beginnen hier mit der Wanderung durch die endlose Trümmerstätte. Deshalb hat auch die Fremdenführergilde ihre Börse vor dem Kutab Minar eingerichtet.
Jeder dieser Führer arbeitet nun mit einem besonderen „Trick“. Der eine flüstert dem Touristen zu: „Sahib, ich allein weiß, wo es noch ein Haus hier mit echtem Elfenbeinmosaik zu sehen gibt, und ich kann Dir, o Sahib, zum Andenken Stücke des Mosaik verkaufen.“ – Ein anderer macht es geheimnisvoller: „Sahib, ich kann Dich an eine Stelle führen, wo einst ein Schatz vergraben wurde. Dort steht ein Stein mit geheimnisvollen Zeichen, die keiner bisher deuten konnte. Wer sie aber deutet, findet den Schatz.“ Diese „Schatzphantasten“ haben die meisten Erfolge.
Harst schickte die Leute sehr energisch weg. Kaum waren wir die aufdringliche Gesellschaft los, als ein kleiner Herr mit Panamahut und Sonnenschleier auf uns zugeschossen kam: Garratt Molgedey, der Tabakfritze, wie Harst ihn vorhin scherzend genannt hatte.
„Herr Harst – Herr Harst, wir haben uns die Sache überlegt,“ rief er schon von weitem. „Wir wollen doch erst die Ruinenstadt in Augenschein nehmen. Dürfen wir uns Ihnen anschließen? – Dasy brachte mich auf den Gedanken, lieber in Ihrer interessanten Gesellschaft das alte Dehli zu durchstreifen.“
Dasy! Diese dunkelblonde Amerikanerin war damit für mich abermals der Gegenstand argwöhnischer Gedanken geworden. Ich musterte sie erneut daraufhin, ob sie wohl schon in ihrem Äußeren irgend etwas von einer fragwürdigen Persönlichkeit an sich hätte. Aber – sie erschien mir wieder nur leicht befangen, etwas unsicher in ihrem ganzen Sichgeben und auch fast zu ernst und melancholisch für ihre vielleicht 22 Jahre.
Harst hatte inzwischen Molgedey bereits erwidert, er würde sehr gern in so angenehmer Begleitung durch die einstigen Straßen des berühmten Indraprastha wandern, hatte den Damen die Hände geschüttelt und dann gefragt, ob man vielleicht einen Fremdenführer nehmen solle. Molgedey meinte, ohne einen solchen würde es wohl kaum gehen. Als ich dann auch meinerseits die Familie begrüßte, waren wir schon wieder von einem halben Dutzend dieser schlauen Inder umdrängt, die uns ihre Dienste anboten. Einer davon zeigte sich besonders rücksichtslos, schob die übrigen beiseite und raunte uns Herren unter dem Wutgeschrei der Konkurrenz zu: „Ich kann etwas zeigen, das selten ein fremder Sahib zu sehen bekommt, weil die Hindu sich scheuen, Ungläubige an jenen Ort zu geleiten. Es ist ein unterirdischer Tempel mit einem verborgenen Zugang –“ Er wollte noch mehr hinzufügen. Die empörte Konkurrenz riß ihn jedoch selten einmütig mit Gewalt von uns fort. Jedenfalls gab es so etwas wie eine Balgerei, der Harst dann dadurch ein Ende machte, daß er den von den anderen beinahe verprügelten Fremdenführer heranwinkte und die übrige Gesellschaft grob anfuhr.
Ich war etwas erstaunt über dieses Interesse Harsts für den aufdringlichen Kerl, der freilich einen recht guten Eindruck machte in seinem weißen Leinenanzug und dem zartgelben Kopftuch. Es war ein sehr dunkelhäutiger Inder mit jenem schmalen, feinen Gesichtsschnitt, der vielen Indern geradezu etwas würdig-vornehmes verleiht. Das Benehmen dieses vielleicht vierzigjährigen Menschen änderte sich jetzt sofort, als er uns als „Verdienst“ sicher hatte. Er wurde überaus höflich und bescheiden, forderte einen sehr mäßigen Preis und wurde nur auffallend still und zurückhaltend, als er hörte, daß auch Molgedeys sich uns beiden anschließen wollten.
„Die Besichtigung des unterirdischen Tempels ist zu unbequem für eine Memsahib (eigentlich „weiblicher Herr“, also Frau),“ meinte er. „Wir können den Tempel auch zuletzt besuchen. Ich halte das für am praktischsten. Dann können die Damen draußen warten.“
Seine Ausdrucksweise war recht gewandt. Er sprach das Englische tadellos.
Frau Molgedey wollte jedoch nichts davon wissen, daß sie und Dasy gerade das Interessanteste nicht mitmachen sollten.
Plötzlich flüsterte Harst mir unauffällig zu:
„Rede den Damen ab!“ – Das klang so energisch, daß ich sofort ahnte: hier war irgend etwas nicht in Ordnung! – Die Person des Fremdenführers gewann für mich nun eine besondere Bedeutung.
Wir begannen den Rundgang durch die kilometerweite Ruinenstätte. Meine Versuche, Frau Molgedey und Dasy zum Verzicht auf einen Abstieg in den Tempel zu veranlassen, waren jedoch erfolglos.
Harst, der Inder und Molgedey schritten voraus. Frau Molgedey war in ihrer Lebhaftigkeit bald vorn bei den Herren, bald bei Dasy und mir. Das junge Mädchen blieb meist stumm. Sie war keine angenehme Begleiterin. Dann, als wir ein Stück zurück waren, sagte sie plötzlich:
„Herr Schraut, Sie kennen Ihren Freund doch sehr genau. Ich habe gehört, er soll sehr viel menschliches Empfinden, also ein gütiges Herz besitzen. Ich – ich weiß nun nicht recht, ob ich ihm –“
Sie schluchzte leise auf, schwieg und trocknete heimlich ein paar Tränen. Da kam auch schon wieder ihre Mutter auf uns zu. Wir hatten dann keine Gelegenheit mehr, dieses Gespräch fortzusetzen. Frau Molgedey erzählte mir triumphierend, der Fremdenführer sei nun doch einverstanden, daß die Damen den Tempel ebenfalls besuchten.
Wir waren jetzt inmitten einer förmlichen Wildnis von Trümmern, Riesendisteln und vereinzelten Bäumen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Zweifellos wurde dieser Teil der toten Stadt nie besucht.
Der Führer verschwand jetzt hinter einem Vorhang von Schlingpflanzen, die den Zugang zu einem Gewirr riesiger Steinquadern – einem ehemaligen Tempelgebäude – verbargen. Wir warteten auf seine Rückkehr wohl fünf Minuten. Während dieser Zeit fand Harst Gelegenheit, mir zuzuraunen:
„Bleibe dicht hinter mir. Die Molgedeys müssen als letzte mit hinabsteigen. Sobald der braune Halunke uns den Geheimgang gezeigt hat, packen wir zu.“
Kein Wunder, daß ich nach diesen Worten in jene nervöse Erregung geriet, die nur schwer zu unterdrücken ist, wenn man weiß, daß sich etwas ereignen wird, aber weder mit den Einzelheiten dieses Ereignisses noch den Ursachen vertraut ist. Ich zergrübelte mir den Kopf, was dies alles wohl zu bedeuten haben könnte. Zufällig traf mein Blick da Dasy Molgedey. Ich sah, daß sie Harst mit seltsam traurigen Augen und offenbar ganz weltentrückt anstarrte.
Nein – ich wurde aus alledem nicht klug. Garratt Molgedeys Inka-Krone, die dem Obersten gestohlenen 1800 Pfund und schließlich noch unser Freund Edward Wolpoore vollführten in meinem Hirn ein wahres Karussell. Schließlich gelang es mir aber doch, die eine Vermutung mir am besten zu begründen, daß es sich hier lediglich um den Diebstahl der 1800 Pfund handeln könnte. Die verschleierte Dame war ja von Oberst Dardogne stets vor dem Kutab Minar bemerkt worden. Und dort hatte uns der Fremdenführer in einer Art und Weise für sich mit Beschlag belegt, die deutlich genug bewiesen hatte, daß der gewandte Inder es gerade auf uns abgesehen gehabt hatte.
Da erschien er auch bereits wieder hinter dem Rankenvorhang, in jeder Hand ein paar Harzfackeln, winkte uns, hielt die Schlingpflanzen zur Seite, damit wir bequem den engen Torbogen passieren könnten, und geleitete uns dann weiter durch einen engen Hof in eine zur Hälfte von Steintrümmern angefüllte Halle, deren Fliesenboden in der Mitte eingestürzt war, so daß man über die Trümmer in ein großes, leeres Kellergewölbe hinabklettern konnte. Der Inder hatte vorher zwei Fackeln angezündet; eine trug er selbst, die andere hatte er Harst gegeben.
Auch hier in diesem Gewölbe bestand der Boden aus Steinplatten von verschiedener Farbe, die mosaikartig zu bunten Kreisen und Vierecken zusammengefügt waren.
Ohne jede sichtbare Ursache klappte eins dieser Vierecke dann langsam wie eine Falltür herunter und gab so einen Schacht frei, in dem eine sehr steile, gemauerte Treppe abwärts führte.
Der Inder hielt eine dritte Fackel an seine bereits brennende, reichte sie Molgedey und sagte: „Bitte, Sahib, gehe Du mit den Memsahibs nur voran.“
Molgedey zögerte. Der gähnende Schacht, in dessen Tiefen das Dunkel lauerte, schreckte ihn offenbar ab. – Ich blickte auf Harst. Unsere Augen begegneten sich. Er kniff die seinen blitzschnell zu, ließ sie dann nach dem Inder hinübergleiten.
Ich verstand. Ich hielt mich bereit. Harst ließ plötzlich die Fackel wie aus Ungeschick fallen. Sie flog mitten auf die Steintreppe. Der Inder beugte sich vor, um zu sehen, ob sie noch weiter rollte.
Da war ihm Harst schon von hinten an den Hals gesprungen, riß ihn zu Boden. Auch ich packte zu, unbekümmert um die Schreckensrufe der Damen. Mit unseren Taschentüchern fesselten wir den Inder, steckten ihm auch einen Knebel zwischen die Zähne. Er hatte das Bewußtsein nicht verloren, schaute Harst und mich jetzt nur durchdringend an, als wir ihn aufrichteten und auf die Füße stellten.
Harst schob ihm den linken Ärmel hoch. Ich beugte mich herab. Was ich sah, genügte, mir manches klarzumachen: auf der Innenseite des Ellbogengelenks hatte der Inder eine Tätowierung in Form eines hockenden dreiköpfigen Götzen!
Es war das Zeichen der Thugs, jener Mördersekte, die zu Ehren der Göttin Kali mit geweihter Schlinge Menschen erdrosseln, denen ein Leben nichts gilt, die einst vor fünfzig Jahren alle Landstraßen Indiens unsicher machten, bis dann Lord Wolpoore, der damalige Vizekönig, mit aller Energie gegen sie vorging.
Molgedey hatte sich jetzt gefaßt.
„Herr Harst, um Himmels willen, was – was bedeutet diese – diese Brutalität gegenüber einem harmlosen Menschen?“ fragte er ängstlich.
Harst winkte dem kleinen Herrn nur kurz zu, fragte nun den Inder: „Wo befindet sich Lord Edward Wolpoore? – Rette Dein Leben, indem Du die Wahrheit sagst. Ihr habt in der verflossenen Nacht einen Menschen, einen der Detektive des Lords, bei dem Attentat auf das Auto getötet, einen zweiten schwer verletzt. Antworte mir, und ich gebe Dich frei!“
Der Inder schwieg. Abermals ruhten seine Augen nur ernst, fast mit warnendem Ausdruck auf Harsts Gesicht. – Harst wiederholte seine vorigen Worte mit mehr Nachdruck. Es half nichts. Der Inder starrte jetzt mit steinerner Miene zu Boden.
Molgedey hatte halb und halb begriffen, um was es sich hier handelte. Er kannte ja unsere ersten Abenteuer mit den Thugs.
„Herr Harst, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann,“ meinte er diensteifrig. „Mir fehlt es nicht an persönlichem Mut.“
„Gut denn, Herr Molgedey!“ nickte Harst. „Wir werden diesen Inder jetzt aus den Ruinen dieses Tempels hinausschaffen und irgendwo in der Nähe verbergen. Dort bewachen Sie ihn bitte bis zu unserer Rückkehr. Ich hoffe in zwei bis drei Stunden wieder bei Ihnen zu sein.“
Molgedey war einverstanden. Wir nahmen dem Inder die Fußfesseln ab und zwangen ihn, mit uns zu gehen. Außerhalb des Torbogens mit dem Schlingpflanzenvorhang fanden wir in den Resten eines Wohnhauses einen schattigen, kühlen Winkel. Auch Dasy Molgedey betonte jetzt, sie würde gleichfalls gut auf den Mann achtgeben und – zog dann aus der Tasche einen winzigen Damenrevolver hervor, – zum maßlosen Erstaunen ihres Vaters, der sofort fragte: „Dasy – wie kommst Du zu dieser Waffe?“
Wir warteten des jungen Mädchens Antwort nicht ab, sondern eilten wieder in das Kellergewölbe zurück, wo wir alles unverändert fanden. Die Falltür war noch offen; die Fackel mitten auf der Treppe des Schachtes war dem Erlöschen nahe.
Harst hatte jetzt seine Taschenlampe eingeschaltet. Er zeigte auf den Mosaikboden, auf einen bestimmten Stein.
„Diesen drückte der Inder vorhin mit dem Fuße herab,“ sagte er leise. „Da öffnete sich die Falltür. Sehen wir zu, ob ein zweiter Druck sie wieder schließt.“
Harsts Vermutung stimmte. Das Viereck hob sich langsam, bis es sich so genau in die übrigen Fliesen einpaßte, daß man nicht so leicht erkannt hätte, wo sich hier ein beweglicher Teil des Fußbodens befand. – Ein neuer Druck ließ das Viereck wieder nach unten gleiten. Der Zugang zu dem Schacht war frei. Wir stiegen, Harst voran, die Treppe hinab. Aber nur wenige Stufen. Harst hatte an der linken Wand sehr bald einen verrosteten eisernen Handgriff entdeckt. Als er daran zog, schloß die Falltür sich.
Die Treppe endete vor der übermannshohen Öffnung eines unterirdischen Ganges, der aus dem Fels ausgehauen war. Wie so häufig in Indien, gab es also auch hier dicht unter der fruchtbaren Erde starke Felsschichten, von denen man auf der Erdoberfläche nichts wahrnahm. Der Gang verlief schnurgerade und mündete in eine natürliche Grotte, die zu einem Tempelinnern hergerichtet war.
