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Nur ein Tintenfleck

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 29

 

Nur ein Tintenfleck.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26

 

1. Kapitel.

Der lila Tintenfleck.

Harald Harsts Entschluß, vor unserer Heimkehr nach Deutschland noch einen Monat das hinterindische Königreich Siam zu bereisen, hatte meinen vollen Beifall gefunden.

Siam ist ja sozusagen das östliche Vorland des großen indischen Kolonialreichs und sollte, wie mir in der Erinnerung noch unklar vorschwebte, mindestens ebenso viele Merk- und Sehenswürdigkeiten besitzen, wie Indien selbst. –

An einem glutheißen Vormittag brachten zwei elegante Rikschas (Rikscha, zweiräderiges Bambuswägelchen) Harst und mich von unserem Fremdenheim in Bangkok, der Hauptstadt Siams, aus in gleichmäßig schneller Fahrt nach P’hrabat, dem heiligen Berge nördlich von Bangkok, wo sich das gleichnamige Kloster, einer der berühmtesten Wallfahrtsorte der Buddhisten, befindet. Die Hauptreligion in Siam ist der Buddhismus, was man schon an der Unmenge buddhistischer Mönche merkt, die in den Straßen Bangkoks zu sehen sind. Diese frommen Nichtstuer kosten dem Staate jährlich Unsummen. Trotzdem dürfte es niemand wagen, an dieser Einrichtung zu rütteln. Die Siamesen sind, was ihre religiösen Gebräuche angeht, genau so halsstarrig wie die Inder in Bezug auf das Kastenunwesen.

Unsere beiden Rikschakulis, die nur das Hüfttuch und den großen Hut aus Palmenblättern trugen, mußten offenbar Patentlungen besitzen, denn 16 Kilometer in flottem Trab ein belastetes Wägelchen zu ziehen, dazu gehört mehr als ein europäischer Dauerläufer nach langem Training leistet.

Das Kloster P’hrabat ist von mehreren Mauern umgeben. In diesen Vorhöfen schwärmen die Mönche wie die Bienen und lassen keinen Schritt des neugierigen Europäers unbeobachtet. Und sie tun recht daran. Das P’hrabat-Kloster enthält Kostbarkeiten, deren Wert auf annähernd 120 Millionen Mark geschätzt wird.

Im inneren Hofe erhebt sich der goldene Turm, ein phantastisches Bauwerk, das tatsächlich über und über dick vergoldet ist. Betritt man die Halle dieses Turmes, dessen Fußboden aus dicken, reinsilbernen Platten besteht, so wird man wie ein Verbrecher behandelt, das heißt, Priester und Mönche spielen, für jeden Fremden gut ein halbes Dutzend, die Polizei „zur Verhütung von Diebstählen oder deren Vorbereitung“.

Daß diese Halle die Habgier selbst eines sonst redlich gesinnten Menschen reizen kann, ist kein Wunder. Zunächst sieht man nämlich vor sich ein hohes silbernes Gitter, das im Viereck die heilige Fußspur Buddhas umgibt. Auf diesem Berge und an dieser Stelle soll Buddha, als er einst die Erde besuchte, auf einem Beine stehend ausgeruht haben.

Von der Riesenfußspur oder besser der einer solchen ähnlichen Vertiefung in dem Felsen bemerkt man nichts, da dieses längliche Loch vollständig mit Juwelen aller Art bedeckt ist. Im Hintergrunde wieder steht eine mit Diamanten verzierte, zwei Meter hohe Statue Buddhas unter einem Baldachin, der vor Juwelen in allen Farben schillert.

Alles, was ich bisher in Indien an Anhäufungen von Diamanten gesehen hatte, verblaßte gänzlich gegenüber diesen Millionenwerten. Harst machte mich auf drei taubeneigroße Smaragde aufmerksam, von denen jeder allein auf eine Million geschätzt wird.

Der Andrang von Fremden war heute nicht sehr bedeutend. Außer uns beiden befanden sich noch sechs Europäer in der Halle, darunter zwei Damen. Wir hätten also alles in Ruhe anstaunen können, wenn nicht eben die Mönche gewesen wären, die in sehr wenig höflicher Art uns ständig überwachten, ohne sich auch nur irgendwie Mühe zu geben, ihr Mißtrauen zu verheimlichen.

An dem Baldachin mußte etwas in Unordnung sein. Ein älterer, sonngebräunter Europäer mit leicht ergrautem blonden Bart stand auf einer Leiter und handhabte allerlei Werkzeuge. Offenbar hatte die Verschraubung der Stützen des Baldachins sich gelockert. Mir fiel auf, daß die frommen, meist wohlgenährten Herren diesen Mann so wenig mit Ihrer sonst so regen Wachsamkeit bedachten. Als ich Harst dies flüsternd mitteilte, nickte er nur zerstreut und betrachtete weiter mit einer mir unverständlichen Aufmerksamkeit den Rücken einer schlanken Europäerin, deren tadellos sitzendes Leinenkostüm und rotblondes Haar ich schon vorhin bemerkt hatte.

Sie war noch jung, diese Dame, und fraglos eine eifrige Photographin. Die Buddha-Statue knipste sie von allen Seiten, ganz besonders von rechts, wobei sie, soweit ich zählte, sechs Films[1] verbrauchte. Ich hätte mir an ihrer Stelle einen anderen Tag für diese Aufnahmen ausgesucht, da sie ja notwendig den auf einer Trittleiter stehenden Kunstschlosser (falls es ein solcher war) mit auf die Bilder bekam.

Harsts Interesse für die Rotblonde blieb das gleiche. Als sie jetzt mit ihrem Begleiter, einem stattlichen älteren Herrn, die Halle verließ, sagte er ganz leise zu mir:

„Hast Du etwas beobachtet, mein Alter? – Es gab nämlich etwas zu beobachten!“

„Natürlich die Rotblonde!“ erklärte ich. „Fraglos eine Engländerin. Der Herr war anscheinend ihr Vater. Zum Ehemann schien er zu alt. Sie ist leidenschaftliche Zigarettenraucherin, denn der Nagel ihres rechten Zeigefingers war von dem aufsteigenden Rauch der zwischen den Fingern gehaltenen Zigarette braungelb verfärbt. Außerdem liebt sie ein Parfüm, das ich abscheulich finde: Patschuli!“

Harst schob jetzt seinen Arm in den meinen und sagte:

„Gehen wir. Man wird sonst wirklich hier zu allerlei Gedanken verleitet, die man besser weit von sich weist.“

Als wir draußen im grellen Sonnenschein des Hofes standen, fügte er hinzu: „Was die Rotblonde betrifft, so hast Du gerade das Wichtigste nicht gesehen. Dort vor uns schlendert sie mit ihrem Begleiter dem zweiten Hofe zu. Ein schönes Weib. Aber – gefährlich!“

Ich mußte lachen. „Für Männerherzen ist jede Schönheit gefährlich, lieber Harald.“

Er drückte meinen Arm. „Du, mir ist zum Scherzen wenig zumute. Ich habe eine feine Witterung für große Dinge, die ihre Vorzeichen voraussenden.“

Meine heitere Stimmung war wie weggeweht.

„Vorzeichen?! Witterst Du etwa ein Verbrechen?“ fragte ich nun ebenfalls ganz ernst.

„Nein. Nur die ersten Vorbereitungen eines solchen. Wenigstens muß ich dies nach dem, was ich sah, annehmen.“

„Und was sahst Du denn?“

„Nur dasselbe wie Du, mein Alter. Der Unterschied zwischen uns liegt lediglich in der geistigen Verarbeitung des Geschauten.“

„Das glaube ich gern. Ich bin ja auch nicht Harald Harst, der weltberühmte Liebhaberdetektiv, sondern nur Dein Sekretär und Freund. – Vielleicht teilst Du mir das geistig Verarbeitete mit?“

„Denke auch gar nicht daran! – Tu mir aber den einzigen Gefallen und beachte die Rotblonde nicht weiter. Sonst verdirbst Du mir alles. Ich will unbedingt herausbekommen, weshalb sie vorhin –“ Er schwieg plötzlich und rief dann halblaut: „Wenn’s das wäre – das! Ah – dann hätte ich’s hier mit Künstlern in ihrem Fache zu tun! Das wäre dann ein Kampf, der sich verlohnte!“

Ich zuckte nur die Achseln und meinte: „Herr, dunkel ist der Rede Sinn!“

Harst gab meinen Arm frei und deutete auf ein Götzenbild, das im zweiten Hofe vor einer Art Badebassin stand. Es war eine uralte Buddha-Figur. Er hielt mir nur einen langen Vortrag über die Besonderheiten altindischer Skulpturen und Statuen und bewies, daß er auch auf diesem Gebiete über gründliche Kenntnisse verfügte. Dann verließen wir das Kloster und bestiegen wieder unsere Rikschas. Um 7 Uhr abends waren wir in Bangkok, mieteten ein Boot und ließen uns nach dem schwimmenden Fremdenheim der Frau Pordepierre übersetzen, wo wir seit gestern mittag ein Zimmer bewohnten.

Bangkok ist die Stadt der Hausboote und – man kann sagen: der Wassermärkte. Das ganze Handelstreiben spielt sich auf dem Flusse Menam ab, der die älteren Teile der siamesischen Hauptstadt durchfließt.

Die Französin Madame Pordepierre hatte als geschäftstüchtige Frau vor fünf Jahren einen alten Dreimaster erworben und zum Fremdenheim umbauen lassen. Das Schiff lag am Westufer der Pagode Wat Tscheng gegenüber verankert. Diese ist der schönste Schmuck Bangkoks und verjüngt sich in zahlreichen Terrassen zu einer Kegelspitze. Die beiden Fensterchen unseres Zimmers gingen auf die Pagode hinaus. Noch nie hatten wir ein so romantisches Quartier gehabt wie dieses; noch nie waren wir aber auch so gut verpflegt und so verwöhnt worden wie bei Madame Sarah Pordepierre, die trotz ihrer Nationalität den bekannten deutschen Liebhaberdetektiv wie einen Halbgott anhimmelte, was Harst mit nachsichtigem Lächeln hinnahm.

Wir ließen uns das Abendessen auf Deck servieren, wo sehr geschmackvoll ein kleiner Garten hergestellt war. Strahlend brachte uns dann Madame Sarah die Abendausgabe der einzigen in Bangkok erscheinenden englischen Zeitung, zeigte mit dem Finger auf einen gesperrt gedruckten Artikel unter Allerneuestes und flötete:

„Da – der „Bangkok-Rekorder“ hat in gebührender Weise von Ihrer Anwesenheit Notiz genommen, Herr Harst.“ Sie sprach das Deutsche recht gut und war auch recht stolz darauf.

Dann eilte sie an den nächsten Tisch und begrüßte andere Gäste.

Harst murmelte sehr unhöflich eine Verwünschung vor sich hin.

„Hier steht wahrhaftig, daß wir im Pensionat Pordepierre abgestiegen sind,“ sagte er ärgerlich. „Natürlich hat Sarah dafür gesorgt, daß unsere Namen in die Zeitung kämen – aus Reklamesucht. Jetzt weiß also jeder Europäer hier, daß wir in Bangkok weilen, – also dürften es auch unsere Freunde vom P’hrabat wissen. Und das ist mir nicht lieb.“

Unser Tisch stand nahe der Reling. Ich konnte das bunte Leben und Treiben auf dem hier etwa 800 Meter breiten Strome bequem beobachten und fand dies interessanter als Harsts Andeutungen, die auf die Rotblonde und deren Begleiter abzielten, denn daß er mir jetzt nicht sagen würde, weshalb er gegen sie Verdacht geschöpft hätte, war ganz sicher. Ich kenne ja meinen Harald Harst! Und der Leser kennt ihn aus unseren früheren Abenteuern ebenfalls, – ihn und seine Eigenart, sich stets bis zum „Knalleffekt“ in Schweigen zu hüllen.

Bis zum Westufer hin waren es vielleicht 100 Meter. Ich konnte genau mitansehen, wie auf dem nächsten Wohnboot sich die Familie eines reichen Siamesen zu Tisch setzte, wie es dort ganz europäisch herging und wie der olivengelbe Hausherr die farbigen Diener grob anschnauzte. In wenigen halbzivilisierten Ländern besteht ja zwischen Reich und Arm ein so scharfer Gegensatz wie gerade in Siam, wo ein Teil der Bevölkerung noch in der entwürdigenden Knechtschaft der Leibeigenschaft lebt.

Meine Aufmerksamkeit wurde erst wieder auf Harst gelenkt, als ich Madame Sarahs helle Stimme vernahm, die einen kleinen, hageren Herrn jetzt Harst mit den Worten vorstellte:

„Hier – mein guter Freund Major Trimal, lieber Herr Harst. Er kommt mit einem Anliegen. Bitte helfen Sie ihm doch. Er behauptet, er –“

Der kleine Franzose mit dem schwarz gefärbten Knebelbart unterbrach Madame jetzt schnell:

„Ich behaupte gar nichts – gar nichts, Monsieur Harst. Ich habe da lediglich auf meinem Schreibtisch heute morgen etwas gefunden, das ich mir nicht zu erklären vermag.“

Auch ich wurde nun Trimal vorgestellt. Dann verließ uns Madame, und der Major nahm an unserem Tische auf Harsts liebenswürdige Aufforderung hin Platz.

„Ich habe vor einer Stunde Ihren Namen in der Zeitung gefunden, Monsieur Harst,“ begann er nun mit einer etwas gemachten Ruhe. „Deshalb nur bin ich jetzt hier. Ich wage kaum, Ihnen die Belanglosigkeit mitzuteilen, die mich so ein wenig beunruhigt. Darf ich ganz offen sprechen? – Die Sache ist wie gesagt sehr harmlos. Ich bewohne im Nordwesten von Bangkok ein hübsches Häuschen, das ich von dem englischen Generalkonsul gekauft habe. Ich bin Junggeselle und leidlich wohlhabend. Meine einzige Leidenschaft ist das Sammeln von Briefmarken. Ich besitze ein Album, dessen Wert etwa 100 000 Mark beträgt. Aus Angst, daß es mir gestohlen werden könnte, habe ich mir in meinem Arbeitszimmer einen kleinen Stahlschrank in die Wand einmauern lassen. Davor hängt ein großes Bild. Niemand kennt diesen verborgenen Tresor. Außerdem sind die beiden Fenster meines Zimmers stark vergittert. Als ich nun heute früh mich an meinen Schreibtisch setzte, fand ich auf einer Briefmarke, die ich gestern abend gewaschen und zum Trocknen auf weißes Löschpapier gelegt hatte, einen Tintenfleck – einen halb eingetrockneten Tropfen von lila Tinte, die ich nie benutze. Mein Arbeitszimmer hat nur einen Zugang von meiner Bibliothek aus, und diese Tür mit ihrem Patentschloß versperre sich stets sorgfältig, bevor ich zu Bett gehe. Ich begreife nun nicht, wie dieser Tintenfleck auf die Marke gelangt sein kann, Monsieur Harst. Gewiß, es ist nur ein Tintenfleck, aber – wie kommt lila Tinte in mein Haus?! Keiner meiner Diener benutzt sie; niemand kann in das Zimmer nachts eindringen. Und doch: es muß sich jemand in der verflossenen Nacht dort Zugang verschafft haben – muß! Und das beunruhigt mich. Ich fürchte für meine Markensammlung. Man weiß hier in Bangkok, daß ich ein paar seltene Stücke besitze, und die Möglichkeit liegt doch immerhin vor, daß man –“

Harst hatte dem mageren Franzosen zugenickt.

„Ich bin nicht abgeneigt, mir den Tintenfleck anzusehen, Monsieur Trimal,“ erklärte er jetzt, als der Major den Satz nicht zu Ende führte. „Die Sache hat ja immerhin einiges Merkwürdige an sich. Wenn es Ihnen recht ist, brechen wir sofort auf.“

Trimal dankte wortreich. „Ihre Liebenswürdigkeit rühmt man nicht zu Unrecht,“ fügte er hinzu. „Mein Wagen wartet dort drüben an der Pagode. Wir sind in zwanzig Minuten auf meiner kleinen Besitzung.“

 

2. Kapitel.

Die Neu-Seeland-Marke.

Der Wagen Trimals war ein leichter Jagdwagen, bespannt mit zwei flinken Halbponys. Durch Zuckerrohr und Betel-Nußbaumplantagen fuhren wir bis zu der Villenvorstadt im Nordwesten. Der Bungalow des Majors lag wie alle Häuser der wohlhabenden Europäer mitten in einem ausgedehnten Garten. Das Grundstück hatte jedoch vor den anderen den großen Vorzug, daß es sich auf der flachen Kuppe eines Hügelrückens hinzog. Nach Bangkok zu hatte man von der vorderen Veranda einen großartigen Fernblick.

Trimal führte uns auf Harsts Bitte sofort in sein Arbeitszimmer und zeigte uns die Briefmarke mit dem lila Tintenfleck. Es war eine Marke von Neu-Seeland.

Harst setzte sich in den Schreibsessel und rückte die elektrische Stehlampe näher heran.

„Sie müssen mich jetzt eine Weile entschuldigen,“ sagte er zu Trimal. „Ich pflege derartige Dinge, die wie diese Marke hier auf besondere Vorfälle hinzudeuten scheinen, in aller Ruhe in Augenschein zu nehmen.“

„Oh – wir werden Sie nicht stören, mein teurer Monsieur Harst,“ dienerte der Major fast überhöflich. „Monsieur Schraut und ich können inzwischen das Haus besichtigen.“

„Pardon – mein Freund arbeitet stets mit mir zusammen,“ meinte Harst leichthin. „Vielleicht beschäftigen Sie sich indessen mit etwas anderem. Ich weiche ungern von meinen Gewohnheiten ab. – Schraut, setz Dich zu mir.“

Harsts Benehmen erschien mir etwas seltsam. Ich rückte mir also einen Stuhl an den Schreibtisch. Trimal stellte sich neben uns. –

„Stört es Sie, Monsieur Harst, wenn ich einmal einen berühmten Detektiv bei der Arbeit beobachte?“ fragte er.

