Sie sind hier

Lord Ralleys Schreckensnächte

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 69:

 

Lord Ralleys Schreckensnächte

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der Mann im Fenster.

Durch die fahle Morgendämmerung erklang ein gellender Hilferuf. – Er übertönte das Rauschen der Palmen und das lustige Kreischen der Affen, die hier in den großen Garten des Europäerviertels der uralten, heiligen Stadt Benares hausten.

Wir drei – Lord Horace Wiclaytour, Harald Harst und ich – waren wie angewurzelt stehen geblieben. Wir starrten empor zu dem offenen Fenster des weißen Bungalow, der dicht an der Straße, nur zum Teil durch Büsche verdeckt, sich erhob.

Dort hockte auf dem Fensterkopf ein Mann im langen Nachthemd, hielt sich krampfhaft am Fensterkreuz fest und winkte uns jetzt.

Wir eilten auf die Gartenpforte zu. Sie war verschlossen. Wir kletterten hinüber, rannten weiter.

Der Mann am Fenster war verschwunden. Aber das Fenster stand noch weit offen.

Der Bungalow war – eine Seltenheit – zweistöckig. Das offene Fenster lag gerade über dem Eingang des Hauses und über dem Verandadach.

Harst drückte auf den Knopf der Klingel an der Haustür. Es dauerte wohl fünf Minuten, bis ein indischer Diener erschien und uns einließ, nachdem Harst ihm erklärt hatte, was geschehen.

Wir stürmten die Treppe hinan. Uns trieb die Angst vorwärts, daß dem Manne, der da, so ganz erfüllt von offenbar wildestem Entsetzen, um Hilfe gerufen hatte, inzwischen etwas zugestoßen sein müsse.

Harald war als erster oben, fand sich leicht zurecht, rüttelte jetzt an einer verschlossenen Tür.

Dann rief jemand von innen: „Sofort – sofort!“

Nach einer Weile wurde geöffnet. Vor uns stand in einem Morgenanzug ein schlanker Mann mit blondem Spitzbart und gescheiteltem Haupthaar, das Gesicht war noch feucht von Schweiß. Die Haare klebten ihm zum Teil an der Stirn. Seine grauen Augen aber blickten uns mit so kühler, ablehnender Förmlichkeit an, daß ich mir beinahe die Frage gestellt hätte, ob dies wirklich derselbe Mann war, den wir noch vor etwa acht Minuten auf dem Fensterkopf hatten stehen sehen.

Dann sagte er mit derselben kühlen Höflichkeit:

„Es tut mir sehr leid, meine Herren, daß ich Sie unnötig heraufbemüht habe. Mein Name ist Lord Ralley. Ich leide an Alpdrücken, an schweren Träumen. Ich habe vor Monaten Malaria gehabt, und als Folgeerscheinung haben sich diese furchtbaren Träume eingestellt. Entschuldigen Sie also. Ich muß mit meinem Leiden schon allein fertig werden.“

Wieder verneigte er sich knapp. Sein ganzes Verhalten streifte leicht die Grenze der Unhöflichkeit.

Harst entgegnete nur – ebenso gemessen:

„Wir bedauern Sie, Mylord. Wir wollen nicht weiter stören.“

Ralley wurde jetzt doch verlegen. Ihm kam wohl zum Bewußtsein, daß sein Verhalten jedem recht merkwürdig erscheinen müßte.

„Mit wem habe ich die Ehre,“ meinte er bedeutend zuvorkommender.

„Mein Name ist Harald Harst,“ sagte dieser darauf ebenfalls eine Schattierung liebenswürdiger.

Ah – seltsam! Harsts Name hatte den Lord offensichtlich aufs unangenehmste überrascht! Er war zurückgeprallt, suchte seine Verwirrung zu bemänteln und stammelte:

„Ah – der Liebhaberdetektiv Harst. – Mr. Harst, dann müssen Sie mir die Ehre antun, mit mir zu frühstücken –“

Harald stellte zunächst noch Wiclaytour und mich vor:

„– Hier Lord Horace Wiclaytour – mein Freund Schraut. – Ihre freundliche Einladung können wir leider nicht annehmen, Mylord. Wir sind die Nacht über auf den Beinen gewesen. Es galt eine Verbrecherin zu fangen und einen Juwelen-Diebstahl zu verhindern. Wir sind müde.“

„Dann darf ich Sie vielleicht nachmittags erwarten, meine Herren, – zum Diner. Bitte – lehnen Sie nicht ab. Ich bin Ihnen meiner Krankheit wegen einige Erklärungen schuldig. Meine Schreckensnächte haben noch eine andere Ursache. Doch – darüber nachmittags –“

Harald erwiderte, wir würden um fünf Uhr uns einfinden. Ralley reichte uns zum Abschied die Hand. Er war wie umgewandelt. –

Als wir dann unserem Hotel zuschritten und in die nächste Seitenstraße eingebogen waren, blieb Wiclaytour stehen und schaute Harald fragend an.

„Harst, der Mann log!“ sagte er kurz.

Harald nickte. „Gehen wir weiter, Wiclaytour. – Ja, er log. Seine Schreckensnächte sollten die Öffentlichkeit nicht beschäftigen. Und – es müssen Schreckensnächte sein. Ralleys Gesicht glänzte noch im Schweiß der Todesangst, und sein verzerrtes Gesicht auf dem Fensterkopf und seine Hilferufe waren niemals die Folge von Träumen. Er wird uns heute nachmittag natürlich belügen. Er sprach ja davon, daß seine Schreckensnächte noch eine andere Ursache hätten. Immerhin – auch aus einem Gespinst von Lügen läßt sich manches schließen.“ –

Wir wohnten im Prinz Edward-Hotel. Harst und ich hatten einen Salon und ein gemeinsames Schlafzimmer. Wiclaytours Zimmer lag uns gegenüber.

Wir sagten dem Portier Bescheid, daß man uns erst mittags wecken sollte. – Ich begann mich sofort zu entkleiden. Harst ging im Salon auf und ab und rauchte noch eine seiner Mirakulum-Zigaretten. Ich schlief dann ein, bevor er sich niedergelegt hatte. Gegen elf Uhr vormittags wachte ich von selbst auf. – Haralds Bett war nicht benutzt worden. Das zeigte mir ein flüchtiger Blick.

Auf meinem Nachttisch lag ein Zettel:

„Lies die Zeitung auf dem Frühstückstisch im Salon. Ganz interessant. Bin jetzt im Dorfe Widpura am Südufer des Ganges in der Nähe der Eisenbahnbrücke. Habe Schlüssel vom Salon mitgenommen und offen gelassen. – 9 Uhr 15 Minuten. – H.“

Ich zog mich schnell an, öffnete die Tür zum Salon und – fuhr leicht zurück.

Auf dem Bambussofa saß Lord Ralley in einem weißen Flanellanzug, erhob sich jetzt und trat auf mich zu.

„Mr. Schraut,“ sagte er und gab mir die Hand. „Ich habe hier an die Flurtür Ihres Wohnsalons umsonst geklopft. Da meine Sache sehr eilt, erlaubte ich mir einzutreten. Ich habe auch in Ihr Schlafzimmer hineingeschaut. Wo steckt denn Ihr Freund Harst?“

Ich mußte mir Mühe geben, recht gleichgültig zu erscheinen. Dieser Mensch war doch fraglos nur hergekommen, um zu spionieren!

„Bitte, nehmen Sie wieder Platz, Mylord,“ erwiderte ich mit größter Liebenswürdigkeit und Harmlosigkeit. „Harst ist gar nicht schlafen gegangen. Wir haben hier noch etwas zu erledigen – einen sehr diskreten Auftrag. Und wenn mein Freund auf der Spur eines menschlichen Wildes ist, vergißt er oft Schlafen, Essen und Trinken.“ – Ich hatte mir inzwischen blitzschnell überlegt, daß Ralley vielleicht auch den Zettel auf meinem Nachttisch gelesen haben könnte. In jedem Falle war es besser, ihn nicht mißtrauisch zu machen. – „Harst ließ mir einen Zettel zurück,“ fügte ich hinzu. „Er scheint eine neue Fährte entdeckt zu haben.“

Ich setzte mich gleichfalls. Ich stellte fest, daß Ralleys Gesicht den heuchlerisch-liebenswürdigen, dabei aber recht gespannten Gesichtsausdruck verlor. Ohne Zweifel war er bereits argwöhnisch gewesen. Der Argwohn schwand jetzt.

„Ich habe hier erst 5 Minuten gesessen, Mr. Schraut,“ erklärte er nun. „Mein Eindringen müssen Sie durch die besonderen Umstände entschuldigen. Es ist etwas geschehen, das mich sehr beunruhigt –“

Der Tisch war zum Frühstück gedeckt. Harald hatte also nicht ohne einen stärkenden Imbiß das Hotel verlassen. Sein Teller und sein Besteck waren benutzt worden. Unter dem großen Teebrett lag eine Zeitung, die nur mit einer Ecke hervorlugte. – Ob Ralley die Zeitung vielleicht ebenfalls gelesen hatte?! Ich nahm es beinahe an. –

Ralley hatte inzwischen hastiger weitergesprochen:

„Ich möchte mir mein Herz erleichtern, Mr. Schraut. Darf ich Ihnen meinen Fall vortragen? – So hören Sie denn. Es ist eine sehr merkwürdige Geschichte – sehr! Sie greift auf das Gebiet des Übersinnlichen über. Ich bin frei von Aberglauben. Doch das, was ich seit – seit vier Wochen –“

Hier log er offenbar! Die vier Wochen stimmten nicht. Er hatte gezögert, bevor er die „vier“ aussprach.

„– durchgemacht habe, kann den stärksten Mann halb um seine Vernunft bringen. – Sie dürften wissen, daß es in den indischen Zentralprovinzen südöstlich der Stadt Nagpur ungeheure Dschungelflächen gibt, die größtenteils noch unerforscht sind. Vor anderthalb Jahren kam ich, der letzte Sproß des Geschlechtes der Ralley, nach Indien. Ich war es satt, lediglich Lord Ralley zu sein. Mich hatte der wissenschaftliche Ehrgeiz gepackt. Ich wollte als Forscher berühmt werden. Ich bin nicht reich. Die Ralleys haben alle verschwendet. Für mich blieb fast nichts übrig – nur das halb verfallene Stammschloß in Schottland. – Ich mietete in Nagpur vier Hindu, kaufte Last- und Reitkamele und drang mit meinen farbigen Begleitern vor acht Monaten in die Wildnis ein, um festzustellen, ob es tatsächlich, wie man sich erzählte, in den Dschungeln ein Zwergenvolk gäbe, das in einer Stadt auf einem Bergplateau hauste. Nach achttägigem Marsch wurden wir nachts überfallen. Von wem, weiß ich nicht. Man hatte mir eine Decke über den Kopf geworfen. Man brachte mich dann in ein tiefes Felsloch, in dem ich viele Monate schmachten mußte, ohne je ein Menschenantlitz zu schauen. Mein Kerker war offenbar der Zugangsschacht zu einem uralten Bergwerk. Er war etwa zwölf Meter tief und hatte vielleicht fünf Meter Durchmesser. Meine unsichtbaren Wächter ließen mir Trinkwasser, Früchte und Brot an einem Lederriemen hinab. Ich sah nie einen der Leute – nie! Flucht erschien unmöglich. Doch die Verzweiflung und die Angst, in diesem von pestilenzialischen Düften erfüllten Loche umkommen zu müssen, gaben mir schließlich den Gedanken ein, nach dem offenbar vermauerten Eingang in das alte Bergwerk zu suchen. Ich hatte schon vorher festgestellt, daß ein Teil der Wand des Schachtes nicht aus zusammenhängendem Gestein, sondern aus einer durch einen dunkeln Mörtel und Felsstücke errichteten Mauer bestand. Jede Nacht habe ich dann mit Hilfe der Hufeisen meiner Bergschuhe, die ich losgerissen hatte, den Mörtel weggekratzt und ihn bei Tagesanbruch, damit die Öffnungen nicht auffielen, wieder durch feuchte Erde ersetzt. So arbeitete ich etwa sechs Wochen. Meine unsägliche Mühe wurde belohnt: ich konnte endlich einen Stein entfernen und das dahinter liegende Geröll wegschieben. Eines Nachts gelangte ich so in einen Gang, der mich, nachdem ich mich wohl eine Stunde mit vorgestreckten Händen vorwärts getastet hatte, zu einer Felsschlucht führte. Als ich über mir die Sterne blinken sah, sank ich in die Knie und dankte Gott für meine wunderbare Errettung. In dieser Schlucht nun fand ich einen kleinen Tempel, in dessen Halle auf einem Steinsockel ein Götze hockte – eine weibliche Figur –“

Lord Ralley hatte immer leiser gesprochen. Er wollte offenbar den Eindruck hervorrufen, daß ihn die Schilderung seiner damaligen Erlebnisse noch jetzt tief errege. Aber – er war ein schlechter Schauspieler; ein sehr schlechter sogar! Selbst ein Mensch mit recht geringen Lebenserfahrungen hätte gemerkt, daß das ganze Benehmen des Lords, ebenso seine Art zu sprechen, immer mehr etwas Komödiantenhaftes annahmen.

 

2. Kapitel.

Die halbe Mumie.

Mir fiel auf, daß etwas in Ralleys Schilderung nicht stimmte. Er war nachts geflohen. Wie hatte er die Götzenfigur in dem Tempel sich ansehen können, da man ihm doch fraglos die Taschen ausgeräumt und auch das Feuerzeug weggenommen hatte?!

Ich fragte daher mit Recht: „Mylord, wie konnten Sie im Dunkeln den Götzen erkennen?“

Ralley blickte mich darauf starr an. Mir schien, er war völlig fassungslos ob dieser Frage. Dann platzte er heraus: „Aber es war doch eine mondhelle Nacht, Mr. Schraut. Der Mond schien durch das bereits schadhafte Dach in die Halle hinein.“ Er machte eine kurze Pause. Sein gelbliches, hageres Gesicht hatte sich gerötet. „Ja – denken Sie, Mr. Schraut,“ fuhr er dann fort, „die Götzenfigur bestand, wie ich feststellte, aus zwei Teilen: bis zur Brust aus bemaltem Holz, und der Oberteil zu – ja, das werden Sie kaum raten: Der Oberteil war ein mumifizierter Menschenleib, gleichfalls dick bemalt, der Brustkorb leer, das Gesicht gut erhalten, ebenso das hochgesteckte Haar –“

Er betupfte sich die Stirn mit dem Taschentuche. Und es waren wirklich Schweißperlen auf der Haut zu sehen gewesen. Die Mumie hatte vielleicht doch bei seinem Abenteuer eine bedeutsame Rolle gespielt.

„Wie ich auf den Gedanken kam, Mr. Schraut, diesen Mumienoberteil mit mir zu nehmen,“ sprach er überhastet weiter, „weiß ich noch heute nicht. Ich wollte vielleicht der Welt beweisen, daß ich tatsächlich tief in die sogenannte Mahanadi-Dschungel eingedrungen sei. Jedenfalls: ich raubte das Mumienstück. Nach unerhörten Strapazen langte ich wieder in Nagpur an. Inzwischen hatte ich mir überlegt, daß die indische Regierung jeden Raub von Tempelrequisiten streng bestraft. Ich verbarg also meine Beute und verheimlichte sie vor jedermann. Deshalb bitte ich auch Sie und Mr. Harst, hierüber zu schweigen, selbst Lord Wiclaytour gegenüber. – Ich kaufte vor sechs Monaten dann hier den Bungalow und lebe nun ganz zurückgezogen. Ich schreibe an einem Buche über meine Erlebnisse –“

Er starrte zu Boden. Er war nun bei dem Moment angelangt, wo er notwendig mit der Schilderung seiner Schreckensnächte beginnen mußte. Dies bereitete ihm offenbar Unbehagen. Ich gewann, als er nun diesen Gegenstand erörterte, rasch die Überzeugung, daß er jedes Wort sehr genau prüfte. Ohne Zweifel unterschlug er vieles oder – log in zahlreichen Punkten.

„Eine solche schriftstellerische Arbeit erledigt man am besten nachts,“ fuhr er sehr bedächtig fort. „Mein Arbeitszimmer liegt nun im ersten Stock neben meinem Schlafzimmer. Zwischen den beiden Räumen befindet sich lediglich ein dunkles, fensterloses, schmales Kabinett, dessen Tür nach dem Arbeitszimmer durch einen Perserteppich ersetzt worden ist, den ich als Vorhang benutze. Das Kabinett ist leer – bis auf einen großen, halb in die Wand eingefügten Schrank, der die ganze Schmalseite des Raumes einnimmt und der noch von meinem Vorgänger herrührt. In diesen Schrank hatte ich die halbe Mumie eingeschlossen. – Vor etwa vier Wochen saß ich gegen Mitternacht noch am Schreibtisch. Plötzlich hörte ich in dem Kabinett einen dumpfen Ruf. Es klang so ähnlich, als hätte jemand in dem Schranke irgend ein einzelnes Wort recht laut geschrien. – Ich bin nicht abergläubisch – keineswegs. Und doch lief mir ein Eiseshauch über den Rücken. Ich dachte sofort an die halbe Mumie mit ihren Glasaugen und dem schrecklichen Grinsen in dem getuschten Gesicht. – Nach einer Weile wiederholte sich der Ruf. Ich nahm meine ganze Energie zusammen und betrat das Kabinett, öffnete den Schrank und –“

Er holte tief Atem, wischte wieder die Schweißperlen von der Stirn.