Wir hatten uns mit äußerster Vorsicht vorwärts bewegt, hatten so und so oft inzwischen halt gemacht, unsere Lampen ausgeschaltet und gelauscht. Um uns her jedoch nichts als die lautloseste Stille, in der man desto deutlicher das leise Pochen des eigenen Herzens zu hören glaubte.
Jetzt traf der Lichtkegel von Harsts Lampe in diesem Grottentempel einen altarähnlichen Aufbau. Darauf hockte ein buntbemaltes, scheußliches Götzenbild mit drei Köpfen und ungeheuren Brüsten, an denen Schlangen zu saugen schienen.
„Kali, die Blutige,“ flüsterte Harst. „Kali oder Bhowani, die von den Thugs verehrt wird! – Ich ahnte, daß der Inder uns in einen Tempel der Kali hinabführen würde. Schauen wir uns hier weiter um.“
Aber es gab nichts mehr zu sehen – nichts. Die Grotte hatte scheinbar keinen zweiten Ausgang. Aber – ihr Boden bestand aus denselben Fliesen wie der des Kellergewölbes. So war es denn begreiflich, daß Harst niederkniete und das Mosaikmuster sehr sorgfältig prüfte, bis er dann auf eine der Steinplatten drückte, die auch wirklich nachgab, worauf eins der Mosaikvierecke vor dem Altar genau so wie im Kellergewölbe sich nach unten öffnete.
– – – – – – – –
Hier jedoch war es eine in Form einer Pyramide erbaute, freistehende Treppe aus blendend weißem Marmor, die mit genau dreißig Stufen in eine zweite Höhle hinabführte. Diese enthielt ebenfalls eine vollständige Tempeleinrichtung, nur daß hier das kostbarste Material – Marmor, roter Sandstein, farbige Kunststeine und reiche Vergoldungen – aufs verschwenderischste verwandt worden war.
Es ist schwer, all die Pracht zu schildern, die das Licht unserer Taschenlampen uns enthüllte. Der Tempel war genau quadratisch. In der Mitte erhob sich die Marmorpyramide mit ihren je dreißig Stufen an jeder Seite. An der Nordwand stand ein mit schweren, golddurchwirkten Stoffen behängter Altar, auf dem ebenfalls ein Götzenbild in sitzender Stellung thronte. Dieser Götze war jedoch in prachtvolle Gewänder gehüllt, hatte die Arme im Schoße ruhen und das Haupt mit Schleiern dicht verhüllt. Vor dem Altar wieder stand ein großer, muldenförmiger Stein, der mit einer schwarzen Kruste überzogen war. Daß diese Kruste Blut war, sah ich auf den ersten Blick.
Harsts Lampe war jetzt auf den Götzen gerichtet. Er verhielt sich so völlig regungslos, daß ich schließlich aufmerksam wurde. Dann bemerkte ich, wie seine rechte, freie Hand ganz allmählich hinter seinem Rücken verschwand, wie er in die Schlüsseltasche seiner Beinkleider faßte und – den Mehrlader herauszog.
Dann – das feine Knacken der zurückgeschobenen Sicherung der Waffe; dann ein paar schnelle Schritte Harsts auf den Altar zu, – dann – ein Sprung – und er stand hinter dem verschleierten Götzenbilde.
Unwillkürlich war ich ihm gefolgt, befand mich nun ganz dicht vor dem Altar, sah, wie Harst dem Götzen plötzlich die Schleier vom Gesicht wegriß.
Der weiße Lichtkegel meiner Lampe beschien jetzt das mir nur zu gut bekannte, schmale, feine Antlitz Mistreß Maria Bellingsons, der Wahrsagerin von Jorjakara, der Gattin des Brahmanen Javisindras, des einstigen Oberhauptes der Thugs.
Dann auch schon Harsts Stimme:
„Mistreß Bellingson, sobald wir hier angegriffen werden, sehe ich mich genötigt, Sie niederzuschießen. Sie kennen mich. Ich drohe nie umsonst. Also seien Sie vorsichtig.“
Die weißhaarige Greisin strich sich das durch Harsts ungestüme Entfernung der Schleier in Unordnung geratene Haar mit ruhigen Bewegungen glatt. Ein Lächeln umspielte dabei ihre Lippen. Es war ein Lächeln der Geringschätzung, überlegenen Hohns.
„Master Harst,“ sagte sie dann ohne die geringste Erregung, „an meinem Leben liegt jetzt nichts mehr. Ich lebte ja nur noch, um meine Rache an den Nachkommen dessen, der meinen Gatten aufknüpfen ließ, zu vollenden. Diese Rache ist vollendet. Lord Edward Wolpoore befindet sich in meiner Gewalt und wird noch heute sterben. – Mir macht es also nichts mehr aus, ob ich jetzt oder vielleicht nach einem Jahr diese Erde verlasse.“
Mir lief es eiskalt über den Rücken. Die ganze Art, wie diese Frau hier über Edward Wolpoores Tod sprach, dieser Tonfall ihrer Stimme, in der doch trotz aller Ruhe ein unsäglicher Haß und ein nie zu stillender Rachedurst mitzitterten, – all das wirkte mehr auf meine Nerven als die grausigste Szene.
Harst trat jetzt vor und setzte sich neben Maria Bellingson auf den Rand des Altars.
„Mistreß Bellingson,“ sagte er dann ebenso kühl und klar wie sie, „Lord Wolpoore wird nicht sterben. – Hören Sie mich bitte an. Sie wußten, daß ich in Dehli weile. Sie wußten ebenso, daß ich auf die Zeitungsnotiz hin nach Lord Wolpoore suchen würde. Da haben Sie denn, entsprechend Ihrer auf starke Effekte gerichteten geistigen Veranlagung, mir beweisen wollen, daß Sie mir überlegen sind, haben durch einen Ihrer Leute in der Maske eines Fremdenführers mir auflauern lassen. Der Mann traf mich vor dem Kutab Minar. Bei dem Streit mit den anderen Fremdenführern[6] merkte ich, daß dieser gewandte Inder den anderen ganz unbekannt war. Das machte mich argwöhnisch. Ich sah eine Falle voraus und richtete mich danach. Sie sind jetzt des Glaubens, Ihr Vertrauter hat uns hier hinabgeführt, steht vielleicht oben auf der Pyramidentreppe und kann Ihnen jederzeit zu Hilfe kommen, das heißt, uns durch Schüsse unschädlich machen. Sehr wahrscheinlich haben Sie diesem[7] Inder befohlen, er solle uns beide allein hier hinabsteigen lassen, damit Sie als lebendes Götzenbild auf uns desto eindringlicher wirkten; wahrscheinlich wollten Sie uns ganz unvermutet ansprechen und so den Triumph auskosten, Harald Harst einmal durch eine besondere Art Überraschung verblüfft zu haben. Sie irren sich, Mistreß. Dieser Effekt ist mißglückt. Ihr Vertrauter liegt gefesselt oben in der Ruinenstadt, und die Herren dieses Tempels sind jetzt wir, mein Freund und ich! – Ich werde jetzt Wolpoore und Chester Blindley suchen. Die beiden befinden sich fraglos hier. Wenn Sie auch nur die geringste verdächtige Bewegung machen, wird Schraut Sie kaltblütig auf meine Verantwortung niederknallen. Es geht hier um vier Menschenleben, Mistreß Bellingson! Um vier –! Denn auch mich und Schraut hätten Sie hier ohne Zweifel stumm machen lassen. Was gilt Ihnen denn das Leben von ein paar Leuten, wenn es sich darum handelt, Ihren wahnwitzigen Rachedurst zu stillen?! – Ihre eigene Gleichgültigkeit gegen den Tod ist Komödie. Sie sind einer jener Frauencharaktere, die dem Durchschnittsgeist unverständlich sind. Sie lieben das Leben; Sie sind genußfroh. Das weiß ich von Jorjakara her! Sie sind nebenbei die vollendetste Schauspielerin, die es nur geben kann. – So – und jetzt nochmals: keinen Laut, keine Bewegung! – Schraut, Du schießt sofort, wenn Mistreß Bellingson auch nur den kleinen Finger hebt oder wenn wir angegriffen werden sollten.“
Ich hatte die Pistole schon in der Hand. Ich hätte geschossen. Ich war fest dazu entschlossen. Ich lehnte mich an den Altar, hatte die Waffe halb erhoben, den Finger am Abzug.
Harst sprang vom Altar herab, wollte nun zunächst den Tempel durchsuchen, der drei durch schwere Vorhänge verschlossene Türöffnungen hatte.
Da – er hatte erst ein paar Schritte getan – da sagte Mistreß Bellingson leise:
„Master Harst!“
Er drehte sich um, kam zum Altar zurück. „Sie wünschen?“ fragte er.
„Unter welchen Bedingungen würden Sie mit mir über Wolpoores und Blindleys Freilassung verhandeln?“ sagte sie schnell. „Ich will zugeben, daß ich in der Tat am Leben hänge. Wenn Sie mir versprechen würden, der Polizei erst heute abend sieben Uhr die Vorfälle hier anzuzeigen und bis dahin auch selbst nichts mehr gegen mich zu unternehmen, vielmehr mit Ihrem Freunde Schraut, Wolpoore und Blindley nach Dehli sofort zurückzukehren, dann – sollen die beiden frei sein.“
Harst überlegte, erklärte nach einer Weile: „Gut, ich bin einverstanden.“
„Dann helfen Sie mir bitte von dem Altar herab. Meine Leute und die Gefangenen befinden sich in einer Nebengrotte dieser Höhle. Ich werde die Geheimtür nach dorthin nur ein wenig öffnen und die nötigen Befehle geben. Sie brauchen keinen Verrat zu fürchten. Ich bin eine ehrliche, wenn auch – sehr schlaue Gegnerin.“
Sie schritt auf die Wand gegenüber dem Altar zu. Wir blieben dicht hinter ihr. Es gab dort wirklich eine Geheimtür. Maria Bellingson rief dann in das hinter der Tür lastende Dunkel ein paar Sätze in indischer Sprache hinein. Aus dem Dunkel heraus antwortete eine Männerstimme.
Wir führten die seltsame Frau dann zwischen uns nach dem Altar zurück und warteten gespannt, was nun geschehen würde.
Die Situation erschien mir für uns recht bedrohlich. Aber – ich irrte mich. Sehr bald tauchten Wolpoore und Blindley durch die Geheimtür auf, eilten auf uns zu und hätten nun wohl zu gern uns sofort mit Dankesworten überschüttet, wenn Harst nicht sehr energisch abgewinkt und auf die Treppe gedeutet hätte. – „Führe sie nach oben, Schraut,“ sagte er kurz. „Ich folge Euch! – Vorwärts – nur kein langes Zaudern!“
Er übernahm also wieder den gefährlichsten Teil des Rückzuges. – Wir hasteten die Stufen empor; dann auch die zweite Treppe. Hier holte uns Harst ein, der in langen Sprüngen uns nachstürmte. Wir gelangten unbehelligt ins Freie, fanden die drei Molgedeys noch in dem Versteck vor, banden den Gefangenen los und ließen ihn laufen.
Dann wandten wir uns dem Kutab Minar zu, wo stets Wagen zur Rückfahrt nach Dehli zu haben sind. Die Molgedeys mußten versprechen, bis zum Abend die heutigen Erlebnisse zu verschweigen. Wolpoore und Chester Blindley konnten sich gar nicht genugtun mit Dankesworten, bis Harst zu unser aller Erstaunen sagte:
„Danken Sie mir nicht, Wolpoore! Meinen Sie denn, ein so gefährliches Weib wie die Bellingson hätte sich auf diesen gegenseitigen Vertrag eingelassen, wenn sie eben nicht genau wüßte, daß sie sehr bald sich an Schraut und mir völlig gefahrlos rächen und Sie und Blindley wieder in ihre Gewalt bekommen kann?! Oh – da kennen Sie sie schlecht! Sie betonte ja auch so drohend: „Ich bin eine ehrliche, wenn auch – sehr schlaue Gegnerin!“ – Sie hätte sich diese Worte sparen sollen. Sie hat mich dadurch gewarnt. Ich werde sie bis 7 Uhr abends schonen, dann – gibt es einen Kampf bis aufs Messer. Sie muß unschädlich gemacht werden, sie und mit ihr die Reste der einstigen Thug-Sekte.“
Um drei Uhr nachmittags waren wir wieder im Exzelsior-Hotel, wo wir Wolpoore und Blindley eins unserer Zimmer überließen. Sie legten sich zunächst andere Namen bei. Nachdem wir vier zusammen gespeist hatten, forderte mich Harst auf, ihn zu Molgedeys zu begleiten. – „Wir müssen doch noch die Inka-Krone wieder herbeischaffen, bevor abends sich vielleicht ernsthaftere Dinge ereignen,“ meinte er.
– – – – – – – –
Wir gruppierten uns in Molgedeys Zimmer um den Tisch. Harst begann dann sofort ohne lange Einleitung:
„Fräulein Dasy, wäre es nicht richtiger, wenn Sie jetzt Ihren Eltern endlich so viel Vertrauen schenkten und ihnen sagten, daß Sie heimlich mit einem armen, braven Manne verlobt sind! Es ist der Privatsekretär des hier gleichfalls abgestiegenen Geschäftsfreundes Ihres Vaters, nicht wahr? Ich beobachtete Sie heute vormittag im Speisesaal: Ihre Augen verrieten, was Ihr Herz für den Herrn am zweiten Nebentisch empfand.“
Dasy begann zu schluchzen. „Oh – ich – ich bin ja so schlecht, – so –“ Sie konnte nicht weiter sprechen.