„Oh, nicht im geringsten. Ich fürchte nur, Sie werden enttäuscht sein. Ich äußere mich nie sofort über das, was ich vielleicht entdecke. Immerhin können Sie das eine lernen, nämlich aus winzigen Kleinigkeiten Schlüsse zu ziehen. – Sie sind noch nicht lange Briefmarkensammler, Monsieur Trimal. Dieser jetzt tintenbeklecksten Neu-Seeland-Marke fehlen drei Zacken des perforierten Randes. Eine solche Marke kauft kein langjähriger Sammler, da sie infolge dieser kleinen Beschädigung als minderwertig gilt.“

Harst hatte sich in dem Schreibsessel zurückgelehnt und schaute zu Trimal auf. Dieser nickte lächelnd. „Ganz recht, ich betreibe diesen Sammelsport erst seit einem Jahr. Ich will Ihnen ehrlich sagen: ich habe die Sammlung nämlich von meinem Onkel Malcapier, einem Bruder meiner Mutter geerbt und bin da erst auf den Gedanken gekommen, selbst den Sammler zu spielen.“

Zum ersten Male hörten wir jetzt den Namen Malcapier. Wie oft geschah es später noch. Viel zu oft für meine Vorliebe für ein friedfertiges Dasein!

Harst beugte sich jetzt wieder über die Briefmarke, die er mit einer Pinzette in der linken Hand hielt.

„Da sind Sie allerdings billig zu Ihren wertvollen Stücken gekommen,“ meinte er. „Übrigens – zeigen Sie mir bitte genau die Stelle, wo die Marke auf dem Löschblatt und wo dieses wieder hier auf der Schreibtischplatte lag, Monsieur Trimal.“

Der Major tat’s. Das Löschblatt hatte genau vor dem Onyxschreibzeug und die Marke mitten auf dem Löschblatt gelegen.

Das Löschblatt war ein gewöhnliches, dickes weißes Löschpapier in Quartblattgröße. Harst nahm es jetzt auf und besah es sich von beiden Seiten. Es war tadellos sauber und hatte nur in der Mitte eine gewölbte Stelle. Hier hatte offenbar die feuchte Marke die Unebenheiten des Papiers hervorgerufen.

„Wo kaufen Sie diese Löschblätter?“ fragte Harst nun und hob wieder die Marke mit der Pinzette an und drehte sie um.

„In Bangkok in einem Papiergeschäft gegenüber der Pagode Wat Tscheng. Nicht wahr, es ist ein sehr gutes Löschblatt?“

„Vorzüglich ist’s. Offenbar einheimisches Fabrikat.“

„Wahrscheinlich.“

Harst griff jetzt nach einem Vergrößerungsglas, das neben dem Schreibzeug lag. Nachdem er die Marke mit Hilfe dieser starken Linse eine Weile betrachtet hatte, reichte er sie mir samt der Pinzette und schob mir auch das Vergrößerungsglas hin, worauf er sich erhob und zu Trimal sagte: „Kann ich einmal Ihren geheimen Tresor sehen?“

„Bitte sehr. Treten Sie dort vor jenes Sportbild, Monsieur Harst.“

Ich hatte inzwischen die Marke in Augenschein genommen. Der lila Tintenfleck war nach der rechten Ecke der Marke zu etwas verlaufen und hatte sogar die Zähne des perforierten Randes lila gefärbt. Die Rückseite der Marke schimmerte leicht gelblich, vermutlich infolge der Einwirkung des ursprünglichen, jetzt aber abgewaschenen Klebstoffs. Der Fleck selbst war dick und auf der Oberfläche etwas rissig.

Das war alles, was ich feststellen konnte. Ich legte Marke, Pinzette und Vergrößerungsglas auf das Löschblatt und stand auf.

Harst und der Major sprachen jetzt über die Markensammlung, die Trimal aus dem Wandfach herausgenommen und auf den Mitteltisch gelegt hatte. Es waren drei dicke Bücher, gebunden in bräunliches Leder. Harst blätterte darin und bewies durch seine Bemerkungen über einzelne Marken, daß er von diesen weit mehr verstand als Trimal.

Dann schloß der Major die Bände wieder weg und fragte, ob Harst noch irgend etwas hier zur Aufklärung des Tintenflecks zu besichtigen wünsche.

„Danke,“ erklärte Harst darauf. „Ich bin bereits zu einer ganz bestimmten Ansicht gelangt. Sie können überzeugt [sein][2], Monsieur Trimal, daß der lila Tintenfleck aus einem Füllfederhalter ohne Wissen des Eigentümers des Halters auf die Marke herabgetropft ist, als der Betreffende hier vor Ihrem Schreibtisch aufrecht dastand und sich irgend welche Notizen in sein Taschenbuch machte. Es ist also jemand in der verflossenen Nacht in dieses Zimmer eingedrungen, – jemand, der vielleicht zu Ihren näheren Bekannten gehört und so Gelegenheit hatte, einen Wachsabdruck von dem Schlüssel der Tür dieses Zimmers zu nehmen. – Haben Sie einen größeren Umgangskreis? Wer geht hier bei Ihnen zwanglos aus und ein?“

Trimal nötigte uns in die bequemen Lederklubsessel und erwiderte, indem er auf den Knopf der elektrischen Glocke neben der Tür drückte:

„Ja – das ist ja gerade das Seltsame: ich habe hier eigentlich nur eine einzige nähere Bekannte, meine Landsmännin Sarah Pordepierre. Ich lebe sehr zurückgezogen. Meine kleinen Neigungen, so besonders meine Beschäftigung mit der Dressur von Affen, füllt meine Zeit voll aus. – Nein, Monsieur Harst, ein Bekannter von mir kommt hier nicht in Frage. Denn Madame Pordepierre ist über jeden Verdacht erhaben. Gut – aus einem Füllfederhalter mag der lila Tropfen herabgefallen sein. Aber dessen Besitzer muß ein mir fremder Mensch sein.“

„Selbst den werden wir finden,“ sagte Harst gelassen. „Wenn wir in Bangkok in den einschlägigen Geschäften nachfragen, wer regelmäßig lila Tinte kauft, dann wird der Kreis der in Betracht kommenden Personen sich schon wesentlich verengern.“

Ein chinesischer Diener trat mit einem Teebrett ein und stellte eisgekühlte Getränke und mehrere Kisten Zigarren auf den Tisch. Das ganze Königreich Siam ist ja von Chinesen überschwemmt. In Bangkok allein gibt es bei etwa 400 000 Einwohnern über 150 000 Chinesen.

Als der Diener wieder draußen war, erklärte Harst weiter: „Ich gebe Ihnen den Rat, die nächsten Nächte hier zu schlafen, Monsieur Trimal. Oder aber doch wenigstens diese Nacht. Morgen lassen Sie dann ein anderes Patentschloß in die Tür einsetzen. Ich hoffe Ihnen in zwei bis drei Tagen den Menschen nennen zu können, der die Neu-Seeland-Marke unabsichtlich verdorben hat. – Sie waren früher wohl in der Kolonialarmee, Monsieur Trimal? Die Waffensammlung dort an der Wand verrät, daß Sie zum mindesten in Madagaskar längere Zeit gelebt haben. Diese Schwerter mit dem kurzen Griff und der Sichelklinge sind fraglos alt-madagassische Arbeit.“

Das Gespräch lenkte so auf die Waffen der Naturvölker über. Nach zehn Minuten erschien ungerufen der chinesische Diener abermals und meldete dem Major, daß die beiden Halbponys plötzlich unter schweren Kolikerscheinungen erkrankt seien.

Trimal entschuldigte sich und eilte in den Stall. Als wir nun allein waren, sprach Harst mit allem Eifer weiter über Zuluspeere malaiische[3] Dolche, tibetanische Doppelgriffschwerter und ähnliche charakteristische Waffen. Ich hatte dabei das deutliche Gefühl, daß hinter diesem mit so merkwürdigem Eifer behandelten Thema eine bestimmte Absicht stecken müßte.

Trimal kehrt sehr bald zurück.

„Es tut mir außerordentlich leid,“ meinte er, „daß ich Sie beide jetzt nicht in meinem Wagen nach der Stadt zurückbringen kann. Die Pferde sind zur Zeit jedoch nicht zu benutzen. Ich habe daher schon nach der Stadt telephoniert und zwei Rikschas hierher bestellt.“

Wir blieben bis gegen elf Uhr bei Trimal. Er begleitete uns noch bis vor das Gartentor, reichte uns die Hand, dankte Harst wortreich für den Besuch und erklärte, er würde sich freuen, wenn wir uns morgen vormittag seine dressierten Affen ansehen würden, in die er offenbar ganz verliebt war. Harst sagte zu, machte noch einen Scherz über die Affensprache, an deren Bestehen Trimal fest glaubte, und rief dann seinem Rikschakuli den Befehl zur Abfahrt zu.

 

3. Kapitel.

Das Flachboot.

Ich war schon die letzte halbe Stunde über so müde gewesen, daß ich mich kaum an der Unterhaltung beteiligt hatte. Unsere Rikschas fuhren erst hintereinander. Dann ließ Harst die seine dicht neben meinem Wägelchen dahinrollen und sagte gähnend:

„Mir ist der Kopf so schwer, als hätte ich ein Gelage hinter mir. – Eine prachtvolle Nacht. Der Mond wird sofort hinter den Hügeln dort hochkommen. – Findest Du nicht auch, daß unsere Rikschakulis sehr faule Kerle sind?! Und sie tragen trotz der warmen Nacht Leinenjacken und Leinenhosen –“

Was er weiter sagte, entging mir. Ich war für Minuten eingenickt. Dann rüttelte Harst mich wach, ließ seinen weit ausgestreckten Arm auf meiner Schulter ruhen und rief leise:

„Zum Teufel, nimm Dich zusammen! Hier ist ein Gewitter im Anzuge.“

Diese Redensart machte mich schneller munter, als ein Kanonenschuß es getan hätte. Ich riß die schweren Lider weit auf. Wir befanden uns mitten in einem Reisfelde auf einem lehmgestampften Wege. Vor uns reckte sich der graziöse Bogenbau einer jener so wenig tragfähig aussehenden Brücken aus Bambusstangen in die Luft, die doch weit dauerhafter und fester als schwerfällige andere Holzkonstruktionen sind. Die Brücke war einer von jenen zahlreichen Übergängen über Seitenarme des Menam und wie alle diese Bauten mit Brettern gedeckt.

Bevor ich noch völlig Herr meiner Sinne war, polterten unsere Rikschas schon auf dem Bretterbelag der Brücke. Harsts Wägelchen war jetzt dicht vor mir, da die Brücke eine Breite von nur 2 Meter hatte.

Da – Harst wandte den Kopf, nickte mir zu. Der Mond stand jetzt über den bewaldeten Höhen und schien Harst gerade ins Gesicht. Ich sah, daß er mich auf irgend etwas aufmerksam machen wollte. Ich richtete mich halb auf.

Und dann ereignete sich das, was selbst Harsts stets so reges Mißtrauen nicht vermutet hatte.

Die Rikscha vor mir verschwand plötzlich – war wie weggewischt. Nur der Rikschakuli rannte weiter. Und jetzt[4] ward auch ich das Opfer derselben Teufelei. Mein Rikschakuli ließ plötzlich die Scherendeichsel los, tat einen langen Satz nach vorwärts. Die Rikscha aber und ich mit ihr sauste durch ein Loch in dem Bretterbelag abwärts. Der Sturz war nicht tief, endete auf einem Haufen Maisstroh, der auf dem Deck eines großen Flachbootes aufgeschichtet war. Sofort stürzten sich drei, vier Kerle auf mich, drückten mich tief in das Stroh und hatten mir im Augenblick sowohl die Hände auf dem Rücken gebunden als auch meinen Kopf mit einer dicken Decke umhüllt, die mir um den Hals durch einen Strick zusammengeschnürt wurde. Dann schleifte man mich an den Beinen über das Stroh und warf mich in das Innere des Bootes hinab. Ich fiel abermals halb auf hartes Maisstroh, halb auf einen menschlichen Körper – auf Harst, der sich sofort mit den Worten meldete:

„Falls Du es bist, mein Alter, dann entferne Dich von meinem Brustkasten. Du wiegst denn doch zu viel, um als angenehme Last gelten zu können.“

Ich rollte mich zur Seite, setzte mich aufrecht, stieß mit dem Kopf gegen einen Balken, fluchte und rief:

„Was bedeutet denn diese Teufelei nun eigentlich? Die verdammten Rikschakulis –“

„– sind Mitglieder jener Gilde,“ führte Harst den Satz weiter, „die die Ausplünderung leichtsinniger Touristen seit Jahren hier zum Gewerbe erhoben haben, wie Madame Pordepierre mir erzählte. Zum Glück hat die Gilde noch nie einen Menschen umgebracht. Man wird uns alles wegnehmen, was Wert hat und uns dann laufen lassen.“

Ich hörte an dem Rascheln des Strohs, daß Harst sich bewegte und neben mich kroch. Dann fügte er ebenso dumpf wie bisher hinzu – ihm war also der Kopf ebenfalls eingewickelt worden:

„Ich habe bei dem Sturz mit der Rikscha einen solchen Schlag gegen den rechten Unterarm erhalten, daß ich den Arm kaum fühle. Er ist wie abgestorben. Die Schmerzen sind kaum mehr zu ertragen. Wenn ich wüßte, daß mich jemand hört, würde ich rufen und die Kerle bitten, mir wenigstens den rechten Arm freizugeben.“

Er stöhnte leise auf. Wie gern hätte ich ihm geholfen! Aber ich war ja selbst so fest gebunden, daß die Stricke an meinen Handgelenken bei jeder Bewegung tief in die Haut einschnitten. Ich sagte ihm das auch, worauf er erwiderte: „Laß nur! Es wird ja fraglos bald einer der Leute hier erscheinen und den Inhalt unserer Taschen sich näher ansehen.“

Eine Weile schwiegen wir beide jetzt. Inzwischen hatte ich mir so mancherlei überlegt, was unseren Besuch bei Major Trimal anbetraf. Ich hatte mich daran erinnert, daß mir verschiedenes an Harsts Benehmen während des Aufenthaltes im Bungalow Trimals aufgefallen war, so besonders seine Bemerkung, daß er stets mit mir zusammen arbeite, und dann auch seine spätere Erklärung über die Entstehung des Tintenflecks durch einen Füllfederhalter. Gewiß: diese Erklärung schien die einzig mögliche zu sein! Aber – was sollte wohl ein fremder Eindringling in Trimals Arbeitszimmer sich haben notieren wollen?! Und wenn er dies gewollt hätte – es lagen ja Bleistifte genug auf dem Onyxschreibzeug! Würde der Betreffende da erst seinen Füllfederhalter aus der Tasche genommen haben?! Und schließlich: ein Mensch, der in verbrecherischer Absicht sich irgendwo in einem bewohnten Hause Zutritt verschafft hat, wird doch nicht sich die Zeit lassen, irgendwelche Notizen zu machen, wozu er doch eine Beleuchtung gebraucht hätte, die stärker sein mußte, als eine gewöhnliche elektrische Taschenlampe etwa. Wie hätte er diese auch halten sollen, da er doch in der einen Hand das Notizbuch und in der anderen die Füllfeder hatte! Denn: Harst hatte ja geäußert, der Eindringling hätte am Schreibtisch stehend geschrieben! Also hatte der Mann das Notizbuch nicht auf die Tischplatte gelegt, sondern in der Hand gehalten! Dabei hätte er eine kleine Diebeslaterne gar nicht benutzen können, vielmehr hätte er die elektrische Krone einschalten müssen.

Jedenfalls war mir in dieser Erklärung Harsts einiges als so widerspruchsvoll aufgestoßen, daß ich jetzt mit etwas gedämpfter Stimme fragte:

„Weshalb verlangtest Du bei Trimal eigentlich so energisch, daß ich bei der Untersuchung der Briefmarke dabei war, und verhält es sich hinsichtlich des Füllfederhalters –“

Da – ich schwieg schnell, denn ich hatte von Harsts Ellbogen einen leisen Puff in die Seite bekommen.

Dann sagte er auch schon: „Laß doch jetzt diese Sache ruhen! Ich habe viel zu große Schmerzen, als daß ich Lust hätte, jetzt mit Dir diese fraglos hochinteressante Angelegenheit zu erörtern. Der Major ahnt nicht, daß ich dieses Problem für einen[5] besonders leckeren Bissen halte. Wir werden damit noch viel Arbeit haben. Der, von dem die Briefmarke durch den Tintenklecks beschmutzt wurde, dürfte es keineswegs nur auf die Sammlung abgesehen haben.“

Abermals stöhnte er dann wieder leise auf und fügte hinzu: „Wenn diese Banditen hier uns nur recht bald freilassen wollten. Das Problem des Tintenflecks reizt mich trotz der Höllenpein, die mir die Quetschwunde am rechten Unterarm bereitet.“

Er sprach auch dies alles wieder sehr laut. Sogar so laut, daß ich den Eindruck gewann, er vermute heimlich Lauscher in der Nähe und rede mehr für diese als für mich.

Dann wohl eine Viertelstunde nichts, nur Harst stöhnte zuweilen und über uns vernahm ich noch auf dem Deck des Flachbootes allerlei Geräusche, ebenso wie ich auch aus dem gelegentlichen Schwanken des Fahrzeugs schloß, daß es nicht etwa irgendwo am Ufer still lag, sondern in Bewegung war.

Jetzt über uns das Knarren klemmender Holzteile, ein Poltern und darauf lautes Rascheln des Maisstrohs. Ohne Zweifel war jemand durch die bis dahin geschlossene Deckluke zu uns herabgesprungen. – Ich hatte mit dieser Vermutung recht, denn nun ertönte dicht vor uns eine tiefe Männerstimme, die in sehr mäßigem Englisch folgendes erklärte:

„Wenn Ihr Euch gehorsam zeigt, wird Euch nichts geschehen. Sobald Ihr aber etwa um Hilfe ruft oder zu fliehen sucht, machen wir Euch für alle Zeit stumm. – Wieviel Geld habt Ihr bei Euch?“

Harst erwiderte, wir trügen vielleicht 80 Pfund Sterling bei uns. „Ich bin jedoch bereit, noch freiwillig ein Lösegeld zu zahlen, wenn Ihr mir den rechten Arm losbindet. Ich habe eine Quetschwunde am Unterarm, die stark schmerzt. Wir werden nicht um Hilfe rufen. Wir wissen ja, daß Ihr zu den sogenannten Menam-Brüdern gehört, die es nur auf Geld abgesehen haben. Behandelt uns gut, und Ihr sollt 500 Pfund erhalten.“ Diesen Zusatz brachte er in so aufrichtiger Art vor, daß auch ich mich völlig täuschen ließ. Erst nachher erkannte ich, wie fein Harst jedes Wort berechnet gehabt hatte und wie kurzsichtig ich bei diesem Tintenfleck-Problem wieder einmal gewesen war.