„– und taumelte zurück, als ich kaum den Schlüssel im Schloß umgedreht hatte – taumelte zurück, weil in dem Schrank eine helle Frauenstimme schrill das Wort „Gwinnara“ ausrief. – Ich weiß nicht, ob Sie, Mr. Schraut, mit dem indischen Sektenwesen genügend vertraut sind. Es gibt hier neben den Hauptreligionen einige fünfzig Sekten. Die „Gwinnara“ sind nun vielleicht von diesen Sektierern die phantastischsten. Sie verehren eine Gottheit „Gwinnara“, halb Mann, halb Weib, ähnlich wie im alten Ägypten Isis und Osiris als Hermaphrodit, als Doppelwesen, dargestellt und angebetet wurden. – Ich taumelte zurück. Und hatte doch den Mut, den Schrank dann aufzureißen. Er hat eine Flügeltür. Die halbe Mumie steht rechts auf einem Querbrett. Die oberen Bretter habe ich entfernt. – Ich sagte schon, daß der Mumienkopf Glasaugen hat. Sie schauen geradeaus – oder besser: sie schauten geradeaus! Denn ein Blick genügte mir, um festzustellen, daß die Glasaugen sich nach oben gedreht hatten: Die Mumie stierte nach oben! – Ich überwand auch den Schreck über diese Entdeckung; ich befühlte die Augen. Sie ließen sich in den Augenhöhlen drehen. Ich gab ihnen wieder die alte Richtung. – Dann ging ich zu Bett, nachdem ich drei Glas schweren Kaschmirwein getrunken hatte. Ich schlief auch ungestört bis zum Morgen. In der folgenden Nacht aber erwachte ich gegen ein Uhr infolge eines lauten Gepolters hinter der Verbindungstür zwischen meinem Schlafzimmer und dem Kabinett, die ich von innen abgeschlossen hatte. Es war so, als ob jemand mit der Faust gegen die Tür schlüge und dabei mit der anderen Hand auf die Dielen klatschte. – Ich hatte meinen Revolver auf dem Nachttisch liegen. Ich rief laut, wer dort im Kabinett sei. Und die Antwort war –“

„Gwinnara!“ ergänzte ich schnell.

„Ja – „Gwinnara“ ertönte dieselbe schrille Stimme. – Da habe ich in meinem besinnungslosen Entsetzen einfach den Revolver genommen und – gefeuert! Ich zielte unten auf die Tür – etwa dorthin, wo die Faust gegen das Holz hämmerte. – Auf den Schuß hin noch ein qualvolles Stöhnen hinter der Tür. Dann nichts mehr –“

Lord Ralleys Gesicht war jetzt aschfahl geworden: jetzt log er nicht! In seinen Augen lag ein Ausdruck wildester Angst.

„Und am Morgen, Master Schraut, – am Morgen fand ich in dem verschlossenen Schrank den Oberteil des Götzenbildes der Gwinnara, eben die halbe Mumie, mit einem Kugelloch mitten in der Brust vor. Die Kugel hatte den hohlen Brustkorb glatt durchschlagen. – Begreifen Sie das?! Wie kam die Mumie aus dem Schrank an die Tür? Wie kam sie wieder an ihren Platz zurück, wo ich doch den Schlüssel des Schrankes – und es ist ein tadelloses Patentschloß! – am Schlüsselring unter dem Kopfkissen liegen hatte?!“

Ich gebe zu: dieser letzte Teil der Erzählung des Lords hatte auch meine Nerven so etwas vibrieren lassen!

Ich zuckte nur die Achseln, sagte: „Bitte weiter –“

„Oh – nun kommt das furchtbarste, Mr. Schraut!“ stöhnte Ralley kläglich. „Jede fünfte, sechste Nacht besucht mich jetzt die Mumie in meinem Schlafzimmer. Ich schlafe ein. Und wache auf, weil ich einen Druck auf der Brust spüre. Ich fühle eine Hand, hart und knöchern, die meine Kehle umspannt. Ich fühle eine andere Hand, die über meinen Augen liegt – eine eisige, harte Hand. Und liege dann wie gelähmt mit jagendem Herzen. Bis – bis die Hände und der Druck auf der Brust verschwinden und ich die Augen zu öffnen wage. Dann stiere ich in das Dunkel hinein. Und höre nebenan nur noch ein tiefes Stöhnen – nebenan im Kabinett –“

Nein – er log nicht, dieser Lord Ralley! Das merkte ich abermals. Ein Blick in dieses Gesicht hätte jeden davon überzeugt – jeden!

Er holte wieder tief Atem. „Ich weiß ja, daß ich von diesen Händen nur träume. Es ist eben Alpdrücken. Aber – etwas ist noch dabei, Mr. Schraut, das beinahe gegen einen bloßen Traum spricht: als Sie heute früh an meinem Bungalow vorüberkamen, da – da hätte mich die – die Gwinnara beinahe erwürgt!“ – Er bog den weichen Kragen seines Sporthemdes herunter. Und ich sah auf der Haut des Halses rotblaue Flecken –: Strangulationsmarken.

„War es denn die Mumie, von der Sie gewürgt wurden?“ fragte ich ganz atemlos.

„Ja – sie war’s! Ihr schreckliches, starres, grinsendes Gesicht lag dicht über dem meinen. – Ich verlor für Sekunden die Besinnung. Und rannte dann ans Fenster – wahnsinnig vor Grauen –“

Er schwieg. Sein Körper flog wie im Fieberfrost hin und her. –

Auf dem Tische stand eine halbe Flasche Kognak. Sie gehörte Harald. Er trank gern ein Gläschen.

Ich füllte ein Likörglas.

„Trinken Sie, Mylord –“

„Danke – gern!“ – Er stürzte den Inhalt hinab.

Dann schwiegen wir. Er saß mit geschlossenen Augen da: regte sich nicht.

Auch ich fühlte Verlangen nach einem Kognak.

Aber als ich nun das Glas an den Mund führen wollte, erreichte mein Ohr ein ganz leise gehauchtes „Nicht!“

Vor Schreck entglitt mir das Gläschen, fiel auf einen Teller, zersplitterte.

Ralley erhob mühsam die Augenlider, lallte:

„Was – was war das?!“

„Mir fiel nur das Likörglas aus der Hand, Mylord.“

Ralley hatte die Augen schon wieder geschlossen.

Ich saß da – genau so reglos wie er.

Und fragte mich: Woher kam das warnende, befehlende „Nicht!“ –?! Woher?! Wo steckte Harst, der es mir zugeraunt hatte?!

Ich blickte mich um. Hier im Wohnsalon stand nur ein winziger Schrank – ein Bücherschrank. Er stand vor der Türnische nach dem Nebenzimmer hin. Wenn Harald irgendwo verborgen war, dann konnte er sich nur dort in der Nische befinden – hinter dem Schranke. –

Ralley war jetzt der Kopf auf die Brust gesunken – so tief, als ob er eingeschlafen war.

Und – schlief er nicht wirklich?! Waren diese tiefen Atemzüge nicht die eines fest Schlafenden?!

Ein leises Geräusch vom Schranke her lenkte meine Augen wieder dorthin.

Haralds Kopf erschien über dem Schranke in der Nische. Seine Stimme drang an mein Ohr: „Rüttele ihn!“ – wieder wie ein Hauch nur.

Da begriff ich alles: der Kognak war nicht harmlos gewesen. Harst hatte ein Betäubungsmittel hineingetan! –

Ich rüttelte den Lord. Er wäre mir beinahe vom Sessel auf den Teppich gesunken; er schlief ganz fest.

Harald kam über den Schrank geklettert. – „Morgen, mein Alter,“ begrüßte er mich. „War eine nette Überraschung, als Du meine Stimme hörtest, nicht wahr?!“ Dann deutete er auf Ralley. „Er ist mir fein ins Garn gegangen – sehr fein! Das erzähle ich Dir nachher. Jetzt wollen wir ihn ins Schlafzimmer tragen und dort einschließen. Er wird erst nach 12 Stunden erwachen. Dann dürften wir den Fall Ralley aufgeklärt haben –“

Wir legten den Lord auf Harsts Bett und deckten ihn leicht zu.

„Du kannst jetzt frühstücken,“ meinte Harald. „Ich werde Dir derweilen alles berichten.“

Ich läutete nach dem Kellner und bestellte Tee. Wir setzten uns an den gedeckten Tisch im Salon, und Harst begann mit einem nachsichtigen Lächeln:

„Ja – wenn ich ebenso wie Du den Schlaf nicht entbehren könnte, mein Alter, dann würde das Problem der Schreckensnächte noch jetzt ziemlich dunkel sein. So aber ist es bis auf Kleinigkeiten geklärt. – Nein – ich will nicht sagen „Kleinigkeiten“! Immerhin, ich habe schon viel erreicht. – Nachdem Du eingeschlafen warst, verließ ich durch das Fenster das Hotel.“ – Er zeigte auf das linke Salonfenster. Wir wohnten im Seitenflügel nach dem Hotelpark hinaus. – „Ich vermied den Hauptausgang und schritt durch den Park der Seitenstraße zu, denn ich rechnete damit, daß Ralley für uns einiges Interesse haben würde. Du verstehst: spionieren! Ich begab mich nach Detektivinspektor Worblers Privatwohnung und ließ mich melden. Er saß bereits beim Frühstück. Ich erzählte ihm, wie wir Ralley kennengelernt hätten und welchen Eindruck ich von dem Mann erhalten hatte. Worbler war durchaus nicht überrascht. Hier in der Europäerkolonie gilt Ralley für – grob gesagt – verrückt. Auch über seine Schreckensnächte ist schon allerlei durchgesickert. Worbler konnte mir über ihn folgendes angeben. – Lord Stuart Austin Ralley ist tatsächlich der letzte Träger dieses Namens. Er ist jetzt 42 Jahre alt. In England stand er schließlich infolge recht dunkler Geldgeschäfte in so schlechtem Rufe, daß er nach Indien übersiedelte und hier vor anderthalb Jahren persönlich für seine Expedition zur Erforschung der sogenannten Mahanadi-Dschungel Geld sammelte, wobei ihm sein Adelstitel sehr nützlich war. Er soll große Summen zusammen bekommen haben, brach dann auch wirklich von Nagpur mit seiner kleinen Expedition auf und erschien dort wieder nach acht Monaten völlig zerlumpt, halb verhungert und zum Gerippe abgemagert. Was er also über seine Abenteuer erzählt hat, muß zum Teil richtig sein. – Von dem gesammelten Gelde war noch so viel übrig, daß er sich hier in Benares den Bungalow kaufen konnte. Er lebte dann ganz für sich. Die Polizei mußte aber einen Monat nach seiner Niederlassung hier sich mit ihm näher beschäftigen. Er hatte nämlich einen Bettler, einen alten Inder, angeblich aus Unachtsamkeit in seinem Hause erschossen. Der Bettler soll sich in den Bungalow eingeschlichen haben, und Ralley feuerte einen Probeschuß aus einem neuen Revolver auf eine Tür ab, hinter der der Inder stand. Die Untersuchung gegen Ralley wegen fahrlässiger Tötung mußte eingestellt werden, weil der Bettler erwiesenermaßen durch ein Fenster eingestiegen war. Ralleys „englische“ Vergangenheit kam so an den Tag. Die Europäerkolonie schnitt ihn nun, das heißt, man ging ihm aus dem Wege. – Dies alles erfuhr ich von Worbler. Aber – ich erfuhr noch mehr – auf andere Weise! Worbler borgte mir einen Kulianzug und staffierte mich als indischen Lastträger aus. In dieser Aufmachung schleppte ich eine große Kiste, die freilich leer war, nach Ralleys Bungalow. Vor dem Hause ruhte ich mich erst einmal aus. Ralley saß auf der Veranda beim Frühstück. Er sprang jedoch sehr häufig auf, schritt unruhig hin und her und schien sich etwas zu überlegen. Dann war er wohl zu einem Entschluß gelangt. Er verschwand im Hause. Ich rechnete damit, daß er den Bungalow verlassen würde, und zog mich mehr von der Pforte zurück. Nach zehn Minuten erschien er auf der Straße, schaute sich mißtrauisch um und eilte dann dem Postamt zu. Den abgerissenen Kuli mit der Holzkiste hatte er nicht beachtet – Sein Ziel war – nun, rate einmal –“

„Unser Hotel!“ erklärte ich sehr bestimmt.

 

3. Kapitel.

Der Diener.

Harald schüttelte den Kopf. „Nein – nicht sofort ging er hierher. Ich will noch bemerken, daß er ein Paket unter dem Arm trug – ein Päckchen mehr, mit vielen Siegeln.“

„So – dann ging er also zur Post –“

„Richtig. Und er gab das kleine Paket unter Wertangabe „1000 Rupien“ auf. – Als ich den Zweck seines Ganges zur Post erkannt hatte, schrieb ich schnell für Worbler einen Zettel, den ein Polizist ihm sofort bringen mußte. Der Beamte war hierzu sogleich bereit, als ich ihm meinen Namen zuflüsterte. – Meine Kiste stellte ich in einen Hausflur, um sie loszuwerden. So konnte ich Ralley im Auge behalten. Ralley begab sich jetzt ins Eingeborenenviertel und zwar zu einem chinesischen Friseur. Da dessen Laden nach der Straße hin offen war, sah ich, daß der Lord zwei Perücken kaufte, ebenso zwei Bärte –“

„Ah – das ist allerdings interessant –“

„Ja, das ist es. – Während er noch mit dem Chinesen um den Preis feilschte, kehrte ich zu Worbler zurück, der mittlerweile Ralleys Wertpaket bereits polizeilich hatte beschlagnahmen lassen, wie ich dies Worbler geraten hatte – auf dem Zettel. Wir öffneten es gemeinsam. Der Inhalt bestand – nun gib acht und staune! – aus 28 wundervollen Edelsteinen, sämtlich über drei Karat schwer –“

„Donnerwetter!“

„Oh – es kommt noch besser, mein Alter. Das Paket war an

Master Austin Brabazon

Bombay

Hauptpostlagernd

adressiert. Und Worbler erzählte mir nun als Ergänzung zu Ralleys Geschichte, daß dieser Brabazon der Vorbesitzer des Bungalows gewesen, in dem Ralley nun wohnt.“

„Hm – merkwürdig!“ murmelte ich. „Ralley kaufte das Grundstück also von Brabazon.“

„Ja. Und Brabazon, der hier in Benares nur ein halbes Jahr etwa gewohnt hatte, soll nach dem Verkauf des Hauses sich nach England zurückbegeben haben. Ich hielt mich bei Worbler nicht lange auf. Ich hatte mich schnell wieder umgezogen und setzte mich in die Anlagen vor dem Hotel auf eine Bank. Ich brauchte nicht lange zu warten. Ralley hatte seine Einkäufe inzwischen nach Hause gebracht, kam und suchte sich näher dem Hotel zu eine andere Bank aus. Er verbarg seinen Kopf hinter einer Zeitung, beobachtete aber dauernd den Hotelausgang. Ich merkte: er spionierte! Er wollte feststellen, was wir unternehmen würden! – Ich sagte mir nun: Er wird unruhig werden, wenn sich weder Harst noch Schraut blicken lassen; sein schlechtes Gewissen wird ihn schließlich ins Hotel treiben, er wird sich nach uns erkundigen, wird vielleicht sogar bei Euch Einlaß begehren! – Ich eilte daher durch den Hotelpark, kletterte hier durch das Fenster in unseren Salon und traf die Vorbereitungen für Ralleys Erscheinen, schloß die Tür nach dem Flur auf, legte den Zettel für Dich auf den Nachttisch und schloß eine Zeitung unter das Teebrett, in der ich einen Artikel über die Aushebung eines Hehlernestes in dem Dorfe Widpura jenseits des Ganges heute früh zufällig gefunden, hatte.“

„Verstehe!“ rief ich leise. „Der Zettel und diese Zeitungsnotiz sollten Ralley die Überzeugung beibringen, daß Du tatsächlich in Widpura wärest.“

„Sehr richtig. Und in den Kognak tat ich das Betäubungsmittel, weil ich bestimmt erwartete, daß Ralley, falls er überhaupt hier in den Salon zu uns käme, uns auch die Geschichte seiner Schreckensnächte berichten würde – uns oder Dir allein! Und daß diese Schilderung ihn aufregen mußte, durfte ich nach dem heute in der Morgendämmerung vor seinem Hause Erlebten wohl mit Recht vermuten, ebenso, daß Du ihm dann einen Kognak anbieten würdest. Du siehst, was sich hier ereignete, war alles fein berechnet. Ich stand dann dort hinter dem Spinde, mußte aber viel Geduld haben, denn erst nach anderthalb Stunden klopfte es und Ralley trat ein, schlich in das Schlafzimmer, setzte sich dann an den Tisch, zog die Zeitung unter dem Tablett hervor und suchte nach dem Artikel. Mithin hatte er den Zettel auf Deinem Nachttisch gelesen. – Ich spielte darauf den Lauscher. Ralley trank den Kognak und ist nun vorläufig kalt gestellt. – So, nun weißt Du alles. – Was sagst Du zu Ralleys Schreckensnächten? Es dürfte nur wenig hinzugefabelt worden sein. Er spielte nicht Komödie, als er so offenbar beim Erzählen von der Angst gepackt wurde. Das tollste an der Sache ist fraglos die gespenstische Mumie, die ganz nach Belieben den Schrank verläßt –“

„Blech!“ lachte ich auf. „Das hat Ralley hinzugedichtet. Wer weiß, wer mit der Faust gegen die Tür getrommelt und ihn gewürgt hat!“

„Hm – und die Rufe aus dem Schranke?!“

„Natürlich dieselbe Person!“

„Schön – nehmen wir’s an. Aber wer und wozu?!“

Ich zuckte nur die Achseln.