Harst nahm ihre Hand. „Beruhigen Sie sich. Ihre Eltern werden Ihnen alles verzeihen. Auch die Sache mit der Inka-Krone.“
Garratt Molgedey fuhr auf. „Was? Wie? Inka-Krone? – Was heißt das?“
„Still, Herr Molgedey. Sie werden sie zurückerhalten. Aber nur dann, wenn Sie mir geloben, Ihrer Tochter die Ehe mit Herrn Tom Smith zu gestatten.“
Molgedey machte ein finsteres Gesicht. Da mischte sich seine Gattin ein. „Garratt, ich begreife nicht, was Du eigentlich gegen Smith einzuwenden hast?! Gewiß – er ist arm, aber –“
„Schon gut, schon gut. Ich sage Ja und Amen. – Wie steht’s denn nun mit der Krone, Herr Harst?“
„Die dürfte Herr Smith in Verwahrung haben. – Der Zusammenhang muß nach den Tatsachen, die ich kenne, folgender sein. Ihre Tochter und Smith liebten sich. Er ist arm. Da wollte Fräulein Dasy ihm auf etwas abenteuerliche Weise zu Geld verhelfen, indem sie Ihnen die Inka-Krone – entführen wollte, die Sie dann teuer auslösen sollten. Fräulein Dasy zieht an jenem Abend einen Männeranzug an, schleicht in Ihr Zimmer, wo Sie auf dem Diwan eingeschlafen sind, hat dann gerade den Tresor geöffnet, als ein paar echte Einbrecher auf der Bildfläche erscheinen, die Sie zunächst nicht bemerken, dann aber auf Sie feuern, während einer der Kerle gleichzeitig Dasy die Krone zu entreißen sucht. – Als Sie mir erzählten, daß zwei der Maskierten vor dem Tresor miteinander gerungen hätten, tauchte der erste Verdacht in mir auf, bei dem Diebstahl müßten zwei Parteien als Konkurrenten tätig gewesen sein. Und als Sie dann feststellten, daß der Brief hier im Hotel verschwunden war, als ich durch Fragen mich überzeugte, daß nur Dasy den Brief an sich genommen haben könnte, während Sie nach dem Badezimmer gingen, da wußte ich Bescheid! Fräulein Dasy wollte den Brief mich nicht sehen lassen – mich, den gefährlichen Mann, der vielleicht alles aufdecken würde, wenn er den Brief zur Verfügung hatte. Es war also übergroße Vorsicht, die Dasy den Brief stehlen ließ. – Ich lernte Ihre Tochter dann persönlich kennen. Ihr scheues Wesen bestätigte mir nur, daß sie mich fürchtete und kein reines Gewissen hatte. – Nicht wahr, Fräulein Dasy, – es verhält sich doch alles so, wie ich sage?“
Sie nickte nur, fiel dann ihrem Vater um den Hals und bat ihn unter Tränen um Verzeihung.
Wir verabschiedeten uns schnell; wir waren jetzt hier überflüssig. Als wir den Flur entlang schritten, kam der Hoteldirektor uns entgegen.
Harst blieb stehen. „Die Familienangelegenheit bei Molgedeys ist schon erledigt,“ meinte er lächelnd. „Fräulein Dasy wird sich noch heute mit Herrn Tom Smith verloben.“
„Ah – richtig, die Familienangelegenheit also, die Sie heute vormittag in meinem Bureau erwähnten, Herr Harst! Und ich fürchtete wirklich schon, auch Herr Molgedey sei hier bestohlen worden, ebenso wie der Oberst Dardogne.“
Wir gingen weiter. Harst schob seinen Arm in den meinen. „Mein Alter – diese Amerikanerinnen haben den Teufel im Leibe! Es wird nicht alle Tage vorkommen, daß eine Tochter von dem eigenen Vater eine halbe Million erpressen will, damit der heimlich Geliebte kein armer Schlucker mehr ist. – Jetzt müssen wir aber auch noch dem Oberst zu seinem Recht verhelfen. Klopfen wir mal bei ihm an.“
Aber Dardogne war nicht daheim. Ein Kellner erklärte uns, der Herr Oberst sei noch nicht von seiner Ausfahrt heimgekehrt. –
Es war neun Uhr abends. Lord Wolpoore, Blindley und ich saßen im Speisesaal in einer der Nischen. Harst war soeben durch einen der Diener des Obersten zu diesem gebeten worden, da Dardogne ihm in der Diebstahlssache etwas Neues mitteilen wollte. Inzwischen hatte der Lord auch den Polizeidirektor von Dehli aufgesucht und gegen Mistreß Bellingson in aller Form Anzeige erstattet. Die Polizei war auch bereits draußen in der Ruinenstadt in dem unterirdischen Tempel der Kali gewesen, hatte jedoch das Nest leer gefunden, was ja vorauszusehen gewesen war.
Lord Edward Wolpoore fragte mich gerade, ob ich denn nicht wüßte, was Harst nun gegen die Bellingson unternehmen würde, als Harald plötzlich wieder auftauchte und, ohne sich zu setzen, sagte: „Dardogne ist heute nachmittag dem verschleierten Weibe in der Eingeborenenstadt begegnet, wie er mir soeben mitteilte. Er hat sie aber leider nicht erwischen können, obwohl er seine beiden Diener sofort hinterdrein schickte. Er hat uns eingeladen, mit ihm auf seinem Zimmer zu soupieren. Ich sagte zu. Mylord, dies ist Ihnen doch hoffentlich recht? Dardogne möchte Sie gern kennen lernen. Er ist ein sehr interessanter Mann. Ich denke, wir gehen sofort zu ihm nach oben. Er möchte mit mir noch über eine nächtliche Streife durch das Eingeborenenviertel sprechen. Er meint, die Verschleierte, die ihm die 1800 Pfund stahl, sei vielleicht die Bellingson gewesen. Das ist natürlich eine sehr weit hergeholte Vermutung. Möglich ist ja natürlich alles. Vielleicht hat er aber wirklich recht.“ –
Der Oberst empfing uns wieder in seinem Korbsessel sitzend. Er hatte bereits den Mitteltisch des Salons decken lassen. Auf einem Seitentischchen standen Weinflaschen in Kübeln und Zigarren.
Wir nahmen sehr bald an der kleinen Tafel Platz. Einer der indischen Diener Dardognes trug das Vorgericht auf, eine Fischpastete. Der Oberst füllte die Gläser mit einem scharf duftenden Wein, der oben an der Grenze Nepals wuchs. Über dem Tische brannte eine elektrische Lampe mit einer Glocke aus farbigen Steinen. Alles war so recht behaglich und gemütlich und ganz auf einen zwanglos-intimen Ton gestimmt.
Der Oberst hob sein Glas. „Das Wohl meiner Gäste! – Ich freue mich, zwei so berühmte Männer wie Harst und den größten Plantagenbesitzer Indiens bewirten zu dürfen.“ – Er meinte mit letzterem Lord Wolpoore.
Zu aller Erstaunen sagte Harst da, ohne sein Glas zu ergreifen:
„Einen Augenblick bitte. – Ich möchte, bevor wir Ihnen Bescheid tun, Herr Oberst, noch eine kleine Geschichte erzählen, die ich letztens erlebte. – Ich lernte da auf recht abenteuerliche Weise eine Frau, eine noch sehr rüstige Greisin, kennen, die seit dem Tode ihres Mannes nur noch einen Lebenszweck hatte: Rache zu nehmen an dem Geschlecht eines Engländers, der als Beamter ihren Gatten mit gutem Recht hatte hinrichten lassen. Diese Frau, geistig recht bedeutend, dabei eine vortreffliche Schauspielerin, ich möchte fast sagen eine geradezu glänzende Komödiantin, ließ durch ihre Verbündeten einen der Nachkommen jenes Engländers eines Nachts überfallen und nahm ihn gefangen. An demselben Abend erschien sie hier im Hotel verschleiert gerade in dem Augenblick vor der Tür dieses Zimmers, als ein anderer der Gäste, ein Herr Molgedey, den Flur entlangging. Sie ließ sich absichtlich von ihm sehen, damit ein Zeuge vorhanden war, der nachher aussagen konnte, er hätte eine verdächtige Person in der halb geöffneten Tür dieses Zimmers bemerkt. – Die Frau hatte nämlich folgendes vor: sie wollte einen Diebstahl vortäuschen, damit ich mich mit dessen Aufklärung beschäftigen sollte, damit sie also mit mir bekannt würde und mich veranlassen könnte, gerade heute vormittag die Ruinenstadt zu besuchen, wo sie angeblich die Verschleierte dreimal beobachtet haben wollte. Gerade heute sollte ich nach der Ruinenstadt, um dort mich nach der mutmaßlichen Diebin umzusehen, – gerade heute, weil sie mich und meinen Freund Schraut als ihre gefährlichsten Gegner schleunigst unschädlich machen wollte!“
Ich hatte zunächst nicht recht begriffen, was all das wohl bedeuten konnte. Dann aber fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Was mir bisher noch unklar über den Zusammenhang zwischen Oberst Dardogne und dem neuen Attentat auf Lord Wolpoore, überschaute ich jetzt bis in die feinsten Einzelheiten. Mein Herz begann zu jagen. Ich sah ja voraus, was kommen würde.
Und es kam – sofort! – Harst hatte sich erhoben. In seiner halb erhobenen Rechten blinkte matt die Mehrladepistole.
„Mistreß Bellingson,“ fuhr er fort und ließ kein Auge von dem angeblichen Oberst, „ich hätte Sie in dieser tadellosen Maske nie erkannt, wenn Sie so vorsichtig gewesen wären, nicht auch Ihre schmalen Hände unverhüllt zu zeigen. Als Sie heute vormittag mit der Faust mehrmals auf die Sessellehne schlugen, fiel mir die geringe Größe Ihrer Hände auf. Und – als mein Argwohn dann erst erwacht war, wußte ich sehr bald, daß ein Weib hier den Oberst Dardogne spielte. Dann fand ich in der Dehli-Post den Artikel über das Attentat angeblicher Straßenräuber auf Wolpoore. Nun brauchte ich nicht lange zu überlegen, wer dieses Weib sein könnte; nun durchschaute ich auch den Diebstahl der 1800 Pfund, der nur – ein Köder für mich war! – Sie selbst, Mistreß Bellingson, waren die Verschleierte, die Molgedey in der Tür dieses Zimmers bemerkte! Sie waren es, die den angeblichen Fremdenführer nach dem Kutab Minar beorderten. Jetzt kann ich Ihnen auch das sagen, was ich Ihnen heute im Tempel der Kali noch verschweigen mußte: ich habe mit dem Auftauchen dieses Fremdenführers gerechnet; ich wartete auf ihn! – Und dieses Souper, Mistreß Bellingson, sollte für mich die Quittung sein auf die Befreiung Wolpoores! Der Wein hier enthält ohne Zweifel einen starken Schlaftrunk. Wir, Ihre Gäste, wären dann wehrlos gewesen. In aller Stille hätten Sie uns vier abtun und das Hotel dann verlassen können! So sollte Ihr Sieg über mich aussehen! – Das Spiel ist aus – für immer, Mistreß Bellingson! Vor der Tür im Flur steht die Polizei. Auch der Hotelpark ist besetzt.“ Er nahm ein leeres Weinglas und schleuderte es gegen die Tür. Diese wurde sofort aufgerissen. Zehn, zwölf Beamte stürmten herein.
Maria Bellingson hatte schnell Perücke und falschen Bart entfernt. Sie lächelte ein wenig, als jetzt zwei Polizisten ihre Arme packten.
„Master Harst,“ sagte sie klar und ruhig. „Sie haben recht. Das Spiel ist aus. In drei Minuten bin ich tot. Eins ist Ihnen doch entgangen: daß ich ein Kügelchen Gift verschluckte, als ich mir den falschen Bart abnahm.“ –
Sie starb wirklich, bevor man sie noch in den unten vor dem Hotel stehenden Polizeiwagen schaffen konnte. Harst gelang es dann noch in derselben Nacht, die Vertrauten der Bellingson, acht Inder, sämtlich Thugs, im Eingeborenenviertel festnehmen zu lassen, wobei er abermals bewies, wie er selbst aus den unbedeutendsten Dingen Schlüsse von weitgehendster Bedeutung zu ziehen verstand. – Auch die beiden Diener des „Obersten Dardogne“ waren natürlich Mitglieder der Mördersekte. Von diesen zehn Indern wurden vier zum Tode und die übrigen zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Damit waren auch die letzten bisher noch in Freiheit befindlichen Anhänger der blutigen Kali unschädlich gemacht, und nun erst konnte Lord Wolpoore wirklich in Ruhe sich seinen Geschäften und seiner Familie widmen.
Wer Indien bereist und sich die größte Moschee der Welt, die Dschama Masdschid in Dehli, nicht ansieht, versäumt das Imposanteste, was es an orientalischen Baudenkmälern überhaupt gibt.
Wir hatten die Dschama Masdschid soeben zum dritten Male auch innen besichtigt. Zum dritten Male, und doch waren wir genau so hingerissen von der Wirkung dieser Überfülle von architektonischer Schönheit wie beim ersten Mal. Wir standen jetzt und schauten zurück auf diesen großartigen Prachtbau, nahmen stumm Abschied davon, denn am anderen Morgen wollten wir weiter nach Norden, nach Nepal hinein, um uns den höchsten Berg der Welt, den Gaurisankar[8], aus nächster Nähe anzusehen.
Die Freitreppe hinaus stürmte jetzt eine Schar von kleinen, braunen Zeitungsverkäufern. Es war ja gegen halb fünf nachmittags, und soeben mußten die zwölf in Dehli erscheinenden Tageszeitungen zur Verteilung gelangt sein.
Heulend und brüllend wie eine Horde Teufel sauste die kleine Bande die Stufen empor, drängte sich an die zahlreichen Touristen heran, schrie ununterbrochen den Namen ihres Blattes aus und sofort anschließend den Titel irgend eines Sensationsartikels, der die Kauflust und die Neugier anregen sollte.
„Dehli-Post! – Dehli-Post! – Das Neueste über die Thugs – die Thugs!“
Harst wurde gleichzeitig mit mir auf den braunen Knirps aufmerksam, der gellend diese Worte kreischte und dazu eine Nummer der Dehli-Post in der rechten Hand schwenkte.
„Hast Du gehört?“ fragte Harst. „Das Neueste über die Thugs? – Hm – wer weiß, was da wieder so ein phantasievoller Redakteur zusammengefabelt hat. Kaufen wir ein Blatt. Man kann ja nie wissen –“ Er führte den Satz nicht zu Ende, rief den Knirps herbei und breitete dann die Zeitung auseinander, indem er sich an die Sandsteinbrüstung der Treppe lehnte.
„Aha – hier ist der Artikel schon!“ meinte er dann. „Ich werde vorlesen.