Der uns unsichtbare Bandit sagte nun, er wolle sich Harsts Arm einmal ansehen. Nach ein paar Minuten dann abermals seine tiefe Stimme: „Oh – es ist eine große blaue Stelle vorhanden. Bewege einmal den Arm.“

„Das kann ich nicht. Er ist wie gelähmt,“ erklärte Harst. „Lege mir einen nassen Verband an. Die Schmerzen sind kaum zu ertragen.“

„Wenn Du mir schwörst, nicht zu fliehen, dann tue ich’s,“ meinte der Menam-Bruder nach kurzem Überlegen. „Aber Du mußt auch die 500 Pfund zahlen und darfst uns nicht bei der Polizei anzeigen.“

„Gut – ich schwöre, daß ich nicht ohne Eure Erlaubnis dies Schiff verlassen will und daß Ihr haben sollt, was Euch gebührt,“ lautete Harsts Antwort, deren Schlußsatz mir deutlich bewies, wie wenig es in Harsts Absicht lag, diesen Schurken das Geld wirklich auszuhändigen und sie zu schonen. Denn der Ausdruck „gebührt“ war ja sehr verschieden auszulegen. Ich fürchtete schon, der Unsichtbare würde an diesem einen Wort Anstoß nehmen. Aber er hielt uns fraglos für gewöhnliche europäische Touristen, dem gegenüber er nicht irgendwie mißtrauisch zu sein brauchte.

„Ich bin zufrieden,“ sagte er nun. Und wieder nach einer Weile meinte er: „Legt Euch nieder und schlaft. Morgen früh bekommt Ihr zu essen und zu trinken. Und dann werden wir beraten, wie Ihr die noch fehlende Summe uns zustellen könnt. Abends dürft Ihr dann nach Bangkok zurück.“

„Erst morgen abend?!“ rief Harst enttäuscht. „Weshalb wollt Ihr uns so lange gefangen halten? Es wäre mir lieber, wir träfen jetzt schon ein Übereinkommen wegen der Auszahlung des Geldes. Ich lege noch fünfzig Pfund zu, wenn Ihr uns schon frühmorgens freilaßt.“

„Es geht nicht,“ erklärte der Bandit widerwillig.

„Hundert Pfund mehr!“ sagte Harst schnell.

„Nein, gib Dir keine Mühe! Schlaft und seid froh, daß wir so milde mit Euch verfahren. – Wer seid Ihr eigentlich?“

„Deutsche Vergnügungsreisende.“

„Deutsche?! – Du lügst. Du bist ein Engländer. Ich weiß es bestimmt.“

„Du weißt es dann eben nicht bestimmt. Nimm meine Brieftasche aus dem Rock. Darin wirst Du meine Papiere finden.“

„Die kann ich nicht lesen. Nun – ob Engländer oder Deutsche, das bleibt sich gleich. Streckt Euch jetzt nur auf dem Maisstroh aus. Ich will Euch nur noch darauf hinweisen, daß Ihr aus diesem Verschlag gar nicht herauskönnt. Er hat nur den einen Zugang von oben. Also denkt ja nicht an Flucht. Du hast ja auch geschworen. – Gute Nacht.“

Für einen Banditen war der Kerl wirklich merkwürdig höflich und gutmütig.

Ich hörte, wie er wieder durch die Luke hinausturnte, deren Deckel dann krachend zugeworfen wurde.

Harst legte sich sofort zum Schlafen nieder und meinte:

„Folge meinem Beispiel. Wir können nichts Besseres tun als schlafen, mein Alter. Major Trimal und der Tintenfleck müssen sich gedulden. Angenehme Ruhe. Es liegt sich ganz gut hier im Stroh.“

Ich erwiderte nichts als ein kurzes „Gute Nacht“ und wühlte mich dann halb in das Stroh ein, bis ich bequem lag. Daß ich munter bleiben würde, wußte ich genau. Schon die enge Fesselung meiner Handgelenke mußte jeden Schlummer verscheuchen, ebenso würden auch die Gedanken, die jetzt lebhafter als bisher mich bestürmten, mich nicht einschlafen lassen. Es waren Gedanken, die den Ereignissen dieses Tages galten und die all diese Ereignisse nun kritisch nachprüften, beginnend mit unserer Rikschafahrt nach dem Kloster P’hrabat und der Besichtigung des goldenen Turmes, der rotblonden Dame und dem Interesse, das Harst für sie heimlich bezeigt hatte.

Harst schnarchte bereits, als die Luke dann wieder quietschend und knarrend geöffnet wurde und der Unsichtbare erschien, um Harsts Unterarm mit einem nassen Verband zu versehen.

Dann waren wir abermals allein. Nachdem Harst noch erklärt hatte, der feuchte Umschlag tue ihm sehr wohl, atmete er wieder tief und ruhig und begann auch bald von neuem jene gurgelnden Töne auszustoßen, die nur im Tiefschlaf dem etwas geöffneten Munde entquellen.

In diesem Schiffsverschlage herrschte eine drückende Hitze. Mir lief der Schweiß immer wieder in die Augen. Gerade das um den Kopf gebundene Tuch verstärkte noch die Schweißabsonderung. Zudem hatte ich noch wütende Kopfschmerzen, die sich schnell steigerten. Das Blut sang mir in den Ohren und pochte in meinen Schläfen. Zuweilen würgte mir auch ein kaum zu unterdrückender Brechreiz in der Kehle. In diesem Zustand war mir Harsts gelegentliches Schnarchen und gurgelndes Atmen geradezu eine Pein.

Dann – und ich fuhr entsetzt hoch – dann fühlte ich tastende Finger an meinem Halse. Ich merkte, daß zwei Hände an den Knoten des Strickes herumarbeiteten, der das Tuch um meinen Hals festschnürte.

Es konnte nur Harst sein, der in dieser Weise sich an meinem Halse zu schaffen machte! Nur Harst! Und doch hörte ich weiter dasselbe Schnarchen – nur näher erklang es jetzt und aus anderer Richtung.

Jetzt flog das Tuch beiseite. Ich starrte um mich. Tiefe Dunkelheit – nichts weiter. Aber – nun ein paar gehauchte Worte aus Haralds Munde: „Richte Dich langsam mit dem Oberkörper auf!“

Ich tat’s. Ein Messer sägte an meinen Handfesseln. Dann hatte ich die Arme frei.

„So – nun werden wir die Menam-Brüder um die Erlaubnis bitten, das Schiff verlassen zu dürfen,“ flüsterte Harst wieder. „Reibe erst mal Deine Handgelenke mein Alter, und dann nimm Deinen Mehrlader und stecke ihn entsichert in die rechte Jackentasche.“

Gleich darauf stand Harst auf meinen Schultern und versuchte den Lukendeckel zu lüften. Es gelang. Nur allmählich hob er ihn ganz hoch, schob ihn zur Seite und schwang sich dann auf Deck.

Ich hatte nun über mir ein helleres Viereck, eben die Lukenöffnung. Ich sah ein Stück des ausgestirnten Himmels und vernahm das Rauschen naher Bäume und das Kreischen von ziehenden Wasservögeln.

Harst blieb etwa fünf Minuten aus. Dann erschien sein Oberleib über der Luke. Er warf mir ein Tau zu und half mir, gleichfalls auf Deck zu klettern.

Der Mond stand bereits tief. Das Flachboot mit dem geschweiften Vorder- und Hintersteven war etwa zwölf Meter lang und fünf Meter breit. Wie alle diese Flußfahrzeuge hatte es auch auf dem Achterdeck eine Hütte aus Bambus für die Besatzung und zwei Masten. Es lag jetzt am Ufer in hohem Röhricht. Rechts schimmerte ein seeartiges Wasserbecken; links rauschte ein großer Palmenhain, der sich eine Berglehne hinanzog.

„Es sind vier Kerle,“ berichtete Harst schnell. „Drei schlafen. Einer sitzt in der Hütte neben dem offenen Herde. Wir werden die Sache mit ihnen bald in Ordnung bringen.“

Die Hütte hatte als Türvorhang eine dicke Bastmatte. Harst schlüpfte als erster hinein, hielt dem Kerl am Feuer sofort die Pistole vor das Gesicht und rief:

„Wir wollen nur Eure Erlaubnis erhalten, uns bis morgen mittag entfernen zu dürfen. Fliehen wollen wir nicht.“

Die drei Schläfer schnellten empor. Die Leute waren Siamesen, und Mut gehört nicht gerade zu den Charaktermerkmalen dieses trägen, unterwürfigen Volkes, das durch die jahrhundertelange Knechtung unter einem echt orientalischen Despotismus jeden Unternehmungsgeist, aber auch jede Wahrheitsliebe verloren hat. Unsere Pistolen genügten vollauf, die vier Männer gefügig zu machen. Harst erklärte nochmals, daß wir mittags uns wieder einfinden würden.

„Ich weiß, daß Ihr keine echten Menam-Brüder seid,“ beendete er seine Ansprache. „Ihr seid nur für diesen Streich gedungen worden. Das Geld hat Euch verlockt. Ihr habt versprochen, uns bis morgen abend festzuhalten. Dafür erhieltet Ihr eine bestimmte Summe, auch solltet Ihr uns ausplündern dürfen. Man hat Euch aber belogen: Wir sind keine Engländer! Wißt Ihr, was ein Detektiv ist?“

Der älteste der Leute, dessen Scheitellocke bereits silbern schimmerte (die Siamesen der unteren Volksschichten rasieren den Kopf und lassen nur in der Mitte einen Haarschopf stehen), nickte und sagte:

„Tuwan (Herr), ein Detektiv ist ein kluger Mann, der Diebe und Mörder fängt.“

„Richtig. Solche Detektive sind wir beide, deutsche Detektive. Die von denen Ihr Geld empfangen habt, damit wir bis morgen oder besser bis heute[6] abend, denn Mitternacht ist längst vorbei, hier gefangen blieben, planen ein großes Verbrechen gegen die Schätze des heiligen goldenen Turmes. Sie fürchteten uns, und deshalb ließen sie uns mit Hilfe des Loches in der Bambusbrücke verschwinden. Sie haben Euch fraglos belogen, denn als gläubige Buddhisten hättet Ihr nicht gewagt, einen Anschlag gegen die Kostbarkeiten des P’hrabat zu unterstützen.“

Der Alte schüttelte den Kopf.

„Tuwan, niemand vermag aus dem goldenen Turme etwas zu stehlen,“ meinte er. „Ihr wollt hier eine weiße Lady entführen. Nur deshalb solltet Ihr unschädlich gemacht werden, sagte uns der Tuwan, der uns gestern abend überredete, ihm zu helfen, Euch gefangen zu nehmen.“

„Du wirst sehen, daß dieser Tuwan Euch getäuscht hat, der auch vorhin hier auf dem Boot war und uns belauscht hat, als wir in dem Verschlage saßen und ich so tat, als wäre mein Arm gelähmt. Ist es nicht so?“

„Ja, es ist so. Der Tuwan ließ sich nachher an Land rudern.“

„Dasselbe werdet Ihr jetzt mit uns tun. Ihr habt ein kleines Boot am Heck befestigt. Vorwärts – zwei von Euch werden uns sofort nach Bangkok zurückbringen. Ich habe Eile. Vielleicht komme ich schon zu spät, denn die, die Euch erkauft haben, planen sehr wahrscheinlich auch einen Mord!“

Harsts bestimmtes Auftreten machte auf den Alten offenbar Eindruck. Er trat dann mit Harst hinaus auf das Deck und verhandelte dort mit ihm weiter. Sehr bald rief Harald mir dann zu, ich solle ebenfalls hinauskommen.

„Der Mann hat sich von mir überzeugen lassen, daß es sich tatsächlich um einen Anschlag auf den goldenen Turm handelt,“ erklärte er hastig. „Er fühlt sich daher an sein Versprechen nicht mehr gebunden und hat sich mit mir im guten geeinigt. Er und seine drei Söhne erhalten von uns 50 Pfund und bringen uns schleunigst nach Bangkok zurück. Die Leute sind arm und lediglich Opfer der Verführungskünste jenes Fremden. Ich werde sie nicht weiter zur Rechenschaft ziehen. Von dem Alten erfuhr ich auch einen sehr wichtigen Namen: Houster!“

 

4. Kapitel.

James Houster.

Es war 4 Uhr morgens, als das Flachboot mit vom Morgenwind prall gefüllten Mattensegeln sich der Stadt näherte. Unweit des am linken Ufer gelegenen Nordforts wurden wir an Land gesetzt. Umsonst hatte ich während der Fahrt Harst gefragt, wie er denn auf den Gedanken gekommen sei, es sollte ein Diebstahl im goldenen Turme des P’hrabat ausgeführt werden. Er hatte nur geantwortet:

„Hast Du denn wirklich den Zusammenhang noch nicht begriffen?“

Worauf ich erklärte: „Nur das eine, daß die Rotblonde bei alledem eine Rolle spielt. Aber was es mit dem Morde auf sich hat, ist mir völlig unklar.“

Er erwiderte darauf nichts. Und ich mußte mich wieder einmal gedulden. –

Eine halbe Stunde später befanden wir uns im Europäerviertel von Bangkok mit seiner elektrischen Straßenbeleuchtung und seinen schönen, breiten Straßenzügen. Harst suchte hier offenbar ein bestimmtes Haus. Dann blieb er vor einem älteren, schmalen Ziegelbau stehen und schaute zu den Fenstern des ersten Stockes empor. Vor dem Hause stand gerade ein Mast mit einer elektrischen Bogenlampe. Im Erdgeschoß befand sich ein Eisenwarengeschäft. Über dem Schaufenster las ich die englische Firmenaufschrift:

James Houster, Kunstschlosserei.

Harst zog mich weiter. „Komm’, wir dürfen nicht auffallen,“ meinte er. „Wenn ich nur wüßte, wie ich herausbringen könnte, ob die Bande Houster etwa wirklich beseitigt hat oder wie sie ihn sonst – ausschalten will. Hm – am besten ist, wir wecken den Chef der hiesigen Polizei. Es ist ein Amerikaner namens Walker. Er wird uns ohne Frage in jeder Weise unterstützen.“

Abermals eine halbe Stunde drauf saßen wir in der Privatwohnung Master Tobias Walkers, eines älteren, zunächst recht zugeknüpften Herrn, der offenbar nicht zeigen wollte, daß ihm der Name Harst irgendwie imponierte. Erst als Harst dann erklärte, er hätte sichere Beweise dafür, daß ein Teil der Kostbarkeiten des goldenen Turmes am Vormittag geraubt werden solle, taute Master Walker auf und erfüllte Harsts Bitte, uns sofort die nötigen Sachen für eine Verkleidung zu besorgen. Aber auch ihm gegenüber äußerte sich Harst in keiner Weise über die bevorstehenden Ereignisse und über die Schlüsse, die er aus unseren Erlebnissen des gestrigen Tages gezogen hatte. –

Gegen 6 Uhr morgens verließen zwei dunkelbraune Inder mit würdigen Bärten das Haus des Polizeichefs durch einen Nebenausgang und wanderten wieder jener Straße zu, in der die Kunstschlosserei James Housters sich befand.

Der größere der Inder sagte jetzt zu dem kleineren, und das war ich:

„Mein Alter, wenn Houster nicht daheim, sondern zu irgend einer dringenden Arbeit abgerufen worden ist, so dürfte leider ein Mord geschehen sein.“

Ich schwieg zunächst, dachte nach und erklärte dann:

„Houster steht wahrscheinlich mit der Rotblonden im Bunde. Er wird derselbe Mann sein, der den Baldachin im goldenen Turme reparierte. Mir fiel auf, daß die Mönche und Priester ihn kaum beobachteten. Mithin vertrauen sie ihm. Vielleicht arbeitet er des öfteren für das P’hrabat-Kloster und hat sich jetzt zur Teilnahme an dem Verbrechen verleiten lassen.“

Harst schüttelte den Kopf.

„Ich habe selten eine solche Vermengung von Richtigem und Falschem mitangehört,“ sagte er nachsichtig. „Dieser Fall mag ja tatsächlich schwer zu überschauen sein, obwohl Dich doch schon die Kolik der Pferde Trimals hätte stutzig machen müssen.“

„Ah – mir geht ein Licht auf!“ rief ich jetzt leise. „Trimal ist ebenfalls an der Sache beteiligt.“

„Natürlich. Das wußte ich schon, als ich die Briefmarke mit dem lila Fleck kaum gesehen hatte. Wenn ich verlangte, Du solltest bei Trimal Dich zu mir setzen, so geschah es nur, weil ich Deine Ausbildung zum Detektiv fördern wollte. Dieser Tintenfleck ist nämlich ungeheuer lehrreich. Meine Behauptung, ein Füllfederhalter habe den Klecks erzeugt, war Unsinn, aber ein Unsinn, der Trimal einleuchtete. Der Major hat den Tintenklecks höchst eigenhändig hervorgerufen. Beweis: die Marke ist, nachdem der Fleck erzeugt war, über einer Flamme getrocknet worden, wobei die Unterseite der Marke gelblich anlief. Auf dem Löschblatt hat die Marke nicht gelegen, als die lila Tinte auf sie herabtropfte. Sonst hätte das Löschblatt Tintenspuren aufweisen müssen. Es war aber völlig sauber. Der Fleck auf der Marke zieht sich bis zu den Zähnen des Randes hin. Also hätte das Löschblatt mitbeschmutzt werden müssen.“

„Hm – über einer Flamme getrocknet?! – Welche Unvorsichtigkeit!“ warf ich ein.