Harald hatte sich eine frische Zigarette angezündet.

„Du machst Dir die Sache sehr bequem, lieber Alter. Du denkst, Harst wird schon dieses „Wer?“ und „Wozu?“ herausfinden. – Gehen wir dem Problem ganz logisch zu Leibe. – Daß die Schreckensnächte, deren Urheber natürlich ein Mensch von Fleisch und Blut ist, einen Zweck haben, braucht nicht weiter erörtert zu werden. – Wer verfolgt nun einen Zweck mit diesen Einschüchterungsversuchen? – Es muß ein Mensch sein, der mit Ralley eine Rechnung glatt zu machen hat, – also ein Feind Ralleys! Die Ursache dieser Feindschaft wieder muß derart beschaffen sein, daß der Betreffende seinen Fall, das heißt den Grund seiner Verfeindung mit Ralley, geheim halten will. Er wagt es nicht, sich an die Behörden zu wenden. Er sucht Ralley durch die Schreckensnächte und den Namen der Göttin Gwinnara zu irgend etwas zu zwingen. Bloße Rache liegt hier nicht vor.“

„Weshalb nicht? Weshalb kann der Betreffende nicht lediglich beabsichtigen, Ralley durch –“

Harst hatte eine kurze Handbewegung gemacht, erklärte nun: „Deshalb nicht, weil die Götzenfigur der Gwinnara in Zentralindien recht berühmt ist, weil sie früher dem Radscha von Patimur gehört hat, dem sie vor zwanzig Jahren gestohlen wurde, und weil dieser Götze fraglos derselbe ist, dessen Oberleib Ralley dann mitnahm. Diese halbe Mumie aber war, wie Du in jeder umfangreicheren Beschreibung indischer Heiligtümer lesen kannst, mit künstlichen Augen, nämlich zwei großen Smaragden, außerdem mit einem Diadem aus Brillanten geschmückt, welches 26 Edelsteine hatte. Zwei Smaragde und 26 Brillanten sind 28 Edelsteine, und genau so viel enthielt das Wertpaket!“

„Ah – ich begreife: Du meinst, Ralley hat diese 28 Edelsteine einem anderen gestohlen –“

Harald schüttelte den Kopf. „Wie er in ihren Besitz gelangt ist, die Frage wollen wir noch offen lassen. Jedenfalls liegt die Wahrscheinlichkeit sehr nahe, daß er von dem Urheber der Schreckensnächte der Steine wegen derart geängstigt worden ist. Vielleicht wollte dieser Unbekannte, der die Polizei genau so zu scheuen hat wie Ralley, diesen zwingen, die Steine herauszugeben.“

„Dann müßte Ralley den Mann kennen!“ warf ich ein.

„Ja – er kennt ihn ohne Frage. Nur jetzt kennt er ihn nicht. Das heißt: der Mann ist so tadellos verkleidet und weiß sich so zu verbergen, daß Ralley nur vermutet, dieser Unbekannte stecke als treibende Kraft hinter den unheimlichen nächtlichen Vorgängen. – Und – dieser Mann muß einer der Diener Ralleys sein! Auf den Gedanken scheint Ralley noch gar nicht gekommen zu sein! Der Mann muß ja ohne Frage leicht Zutritt zu allen Räumen des Hauses gehabt haben. – Deshalb habe ich auch Ralley vorläufig „kaltgestellt“. Wenn er erwacht, werden wir ihm in überzeugendster Weise einreden, daß er einen schweren Ohnmachtsanfall gehabt hätte. Wir werden einen Arzt holen und so weiter. Jetzt aber werden wir uns in Ralleys Bungalow begeben und dort uns umsehen. Ralley hat drei Diener und einen Koch. Einer dieser vier Leute, behaupte ich, ist der Regisseur und Akteur der Schreckensnächte. – Schließen wir unsere Zimmer also ab. Ich werde dem Etagenkellner sagen, daß heute bei uns nicht aufgeräumt werden soll. Vorwärts also! Ich –“

Da klopfte es sehr kräftig. Inspektor Worbler trat ein.

„Harst!“ rief er sofort, „hatten Sie wirklich vor einer Viertelstunde der Edelsteine wegen mich telephonisch angerufen?!“

„Nein! – Wie – hat jemand die Steine abgeholt?! Mir schwant Böses!“

„Es ist so – leider! Zu spät ist der Verdacht in mir aufgestiegen, daß –“

„Ich telephonierte also an Sie – angeblich! –, daß die Steine –“

„– abgeholt werden würden – durch einen Hoteldiener!“ nickte Worbler. „Der Betreffende sprach am Apparat sehr leise. Dann kam ein Inder mit der Binde des Hotels um den Arm. Ich gab ihm auch das Päckchen, das ich versiegelt hatte.“

„Ah – vorwärts denn – hin zu Ralleys Bungalow! Sie müssen sich jedoch nicht mit einmischen, Worbler. Schraut und ich erledigen die Sache allein. Später erfahren Sie alles. Erwarten Sie uns in Ihrem Dienstzimmer –“

Wir nahmen einen Wagen. Derselbe Diener, der uns heute in aller Frühe die Pforte geöffnet hatte, ließ uns ein.

„Dein Herr schickt uns,“ sagte Harald kurz. „Einer von Euch ist vor Stunden weggegangen, nicht wahr?“

„Ja. Es ist Mawrista, der Stumme. Er ist noch nicht wieder heimgekehrt,“ erwiderte der Inder.

„Seit wann ist Mawrista im Hause?“

„Seit drei Monaten. Damals lief ein anderer davon, und mein Sahib stellte Mawrista ein.“

„Was tat Mawrista? – Ihr habt doch jeder seine bestimmte Arbeit.“

„Er säuberte die Zimmer und hielt den Garten in Ordnung.“

„Wo schlief er?“

„Oben in der Bodenstube. Er war ein Dschaina (indische Sekte). Wir anderen Diener glauben an Brahma. Da mußte er allein schlafen.“

Harald warf mir einen Blick zu. – Dieser Mawrista war fraglos der Regisseur und Akteur der Schreckensnächte.

Der Diener führte uns ins Haus. Als wir oben in Ralleys Arbeitszimmer waren, schickte Harald ihn weg. „Wir sollen hier etwas suchen,“ sagte er. „Wenn wir Dich brauchen, läute ich.“

Er schloß dann die Tür ab. – „So, mein Alter, nun können wir uns zunächst mal die Mumie ansehen. –“

Wir betraten das Kabinett. Harst nahm einen Patentdietrich und öffnete den Schrank. Ich hatte ihm geleuchtet. – Der Schrank – war leer!

„Hm – sollte Mawrista etwa auch die Mumie mitgenommen haben?!“ meinte Harald kopfschüttelnd. „Sollte der Fall doch anders liegen, als ich dachte?!“ Er stand eine Weile regungslos, nahm dann einen Stuhl und kletterte auf den großen Schrank.

„Nein – hier liegt zwar Staub,“ sagte er, „es fehlt jedoch jede Spur von –“ Er schwieg plötzlich. „Nur dies lag hier!“ rief er leise und stieg wieder herab.

Er hielt mir einen roh zurechtgefeilten Schlüssel hin, deutete auf den Schrank: „Er wird passen. Versuch’ es nur.“

Ja – der Schlüssel paßte:

„Mawrista wird ihn benutzt haben,“ fügte Harald hinzu. „Nun müssen wir noch feststellen, wie der Dschaina nachts hier hineingelangte.“ – Er schaltete seine Taschenlampe ein. „Da – die Decke des Kabinetts ist ebenfalls getäfelt. Vielleicht liegt die Bodenstube Mawristas gerade über diesem Raum. Gehen wir also hinauf.“

Harsts Vermutung traf zu. Das einfenstrige Stübchen enthielt nur ein paar armselige Möbelstücke. Der Fußboden war mit Bastmatten belegt. – Harald schob sie beiseite. Die Dielen waren schmutzig und rissig. Sehr bald hatte Harst in der Mitte des Stübchens in zwei Dielen zwei Sägeschnitte entdeckt. Die so herausgesägten Stücke ließen sich leicht hochheben. Und die zweite Dielenschicht, die die Decke des Kabinetts bildete, war gleichfalls mit einer feinen Säge zerschnitten worden, so daß man von hier nach unten gelangen konnte. Man brauchte nur einen Strick hier oben irgendwo befestigen, und auch der Rückweg war ermöglicht. –

Harald drückte die Dielenstücke wieder in die Öffnungen hinein. Mawrista hatte durch kleine Nägel ihr Herausfallen verhütet. Diese Doppelluke war sehr primitiv. Aber sie genügte für das, was der stumme Diener damit bezweckt hatte. Die Ränder der Schnittflächen hatte er mit Farbe bestrichen, so daß die Rillen gar nicht bemerkt werden konnten.

Dann durchsuchten wir das Stübchen. In einer einfachen Truhe fanden wir lediglich einige Leinenkleidungsstücke.

Wir gingen wieder nach unten. – Harald öffnete nochmals den großen, tiefen Schrank. Dieser war ganz leer. Als wir nun das Licht unserer Taschenlampen auf den Boden fallen ließen, gewahrten wir gleichzeitig feines gelbliches Sägemehl, das dicht an der Rückwand lag, aber mit einem Tuche oder einer Bürste flüchtig nach den Seiten weggewischt worden war.

Harst stieg nun in den Schrank hinein, nachdem er das unterste Querbrett herausgehoben hatte.

„Ah – hier ist ein künstliches Astloch in der Rückwand hergestellt worden,“ meinte er. „Wenn wir nun noch im Flur in der Mauer ein Loch finden, das bis zu diesem Astloch reicht, wissen wir, wie Mawrista die Mumie rufen ließ, – eben indem er vom Flur aus –“

Da – ich sah, wie der künstliche Ast aus dem Loche der Schrankrückwand herausflog.

Ich hörte fast gleichzeitig eine schrille, hohe Stimme, die aus dem Loche herausdrang:

„Hütet Euch – hütet Euch! Die Göttin Gwinnara wird Euch –“

Harst stieß mich beiseite, lief ins Arbeitszimmer Ralleys, wollte in den Flur.

Aber – die Tür war jetzt von außen verschlossen!

Er rannte ins Schlafzimmer:

Auch hier war die Flurtür versperrt!

„Verdammt!“ entfuhr es Harald. „Der Kerl ist noch im Hause! – Los – sprengen wir die Tür auf!“

Wir warfen uns mit voller Kraft dagegen.

Es half nichts. – Wir versuchten es nochmals.

Die Tür widerstand. –

Harst riß die Clement aus der Tasche.

Peng – peng – peng.

Das Schloß war zerstört. – Noch ein paar Fußtritte, und wir waren im Flur, stürmten zur Treppe.

Zwei Diener kamen uns entgegen. Sie hatten die Schüsse gehört.

„War der Stumme hier?“ fragte Harald hastig.

„Ja, Sahib. Vor ein paar Minuten erst ist er wieder weggegangen –“

Wir rannten weiter – bis auf die Straße. Wir sahen keine lebende Seele. Einsam lag die Straße in der Nachmittagssonnenglut da. –

„Zurück ins Haus!“ meinte Harald. „Der Kerl spielte ein gewagtes Spiel! Er ist als Gegner nicht zu unterschätzen.“

 

4. Kapitel.

Austin Brabazon.

Die Diener mußten wieder unten bleiben. Wir betraten Ralleys Schlafzimmer.

„Da – da!“ rief Harst. „Edelsteine! Ein Smaragd und dreizehn Brillanten!“

Auf der blaßblauen Steppdecke des Bettes lagen die Steine sauber aufgereiht.

Harst schaute mich an. „Der Kerl muß durch einen anderen Eingang sofort ins Haus zurückgekehrt sein! Welche Frechheit! Er hat die Edelsteine hier hingelegt, als wir auf der Straße waren! – Was bedeutet dies nun?! Weshalb gibt er die Hälfte des Raubes wieder preis?! Weshalb?!“

Er starrte die Steine an, als ob sie ihm dieses Rätsel lösen sollten.

Ich selbst war genau so sprachlos! Ich erkannte ja, daß diese vierzehn Edelsteine einen bedeutenden Wert hatten. Was konnte den stummen Inder veranlaßt haben, sie freiwillig herzugeben?! Er hatte doch gewußt, daß wir sie finden würden! Mehr noch: er hatte es gewollt!

Harald nahm jetzt die Steine und steckte sie in die Tasche.

„Meine Theorie über Ralleys Schreckensnächte gerät ins Wanken,“ meinte er. „Ich kann weder diesen stummen Mawrista noch diese Preisgabe der Steine in meine Theorie logisch einfügen. Ich hatte hier die halbe Mumie zu finden gehofft. Sie ist weg! Ich hatte Beweise zu finden gehofft, daß einer der Diener des angeblichen Lord Ralley der echte Ralley sei. Nichts davon! Im Gegenteil: ich muß annehmen, daß dieser Mawrista wirklich ein Inder war!“

Ich blickte Harst verdutzt an. „Der angebliche Ralley?“ fragte ich ungläubig. „Also ist der Mann, der bei uns im Schlafzimmer liegt, gar nicht Lord Ralley?“

„Nein. Es ist nicht Ralley. Es ist – Austin Brabazon, der Vorbesitzer dieses Bungalows!“

„Und – woher weißt Du das?“

„Durch seine Unterschrift. – Brabazon hatte, als er hier als Austin Brabazon dieses Grundstück gekauft hatte, zwei Protokolle auf der Polizei wegen der Verpflichtung der Straßenreinigung vor dem Grundstück unterzeichnen müssen. Und der angebliche Ralley wegen der fahrlässigen Tötung sogar drei. – Ich habe mir von Worbler die Unterschriften zeigen lassen. Und da sah ich sofort, daß ein und derselbe Mensch „Brabazon“ und „Ralley“ geschrieben hatte. Ich wollte mir nur aus den Unterschriften ein ungefähres Bild des Charakters beider Männer machen. Und – es war ein und derselbe, der die beiden Namen unter die Protokolle gesetzt hatte. Brabazon hat nun, während Ralley in den Dschungeln irgendwo gefangen saß, Benares auf drei Wochen etwa verlassen gehabt. Deshalb reimte ich mir zusammen: Ralley raubte aus der Wildnis den Götzen samt den Edelsteinen; und Brabazon wieder nahm ihm den Raub ab und machte ihn stumm – glaubte wenigstens, ihn beseitigt zu haben. Sicher war er seiner Sache nicht. Er ließ sich den Bart blond färben und anders zurechtstutzen, kaufte dann hier als –“

„Gestatte,“ warf ich ein. „Worbler kannte Brabazon doch! Und Worbler hat dann auch den falschen Ralley, also den veränderten Brabazon, vernommen und ihn sprechen gehört! Sollte er da nicht gemerkt haben, daß es nicht ein Lord Ralley, sondern derselbe Brabazon von früher war?!“

„Der Einwand ist berechtigt. Worbler sagte mir, Lord Ralley sei ihm so merkwürdig bekannt vorgekommen. Aber er besann sich nicht, wo ihm ein ähnliches Gesicht schon begegnet war. Wenn Brabazon, was ich annehme, ein gefährlicher internationaler Verbrecher ist, dann versteht er sich eben gründlich zu verwandeln.“

„Und den Inder Mawrista hieltest Du für Ralley?“

„Ja – für Ralley, der die Edelsteine zurückhaben wollte! Aber – es war nicht Ralley! Es war ein Inder, denn die Stimme, die uns durch das Mauerloch zurief „Hütet Euch!“ sprach das Englische ganz wie ein Inder!“

„Allerdings!“ nickte ich. „Das ist richtig! Der Mann war dem Englisch nach kein Brite!“

Harald winkte mir. „Gehen wir in Brabazons Arbeitszimmer. Ich möchte den Schreibtisch durchsuchen. Das ist so ein Riesenmöbel, in dem ganz gut Geheimfächer verborgen sein können.“ –

Während er noch die Schubladen entleerte und beiseite stellte, sagte ich: „Übrigens – das Wertpaket ging ja ebenfalls an Brabazon nach Bombay! Auch ein Beweis, daß Brabazon jetzt hier Ralley spielt!“

„Bitte – gar kein Beweis dafür, mein Alter,“ verbesserte Harst meinen Denkfehler. „Denn Ralley hätte ja eine auf Brabazon lautende Legitimation irgendwie sich angeeignet haben können und dann das Wertpaket ohne weiteres ausgehändigt erhalten.“

„Hm – ich gebe mich geschlagen!“ –

Harald fand nichts von Bedeutung in dem Schreibtisch, nur – Brabazons Niederschrift über seine (oder Ralleys?!) Gefangenschaft und Abenteuer in den Dschungeln.

Wir lasen das Manuskript durch. Es stimmte genau mit Brabazon-Ralleys Erzählung überein.

Harst räumte den Schreibtisch wieder ein.