„Vor kaum einer Woche vergiftete sich, wie unseren Lesern noch erinnerlich sein wird, eine Europäerin, Mistreß Bellingson, die Witwe des Brahmanen Javisindra, des einstigen Oberhauptes der Mördersekte der Thugs. Dank der Hilfe des weltberühmten Liebhaberdetektivs Harald Harst gelang es dann auch, die letzten Mitglieder dieser Sekte zu verhaften und für immer unschädlich zu machen. Wenigstens nahm man bis heute an, daß nicht ein einziger der Thugs sich noch in Freiheit befände. Nun aber ist in Madras, wie uns unser dortiger Korrespondent drahtet, ein Mord verübt worden, bei dem offenbar ein Thug als Täter in Frage kommt. Einzelheiten können wir über dieses Verbrechen heute noch nicht bringen, da es erst heute früh entdeckt wurde. Das Opfer dieser Untat ist einer der Privatdetektive Lord Edward Wolpoores, der bekanntlich von jener Mistreß Bellingson andauernd durch Attentate schwer bedroht wurde und sich deshalb eine eigene Leibwache von 20 Detektiven hielt, die er nun wohl abgeschafft hätte, da seine hartnäckige Todfeindin endlich sich selbst gerichtet hat. Der ermordete Detektiv heißt Robinson Campell und ist ein geborener Irländer. – Sollte es sich bestätigen, daß hier abermals ein Thug aus religiösem Fanatismus einen Europäer mit der geweihten Schlinge erdrosselt hat, so dürfte unsere Polizei nicht eher sich zufrieden geben, bis sie auch die allerletzten dieser gefährlichen Anbeter der Blutgöttin Kali der irdischen Gerechtigkeit überliefert hat. Es wäre dankbar zu begrüßen, wenn Herr Harald Harst, der ja noch hier in Dehli weilt, sich dieser Sache annehmen wollte. Soweit uns bekannt, ist Lord Edward Wolpoore mit dem deutschen Meisterdetektiv befreundet. Und gerade Seiner Lordschaft wird viel daran liegen, daß zunächst festgestellt wird, ob es sich hier wirklich um einen Mord handelt, der auf das Konto der Thugs kommt. Sollte sich dies bestätigen, so müßte Seine Lordschaft nach wie vor sich auf jede nur mögliche Weise vor den Nachstellungen dieser wahnwitzigen Fanatiker zu schützen suchen, die ihm und allem, was Wolpoore heißt, den Tod geschworen haben.““
Harst faltete die Zeitung wieder zusammen und schaute mich ernst und nachdenklich an, sagte dann:
„Eine böse Neuigkeit für Freund Wolpoore! Er wird dadurch schwer beunruhigt worden sein. Als wir ihm vorgestern hier auf dem Bahnhof lebewohl sagten, war er so froh und heiter, da nun endlich der ewige Alpdruck dieser drohenden Attentate von ihm genommen war. – Hm – der Zeitungsschreiber hätte sich den an meine Adresse gerichteten zarten Wink, der Polizei so etwas zu helfen, den Mörder schleunigst unschädlich zu machen, sparen können. Es ist selbstverständlich, daß ich schon in Wolpoores Interesse sofort nach Madras reise. Ich glaube, abends um 8 Uhr geht ein Schnellzug nach Allahabad. Dann könnten wir übermorgen früh in Madras sein.“
Wir stiegen die Freitreppe vollends hinab und begaben uns nach dem Exzelsior-Hotel, um sofort unsere Koffer zu packen. Kaum hatten wir damit begonnen, als ein Kellner uns eine an Harst gerichtete Depesche brachte. Der Absender war Lord Wolpoore. Das Telegramm lautete:
„Heute früh bei Eintreffen in Madras mit Nachricht empfangen, daß einer meiner Detektive vor einer Stunde in einem Gehölz erdrosselt aufgefunden. Drei Stunden später in meinem Privatkontor eine neue, mich sehr erregende Entdeckung unheimlichster Art. Herzliche Bitte, sofort hierher zu kommen. Auf meine Kosten Extrazug unter Berufung auf mich bestellen. Können dann morgen abend hier in Madras. – Gruß Ihr alter Wolpoore.“
Harst hatte das Telegramm überflogen und mir dann gereicht.
„Na – was hältst Du davon?“ meinte er. „Extrazug! Das sagt genug! Wolpoore muß in furchtbarer Angst schweben, wahrscheinlich infolge dieser unheimlichen Entdeckung. Ich fürchte, wir haben hier doch nicht alle Thugs erwischt, und die Bande will nun natürlich desto eifriger Wolpoore ans Leben, um den Tod der Bellingson zu rächen. Auch wir haben daher allen Grund, recht vorsichtig zu sein. Wir waren es ja, die Maria Bellingson entlarvten. Und deshalb werden die Thugs auch mit uns abrechnen wollen.“
Er schob die Depesche in die Tasche. „Du kannst hier weiter packen,“ fügte er hinzu. „Ich will inzwischen mal mit dem Bahnhofsvorstand des Extrazuges wegen telephonieren. Es wäre das erste Mal, daß wir auf so ganz vornehme Art reisten, mein Alter. – Auf Wiedersehen also.“
Er verließ das Zimmer. Wenige Minuten später klopfte es. Es war derselbe Kellner, der vorhin schon die Depesche gebracht hatte. Er hielt jetzt abermals ein Telegramm in der Hand; wieder ein für Harst bestimmtes.
Ich riß es auf und las:
„Madras, Nelson-Platz 12. – Dringende Bitte einer Ihnen Unbekannten, Mord an Robinson Campell aufklären zu helfen. Bin anderer Meinung als Polizei. – Lydia Faringdall als Braut Campells.“
Ich starrte auf die Depesche hin. – Als Braut –! Arme Lydia! – Und – anderer Meinung als die Polizei?! – Das versprach ja ein sehr interessanter Fall zu werden.
Gleich darauf trat Harst wieder ein.
„Erledigt, mein Alter,“ sagte er lebhaft. „Um 7 Uhr reisen wir mit Extrazug ab – Maschine und Salonwagen. Wolpoores Name tat Wunder. Die Sache kostet die Kleinigkeit von 800 Pfund Sterling.“
Ich hielt ihm die Depesche der Miß Lydia Faringdall hin.
„Wie – noch ein Telegramm?!“ rief er. Als er es gelesen hatte, schüttelte er langsam den Kopf. „Ich glaube, dieser Mord wird nicht ganz leicht aufzuklären sein. Von hier aus gesehen erscheint alles recht verzwickt. Eine Braut, die anderer Ansicht als die Polizei ist, dürfte wohl stets an ein – Eifersuchtsdrama denken! Ja, wo Liebe mitspielt, ist die Sachlage stets verworrener, als wenn lediglich andere Tatmotive in Frage kommen. – Beeilen wir uns jetzt. Wir müssen pünktlich um 7 Uhr auf dem Bahnhof sein. Ich will jetzt sofort auch noch an Wolpoore depeschieren, daß wir morgen abend in Madras sind, daß er aber so tun soll, als käme ich nicht. Es ist sicherer, wenn wir dort wieder inkognito arbeiten.“
Die Depesche an den Lord ging eine halbe Stunde später ab. Harst hatte sie vorsichtigerweise selbst zum nahen Postamt gebracht. –
Gegen zehn Uhr abends durchfuhren wir die drittletzte Station vor Madras, ein armselige Städtchen. Es war bereits dunkel. Über uns stand ein Gewitter, das dann einen wahren Wolkenbruch herabsandte. Es regnete derart, wie es eben nur in den Tropen regnen kann. Unser Lokomotivführer mäßigte jetzt die Geschwindigkeit. Bei solchen Wolkenbrüchen kommen in Indien nur zu leicht Unterwaschungen des Schienenstranges vor.
Wir hatten das eine Fenster des Salonabteils ganz heruntergelassen und schauten in die pechfinstere Nacht hinaus. Wenn ein Blitz aufflammte, konnten wir die Umgebung einigermaßen deutlich unterscheiden.
Als gerade ein neuer Blitz das schwarze Firmament zerriß, kreischten plötzlich die Bremsen. Mit einem Ruck hielt unser Extrazug.
„Aha – Fahrthindernis!“ meinte Harst. „Es wäre recht unangenehm, wenn wir hier aussteigen und die letzte Strecke etwa mit einem Wagen zurücklegen müßten.“
Der eingeborene Schaffner, ein Hindu, trat ein.
„Sahib,“ meldete er Harst. „es wurde soeben von einem Bahnwärter durch Schwenken einer roten Laterne das Haltesignal gegeben. Der Regen hat den Damm vor uns weggerissen. Der Bahnwärter erklärt, vor morgen früh könnten wir nicht weiter.“
„Ist ein Dorf in der Nähe?“ fragte Harst.
„Nein, Sahib. Nur ein einzelnes Gehöft.“
„Ob man dort einen Wagen erhalten kann?“
„Ich bin hier unbekannt, Sahib. Ich werde den Bahnwärter holen.“
Dieser, ebenfalls ein Hindu, machte uns Hoffnung, daß der Besitzer des Gehöfts einen Wagen und ein paar Pferde besäße.
Inzwischen hatte sich das Gewitter verzogen. Wir stiegen aus und wanderten zunächst mal nach der unterwaschenen Stelle des Bahnkörpers, die etwa 50 Meter vor uns lag. Der Mond leuchtete uns jetzt genügend. Wir sahen, daß ein Wasserrinnsal zwischen zwei Hügeln hervorkam und gerade gegen den Damm flutete, der etwa sechs Meter breit weggerissen war, so daß die Schienen in der Luft schwebten.
Während der Bahnwärter mir auseinandersetzte, weshalb der Schaden nicht so schnell auszubessern sei, schritt Harst scheinbar zwecklos hin und her, bückte sich auch verschiedentlich tief herab und schaltete ebenso oft seine Taschenlampe ein, mit der er den Boden dann ableuchtete.
Als wir zu unserem Zuge zurückkehrten, fragte ich Harst, weshalb er denn für die Umgebung des Bahnschadens so reges Interesse gehabt hätte.
„Lediglich des Erdreichs wegen. Einen so hellroten Ton wie an jener Stelle findet man nicht oft. Die Tonschicht liegt kaum 30 Zentimeter tief. Das angesammelte Wasser sah wie Farbe aus.“
Damals nahm ich diese Antwort für bare Münze. Und doch enthielt sie wieder eine jener Verschleierungen des eigentlichen Sachverhalts, in denen Harst so großes leistet, wenn er einen in ihm aufgestiegenen Verdacht verheimlichen will.
Der Schaffner trug uns dann den einen Koffer; den anderen schleppten wir gemeinsam. Der Bahnwärter hatte uns die Richtung angegeben, wo in einem fernen Gehölz das Gehöft des Indigopflanzers Bera Dangschi lag. Nach zehn Minuten standen wir vor der Tür eines sauberen Wohnhauses, klopften den Inder heraus und fragten, ob wir gegen gute Bezahlung einen Wagen bekommen könnten.
Der Mann war sehr höflich, ließ uns eintreten und bedeutete uns dann, daß ein Händler aus Madras vor dem Gewitter hier Zuflucht gesucht habe, jetzt aber wohl seine Fahrt fortsetzen würde.
Bera Dangschi führte uns auf den Hof seines Grundstücks, wo unter einem offenen Schuppen ein zweiräderiger Karren mit einem hochbeinigen Braunen bespannt hielt. Der Händler selbst lag im Wagenkasten auf mehreren Säcken und schnarchte. Es war ein alter, schmutziger Hindu mit zotteligem Bart, und es kostete uns dann viele Worte, ehe er sich bereitfand, uns mitzunehmen. Der Kerl war so maulfaul, daß er nicht mal sich bedankte, als Harst ihm im voraus 200 Rupien bezahlte – eine Summe, die für die verlangte Leistung viel zu hoch war.
Wir verstauten unsere Koffer hinten im Wagenkasten, [schichte]ten[9] die Säcke anders auf, damit wir bequem sitzen [konnten, u]nd dann ging’s hinauf auf die elende, aufgeweichte Landstraße, die hier zumeist zwischen Indigofeldern hindurchführte.
Der Händler war ein mohammedanischer Inder namens Ibrahim ben Mofla. Er hockte vorn auf dem Sitzbrett und kümmerte sich nicht im geringsten um uns. Der Gaul war kräftig und ging in flottem Trab. Wir wurden in dem Karren natürlich ordentlich durchgeschüttelt. Nach dieser Luxusfahrt im Extrazug empfand ich die Stöße und Püffe desto unangenehmer.
Harst rauchte schweigend eine Zigarre und schaute verträumt in die Mondlandschaft hinaus. Nach einer Stunde gelangten wir auf felsigen Boden. Vor uns hatten wir jetzt eine kahle Hügelkette.
Wir bogen in einen Hohlweg ein. Die Straße stieg jetzt recht steil an. Dann gelangten wir auf ein steiniges Plateau.
Der brummige Alte drehte sich plötzlich nach uns um.
„Ich muß noch von dort zwei Säcke abholen,“ sagte er unfreundlich und zeigte mit der Peitsche nach links, wo wir undeutlich etwas wie ein Haus wahrnahmen.
Der Karren rumpelte darauf zu, hielt dann vor einem halb verfallenen Bauwerk, das mehr der Ruine eines kleinen Tempels als einem Wohnhause glich. Hinter einem Fenster mit völlig erblindeten Scheiben schimmerte Licht. Der Händler kletterte vom Bock herab und pochte gegen das Fenster.
Rechts davon gab es eine Steintreppe mit ein paar Stufen, die zu einer breiten Flügeltür emporführten. Endlich tat diese sich auf. Es erschien ein kleiner, stämmiger Inder, der einen Sack auf dem Rücken trug.
Der Händler schnauzte den Mann grob an. Was er sagte, war nicht zu verstehen.
Der Sack flog dann in den Wagenkasten, aber so ungeschickt, daß er Harst halb über den Schoß zu liegen kam.
Nein – es war nicht Ungeschicklichkeit des Trägers gewesen! Es war – raffinierteste Berechnung! Das erkannten wir zu spät.
Harst war jetzt ja für ein paar Sekunden so gut wie wehrlos. Und – darauf war es abgesehen gewesen.
Ganz unvermutet erhielt ich einen Schlag von hinten gegen den Kopf, einen so wuchtigen Schlag, daß ich ein paar Minuten halb das Bewußtsein verlor. Bevor ich mich noch zur Wehr setzen konnte, rissen die beiden Halunken mich auf die Erde herab und banden mir die Arme auf dem Rücken zusammen. – Der Hieb, mit dem Harst bedacht worden war, mußte wohl noch kräftiger gewesen sein, denn Harald kam erst wieder zu sich, als die Kerle uns schon in einen Keller der Ruine geschleppt hatten, wo sie uns nebeneinander an die Mauer fesselten, so daß wir aufrecht mit seitwärts erhobenen Armen dastehen mußten.
All das hatte sich so schnell abgespielt, daß ich mir über die Gefahr, in der wir jetzt schwebten, erst klar wurde, nachdem der Händler, der ja fraglos kein Händler war, uns höhnisch zugerufen hatte:
„Denkt an Maria Bellingson, Ihr ungläubigen Hunde! Wir werden Euch hier verhungern lassen, bis Ihr um Gnade winselt und dann sollen Eure Seelen der Göttin Kali als niedrigste aller Sklaven dienen.“
Kali! – Also wirklich – es waren Thugs! Von diesen Mördern, die in jeder Erdrosselung eines Menschen ein frommes Werk erblickten, hatten wir keine Gnade zu erwarten!
Bevor ich diese Gedanken noch recht ausgedacht hatte, verschwanden die beiden Thugs, von denen einer eine Laterne in der Hand hatte, aus dem Keller und ließen uns in nachtschwarzer Finsternis zurück.
– – – – – – – –
Meine Fesseln bestanden aus Büffelriemen, die an in die Mauer getriebenen Eisenhaken so befestigt waren, daß ich mich kaum bewegen konnte. Mein Hinterkopf schmerzte stark. Zuweilen wurde mir so übel infolge der Nachwirkungen des Schlages, daß ich wieder ohnmächtig zu werden fürchtete.