„Du zweifelst, daß ich hierin recht habe, mein Alter? – Ich habe recht! Die Sache ist einfach die: Trimal und seine Genossen erfahren erst durch die heutige Abendausgabe des Bangkok-Rekorder, daß ich mich hier jetzt aufhalte. Da entwerfen sie schleunigst einen Plan, gerade mich, den sie als Verfolger nach geschehener Tat am meisten zu fürchten haben, in eine Falle zu locken und bis heute abend festzuhalten. Sie ersinnen „das Rätsel des Tintenflecks“, das mich reizen soll und auch tatsächlich reizte, wenn ich auch schon mit einem gewissen Mißtrauen zu Trimal hinausfuhr, da mir der Zufall etwas seltsam erschien, daß er gerade gestern abend kurz nach Ausgabe des Rekorder bei uns erschien. Ich sah dann die Marke und wußte Bescheid. Sie mußte über Feuer getrocknet werden, da doch der Fleck schon in der vergangenen Nacht entstanden sein sollte, während er in Wahrheit erst kurz vor Trimals Besuch bei uns hervorgerufen wurde. Du siehst, die Leute besitzen Phantasie. Dieser Plan war recht schlau erdacht, nur sehr unvollkommen ausgeführt. Die Marke durfte unten nie gelb werden, und ebenso hätten die Erfinder dieser Idee das Löschblatt nicht vergessen dürfen. – Dann wurde Trimal durch den Diener abgerufen – der Pferde wegen. Die Halbponys sind natürlich ganz gesund. Der Diener handelte auf Befehl. Ich sprach absichtlich über Waffen recht laut weiter, denn fraglos lauschte Trimal an der Tür. – Die Absicht war die, uns zu zwingen, die beiden angeblich aus der Stadt bestellten Rikschas zu benutzen. Mir waren diese gleich nicht recht geheuer. Die Rikschakulis trugen Leinenjacken und -hosen. Auch das war ein Fehler. Immerhin – ich war nur auf einen Überfall gefaßt, nicht auf das Loch im Brückenbelag. Auch dieses Detail war fein ausgeklügelt. Der Sturz in die Tiefe kam ja so unerwartet, daß Gegenwehr nicht gut möglich war. Übrigens haben Trimal und Genossen die Flachbootschiffer ja auch erst gestern abend für sich gewonnen, – ein weiterer Beweis, daß die Bande nur erst durch den Rekorder auf uns aufmerksam wurde. – Was Trimals Person betrifft, so hast Du ja mitangehört, was Tobias Walker über ihn äußerte: entlassen aus dem Kolonialdienst wegen dunkler Geschichten; hier seit einem Jahr etwa ansässig; scheinbar menschenscheu; sonst nichts Belastendes. – Aber diese Angaben Walkers genügen. Ich behaupte, der fragwürdige Major ist nur deshalb nach Bangkok gekommen, um den Schätzen des P’hrabat zu Leibe zu gehen; nur damit sich niemand mit ihm beschäftigt, hält er sich ganz für sich allein. Sein Bungalow grenzt mit dem Garten an das Gebiet des P’hrabat-Klosters und ist von diesem kaum 800 Meter entfernt. – Doch – da haben wir Housters Laden schon vor uns. Er ist bereits offen. Hier im Orient beginnt man mit der Tagesarbeit etwas früher als bei uns daheim.“

„Und der Mord?“ fragte ich schnell.

„Darüber werden wir sofort Gewißheit erhalten.“

Harst betrat das Geschäft. Ich blieb dicht hinter ihm. Das Läuten der Türglocke tönte noch nach, als hinter einem Vorhang eine ältere Frau auftauchte, eine sehr sauber gekleidete Weiße.

Harst sprach sie auf englisch an.

„Mistreß Houster, nicht wahr?“ fragte er.

Sie bejahte freundlich.

„Sind wir hier unbelauscht?“ forschte er weiter, indem er die Stimme dämpfte. – Frau Houster nickte mit etwas erstauntem Gesicht.

„Wo ist Ihr Mann, Mistreß?“ flüsterte Harst wieder.

„Er wurde vor einer Stunde zu Major Trimal gerufen. Der Major hat eine Menge Affenkäfige. An den Gittern sollten die Türen schnell verlegt werden.“

Harst sprach jetzt noch leiser. „Mistreß Houster, wir sind keine Inder, sondern Deutsche. Mein Name ist Harald Harst.“

Etwas wie leichtes Erschrecken malte sich auf dem Gesicht der Frau.

„Ah – Master Harst, der berühmte Detektiv!“ meinte sie zögernd. „Womit kann ich Ihnen dienen? – Wollen die Herren nicht in unser Wohnzimmer eintreten?“

„Danke, Mistreß. Wir haben es eilig. – Nur noch einige Fragen. – Ihr Mann arbeitet ständig für das P’hrabat-Kloster?“

„Ja – seit zehn Jahren. – Aber – weshalb –“

„Oh – lassen Sie nur. Es handelt sich hier um nichts Besonderes. – Kennt Ihr Mann den Major Trimal genauer?“

„Nein. Er ist heute zum ersten Male dorthin gerufen worden.“

„So – zum ersten Male!“ wiederholte Harst sinnend. „Sehr schlau das – sehr schlau. Oder aber – die Idee ist erst kürzlich –“ Er brach mitten im Satz ab, fügte dann hinzu: „Ist Ihr Mann durch Trimals Wagen abgeholt worden?“

Wieder zeigte sich ängstliches Staunen in Frau Housters Zügen.

„Ja – mit einem Ponywagen fuhr mein Mann hinaus. Doch – ich bitte Sie, – warum wollen Sie –“

Harst verbeugte sich schon und sagte: „Wir müssen fort, Mistreß. Auf Wiedersehen – Ihren Mann trifft man heute vormittag wohl im P’hrabat-Kloster? Gestern war er dort beschäftigt. Heute wohl auch noch?“

„Ja. Er hofft heute mit der Reparatur des Baldachins fertig zu werden. Er will vom Bungalow des Majors aus gleich nach dem P’hrabat hinübergehen.“

Dann waren wir wieder auf der Straße. Ich hatte aus dieser Unterhaltung mit Frau Houster nur den Eindruck gewonnen, daß mein Verdacht gegen Houster berechtigt gewesen er stecke mit Trimal und dessen Genossen unter einer Decke. Seine Frau aber ahnte wohl, daß die Redlichkeit ihres Gatten ins Wanken geraten war.

Als ich dies nun auch Harst gegenüber äußerte, erwiderte er: „Alles falsch, mein Alter! Die Sache ist verzwickter! Denke an die sechs photographischen Aufnahmen des Baldachins von rechts, die die Rotblonde machte. Das und der Tintenfleck sind die Hauptpunkte des Problems.“

Ich begriff noch immer nichts. – Harst hatte zwei Rikschas herbeigewinkt.

„Nach dem P’hrabat!“ befahl er. – Wir stiegen ein. Die Rikschas rollten davon. Außerhalb der Stadt ließ Harst die Rikschakulis sich dicht nebeneinander halten. Daher konnten wir auch bequem miteinander sprechen.

„Sieh mal, auch diese Kulis tragen nur Lendentuch und Strohhut,“ begann er. „Wie alle diese menschlichen Pferde hier. Nur in der vergangenen Nacht zogen uns ein Paar „angezogene“ Kulis. Sie mußten Hosen und Jacken tragen, denn – es waren nur verkleidete Helfershelfer Trimals. Das Ziehen wurde ihnen auch verdammt sauer, ebenso das lange Traben. Dein menschliches Pferd, mein Alter, war sogar eine – Dame, wie ich bald herausmerkte.“

„Dame?!“ meinte ich stockend. „Etwa die – Rotblonde?“

„Ohne Frage dieselbe!“ nickte er. „Mein „Pferd“ dürfte der grauhaarige Begleiter der eifrigen Photographin gewesen sein. Aber – das „Grauhaarige“ an ihm wird Maske sein, vermute ich. Heute wird er vielleicht wieder eine andere Maske tragen.“

Meine Neugier, nun endlich den Zusammenhang all dieser Begebnisse voll zu überschauen, steigerte sich noch.

„Ich bitte Dich,“ sagte ich eindringlich, „teile mir nun endlich mit, was –“

Harst rief schon: „Bei Gott – er hat noch nichts gemerkt! Aber mein Alter, Du bist heute geradezu begriffsstutzig! Vergiß doch die sechs Aufnahmen von rechts nicht!“

Ich lehnte mich ärgerlich zurück, und auch Harst schwieg nun. Als wir uns dem Punkte der Straße näherten, wo der Weg nach der Villenkolonie abzweigte, befahl Harst den Kulis, zu halten. Er lohnte sie ab und schickte sie nach der Stadt zurück.

Hastig schritten wir nun dem Bungalow Trimals zu, bogen dann jedoch rechts von der Gartenmauer in das Palmengehölz ein, gingen an der Mauer entlang und fanden sehr bald in dieser eine Pforte, die nach Norden zu lag. Hier untersuchte Harst den Erdboden dicht an der Pforte, flüsterte nun: „Vielleicht haben wir Glück. Dies ist für Houster der nächste Weg nach dem P’hrabat. Wäre hier keine Pforte gewesen, hätte ich den Haupteingang überwacht. Komm’, verbergen wir uns! Trimal wird Houster durch die Pforte hinauslassen, oder ein Diener wird dies vielmehr besorgen.“

 

5. Kapitel.

Die Rauchbombe.

Meine Spannung war jetzt aufs höchste gestiegen.

Wir hockten hinter ein paar Büschen links von der Pforte. Nach vielleicht einer Viertelstunde öffnete sich diese. Ein chinesischer Diener ließ Houster ins Freie und verschloß die Pforte dann. Ich erkannte den Kunstschlosser sofort wieder. Seinen graublonden Vollbart und seine kräftige, hohe Gestalt hatte ich noch gut in der Erinnerung.

Mit aller Vorsicht blieben wir Houster auf den Fersen. Jetzt betrat er, stets einen schmalen Fußpfad benutzend, ein Tal zwischen den Hügeln, in dem hohes Gestrüpp wucherte.

„Näher heran!“ flüsterte Harst „Dieser Ort ist gefährlich, eignet sich nur zu sehr für einen Überfall.“

Der Pfad schlängelte sich zwischen den Gestrüppwänden in kurzen Biegungen hindurch. Wir liefen jetzt im Trab, aber stets tief gebückt.

Da – vor uns ein Schuß.

Harst schnellte sich plötzlich in langen Sätzen vorwärts. Noch zwei Biegungen, dann – vor uns eine kleine Lichtung; darauf ein Chinese der gerade den Körper Housters ins Dickicht zerrte.

Als der Chinese uns erblickte, stand er einen Moment wie gelähmt da, faßte sich aber schnell und wollte in dem Gestrüpp verschwinden.

„Halt – stehen bleiben!“ brüllte Harst und riß die Pistole hervor.

Der Chinese war jedoch mit einem Sprung hinter einem Dornbusch verschwunden.

Peng – peng –

Harsts Pistole knallte.

Ein gellender Aufschrei. Wir rannten hinter den Busch. Dort lag der Chinese lang im Grase, das Gesicht nach oben gekehrt. Ein dicker Blutstrahl sprang aus der durchschossenen rechten Halsschlagader stoßweise hervor.

Der Chinese? – Nein – kein Chinese! Es war der verkleidete Major Trimal!

Harst beugte sich über ihn. Das Gesicht Trimals verfiel bereits; die grauen Schatten des Todes breiteten sich darüber aus. Der Sterbende hatte die Augen geschlossen.

„Trimal!“ rief Harst leise, aber befehlend, „wer ist die rotblonde Frau, die im goldenen Turm den Baldachin so oft photographierte?“

Der Major öffnete die Lider. Sein umflorter Blick suchte die Sonne, die schon hoch über den Büschen stand.

„Eugenie Malcapier, meine – Nichte –“, hauchte er. „Sie – an allem schuld – eine Teufelin. Im P’hrabat – heute – ein –“

Das war sein letztes Wort. – Harsts erste Kugel hatte ihm die Brust durchschlagen. Er war tot.

Wir eilten zu Houster hin. Harst untersuchte ihn. Eine Revolverkugel war ihm in den Hinterkopf gedrungen. Aber er lebte noch.

Die Schüsse hatten jetzt doch ein paar Siamesen herbeigelockt, denen Harst befahl, den Schwerverletzten in das nächste Europäerhaus zu tragen. Die olivengelben kleinen Kerle – denn die Siamesen sind zumeist weit unter Mittelgröße – schienen uns für die Mörder zu halten und entfernten sich schleunigst mit dem Verwundeten, den sie auf eine aus Baumästen hergestellte Tragbahre gelegt hatten.

„Nach dem P’hrabat!“ rief Harst jetzt in einer Erregung, die er nur mühsam verbergen konnte. „Hier sind wir zu spät gekommen, haben den Überfall auf Houster nicht mehr verhüten können! Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Trimal es wagen würde, eine Schußwaffe zu benutzen. Im goldenen Turm müssen wir rechtzeitig eingreifen. Mein Alter – strenge Deine Lungen nur etwas an! Es muß sein!“

Er hatte sich schon in Trab gesetzt. Ich keuchte neben ihm her. Es ging jetzt ziemlich steil bergan. Bald öffneten sich die hohen Büsche und gaben die Aussicht auf die Klostergebäude und die Umfassungsmauer frei. Wir bogen dann rechts ab, um an den Haupteingang zu gelangen. Jetzt mäßigten wir unsere Eile, um nicht aufzufallen. Harst hatte die Augen überall, flüsterte mir zu:

„Ich wette, die Rotblonde ist ebenfalls im P’hrabat. Schau’ unauffällig nach ihr aus. Vielleicht trägt sie auch eine Verkleidung.“

Wir durchschritten die ersten Höfe und wunderten uns, daß wir heute hier so wenige Priester und Mönche sahen.

Dann deutete Harst nach dem goldenen Turm hin, der über die flachen Dächer hoch hinwegragte.

„Da – Rauch, dicker, gelber Qualm!“ flüsterte er. „Das hat etwas zu bedeuten! Sie werden’s mit einer Rauchbombe vielleicht versucht haben.“

Im letzten Hofe vor dem Turm herrschte bereits ein großes Gedränge. Die frommen Buddhisten waren in wildester Aufregung.

Plötzlich schwenkte Harst schnell nach rechts ab, wo ein Säulengang vor einem Tempel entlanglief. Ich stutzte, – ich traute meinen Augen nicht! Dort kam – Houster unter dem Säulendach daher, – Houster, frisch und gesund! Er beachtete die beiden Inder nicht eher, bis sie ihm den Weg vertraten.

„Einen Augenblick,“ sagte Harst auf englisch. „Ihre Maske ist tadellos, ohne Frage! Sie sind ein Künstler in diesem Fach! Sogar Housters etwas schleppende Art zu gehen ahmen Sie vorzüglich nach!“

Der falsche Houster war zurückgeprallt. Aus der Menge der Priester hatten sich mehrere verkleidete Polizisten uns genähert. Polizeichef Walker befolgte also genau das, was Harst ihm beim Abschied heute früh nahegelegt hatte.

„Sie sehen, daß Sie die Partie verloren haben!“ fuhr Harst fort. „Mann – seien Sie verständig: wo ist Miß Eugenie Malcapier?“

Walker erschien jetzt neben uns.

„He, Master Harst, was haben Sie mit Houster vor?“ fragte er. „Sollten Sie etwa annehmen, daß –“

Er schwieg. Harst hatte mit schnellem Griff dem Fremden den falschen Bart abgerissen.

„Da – sieht so Houster aus?!“ meinte er. „Master Walker, verhaften Sie diesen Mann! Und lassen Sie sofort alle Ausgänge des P’hrabat sperren!“

Die Beamten packten zu. Ein paar Handschellen schlossen sich knackend um des Verbrechers Handgelenke. Der Mensch hielt jetzt den Kopf gesenkt, starrte bleich und verstört vor sich hin. Wir führten ihn in einen Tempelraum, ließen ihn hier bewachen und eilten mit Walker nach dem goldenen Turme hin.

Dem Eingang entquoll noch immer dicker, gelber Qualm. Harst riet, man solle einige der unteren Fenster öffnen, um dem Rauch Abzug zu verschaffen.

„Feuersgefahr besteht nicht,“ erklärte er. „Es handelt sich lediglich um eine Rauchbombe.“

Man befolgte den Rat. In kurzem war die Halle dann rauchfrei. Walker und wir beide betraten sie als erste. Rechts neben der Pforte lag in einem großen Räucherkessel ein Metallzylinder, aus dessen siebartig durchlöchertem Deckel noch immer Qualmfäden aufstiegen. Unter dem Baldachin stand die Trittleiter, auf der Houster an den Stützen gearbeitet hatte. Harst kletterte hinauf, rief uns und dem Oberpriester, der gleich nach uns in der Halle erschienen war, zu: „Es sind acht der größten Steine herausgebrochen worden, darunter auch die drei Smaragde!“

Die Halle füllte sich schnell mit Mönchen und Priestern. Ein ungeheures Wutgeschrei brach jetzt los. Harst gesellte sich wieder zu uns.

„Gehen wir zu dem Gefangenen,“ meinte er. „Ich bin leider auch hier zu spät gekommen. Ich fürchte, er wird die Steine Miß Malcapier bereits ausgehändigt haben, und diese dürfte nicht mehr im P’hrabat sein.“

Jetzt endlich sollten Walker und ich darüber Aufschluß erhalten, wie Harst dieses Verbrechen durch logische Schlüsse vorausgeahnt hatte.

„Ich werde Ihnen genau erklären,“ sagte er zu dem gefesselten Verbrecher, „was hier vorgegangen ist[7]. Sie, die Malcapier und Trimal haben einen Anschlag auf den P’hrabat seit langem geplant. Aber jetzt erst, als Houster die Reparatur an dem Baldachin zu erledigen hatte, erschien Ihnen die Gelegenheit günstig. Als ich die Malcapier den Baldachin von allen Seiten photographieren sah, besonders von rechts, obwohl doch Houster mit auf die Platte kommen mußte, sagte ich mir gleich, daß die Aufnahmen nicht den Baldachin, sondern den Kunstschlosser festhalten sollten. Weiter sagte ich mir: wer diesen Mann so oft photographiert, besonders von einer Seite, die die beste für eine Aufnahme des Gesichts war, der kann vielleicht die Absicht haben, hier im P’hrabat einen falschen Houster auftauchen zu lassen. Die Aufnahmen oder besser deren Vergrößerungen sollten nur dazu dienen, jede Einzelheit von Housters Gesicht recht getreu bei der Maske für den falschen Houster berücksichtigen zu können. Da Ihr Gesicht eine entfernte Ähnlichkeit mit dem des Kunstschlossers hat, fehlte nur weniges, um eine tadellose Täuschung hervorzurufen. Der Plan war fein ersonnen, aber – er enthielt doch grobe Fehler, besonders was den Tintenfleck und meine und Schrauts Gefangennahme betraf. – Jedenfalls mußte der echte Houster verschwinden, wenn der falsche hier auftreten sollte. Daher der Mordanschlag, den ich nicht vereiteln konnte. Sie haben dann hier Houster gespielt, und die Malcapier hat die Bombe in das Räucherbecken getan, um die Halle durch den starken Qualm schnell zu leeren. Sie konnten noch acht Steine herausbrechen, dann mußten Sie dem Rauche weichen. – So hat sich alles zugetragen. – Wo sind die Edelsteine?“

„Ich habe sie Eugenie ausgehändigt, die als Inderin verkleidet mich vor dem Turme dann erwartet hat,“ sagte der Verbrecher dumpf. „Eugenie ist meine Schwester, Trimal unser Onkel. Der ganze Plan entsprang ihrem Hirn. Sie war’s, die Trimal und mich vor einem Jahr auf den Gedanken brachte, uns hier niederzulassen und den Diebstahl vorzubereiten. Eugenie und ich galten als Ehepaar. Mit Trimal verkehrten wir nur heimlich. Und Sie, Master Harst, wollten wir unschädlich machen, um einen Vorsprung bei unserer Flucht zu gewinnen.“

Die Suche nach Eugenie Malcapier blieb zunächst ergebnislos. Houster genas sehr bald. Die Kugel hatte nicht genügend Durchschlagskraft gehabt und war nur wenig in das Hirn eingedrungen.