„Nun bleibt uns noch Brabazon!“ meinte er. „Und den werden wir schon irgendwie hineinlegen! Freiwillig wird er nichts gestehen. Doch – mit List erreicht man alles!“ –

Wir kehrten ins Hotel zurück, nachdem wir festgestellt hatten, daß der Bungalow außer dem Vorder- und Hintereingang noch eine Kellertür an der Seite hatte und das die Kellertreppe so mündete, daß der stumme Mawrista auf diesem Wege wieder in den Oberstock hatte gelangen können.

Harst ließ Brabazon-Ralley dann in einem Krankenwagen nach dem Bungalow bringen. Wir hatten vorher des noch immer Bewußtlosen Haare untersucht. Sie waren gefärbt. In der Nase trug er Stöpsel von rosa Watte, so daß die Nase unten dick erschien. Außerdem hatte er ein falsches Gebiß, dessen Backenzähne nach außen Kautschukplatten trugen, die den Wangen eine besondere Rundung gaben.

Wir fuhren mit nach dem Bungalow. Harst rief einen Arzt herbei, der von ihm eingeweiht wurde.

Der Arzt wandte allerlei Mittel an, bis Brabazon wieder zu sich kam. – Es war inzwischen vier Uhr nachmittags geworden.

Brabazon-Ralley lag auf seinem Bett und blickte verwundert um sich. Der Ausdruck seiner Augen änderte sich rasch. Man sah die Angst darin aufflackern.

„Sie hatten einen bösen Ohnmachtsanfall, Mylord,“ sagte der Arzt. „Master Harst hat Sie hierher schaffen lassen.“

Harald stand am Fußende des Bettes.

„Ein sehr böser Ohnmachtsanfall!“ bestätigte er. „Wie fühlen Sie sich jetzt, Mylord.“

„Ich bin sehr – sehr schwach,“ stammelte der falsche Lord. „Ich möchte schlafen –“

Wir verabschiedeten uns bald. Der Arzt blieb noch. Brabazon dankte uns für unsere Fürsorge und reichte uns die Hand. –

„Er wird nachts auskneifen,“ sagte Harald auf der Straße. „Und dann werden wir feststellen, wo er die Perücken und die falschen Bärte hingebracht hat, die er heute vormittag kaufte. Nach Hause hat er sie nicht getragen. Ich habe die Diener ausgefragt. Mithin hat er hier noch irgendwo einen Schlupfwinkel.“

„Du hältst also an Deiner Theorie fest, daß Brabazon den Lord Ralley um den Raub betrog und daß Ralley noch lebt?“

„Bitte, – daß Ralley noch am Leben ist, kann ich nicht mehr behaupten, nachdem sich ergeben hat, daß Mawrista nicht Ralley ist. Der stumme Inder kann jedoch ein früherer Verbündeter Ralleys sein oder – bitte, fahre fort!“

„Hm – oder vielleicht ein Abgesandter jener Bewohner der Mahanadi-Dschungel, denen der seltsame, zweiteilige Götze gestohlen wurde.“

„Sehr richtig, mein Alter! Ich möchte mich für die erste Annahme entscheiden. – Du siehst, die Einzelheiten des Falles sind noch recht dunkel. Denn – beachte das! –, wenn Mawrista etwa ein Priester des um den Götzen bestohlenen Tempels wäre, was doch immerhin leicht möglich ist, – weshalb hat er dann die Hälfte der Edelsteine auf das Bett gelegt?!“ –

Wir hatten jetzt das Hotel erreicht. Als wir oben in unserem Salon angelangt waren, klopfte es auch schon. Ein Kellner trat ein und meldete uns einen Mr. Robin Tapsal, Besitzer des Fremdenheims Zum heiligen Ganges.

„Der Herr wartet bereits eine halbe Stunde,“ fügte der Kellner, ein Mischling, hinzu. „Er hat aus der Benares-Post von Ihrer Anwesenheit hier Kenntnis erhalten. Darf ich ihn heraufbringen?“

Harald nickte. „Wir lassen Mr. Robin Tapsal bitten.“

 

5. Kapitel.

Der Mieter.

Als der Kellner die Tür hinter sich zugedrückt hatte, sagte Harst halblaut: „Weißt Du, was Tapsal auf dem Herzen hat? Er hat fraglos einen geheimnisvollen Mieter. Vielleicht hat er sogar – die halbe Mumie in dem Zimmer dieses Mieters gefunden!“ –

Mr. Tapsal erschien – klein, dick, keuchend, aufgeregt und harmlos-bieder im Aussehen, Auftreten und in der Sprache. – Sein Fremdenheim (Benares ist seit Jahrzehnten das Ziel ganzer Touristenkarawanen) lag auf einer durch Ufermauern geschützten Halbinsel und war das größte und bekannteste der Stadt.

Dies erzählte Tapsal uns als Einleitung. – Er hätte wohl noch fünf Minuten lang sein Pensionat gelobt, wenn Harald nicht gefragt hätte:

„Sie kommen also wohl eines Dauermieters wegen zu uns, Mr. Tapsal? – Ich will Ihnen gleich erklären, was Ihnen an dem Herrn auffiel. Er wohnt schon längere Zeit bei Ihnen, vielleicht vier Monate, verreist sehr häufig, trägt Vollbart, ist kurzsichtig, weshalb er eine Brille oder einen Kneifer benutzt, ist sehr wortkarg und hat einen Koffer, den er stets sorgfältig verschlossen hält.“

Tapsals Gesicht war jetzt zum Malen. Er hatte den Mund weit aufgerissen, klappte ihn nunmehr geräuschvoll zu und rief:

„Ah – Sie kennen Professor Jobribrax, Mr. Harst! Das beruhigt mich – wirklich, das beruhigt mich sogar sehr! Dann mache ich mir wohl ganz unnötig Sorgen!“

„Nehmen wir an, ich kenne ihn,“ lächelte Harald. „Ich möchte nun Ihre Sorgen hören.“

„Ja – Jobribrax wohnt tatsächlich seit etwa vier Monaten bei mir,“ sagte Tapsal eifrig. „Er ist Privatgelehrter. Er studiert hier indische Altertümer. Aber – ehrlich gestanden, Mr. Harst! – so ganz richtig ist die Geschichte mit dem alten Herrn nicht! Er – er hat so allerlei Heimlichkeiten. Er bekommt nie einen Brief. Meist schläft er jede Woche nur eine Nacht in seinem kleinen Zimmer im Seitenanbau. Es ist das einzige Zimmer, das noch vom Garten einen Zugang, eine eiserne Treppe, hat. Er wollte gerade dieses Zimmer haben. – Sie machen schon eine ungeduldige Handbewegung, Mr. Harst. Natürlich – wenn Sie Jobribrax kennen, wissen Sie ja Bescheid. Aber – was ein Gelehrter mit zwei Perücken, einer blonden und einer schwarzen, und mit falschen Bärten –“

„Weiter – weiter!“ mahnte Harald. „Diese Perücken und Bärte fanden Sie heute, nicht wahr?“

„Ja – heute mittag – in – in – seinem Koffer, Mr. Harst. Ich gebe zu: ich hatte mir zu dem Koffer einen Nachschlüssel besorgt. Ich traute Jobribrax nicht mehr. Er hat mich zu oft beschwindelt, wenn er sagte, er verreise wieder. Ich bin ihm viermal gefolgt. Er ging nur ins Eingeborenenviertel nach dem Wangiprana-Platz, wo der Eingang zu den verfallenen unterirdischen Tempeln ist. Dort verschwand er stets.“

„Was enthielt der Koffer noch? Vielleicht den Oberkörper einer weiblichen Mumie?“

Robin Tapsals Augen wurden groß und rund vor Staunen. „Sie wissen aber auch alles!“ meinte er kopfschüttelnd. „Ja, eine halbe Mumie und – und – das raten Sie nie, Mr. Harst, nie! – Also – noch eine Brieftasche mit Papieren, die auf den Namen –“

„– Brabazon lauteten!“ fügte Harald hinzu. Und zu mir gewandt ganz leise: „Brabazon hat mithin die Mumie weggeschafft – unseretwegen! Wir sollten sie nicht zu sehen bekommen!“ – Dann sagte er wieder zu Tapsal:

„Gehen Sie jetzt nach Hause. Sobald es dunkel ist, werden wir uns bei Ihnen einfinden. Sie lassen uns unauffällig in Jobribrax Zimmer ein. Niemand darf davon etwas erfahren.“

Tapsal verließ uns sehr bald. –

„So,“ meinte Harald, „nun werden wir ja in kurzem Freund Brabazon heimlich beobachten können. – Mir ist da übrigens, was die Rückgabe der Hälfte der Edelsteine betrifft, etwas Neues eingefallen. Ich muß vielleicht meine Theorie abermals korrigieren, lieber Alter. Wenn zum Beispiel Brabazon und Ralley sich schon in England gekannt haben und wenn sie, was den Raub des Götzen angeht, gemeinsame Sache zunächst gemacht hatten, dann läßt sich eine andere Erklärung für die Preisgabe der Hälfte der Edelsteine konstruieren. – Na – warten wir ab. Ich habe jetzt von allen theoretischen Erörterungen über und über genug! Dieser Fall der Schreckensnächte ist mit der komplizierteste, den wir in Arbeit hatten. Hier müssen drei Parteien als Gegenspieler tätig sein, falls – Doch nein, – nun Schluß damit! Ich habe Hunger und will im Speisesaal etwas Musik hören.“

Es war halb zehn geworden. Die ersten Schatten der Nacht krochen über den Hotelpark hin. Harald blickte zum Fenster des Speisesaales hinaus und sagte: „Es wird Zeit –“ – Er machte eine kleine Pause. „– Zeit, den Herrn drüben anzusprechen –“

Jetzt erst schaute ich interessiert von meiner Zeitung auf.

„Welchen Herrn?“

„Den dort – halb links neben der Efeuwand. Sahst Du schon einmal ein so mageres und so gebräuntes Gesicht, dazu eine so schneeweiße Stirn? – Der Herr zeigt für uns beide eine allzu große Anteilnahme. Er hat sich so gesetzt, daß er uns im Pfeilerspiegel beobachten kann.“

„Brabazon?“ fragte ich nur.

„Keine Rede! Man kann ein Gesicht künstlich runden, aber nicht zum Totenkopf machen. – Bitte, stiere nicht so scharf hinüber! – Aha – da haben wir’s!“ rief er ärgerlich und stand schnell auf.

Der Herr hatte den Speisesaal rasch nach den Billardzimmern zu verlassen. Sein Tisch befand sich unweit einer der Glaspendeltüren.

Harst ging sehr eilig durch den Saal. Nach fünf Minuten kam er zurück. Ich sah, daß er mit dem Kellner sprach, der den Herrn bedient hatte. Dann trat er an unseren Tisch.

„Der Mann ist verduftet. Er ist hier unbekannt. Es kann nur der echte Ralley gewesen sein. Schade, daß Du ihn verjagt hast.“ –

Wir suchten unsere Zimmer auf. Ich war sehr kleinlaut. Gegen 10 Uhr fuhren wir nach Herrn Tapsals Fremdenheim, – nicht etwa im Auto, – nein, mit einem Sampan (flaches Ruderboot), das wir an der Eisenbahnbrücke mieteten. Wir hatten die Gewißheit, daß niemand uns nachgeschlichen war. – Wir ließen den braunen Bootsmann am Stege des Pensionats anlegen und befahlen ihm, hier zu warten. – Der Garten war leer. Wir trafen Tapsal im Seitenflügel in der Küche. Er benahm sich recht geschickt, tat, als wären wir alte Bekannte von ihm und führte uns in den Anbau des Gebäudes, klopfte bei Professor Jobribrax erst zur Vorsicht an und schloß dann die Tür auf. Wir traten ein. Harst ließ sich den Schlüssel geben und versperrte die Tür hinter uns. In dem Zimmer herrschte völliges Dunkel. Die Fenstervorhänge waren zugezogen. – Harst nahm seine Taschenlampe, schaltete sie ein und ließ nur einen dünnen Lichtstrahl durch die Finger auf die einzelnen Möbelstücke fallen. Man konnte sich hier nur schwer irgendwo verstecken. Nur die Fensterportieren eigneten sich hierzu. Wir stellten uns denn auch hinter die breiten Portieren. Da vor dem Fenster ein Diplomatenschreibtisch stand, brauchten wir nicht zu fürchten, daß man unsere Stiefel bemerken würde.

Nun war es wieder ganz still im Zimmer.

Eine Uhr schlug irgendwo im Hause die elfte Stunde. – Ich hatte mich halb auf das Fensterbrett gesetzt. Ich lauschte lediglich auf das Geräusch, das ein ins Schloß eingeführter Schlüssel verursachen mußte. Aber – Brabazon erschien nicht!

Es wurde Mitternacht. Dieselbe Uhr schlug zwölf.

Noch ein paar Minuten, dann – machte sich jemand an der Tür nach der eisernen Gartentreppe zu schaffen. Der Betreffende wollte die Tür mit einem Dietrich öffnen. Er probierte eine ganze Weile, bevor er sie geöffnet bekam. Er trat ein, schloß wieder ab.

Ich hatte schon vorher in die weitmaschig gewebte Portiere ein kleines Loch in Augenhöhe gebohrt. – Ein Lichtstreifen irrte durch das Zimmer. Der Eindringling war nur als dunkler Schatten hinter der Lichtquelle zu bemerken. Er schlich nach der gegenüberliegenden Wand und – kroch unter das Bett. Der helle, weiße Streifen erlosch wieder.

Stille wie zuvor. – Nun atmeten drei Männer in diesem Zimmer, drei, die auf Brabazon warteten. – Wer war der Eindringling?! War es Ralley, war es der stumme Mawrista?! – Und wieder schlichen die Minuten hin. Wir durften uns nicht rühren. Mir schliefen die Beine ein. Ich war müde zum Umsinken.

Die Uhr schlug halb zwei. Da – im Flur Stimmen – Inspektor Worblers tiefes Organ – das noch tiefere des dicken Herrn Tapsal. – Es klopfte kräftig gegen die Tür. Worbler rief: „Mr. Harst – öffnen Sie!“

Harald hatte, wie ich noch erwähnen muß, im Hotel dem Direktor Bescheid gesagt, wo wir zu finden seien. Wir regten uns nicht. Harst hatte den Arm ausgestreckt und drückte meinen Arm. Das hieß: Stehen bleiben!

Der Mann unterm Bett huschte zur anderen Tür, wollte hinaus.

Harald kroch ihm nach – auf allen Vieren. Dann ein halb unterdrückter Schrei.

„Licht!“ rief Harst. – Ich schaltete die Taschenlampe ein. Er hatte den Mann bei den Handgelenken gepackt. Es war der Totenkopf aus dem Speisesaal des Hotels.

„Lord Ralley,“ sagte Harald, „Sie werden sich zu einem Geständnis bequemen müssen!“

Ich hatte auf Harsts Wink bereits die Tür aufgeschlossen. Worbler und Tapsal traten gerade ein, als der braune Totenkopf, der eine Sportmütze tief über die Augen gezogen hatte, erwiderte:

„Mein Geständnis wird sich darauf beschränken, daß ich Lord Ralley bin. Weiter werden Sie nichts von mir erfahren – nichts!“

Worbler hatte die elektrische Krone angedreht.

„Mr. Harst,“ erklärte er überstürzt, „dies ist doch nicht Lord Ralley! Ralley ist tot – ist erwürgt worden. Vor etwa zwei Stunden kam einer seiner Diener zu uns gestürzt auf die Polizeidirektion. – Ralley hatte gellend aus seinem Schlafzimmer um Hilfe gerufen. Als der Diener dort eindrang, lag Ralley tot auf der Schwelle zu dem Kabinett. Ich erfuhr im Hotel, daß Sie hier zu Tapsal gegangen waren. – Wie verhält es sich nun mit diesem Mann da?“ Und er deutete auf den Lord.

„Dieser Mann ist Ralley, lieber Worbler. Der Ermordete ist Austin Brabazon. Die Schreckensnächte Ralleys hat in Wahrheit Brabazon durchgemacht.“

Harald ging in die Zimmerecke, wo auf einem Gestell des angeblichen Professors Koffer stand. – „Ah – die Schlösser sind erbrochen!“ rief er und klappte den Deckel hoch, wühlte in dem Koffer, fügte hinzu: „Die Mumie ist weg – gestohlen! Das kann nur Mawrista, der geheimnisvolle Diener, gewesen sein! Er muß kurz vor uns hier eingedrungen sein. Wir sind zu spät gekommen!“

Lord Ralley hatte sich jetzt in einen Sessel gesetzt, spielte den Gleichgültigen. Sein mageres, unsympathisches Gesicht leuchtete vor Hohn.

Harald wandte sich ihm zu. „Geben Sie die vierzehn Edelsteine heraus, Mylord, die Sie gestern so schlau als Inder und Hoteldiener Inspektor Worbler abgeschwindelt haben. Im ganzen waren es 28 Stück. – Sie zucken die Achseln! Sie scheinen eine Durchsuchung nicht zu fürchten. Dann haben Sie die Steine anderswo verborgen.“

„Ich weiß nichts von Edelsteinen,“ lachte Ralley.

„Stehen Sie auf!“ befahl Harst kurz. – Ralley erhob sich.

„Ihre erkünstelte Gleichgültigkeit und dieses den ganzen Umständen so wenig entsprechende Platznehmen im Sessel dürfte –“

Dabei hatte er Ralley zur Seite gedrängt und das Sitzkissen des Rohrsessels aufgehoben.