Harst regte sich nicht. Dann brachte ich mühsam die Worte heraus:
„Harald – wir sind hier in eine böse Falle geraten –“
„Ich schäme mich,“ lautete seine merkwürdige Antwort. „Ich habe mich diesmal unglaublich blamiert. Ich hielt den Schaden am Bahnkörper für das Hauptattentat, und es handelte sich dabei doch nur um eine Vorbereitung für unsere Gefangennahme.“
Ich glaubte nicht recht verstanden zu haben. – Vorbereitung – Schaden am Bahnkörper?! – Dann begriff ich.
„Die Unterwaschung des Dammes war also –“
„– ja, war durch Menschenhand sehr schlau veranlaßt worden,“ vollendete Harst meinen Satz. „Das Wasserrinnsal hatte ursprünglich eine andere Richtung. Man hat es erst auf den Bahndamm zugeleitet und bei diesem durch Spatenstiche nachgeholfen. Als der Platzregen kam, wurden dessen Wassermassen eine für die Thugs sehr willkommene Hilfe. Ich sagte Dir doch vorhin, daß die rötliche Tonerde das Wasser gefärbt hatte. Nun, dieser Farbstrich des ursprünglichen Weges des Rinnsals war so genau zu verfolgen, daß ich genau die Stelle fand, wo die Schufte dem Wasser eine neue Richtung gegeben hatten. Und an der einen Schienenschwelle klebte unten ein Erdklumpen, der glatt abgestochen war, – also Spatenarbeit. – Ich habe mich diesmal tatsächlich vollkommen täuschen lassen. Die beiden Thugs sind ganz geriebene Kerle. Ich nahm an, es hätte sich bei der Beschädigung des Dammes lediglich darum gehandelt, eine Entgleisung unseres Extrazuges herbeizuführen. Aber – wir haben nun den Beweis, daß die Kerle anderes planten. Sie wußten, daß wir in dem einsamen Gehöft nach einer Fahrgelegenheit uns erkundigen würden. Deshalb suchte der „Händler“ dort Schutz vor dem Unwetter. Und – wie geschickt benahm der Mensch sich dann. Seine Unfreundlichkeit, – daß er uns erst lange bitten ließ, ehe er uns mitzufahren erlaubte, – alles war schlau berechnet. Ich schäme mich tatsächlich, daß mir dieser „Zufall“ nicht verdächtig vorkam, daß gerade ein Händler aus Madras auf dem entlegenen Grundstück eingekehrt war. Und auch nachher der Überfall auf uns! Dieser Trick mit dem schweren Sack, den der Kerl mir auf den Schoß warf –! – Mein Alter, wir stecken hier in einer bösen Patsche. Wenn es uns nicht gelingt, sehr bald freizukommen, dann – dann gebe ich für unser Leben keinen Pfifferling. Die beiden Kerle bringen jetzt sicher den Wagen weg und werden in kurzem wieder hier sein. Gerade weil sie uns nicht mal die Taschen ausgeräumt haben, müssen wir mit ihrer baldigen Rückkehr rechnen. Befühle jetzt mal die Haken, an die Deine Hände gefesselt sind. Kannst Du es? Meine beiden Haken vermag ich mit den Fingern nicht zu erreichen.“
Ich drehte die Hände in den Schlingen. Ja – ich konnte die starken Haken, durch deren geschlossene Ösen die Riemen durchgezogen waren, mit den Händen umspannen.
„Rüttele daran!“ sagte Harst nun. „Packe recht bequem zu. Dann versuche, ob Du sie durch kurze Rucke lockern kannst.“
Bei dem linken Haken war alle Mühe umsonst. Aber der rechte – und mit der rechten Hand konnte ich ja größere Kraft entwickeln – schien nicht so fest in der Mauerfuge zu sitzen.
Ohne Rücksicht auf meine sehr bald stark schmerzende Hand arbeitete ich an dem Haken herum. Ich merkte, wie er sich immer mehr lockerte. Harst feuerte mich durch Zurufe an.
„Schone Dich nicht, mein Alter!“ wiederholte er verschiedentlich. „Bedenke – hier geht’s ums Leben.“
Endlich konnte ich den Haken herausziehen. Damit hatte ich mit dem rechten Arm volle Bewegungsfreiheit erlangt. Das weitere war ein Kinderspiel: ich holte mein Taschenmesser hervor, öffnete die große Klinge mit den Zähnen, – ein paar Schnitte und – Harsts Taschenlampe blitzte auf. Er hielt sie in der Linken, in der Rechten aber die bewährte Waffe, die neunschüssige Repetierpistole.
„So – nun sollen sie nur kommen!“ flüsterte er. „Ich werde die Scharte auswetzen! Aber – lebend müssen wir sie fangen! – Vorwärts denn – nach oben!“
Der Kellerraum hatte nur eine Türöffnung. Wir gelangten bald auf die halb zerstörte Steintreppe. Auch der Kellerhals besaß keine Tür. Wir standen nun in einem gewölbten, mit Schutt teilweise gefüllten Gang, der auf die Haustür zulief. Unsere Lampen beleuchteten die Wände. Bunter Steinmosaik überall. Also wirklich ein früherer Tempel. Rechter Hand hing eine schwere Tür schief in rostigen Angeln. Dahinter lag das Gemach, in dem vorhin Licht gebrannt hatte. Wir lauschten. Totenstille. – Dann zwängte sich Harst durch die Tür. Auch in diesem Raum nichts als Schutt. Und – auf einem Schutthaufen in der Ecke standen unsere Koffer.
„Sehen wir uns draußen um,“ flüsterte Harst.
Die Haustür war nur angelehnt. Kaum waren wir im Freien, als Harst plötzlich davonstürmte.
Der Mond stand schon tief. Aber ich erkannte deutlich den Karren, auf dem die beiden Thugs saßen und langsam nach Norden zu über das steinige Plateau fuhren.
Jetzt – begann der Gaul davonzustürmen. Dann das Peng – Peng – Peng von Pistolenschüssen. Harst hatte im Laufen gefeuert, aber offenbar nicht getroffen. Der Wagen verschwand im schwarzen Schatten einer fernen Baumkulisse.
Harst kam zu mir zurück. „Verdammt!“ murmelte er wütend. „Zwei Minuten früher, dann hätten wir die Kerle gehabt.“
„Wir sind frei – das ist die Hauptsache!“ tröstete ich.
Er lachte hart auf. „Ja – vogelfrei! So lange diese beiden Thugs noch einen Finger rühren können, werden sie alles daransetzen, uns heimzuzahlen, was wir Maria Bellingson antaten! – Lassen wir unsere Koffer hier. Wir müssen schleunigst nach Madras. Ich bin sehr besorgt um Wolpoore. Diese Schufte bekommen alles fertig. Aber – bevor wir aufbrechen, wollen wir doch dafür sorgen, daß die Thugs uns so leicht nicht herausfinden aus dem Völkermischmasch der Hafenstadt Madras. Legen wir unsere Chinesenkostüme an, mein Alter. Darin haben wir schon manchen angenehm-aufregenden Tag verlebt.“ –
Eine Stunde drauf – es war mittlerweile zwei Uhr morgens geworden – wanderten zwei armselige chinesische Kulis auf der nach Madras führenden Hauptstraße entlang. Jeder der Kulis trug ein Bündel über dem Rücken.
Harst war jetzt sehr schweigsam. Als ich ihn fragte, ob es ihm denn noch immer so nahe ginge, daß er sich seiner Ansicht nach vorhin böse blamiert hätte, antwortete er erst nach einer Weile: „Lieber Alter, die ganze Geschichte behagt mir nicht.“
Ich wurde aufmerksam. „Was behagt Dir nicht?“ meinte ich gespannt.
„Die Geschichte hat einen Haken!“ erklärte er mit besonderer Betonung. „Eigentlich waren’s ja vier für jeden – vier Haken in der Mauer! Einer genügt davon aber.“
Ich zuckte die Achseln. „Zum Rätselraten habe ich heute weniger Lust denn je,“ erwiderte ich.
„Und doch würde ich’s Dir gerade heute empfehlen. – – Aber – da kommt ein Wagen die Straße entlang. Offenbar ein Gemüsehändler, der nach Madras will. Versuchen wir, ob er uns mitnimmt.“
Es war ein steinalter Hindu, der den mit zwei Maultieren bespannten Wagen lenkte. Neben ihm saß ein Mädchen, ein halbes Kind noch. – Der Greis forderte 2 Rupien von uns als Fahrgeld. Wir saßen dann zwischen Gemüsekörben und genossen das Schauspiel eines prachtvollen Sonnenaufgangs. Die Inderin war wohl noch nicht häufig in der Stadt gewesen. Jedenfalls schien sie noch nie chinesische Kulis gesehen zu haben. Sie betrachtete uns wiederholt mit neugierigen Blicken, bis Harst dann mit ihr eine Unterhaltung in einem beiderseits fürchterlichen Englisch begann. Harst ahmte das Chinesenkauderwelsch tadellos nach. Das Gespräch wurde bald lebhafter. Die Kleine war recht zutraulich. Harst tat so, als ob er Madras nur oberflächlich kenne. Dann fragte er das Mädchen, wo der Nelson-Platz in Madras liege. Ein Bekannter habe ihm gesagt, wir würden dort in Nr. 12 vielleicht Arbeit finden.
Da drehte sich der Greis um und meinte: „Das muß wohl ein Irrtum sein. Nr. 12 ist ein neues Gebäude. Dort gibt es nur teure Europäerwohnungen und unten einen einzigen Laden.“ Er drückte sich recht gewandt aus. Nachher erzählte er uns, daß er früher Zollbeamter gewesen sei.
„Was für ein Laden?!“ fragte Harst. „Wohnt dort nicht ein Master Faringdall?“
„Es ist ein Papier- und Schreibwarengeschäft,“ erklärte der Hindu. „Es gehört der Witwe eines englischen Sahibs namens Faringdall, die mit ihrer Tochter das Geschäft versieht. Ich liefere seit Jahren das Gemüse dorthin. Es sind zwei sehr fleißige Frauen. Jetzt ist das Unglück bei ihnen eingekehrt. Der Verlobte der Tochter wurde ermordet aufgefunden. Ich kam gerade mit meinem Wagen vorüber, als der Tote nach der Stadt geschafft wurde.“
Harst tat so, als ob ihn jeder Mord über alles interessiere. Der Alte ließ sich auch gern ausfragen. Es machte ihm offenbar Vergnügen, zu zeigen, wie genau er über alle Einzelheiten unterrichtet sei. Er hatte einen Bekannten unter den Polizeibeamten und dieser war dabei gewesen, als man die Leiche abgeholt hatte. So erfuhren wir denn folgendes:
Links der Straße dicht vor Madras lag ein Palmengehölz. Dort hatten zwei Eingeborene den toten Detektiv früh morgens bemerkt und dann sofort die Polizei benachrichtigt. Campell war mit einem Seidentuche erdrosselt worden, das mit Hilfe eines kurzen Stockes fest zugedreht war. Der Stock, ein frisch abgeschnittenes Aststück, war etwa ein halbes Meter lang und mit dem einen Ende hinter das rechte Ohr des Toten geklemmt worden. Da die Polizei in Madras ein paar sehr gute Polizeihunde besaß, hatte man das beste der Tiere die Witterung des Stockes nehmen lassen. Der Hund hatte denn auch sehr bald eine Fährte verfolgt, die nach dem Europäerviertel führte. Aber – das Ende dieser Spur war das Haus gewesen, in dem Robinson Campell ein möbliertes Zimmer bewohnt hatte. Der Hund hatte also die Fährte des Ermordeten angenommen. Alle Versuche, ihn dann am Tatort erneut auf eine andere Spur zu bringen, waren umsonst gewesen. –
– – – – – – – –
Madras mit seiner flachen, weiten Reede lag nun vor uns. Der alte Hindu deutete dann auf ein Palmenwäldchen. „Dort fand man den weißen Sahib,“ sagte er.
Gleich darauf stiegen wir aus, dankten dem freundlichen Greise, nickten dem Mädchen zu und betraten ein Unterkunftshaus für Eingeborene, wie man diese Art Staatsgasthäuser überall in Indien findet. – Um elf Uhr vormittags standen zwei schmierige Chinesen vor dem Verwaltungsgebäude der Wolpooreschen Plantagen am Hafenkai von Madras und verhandelte mit dem Pförtner, der uns immer wieder erklärte, wir würden hier keine Arbeit finden. Aber Harst war hartnäckig. Der Pförtner hatte ja erwähnt, daß Seine Lordschaft noch nicht eingetroffen sei. Man erwarte ihn heute aber bestimmt.
Wolpoore bewohnte außerhalb Madras nach Bangalore zu eine alte Radschaburg, in der wir vor noch nicht ganz drei Monaten ein paar ebenso aufregende wie erfolgreiche Tage verbracht hatten, die ich unter dem Titel „Die Siegellacktröpfchen“ geschildert habe. – Harsts Rechnung stimmte: plötzlich kam ein elegantes Auto in schneller Fahrt daher und hielt vor dem stattlichen Hause. Wolpoore sprang eilig heraus. Er sah blaß und übernächtig aus. Sein mißtrauischer Blick ruhte ein paar Sekunden auf uns.
Harst hatte dem Lord schon verstohlen ein Zeichen gegeben. Wolpoores Mienen veränderten sich. Aber er tat trotz der freudigen Überraschung über unsere Ankunft ganz so, als hielte er uns wirklich nur für chinesische Kulis, fragte barsch nach unserem Begehr und sagte dann, wir sollten im Vorraum warten.
Im Auto hatten auch noch Chester Blindley, der Chef der Sicherheitswache des Lords, und ein Detektiv gesessen. Blindley holte uns fünf Minuten später durch den Garteneingang in das geräumige, luxuriös ausgestattete Privatkontor Wolpoores. – Ich will alles Nebensächliche weglassen und sofort hier das anführen, was Lord Wolpoore in seiner Depesche als „eine ihn sehr erregende Entdeckung unheimlicher Art“ bezeichnet hatte.
Als der Lord vor zwei Tagen früh morgens in Madras, von Dehli kommend, eingetroffen war, hatte ihn sein Plantagendirektor Radley auf dem Bahnhof mit der Nachricht von der Erdrosselung Robinson Campells empfangen. Wolpoore war dann im Auto nach seiner zum Schlosse umgebauten Radschaburg hinausgefahren, hatte seine Frau und seine Söhne begrüßt und war gegen elf Uhr vormittags wieder in Madras angelangt, um verschiedene geschäftliche Angelegenheiten zu ordnen.