Was wir bei der Verfolgung Eugenie Malcapiers erlebten, will ich im folgenden Band unter dem Titel schildern:

Die Menam-Brüder.

 

 

Die Menam-Brüder.

 

1. Kapitel.

Eine Kampfansage.

Lehmgelb und träge umgurgelten die Wasser des Menam-Flusses die Bordwände des schwimmenden Fremdenheims der Madame Sarah Pordepierre, bei der Harst und ich in Bangkok, der Hauptstadt des Königreichs Siam, Wohnung genommen hatten. Ringsum lagen andere Wohnschiffe verankert, dazu noch große Bambusflöße, auf denen sich luftige Häuschen erhoben, Kramläden und Werkstätten der einheimischen und chinesischen Kaufleute und Handwerker. Ein seltsames Bild bietet der große Strom, auf dessen beiden Ufern Bangkok sich endlos weit hinzieht mit seinen schmucken Gärten, seinen das Häuser- und Baummeer überragenden 700 buddhistischen Klöstern und Tempeln, darunter einigen Riesenpagoden von ebenso phantastischer wie gefälliger Bauart.

Die Sonne war bereits im Untergehen, näherte sich, von einem gelbroten Hofe umgeben, dem Horizont. Gelbroter, feiner Dunst lagerte auch über dem breiten Strome und ließ die Szenerie der tausende und abertausende von Schiffen, Booten, Flößen und plumpen Lastfahrzeugen, teils vor Anker liegend, teils an Pfählen befestigt oder in Bewegung, so unwirklich wie ein traumhaftes Spukbild erscheinen.

Wir saßen auf dem Deck des schwimmenden Pensionats inmitten eines geschickt angelegten Gärtchens an unserem gewöhnlichen Tische an der Backbordreling. Harst war nach den Ereignissen des Vormittags still und insichgekehrt. Ich hatte mehrmals versucht, ein Gespräch anzuknüpfen, mußte aber bald einsehen, daß Harald wohl trüben Betrachtungen über unser verspätetes Eingreifen bei dem gegen den goldenen Turm des P’hrabat-Klosters geplanten Anschlag nachhing und störte ihn daher nicht weiter.

Er hatte seinen Korbsessel so gedreht, daß er das nahe Westufer des Menam und die Riesenpagode Wat Tscheng vor sich hatte. Er rauchte langsam, mit Bewegungen wie ein Automat, seine Zigarette und starrte scheinbar interesselos geradeaus in die vielfachen Reihen anderer verankerter Fahrzeuge hinein.

Ich blätterte im Bangkok-Rekorder, der in englischer und siamesischer Sprache erscheinenden Zeitung. Es war die heutige Abendausgabe, und natürlich stand ein spaltenlanger Artikel darin über den Raub der acht Edelsteine aus dem Baldachin der Buddha-Statue des P’hrabat. Ebenso natürlich waren auch wir beide erwähnt. Zum Trost hatte ich da soeben gelesen:

„Fraglos wäre man über die Diebe noch jetzt völlig im unklaren, wenn nicht der berühmte Liebhaberdetektiv Harald Harst und sein Freund und Privatsekretär Schraut diesen Anschlag auf Grund sehr scharfsinniger Kombinationen schon im voraus geahnt hätten. Sie haben wenigstens zwei der Diebe noch unschädlich machen können. Daß diese etwas rätselhafte, als blendend schön bekannte Miß Eugenie Malcapier entkommen ist, darf man Harald Harst nicht irgendwie verargen. Er soll ja auch unserem Polizeichef Walker gegenüber erklärt haben, er würde versuchen, der Verbrecherin die acht Edelsteine wieder abzujagen. Wenn ein Mann von der überragenden Intelligenz eines Harst derartiges verspricht, dürfte Eugenie Malcapier sehr bald die Zelle irgend eines Gefängnisses näher kennen lernen –“

So stand unter anderem im Bangkok-Rekorder zu lesen. Auch Harst hatte den Artikel überflogen und dazu nur geäußert:

„Der Zeitungsschreiber unterschätzt die Malcapier. Weiber, die die Verbrecherlaufbahn betreten, sind weit gefährlichere Gegner als ein Dutzend Männer. Gewiß – ich werde nicht eher ruhen, bis die Edelsteine wieder den Baldachin des P’hrabat zieren. Aber – leicht wird dieses Stück Arbeit nicht sein.“ –

Harst murmelte jetzt plötzlich einige Worte vor sich hin. Ich ließ die Zeitung sinken.

„Wünschtest Du etwas?“ fragte ich.

„Nein. Ich habe nur soeben beobachtet, wie ein neues Wohnboot verankert wurde. Es gab dabei Zank mit den Nachbarn, die sich durch den Neuling wohl beengt fühlten. Übrigens legte auch vorhin ein Nachen an unserer Schiffstreppe an. Es war einer der hiesigen „schwimmenden Dienstmänner“, wenn man so sagen will. Auf der Ruderbank vor ihm lag ein Brief, mit einem Stein beschwert. – Ah – da kommt Madame Pordepierre! Sie trägt einen Brief in der Hand. Es dürfte der sein, den der Dienstmann brachte.“

Die kleine lebhafte Französin, die Harst etwa so behandelte, als ob er der König von Siam in eigener Person wäre, flötete schon von weitem:

„Ein Schreiben für Sie, Herr Harst, – unter „Eilt sehr!“ – Da – bitte. – Wann wünschen Sie übrigens zu Abend zu speisen? Ich habe da einen Reispudding für Sie hergestellt, dessen Rezept ich niemandem verrate – niemandem!“

Ihr Wortschwall ebbte erst ab, als Harst den Briefbogen aus dem Umschlag zog und zu lesen begann. Sie flüsterte mir noch zu: „Ich kann mich gar nicht darüber beruhigen, daß mein Landsmann Trimal mit zu den Dieben gehörte!“ und eilte davon.

Harsts Augenbrauen hatten sich einander genähert. Auf seiner Stirn bildeten sich die bekannten drei Falten.

„Frechheit!“ sagte er jetzt halblaut und reichte mir den Brief. „Da – lies! Von Eugenie Malcapier – eine Kampfansage, mehr noch, ein Befehl, daß wir Siam schleunigst verlassen sollen.“

Der Brief, feinstes chinesische Büttenpapier mit gelben Flocken und eingepreßtem Muster aus farbigen Seidenfäden, duftete scharf nach Patschuli. Ein seltsamer Geschmack, gerade dieses süßlich-widerliche Parfüm zu benutzen! – Die Handschrift war groß, steil und schmucklos. Die Grundstriche liefen dick aus. Schon diese Schrift verriet Energie und Rücksichtslosigkeit. Der Umschlag trug die Adresse: Harald Harst, Pensionat Pordepierre, Westufer 18. – Die Ufer des Menam sind nämlich zur Erleichterung der Postbestellung in Abschnitte von je 100 Meter Länge eingeteilt.

Der Inhalt lautete:

Bangkok, 5. Februar 19…

Harald Harst!

Einen Gegner mit „Herr“ anzureden, ist eine Heuchelei. Ich lasse daher diese Anrede fort. – Sie haben heute vormittag meinen Onkel Major Trimal erschossen, haben meinen Bruder Charles der Polizei übergeben und versprochen, mir den Raub, die acht Edelsteine, wieder abzujagen. Sie werden also wohl zunächst sich die Mühe machen, Einzelheiten über meine Person und meine Vergangenheit zu ermitteln. Ich will Ihnen dies erleichtern. Charles und ich wohnten hier in Bangkok als angebliches Ehepaar Trouville möbliert in der Bahnhofstraße Nr. 16. Sie werden in unseren Zimmern jedoch nichts Wichtiges mehr finden, da wir ja entschlossen waren, heute gleich nach dem Diebstahl dies Land für immer zu verlassen. Jetzt freilich liegen die Dinge anders. Doch davon später. – Charles und ich sind die einzigen Kinder des in Khorat (Stadt im inneren Siams) verstorbenen Kaufmann Malcapier. Mein Vater war früher Kapitän und Besitzer einer Brigg, die hauptsächlich Schmuggel im großen trieb. Ich habe eine abenteuerliche Jugend auf dieser Brigg verlebt, habe wohl auch das unruhige Blut meines Vaters geerbt, dessen Lebensziel es war, unermeßlich reich zu werden. Ich will dasselbe! Gold und Klugheit, im Besitz eines rücksichtslosen, energischen und leidlich hübschen Weibes, eröffnen köstliche Aussichten auf die Befriedigung ehrgeiziger Wünsche. Diesen Wünschen sind Sie nun ein gefährliches Hindernis. Ich weiß, daß Sie schon einmal einen intelligenten Verbrecher nach langer Verfolgung zur Strecke gebracht haben, jenen James Palperlon. Heute, Harald Harst, stehen Sie einer anderen Gegnerin gegenüber! Unterschätzen Sie mich nicht! Ich fliehe nicht vor Ihnen; ich werde Sie vielmehr suchen, finden und – mich dann rächen! Ich hänge sehr an Charles, der jetzt im Gefängnis schmachtet. Ich werde Sie bestrafen, weil Sie unsere Pläne halb durchkreuzt haben. Wären Sie nicht dazwischen getreten, würden Onkel Trimal, Charles und ich jetzt auf einer malaiischen Prau im Golf von Siam in voller Sicherheit schwimmen. Ich verfüge hier über Hilfskräfte, von denen auch Charles nichts ahnt, der stets nur mein blindes Werkzeug war – – stets! Denn dieser Streich gegen das P’hrabat-Kloster ist nur einer von vielen – vielen tadellos gelungenen! Schonung haben Sie von mir nicht zu erwarten. Immerhin würde ich bereit sein, Sie und Ihren Freund unbehelligt zu lassen, wenn Sie morgen mittag Siam verlassen und sich verpflichten, vor Jahresfrist hierher nicht zurückzukehren. Sie sollen mir auf folgende Weise schriftlich Antwort geben: Tun Sie Ihre Antwort in eine große, verkorkte Flasche und werfen Sie diese heute genau um Mitternacht mitten in den Strom, und zwar in einer Linie mit dem Pordepierre’schen Wohnschiff. – Bleibt eine Antwort aus, so nehme ich an, daß Sie es auf einen Kampf zwischen uns ankommen lassen wollen. Dann werden Sie zwei Warnungen erhalten. Genau 24 Stunden nach Empfang der zweiten stehen Sie dann mir als Gefangener gegenüber. Den Menam-Krokodilen wird der deutsche Detektiv hoffentlich schmecken!

Eugenie Malcapier.

Ich legte den Brief auf den Tisch.

„Na?“ meinte Harst. „Was hältst Du nun von dieser Eugenie?“

„In der Tat – eine Frechheit, diese Zumutung, daß wir Siam verlassen sollen!“ sagte ich etwas bedrückt. Denn ich ahnte schon, welch unangenehm-aufregende Tage nun beginnen würden.

„Frechheit – allerdings! Aber der Brief ist überaus charakteristisch für diese Eugenie. Sie stammt aus einer Abenteurerfamilie. Mithin liegt ihr die Hinneigung zum Verbrechen im Blute. Sie verfolgt irgend welche hochfliegenden Pläne. Sie ist wie die meisten Frauen etwas theatralisch, überschätzt sich, besitzt Phantasie und liebt phantastische Schachzüge. Wozu zum Beispiel diese Flaschen-Antwort?! Wozu weiter diese beiden Warnungen?! – Der ganze Brief soll eigenartig sein, soll mir imponieren. Na – Eugenie Malcapier irrt sich. Mir imponieren nur Taten.“

„Und – wirst Du ihr antworten, Harald?“ fragte ich gespannt.

„Natürlich. Aber – anders, als sie hofft. Denn sie hofft fraglos, mich eingeschüchtert zu haben! Wie wenig kennt sie mich! – Ich werde ihr schreiben, daß ich meinerseits bereit bin, sie nicht weiter zu verfolgen, wenn sie die acht Edelsteine sofort ausliefert. – Übrigens, mein lieber Alter, – wir werden jetzt sofort nach der Bahnhofstraße Nr. 16 aufbrechen. Ich möchte mir doch die Räume mal ansehen, die die Geschwister bewohnt haben. Machen wir uns fertig.“

Gleich darauf ruderte Harst eins der kleinen Boote, die an der Schiffstreppe für die Gäste stets bereitlagen, nach der Anlegebrücke des Westufers. Zwei Rikschas brachten uns dann in flottem Trab nach dem neuen Hause in der Nähe des Bahnhofs, wo Charles und Eugenie Malcapier bei der Witwe eines englischen Schiffskapitäns zwei Zimmer innegehabt hatten.

Frau Stanton empfing uns sehr liebenswürdig, schloß uns die beiden Räume in der zweiten Etage auf und kehrte dann wieder in den ersten Stock zurück. Sie unterhielt ein Privathotel zusammen mit ihren beiden Töchtern.

Die Zimmer waren recht hübsch möbliert. Alles war peinlich sauber. Frau Stanton hatte uns noch mitgeteilt, daß das angebliche Ehepaar Trouville seine Koffer schon gestern abend weggeschickt und die Rechnung beglichen habe. – „Sie werden hier nichts mehr finden, was diesen Verbrechern gehörte!“ hatte sie hinzugefügt.

Harst schloß die Tür des Wohnsalons, die nach dem Flur führte, jetzt ab, nachdem wir uns in beiden Räumen zunächst flüchtig umgeschaut hatten.

„So, nun sind wir ungestört,“ meinte er. „Frau Stanton hat hier bereits aufgeräumt. Trotzdem entdeckt man vielleicht etwas, – wenn man nur zu suchen versteht. Und – wir verstehen’s ja, mein Alter.“

Er trat an den Diplomatenschreibtisch vor dem rechten Fenster. Da stand auch ein Abreißkalender auf einem Marmorsockel. Harst ließ die Blätter, deren oberste Schicht er mit dem Daumen angehoben hatte, langsam zurückgleiten.

Ich hatte mich neben ihn gestellt. Plötzlich schnellte sein Kopf nach der zweiten Tür herum, die ins Schlafzimmer führte. Auch ich wandte mich um. Wir hatten die elektrische Deckenbeleuchtung eingeschaltet, so daß es im Zimmer blendend hell war. Ich konnte nichts Verdächtiges wahrnehmen und fragte daher:

„Was gibt’s denn, Harald?“

„Siehst Du nichts?“ meinte er ganz leise.

„Nein – nichts!“

„Und doch ist etwas verändert worden, als wir mit dem Rücken nach jener Tür hin standen,“ flüsterte er, um sofort in gewöhnlichem Tone hinzuzufügen:

„Ich glaube, wir hätten uns den Gang hierher sparen können.“

Er hatte sich wieder umgedreht, hielt jetzt den Abreißkalender dicht an den Leib und löste den eigentlichen Kalenderblock von dem Sockel, schob ihn in die Tasche und stellte den Sockel wieder hin.

„Suchen wir weiter,“ sagte er. „Du kannst hier die Schubladen des Schreibtisches vornehmen. Die Schlüssel stecken ja.“

Ich tat’s. Er aber trat rechts an die Wand, wo ein Zeitungshalter aus Draht hing mit Fächern für jeden Wochentag. Im untersten Fach steckte ein dickes Bündel Zeitungen. Harst nahm es heraus und legte es auf die Schreibtischplatte, begann darin zu blättern, faltete einige Nummern – es waren sämtlich Exemplare des Bangkok-Rekorder – auseinander und packte nachher das Bündel wieder zusammen.

Ich fand nichts in dem Schreibtisch, nicht mal einen Fetzen Papier. Genau so ergebnislos blieb das Suchen in den anderen Möbelstücken.

„Na – dann ins Schlafzimmer!“ meinte ich etwas mißmutig, denn der Hunger meldete sich immer stärker bei mir.

Harst nickte. „Ja – ins Schlafzimmer!“ – Das sagte er ganz laut. Aber wie ein Hauch kam der Nachsatz:

„Ich werde das Licht hier jetzt ausschalten. Nimm die Pistole zur Hand!“

Ich schaute ihn überrascht an. Da erlosch die Beleuchtung jedoch schon, und ich sah Harst in dem nun herrschenden Halbdunkel der Schlafzimmertür zuhuschen.

Er öffnete sie mit einem Ruck, langte sofort rechts nach dem Lichtschalter. In der Mitte der Decke flammte die mattgelbe Ampel auf.

Ich trat dicht hinter Harst ein. Er hielt jetzt in der Linken seine Taschenlampe, in der Rechten den Mehrlader, spähte mißtrauisch umher, ließ den Lichtkegel der Taschenlampe hierhin und dorthin gleiten, ging schnell nach der zweiten Tür, die an den Flur mündete, drückte den Griff herab, rüttelte daran, murmelte etwas vor sich hin und bückte sich tief, um unter die Betten zu leuchten.

Ich war ihm gefolgt, nachdem ich die Verbindungstür angelehnt hatte.

Harst stand mit gerunzelter Stirn da und schaute wieder hierhin und dorthin.