Da lagen die vierzehn Edelsteine – funkelten, sprühten, warfen farbige Lichtbüschel. –

Ralleys Gesicht hatte einen verlegenen, hilflosen Ausdruck angenommen. – „Ihnen entgeht man nicht, Mr. Harst,“ sagte er leise. „Ich will alles gestehen, soweit ich eingeweiht bin. – Brabazon hatte mir, seinem alten Bekannten, einen Brief nach England geschrieben und mir den Vorschlag gemacht, das Götzenbild der Gwinnara zu rauben, von dessen Versteck in den Mahanadi-Dschungeln er durch einen Zufall Kenntnis erhalten hatte. Meine Expedition rüstete ich nur zum Schein aus. Brabazon und ich trafen uns dann weit südlich von Nagpur. In den Dschungeln wurden wir überfallen und getrennt in tiefe Felslöcher eingesperrt. Brabazon entfloh. Auch mir gelang später die Flucht. Ich wollte Brabazon, der als Ralley hier wieder aufgetaucht und somit von sich selbst den Bungalow gekauft hatte, um für alle Zeit als Brabazon zu verschwinden, nachts aufsuchen. Brabazon wurde nämlich von der englischen Polizei steckbrieflich verfolgt. In[1] Wirklichkeit hieß er Alfred Broban. Ich war bis vor den [Eingang gelangt, als ich Lärm aus dem oberen Fenster ver][2]nahm. Ich kletterte auf das Dach der Veranda und spähte in sein Schlafzimmer hinein. Broban saß aufrecht im Bett und – schoß auf die Tür, die dem Bett gegenüberliegt. Ich entfernte mich lautlos. Ich begriff nicht, was sich dort abspielte. Zwei Tage später sprach ich Broban in der Eingeborenenstadt an. Er erzählte mir, daß offenbar ein Priester des Gwinnara-Tempels hinter ihm her sei und daß er für alle Fälle noch als Professor Jobribrax hier ein zweites Quartier hätte; ich solle auf keinen Fall mich ihm nochmals nähern, sondern auszuspionieren suchen, wer dieser Priester wäre, der seine Nächte durch allerlei höllische Mittel zu Stunden der Qual mache. – So versuchte ich mich denn als Detektiv. Gestern sah ich Broban zur Post gehen, beobachtete auch, daß Inspektor Worbler das Wertpaket beschlagnahmte, listete die Edelsteine ihm wieder ab und wollte die Hälfte davon Broban aushändigen, um dann sofort zu fliehen. Ich sah Sie und Ihren Freund auf die Straße eilen und –“

„Schon gut,“ nickte Harst. „Weshalb kamen Sie denn jetzt hierher, Mylord? Sie wollten doch fliehen.“

„Ich hatte es mir anders überlegt, Mr. Harst. Ich rechnete bestimmt damit, daß Broban ebenfalls zu flüchten gedachte und hierher kommen würde. Er verstand es besser als ich, das Äußere eines Menschen zu verwandeln. Und – ich mußte auf eine tadellose Verkleidung bedacht sein, da – jetzt auch mir mehrere Leute sich an die Fersen geheftet haben – alles Inder, alles offenbar Abgesandte der Priesterschaft des kleinen Gwinnara-Tempels. – Ich betone, daß ich die Wahrheit spreche, Mr. Harst. Sie brauchen nicht an meinen Worten zu zweifeln.“

„Das tue ich auch nicht, Mylord. Ich glaube Ihnen. Die Schreckensnächte Brabazon-Brobans haben einen tragischen Abschluß gefunden. Brobans Mörder mag die Polizei suchen. Für mich ist der Fall erledigt.“ –

So sprach Harald Harst in jener Nacht um zwei Uhr morgens. Gleich darauf war er anderer Meinung. Weshalb er seinen Entschluß umstieß, berichte ich im „Stummen Diener“.

 

 

Der stumme Diener.

 

1. Kapitel.

Der Schuß durchs Fenster.

Zwei Uhr morgens. – Die Uhr im Pensionat Mr. Tapsals hatte gerade geschlagen. Und gerade hatte Harald Harst gesagt:

„Der Fall ist für mich erledigt –“,

als die Fensterscheibe der Tür nach der Treppe hin klirrend zersplitterte.

Gleichzeitig draußen der Knall eines Schusses, und den Bruchteil einer Sekunde später der Todesschrei Lord Ralleys:

„Ich bin getroffen!“

Ralley taumelte mir in die Arme. Ich fing ihn auf. Worbler griff mit zu. Wir legten ihn auf das Bett.

Harald hatte bereits die Scheibe der Tür vollends zertrümmert und den Oberleib durch den Rahmen des Türfensters gezwängt.

Draußen schien der Mond. Die Sternenpracht des tropischen Nachthimmels vereinte ihr Licht mit dem des Nachtgestirns.

Harsts Clementpistole schickte Ihr blechernes Peng – Peng – in den stillen Garten hinaus.

Er hatte offenbar auf den fliehenden Meuchelmörder geschossen. Jetzt riß er das andere Fenster auf und sprang hinaus. – Ich überlegte nicht lange und folgte ihm.

Er rannte den schmalen Weg zwischen den Büschen entlang, der in den Hauptweg einmündete. Er hatte etwa zwanzig Meter Vorsprung. Als ich den Hauptweg erreicht hatte, konnte ich bis nach dem Flusse und dem Bootssteg den breiten, kiesbestreuten Pfad entlangschauen.

Ich sah Harald in langen Sätzen vorwärtsjagen; ich sah auch den Mann, den er verfolgte: einen Inder mit Turban und hellem Leinenanzug.

Der Inder lief unsicher. Aber er war weit voraus. Er schien jetzt in ein Boot zu springen.

Harst hatte den Steg nun gleichfalls erreicht. Er drehte um und winkte mir. Ich war bereits völlig außer Atem.

Harald kettete ein Boot los – keinen flachen Sampan, sondern ein zierliches Ruderboot mit Rollsitzen.

Der Flüchtling hatte unseren Sampan genommen. Unser Bootsmann war verschwunden.

Der Sampan wurde von dem Inder mit kräftigen Ruderschlägen der Mitte des hier 800 Meter breiten Ganges zugetrieben.

Wir stiegen in das leichte Boot.

„Steuere!“ rief Harst. „Wir holen ihn ein!“

Er nahm die beiden Ruder, steckte die Fußspitzen in die Lederschlaufen.

Der Rollsitz war gut geölt. Und Harst verstand zu rudern.

Das leichte Boot hob sich bei jedem Ruderschlag förmlich aus dem Wasser.

Der Flüchtling stand hinten im Sampan aufrecht. Er arbeitete wie verzweifelt, blickte sich des öfteren um.

Sein Vorsprung verringerte sich zusehends.

„Wir haben ihn bald!“ frohlockte ich.

„Er hat eine Kugel im Schenkel,“ keuchte Harst. „Sollte der Kerl Miene machen sich zu widersetzen, knalle ihn nieder!“

Der Fluß war wenig belebt. Ein paar Frachtdampfer stampften in der Ferne der Eisenbahnbrücke zu. Das Geräusch ihrer Maschinen war deutlich zu hören.

An ankernden großen Frachtkähnen ging die Jagd vorüber – an einem langen Holzfloß, an einem Wohnboot. Überall schliefen die Leute.

Dann von links her ein rollendes Rattern – verschwommen wie das Arbeiten eines Motors, der im Keller eines Hauses arbeitet.

Ein langes, dunkles Motorboot war’s. Es schoß hinter dem Wohnschiff hervor, hielt auf den Sampan zu.

Harald hatte den Kopf gedreht.

„Dreißig Meter, – schieß’ auf den Benzinkahn, Schraut, – los – schieße auf die Mitte der Bordwand!“ rief er. „Vielleicht triffst Du den Motor. Sonst entkommt der Kerl uns!“

Da – auf dem Motorboot war kein Mensch zu sehen – da blitzte es aus dem Oberlichtfenster des Kajütaufbaus grell auf.

Ein Schuß. – Und der Mann im Sampan ließ das Ruder fallen, breitete die Arme aus, sank lautlos in die trüben Gangesfluten.

Das Motorboot beschrieb einen Bogen.

Ich drückte ab. Alle neun Schuß opferte ich.

Das Boot ratterte weiter.

Harst hatte die beiden Ruder eingezogen, hatte die Clement in der Hand, sagte:

„Jetzt gilt’s für uns! – Rasch – wechsle den Patronenrahmen aus. Das Motorboot wendet und hält auf uns zu!“

Ich riß den leeren Rahmen heraus, schob einen anderen hinein, spannte den Selbstlader.

Das dunkle, lange Boot jagte von links auf uns zu. Harald nahm das eine Ruder in die Linke.

„Es geht ums Leben, mein Alter!“ rief er leise. „Lord Ralley hat ganz recht gehabt: es sind mehrere, die es auf ihn und Brabazon-Broban abgesehen hatten! Ich werde unser Boot im letzten Moment so dirigieren, das die Bande uns nicht rammen kann. – Schieß’ auf die Oberlichtfenster –“

Der Feind nahte.

Fünfzehn Meter – zehn – fünf –

Harst tat zwei Schläge mit dem Ruder.

Und haarscharf sauste der Feind an uns vorbei.

Peng – Peng – Peng.

Unsere Schüsse folgten einander wie das Ticken zweier Uhren.

Ein dumpfer Schrei aus der Kajüte. Das Glas der Fenster splitterte.

Die Gefahr war überstanden. –

„Einer hat doch einen Denkzettel gekriegt!“ sagte Harst dumpf. „Der Fall „Ralley“ wird in seiner Fortsetzung etwas blutig! Nun – unsere Schuld ist es nicht!“

Wir schauten dem Motorboot nach. Es verschwand nach Osten zu in den milchigen Schleiern der Mondnacht.

Wir kehrten zum Anlegesteg zurück. Wir wurden von den Flößern angerufen, ebenso von den Leuten der Frachtkähne. Wir jagten vorüber.

Worbler wartete auf dem Stege.

„Ich habe alles beobachten können,“ meinte er, als er Harst die Hand hinstreckte und ihn auf den Steg zog.

Auch mir half er, fuhr fort: „Ralley ist tot – Herzschuß! – Eine unglaubliche Geschichte! Das scheint ja eine ganze Bande zu sein. Sogar ein Motorboot!“

„Ja – und das Motorboot sollte den Mann im Sampan aufnehmen. Es lauerte hinter dem Wohnboot. Also ein gut vorbereitetes Attentat, lieber Worbler.“

Harald erneuerte dabei den leeren Patronenrahmen seiner Clement.

„Jetzt zu Brabazons Bungalow!“ fügte er hinzu und schritt schon den Hauptweg entlang.

Worbler und ich gingen hinterdrein. – „Ich habe den Erwürgten im Schlafzimmer liegen lassen wie er lag,“ meinte der Inspektor. „Sie finden also alles unverändert vor, lieber Harst. Der Fall Ralley ist nun also doch für Sie noch nicht erledigt –“

„Nein. Denn ich ahne hier Zusammenhänge, die uns bisher völlig verborgen geblieben sind, Worbler. Außerdem trachtet man Schraut und mir nach dem Leben! Das – das genügt für mich, die Sache weiter zu verfolgen.“ –

Das ganze Pensionat war jetzt erleuchtet. Aus den Fenstern neigten sich notdürftig angekleidete Gäste und riefen Mr. Tapsal allerlei zu, der nervös vor der Veranda hin und her lief.

Er kam auf uns zugeeilt. „Worbler, schaffen Sie mir die Leiche aus dem Hause,“ bat er. „Sonst ist das Pensionat morgen leer –“

„Wird geschehen. In einer halben Stunde herrscht hier wieder Ruhe,“ sagte der Inspektor und klopfte dem Dicken auf die Schulter.

Wir gingen noch schnell in das Zimmer des angeblichen Professors Jobribrax. Harst durchsuchte es, ebenso den Koffer und die Taschen des toten Lords. Wir – Worbler und ich – halfen. Wir fanden nichts und verließen das Haus, trafen ein leeres Mietauto und fuhren nach dem Bungalow.

An der Pforte wachte ein Polizeibeamter, genau so an der Haustür und vor der Tür des Schlafzimmers.

Wir traten ein. – Der Tote lag auf dem Rücken, mit den Schultern auf der Schwelle zum kleinen Kabinett.

Die elektrische Deckenlampe brannte, ebenso die Beleuchtungskörper im Kabinett und im Arbeitszimmer.

Harst kniete neben dem Erwürgten.

Das Gesicht der Leiche drückte mehr wildeste Rachgier als Angst und Entsetzen aus. Am Halse zeichneten sich die Spuren der Finger deutlich ab.

Harald faßte dem Toten in den halb geöffneten Mund und wollte das künstliche Gebiß herausnehmen.

Wollte! – Brabazon hatte ja ein künstliches Gebiß gehabt!

„Das ist nicht Brabazon-Broban,“ sagte Harst und schaute uns an. „Das ist ein Europäer, den Sie, lieber Worbler, notwendig für Brabazon halten mußten, weil Sie ihn hier fanden und weil das aufgedunsene, verfärbte Gesicht eines Erwürgten kaum wiederzuerkennen ist.“

Er beugte sich dann noch tiefer über den Toten und befühlte die Stellen, wo an den Wangen Teile des angeklebten Bartes haften geblieben waren.

„Dieser Bart war noch nicht lange angeklebt,“ fügte er hinzu. „Der dazu benutzte Klebstoff ist noch feucht.“

Er knöpfte die Weste auf, legte die Brust frei.

Dann winkte er uns.

„Da,“ – er deutete auf einen winzigen roten Fleck in der Herzgegend – „der Mann ist mit einer Nadel erstochen worden. Erst dann hat man ihn zum Schein erwürgt. Es mag noch Leben in dem Körper gewesen sein. Die Todesursache ist der Stich.“

Er richtete sich auf. „Worbler, rufen Sie die Diener herein. Ich möchte sie etwas fragen.“

Die drei Leute traten zögernd ein.

„Besitzt Euer Sahib einen solchen Anzug?“ lautete Harsts erste Frage.

Sie verneinten, und der eine fügte hinzu: „Aber der weiße Sahib, der unsern Herrn gegen neun Uhr abends besuchte und der gegen halb elf wegging, war so angezogen. Nur war er bartlos.“

„Wie nannte dieser Sahib sich?“

Ein anderer der Diener erwiderte:

„Ich war es, der ihm die Gitterpforte öffnete. Der Sahib befahl mir, ich solle Mr. Broban melden.“

„Broban?!“ rief der Inspektor. „Broban?!“

„Ja. Der Name lautete bestimmt so.“

„Und was sagte Dein Herr, als Du diesen Mr. Broban ihm meldetest?“ fragte Harald.

„Er lachte –“

„Wie lachte er?“

Der Diener überlegte erst.

„Wie jemand, der sich über einen Besuch ärgert und denkt: Ich lasse Dich bald hinauswerfen!“

„So – so. – Also höhnisch und – rachsüchtig.“

„Ja, so war’s, Sahib Harst.“

Harald schickte die Diener wieder weg.

„Es ist kaum zu bezweifeln, daß Brabazon diesen Fremden, der sich als Broban einführte und den Brabazon genau gekannt haben muß, getötet hat. Er ermordete ihn, klebte ihm den Bart an, setzte ihm die Perücke auf und rechnete damit, daß der Betrug nicht sogleich entdeckt werden würde.“

„Dann hat also Brabazon die Hilferufe ausgestoßen, die die Diener herbeilockten,“ meinte Worbler.

„Ja. Brabazon tat’s, als der Mann hier schon tot auf der Schwelle lag. Dann floh er, bevor die Diener eindrangen.“

„Hm – aber der tote Broban ist doch um ½11 wieder fortgegangen, erklärte der eine Diener.“

„Gewiß. Er verließ das Haus. Und Brabazon wird ihm sehr bald wieder die Pforte geöffnet haben, oder – der Mann kehrte heimlich zurück. Letzteres nehme ich jedoch nicht an.“

„Weshalb nicht?“

„Der Todesursache wegen. – Wäre der Fremde heimlich hier wieder eingedrungen, hätte sich[3] Brabazon kaum eine so lange, dünne Nadel hervorsuchen können, um dann den Mann zu erstechen. Nein – die Nadel legte er bereit, während der Fremde von dem Diener wieder gegen ½11 zur Pforte geführt wurde oder bis er – Brabazon – den Mann wieder einließ.“

„Hm?!“ machte Worbler zweifelnd.

Harald sah sich jetzt im Zimmer um, ging dann ins Arbeitszimmer hinüber. Wir folgten ihm.

Hier stellte er sich vor den ovalen Tisch, der vor dem Bambussofa mit den bunten Kissen stand. Zwei Korbsessel waren weit von dem Tische abgerückt, auf dem eine gelbseidene gestickte Decke lag.

„Worbler, was sehen Ihre Polizeiaugen?“ fragte Harst leise.

Der Inspektor und ich schauten nun gleichfalls auf die Tischdecke. In der Mitte lag eine Nummer der Benares-Post flach ausgebreitet.

Worbler wollte die Zeitung aufheben.

„Halt!“ rief Harst. „Sie verwischen ja die Spuren!“

Der Inspektor beugte sich tiefer.

„Vier Tropfen sehe ich,“ sagte er bedächtig. „Es scheint Likör zu sein –“

„Ja – ein grüner Likör! Und die vier Tropfen liegen zu je zwei neben einem schwach glänzenden feuchten Ringe, nämlich dem Abdruck des feuchten Fußes zweier Likörgläser.“ – Harst schritt schon bei den letzten Worten auf ein Schränkchen zu, das in der einen Ecke stand. Es steckte ein Schlüssel darin. Es war ein Likörschrank, der fünf Flaschen und ein Gestell mit sechs Gläschen enthielt. – Harald brachte eins der Gläschen und probierte, ob der Fuß auf den Ring paßte.

„Sehen Sie, Worbler, die beiden haben Chartreuse-Likör[4] miteinander getrunken,“ meinte Harst. „Vielleicht erst nach der Rückkehr des Fremden, der sich Broban nannte, und vielleicht hatte Brabazon den Likör etwas präpariert.“

Er schob den Tisch weit zur Seite. Auf den Dielen lag ein großer echter Afghanteppich von dunkelroter Hauptfarbe.

 

2. Kapitel.

Der Stumme.

„He – was suchen Sie auf dem Teppich, Harst?!“ rief Worbler. „Hinter Ihre Spitzfindigkeiten mag –“

„Bitte!“ unterbrach Harald ihn. „Hier sind zwei nasse klebrige Stellen dicht am Sofa – hier und hier!“ Er fuhr mit dem Finger darüber hin. „Diese Flecke sind so groß, daß sie sehr gut von einem heimlich unter den Tisch gegossenen Likör – oder besser von zwei Likören – herrühren können, denke ich. Wenn Brabazon in die Chartreuse-Flasche Gift hineingetan hatte, dann – dann mußte er eben die Gläschen unter den Tisch entleeren. – Suchen wir die Chartreuse-Flasche.“

Aber – in dem Schränkchen gab es keinen Chartreuse.

„Dann mal in Brabazons Badezimmer,“ meinte Harald.

Es lag neben dem Schlafzimmer und war mit diesem durch eine Tapetentür verbunden.

Hinter der Badewanne fand Harst eine leere Likörflasche ohne Schildchen. Aber in das Glas war in erhabenen Buchstaben mit eingegossen der Name „Chartreuse“.

Die Flasche war offenbar mit Wasser sorgfältig ausgespült worden.

„Donnerwetter!“ brummte Worbler. „Haben Sie einen feinen Riecher, Harst! Der Brabazon wird den Fremden wohl tatsächlich erst vergiftet oder betäubt haben.“

„Nicht Gift, – ein Betäubungsmittel, Worbler. Gift hätte man bei der Sektion nachweisen können. Das wollte Brabazon sicherlich verhüten. Er ahnte nicht, daß ich sein Geheimnis kannte – daß er nicht Ralley war und ein falsches Gebiß trug! Er wollte eben für die Welt als Ralley tot sein.“

„Und der Tote, der Broban?“

„Da fragen Sie zu viel, Worbler. Ich habe keine Ahnung, wer es sein mag. Jedenfalls aber ein Bekannter Brabazons. Und dieser Bekannte wußte, daß Brabazon ihn sofort empfangen würde, wenn er sich als Broban melden ließ. Mithin muß der Mann Brabazon sehr gut, eben als „Broban“ gekannt haben.“

Wir kehrten in das Schlafzimmer zurück.

Harst durchsuchte jetzt die Taschen des Toten.

„Überflüssig!!“ meinte Worbler. „Das habe ich schon getan. Völlig leer –“

Harald ließ sich nicht stören. Nach einer Weile richtete er sich auf, sagte:

„Sie haben recht, Worbler: leer! – Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Schraut und ich werden hier Wohnung beziehen und zwar von sofort. Lassen Sie den Toten abholen und verbreiten Sie folgendes zur Irreführung der Leute, auf die wir jetzt Jagd machen: Schraut und ich hätten Sie gebeten, den Bungalow beziehen zu dürfen, da wir hier ruhiger als im Hotel wohnen. Harst hätte die 28 Edelsteine, die Lord Ralley nach Bombay schicken wollte, vorläufig an sich genommen, bis die Behörden eben entschieden hätten, was mit den Steinen geschehen solle. – Die Öffentlichkeit soll also annehmen, der im Pensionat Tapsal Erschossene sei Brabazon, und dieser Tote hier Ralley. – Sie müssen also auch Tapsal erzählen, ich hätte mich täuschen lassen. Der Erschossene sei nicht Ralley, sondern Brabazon. – Ich kenne Sie, Worbler. Sie werden den Schwindel schon geschickt inszenieren.“

„Das werde ich. Es ist eine Kleinigkeit. Aber – der Zweck?“

„Der Zweck ist einleuchtend: die Leute, die hinter der halben Mumie her sind, sind nicht minder begierig auf die Diamanten. Also werden sie versuchen, die Edelsteine mir zu stehlen.“

„Ah – begreife schon! Ein Lockmittel also!“ schmunzelte Worbler. „Gute Idee, lieber Harst! Meinerseits wird alles geschehen, was Ihren Plan fördern kann.“ –

Um fünf Uhr morgens waren wir beide in den drei Räumen im Oberstock des Bungalow allein.

Die Diener wollten bei uns bleiben. Wir ließen aus einem anderen Zimmer noch einen Diwan in das Schlafzimmer bringen und legten uns dann sofort nieder, um ein paar Stunden zu schlafen. – Wir hatten die Türen verschlossen und noch Möbelstücke davor gestellt. Harald meinte, Vorsicht sei hier sehr geboten. Mich beunruhigte das Loch in der Decke des Kabinetts etwas – jener Zugang, den der stumme Mawrista sich von seiner Stube nach unten geschaffen hatte. Harst jedoch sagte, heute hätten wir noch nichts zu fürchten, was mit dem Loche zusammenhängen könnte.

Wir schliefen bis gegen zwölf Uhr mittags, badeten und nahmen auf der Veranda das Frühstück ein.

Einer der Diener brachte uns ein Extrablatt der Benares-Post. – Worbler hatte sehr geschickt seine Märchen ausgestreut. Das Publikum wußte nun scheinbar alles. Leider aber – nicht das Richtige!

Harst lächelte beim Lesen sehr zufrieden. „Nun kann der Tanz losgehen,“ meinte er.

Und – der Tanz begann sehr bald. –

Der Diener Barug Singh, ein älterer Mann, erschien und stotterte ganz fassungslos:

„Sahib Harst, Mawrista ist wieder da –“

Das war in der Tat eine Überraschung.

„Führe ihn her,“ befahl Harald gleichmütig.

Barug Singh schob kopfschüttelnd ab.

„Was bedeutet das nun wieder?!“ flüsterte ich.

„Keinen Schimmer, mein Alter! Keinen Schimmer! Jedenfalls ist’s wohl der Auftakt zu größeren Dingen!“

Mawrista und der Alte betraten die Veranda.

Mawrista, der stumme Diener, war ein schlanker, kräftiger Inder mit langem schwarzen Bart, etwa 35 Jahre alt, hatte ein sehr intelligentes Gesicht und zeigte sich nicht im geringsten scheu oder verlegen.

Er kreuzte die Arme über die Brust, verneigte sich tief und hielt Harst dann einen Zettel hin, auf den er in leidlichem Englisch geschrieben hatte:

„Behalte mich bei Dir, Sahib, es wird Dir von Nutzen sein.“

Harsts große, graue Augen ruhten eine ganze Weile forschend auf dem leidenschaftslosen, verschlossenen Asiatengesicht Mawristas.

Der Blick des Inders wich diesen Augen nicht aus, vor denen schon die abgebrühtesten Verbrecher verlegen die Lider gesenkt hatten. Etwas wie Selbstbewußtsein und stolze Überlegenheit erschienen darin. – Daß Mawrista kein gewöhnlicher Priester dieser Gwinnara-Sekte war, konnte man bei einiger Menschenkenntnis sehr bald herausfühlen.

Harst schickte Barug Singh, der noch abwartend im Hintergrunde stand, weg und sagte dann zu dem Stummen:

„Folge uns!“

Wir gingen in die Bodenstube nach oben. Harald schloß die Tür hinter uns ab und schob den Bastteppich beiseite, nahm die herausgeschnittenen Dielenstücke aus der Öffnung und fragte den Stummen:

„Hast Du diesen Weg nach unten angelegt?“

Mawrista nickte und verbeugte sich. Er war auch jetzt nicht verlegen geworden.

Dann faßte er in die Tasche seines Leinenanzuges und holte einen Notizblock hervor, schrieb:

„Hilf mir, Sahib, die obere Hälfte der Göttin zurückzuerlangen, und schweige! – Ich bin nur stumm. Nicht taubstumm. Ich habe weder Brabazon noch Lord Ralley getötet. Ich las das Extrablatt und sagte mir, daß es besser sei, ich ginge zu Dir. Du und Dein Freund werdet meiner bedürfen. Es sind ihrer viele, die Euch nach dem Leben trachten, um vor Euch sicher zu sein.“

Mawrista glaubte also gleichfalls, daß der Erwürgte Lord Ralley wäre.

„Du gibst zu, Deinen jetzt ermordeten Herrn in einer bestimmten Absicht in Angst versetzt zu haben?“ forschte Harald weiter.

Wieder schrieb der Inder:

„Ja, Sahib. Die Göttin gehörte mir. Er sollte sie und die Edelsteine, die er so gut versteckt hatte, daß ich sie nicht fand, herausgeben.“

„Gut,“ meinte Harald. „Du darfst bleiben. – Wer sind die, von denen uns nachgestellt wird?“

Mawrista schüttelte den Kopf, überlegte und schrieb:

„Es sind Europäer, Sahib. Aber sie sind sehr schlau. Sie wohnen irgendwo auf dem Flusse.“

Das hieß also: in einem Wohnboot!

„Wann wurdest Du auf sie aufmerksam?“ forschte Harst weiter.

„Erst vorgestern,“ kritzelte Mawrista eilig hin. „Sie waren als Inder verkleidet und umschlichen Ralleys Bungalow. Einer von ihnen stahl auch die Mumie. Es war gestern gegen zehn Uhr abends, als der Mann in das Zimmer des Pensionats Tapsal eindrang, wohin Ralley die Mumie geschafft hatte. Er lief mit der Mumie durch die Büsche zum Bootssteg, wo dasselbe Motorboot wartete, das Euch, Sahib Harst, rammen wollte. In dem Motorboot waren noch vier Männer. Ich bin ihnen nachgerudert. Das Motorboot verschwand in einem Seitenarm des Ganges, an dessen Ufern nur Wohnschiffe liegen. Mehr weiß ich nicht.“

Harald hatte sich an die Tür gelehnt. Sein Blick ruhte versonnen auf dem kleinen Fenster des Stübchens.

Dann befahl er kurz: „Hole einen Hammer und lange Nägel, Mawrista.“ – Er schloß die Tür auf. Der Inder eilte davon.

Harst wandte sich mir zu.

„Mawrista lügt nicht. Er ist ein gebildeter Mensch,“ meinte er. „Mit dem Mumienoberteil der Götzenstatue muß es eine ganz besondere Bewandtnis haben. Die verkleideten Weißen aber dürften internationale Gauner sein, die hier einen großen Fischzug vorhatten. Sehr wahrscheinlich gehörten Ralley, Brabazon und der „erwürgte“ Broban mit zu der Bande. Hierfür spricht mancherlei, hauptsächlich die Tatsache, daß Brabazon und der Mann, der sich als Broban bei ihm melden ließ, Bekannte waren. Ich möchte ferner behaupten, daß Ralley und Brabazon als Mitglieder der Bande ihre Genossen hintergangen, also um die Beute der Expedition nach den Mahanadi-Dschungeln betrogen haben. Diese Annahme deckt sich mit dem, was Lord Ralley erzählt hat. Er verschwieg nur, daß er und Brabazon die betrogenen Genossen mehr fürchteten als die Priester der Gwinnara. – Alles in allem wieder eine neue, recht dunkle Sache.“

Mawrista kehrte zurück. – Harst fragte ihn: „Du bist ein Priester der Gwinnara?“ – Der Inder nickte. – „Wer raubte die Göttin?“ – Mawrista schrieb: „Der, der zuerst uns entfloh. Beide waren bartlos, die wir damals gefangennahmen. Sie hatten drei von uns vorher erschossen.“

Harald nahm den Hammer und vernagelte die Tür der Stube von außen. Er tat es so sorgsam, daß es unmöglich war, sie geräuschlos zu erbrechen.

Dann gingen wir wieder nach unten auf die Veranda. Mawrista mußte uns den alten Barug Singh schicken, der hier so etwas wie den Hausmeister spielte.

„Der Stumme ist jetzt mein Diener,“ erklärte Harst. „Er wird oben in dem Raume gegenüber dem Arbeitszimmer schlafen. – Es ist gut. Räume den Tisch ab.“

Barug Singh stand steif wie ein Stock da. „Wenn Mawrista bleibt, müssen wir drei anderen fort, Sahib,“ sagte er mit fanatischem Haß in den Augen. „Mawrista ist ein Dschaina, und wir werden durch ihn unrein.“

„Gut – hier hast Du den ausbedungenen Lohn für Euch drei. Ihr seid entlassen.“

Barug Singh nahm das Geld nur zögernd. „Wir hätten Dir gern weiter gedient, Sahib,“ meinte er verlegen. „Behalte uns und schicke Mawrista weg. Er ist ein Dschaina und er lügt. Er ist kein gewöhnlicher Diener, Sahib. Er führt Böses im Schilde.“

„Du irrst, Barug Singh,“ erwiderte Harald freundlich. „Mawrista war nur im Interesse Eures Herrn von hier verschwunden. Da – diese hundert Rupien schenke ich Euch dreien noch zu Eurem Lohn.“

Der Alte dankte wortreich. Eine Stunde später befanden wir beide uns mit Mawrista allein in dem großen Bungalow. –

Worbler hatte Harald die 28 Edelsteine übergeben. Gegen drei Uhr nachmittags fuhren wir mit den Steinen nach der Hauptbasarstraße. Harst ließ den Wagen vor dem Geschäft eines chinesischen Juweliers halten. Der Juwelier riß die Augen vor Staunen weit auf, als er die prächtigen Edelsteine gewahrte. – „Ich will wissen, ob sie echt sind,“ erklärte Harald kurz. – Der Chinese bücklingte. „Oh, Master, dieser Smaragd allein ist 100 000 Rupien wert.“ – Harald bezahlte 300 Rupien für die Prüfung der Steine.

Ich ahnte nicht, was er mit dieser überflüssigen Geldausgabe bezweckte. Als wir die Straße wieder betraten, fragte ich daher: „Wozu diese Komödie?! Du wußtest doch, daß die Steine echt sind.“

„Allerdings. Aber – nun werden die Leute, die wir suchen, sehr bald bei dem Chinesen sich einfinden und ihn fragen, was wir dort wollten. So erfahren sie, daß ich tatsächlich die Steine im Besitz habe.“

Er schritt auf ein schräg gegenüber liegendes Haus zu, in dem sich unten eine Teestube befand. Wir setzten uns so, daß wir das Geschäft des Chinesen drüben beobachten konnten.

Der Verkehr in der Basarstraße war sehr lebhaft. Nach zehn Minuten betrat eine verschleierte, schlanke Inderin den Laden des Juweliers. Nach weiteren fünf Minuten verschwand ein sauber gekleideter Inder mit grauem Bart darin.

Harst lächelte. „Es stimmt! Das waren die beiden, die uns getrennt gefolgt sind.“ – Er bezahlte und führte mich nebenan in den Laden eines Stoffhändlers, eines Parsen. Die Parsen sind als redliche Kaufleute in ganz Indien sehr geschätzt, obwohl sie als Feueranbeter sowohl bei den Hindu als bei den Mohammedanern als Heiden gelten.

Der Parse wurde von Harst kurz eingeweiht. Er besorgte uns dann auch sofort zwei indische Frauengewänder, Kopftücher und Gesichtsschleier. – Diese Verkleidung brauchten wir nur über unsere Anzüge zu ziehen. Das war in zwei Minuten erledigt.

Da verließ auch schon die verschleierte Inderin den Laden des Juweliers. Harst schickte mich ihr nach. Sie ging langsam durch enge Gassen dem Flusse zu und setzte sich hier am Ufer in einen angeketteten Sampan. Ich verbarg mich hinter einem Stapel von leeren Tonnen links von ihr.

Eine halbe Stunde verstrich. Dann tauchte der graubärtige Inder auf. Und – fünfzig Schritt hinter ihm folgte Harst in seiner Frauentracht mit dem dichten Schleier, der nur die Augen freiließ.

So waren wir durch Haralds einfache List schon jetzt hinter zweien der Leute her, auf die wir es abgesehen hatten.

 

3. Kapitel.

Die weiße Jacht.

Der Graubart kletterte zu der Inderin in den Sampan. Sie ruderten ein Stück in den am Tage stets so sehr belebten Fluß hinaus. Hier auf dem Ganges verkehren nicht hunderte, sondern tausende von Booten aller Art. In diesem Gewimmel den beiden zu folgen, war nicht leicht. Anderseits brauchten wir nicht zu fürchten, bemerkt zu werden oder Argwohn zu erregen.

Wir hatten ohne weiteres einen Bretternachen losgekettet, in dem nur ein Ruder lag. Es war ein elender Kahn, und Harst hatte alle Mühe, in der Nähe des Sampans zu bleiben, der flußabwärts sich wandte und dann in einen Flußarm einbog.

Ich zweifelte nicht daran, daß es derselbe Flußarm wäre, den Mawrista erwähnt hatte. Auch Harald nickte mir bedeutungsvoll zu.

Hausboot an Hausboot, Floß an Floß mit Bambushütten darauf lagen hier an den Ufern in Reihen verankert. Das Bild erinnerte an Bangkok, an die Hauptstadt von Siam, mit ihrem schwimmenden Stadtteil. – Auch hier kleine Boote in Unmenge, auch hier überall schreiende Kinder, ernste, würdige Männer und braune Frauen mit viel natürlicher Grazie. In aller Öffentlichkeit spielte sich auf den plumpen Wohnbooten und Flößen das Leben der Eingeborenen ab. – Der Flußarm erweiterte sich, wurde zum Seebecken. Und hier inmitten dieser schwimmenden Behausungen ankerte eine schneeweiße Motorjacht von etwa dreißig Meter Länge, – ein wunderhübsches Lustfahrzeug jener Art, mit dem die Dollarmillionäre neuerdings den Orient zu bereisen pflegen.

Der Sampan hielt auf die Jacht zu. Harald trieb unseren Kahn an das nächste Floß heran. Es konnte gar nicht auffallen, daß wir hier eine Weile halt machten.

Die Jacht war vielleicht das kostbarste Schiff, das ich bisher gesehen hatte. Der Sampan legte an dem herabgelassenen Fallreep an. Der Graubart und die Inderin stiegen an Bord. Ein weißgekleideter Mann mit Tropenhelm trat sofort auf sie zu. Die drei verschwanden nach der Achterkajüte hin.

„Dieses Abenteuer dürfte vielleicht das interessanteste werden, das wir je erlebt haben,“ flüsterte Harst mit strahlenden Augen. „Da – die drei Matrosen, die ich an Deck sehe, sind blitzsauber angezogen. Und das Motorboot, das dort am Heck an einem Tau schaukelt und gescheuert wird, sagt uns –“

Da hatte auch ich bemerkt, daß in den Oberlichtfenstern der Motorbootkajüte die Scheiben fehlten, rief leise:

„Himmel – es ist das Motorboot der vergangenen Nacht! Die Fenster sind ja von uns zerschossen worden. Man hat auch die Reste der Scheiben entfernt!“

Harald ruderte plötzlich weiter und um die Jacht in großem Kreise herum. So konnten wir denn feststellen, daß nur die Oberlichtscheiben auf Backbord fehlten. Und gerade diese hatten wir zerschossen.

Harst drängte den Kahn hinter ein Hausboot. Von hier aus beobachteten wir die Jacht wohl eine Stunde lang.

„Sie scheuern die braune Wasserfarbe ab, mit der das Motorboot überpinselt war,“ sagte Harald, nachdem etwa zehn Minuten verstrichen waren. „Die Jacht heißt „Star of London“. Das deutet auf einen englischen Besitzer hin.“ Dann schwieg er wieder.

Erst nach einer Stunde merkte ich, daß seine Aufmerksamkeit weit mehr einem Sampan galt, der jenseits der Jacht lag und in dem ein Inder mit Angelschnüren hantierte. Die Entfernung bis zu dem Angler betrug etwa zweihundert Meter.

„Wenn das Brabazon wäre!“ meinte Harst plötzlich. „Der Mann da hat nämlich in dieser einen Stunde nicht einen einzigen Fisch gefangen, und dies im fischreichen Ganges! Der Kerl angelt nicht. Er tut dasselbe wie wir: er hat es auf die Jacht abgesehen!“

Kaum hatte Harald den Satz beendet, als der Graubart und die Inderin den Sampan wieder bestiegen und davonruderten. Der Angler aber schien plötzlich alle Lust an seinem Sport verloren zu haben und zog seine Schnüre und den kleinen Anker ein, griff zum Ruder und folgte dem Sampan.

„Aha – also wirklich Brabazon!“ lachte Harst lautlos.

Wir blieben dicht hinter Brabazons Sampan. So ging es langsam derselben Uferstelle zu, wo wir unseren Kahn sehr eigenmächtig losgekettet hatten.

Und – dann ging die Jagd zu Fuß weiter – durch zahllose Gassen und übelduftende Gäßchen, durch Tempelhöfe, auf denen zahme Affen spielten, durch verwilderte Gärten längst verfallener Paläste, durch neue Gassen, über schmale Bambusbrücken bis in einen zum Urwald gewordenen Park, von dessen Schlammziegelmauer nur noch Schutthaufen übriggeblieben waren. So lernten wir den ältesten Teil der heiligen Stadt Benares kennen und – die ganze Heimtücke unserer Gegner.

Wir hatten den Inder, den wir für Brabazon hielten, die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Jetzt mußten wir weiter zurückbleiben. Hier in diese Parkwildnis verirrte sich kein Mensch. Wir trennten uns. Harald eilte nach rechts auf einem Seitenwege weiter. Freilich – die Bezeichnung „Weg“ paßte nicht ganz. Alles war hier mit Unkraut, Schlingpflanzen und Baumschößlingen bedeckt.

Brabazon (falls er es war!) hatte sich einige Male argwöhnisch umgeschaut. Doch er schien dann überzeugt zu sein, daß man ihm nicht nachschleiche.

Die drei waren verschwunden.

Aber – ich hatte ja ihre Fährte! Und diese Spuren liefen durch Gras und Riesenfarne, durch betäubend scharf duftende Kräuter auf den Ruinenberg hinauf. Ganz genau konnte ich diese Spuren wahrnehmen. Es war wie ein Strich, der sich über einen grünen Teppich hinzog.

Ich überlegte. Sollte ich mich allein dort hinaufwagen?! – Ein Wagnis blieb es. Ich kannte genug indische Ruinen. Und viele davon hatte ich in sehr unangenehmer Erinnerung.

Jemand berührte meinen Arm. Es war Harst.

„Die Sache erscheint mir bedenklich,“ flüsterte er und zog mich noch mehr hinter den dichten Busch. „Wenn wir in unserer Frauenkleidung dort hinaufklimmen, weiß sofort jeder, daß das Weibergewand nur Schein ist! Ich denke, wir – Was war das?!“ unterbrach er sich hastig. „Hörtest Du?!“

„Ja – es klang wie ein –“ – ich suchte umsonst nach einem passenden Ausdruck.

„Wie ein Schrei, der schon im Entstehen erstickt wurde,“ ergänzte Harst. „Wir wollen doch hinauf! Los – die Clement entsichert und in den Falten verborgen! Ich fürchte, Brabazon dürfte in einen Hinterhalt gelockt worden sein –“

Er eilte voran, sprang von Stein zu Stein, drängte sich durch Rankenvorhänge, umging große Mauerblöcke, blieb aber stets auf der Fährte.

Dann noch eine Reihe von stachligen Unkrautpflanzen, und wir standen dicht am Rande eines quadratischen, tiefen Schachtes von mindestens neun Meter Seitenlänge. Die Wände waren Mauern, über die wie Guirlanden[5] Schlingpflanzenbündel in die Tiefe hingen. Der Boden dieses Loches war mit Steingeröll bedeckt. Hier und dort wuchsen auch Gräser und Sträucher. – Der Schacht war gut zwölf Meter tief.

Mit einem Blick hatte ich all diese Einzelheiten erfaßt.

Da – Harald hatte mich plötzlich im Rücken gepackt, riß mich zurück.

Nein – er wollte mich zurückreißen – wollte!

Zu spät hatte er erkannt, daß wir auf einer großen beweglichen Steinplatte standen.

Gerade als ich den kräftigen Ruck seiner Hand verspürte, kippte die Platte nach dem Schachte zu um.

Wir glitten abwärts.

Aber Harsts Linke ließ mich nicht los. Nein – er hielt mich noch weiter fest, und im Hinabgleiten noch gab er sich einen Schwung zur Seite und griff nach einer der Schlingpflanzenguirlanden, packte ein halbes Dutzend der zähen Ranken und – pendelte daran zur Seite.

Ich hing tiefer als er. Ich hatte zum Glück sofort unsere Lage richtig erfaßt; ich hatte beide Hände frei und griff auch schon nach einem Bündel anderer Ranken.

Sie dehnten sich. Aber sie rissen nicht.

„Laß mich los!“ keuchte ich. „Ich habe einen Halt gefunden.“

Er tat es. – „Nicht nach unten!“ flüsterte er. Wir hingen jetzt Gesicht an Gesicht. – „Es ist die Ruine der Schlangenburg Mohammed Ghoris, des Eroberers. Dort unten wimmelt es von Brillenschlangen. Versuche emporzuklettern. Es muß gehen. Ich helfe Dir!“

Und – es ging. Wir gelangten bis an den Rand des Schachtes. Harald schwang sich völlig empor, zog mich nach oben, sprang in das Gestrüpp und holte unsere Pistolen, die wir schon halb im Stürzen nach rückwärts geworfen hatten.

Wir spähten nach den beiden Feinden aus. Wir sahen niemand. – Harst untersuchte die große Steinplatte, die uns hatte in die Tiefe befördern sollen. Er fand einen flachen Draht, der im Grase verborgen nach abwärts lief. Der Draht war an einem verrosteten Eisenhebel der in zwei Zapfen drehbaren Platte befestigt. Als Harald daran zog, kippte die Platte um und richtete sich dann von selbst wieder auf.

„Die Schufte glauben, das Attentat wäre geglückt!“ meinte Harst. „Sie sind, als sie uns hinabpurzeln sahen, schleunigst davongeeilt. Siehst Du dort die Fährte? Das ist die der beiden Attentäter.“

„Und Brabazon?“

Harald schaute mich überrascht an. „Da unten liegt er doch!“ erwiderte er. „Ich dachte, Du hättest ihn bemerkt. Beuge Dich etwas vor. Dort neben dem einzelnen Mauerstück in dem Gestrüpp – das ist er!“

„Tot?“

„Werden wir erst feststellen. – Drüben hängt eine der Rankenguirlanden fast bis auf den Boden des Schachtes hinab. Ich will –“

Ich starrte noch immer auf die im Gestrüpp halb verborgene Gestalt. Ich rief jetzt: „Da – drei Brillenschlangen – dort wieder zwei! Und – da willst Du hinab?!“

„Soll ich Brabazon dort etwa elend verrecken lassen, falls er wirklich noch lebt?!“ – Und er schritt mir voran um den Schacht herum, warf sich dann lang hin, prüfte die Festigkeit der Ranken und turnte an ihnen abwärts.

Unten angelangt, sammelte er einen Arm voll Steine. Dann ging er vorsichtig auf die Stelle zu, wo Brabazon lag. Hin und wieder warf er einen Stein in das Gras, verscheuchte so die Giftreptile, die sich hier sonnten.

Jetzt beugte er sich über Brabazon, griff zu, hob ihn auf, trug ihn durch den Schacht, knotete die Ranken dem offenbar Bewußtlosen unter den Armen zusammen, kletterte nach oben.

Wir beide zogen Brabazon empor. Nun ruhte er vor uns. Sein Gesicht war fahl und verzerrt. Um den Hals lag eine bereits gelockerte Schlinge von dünner, frisch geteerter Schnur.

„Deshalb erstickte sein Angstruf,“ meinte Harald. „Man hat ihm die Schlinge um den Hals geworfen. Und diese Schlinge ist echte Matrosenarbeit. Hier – ein Seemannsknoten. Und der Teer spricht ebenfalls für Matrosen – eben für Leute der Jacht Star of London.“

Er fühlte Brabazon, der als Inder eine tadellose Maske gewählt hatte, den Puls.

„Eine tiefe Ohnmacht, weiter nichts. Wir werden ihn mitnehmen und bis dicht an die Straße tragen. Dann hole ich ein Polizeiauto und Freund Worbler. Du bewachst Brabazon so lange –“ –

Ich mußte fast eine Stunde in dem dichten Gebüsch neben dem Ohnmächtigen ausharren, bis das Auto endlich erschien. Es war ein geschlossener Wagen. Aber Harst befand sich nicht darin; nur Worbler und zwei Kriminalbeamte.

„Mr. Schraut, Sie sollen sofort nach dem Hafenpolizeiamt gehen,“ flüsterte Worbler. „Harst ist dort. Verschwinden Sie!“

 

4. Kapitel.

Lord Ernest Ralbrout.

Das Hafenpolizeiamt von Benares war damals in einem alten, abgetakelten Raddampfer untergebracht, der unweit des Ufers an Pfählen festgemacht war. – Als ich die lange Laufplanke, die ein Geländer hatte, überschritt, sah ich auf dem Achterdeck unter dem Sonnensegel eine Inderin und einen sonngebräunten Europäer stehen: Harst und Polizeiinspektor Dreebs, den Chef der Flußpolizei.

Harst stellte mich Dreebs vor und sagte dann:

„Die Jacht Star of London ankert seit acht Tagen in jenem Flußarm. Eigentümer ist Lord Ernest Ralbrout, der sich mit seiner Gattin, der Tochter des Baumwollmagnaten Thomas Crosbary, auf der Hochzeitsreise befindet. Der Lord hat die Jacht ordnungsmäßig der Strompolizei gemeldet. Inspektor Dreebs hält es für ausgeschlossen, daß der junge Pair von England mit Verbrechern im Bunde steht. Immerhin will er uns an Bord begleiten. Legen wir also unsere Weiberröcke ab. Dann sind wir leidlich salonfähig.“

Inspektor Dreebs schüttelte den Kopf. „Die Geschichte kann für mich übel auslaufen, Mr. Harst. Wollen Sie den Lord nicht lieber allein besuchen? Ernest Ralbrout ist ungeheuer reich und sehr stolz. Sein Einfluß könnte mir die Karriere verderben.“

„Mr. Dreebs,“ sagte Harald kühl, „die Geschichte kann Ihnen höchstens nützen. Ob Lord oder nicht: hält er es mit den Verbrechern, die Ralley erschossen haben und mit uns Ähnliches vorhatten, dann rettet ihn nichts vor dem Strafrichter. – Vorwärts – hinein ins Motorboot!“ –

Die Polizeibarkasse ratterte zwischen den Wohnschiffen und Kähnen hindurch. Ihre Flagge am Heck knallte lustig im Nachmittagswinde. – Der Flußarm war bald erreicht.

Und dort lag die schneeweiße, elegante Jacht. Und am Fallreep war – ein Sampan festgebunden. –

Ein Matrose eilte das Fallreep hinab.

„Wir möchten Seine Lordschaft sprechen,“ erklärte Harst. „Melden Sie Polizeiinspektor Dreebs.“

Der Matrose, offenbar ein Spanier oder Südfranzose, schrak merklich zusammen, sagte dann jedoch höflich:

„Mylord speist gerade. Ich werde die Herren melden.“

Er verschwand. Harald winkte uns. „Folgen wir ihm. Sicher ist sicher!“

Dreebs kam zögernd hinter uns her. Auf Deck befanden sich nur zwei in schneeweißen Leinenanzügen steckende Matrosen.

Wir schritten der Haupttreppe des Achterschiffs zu. Die Treppe war mit kostbaren Läufern belegt. Die Wände des Treppenniedergangs zeigten Szenen aus der Geschichte der englischen Marine.

Der Matrose tauchte wieder auf.

„Mylord bittet die Herren, dort im Salon zu warten,“ sagte er überhöflich.

„Dreebs, bleiben Sie an Deck,“ flüsterte Harald. „Verhindern Sie, daß jemand die Jacht verläßt. Sie haben ja noch drei Mann in der Barkasse.“ Und zu dem Matrosen: „Wo liegt der Speisesaal?“

Der Mann bekam plötzlich böse Augen.

„Mylord befahl, daß Sie im Salon –“

Weiter konnte er sein Sprüchlein nicht vorbringen. Harst schob ihn beiseite und öffnete eine der vier Türen.

Es war die des Speisesaals. Wir traten schnell ein. In der Mitte war eine Tafel für sechs Personen gedeckt. Fünf Herren und eine junge, bildschöne Dame saßen um die prächtige Tafel herum.

„Verzeihung,“ sagte Harald. „Dürfte ich Lord Ralbrout um eine Auskunft bitten?“

Ein schlanker Herr mit Monokel erhob sich langsam. Er hatte ein bartloses, müde-blasiertes Gesicht.

„Mit wem habe ich die Ehre?“ fragte er und warf die Serviette auf den Tisch.

„Harald Harst, Mylord. Hier mein Freud Schraut. – Nur eine Frage, wenn Sie gestatten –“

Der Lord machte eine unnachahmlich hochmütige Handbewegung – so, als ob er einen Lakai zum Sprechen aufforderte.

Harst blieb trotz dieser Ungezogenheit des Lords gelassen, sagte nun: „Am Fallreep der Jacht liegt ein Sampan, mit dem ein älterer Inder und ein verschleiertes Weib hier an Bord gelangt sind. Wer sind die beiden, Mylord?“

Lord Ernest Ralbrout hob die Schultern. „Ich weiß es nicht, Master Harst. Vielleicht sind es Händler, die mit den Matrosen Geschäfte machen.“

„So?! Händler?! Mylord, vor etwa zwei Stunden sah ich die beiden hier im Achterschiff, also in Ihren Räumen verschwinden.“

Der Lord blickte Harst überrascht an. „Hier – im Achterschiff? Das ist unmöglich!“

Da meldete sich die junge Dame von der Tafel her.

„Ernest, es sind Händler. Sie boten mir echte Kaschmirschals an –“

Der Lord lächelte etwas. Es war ein Lächeln, in dem Hochmut und Spott lauerten.

„Noch eine Frage, Mr. Harst?“

„Ja. – Weshalb wurde das Motorrettungsboot der Jacht gestern dunkelbraun gestrichen, Mylord?“

Ralbrout drehte sich der Tafel zu. „Kapitän Tobort, wissen Sie etwas davon?“ fragte er einen Herrn mit schwarzem Spitzbart.

„Nichts, Mylord. Das Motorboot haben gestern abend die vier Matrosen benutzt, die um Urlaub gebeten hatten.“

„Und sind diese vier Leute jetzt wieder an Bord?“ wollte Harst wissen.

„Nein. Sie sind desertiert,“ erklärte der Kapitän.

Lord Ralbrout lächelte wieder. „Noch etwas, Mr. Harst?“

„Ja. Ich möchte die Jacht durchsuchen.“

Ralbrout neigte den Kopf. „Bitte!“ meinte er gelangweilt. „Ich merke, Mr. Harst, Sie sind hinter Verbrechern her. Ihr Name ist sozusagen berühmt. Suchen Sie nur –“

Das klang wie Hohn.

„Ich darf dann wohl in diesen Räumen anfangen, Mylord,“ erklärte Harald und blickte den eleganten Herrn scharf an.

„Hier?! Hier?! In meinen, unseren Räumen? – Mr. Harst, das dürfte sich wohl erübrigen,“ rief der Lord schneidend. „Ich habe bisher Ihre Aufdringlichkeit mit Ihrer Berühmtheit entschuldigt. Jetzt aber –“ – er richtete sich höher auf – „bitte ich Sie, mein Schiff mit Ihren lächerlichen Detektivkünsten zu verschonen!“

Er setzte sich wieder und füllte sein Weinglas.

Harst machte kehrt. An der Tür drehte er sich um.

„Mylord, im Auftrage des Polizeiinspektors Dreebs teile ich Ihnen und den übrigen Insassen der Jacht mit, daß Sie alle vorläufig verhaftet sind. Sie sechs werden den Speisesaal nicht verlassen!“

Drei der Herren am Tische brachen in ein schallendes Gelächter aus. Dann stand der eine auf – ein älterer, vornehmer Mann, sagte eisig:

„Mr. Harst, mein Name ist Collingham – General Robert Collingham, Gouverneur von Benares. Schicken Sie mir bitte sofort Inspektor Dreebs her.“

Harald verneigte sich. Wir gingen an Deck. Dreebs verfärbte sich vor Schreck.

„Da haben Sie was Schönes angerichtet, Mr. Harst,“ stöhnte er. „Ich werde die Sache nicht auf mir sitzen lassen. Ich habe kein Wort von verhaften gesprochen – kein Wort!“

Er lief die Treppe hinab.

Harst sagte zu mir und kniff das linke Auge zu:

„Wir sind scheinbar die Blamierten! Ziehen wir uns also zurück!“

Wir bestiegen den Sampan und ruderten schnell dem Ufer zu, gingen an Land, bogen in ein Gäßchen ein, fanden den Kramladen eines Inders und waren in einer Viertelstunde nicht mehr Harst und Schraut, sondern zwei schmierige indische Kulis mit rußgeschwärzten Gesichtern.

Und so eilten wir dem Flußarm wieder zu und kletterten auf einen mit Steinkohlen beladenen Kahn, der von einem alten Inder bewacht wurde. Zehn Rupien sicherten uns des Alten Freundschaft.

Wir konnten jetzt in aller Ruhe den Star of London beobachten. Die Polizeibarkasse lag nicht mehr am Fallreep. Nach einer Stunde, gegen ¼7 abends, wurden die Gäste des Lords mit dem Motorboot an Land gebracht. Und wieder nach zehn Minuten verlud man von der Jacht eine große Kiste in die Jolle. Drei Matrosen ruderten mit der Jolle davon.

Der Kohlenkahn hatte ein kleines Beiboot. Wir nahmen es und folgten der Jolle, die bereits in den Ganges eingebogen war.

Die Jolle legte am Kai der großen Dampfer an. Zwei Matrosen trugen die mit Eisenbändern benagelte Kiste nach der Spedition von Williarb u. Co.

„Aha,“ lachte Harst. „Man fürchtet eine Durchsuchung der Jacht trotz des Eingreifens des Gouverneurs! Man schafft das Belastungsmaterial weg! – Worbler soll uns jetzt helfen, mein Alter. Also hin zu ihm!“

 

5. Kapitel.

Die Kobra.

Worbler war nicht auf der Polizeidirektion. Wir vermuteten, daß er noch in unserem Bungalow wäre und fuhren dorthin, nachdem wir uns in dem Kramladen des Inders wieder umgekleidet hatten.

Der Detektivinspektor saß oben in dem Arbeitszimmer Brabazons. Dieser selbst war noch bewußtlos und lag auf dem Bett im Schlafzimmer. Der Polizeiarzt bemühte sich um ihn. Brabazon hatte bei dem Sturz in den Schacht einen Schädelbruch erlitten. Der Arzt zweifelte, ob man ihn würde am Leben erhalten können.

Harst berichtete Worbler unsere Erlebnisse.

„Sie meinen, der Lord ist in diese Dinge eingeweiht?“ fragte Worbler zweifelnd.

„Ja. – Wir wollen zu Williarb u. Co. fahren. Aber – erst nach Dunkelwerden. Dann verlassen wir den Bungalow durch die hintere Parkpforte.“

Der Diener Barug Singh trat ein.

„Sahib Harst, Mawrista ist plötzlich sehr krank geworden,“ sagte der alte Diener. „Mawrista bittet Dich, sofort zu ihm zu kommen. Er will nur Dir etwas anvertrauen. Er hat mir alles dies auf einen Zettel geschrieben.“

Harald folgte Barug Singh.

„Eine tolle Geschichte,“ meinte Worbler. „Nun taucht auch noch ein Lord mit einer Jacht auf! Der Teufel werde aus alledem klug!“

Er kaute ärgerlich an seiner Zigarre.

Ich ließ von dem anderen Diener ein kaltes Abendessen auftragen. Auch Worbler tat den guten Sachen alle Ehre an. – Harst war nun schon eine halbe Stunde drüben in Mawristas Zimmer. Ich wurde unruhig. Schließlich ging ich hinüber und klopfte an. Niemand meldete sich. Ich öffnete die Tür. Das Zimmer war leer. – Ich läutete nach Barug Singh.

„Wo ist Sahib Harst?“

Der Alte erwiderte: „Mit Mawrista hinten in den Park gegangen.“

Worbler brummte: „Was mag er nur vorhaben?!“

Wieder war dann eine halbe Stunde verstrichen. Worbler und ich standen gerade neben Brabazons Bett. Da trat Harald hastig ein. Der Polizeiarzt hatte sich schon vorher empfohlen.

„So,“ sagte Harst, „nun sind wir den stummen Diener los. Übrigens – er war gar nicht stumm. Er hat mir so allerlei Interessantes über die Gwinnara-Sekte erzählt. Er war der Oberpriester der Sekte.“

„Wo waren Sie denn so lange?“ fragte Worbler mißtrauisch.

„Oh – nur im Lagerschuppen von Williarb u. Co.“

„Wo?! – Teufel – haben Sie etwa –“

„Ja, wir haben dort eingebrochen und die Kiste leer gemacht, haben sie wieder zugenagelt und mit der Mumie das Weite gesucht. Nun hat Mawrista alles wieder, was Brabazon ihm geraubt hatte – den Oberteil des Götzen und die Edelsteine!“

Worbler und ich stierten Harst sprachlos an. Diese Mitteilungen waren so unglaublich, daß man sie leicht für einen Scherz hätte halten können, wenn Haralds Gesichtsausdruck nicht so vollkommen ernst gewesen wäre.

„Wie konnten Sie nur!“ rief der Inspektor dann. „Harst, Einbruch bleibt Einbruch! Und Mawrista ist natürlich schon unterwegs in seine Dschungelwildnis!“

„Allerdings. Er hat Benares verlassen, lieber Worbler. Aber: Einbruch bleibt noch lange nicht Einbruch! Man hatte in der Kiste die Mumie von Bord geschafft. Das ahnte ich. Die Kiste war als Eilgut nach Kalkutta für den Steuermann Marc Towler aufgegeben, bahnlagernd. Und die Mumie war darin. Also holte Mawrista nur sein Eigentum.“

Worbler nickte zögernd. „Wir wollen die Geschichte um Himmels willen geheim halten, lieber Harst. Sonst kommt es noch zu einer Untersuchung gegen Sie! – Nun erzählen Sie aber mal: weshalb wurde die Göttin Gwinnara gestohlen, und welcher Art sind die Beziehungen zwischen Ralley, Brabazon und den Leuten der Jacht gewesen?“

Wir waren neben dem Bette stehen geblieben. Brabazon lag noch immer in tiefster Bewußtlosigkeit da, stöhnte nur zuweilen und warf sich unruhig hin und her.

Harald blickte den Schwerverletzten jetzt prüfend an, fragte:

„Hat der Arzt Hoffnung, ihn durchzubringen?“

„Nein,“ erklärte Worbler achselzuckend. „Der Doktor meinte, Brabazon könnte vielleicht noch einmal für kurze Zeit erwachen. Zu retten ist er nicht mehr.“

„Gehen wir ins Arbeitszimmer hinüber,“ sagte Harst. „Wir hören dort ja, wenn er sich regt. Ich werde mich so setzen, daß ich ihn beobachten kann.“

Wir rückten den Sofatisch an die Tür. Harald begann zu essen. Worbler und ich warteten geduldig, bis er von selbst zu sprechen beginnen würde.

Dann trat Barug Singh geräuschlos ein und meldete:

„Sahib Dreebs ist draußen.“

„Führen Sie ihn herein,“ meinte Harald zerstreut. Als der Diener die Tür hinter sich geschlossen hatte, fügte er hinzu: „Ich vermute, daß vom Star of London noch mehr Leute desertiert sind, darunter auch der Steuermann Marc Towler.“

„Also die Schuldigen!“ ergänzte Worbler. „Eben die Leute, die mit Ralley und Brabazon bekannt waren und die die Mumie aus dem Pensionat Tapsal stahlen, Ralley und dessen Mörder erschossen und Sie beide beseitigen wollten, damit ihre Schandtaten nicht ans Licht kämen. Lord Ernest Ralbrout hat mit der Sache nicht zu tun – das ist klar!“

Harst schwieg. – Dann erschien Dreebs, warf uns beiden einen unfreundlichen Blick zu und sagte zu Worbler:

„Kollege, von der Jacht Star of London sind weitere zwei Mann desertiert, nachdem sie den Juwelenkasten der Lady erbrochen haben. Es sind Steine und Perlen im Werte von 50 000 Pfund geraubt worden. Der Fall schlägt in Ihr Fach, Worbler. Bitte, begleiten Sie mich.“

Worbler war schon aufgesprungen. „Ich komme. Wollen Sie nicht ebenfalls mit, Harst?“

„Dreebs dürfte keinen Wert darauf legen,“ erwiderte Harst kurz.

„Oh – Sie haben sich auch auf der Jacht recht merkwürdig benommen, Mr. Harst!“ platzte der Polizeiinspektor heraus. „Der Gouverneur Sir Collingham war wütend!“

„Er wird vielleicht sehr bald eine andere Gefühlsregung kennenlernen!“ meinte Harald und legte sich eine Portion Fischpudding auf den Teller. „Auf Wiedersehen, lieber Worbler. – Es war mir ein Vergnügen, Mr. Dreebs!“

Dreebs schnitt ein fürchterliches Gesicht, verneigte sich steif und ging in den Flur. Worbler nickte uns zu und folgte ihm. – Wir waren allein. Ich schaute Harald erwartungsvoll an, flüsterte gespannt: „Du traust Lord Ralbrout nicht?“

„Nein, mein Alter. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Bedenke: der Graubart und die Inderin aus dem Sampan gingen doch in die Achterkajüte hinab! Und – was die Lady von den Kaschmirschals vorbrachte, war doch eine Ausrede!“

„Und Mawrista? Wußte der nicht Bescheid?“

„Nein. Wie sollte er?! Den Zusammenhang zwischen Ralley, Brabazon und der Jacht kann uns jetzt nur Brabazon erklären, falls er noch aufwacht, oder aber wir müssen diesen Zusammenhang mühsam ermitteln. Mawrista erzählte mir nur, daß in den Mahanadi-Dschungeln eine kleine Stadt liege, in der die Anhänger der Göttin Gwinnara hausen, und daß Brabazon und Ralley es nur auf die Göttin und deren kostbare Juwelen abgesehen hatten. Alles stimmt, was Ralley im übrigen beichtete. – Was die Leute der Jacht angeht, so vermute ich, daß sie mit den beiden im Bunde standen und daß die Mumie aus dem Hause Tapsals nur deswegen gestohlen wurde, weil sie als Rarität einen beträchtlichen Wert hat. Ich möchte ferner behaupten, daß –“

Wir beide schnellten entsetzt hoch.

Aus dem Schlafzimmer war ein gellender Schrei erklungen.

Wir konnten das Bett sehen. – Brabazon saß aufrecht. Und – über den Bastteppich glitt gerade eine ungeheure Kobra unter das Bett.

Dann war Brabazon mit einem Satz auf den Füßen, rannte zum Fenster.

Harald jagte hinter ihm her, bekam ihn noch auf dem Fensterbrett zu packen, rief mir zu: „Schlage die Kobra tot!“

Ich leuchtete unter das Bett. Die Kobra schlängelte sich an der Wand entlang. Ich riß die Pistole aus der Tasche, schoß – drückte dreimal ab, traf den Kopf des Reptils, das nun in wilden Zuckungen verendete.

Harst trug Brabazon auf das Bett, legte ihn in die Kissen zurück. Brabazons Augen waren weit geöffnet.

„Wer war Broban?“ fragte Harst laut und befehlend. „Sprechen Sie, Brabazon! Sie werden sehr bald vor dem ewigen Richter stehen!“

„Mein Bruder!“ stammelte der Sterbende. „Ralley, wir und – die anderen – lange schon – Diebstahl der Gwinnara geplant. Mein Bruder – als Matrose – auf der Jacht – Besatzung war –“

Seine Kraft versagte.

„Hole Kognak – rasch!“ flüsterte Harst. –

Wir richteten Broban-Brabazon etwas auf und flößten ihm Kognak ein.

„Brabazon, weshalb töteten Sie ihn?“ fragte Harald wieder.

„Weil – weil – ich – fliehen wollte – unerkannt verschwinden –“

„Und die Besatzung der Jacht?“

„Sind – wie – wir – Verbrecher. Morton in –“

Da ging ein Ruck durch seinen Leib. Ein letzter tiefer Atemzug, und der Körper sank kraftlos zusammen. Er war tot. –

Harst deutete auf Brabazons linken Handrücken, auf die beiden feinen Stiche und die bläuliche Verfärbung der Haut: „Hier hat ihn die Kobra gebissen, die jemand, der durch das offene Fenster eingestiegen war, auf das Bett geworfen hatte, – jemand, nämlich einer der Verbrecher von der Jacht, damit Brabazon nichts mehr ausplaudern könnte! Der Fall „Lord Ralleys Schreckensnächte“ ist nun völlig geklärt. Aber – ein neuer Fall erfordert jetzt unsere volle Hingabe: herauszubringen, was es mit dem Star of London, seiner Besatzung und Lord Ralbrout auf sich hat!“

– – – – – – – –

Zwei Stunden später erschien Worbler bei uns und erzählte, daß tatsächlich der Juwelenkasten der Lady völlig ausgeplündert worden sei.

„Wie hat Ihnen der Lord gefallen?“ fragte Harst.

„Den habe ich gar nicht sprechen können. Er war mit seiner Gattin bei Sir Collingham zum Souper geladen. Nur Kapitän Tobort empfing mich. Der Lord konnte bei Collingham nicht mehr gut absagen, da das Souper als Abschiedsessen für das junge Ehepaar veranstaltet worden war. Die Jacht verläßt morgen früh Benares, fährt den Ganges hinab nach Kalkutta und kehrt nach England zurück.“

„So – so –,“ meinte Harald. „Vielleicht fährt sie auch nicht ab!“

Mit dieser Bemerkung Harsts begann für uns der neue Fall, den ich im nächsten Band als „Geheimnis der Insel Morton“ schildern will.

 

 

Verlagswerbung:

Wie

benehme ich mich?

Ein allgemein verständliches, übersichtliches
Nachschlagewerk über alle Fragen des guten
Tones, ein den modernen Verhältnissen
angepaßtes Lehrbuch für jedermann,
der sich in jeder Gesellschaft
sicher bewegen möchte

Von W. v. Neuhof

 

Inhaltsangabe. Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Körperpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – Zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreden. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „Ich“.
  2. Hier ist eine Zeile doppelt, dafür fehlt eine andere. Text sinngemäß ergänzt.
  3. In der Vorlage steht „ich“.
  4. In der Vorlage steht „Chartrense-Likör“.
  5. Französische Schreibweise. In den „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ von 1901 ist es neben „Girlande“ ebenfalls mit aufgeführt, 1938 dagegen nicht mehr.