„Ich betrat mein Privatkontor hier etwa um 10 Minuten nach elf,“ erzählte er weiter. „Bevor ich mich an meinen Schreibtisch setzte, ging ich einige Male auf und ab, da mir die Gedanken an Campells Ermordung keine Ruhe ließen. – Sie sehen nun dort links neben dem Fenster eine große, auf Leinwand aufgezogene Karte des Indischen Ozeans hängen, lieber Harst. Plötzlich fuhr ich zusammen. Meine Füße waren wie gelähmt. Mein Blick haftete stier auf der Karte. Zufällig nur hatte ich hingeschaut, hatte zunächst an eine Sinnestäuschung geglaubt, die mir meine infolge Campells Tod stark gereizten Nerven vielleicht vorgaukeln könnten.
Jetzt sieht die Karte ja völlig harmlos aus! Aber damals war sie es nicht; damals waren gerade über der mitten in den blau gehaltenen Indischen Ozean hineingedruckten gleichnamigen Bezeichnung die Worte zu lesen:
Campells Schicksal wird das Deine sein!
Diese Worte schimmerten silbern-weiß und sahen etwa so aus, als hätte sie jemand mit einem Pinsel in Druckschrift hingemalt.
Sie können sich mein Entsetzen denken, lieber Harst! Wer schon so viel wie ich unter den Verfolgungen der Thugs zu leiden gehabt hat, wer sich dann der Hoffnung hingab, daß diese Mörderbande nun endlich für alle Zeit unschädlich gemacht sei, der verliert leicht die Fassung, wenn er sich mit einem Male von neuem den entnervenden Schrecken derartiger Nachstellungen gegenübersteht.
Wie vernichtet sank ich dort in jenen Sessel, konnte aber meine Blicke nicht losreißen von der Karte des Indischen Ozeans und von dieser furchtbaren Drohung, diesem unheimlichen Beweis, daß es Thugs waren, die Campell ermordet und sich jetzt sogar in diesen Raum eingeschlichen gehabt hatten.
Mühsam nur gewann ich wieder die Herrschaft über meine Gedanken zurück. Ich wußte, daß Marbodly, der beste unserer Detektive, hier im Hause weilte. Ich ließ ihn rufen. Ich wollte ihm die drohende Inschrift zeigen. Aber – sie war plötzlich verschwunden. Ich erzählte Marbodly alles. Er meinte, ich würde mich wohl getäuscht haben. Er suchte mich zu beruhigen, schickte mich in den Garten hinab und kehrte dann hier das oberste zu unterst, um sich zu vergewissern, ob die Thugs etwa eine Höllenmaschine irgendwo verborgen hätten. Er fand nichts Verdächtiges, gar nichts. Ebenso erfolglos blieben seine Ermittlungen, ob jemand mein Kontor betreten oder sich gewaltsam Zugang verschafft hätte. Nichts, nichts ergaben diese Nachforschungen! Auch nicht der geringste Anhalt bot sich, wer die Inschrift auf der Karte des Indischen Ozeans hervorgerufen haben kann! Auch Blindley war aufs eifrigste bemüht, dieses Rätsel der geheimnisvollen Drohung zu lösen. Da – depeschierte ich an Sie, lieber Harst. Nur Sie können mir die Ruhe wiedergeben! – Harst – ich bitte Sie inständigst: klären Sie diesen Mord an Robinson Campell und das Rätsel dieser Inschrift auf; fangen Sie die noch in Freiheit befindlichen Thugs, damit ich wieder meines Lebens froh werde!“
– – – – – – – –
Harst saß in einem Klubsessel mit übereinander geschlagenen Beinen und schaute unverwandt auf die große Karte. Ich lehnte hinter ihm an dem mit Papieren bedeckten Mitteltisch. Wolpoore saß links von uns auf einem Ledersofa, und der Polizeichef Chester Blindley stand am mittleren Fenster.
Harst ließ einige Minuten verstreichen, bevor er auf des Lords Bitte mit der in seltsam versonnenem Ton gestellten Frage antwortete:
„Hat die Inschrift sich nochmals gezeigt, Wolpoore?“
„Nein,“ erklärte der Lord. „Auch Blindley ist ja leider überzeugt, daß ich das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen bin. Er läßt sich das nicht ausreden, obwohl es – Unsinn ist! Ich weiß, was ich gesehen habe. Die Worte waren so deutlich dort drüben auf der Karte zu lesen wie der Aufdruck in schwarz „Indischer Ozean“. Die Drohung war vorhanden, bester Harst! Lassen Sie sich nicht durch Blindley etwa einreden, ich hätte etwas gesehen, was gar nicht da war!“
Harst stand langsam auf und trat dicht an die Karte heran. Nach einer Weile fragte er dann, ohne sich umzudrehen:
„Haben Sie die Karte chemisch untersuchen lassen, Blindley? – Wenn hier mit einer besonderen Farbe, die bald wieder verschwindet, die Inschrift hingemalt worden war, dann könnte jeder Gerichtschemiker dies feststellen.“
„Gewiß habe ich daran gedacht,“ erklärte Blindley eifrig. „Gewiß! Doktor Maxwell hat drei Stellen des Papiers untersucht. Sie werden die Stellen leicht herauskennen, weil sie gelblich schimmern. Aber Maxwell fand keine Spur irgend einer chemisch bemerkenswerten Farbe. Deshalb kann ich auch nur nach wie vor behaupten: Seine Lordschaft war nervös erregt und ließ sich durch eine Sinnestäuschung irreführen.“
„Doktor Maxwell hat also nur die drei Stellen geprüft?“ fragte Harst wieder in demselben versonnenen Ton wie vorhin. „Hat er die Karte im ganzen angefeuchtet? Oder befinden sich die anderen Teile in genau demselben Zustand wie zu jener Stunde, als der Lord den Detektiv Marbodly hinzurief?“
„Die übrige Oberfläche der Karte ist unberührt geblieben. Ich verlangte das von dem Chemiker, damit Sie, Herr Harst, auch Ihrerseits noch nachprüfen könnten, ob –“
„Danke, Blindley, danke! – Noch etwas. Wer ist denn vorgestern vormittag, bevor Wolpoore das Kontor betrat, hier in diesem Zimmer gewesen?“
„Morgens um 8 Uhr die Frau, die die Kontorräume säubert. Dann Direktor Radley; ferner der Kontordiener, der Prokurist und der Detektiv Marbodly, der im Verwaltungsgebäude gerade Dienst hatte. Sonst hat niemand hier unbemerkt hineingelangen können – niemand!“
Harst murmelte jetzt irgend etwas vor sich hin, was wir nicht verstanden. Dann abermals ein paar gemurmelte Worte, und jetzt glaubte ich den Satz zu hören: „Ja – die Haken – die Haken –!“
Was hatte er nur wieder mit den Haken?! Schon in der kleinen Tempelruine hatte er ja eine so merkwürdige Redensart gemacht. Und jetzt nochmals?
Da drehte er sich bereits um und sagte zu Wolpoore:
„Lieber Wolpoore, eins weiß ich jetzt schon ganz bestimmt: die Inschrift war vorhanden! – Vielleicht weiß ich auch alles übrige, bevor noch die Sonne untergeht. Schraut und ich, wir werden uns nun an die Arbeit machen. – Auf Wiedersehen, Wolpoore!“
Er reichte dem Lord und dann auch Blindley die Hand. Bevor wir hinausgingen, sagte er noch zu mir: „Schau’ Dir mal die Karte an, mein Alter! Dieses Rätsel des Indischen Ozeans ist recht lehrreich.“
Ich tat’s. Ich stand auch zum Schein eine Weile vor der Karte. Ich sah auch die drei handgroßen, gelblichen Flecke, die durch die Untersuchung des Chemikers hervorgerufen worden waren. Im übrigen sah ich – nichts, jedenfalls nichts, das irgendwie auffallend gewesen wäre.
Dann sagte ich, nur um etwas zu äußern: „Die Karte ist recht unsauber aufgeklebt –“ und wandte mich um. Harst nickte mir zu. „Ganz recht: unsauber aufgeklebt! Es freut mich, daß Dir das nicht entgangen ist.“ –
Gleich darauf schlenderten die beiden schmierigen Chinesen der inneren Stadt und auf Umwegen dem Nelson-Platz zu. Unterwegs begann Harst ganz unvermittelt über das Rätsel des Indischen Ozeans zu sprechen, nachdem er mir auf meine Frage, weshalb ihm denn die Tatsache, daß die Karte etwas unsauber aufgeklebt war, so wichtig erschiene, geantwortet hatte: „Weil wir dem Kartenfabrikanten unrecht tun.“ – Das war wieder einmal so ganz eine Antwort a la Harst, – mystisch – dunkel, und doch fraglos sehr bedeutungsvoll.
„Mein lieber Alter, Du hast ja auch bemerkt,“ sagte er nun leise, aber mit Nachdruck, „daß das Papier in breitem Strich gerade dort in Fältchen liegt, wo sich der Aufdruck „Indischer Ozean“ befindet. Deshalb erklärtest Du auch: „Unsauber aufgeklebt!“ – Du irrst jedoch. Diese Fältchen sind nicht durch nachlässiges Aufkleben des bedruckten Papiers auf die Leinewand entstanden, sondern dadurch, daß jemand mit einem nassen Lappen oder einem nassen Schwamm mehrmals an jener Stelle über das Papier hin und hergewischt hat. Dieser Fältchenstrich reicht noch etwa 15 Zentimeter über den Aufdruck „Indischer Ozean“ hinweg. Und – dort soll ja die Inschrift gestanden haben.“
Ich blieb stehen. „Ah, Du meinst, daß –“
„– daß jemand die Inschrift oder besser deren chemische Rückstände auf diese Weise entfernt hat!“ fügte er meinen Worten voller Eifer hinzu. „Mithin konnte der Doktor Maxwell nichts von Chemikalien mehr auf dem Papier feststellen! Mithin konnte die Inschrift auch nicht mehr erscheinen! – Aber – gehen wir weiter. – Überlege Dir mal folgendes, mein Alter. Wolpoore ruft den Detektiv Marbodly herbei. Dieser ist Blindleys rechte Hand, sein Vertrauter, in der Tat ein sehr befähigter Mensch. Wir kennen ihn ja von früher her. Marbodly möchte nun um jeden Preis den Lord von der Angst befreien, daß ein Thug sich in das Kontor eingeschlichen und den Satz auf die Karte gemalt hätte. Er schickt den Lord in den Park und reinigt die Karte mit Wasser gerade da, wo ungefähr die Inschrift zu sehen gewesen sein soll. Er wird die Karte mit dem nassen Strich dann in die Sonne zum Trocknen gelegt haben, wodurch die Fältchen entstehen. Ob er nachher Blindley eingeweiht hat, bezweifle ich. Blindley hätte diese eigenmächtige, wenn auch gut gemeinte Handlungsweise Marbodlys nie gebilligt.“
Mir leuchtete all das durchaus ein. Als ich dies nun auch zu Harst äußerte, meinte er: „Lassen wir die Karte jetzt mal aus dem Spiel. Ich will Dir etwas anderes mitteilen. Ich habe Dich nämlich nachts im Kellerraum der Tempelruine so etwas angelogen. Es stimmte nicht, daß ich die Eisenhaken mit meinen Händen nicht erreichen konnte. Als ich Dir nahelegte, mit aller Kraft an Deinen Haken zu rütteln, hatte ich schon festgestellt, daß der eine, linke Haken meiner Fesselung recht locker saß. Nur um zu prüfen, ob dies auch mit einem der Deinen der Fall wäre, ließ ich Dich so emsig daran herumarbeiten, bis Du den Haken eben herausgezogen hattest. – Nun eine Frage: meinst Du, daß die Thugs die Haken aus Nachlässigkeit so lose in die Fugen getrieben haben, daß wir sie lockern konnten? – Weiter noch: meinst Du, daß sie uns den Inhalt unserer Taschen belassen hätten, wenn sie ernstlich die Absicht gehabt hätten, uns umzubringen? – Nein, mein Alter, – diese Gefangennahme und diese Fesselung waren meiner Überzeugung nach Spiegelfechterei. Genau so wie nachher die Flucht der Kerle im Wagen. Ich wette: sie saßen auf dem Karren und wußten, daß wir sehr bald vor der Haustür erscheinen würden! Dann erst flohen sie, damit sie den Eindruck erweckten, als hätten wir sie durch unser Auftauchen völlig überrascht; dann erst peitschten sie auf den Gaul ein und jagten davon. – Schon als ich merkte, daß der eine Eisenhaken meiner Fesselung ganz lose in der Mauerfuge saß, wurde ich stutzig. Als dasselbe dann auch bei Dir zutraf, als noch diese Flucht der beiden hinzukam, die uns unsere Koffer unerbrochen zurückgelassen hatten, da mußte ich notwendig vermuten: diese Thugs haben Euch durch diese Gefangennahme nur beweisen wollen, daß sie gefährliche Gegner sind! Nur das! Den Hauptstreich gegen uns und Wolpoore werden sie erst später ausführen. – So – das ist meine Meinung über diese Dinge. Du wirst einräumen, daß diese losen Haken überaus vielsagend sind. Die Fesselung war Spiegelfechterei. Wir sollten uns befreien! Dabei bleibe ich!“
Ich ließ ein zweifelndes „Hm – hm!“ hören. Inzwischen waren wir jedoch schon vor das Haus Nelson-Platz Nr. 12 gelangt, und Harst schritt jetzt auf die Tür des Papiergeschäfts zu, trat ein und fragte das blonde, kräftige Mädchen hinter dem Ladentisch:
„Miß Lydia Faringdall, nicht wahr?“
Ich war dicht hinter ihm geblieben. Ich sah, wie das Mädchen bei diesen höflichen Worten leicht zusammenzuckte. Dann stammelte sie verwirrt:
„Ja – Lydia Faringdall. Sind Sie etwa Master Harald Harst?“
„Ich bin’s. Können wir Sie ungestört sprechen? – Dies hier ist mein Freund Max Schraut.“
Lydia Faringdall führte uns in ein Zimmer hinter dem Laden, rief ihre Mutter herbei, damit diese das Geschäft so lange versehe, bat uns, Platz zu nehmen und zeigte in ihrem ganzen Auftreten eine Sicherheit, die auf einen reifen, energischen Charakter schließen ließ. Sie trug ein dunkelgraues, schlichtes Kleid, sah trotzdem recht anziehend aus und hatte große, klare Augen, in denen etwas wie schwermütiger Ernst lag.