„Weshalb dieses Mißtrauen, Harald?“ meinte ich. „Wir sind hier doch –“

„– sicher – nicht wahr?“ beendete er flüsternd meinen Satz. „Du irrst! Als wir am Schreibtisch den Kalender besichtigten, wurde die Verbindungstür lautlos ins Schloß gedrückt – so vorsichtig, daß selbst ich zunächst nicht wußte, welcher Art das schwache Geräusch gewesen, das ich gehört hatte. Dann besann ich mich, daß die Tür eine Handbreit offen geblieben, als wir zuerst die Räume durchschritten hatten. Es hat also jemand diese Tür absichtlich zugemacht. Jemand – wer wohl?!“

„Ja – wer?!“ wiederholte ich mechanisch und schaute in jeden Winkel.

Harst trat an den großen Kleiderschrank heran. Nur in diesem konnte sich ein Mensch verbergen.

Aber – der Schrank war verschlossen. Der Schlüssel steckte. Und – das Innere war leer.

Die Falten auf Harsts Stirn waren noch tiefer geworden.

„Hier ist eine Teufelei im Gange,“ flüsterte er hastig. „Vielleicht will uns Eugenie Malcapier schon jetzt eine Warnung zukommen lassen.“

Dann schritt er auf eine altertümliche, geschweifte Kommode zu, die links neben den Betten an der Wand gegenüber der Verbindungstür stand.

 

2. Kapitel.

Die Schlangenfalle.

Ich blieb wieder hinter ihm. Er zog die oberste der drei Schubladen auf. Leer. – Dann die zweite. Leer.

Nun die unterste – aber nur halb. Denn mit einem Satz war er nach rückwärts gesprungen, hatte mich gleichzeitig am Arm gepackt und so heftig zurückgerissen, daß ich beinahe der Länge nach hingeschlagen wäre.

Trotzdem hatte ich noch genug gesehen: aus der halb geöffneten Schublade waren die eklen Köpfe und halben Leiber dreier Brillenschlangen blitzschnell hervorgeschossen!

Kaum hatte ich das Gleichgewicht wiedererlangt, als plötzlich die Deckenampel erlosch.

Wir waren im Finstern. Denn Harst hatte seine kleine Lampe vorhin wieder in die Tasche geschoben.

„Hinaus!“ rief er leise und zog mich weiter der Verbindungstür zu.

Doch – sie war – verschlossen! – Harst pfiff leise durch die Zähne.

„Ah – eingesperrt!“ meinte er. „Also darauf lief’s hinaus! Deshalb wurde die Tür zugemacht, damit die Kobras in die Schublade eingesperrt werden konnten. In der Tat – ein keckes Spiel.“

Er hatte das alles überstürzt geflüstert, ließ nun seine Taschenlampe wieder aufleuchten, deren Lichtkegel uns sofort drei – vier, – nein fünf ausgewachsene Brillenschlangen zeigte, die neben den Betten über den Fußboden glitten.

Rechter Hand stand an der Wand der mächtige Kleiderschrank.

„Dort hinauf!“ rief Harald, nahm einen Stuhl, benutzte ihn als Tritt, saß nun oben auf dem breiten Möbel und half mir empor.

„So – hier sind wir sicher,“ sagte er jetzt sehr gelassen. „Nun fehlt uns nur eine geeignete lange Waffe, um den kriechenden giftigen Bestien zu Leibe zu gehen, denn die Pistole möchte ich nicht gern gebrauchen. Wozu solchen Lärm machen, wozu unserer Feindin den Triumph gönnen, daß bekannt wird, wie wir hier in eine Schlangenfalle geraten sind?! – Hm –“ – er beugte sich tief herab und rüttelte an der schmalen Türleiste – „hm, wenn wir die Leiste lossprengen könnten! Sie ist gut anderthalb Meter lang. Der Schrank scheint nicht mehr ganz taktfest zu sein. Ich will doch mal die große Klinge meines Messers in die Fuge klemmen.“

Er klappte das Jagdmesser mit der feststehenden Klinge auf. Während er dann an der Leiste herumarbeitete, hatte ich nur Augen für die nächste Umgebung des Schrankes. Ich hielt jetzt Harsts Taschenlampe und leuchtete ihm. Der Lichtkegel bildete vor dem Schranke einen scharf abgegrenzten Halbkreis. Von den Brillenschlangen war nichts zu sehen.

Dann – ein Knacken, und Harst hielt die zweifingerbreite Leiste in der Hand.

„Reiße unsere Taschentücher in schmale Streifen,“ ordnete er an. „Ich werde mein Messer an die Leiste binden, so daß ich eine Art Speer dann zur Verfügung habe, den ich auch als Hiebwaffe benutzen kann.“

Ich half ihm, das offene Messer recht fest zu knoten. Wir ließen uns Zeit dabei, und der Erfolg war denn auch zufriedenstellend.

„So – nun werde ich auf die Jagd gehen,“ meinte Harald. „Gefahr ist nicht dabei. Gib mir die Taschenlampe.“

Er nahm sie in die Linke, stieg vom Schrank auf den Stuhl und bewegte sich vorsichtig auf die Betten zu, indem er den Stuhl immer leise weiterschob, um auf dessen Sitz stehend vor einem blitzschnellen Angriff geschützter zu sein.

Wer Indien bereist hat, weiß, was gerade die Kobra für dieses Land bedeutet. Die sogenannte Dschungelkobra ist das gefährlichste Reptil Indiens, leicht reizbar, sehr angriffslustig und so giftig, daß der Biß, falls die Wunde nicht sofort ausgebrannt wird, unbedingt tödlich wirkt.

Ich will hier nicht im einzelnen schildern, wie Harst in zehn Minuten sämtliche fünf Kobras abtat, wie er seine primitive Hiebwaffe so sicher gebrauchte, daß er dem Gewürm stets mit zwei Hieben den Kopf abtrennte.

Ich sah jetzt zum ersten Male einen Kobrakopf aus nächster Nähe, hielt ihn sogar in der Hand.

Zu meinem Erstaunen wickelte Harst die fünf Köpfe in die Decke, die auf der Kommode lag, warf die Leiber aber in die Schublade zurück.

Dann schnitt er die Füllung aus der Verbindungstür heraus, faßte von der anderen Seite nach dem Schloß, fand den Schlüssel stecken, schloß auf und betrat mit aller Vorsicht den Wohnsalon. Wir fanden hier jedoch keinerlei weitere Überraschungen. Nur die Balkontür stand halb offen. Harst ging auf den Balkon hinaus, der sich an der ganzen Hausbreite entlangzog und sagte zu mir: „Nun wissen wir, woher die Person gekommen und wohin sie gegangen, die die Kobras brachte und uns einsperrte. An diesen Balkon habe ich nicht sofort gedacht.“

Die Flurtür des Salons hatte noch den Schlüssel von innen stecken. Ich mußte das Bündel Zeitungen nehmen, und Harald belud sich mit den Schlangenköpfen. Im Flur brannte ebenfalls kein Licht. Wir stiegen die Treppe hinab und trafen unten auf Frau Stanton, die uns erregt mitteilte, daß jemand die Hauptsicherung der elektrischen Beleuchtung herausgeschraubt und gestohlen hätte. „Ich habe meine Tochter erst nach einer neuen schicken müssen,“ erklärte sie zum Schluß.

Harst bat sie um Verschwiegenheit und erzählte ihr leise, was uns oben begegnet war. Sie war ganz entsetzt über diese Verruchtheit, wie sie sich ausdrückte.

„Der, der die Schlangen hineinschmuggelte, stahl auch die Sicherung,“ sagte Harald nun mit einem leisen Lächeln. „Wir haben zum Glück unsere Taschenlampen stets bei uns. Damit hatte der Attentäter nicht gerechnet. Im Dunkeln wäre die Situation etwas peinlich gewesen!“

„Und die Kobraköpfe, Master Harst? wozu sollen diese Ihnen dienen?“ fragte Frau Stanton jetzt, indem sie das Bündel ängstlich musterte.

„Oh – nur zu einigen Studien,“ erwiderte er und verabschiedete sich dann.

Auf der Straße war bereits die elektrische Beleuchtung eingeschaltet. Wir hatten anderthalb Stunden oben in den Zimmern des angeblichen Ehepaares zugebracht. Zwei Rikschas führten uns schnell zur Anlegebrücke am Menam zurück.

Das Flußbild war jetzt bei Dunkelheit ein völlig anderes, war vielleicht noch reizvoller und phantastischer als am Tage. Hunderttausende von Lichtpünktchen belebten den Strom: die Lichter all der Tausende von Fahrzeugen! Hie und da schimmerten riesengroße farbige Papierlaternen in allen Formen auf von Chinesen bewohnten Flößen und Schiffen; Feuerwerk sprühte auf; Gesänge, seltsam melancholisch und eintönig, schallten über den nächtlichen Riesenstrom.

Wir ruderten zum schwimmenden Pensionat Madame Sarah Pordepierres zurück, gingen in unser kleines, gemeinsames Gemach, das im Achterdeck-Aufbau lag, ließen uns hier das Abendbrot auftragen und begannen bei weit offenen Fenstern zu speisen.

„Der Reispudding ist großartig,“ lobte Harst. „Noch großartiger ist die Ausbeute der Durchsuchung der beiden Zimmer.“

„Aha – der Kalender!“ meinte ich.

„Ja – der auch! Das wichtigste aber sind die Kobraköpfe und die Zeitungen.“

„Die Köpfe zu Studienzwecken, wie Du der Stanton erklärtest,“ lächelte ich und trank einen Schluck Eislimonade.

Harst blieb ernst „Besser: zu Vergleichszwecken!“ sagte er und suchte aus dem Bündel Zeitungen eine bestimmte Nummer heraus. „All diese Blätter, mein Alter,“ fuhr er fort, „enthalten Berichte über das Treiben jener Räubergilde, die man hier die Menam-Brüder nennt, wie uns schon Madame Sarah vor drei Tagen erzählte. Die älteste Nummer hat das Datum des 2. Januar vorigen Jahres. Und sechs Wochen vorher sind die Geschwister Malcapier und der Major Trimal hier eingetroffen, wie Du weißt. Die Malcapier bezogen sofort die Zimmer bei der Stanton. Und deshalb dürften sie gerade diese Nummern des Rekorder gesammelt haben, in denen sich in jeder einzelnen etwas über die Menam-Brüder findet. – Höre nun, was der Rekorder vom 2. Januar schreibt. Ich lasse aber alles Unwichtige weg.“

„– diese plötzlich sich häufenden Überfälle auf Touristen lassen die Vermutung zu, daß man es hier mit einer gut organisierten Bande zu tun hat. Stets werden die Opfer auf einem Fahrzeug von maskierten Banditen gefangen gehalten, bis sie das verlangte Lösegeld – und so weiter.“

„Nun die Nummer vom 28. März,“ sagte Harst und las vor:

„Unsere Polizei ist dem Treiben dieser Menam-Brüder gegenüber machtlos. Im Volke hat man diese Räuberbande längst so getauft. Es mag ja schwierig sein, bei der Unmenge von Fahrzeugen, die den Strom beleben, einen richtigen Fang zu machen. Aber bei einiger Energie sollte – und so weiter.“

„Dann die Nummer vom 14. Juni –“

„Die Ausplünderung einer ganzen englischen Reisegesellschaft durch die Menam-Brüder (wir haben gestern darüber berichtet) sollte unserer Polizei ein Ansporn sein, endlich unter diesen Flußpiraten gründlich aufzuräumen. Die Frechheit dieser fraglos tadellos organisierten und geleiteten Bande übersteigt jetzt alle Grenzen. Heute erhielt unsere Redaktion einen Brief aus feinstem chinesischen Büttenpapier –“

Harst betonte die letzten Worte sehr stark.

„Büttenpapier mit einem mit verstellter Handschrift geschriebenen Spottgedicht auf die Polizei. Unterzeichnet war das Gedicht mit verschlungenen Linien in roter Farbe, die entfernte Ähnlichkeit mit einem Frauenprofil mit hoher Frisur haben.“

Harst legte jetzt die Zeitungen weg und tat sich Fischpastete auf den Teller, aß ein paar Happen und sagte:

„So – das wären die Zeitungen. Nun zu dem Kalenderblock. Bitte – da ist er, lieber Alter. Schau ihn Dir an.“

Ich sah sofort, daß es ein Abreißkalender des vorigen Jahres war, von dem nur die Blätter bis zum 3. Februar fehlten. Als ich die noch vorhandenen durch die Finger gleiten ließ, bemerkte ich auf einigen unter dem Datum kurze Notizen. So stand zum Beispiel auf dem Blatt des 12. Juni:

Acht – 700 – 350 – 4232.

Das „Acht“ war in französischer Sprache also „huit“, geschrieben, und die Handschrift war ohne Zweifel die Eugenie Malcapiers.

Ich sah Harst fragend an. „Was bedeutet das?“ meinte ich.

„Kommst Du nicht darauf? – Nun, die „huit“, also acht sind die acht Mitglieder der englischen Reisegesellschaft, von der ich Dir soeben etwas vorlas. Die „700“ stellt die erpreßte Summe dar – 700 Pfund haben die Menam-Brüder damals den acht Engländern abgenommen –, die „350“ bedeutet den Beuteanteil der Anführerin und die „4232“ die Gesamtsumme des Beuteanteils dieses weiblichen Rinaldo Rinaldini, wie Du aus den Notizen der vorhergehenden Blockblätter berechnen kannst.“

Ich schaute Harst ganz sprachlos an.

„Also die Malcapier soll –“

„Nicht „soll“ – sie ist die Anführerin dieser Bande!“ fiel Harst mir ins Wort. „Sie war’s, die gerade die Nummern des Rekorder sammelte, in denen von den Menam-Brüdern die Rede war; sie hat die Arabesken erfunden, die einem Frauenkopf gleichen. Dies entspricht so recht ihrer weiblichen Eitelkeit: sie spielt mit einer Gefahr, indem sie andeutet, daß eine Frau die Hauptmacherin ist! – Willst Du noch mehr Beweise, daß unsere Feindin mit den Menam-Brüdern in Verbindung steht, – mehr noch, daß sie die Gründerin dieser Verbrechergilde ist? Denn am 14. November treffen die Malcapiers hier ein, und am 2. Januar berichtet der Rekorder zum ersten Male von den Touristen-Ausplünderungen unter Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit des Bestehens einer organisierten Bande. – Nun, ich habe noch einen weiteren Beweis, mein Alter: die Kobraköpfe! Hättest Du sie Dir ganz eingehend betrachtet, so würdest Du auf dem Kopf der Reptile genau dieselben Arabesken in rot gefunden haben, also den angedeuteten Frauenkopf! – Stell’ Dir vor: diese Eugenie ist so unverfroren, die fünf Kobras vorher dergestalt zeichnen zu lassen, die uns dann eine unangenehme Stunde bereiten sollen! Also wieder weibliche Eitelkeit, aber auch großes Selbst- und Sicherheitsgefühl! Mit einem Wort: wir kämpfen hier nicht lediglich gegen ein einzelnes Weib, sondern gegen eine ganze Verbrechergesellschaft, von der man bisher nichts kennt als nur den Namen „Menam-Brüder“, der im Volke entstanden ist! Nun, etwas mehr wissen wir freilich doch: eben daß Eugenie Malcapier die Anführerin und – eitel, dazu Liebhaberin von Patschuli-Parfüm ist! Und damit läßt sich schon etwas anfangen und auch vielleicht etwas – fangen, nämlich diese ganze Bande, die endlich ausgelöscht werden muß!“

Harsts graue, lebhafte Augen strahlten förmlich.

„Ich hoffe, dieser Kampf wird noch interessanter werden als der gegen die Gesellschaft der roten Karten in Batavia,“ fügte er hinzu. „Und – heute um Mitternacht beginnt dieser Kampf mit dem Wurf der Antwort-Flasche in den Menam! Diese Antwort werde ich jetzt sofort niederschreiben. Sie wird so lauten, wie ich vorhin andeutete, aber noch mit dem Zusatz: „Ich weiß mehr als Sie ahnen, Mademoiselle Malcapier!“ – Und ich weiß tatsächlich mehr, als – auch Du ahnst, mein Alter. Doch davon später. – Jetzt werde ich Dir meinen Schlachtplan entwerfen, der von uns so allerlei Vorbereitungen verlangt.“

 

3. Kapitel.

Eine Nacht auf dem Menam.

Um zehn Uhr abends begaben wir uns in den Trafalgar-Klub, dessen vornehmes Heim unweit der Riesenpagode Wat Tscheng liegt. Harst hoffte dort den Chef der Bangkoker Polizei, den Amerikaner Tobias Walker, zu finden. So war es auch. Ganz unauffällig nahmen wir ihn beiseite, und Harst bat ihn dann, er möchte vier seiner besten Detektive uns sofort zur Verfügung stellen.

Walker telephonierte nach der Polizeidirektion, und eine halbe Stunde drauf standen uns in einem Klubzimmer vier ältere Siamesen gegenüber, die Walker uns als durchaus zuverlässig und sehr gewandt warm empfahl.

Harst hatte den Polizeichef nicht weiter in die Sachlage eingeweiht. Auch jetzt gab er nur seine Befehle aus, ohne den Grund dieser näher zu erörtern.

„Mein Freund Schraut und ich,“ sagte er, „werden um Mitternacht heute in den Menam eine Sektflasche werfen und zwar in der Mitte des Stromes gegenüber dem Wohnschiffe der Madame Pordepierre. Sie vier sollen nun, verkleidet als Frachtbootleute auf einem Boot möglichst unauffällig den Verbleib dieser Flasche feststellen, da wir beide dies nicht gut tun können.“

Die Detektive, sämtlich vielseitig gebildete Leute, versprachen Harst, den Auftrag gewissenhaft auszuführen. Sie schienen sich die Sache sehr leicht vorzustellen. Harst warnte sie noch, ja recht vorsichtig zu sein, damit sie keinen Verdacht erregten. – Dann verließen die vier den Klub wieder. Und auch wir kehrten um halb zwölf nach dem schwimmenden Pensionat zurück.

Kurz vor Mitternacht ruderten wir dann in den Strom hinaus, dessen eigentliche Fahrrinne jetzt einsam und verlassen war. Nur selten kam ein Dampfer, ein Polizeiboot oder ein Frachtfahrzeug vorüber.