Nachdem wir uns gesetzt hatten, dankte sie Harst für seinen Besuch und fuhr dann fort:
„Ich behaupte noch heute, Master Harst, daß Robinson Campell nicht von Thugs ermordet wurde. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie bemerken, wie ruhig ich über meines Verlobten schreckliches Ende spreche. Campell war mir in letzter Zeit entfremdet worden. Er – er liebte den Alkohol zu sehr. Ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein, Master Harst. Ich hätte dieses Verlöbnis gelöst. Daß ich an Sie telegraphierte, hat einen besonderen Grund: ich habe eine ganz bestimmte Person als Mörder in Verdacht, kann aber wieder anderseits dem Betreffenden eine solche Tat nicht zutrauen. Nein, nein, – er kann dieses Verbrechen nicht begangen haben!“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Helfen Sie mir, Master Harst, – helfen Sie mir!“ stieß sie leidenschaftlich hervor. „Ich liebe den Mann, den ich beargwöhne! Beweisen Sie, daß ein anderer der Mörder war. Nehmen Sie diese Seelenpein von mir! Ich leide ja so entsetzlich unter diesen Zweifeln!“ – Sie weinte stärker. Aber sie faßte sich schnell wieder, sagte dann:
„Ich habe gehört, daß Lord Wolpoore jetzt wieder wie einst die Thugs fürchtet; ich kenne die Tragödie seines Lebens, diese seine ewige Angst vor der Rache der Mördersekte! Ich bin eine ehrliche Natur. Ich will nicht, daß er grundlos annimmt, es befänden sich noch Thugs in Freiheit. Robinson Campell ist ihnen nicht zum Opfer gefallen.“
Harst blickte das Mädchen freundlich an. „Miß Faringdall, Sie müssen wirklich ganz offen sein. Wer ist der Mann, den Sie beargwöhnen?“
Sie schluchzte auf, senkte den Kopf, flüsterte: „O mein Gott – all das ist ja so furchtbar! Aber – ich will Gewißheit haben! Nur Sie können sie mir geben, Master Harst. – Hören Sie denn. Ein Kollege Campells, der Detektiv Sheffring, der ebenfalls in Lord Wolpoores Diensten steht, lernte mich durch Campell kennen. Dieser war mir seiner Trunksucht wegen bereits gleichgültig, nein widerwärtig geworden. Sheffring gewann mein Herz. Ich weiß, daß er mich wiederliebt, wenn ich’s ihm auch nie gesagt habe. Ich wollte erst frei sein. Vor drei Tagen abends, also am Abend vor dem Morde, war Campell hier bei uns. Ich erklärte ihm, daß ich das Verlöbnis von meiner Seite als aufgehoben betrachte. Da stieß er gegen Sheffring allerlei Drohungen aus, redete dann wieder von Selbstmord und war so erregt, daß ich zum Schein ihm versprach, ich würde noch eine Weile abwarten, ob er das Trinken wirklich sich abgewöhnen würde. Zum Unglück kam dann noch Sheffring zu uns. Es gab eine böse Szene zwischen Campell und Sheffring, bis Campell ohne Abschied davonstürmte. Auch Sheffring ging gleich darauf fort. Morgens fand man Campell dann erdrosselt auf, – erdrosselt mit einem Seidentuch, das –“
Sie hüstelte, fügte schnell hinzu: „– das die Thugs ja häufiger bei ihren Morden benutzen sollen.“
Ich warf Harst einen besonderen Blick zu. Ich wollte ihn auf dieses verlegene Hüsteln aufmerksam machen, das mir darauf hinzudeuten schien, daß Lydia Faringdall den Satz anders hatte beenden wollen. Harst achtete jedoch nicht auf mich, schaute vor sich hin und sagte ebenso freundlich wie bisher:
„Miß Faringdall, Sie sollen mich nicht umsonst um Hilfe gebeten haben. Ich werde für Sie tun, was ich kann. Nur eine Frage noch: Haben Sie Sheffring mal ein seidenes Tuch geschenkt?“
Ihr schoß das Blut ins Gesicht.
„Ja denn – ja!“ stammelte sie. „Und dieses Tuch war ja an dem Abend die Ursache des Streites zwischen Campell und Sheffring.“
„Und dieses Tuch ist wohl dasselbe, mit dem Campell erdrosselt wurde?“
„Dasselbe? Ich weiß es nicht. Es gibt ja viele Tücher von demselben Muster. Aber – nach der Beschreibung in den Zeitungen ist es eins von diesem Muster.“
„Haben Sie Sheffring seit jenem Abend wiedergesehen?“
„Nein – nein! Ich will ihn auch nicht sehen, – nicht eher, als bis ich von seiner Schuldlosigkeit sichere Beweise habe.“
„Wohnt Sheffring hier in Madras oder auf dem Schlosse des Lords?“
„Hier – drei Häuser weiter in derselben Straße wie Campell.“
Harst stand auf. „Sie sind ein tapferes, ehrliches Mädchen, Miß Faringdall,“ sagte er herzlich. „Sie sollen sich nicht umsonst an mich gewandt haben.“
Wir verabschiedeten uns und gingen.
– – – – – – – –
Auf der Straße erklärte Harst dann: „Merke Dir eins, mein Alter. Lydia Faringdall parfümiert sich stark. Das dürfte wichtig sein. Das Parfüm, das sie benutzt, ist eins, das nur auf Ceylon aus den Blüten des Kletterstrauches Salingia hergestellt wird. Nicht jedem behagt ein so süßlicher Duft. – Wir werden jetzt dem hiesigen Polizeichef unsere Aufwartung machen. Ich möchte mir das Tuch ansehen und noch einiges über den Polizeihund fragen, der in diesem Falle immer nur die Fährte des Ermordeten aufnahm. Wenn das, was ich mir über Campells Tod jetzt zurechtgelegt habe, noch weiter als die wahrscheinlichste Lösung durch neue Tatsachen erhärtet wird, dann gewinnt alles ein anderes Aussehen: unsere Gefangennahme, der Mord und auch das Rätsel des Indischen Ozeans.“
„Ein anderes Aussehen?“ meinte ich erstaunt. „Also ist die Inschrift auf der Karte doch vielleicht gar nicht vorhanden gewesen?“
„Oh – das schon! – Nur – nur – doch nein, ich kann noch nicht darüber sprechen. All das sind ja nur völlig haltlos in der Luft hängende Vermutungen. Ich könnte Dich nur genau so unsicher hinsichtlich der Beurteilung dieses unseres jetzigen Falles machen, wie ich selbst es bin. Erweist sich etwas als falsch, dann – begreife ich nichts mehr – nichts! Dann fehlt jedes Motiv für die nachfolgenden beiden Ereignisse: für die drohende Inschrift und unsere Überrumpelung.“
„Ah!“ meinte ich schnell. „Du hast Dich jetzt verraten. Das, was sich als falsch erweisen könnte, was Du also schon anzweifelst, ist – der Mord!“
„Nun gut. Du hast recht, mein Alter. Wenn festgestellt würde, daß Thugs hier nicht in Frage kämen, dann können ja auch nicht Thugs die Inschrift als Drohung für Wolpoore verfaßt haben, denn wie soll wohl darin von einem gleichen Schicksal wie das Campells die Rede sein, wenn dieser nicht ermordet worden ist, sondern –“
Ich konnte jetzt nicht länger schweigen. „An einen Selbstmord denkst Du?!“ rief ich fast zu laut für eine öffentliche Straße. „Aber – das ist doch unmöglich! Wo wird sich jemand erdrosseln, der freiwillig aus dem Leben scheiden will.“
„Ganz recht. Diese Art des Selbstmordes ist es ja auch, die mir nicht zusagt. – Lassen wir das jetzt alles. Erst muß ich noch den Polizeidirektor sprechen.“
Im Polizeigebäude gab es wieder allerlei Schwierigkeiten, bevor Master Allan Tompsen die Gnade hatte, zwei Kulis in einer sehr wichtigen Angelegenheit selbst anzuhören.
Des Polizeidirektor maßlos erstauntes Gesicht entlockte mir ein Lächeln, als Harst dann seinen Namen nannte. Die Kulis waren nun plötzlich hochwillkommene Gäste, wurden in zwei Korbsessel genötigt und mußten eine tadellose Zigarre annehmen.
„Master Harst,“ erklärte Tompsen geradezu strahlend, „Sie sollen alles wissen – alles. Fragen Sie nur! – Ah, das Seidentuch möchten Sie sehen, mit dem Campell erdrosselt wurde? Ich lasse es sofort bringen. – Auch den Stock, mit dem die Schlinge zugedreht worden war? Gut – auch den!“ – Er telephonierte sogleich nach der Kriminalabteilung hinüber.
Dann fragte Harst ihn, ob der Polizeihund, der stets nur Campells Fährte aufgenommen hatte, schon öfters versagt hätte.
„Noch nie, Master Harst, – noch nie! Hier geschah es zum ersten Mal. Es machte geradezu den Eindruck, als wäre am Tatort überhaupt nur diese eine menschliche Spur vorhanden, eben die des Ermordeten und dann die der beiden Eingeborenen, die Campell aufgefunden haben.“
„Was war Campell für ein Mensch, Master Tompsen? Er soll ein Trinker gewesen sein?“
„Trinker?! Säufer war er! Aber einer von denen, die nie berauscht sind. Vor einem halben Jahr hatte er mal Delirium tremens. Er wurde damals auf der Straße nachts angetroffen, als er sich, nur mit dem Hemd bekleidet, an einem Laternenmast aufknüpfen wollte. Unser Polizeiarzt meinte, Campell litte an krankhaftem Selbstvernichtungstrieb. Im übrigen war er ein sehr intelligenter Mensch. Durch seine Liebe zu einem hiesigen jungen Mädchen, die jetzt nichts mehr von ihm wissen will, ist er noch mehr aus dem seelischen Gleichgewicht geraten.“
Ein Beamter brachte jetzt das seidene Tuch und den Stock.
Harst hielt sich mit der Besichtigung der beiden Gegenstände nicht lange auf. Er schaute mich vielsagend an, sog die Luft prüfend durch die Nase ein und reichte mir das Tuch. Es war dies eines jener bunten, feinabgetönten Seidengewebe, wie sie hauptsächlich in den Städten Zentralindiens hergestellt werden. Ich spürte sofort dasselbe Parfüm, das auch Lydia Faringdall benutzte.
Harst brach dann sehr bald auf. – „Master Tompsen,“ sagte er zu dem liebenswürdigen Polizeichef, „ich glaube, dieser Mord und ebenso die Inschrift auf der Karte des Indischen Ozeans werden uns noch recht eigenartige Überraschungen bringen. Die Thugs, die hier an der Arbeit waren, sind Leute von besonderer Intelligenz, denen man nicht so leicht wird beikommen können.“
Diese allgemein gehaltenen Redensarten enttäuschten den Polizeidirektor sehr. – „Ich hoffte, Sie würden uns helfen, die Leute zu suchen, Master Harst,“ meinte er zögernd. „Können Sie mir nicht einen Rat geben, wie –“
Harst hatte ein Extrablatt des Madras-Journal vom Tisch genommen und rief jetzt etwas unhöflich mitten in den Satz Tompsens hinein:
„Ah – wenn’s das wäre – das!“
Er legte das Extrablatt wieder hin, reichte dem Polizeidirektor die Hand und sagte in ganz anderem Tone als bisher, wobei sein Gesicht ebenfalls völlig verwandelt schien:
„Vielleicht fällt die Entscheidung jetzt schon in der nächsten Nacht! Oder spätestens bis morgen mittag. Sie dürfte aber anders werden, als man nach dem bisherigen Tatsachenmaterial annehmen muß. Master Tompsen, ich bitte Sie nun, sofort den Polizeihund mit einem Beamten uns voraus nach dem Gehölz vor der Stadt zu schicken. – Auf Wiedersehen.“
Als wir nun im Geschwindschritt dem Westausgange der Stadt zustrebten, fragte ich Harst, welcher Art denn diese Entscheidung sein würde.
Seine lebhaften Augen hingen mit besonderem Ausdruck auf meinem Gesicht.
„Mein lieber Alter,“ meinte er in jener frischen, angeregten Art, die bei ihm stets verriet, daß er sich dem erstrebten Ziele nahe wußte, „Du darfst es mir wirklich nicht verargen, wenn ich die neue Vermutung, die jetzt mir die wahrscheinlichste zu sein scheint, noch für mich behalte. Du kennst mich ja. Es ist eine Schwäche von mir, meine Trümpfe erst im letzten Moment aufzudecken, auch vor Dir. Ich hoffe jetzt das Motiv entdeckt zu haben. Stelle ich noch zweierlei fest, dann hoffe ich nicht mehr, dann kenne ich es! – Diese noch fehlenden Glieder der Beweiskette werden wir nun nacheinander einfügen, – natürlich, wenn wir sie finden. Jetzt geht’s zunächst nach dem Wäldchen, wo man Campell ermordete, oder besser – wo er sich selbst, sehr wahrscheinlich während eines neuen Anfalles von Delirium tremens und unter den Nachwirkungen des Streites mit seinem Nebenbuhler auf eine sehr seltene Weise ums Leben brachte, wobei ihm noch eine besondere Absicht vorgeschwebt haben mag. Ich bin jetzt schon überzeugt, daß hier lediglich ein Selbstmord vorliegt. Bedenke: der Polizeihund nahm stets nur die Fährte des Toten auf. – Dann: das Seidentuch ist fraglos dasjenige, das Lydia Faringdall dem Detektiv Sheffring schenkte. Der Parfümgeruch beweist das zur Genüge. Wie sollten Thugs in Besitz dieses Tuches gelangt sein?! Nein – Thugs haben nichts mit dieser Sache zu schaffen. Ich nehme an, daß Campell, als er aus der Wohnung der Faringdalls davonstürmte, in Sheffrings Zimmer eingedrungen ist, das Tuch gestohlen und dann in momentaner Geistesverwirrung sich nach längerem Umherirren vor der Stadt nur deswegen mit dem Tuche erdrosselt hat, um Lydia Faringdall und Sheffring dadurch zu treffen, daß er gerade dieses Tuch zum Selbstmord benutzte. Die beiden sollten eben Gewissensbisse empfinden, daß sie schuld an seinem Tode seien. Es ist dies eine Art Rache über den Tod hinaus, die man einem Manne mit so zerrüttetem Nervensystem sehr wohl zutrauen kann. Wenn wir jetzt noch feststellen, daß Campell den Stock, mit dem er sich erdrosselte, auf dem Wege von seiner Wohnung nach dem Wäldchen, also auf der von dem Polizeihund festgelegten Spur, aus einem Busche herausgeschnitten hat, dann wirst auch Du kaum mehr diese Theorie anzweifeln können. Tuch und Stock spielen für uns als Beweisstücke eine Hauptrolle.“
Ich konnte nur erwidern, daß ich jetzt schon seine Ansicht durchaus teile. – Als wir das Palmengehölz erreicht hatten, war der Polizeibeamte mit dem Hunde bereits dort. Der Hund, der die Spur schon mehrmals verfolgt hatte, arbeitete mit größter Sicherheit. Fünf Minuten drauf deutete Harst in einem anderen Wäldchen neben einem Dickicht auf den Boden, wo eine Menge Holzschnitzel im Grase lagen. Harst fand in kurzem dann auch den Busch, aus dem der starke Ast herausgeschnitten worden war, der den Stock geliefert hatte.