Die Nacht war sternenklar und heiß. Bangkok hat ja eine mittlere Jahrestemperatur von 30 Grad und ist für Europäer der sumpfigen Flußufer wegen sehr ungesund. Als wir die Mitte des Stromes erreicht hatten, kam ein großes Flachboot flußabwärts, auf dessen Deck vier Leute sich tummelten: unsere Hilfstruppen!

Die Flasche flog in den Fluß. Damit sie leichter zu erkennen wäre, hatte Harst um den Hals eine zusammengeknüllte Zeitung festgebunden.

Darauf ruderten wir nach Madame Pordepierres schwimmendem Heim zurück, begaben uns in unser Gemach, löschten das Licht und taten, als wären wir zu Bett gegangen. In Wahrheit saßen wir im Dunkeln in unseren Korbsesseln nebeneinander und tauschten hin und wieder eine geflüsterte Bemerkung aus.

Was Harst in dieser Nacht noch weiter plante, wußte ich nicht. Er hatte mir nur gesagt, daß er gegen zwei Uhr nachts noch in der Nähe einen Besuch abstatten wolle. Das klang ja sehr harmlos, dies „Besuch abstatten“. Ich wußte jedoch schon aus Erfahrung, welcher Art diese Besuche waren.

Ich wurde allmählich müde. Ich gehöre ja nicht mehr zu den Jüngsten. Zuweilen nickte ich in meinem Korbsessel ein. Bald schlief ich ganz fest und schnarchte daher recht echt.

Um halb zwei weckte Harald mich. Er hatte inzwischen unsere Fenster mit Decken dicht verhängt und die Petroleumlampe angezündet.

„Legen wir uns unsere Chinesenkostüme an,“ meinte er und deutete auf den offenen Koffer. „Chinesen fallen hier nicht weiter auf. Von der Sorte gibt’s hier ja übergenug.“

Wir hatten Übung im Verkleiden, und zehn Minuten drauf waren wir zwei schmierige, armselige Kulis in Leinenkitteln und Bastschuhen. – Harst löschte nun die Lampe aus, öffnete leise die Tür und huschte auf Deck, kam sehr bald zurück und meldete, daß alles sicher sei. Wir krochen dann bis zur Schiffstreppe, krochen auch die Stufen hinunter und ketteten einen kleinen Kahn los, duckten uns darin ganz tief zusammen und ließen ihn mit der Strömung davontreiben. Sehr bald stieß das Boot dumpf polternd an ein anderes Wohnschiff. Wir richteten uns auf, und Harst ruderte nun langsam durch die engen Wasserstraßen zwischen den verankerten Fahrzeugen und Flößen hindurch, bis wir eine abgetakelte malaiische Prau dicht vor uns hatten.

Der plumpe Schiffskörper, dessen Bug- und Heckaufbauten so sehr an jene Segler erinnerten, mit denen Kolumbus einst Amerika entdeckte, lag düster und völlig dunkel da. Nicht einmal auf Deck brannte eine Laterne.

Unser Boot lag jetzt im Schatten eines hochbordigen Wohnschiffes, an dessen Treppen wir uns festhielten. Die Zeit verstrich. Harst starrte nur dauernd nach der abgetakelten Prau hinüber, regte sich kaum. Vogelschwärme strichen über den Fluß. Einmal tauchte neben uns auch der Kopf eines Krokodils auf, verschwand schnell wieder. Diese Bestien spielen hier in dem schwimmenden Bangkok die Gesundheitspolizei, fressen alles, was ins Wasser geworfen wird und werden daher auch geschont. Einen Menschen anzugreifen, dazu sind die Krokodile meist zu faul.

Ich begriff nicht recht, weshalb wir so völlig untätig blieben. Dieses Beobachten der Prau war sehr langweilig. Es geschah nichts – gar nichts!

Eine halbe Stunde mochte verstrichen sein, als von der Mitte des Flusses mehr zwischen den Schiffsrümpfen ein schmales, langes Boot auftauchte, in dem fünf Ruderer saßen. Es hatte nur achtern ein Verdeck und auf diesem eine kleine Bambushütte. Es legte an der Schiffsleiter der Prau an (denn der alte Kasten hatte nicht mal eine Treppe), und die Leute holten dann aus der Bambushütte zwei große Rollen hervor und trugen sie auf die Prau hinüber. Die Rollen sahen so aus, als wären es zusammengerollte Bastmatten.

Harst beugte sich zu mir hinüber und flüsterte:

„Morgen wird der Rekorder wieder eine Notiz bringen.“

„Eine Notiz?“

„Ja – über den Eifer der Menam-Brüder.“

Ich verstand nicht, was er meinte.

„Was willst Du damit andeuten?“ fragte ich.

„Nichts Besonderes, mein Alter.“

Das Boot verließ jetzt wieder die Prau und kam dicht an uns vorüber.

Nur undeutlich erkannte ich nun, als wir tief zusammengekauert da hockten, daß Harst mit irgend einem blinkenden Gegenstand hantierte. Was er damit machte, konnte ich nicht unterscheiden. Er schien jedoch auch eine Flasche in der linken Hand zu halten.

Kaum war das Boot verschwunden, als er sich aufrichtete und flüsterte: „So – hoffentlich ist’s gelungen!“

Er ließ dann unseren Nachen treiben, und eine Viertelstunde drauf waren wir wieder in unserem Gemach bei Madame Pordepierre. Auf meine Frage, was er denn mit dem blinkenden Gegenstand vorgehabt hätte, hatte Harald nur erwidert:

„Es war ein – Zeichenapparat!“

Damit mußte ich mich begnügen.

Nun – diese Nacht auf dem Menam hatte mich angenehm enttäuscht. Es war sehr friedlich hergegangen. Ich hatte mir diesen „Besuch“ ganz anders vorgestellt.

Als wir uns entkleideten, sagte Harst mit einem Male:

„Weißt Du auch, wo die Prau ankert, die wir beobachtet haben?“

„Wie soll ich das wissen – bei der Unmenge von Fahrzeugen! Wir sind ja auch stets die Kreuz und die Quer’ gefahren.“

„Das allerdings! Und doch kannst Du mit einem Stein von hier aus hinüberwerfen, mein Alter. Denn die Prau ist das Schiff, das heute gegen Abend verankert wurde, als wir an Deck saßen; es ist der Neuling, mit dessen Eindringen die Nachbarn so wenig einverstanden waren.“

Sehr gern hätte ich jetzt noch mehr gefragt. Aber Harst schlüpfte unter die Decke und rief mir ein „Angenehme Ruhe!“ zu.

Die Prau so dicht bei uns –! Wer hätte das gedacht! – Es war recht beschämend für mich, daß ich dies nicht selbst herausgefunden hatte.

 

4. Kapitel.

Der Detektiv Kong-Penj.

Ich schlief sehr bald ein. Dann merkte mich ein leises Geräusch, über dessen Ursprung ich nicht sofort klar werden konnte. Ich war sehr schnell völlig munter geworden. Die beiden kleinen Fenster gegenüber meinem Bett zeichneten sich mit ihren gelben Vorhängen als verschwommene Vierecke undeutlich in der mich umgebenden Finsternis ab. Ich sah, daß die Vorhänge sich bewegten, obwohl die Nacht völlig windstill war. Ich hatte das Empfinden, daß ein Fremder in unserer Kabine gewesen sein müsse. Es war das bei mir jenes unerklärliche Ahnungsvermögen, das sich mit der Zeit bei Leuten einstellt, deren Beruf stete Nervenanspannung, stete Wachsamkeit und stetes „Auf dem Sprung sein“ verlangt.

Ich rief leise Harsts Namen. Keine Antwort. Mein Unbehagen steigerte sich schnell. Ich griff nach der auf dem Nachtschränkchen liegenden Taschenlampe. Meine Hand berührte etwas Kaltes, Feuchtes, – fuhr zurück. Mein Herz begann zu jagen. – Was nur konnte dieses Kalte, Feuchte sein – was nur?!

Ich zwang mich dazu, abermals nach der Taschenlampe zu tasten. Jetzt fand ich sie – ganz am Rande des Nachtschränkchens.

Der Lichtkegel flammte auf. Mein erster Blick galt der Platte des Nachtschränkchens – dem Kalten, Schlüpfrigen.

Es war – einer der abgeschlagenen Kobraköpfe!

Dann der zweite Blick nach Harsts Bett hin.

Es war – leer! Aber auch auf seinem Nachttisch lag eins der scheußlichen Reptilhäupter.

Ich erhob mich, kleidete mich schnell an. Da sah ich auf dem Tisch vor dem Rohrsofa, gegen den Fuß der Petroleumlampe gestützt, einen Brief liegen – der Umschlag – Büttenpapier – Harsts Adresse darauf. Und die Schrift – die der Malcapier, unserer Feindin!

Die erste Warnung, kein Zweifel!

Der Umschlag war nicht verschlossen. Ich zog den Briefbogen heraus. – Da stand:

Harald Harst!

Ihre Antwort auf meinen Vorschlag genügt. Gut – es sei! Also Kampf zwischen uns! Der unterliegende Teil werden – Sie sein! – Noch eine Warnung, und dann – hüten Sie sich.

Eugenie Malcapier.

Ich legte den Briefbogen hin. Meine Erregung ließ nach. Ich begann nachzudenken. – Wie waren die Schlangenköpfe auf unsere Nachttische, wie der Brief hier in unser Zimmer geraten? – Es mußte jemand eingedrungen sein – gewiß! Wie aber?!

Die Tür war von innen verschlossen; der Schlüssel steckte, die beiden Fenster besaßen außen zierlich geschwungene Eisengitter, deren Stäbe recht eng standen. – Ich schlug den Vorhang des linken Fensters zurück, bemerkte sofort, daß zwei Stäbe fehlten. Ah – also auf die Weise! – Ich befühlte die Stellen, wo die Mittelstücke der Stäbe herausgetrennt waren. Die Schnittfläche war glatt, wie geschmolzen. Eine Stahlsäge hatte hier nicht gearbeitet. Sie hätte auch zuviel Geräusch gemacht. Also war ein Schmelzgebläse in Tätigkeit gewesen! Die Menam-Brüder schienen über alle modernen technischen Hilfsmittel zu verfügen.

Ich beugte mich durch das Loch im Gitter hinaus. Bis zum Wasserspiegel waren’s etwa sechs Meter. Ich sah nichts. Der breite Strom, die Nachbarschiffe – überall nächtliche Ruhe.

Dann sah ich wieder etwas Neues: ganz unten, wo das Gitter an die Holzwand des Deckaufbaus angeschraubt war, hatte Harst jene lange, dünne Hanfleine festgeknotet, die wir in unseren Koffern stets mit uns führten. Die Leine hatte in Abständen von einem halben Meter eingeknüpfte Holzgriffe zur Erleichterung des Kletterns.

Während ich noch überlegte, ob ich Harst folgen sollte, während mir dabei der Gedanke durch den Kopf schoß, daß Harald nur schwimmend von hier aus die Schiffstreppe und die Boote dort hatte erreichen können, spannte sich die Leine mit leisem Knarren.

Harst kehrte zurück. Triefend von Wasser, nur bekleidet mit dem dünnen seidenen Schlafanzug, schwang er sich in die Kabine.

„Ah – Du bist aufgestanden,“ meinte er und warf sein offenes Jagdmesser auf den Tisch. „Du hast also schon gesehen, daß wir Besuch hatten. Ich erwartete diesen Besuch, hütete mich daher, einzuschlafen, ließ den dreisten Halunken jedoch ruhig die beiden Gitterstäbe wegschmelzen und die Schlangenköpfe hervorsuchen; ebensowenig verhinderte ich seinen Abzug. Ich wollte wissen, wo er blieb. Deshalb schwamm ich hinter seinem Nachen drein. Was meinst Du – wo landete der Kerl?“

„Hm – die Prau?“ meinte ich unsicher.

Harst erwiderte nichts. Er hatte den Briefbogen aufgenommen, überflog den Inhalt, zuckte die Achseln.

„Eugenie Malcapier – Du bist eine Närrin!“ sagte er nur.

Dann zog er den nassen Schlafanzug aus und trocknete sich ab.

„Zweimal begegnete ich einem Krokodil,“ berichtete er gleichgültig. „Der einen Bestie entging ich nur durch Tauchen. Na – an den Messerschnitt im Bauch wird sie denken! Die Neger an den Küsten Venezuelas machen es genau so: tauchen, gelangen unter das Krokodil und schlitzen ihm den Leib auf. Ich hab’s heute zum ersten Male versucht.“

„Du folgtest dem Halunken also bis zur Prau?“ fragte ich, um ihn zu einer Antwort zu zwingen.

„Prau?! – Mein Alter, da bist Du auf falscher Fährte. Die Prau ist ein sehr offizielles schwimmendes Haus, gehört nämlich der Polizei, wie ich festgestellt habe.“

„Wie – der Polizei?! Weswegen haben wir denn heute nacht gerade diese Prau beobachtet?“

„Ja – vielleicht war’s überflüssig. – Jetzt wollen wir aber wirklich zu Bett gehen. Schließe die Fenster bitte. Sicher ist sicher. – Der Vormittag muß uns frisch finden. Ich werde die zweite Warnung nicht abwarten, sondern zugreifen, falls unsere vier Hilfskräfte, die Detektive, sich so bewährt haben, wie ich erwarte. – Gute Nacht, mein Alter.“

Erst nachher erfuhr ich, was diese letzten Sätze Harsts als Nebenbedeutung noch enthielten. – Der Schlaf floh mich. Harst atmete längst tief und ruhig, als auch ich in das Land der Träume endlich hinüberglitt.

Es war neun Uhr morgens, als das siamesische Stubenmädchen der Madame Pordepierre uns weckte und das Teebrett mit dem Frühstück hereinreichte. – Harst zog die Vorhänge auf. Draußen strahlender Sonnenschein. Dann –

„Aha – doch bereits die zweite Warnung!“ rief Harald da.

Draußen an der einen Fensterscheibe klebte ein Brief, den Harst jetzt loslöste, öffnete, las und mir mit einem sonderbaren Lächeln reichte.

Harald Harst!

Die Frist ist um!

Eugenie Malcapier.

„Albern!“ meinte Harald und begann sich zu rasieren. „Sie liebt die Knalleffekte. Na – über den heutigen Knalleffekt wird sie weniger entzückt sein.“

Ich öffnete die Fenster. Das so anregend-abwechselungsreiche Bild des Menam wirkte abermals so wunderbar schön! Wie anders hätte ich es noch genießen können, wenn nicht diese Eugenie Malcapier gewesen wäre! –

Als wir dann beim Frühstück saßen, klopfte es. Es war einer der Detektive. Er trat etwas verlegen ein, grüßte durch viele Bücklinge und nahm dann auf Harsts Aufforderung hin Platz.

Harst reichte ihm die Zigarettenschale.

„Bitte – bedienen Sie sich,“ meinte er liebenswürdig.

Mir fiel auf, daß er die Schale so hielt, daß der Beamte sich weit zu ihm hinüberbeugen mußte.

Der Detektiv rieb ein Streichholz an und begann dann nach den ersten Zügen etwas unsicher:

„Es tut mir leid, Master Harst, daß ich so schlechte Nachricht bringe. Die Flasche wurde von einem kleinen Motorboot aufgefischt, dem wir natürlich nicht folgen konnten.“

„Nein – das konnten Sie allerdings nicht,“ nickte Harst. „Schade ist es ja, daß mein Plan auf diese Weise vereitelt wurde. Wir müssen dann etwas Neues ersinnen, um die Malcapier zu fangen.“

„Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Herr Harst,“ meinte der Detektiv bescheiden.

„Bitte – nur zu!“

„Man müßte der Malcapier zum Schein eine sehr hohe Summe für die Edelsteine bieten, vielleicht durch eine Anzeige im Rekorder. Dann müßte man das Geld ihr aushändigen und sie dabei abfassen, – festnehmen.“

„Ah – ein sehr guter Gedanke! – Wie heißen Sie doch gleich?“

„Kong-Penj, Master Harst.“

„Ich werde sofort zu Ihrem Chef fahren, Kong-Penj, und mit ihm über diesen Vorschlag reden. Ich bin durchaus dafür. Vielleicht würde eine Million genügen.“

Der Detektiv freute sich offenbar sehr, daß er dem berühmten Harald Harst einen so guten Rat gegeben. Er verabschiedete sich bald und wurde von Harst höflich bis zur Schiffstreppe begleitet. Als Harald dann wieder unsere Kabine betrat, lag um seinen Mund ein so deutlich verächtliches Lächeln, daß ich erstaunt fragte: „Wem gilt denn diese Miene?!“

„Eugenie und den Menam-Brüdern, mein Alter.“ Er langte nach seinem goldenen Zigarettenetui, nahm eine seiner Mirakulum heraus, zündete sie langsam an und sagte nun, nachdem sein Gesicht einen zerstreut-versonnenen Ausdruck angenommen hatte:

„Dieser Kong-Penj ist hier etwa dasselbe, wie bei uns ein Kriminalkommissar. Aber ein halber Wilder ist er trotzdem geblieben. Sahst Du, daß er sich weder das Gesicht noch die Hände ordentlich gewaschen hatte?“

„Allerdings. Er muß mit lila Farbe gearbeitet haben. Auch sein linker Handrücken zeigte Spuren von Lila.“ Dann fiel mir ein, daß Harst dem Detektiv vorhin die Zigarettenschale so unbequem hingehalten hatte. Ich bat ihn also um Aufklärung, ob dies absichtlich geschehen.

„Derartiges hat bei mir stets seinen Zweck,“ erwiderte er. „Du solltest mich in dieser Beziehung doch schon kennen. – Machen wir uns jetzt aber zum Ausgehn fertig. Wir wollen Polizeichef Walker aufsuchen.“ –

Eine halbe Stunde später saßen wir dem glattrasierten Amerikaner gegenüber, der seine schlechte Laune in keiner Weise zu verbergen suchte.

„Verdammt, bester Harst!“ polterte er sofort los. „Denken Sie nur: gestern abend ist Lord Aldebary nebst Gattin unweit der Pagode Wat Tscheng überfallen und in einem Wagen entführt worden.“

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Natürlich wieder diese Banditen, diese Menam-Brüder! Die Schufte werden mich noch um meine Stellung bringen! Himmel, was wird es jetzt für ein Geschrei in den Zeitungen geben, daß in Bangkok der mit dem englischen Königshause verwandte Lord nebst Gattin auf offener Straße von diesen Halunken davongeschleppt worden ist! – Ja – wenn ich noch irgend etwas versäumt hätte, diese Bande unschädlich zu machen! Aber was ich irgend tun konnte, ist geschehen; nichts ließ ich unversucht, herauszubekommen, wer diese Kerle sein mögen und wo sie ihren Schlupfwinkel haben!“

„Ich weiß das alles,“ nickte Harst. „Im Rekorder vom März vorigen Jahres war schon gesagt, daß die Polizei eine fieberhafte Tätigkeit entwickelt hat, daß aber seltsamerweise jeder Versuch, den Leuten auf die Spur zu kommen, mißlungen ist. – Ich kann Sie nun heute trösten, Master Walker. Ich – werde Ihnen die Menam-Brüder in die Hände spielen.“

„Ah! Wirklich?!“ Walker war aufgesprungen. „Lieber Harst, – der höchste siamesische Orden ist Ihnen sicher, wenn –“

Harst hatte kurz abgewinkt. „Erstens gebe ich auf eine derartige Frackzier nichts; zweitens liegen die Dinge hier so verzwickt, daß es besser ist, wenn die Menam-Brüder die Öffentlichkeit nicht zu sehr beschäftigen. – Darf ich vielleicht um ein Stück Papier bitten? – So, danke. – Ich schreibe Ihnen einige Verhaltungsmaßregeln auf. Sollten wir heute bis 1 Uhr mittags nicht wieder hier bei Ihnen uns gemeldet haben, so entfalten Sie diesen Zettel, den ich versiegeln werde, und handeln Sie genau so, wie ich’s hier niedergeschrieben habe – genau so! Nicht eine winzige Kleinigkeit darf anders gemacht werden! – Den Zettel verwahren Sie bis dahin gut und – schweigen darüber! – Auf Wiedersehen, – falls nicht vor ein Uhr hier, dann nach ein Uhr – anderswo – im Hauptquartier der Menam-Brüder!“

Dann verließen wir Walker, nachdem Harst nur noch so nebenbei Kong-Penjs Vorschlag erwähnt und geäußert hatte, er würde darüber nachher noch genauer sprechen.

 

5. Kapitel.

Wer bleibt Sieger?

Es war halb zwölf, als wir wieder an Bord unseres schwimmenden Fremdenheims angelangt waren.

„Wir wollen uns jetzt auf das Kommende etwas vorbereiten,“ meinte Harald. „Ich werde mir in den Ärmelaufschlag mein geöffnetes Federmesser stecken. Tu’ dasselbe bitte. Man kann nie wissen, was passiert. Dann setzen wir unsere weichen Reisemützen auf, verbergen darunter unsere Pistolen und ziehen die Mützen recht fest über den Kopf. Ich denke, das wird genügen.“

Ich hätte gern gefragt, wohin wir uns jetzt begeben würden. Aber ich fürchtete Harsts gewohntes, vorwurfsvolles: „Aber Max Schraut! Weißt Du’s noch nicht?!“

Ehrlich: ich wußte es nicht! – Ich hatte wohl einen Moment an die Prau gedacht, diesen Gedanken dann aber wieder verworfen, denn der alte Kasten von Schiffsrumpf war ja nach Harsts Behauptung „ein offizielles Schiff“, diente Polizeizwecken. –

Wir ketteten nun das kleinste der Boote von der Schiffstreppe los, so einen aus drei Brettern zusammengeschlagenen Kahn, den man in Deutschland „Seelenverkäufer“ nennt. Diese Dinger kippen sehr leicht. Nur ein Geübter vermag darin sicher die Ruder zu handhaben. Nachher sah ich ein, wie schlau Harst gerade diesen Nachen gewählt hatte.

Der noch vor einer Stunde klare Himmel war jetzt dicht bewölkt. Es drohte mit Regen. Die Luft war schwül und von Elektrizität gesättigt. Eine düstere Beleuchtung lag jetzt über dem Flusse. Der Menam sah geradezu unheimlich aus. – Wir stiegen ein. Harst ruderte. Es begann zu tröpfeln. Bald war’s ein kleiner Wolkenbruch. Harald hielt auf das nahe Westufer zu, schwenkte dann links zwischen zwei Flößen ab und – näherte sich der Prau.

Also doch die Prau! – Wir waren noch fünf Meter von der Schiffsleiter entfernt, als Harst auf seiner Ruderbank zu weit nach links rutschte. Ich schrie auf. Der Nachen schöpfte Wasser, lief im Augenblick voll.

Harst fluchte laut. „Vorwärts – retten wir uns nach der Leiter der Prau hin!“ rief[8] er. „Wenn ein Krokodil –“

Er schwamm der Leiter zu. Ich folgte. Wir kletterten auf das Deck des abgetakelten Seglers. Nirgends eine Menschenseele. Harst schritt auf den hohen Heckaufbau zu. Die Holztür war verschlossen. Harald rüttelte daran. Plötzlich flog sie nach innen auf. Wir schauten in eine völlig leere Kajüte hinein. Harst zögerte erst, trat dann doch ein. Die Kajüte war so breit wie der ganze Aufbau. Aber uns gegenüber gab es noch eine Tür. Diese war unverschlossen. In dem Raum dahinter war es völlig finster. Auf dem Fußboden lag allerlei Gerümpel.

Harsts Taschenlampe beleuchtete jetzt diese zerfetzten Matten, Taue, zerbrochenen Ruder und Kisten. Dann drückte er die Tür wieder zu, sagte, ohne sich umzudrehen:

„Sie haben gesiegt, Mademoiselle – ich gebe dies zu!“

Ich fuhr herum. Mit dem Rücken gegen die andere Tür gelehnt, die Hand mit dem Revolver halb erhoben, stand da in tadellosem hellgrauen Sportkostüm, den Strohhut auf dem vollen, rotblonden Haar, Eugenie Malcapier.

Sie lächelte ironisch.

„Also doch!“ sagte sie nur. Sie zielte auf Harst, stampfte dreimal mit dem Fuße auf, und – die Tür hinter uns wurde aufgestoßen. Sechs maskierte Kerle in Leinenanzügen packten uns. Im Nu hatten sie uns die Arme auf dem Rücken gebunden. Harst wehrte sich offenbar nur zum Schein.

Die Malcapier lächelte noch immer, sagte nun abermals mit merkwürdiger Betonung:

„Also doch!“

Dann winkte sie den Leuten. Sie schleppten uns in die Rumpelkammer nebenan und zwangen uns, durch eine Falltür im Boden eine schmale Holztreppe hinabzusteigen. Wir wurden in einen Verschlag gesperrt, der so niedrig war, daß wir uns im Sitzen zusammenkrümmen mußten. Die sechs Menam-Brüder verschwanden. Nur das rotblonde, schlanke Weib war vor der Bohlentür dieser Hundehütte stehen geblieben und ließ den roten Lichtschein einer großen Schiffslaterne auf uns fallen. Jetzt beugte sie sich herab, flüsterte in etwas gebrochenem Deutsch:

„Ich wußte, daß Sie beide hier erscheinen würden. Ich habe – nicht gesiegt, Harald Harst! Ich durchschaue Ihr Spiel vollständig. Der Trick mit der lila Farbe war bewundernswert. Aber – ich bin dadurch gewarnt worden.“ Sie lachte kurz auf, warf die Tür zu, schob einen Riegel vor – und alles war still ringsum.

Harst saß ein paar Sekunden regungslos.

„Sie ist theatralisch, aber klüger, als ich sie einschätzte,“ flüsterte er dann. „Schnell – Rücken an Rücken, Schraut, daß ich Dir das Federmesser herausnehmen kann.“

Gleich darauf waren wir die Fesseln los, steckten die entsicherten Pistolen in die rechte Jackentasche und besichtigten beim Scheine meiner Taschenlampe – die Harsts war ihm bei dem Überfall durch die Menam-Brüder aus der Hand geglitten – die Balkentür. Wie erstaunt waren wir, als sie sich sofort öffnen ließ.

„Das Weib hat den Riegel leise wieder zurückgezogen,“ meinte Harst. „Sie wußte, daß das Spiel aus war! Da wagte sie es nicht mehr, sich an uns zu vergreifen, war nur darauf bedacht, sich selbst in Sicherheit zu bringen.“

Ich hätte etwas darum gegeben, wenn ich aus alledem klug geworden wäre!

Mit größter Vorsicht bewegten wir uns weiter. Aber wir hatten sehr bald festgestellt, daß die Prau jetzt leer war.

„Dann können wir ja nach den beiden Mattenrollen suchen, die in der Nacht hier an Bord geschafft wurden,“ sagte Harald ganz gemütlich. „Denn die Malcapier holen wir doch nicht mehr ein.“

„Mattenbündel? Was –“

„Oder besser: nach Lord und Lady Aldebary!“ fiel mir Harst ins Wort.

Da ging mir ein Licht auf.

Wir fanden das Ehepaar im Vorschiff in einem Verschlage mit nur leicht gefesselten Händen. – Ich will hier alles fortlassen, was nicht unbedingt nötig ist, um dem Leser klar vor Augen zu führen, in wie glänzender Weise sich in diesem Falle wieder Harsts Kombinationstalent bewährt hat.

Wir brachten das Ehepaar in einem Boot, das Harst schwimmend von dem nächsten Wohnschiffe holte, zu Madame Pordepierre. Es regnete wieder in Strömen. Der Lord und seine Gattin wurden unserer Wirtin unter anderen Namen vorgestellt und mieteten für heute ein Zimmer, wo sie zu bleiben versprachen, bis wir den – „letzten Schlag“ gegen die Menam-Brüder geführt hätten, wie Harst sich ausdrückte.

Wir legten dann wieder unsere Chinesenkostüme an und waren genau zehn Minuten vor ein Uhr in der Vorhalle der Polizeidirektion, stiegen die Treppe zu Walkers Dienstzimmer empor, klopften an und traten ein.

Walker wollte erst grob werden über dieses freche Eindringen zweier so schmieriger Kulis, erkannte uns dann, schüttelte uns lachend die Hände und meinte: „Ich habe hier wie auf Nadeln gesessen und alle Augenblicke nach der Uhr gesehen.“

Harst setzte sich. „Wollen Sie bitte Ihre sämtlichen Detektivbeamten zusammenrufen,“ sagte er auffallend ernst. „Wie viele sind es?“

„Achtzehn. – Sie sind in drei Sektionen geteilt: eine für die Überwachung des Flusses, die andere für –“

„Danke, Master Walker. Die Flußsektion steht wohl unter Kong-Penj’s Befehl?“

„Ja. Kong-Penj ist ein sehr pflichteifriger Mensch.“

Harst sagte nichts weiter. Walker telephonierte dann, erklärte nachher. „In einer halben Stunde sind die Leute hier. – Weshalb aber dies Chinesenkostüm, bester Harst.“

„Die Menam-Brüder hätten uns sonst hier sehen und fliehen können.“

Walker schüttelte den Kopf. „Hier im Polizeigebäude?“ meinte er.

„Ja. Doch – auch davon später.“

Mir war plötzlich eine Vermutung gekommen, die mir geradezu unmöglich schien, und die doch offenbar richtig war. Der Schleier vor meinen Augen zerriß. Ich erkannte jetzt, was es mit der Prau auf sich hatte.

Wir unterhielten uns über gleichgültige Dinge. Dann erschienen die ersten Detektivbeamten. Es waren auch zwei Franzosen darunter. Als alle versammelt waren, erhob sich Harst, schloß die Tür ab und steckte den Schlüssel zu sich. Die Leute wußten nicht, wen sie in diesen beiden dreckigen, nassen Chinesenkulis vor sich hatten. – Harst setzte sich wieder.

„Kong-Penj!“ rief er dann. – Der Siamese trat vor. Er sah plötzlich ganz verstört aus und zitterte am ganzen Körper.

„Kong-Penj, Sie sind der Führer der Flußsektion,“ begann Harald. „Sie haben uns jetzt wohl erkannt. Ihnen und Ihren fünf Leuten war die Suche nach den Menam-Brüdern übertragen. Ich las das schon im Rekorder in einer alten Nummer. Dort stand auch so allerlei über die ungenügende Besoldung der Polizeibeamten. Der Rekorder verlangte bessere Bezahlung, damit das Bestechungsunwesen aufhöre. Mir war nun gleich aufgefallen, daß die Bemühungen der Polizei, den Menam-Brüdern auf die Spur zu kommen, so vollständig ergebnislos geblieben waren. Ich argwöhnte, daß die Bande die Beamten bestochen hätte. Dann beobachtete ich, daß die Prau in der Nähe des Wohnschiffes der Madame Pordepierre verankert wurde. Ich hörte das Schelten der Nachbarn auf die Verengerung des Fahrwassers durch diese Prau, sah Sie, Kong-Penj, auf dem Deck der Prau, hörte weiter, wie Sie befehlend einem Siamesen zuriefen, er solle das Maul halten, die Prau sei Eigentum der Flußpolizei. – Kong-Penj, Sie hätten die Prau nicht so dicht bei uns verankern sollen. Das verstärkte nur meinen Argwohn gegen Sie und Ihre fünf Kollegen. In der verflossenen Nacht habe ich die Prau beobachtet. Man brachte zwei Mattenrollen an Bord. Als das Boot wieder in den Fluß hinausruderte, spritzte ich mit einer Nickelspritze einen Strahl unverwaschbare lila Tinte darüber hin, um vielleicht einen der Bootsinsassen zu zeichnen. – Sie haben einige lila Tropfen abbekommen, Kong-Penj. Sie waren also dabei, als man die Mattenrollen auslud, – das heißt: Lord und Lady Aldebary. Und vorhin waren Sie auch einer der Maskierten, die uns fesselten. Ich sah auf Ihrem Handrücken den lila Fleck. – Weshalb zittern Sie so?!“

Da warf der Siamese sich aufheulend vor Walker auf den Boden und winselte um Gnade. Walker versetzte ihm einen Fußtritt.

„Hund – Du und die fünf anderen der Sektion – Ihr seid die Menam-Brüder! Gestehe!“ brüllte er.

„Ja – aber wir sind verführt worden!“ wimmerte der entlarvte Verbrecher. „Die Malcapier hat uns nacheinander in ihre Netze gelockt, hat –“

„Ja – und jetzt ist sie geflohen!“ warf Harst ein. „Geflohen – und hat Euch im Stiche gelassen! – Die Prau wurde dort verankert, damit wir bequem beobachtet werden konnten. Einer von Euch war diese Nacht in unserer Kabine. Ich schwamm seinem Boote nach. Es legte an der Prau an. – Und als die Malcapier dann heute die lila Flecke auf Deiner Hand und Deiner Wange bemerkte, da wird sie Dich gefragt haben, wie die Flecke entstanden sind. Und Du wirst geantwortet haben:

„Ich weiß nicht. Seit der vergangenen Nacht habe ich sie!“ – Und – das warnte das Weib. Sie ist klug. Sie ahnte, daß ich Euch zeichnen wollte. Nun – ist sie geflüchtet, und Ihr werdet allein für alles büßen.“

Kong-Penj legte dann ein restloses Geständnis ab. Die Menam-Brüder waren sechs Staatsdetektive gewesen – jedenfalls eine Verbrecherbande von einer Art, wie sie nicht häufig sein dürfte! – Kong-Penj[9] hatte auch die Brillenschlangen in das Haus der Frau Stanton gebracht, ebenso dann bei uns das Gitter durchschmolzen. Weinend bekannte er, daß er Eugenie Malcapier bis zum Wahnsinn liebe.

Also – auch Liebe war dabei! Armer genarrter Teufel! – Er und seine fünf Genossen wurden gehängt. Walker schonte sie nicht trotz Harsts Fürsprache.

Am Abend dieses Tages erhielt Harst mit der Post einen Eilbrief der Malcapier, der in Bangkok aufgegeben war. Darin stand: „Halb haben Sie gesiegt! Siegen Sie ganz, aber – rechnen Sie nicht mehr damit, daß Sie auch nur einen Schritt tun können, ohne Ihr Leben bedroht zu sehen! – Eugenie Malcapier.“

Harst hatte mir diesen neuen Drohbrief zu lesen gegeben und sagte dazu: „Es dürfte doch für uns ratsam sein, Bangkok zu verlassen und in einer Verkleidung wiederzukehren. Es muß doch irgend etwas hier vorhanden sein, daß die Malcapier an diese merkwürdige Stadt fesselt. Der Brief ist um 6 Uhr nachmittags zur Eilbeförderung am Schalter abgegeben. Um 4 Uhr sind zwei Passagierdampfer ausgelaufen, und um 5 ging der Schnellzug ins Innere Siams ab. Also hat unsere Feindin diese drei Gelegenheiten, von hier fortzukommen, natürlich in tadelloser Maske, vorübergehen lassen. Sie ist noch hier und wird auch vorläufig noch hier bleiben. Hm – ob sie etwa darauf hofft, daß die Priester des P’hrabat das tun werden, was mir Kong-Penj vorschlug: eine Million für Rückgabe der Edelsteine zu bieten? – Der famose Detektiv und Menam-Bruder dürfte mir den Vorschlag auf Anraten der Malcapier gemacht haben, damit die Bande vielleicht die Million und mich dazu bekam. Dieses Nebenplänchen war recht gut erdacht und wäre vielleicht geglückt, wenn mich nicht die Notiz im Rekorder über die schlechte Besoldung der Polizeiorgane argwöhnisch gemacht hätte. – Na – jedenfalls reisen wir morgen früh ab. Um acht Uhr geht ein Dampfer nach Singapore. Den werden wir benutzen.“ –

Hiermit schließen unsere Erlebnisse in Bangkok. Wo und wie wir nochmals mit Eugenie Malcapier zusammentrafen, schildere ich in:

 

Der Stern von Siam.

 

 

Anmerkungen:

  1. Für die damalige Zeit ein gebräuchlicher Ausdruck für eine fortlaufende Abfolge von Bildern (Kinofilm) oder einer Serienaufnahme (hier auf Planfilm, wie sich aus der weiteren Erzählung ergibt).
  2. Fehlendes Wort „sein“ ergänzt.
  3. In der Vorlage steht: „maliische“.
  4. Doppeltes Wort „jetzt“ entfernt.
  5. In der Vorlage steht: „einenm“.
  6. In der Vorlage steht: „hute“.
  7. In der Vorlage steht: „ich“.
  8. In der Vorlage steht: „riefe“.
  9. In der Vorlage steht: „Keng-Penj“.