Der Beamte mit dem Hunde konnte nun entlassen werden. – Diese Tatsache, daß der Stock auf dem Wege, den Campell von seiner Wohnung nach dem Palmengehölz zurückgelegt hatte, einem Busch entnommen war, mußte jeden davon überzeugen, daß hier lediglich ein Selbstmord in Frage kam. Trotzdem wollte Harst noch ein übriges tun und jetzt noch Sheffring aufsuchen. Dieser wohnte in der Trafalgarstraße, einer der älteren Gassen des Europäerviertels. Drei Häuser vor der Wohnung Sheffrings lag das Gebäude, in dem Campell ein möbliertes Zimmer innegehabt hatte. Wir hatten Glück. Sheffring war daheim. Als seine Wirtin zwei schmierige Chinesen in sein Zimmer führte, war er nur einen Moment überrascht, schickte seine Wirtin dann hinaus und machte uns nun eine sehr höfliche Verbeugung.
„Ich habe bereits von meinem Kollegen Marbodly gehört,“ sagte er leise, „daß die Herren Harst und Schraut Chinesenmasken tragen. – Kann ich Ihnen, Herr Harst, irgendwie behilflich sein?“ Er sprach das Deutsche recht fließend. Er machte einen sehr sympathischen Eindruck und war ein frischer, hübscher Mensch.
Harst reichte ihm die Hand. „Lieben Sie Miß Faringdall?“ fragte er geradezu. „Sie brauchen nicht verlegen zu werden, Sheffring. Ich habe Miß Lydia versprochen, Sie von einem Verdacht zu reinigen, von dem Sie vielleicht noch nichts ahnen.“
Sheffring schoß das Blut ins Gesicht. „Wie – sollte Lydia etwa argwöhnen, daß ich – Campell ermordet habe?“ stieß er hervor. „Das wäre ja Wahnsinn, das –“
„Beruhigen Sie sich,“ meinte Harst schnell. „Wo haben Sie das Seidentuch, das Miß Faringdall Ihnen geschenkt hat?“
Sheffring musterte Harst scharf. „Es liegt dort in meinem Schreibtisch. – Mir scheint, Sie teilen Lydias Verdacht. Ich werde Ihnen das Tuch zeigen. Dann werden Sie wohl –“
„Aber Sheffring!“ unterbrach Harst ihn. „Lassen Sie doch solch törichte Reden! Ich –“
Sheffring hatte schon ein Schubfach aufgerissen gehabt, rief jetzt: „Ah – verschwunden! Seit vier Tagen bin ich nicht mehr an diesem Schubfach gewesen! Nie kam mir ja im entferntesten der Gedanke, Lydia könnte annehmen, ich hätte Campell etwa aus Eifersucht mit ihrem Tuche, ihrem Geschenk, erdrosselt!“
Er war jetzt ganz verstört, der arme Mensch. Harst schlug ihm leicht auf die Schulter. „Seien Sie doch froh, daß Miß Lydia ein so reges Interesse an Ihnen nimmt, Sheffring. Sie hat ja genau so wie Lord Wolpoore an mich depeschiert, ich möchte ihr doch helfen. Und diese Hilfe sollte nichts anderes sein als – die Rettung der Liebe, die sie für Sie empfindet. Sie ist ein gerader Charakter; sie wollte Ihnen nicht mehr gegenübertreten, bevor nicht jeder Verdacht von Ihnen genommen war.“
Sheffrings Gesicht hellte sich wieder auf.
„Sie können mir einen Gefallen tun,“ fügte Harst hinzu. „Lassen Sie heute abend um acht Uhr durch Lord Wolpoore alle Mitglieder von dessen Privatpolizei in einem Zimmer des Verwaltungsgebäudes versammeln. Auch Wolpoore soll dabei sein. Ich will dann verschiedene Vorschläge machen, wie wir die – Thugs fangen können.“ Die kleine Pause zwischen „die“ und „Thugs“ entging Sheffring.
Dieser wollte alles nach Harsts Wünschen erledigen. Er besorgte uns dann auch ein Mietauto, in dem wir nun nach der kleinen Tempelruine hinausfuhren, wo unsere Koffer noch unberührt auf dem Schutthaufen standen. Zum Erstaunen des eingeborenen Chauffeurs traten wir dann wieder als tadellos angezogene Europäer ins Freie.
Eine Stunde drauf stiegen wir im Hotel London am Hafen in Madras ab, nahmen ein gutes Diner ein und gingen kurz vor acht Uhr nach dem nahen Verwaltungsgebäude der Wolpooreschen Plantagen hinüber.
Was Harst jetzt vorhatte, war mir noch völlig unklar. Desto gespannter war ich aber auch auf diese Versammlung, in der Harst Maßnahmen zum Fange der Mörder Campells vorschlagen wollte, – der Mörder, die es gar nicht gab!
– – – – – – – –
Nun, diese Versammlung enttäuschte mich sehr. Wolpoore begrüßte uns in seiner nervösen Art mit allerlei Fragen, auf die Harst nur erwiderte: „Sie werden mit mir zufrieden sein, lieber Wolpoore.“
Dann erklärte er den Anwesenden etwa folgendes, wobei mir auffiel, wie merkwürdig er im Verlaufe seiner Ausführungen seine Annahme (er sprach nur von „Annahme“) begründete, es müßten andere Leute und nicht Thugs Campell ermordet haben.
„Ich nehme jetzt an,“ begann er, „daß Thugs bei dem an Campell verübten Verbrechen nicht in Frage kommen. Der Polizeihund fand keine Fährte der Täter. Das Tier hat noch nie versagt. Wenn aber Thugs nicht für diesen Mord in Betracht kommen, können sie auch nicht die Urheber der drohenden Inschrift sein und ebensowenig Schraut und mich durch die Beschädigung des Bahndammes haben unschädlich machen wollen. Nein, für diese drei ineinandergreifenden Ereignisse müssen wir die Täter anderswo suchen.“
Harst entstellte hier also das, was wir bereits als Tatsachenmaterial zur Verfügung hatten, vollständig, und ließ besonders alles weg, was auf den Selbstmord Bezug hatte. Später, als „das Rätsel des Indischen Ozeans“ uns nochmals beschäftigte, wurde mir klar, wie überaus fein gerade bei diesem Problem die Geistesarbeit war, die Harst hier hatte.
„Sie haben also keinerlei Grund, lieber Wolpoore, sich irgendwie noch zu beunruhigen. Ich bin überzeugt, es gibt keine Thugs mehr, die sich in Freiheit befinden und Ihnen nachstellen könnten. Ich glaube vielmehr, daß die Mörder Campells lediglich die Polizei und Ihre Detektive durch die Inschrift und durch den Überfall auf uns irreführen wollten. Es sollte der Eindruck erweckt werden, Thugs seien hier am Werke. Dann konnten die wahren Täter desto gelassener die polizeilichen Ermittlungen abwarten. – Das ist es, was ich hier vortragen wollte. Unsere Aufgabe wird es nun also sein, die Nachforschungen in anderer Richtung fortzusetzen und zwar derart, daß wir den Bekanntenkreis Campells scharf aufs Korn nehmen. Dort vermute ich die Mörder. Jedenfalls betone ich nochmals: Thugs hat niemand mehr zu fürchten – niemand!“
Gleich darauf zerstreute sich die Versammlung, nachdem sowohl Blindley, der Chef der Privatpolizei, als auch Marbodly und ein anderer Detektiv namens Harrison in bescheidener, aber auch bestimmter Art Harsts Ausführungen widersprochen hatten, indem sie darauf hinwiesen, daß der Polizeihund versagt haben müsse und daß der Umstand, daß er keine andere Fährte als die Campells aufgenommen hätte, doch keineswegs gegen die hohe Wahrscheinlichkeit spräche, nur Thugs könnten die Täter sein. Harst hatte hierauf auch nur in offenbar übertrieben erregtem Tone erklärt, man solle sich nur auf sein Urteil verlassen, da ihm wohl die größere Erfahrung zu Gebote stände.
Wolpoore fuhr dann mit Blindley wieder nach seinem Schlosse hinaus. Er hatte noch am Schluß der Versammlung betont, er habe zu Harst volles Vertrauen und glaube jetzt selbst nicht mehr an Thugs.
Wir verbrachten im Hotel eine ruhige Nacht. Als wir um ½10 vormittags im Speisesaal beim Frühstück saßen, sagte Harst ganz unvermittelt: „Ich bin nur neugierig, in welcher Weise die Entscheidung sich anmelden wird. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Wer weiß, welcher Art diese Schatten –“
Da kam schon der Hoteldirektor an unseren Tisch und sagte hastig: „Lord Wolpoore hat soeben aus dem Verwaltungsgebäude telephoniert, Master Harst möchten sofort dorthin eilen. Seine Lordschaft sind in großer Aufregung, weil die Inschrift sich abermals gezeigt hat.“
„Ah – die Schatten!“ rief Harst und sprang auf.
Als wir das Privatkontor Wolpoores betraten, fanden wir dort den Lord, Blindley, Marbodly, Harrison und noch zwei Detektive vor. Wolpoore war leichenblaß und saß völlig gebrochen in einem Sessel. Er konnte kaum sprechen, wies auf die Karte des Indischen Ozeans, wo in silberweißer Farbe in dem Blau des Wassers die Worte deutlich zu lesen waren:
Du wirst noch heute sterben!
„Harst,“ murmelte Wolpoore, „vor einer Viertelstunde kam ich hierher, sah die Inschrift, rief Blindley und seine Leute hierbei, und diese fanden dann dort hinter jenen Büchern auf dem Wandbrett eine Höllenmaschine mit einem Uhrwerk, das so eingestellt war, daß die Explosion um ½12 erfolgt wäre. – Harst, – es sind also doch wieder Thugs hinter mir her! Wer sollte auch sonst mir nach dem Leben trachten?!“
Harst drückte dem Lord die Hand.
„Niemand tut es mehr, lieber Wolpoore,“ meinte er ernst und lehnte sich dann an die Tür, so daß er jedem den Ausgang versperrte. „Niemand tut es! Die, von denen die Höllenmaschine aufgestellt wurde, wußten, daß sie sie vorher „finden“ und das Uhrwerk abstellen würden. – Ich will hierfür einige Beweise anführen. Master Marbodly,“ wandte er sich an den Detektiv, der damals Wolpoore in den Garten geschickt und das Privatkontor durchsucht hatte, „Sie waren derjenige, der die erste Inschrift auf die Karte gezaubert hat. Sie hatten damals das Kontor betreten, bevor der Lord hierher kam. Sie haben die chemischen Reste der Inschrift dann weggewischt, als Wolpoore im Garten weilte. Sie und Ihr Kollege Harrison haben die Thugs gespielt, nachdem Campells Selbstmord, denn es handelt sich um einen solchen, Ihnen den Gedanken eingegeben hatte, Sie könnten diese Selbstentleibung zu einem ganz besonderen Plan ausnutzen, da gerade die Selbsterdrosselung schon auf Thugs hindeutete. Da haben Sie, Marbodly, hier im Kontor den Thug gespielt, haben die Drohung hingemalt! Und dann lauerten Sie beide uns an der Bahnstrecke auf, Sie beide in einer Verkleidung! Dann bedrohten scheinbar wieder Thugs uns mit dem Tode, fesselten uns aber so, daß wir freikommen mußten. Und schließlich sind Sie beide mir nun auch wirklich insofern auf den Leim gegangen, als ich gestern bei der Versammlung hier im Verwaltungsgebäude Lord Wolpoore darüber beruhigte, daß sein Leben nicht mehr in Gefahr sei, was er mir auch glaubte. Dies paßte jedoch nicht zu Ihren Plänen! Das wußte ich, und deshalb sah ich voraus, daß die – „Thugs“, nämlich Sie beide, sich wieder melden würden, damit Wolpoore abermals, wie jetzt geschehen, von einer ständig ihn umlauernden Gefahr überzeugt ist, der er nur durch stete Wachsamkeit seiner Detektive entgehen kann.“
Marbodly rief jetzt empört: „Das ist eine niederträchtige Verleumdung! Weshalb sollten Harrison und ich wohl die Thugs gespielt haben?! He – weshalb wohl?!“
„Oh – das kann ich Ihnen genau sagen. Zunächst war mir das Motiv für diese schändlichen Manöver allerdings unklar. Dann aber sah ich ein Extrablatt des „Madras-Journal“, auf dem als Überschrift stand:
Entlassung von 500 Arbeitern der Union-Werft wegen Arbeitsmangel! Unruhen im Eingeborenenviertel.
Da – hatte ich das Motiv gefunden! Es heißt: Verhütung der drohenden Entlassung aus dem Dienste des Lords! – Sobald Wolpoore keine Thugs mehr zu fürchten brauchte, war ja seine Privatpolizei überflüssig. Er hatte ja auch schon in Dehli geäußert, er könne nun ohne seine Leibwache auskommen. Diese Entlassung aus einer Stellung, die so tadellos bezahlt wurde und dabei so angenehm war, wollten Sie beide vereiteln, indem Sie – die Thugs wieder heraufbeschworen! Wolpoore sollte wieder in die alte Angst versetzt werden! Deshalb die erste Inschrift, deshalb der Überfall auf uns, deshalb jetzt das zweite „Rätsel des Indischen Ozeans“! – Leugnen Sie nicht, Marbodly! Wo waren Sie und Harrison denn vorgestern nacht?“
Marbodlys Gesicht war fahl geworden. Auch Harrison machte ganz den Eindruck eines überführten Übeltäters.
„Sie und Harrison waren vorgestern nacht beurlaubt,“ fuhr Harst fort. „Das hat mir gestern abend Blindley auf meine Frage hin mitgeteilt. Nur Sie beide von den Detektiven waren beurlaubt! Und dann haben Sie in tadellosen Masken uns gefangen genommen! Geben Sie sofort alles zu, so will ich Wolpoore bitten, Sie laufen zu lassen und Sie nicht der Polizei auszuliefern.“
Die beiden sahen ein, daß sie am klügsten täten, ein offenes Geständnis abzulegen. Sie bestätigten alles, was Harst ihnen vorgehalten hatte. – Noch an demselben Tage verschwanden sie aus Madras. – Wolpoore löste seine Leibwache auf, stellte die Detektive aber auf seinen Plantagen mit demselben Gehalt ein, so daß Sheffring in der Lage war, Lydia Faringdall sehr bald zu heiraten. –
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Wolpoore hat nie wieder unter den Nachstellungen von Thugs zu leiden gehabt. Das Rätsel des Indischen Ozeans war das letzte, was ihn an diese Mördersekte erinnert hatte.
Als nächstes unserer Abenteuer will ich nun ein Problem schildern, dessen überaus harmloses Aussehen nachher sich in das gerade Gegenteil verwandelte, weshalb ich es auch betitele:
Anmerkungen: