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Das Geheimnis der Insel Morton

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 70:

 

Das Geheimnis der Insel Morton

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der Schmuck der Lady Ralbrout.

Damals, als das „Morton-Problem“ uns beschäftigte, wohnten wir im Europäerviertel der Stadt Benares am heiligen Ganges-Strome; damals, als es uns zu beschäftigen begann, funkelten die Sterne am nächtlichen Himmel in wunderbarer Pracht; in dem Parke des Bungalow, wo wir als alleinige Herren Unterkunft gefunden, kreischten schlaftrunkene Affen in den Baumkronen, rauschten riesige Fächerpalmen und schluchzten und schmetterten indische Nachtigallen ihre schmelzenden Lieder.

Das war jene Nacht, in der ein Abenteurer namens Brabazon seinen Geist aushauchte, während wir beide und Detektivinspektor Worbler um sein Sterbelager herumstanden und seinen letzten Worten atemlos lauschten.

Harald Harst hatte ihn gefragt, was er über die Besatzung der Jacht „Star of London“, die in einem Seitenarm des Ganges ankerte, zu sagen hätte. Und er hatte erwidert:

„Verbrecher – Morton in –“

Dann war er verschieden – als Opfer einiger Leute jener weißen Motorjacht, – als Opfer einiger Leute, bei dem auch wir fast das Leben eingebüßt hätten. –

Diese Andeutungen mögen dem Leser genügen. –

Drei Uhr morgens war’s. Inspektor Worbler hatte uns verlassen. Auch die Leiche Brabazons war soeben abgeholt worden.

Harald hatte bei dem Diener Barug Singh Kaffee bestellt. Der alte Inder brachte das Teebrett in das Herrenzimmer im ersten Stock, das unser Wohnsalon war. Er hatte auch ein paar Röstbrötchen und anderes mit aufgetragen. Wir saßen nun an dem ovalen Sofatisch in den bequemen, gepolsterten Bambussesseln und besprachen das Geständnis Brabazons.

Harst und ich wußten damals noch nicht, daß Brabazons Worte „Morton in“ als der Anfang von „Morton-Insel“ zu deuten waren. – Wie sollten wir auch?! Wir hielten Morton für den Namen irgend eines Mannes, der mit der Besatzung der Jacht in Verbindung stand.

Harst hatte soeben gesagt: „Ich bleibe dabei, das Lord Ernest Ralbrout trotz seines angesehenen Namens und trotz seines enormen Reichtums, der es ihm gestattet, sich eine so elegante Jacht wie den Star of London zu halten, von dem gegen Brabazon und uns unternommenen Attentat Kenntnis hat! Mehr noch: die jetzige Desertion von weiteren zwei Leuten der Besatzung, die dazu noch den Juwelenkasten der Lady Ralbrout geplündert haben sollen, erscheint mir genau so fragwürdig wie das Verschwinden der fünf ersten Matrosen. Im ganzen sind nun sieben Mann – angeblich – desertiert. Unser Freund Worbler glaubt an diese „Desertion“. Ich nicht! Ich behaupte, der Lord hat ihnen einen Wink gegeben, zu fliehen. Denn jetzt, wo diese sieben Leute nicht mehr an Bord sind, kann er getrost erklären, daß auf das Konto dieser sieben sowohl das Attentat gegen uns als auch –“

Er schwieg plötzlich. Durch die offenen Fenster hörten wir das Rattern eines Autos. Der Kraftwagen hielt vor der Gartenpforte draußen. Der Motor verstummte.

„Hm,“ meinte Harald dann, „vielleicht ist es gar Lord Ralbrout. Wir wissen, daß der Gouverneur von Benares Sir Collingham dem jungen Ehepaar zu Ehren ein Abschiedsfest gegeben hat. Möglich, daß Ralbrout einen der Kraftwagen des Gouverneurs benutzt hat.“

Er stand auf und trat ans Fenster.

Im Osten zeigte sich bereits der erste fahle Schimmer des neuen Tages. – Unten wurde die Haustür geöffnet. Barug Singh eilte die Palmenallee entlang zur Gartenpforte. – Ich war neben Harald getreten. Die Lichtkegel zweier Autoscheinwerfer erhellten die nahe Straße.

Dann kam Barug Singh mit einem schlanken Herrn zurück auf das Haus zu. – Es war Lord Ernest Ralbrout. Wir hatten ihn bereits gestern auf seiner Jacht – nicht gerade von einer angenehmen Seite! – kennen gelernt.

Harald ließ den Vorhang fallen. Dann erschien auch schon der Diener und meldete den Lord.

Harst sagte nur: „Wir lassen bitten –“ –

Ralbrout ging rasch auf Harald zu, verneigte sich.

„Mr. Harst, ich möchte Sie um Entschuldigung bitten! Ich habe Sie gestern im Speisesaale meiner Jacht aus Ärger über Ihr energisches Auftreten sehr kühl behandelt. Jetzt weiß ich, daß Sie recht gehabt haben. Mein Kapitän Tobort hat bei der Auswahl der Besatzung wenig Menschenkenntnis bewiesen. Er hat sieben recht fragwürdige Burschen mit angeheuert gehabt, die nun entwichen sind, leider unter Mitnahme der Juwelen meiner Frau –“

Sein müdes, vornehmes Gesicht zeigte bei diesen Worten ein gewinnendes Lächeln. Er streckte Harald jetzt die Hand hin, fügte hinzu: „Nochmals – ich bitte Sie um Entschuldigung, ebenso Ihren Freund Schraut –“ Dabei verbeugte er sich auch vor mir.

Harst wies auf einen Sessel, nachdem er dem Lord die Hand gereicht und erklärt hatte, die Sache sei hiermit erledigt. –

„Bitte, Mylord, setzen Sie sich. Ich vermute, Sie führt noch eine andere Absicht her,“ sagte er weiter, nachdem wir Platz genommen hatten.

Ernest Ralbrout, der noch den Frackanzug und darüber einen seidenen Staubmantel trug, erwiderte mit leichtem Kopfschütteln:

„Nein, Mr. Harst. Ich hatte lediglich den Wunsch, daß Sie mich nicht falsch beurteilen und für unhöflich halten sollten. Eine weitergehende Absicht lag mir fern. Einen Mann von Ihrem internationalen Ruf –“

In demselben Moment, als er das Wort „Ruf“ über die Lippen gebracht hatte, zersplitterte die Scheibe des hinter Ralbrouts Platz stehenden Bücherschrankes. Den Bruchteil einer Sekunde früher drang auch der Knall eines Schusses an unser Ohr.

Wir drei fuhren hoch.

Harst stürzte ans Fenster, riß den Vorhang beiseite. –

Ich sah gerade noch, wie ein Mann, ein Europäer in blauem Matrosenanzug, vom Dach der Veranda in den Garten hinabsprang.

Harst war schon aus dem Fenster gestiegen und balancierte auf einer der eisernen Mittelstreben des Glasdaches entlang, sprang dann gleichfalls hinunter.

„Das galt mir!“ sagte Ralbrout mit zitternder Stimme. „Diese Banditen, die den Juwelenkasten meiner Frau geplündert haben, fürchteten wohl, ich könnte Mr. Harst hinter ihnen drein hetzen!“

Er ließ sich wieder in den Sessel fallen. – Ich füllte ein Gläschen mit Kognak. Er nahm es dankend an.

„Ob Ihr Freund wohl die Absicht hat, die Deserteure, die doch auch fraglos Sie beide in der Ruine des Schlosses Mhum[1] Ghoris umbringen wollten, zu verfolgen und zur Rechenschaft zu ziehen?“ fragte er nun.

„Ja, das wollte Harst,“ erwiderte ich. – Ich hielt es für richtig, diese Absicht zuzugeben. Allerdings: daß unsere Detektivarbeit sich in erster Linie gegen den Lord selbst richten sollte, erwähnte ich nicht!

„Eigentlich selbstverständlich, daß Mr. Harst diese Schurken aufs Korn nimmt!“ nickte Ralbrout. „Hat er bereits einen Schlachtplan entworfen?“

Aha: aushorchen wollte der Lord mich!

„Nein, Mylord,“ entgegnete ich daher etwas zugeknöpft.

Ralbrout bat noch um einen Kognak.

„Wir hätten eigentlich dem Flüchtling gleichfalls nacheilen sollen,“ meinte er dann. „Hoffentlich faßt Ihr Freund den Revolverschützen noch ab. Die Kugel ging mir dicht am Ohr vorüber.“ – Er schaute nach dem Bücherschrank hin. „Die Scheibe ist –“

Da trat Harald vom Flur aus ein.

„Der Kerl ist entwischt,“ sagte er lebhaft. „Na – wir werden ihn schon finden, Mylord! Diese Frechheit, hier in meinem derzeitigen Heim auf Sie zu schießen, soll ihm teuer zu stehen kommen – sehr teuer!“

Er nahm Platz und reichte Ralbrout das Zigarettenkästchen.

„Bedienen Sie sich, Mylord. – Ich werde, wenn Sie gestatten, den Juwelendiebstahl und dieses neue Attentat in meiner Weise bearbeiten. Ich hoffe die desertierten Matrosen, zu denen auch dieser Revolverattentäter gehören dürfte, bald zu finden. – Darf ich einige Fragen an Sie richten, Mylord?“

„Aber gewiß –“ –

Er fragte dann alles Mögliche, fragte nach Dingen, die recht überflüssig erschienen. – Wir erfuhren so, daß der Star of London insgesamt fünfzehn Mann Besatzung gehabt hatte, daß der Lord vor drei Monaten England verlassen und kurz vorher Miß Helena Crosbary, eine Dollarprinzessin, geheiratet hatte. Die Jacht war zuerst in Südafrika gewesen, war dann nach Australien gefahren und nun den Ganges aufwärts bis Benares gekommen.

Lord Ralbrout gab bereitwilligst über alles Auskunft.

So verstrich eine Stunde. Es war jetzt draußen ganz hell geworden.

„Wann wollen Sie Benares wieder verlassen, Mylord?“ fragte Harst nun nach kurzer Pause.

„Heute noch. Sobald Kapitän Tobort die Besatzung ergänzt hat. Wir brauchen mindestens zwei Leute noch.“

„Dann werde ich gegen elf Uhr vormittags die Jacht besuchen, Mylord, und mir den geplünderten Juwelenkasten ansehen. Ich denke, wir werden –“

Barug Singh erschien im Zimmer, hinter ihm ein eingeborener Depeschenbote.

Dieser trat vor. „Sahib Harst, diese Depesche aus Berlin war an das Prinz Edward-Hotel adressiert,“ sagte der Mann. „Bitte – es ist eine Kabeldepesche mit Rückantwort –“

Harst riß das Telegramm hastig auf. Man merkte, daß die Depesche ihn beunruhigte.

Er las. – Seine Hand sank matt herab.

„Von der alten Köchin meiner Mutter,“ sagte er tonlos. „Meine Mutter ist schwer erkrankt –“

Er starrte trübe vor sich hin. Dann ging er an den Schreibtisch und füllte das Rückantwortformular aus, erklärte dabei: „Schraut, packe unsere Koffer. Wir fahren mit dem Morgenzuge ab –“

Er reichte das Formular dem Boten, gab ihm ein Trinkgeld und meinte zu Ralbrout:

„Mylord, ich muß nach Hause. Sie werden das begreifen. Wenn unsere brave Köchin „schwer erkrankt“ depeschiert, dann ist Gefahr vorhanden. So sehr ich auch bedauere, Ihnen nicht –“

„Aber ich bitte Sie, Mr. Harst!“ rief Ralbrout. „Meine aufrichtigste Teilnahme. Hoffentlich stellt sich die Krankheit als leichter heraus, wie Sie befürchten. Ich will dann nicht länger stören.“

Harst drückte ihm wortlos die Hand. Ich begleitete den Lord bis zum Auto.

„Harald hängt sehr an seiner Mutter,“ sagte ich traurig. „Es ist eine prächtige Frau. Auch ich liebe sie, als wäre ich ihr Sohn –“ –

Das Auto fuhr davon. Als ich in das Herrenzimmer zurückkehrte, war Harald schon beim Kofferpacken.

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Eine Frage,“ flüsterte ich. „Ob nicht vielleicht hier ein Betrug vorliegt? Ob nicht der Lord die Depesche gefälscht haben kann, um uns von hier zu entfernen!“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, mein Alter. Die Depesche war genau so echt wie der Postbote.“ Und dann – dann lächelte er plötzlich: „Sie war echt, das heißt, sie kam von der Post, weil ich sie – bei Freund Worbler telephonisch in dieser Form bestellt hatte. Als Du hier mit Ralbrout allein zurückbliebst, habe ich gar nicht den Versuch gemacht, den Revolverattentäter einzuholen, sondern bin schnell wieder ins Haus und nebenan in das kleine Kabinett geschlichen. So hörte ich jedes Wort, das Ihr spracht. Der Lord wollte Dich aushorchen. Du hast das wohl selbst bemerkt. Da ging ich nach unten und telephonierte an Worbler, der dann auch alles tadellos besorgt hat. Nun werden wir mit dem 7-Uhr-Zuge nach Kalkutta abreisen, das heißt, wir werden den Zug nur – Doch, das wirst Du ja miterleben. Worbler weiß auch in dieser Beziehung Bescheid, und ebenso wird der Chef der Flußreederei Plinctown eingeweiht werden.“

 

2. Kapitel.

Auf dem Star of London.

Als wir um ¾7 auf den Bahnsteig kamen, erwarten uns dort bereits Lord Ralbrout, Sir Collingham, der Gouverneur von Benares, und Freund Worbler.

Collingham war überaus liebenswürdig. Er hatte uns ein Abteil Erster reservieren lassen. Es gab einen sehr herzlichen Abschied. Besonders Worbler spielte den tief Gerührten. Kurz – die Komödie klappte glänzend.

Der Zug rollte davon.

„Ha – die Geschichte wird nicht so einfach werden!“ meinte Harst nun. „Es sind zwei Spione im Zuge!“

Er schloß das Fenster und setzte sich. „Was tun wir, mein Alter? Ich hatte mit Worbler verabredet, daß wir den Zug sehr bald wieder verlassen sollten. Einer seiner Beamten fährt mit, sollte die Notbremse ziehen und uns so Gelegenheit geben, in den Wald zu schlüpfen, während er auf der anderen Seite des Zuges mit dem Zugführer einen wüsten Streit beginnen wollte. Dieser Plan ist jetzt vereitelt. Es sind tatsächlich mindestens zwei Spione mitgefahren. Ich habe auf dem[2] Bahnsteig scharf aufgepaßt. Ich sah, daß Ralbrout mit zwei blondbärtigen Europäern, die wie Touristen herausstaffiert waren, ein paar Blicke wechselte. Diese Touristen sitzen jetzt im dritten Abteil neben uns.“

„Also Leute der Jacht?“

„Ganz sicher! Angebliche Deserteure! Der eine kann der Revolverattentäter von der verflossenen Nacht sein. Das war auch so ein hagerer Kerl mit wahren Affenarmen. – Wir haben über dieses Attentat auf den Lord noch nicht gesprochen. Es war natürlich bestellte Arbeit. Der Lord wußte, daß jemand auf ihn schießen würde. Er sagte zu Dir nachher, die Kugel sei ihm am Ohr vorübergegangen. Schwindel! Die Kugel muß mindestens dreißig Zentimeter von seiner Brust entfernt vorbeigesaust sein. Das war leicht festzustellen. Er ließ auf sich schießen, damit wir nicht etwa annähmen, er stecke mit den Deserteuren unter einer Decke. Und der Juwelendiebstahl ist ebenfalls plumper Schwindel. Mehr als plumper sogar. Dieser Diebstahl hat genau denselben Zweck: niemand soll etwa vermuten, der edle Lord könnte mit den entwichenen Matrosen in dasselbe dunkle Spiel verwickelt sein!“

Ich nickte. „All das habe ich mir schon gedacht. – Wie aber können wir jetzt unbemerkt und recht bald den Zug –“

Harst unterbrach mich. „Da gibt es nur ein Mittel: Gewalt! – Worblers Beamter, ein Weißer namens Dreager, muß helfen. – Dreager sitzt im nächsten Wagen. Geben wir ihm einen Wink, daß er in den Speisewagen kommen soll.“ –

Mr. Dreager setzte sich dann zu uns an denselben Tisch im Speisewagen – wie zufällig. Wir begannen ein harmloses Gespräch. Und – nach wenigen Minuten erschienen zwei blondbärtige Touristen und nahmen am Nachbartische Platz. Wieder nach ein paar Minuten kam eine ältere, grauhaarige Dame und belegte den Tisch hinter uns. Ich beobachtete, daß die Touristen und die Dame sich heimlich Zeichen gaben. Sie machten das recht ungeschickt. –

Mr. Dreager, der Detektivassistent, folgte uns dann in unser Abteil, nachdem wir eine Tasse Tee getrunken hatten.

„Sie müssen die drei Spione verhaften, Mr. Dreager,“ sagte Harald. „Wir wissen nun, daß es drei sind. Dicht vor der nächsten Station lassen Sie den Zug halten. Der Zugführer muß Ihnen ja gehorchen. Dann nehmen Sie die drei mit Hilfe des Zugpersonals unauffällig fest, sperren sie in einen Verschlag des Gepäckwagens ein und begleiten sie bis Kalkutta, wo Sie sie in Polizeigewahrsam bringen. Die Hauptsache ist, daß die Mitreisenden nicht aufmerksam werden und daß das Zugpersonal den Mund hält.“

Dreager versprach, daß er alles aufs beste erledigen würde und verließ unser Abteil wieder.

Wir waren jetzt bereits dreiviertel Stunde unterwegs. Wenn das, was Harst weiter plante, glücken sollte, mußten wir uns sehr beeilen, nach Benares zurückzukommen.

Fünf Minuten drauf die nächste Station, die der Zug ohne Aufenthalt passieren sollte.

Plötzlich hielt der Zug. Wir hatten unsere beiden Koffer schon zurechtgestellt.

Dann fuhr der Zug ohne uns weiter. – Wir hatten in zehn Minuten von einem Kaufmann dieses Städtchens ein Auto gemietet. Mit Höchstgeschwindigkeit sausten wir die gut gepflegte Straße nach Benares entlang.

Mr. Smithson, der Autobesitzer, war ein tadelloser Chauffeur und so vertrauenswürdig, daß Harald ihn in unsere Absichten einweihte. – Bereits um ¾9 kam Benares wieder in Sicht. Wir hielten vor der Stadt an einer der zahlreichen, uralten Tempelruinen an und nahmen unseren Requisitenkoffer in die Ruine mit. Selten haben wir zum Anlegen einer Maske so viel Zeit gebraucht wie damals. –

Gegen zehn Uhr betraten dann zwei Männer mit einfachen, kleinen Segeltuchkoffern in den Händen den Hof des Geschäftshauses der Flußreederei Plinctown in Benares.

Den beiden sah man die Matrosen auf den ersten Blick an. Ihre sanft blaurot strahlenden Nasen verrieten eine gewisse Vorliebe für Spirituosen. In ihren Ohrläppchen glänzten kleine goldene Ringe. Der größere von ihnen hatte eine hohe Schulter. Der kleinere hinkte etwas. –

Die Reederei Plinctown erledigte für Benares auch zugleich das Anheuern von Personal für die Flußschiffahrt. Deshalb hatte Harst auch damit gerechnet, daß Kapitän Tobort vom Star of London sich wegen Ergänzung der Besatzung der Jacht an diese Firma wenden würde.

Als wir, die beiden grogfrohen Matrosen, den Hof kaum betreten hatten, drängte sich ein älterer Europäer an uns heran und drückte Harst ein Päckchen Papiere in die Hand, flüsterte: „Tobort war noch nicht hier!“

Der Mann, kein anderer als Inspektor Worbler, verschwand wieder.

Die Papiere, die er uns inzwischen beschafft hatte, lauteten auf die Namen der österreichischen Matrosen Peter Pratt und Aloysius Krögele. – Wir hatten uns hinter einen Holzschuppen gestellt und studierten unsere Ausweispapiere, vereinbarten noch allerlei über das, was wir hinsichtlich unseres Aufenthaltes hier in Benares vorbringen wollten.

Dann meldeten wir uns im Kontor von Plinctown, wo wir bereits einen Kapitän vorfanden, der zwei Leute suchte. Als wir noch mit diesem verhandelten, erschien Mr. Tobort. Er nahm uns ahnungslos beiseite und machte uns ein besseres Angebot als der Flußdampferkapitän, nachdem Peter Pratt – das war Harst – rot grinsend in fürchterlichem Englisch erklärt hatte, wir beide seien nicht gern allzu lange hier an Land, da wir in Kalkutta von einer Brigg desertiert seien, deren Steuermann wir im Streit niedergeschlagen hätten.

Kurz – wir wurden mit Tobort einig. Tobort schien es nur recht zu sein, daß die Polizei uns suchte, wie Harst andeutete.

Um zwölf Uhr waren wir bereits auf der Jacht, die noch immer in jenem Flußarm lag, wo wir sie vor zwei Tagen heimlich beobachtet hatten. – Tobort führte uns in den Salon im Achterschiff hinab, wo das Ehepaar Ralbrout saß und sofort den Kapitän und uns neugierig und gespannt musterte.

Tobort nahm den Lord beiseite und flüsterte mit ihm in einer Ecke. Ralbrout nickte befriedigt, fragte uns dann noch nach verschiedenem aus, wobei Peter Pratt wieder eine ziemlich rüde Gesinnung an den Tag legte. Dies war auch dem Lord offenbar nur recht.

Er gab sich jetzt hier ganz anders. Er war nicht mehr der müde, blasierte Lord. Nein – jetzt erst merkten wir, wie vorzüglich er schauspielern konnte. Sein Gesicht war wie verkörperte eiserne Energie, als er zu uns sagte:

„Wenn Ihr beide Euch brauchbar erweist, wird es Euer Schade nicht sein!“

Jedenfalls stellten wir fest, daß Ernest Ralbrout in Wahrheit eine recht fragwürdige Persönlichkeit genannt werden mußte. Zu Tobort stand er in einem so vertrauten Verhältnis, daß man nur annehmen konnte, die beiden Männer müßten Geheimnisse recht gefährlicher Art zu hüten haben.

Dann wurden wir von Tobort in das Vorschiff in eine Kammer gebracht, wo wir wohnen sollten.

Auch diese Zuweisung einer besonderen Kammer bewies, daß wir hier an Bord zunächst noch nicht ganz für gleichberechtigt angesehen wurden. Denn die übrigen Leute hatten einen gemeinsamen Wohnraum. Es gab hier an Bord außer dem Kapitän noch einen Steuermann namens Salforglay, einen Maschinist namens Long und fünf Matrosen. – Im Matrosenlogis wäre für uns noch genügend Platz gewesen. Es waren ja sieben Leute angeblich desertiert. Und doch sollten wir beide allein in der Kammer wohnen. Das besagte genug!

Wir verstauten unsere Sachen in der Kammer. Dann lernten wir unsere fünf Kameraden kennen. Nun – trotz ihrer tadellosen weißen Leinenanzüge sah man es diesen Kerlen auf zehn Schritt Entfernung an, daß sie recht übles Gesindel waren. Nur zwei waren Engländer. Der dritte war Franzose, der vierte Spanier und der fünfte ein Grieche.

So begann unsere abenteuerliche Fahrt auf der elegantesten aller Jachten, auf dem Star of London.

Um zwei Uhr nachmittags verließ sie Benares und glitt den breiten Gangesstrom abwärts.

Wir hatten inzwischen mit den fünf Matrosen gemeinsam Mittag gegessen. – Seltsam: der Steuermann Salforglay war gleichzeitig Schiffskoch! Noch seltsamer: wir bekamen ein Diner von drei Gängen! – Am seltsamsten: der Lord und die Lady aßen genau dasselbe wie wir! – Harst hatte dies sofort ausspioniert.

Wir beide mußten dann im Schiffsraum die Ballastsandsäcke unter Aufsicht Salforglays anders verstauen helfen. Hierbei machten wir die Entdeckung, daß diese Sandsäcke in der Mitte lange schmale Kistchen enthielten. Wir taten jedoch so, als ob wir’s nicht bemerkten.

Um fünf Uhr näherten wir uns einer Stadt am linken Gangesufer. Es war nur ein kleinerer Ort. Die Jacht legte hier an, und wir beide und ein Matrose, der Spanier Miguel Sagrosta, mußten in die Stadt gehen und frische Früchte einkaufen.

Sagrosta lud uns zu einem Whisky in das einzige Hotel der Stadt ein. Wir merkten sehr bald, daß er uns betrunken machen wollte – wahrscheinlich auf Lord Ralbrouts Befehl. Wir waren schlau genug, ihn zu täuschen und vorzeitig die Bezechten zu spielen.

Als wir um sieben an Bord zurückkehrten, schimpfte uns Kapitän Tobort in gröbster Weise aus und ließ uns zur Strafe in unsere Kammer einschließen. Sagrosta aber sollte sogar 24 Stunden im Kielraum zubringen, weil er der Verführer gewesen.

Wir waren nun also gefangen. Daß die ganze Geschichte von vornherein abgekartet gewesen, konnte kaum zweifelhaft sein. Wir sollten eben die Nacht über unsere Kammer nicht verlassen können. Mithin würde nachts irgend etwas sich ereignen, das uns um jeden Preis verborgen bleiben sollte.

Dieser Ansicht war auch Harst. – Wir hatten uns in unsere Kojen gelegt und spielten die fest Schlafenden. Um neun Uhr brachte uns der Engländer Boolan, der den Lord und die Lady als Steward bediente, das Abendbrot und dazu eine Kanne kalten Tee. Wir ließen uns von ihm erst derb rütteln, bevor wir aufwachten. Boolan erwähnte, daß der Spanier zur Strafe hungern müßte. – „Ihr habt es besser!“ lachte er. „Morgen früh seid Ihr frei. Sagrosta wird erst abends frische Luft zu schnappen kriegen.“

„Kam’rad,“ flüsterte Harald in jenem fürchterlichen Baß, den er sich als Peter Pratt zugelegt hatte, „nimm das Altweiberwasser da, den Tee, nur wieder mit! Bring’ uns lieber ’ne Buddel guten Rum! Ohne ’n Grog, zucker- und wasserlos, schlaf’ ich nicht ein!“

Boolan erklärte, er wolle es versuchen. Er besorgte uns dann wirklich eine halbe Flasche Rum. – Unsere Kammer hatte eine kleine elektrische Pendellampe. Wir taten, als ob wir den Rum aus unseren Aluminiumbechern gierig tranken. Dann begannen wir zu gröhlen – irgend ein Matrosenlied, bis Steuermann Salforglay von außen gegen die Tür donnerte und sich Ruhe ausbat. Erst nach dieser groben Vermahnung legten wir uns nieder und stimmten ein Schnarchkonzert an, das jeder draußen im Gange hören mußte. Die Lampe hatten wir ausgeschaltet.

Die Jacht setzte ihre Fahrt ununterbrochen fort. Es mochte gegen elf Uhr nachts sein, als Harst neben meinem Kojenbett erschien, mich sacht berührte und flüsterte:

„Schnarche weiter! Ich werde das Schloß der Tür zu öffnen versuchen. Die Jacht hat gewendet. Wir fahren stromaufwärts.“

Dann hörte ich eine geraume Weile nichts von ihm. Wir hatten in unseren billigen Leinwandkoffern auch unsere Werkzeuge mitgebracht. Wenn das Schloß nicht gerade allzu kompliziert war, würde Harald es schon aufbekommen.

Abermals Harsts Stimme: „Nein – es geht nicht! Es ist eine Schraube in das Schlüsselloch eingeführt worden. Aber wir müssen hinaus! Um jeden Preis! Ich wette, die Jacht will die angeblichen Deserteure wieder an Bord nehmen. Ich habe mir schon vorhin die Bretterwände angeschaut. Links von uns liegt die Segelkammer, rechts der Vorratsraum der Kombüse (Küche). Ich werde mit der dünnen Stichsäge das breiteste Brett nach der Segelkammer in Angriff nehmen. Es ist ein Risiko: wir können dabei gehört und überrascht werden! Es bleibt uns jedoch nichts anderes übrig.“ –

Es war kurz nach zwölf Uhr, als Harald mir melden konnte, daß er das Brett unten und oben losgetrennt hatte. Gleich darauf waren wir in der Segelkammer, deren Tür nicht verschlossen war. Um an Deck zu gelangen, mußten wir das Mannschaftslogis passieren. Es war leer und dunkel. Wir stiegen die Treppe zum Deck empor. Die Motoren der Jacht waren bereits vor gut zehn Minuten verstummt.

Mit größter Vorsicht warfen wir einen Blick über das Deck und die Umgebung. Der Star of London lag an einer der kleinen, bewaldeten Inseln, die im Unterlauf des Ganges nicht gerade selten sind. Man hatte die Jacht mit zwei Trossen an Uferbäumen befestigt.

Das Deck war völlig dunkel. Vom Achterschiff her vernahmen wir die Töne des Klaviers, das im Salon stand. Von einer Wache war nichts zu bemerken. Wir krochen im Schatten der Reling entlang und kamen auch bis an die Oberlichtfenster des Salons. Wir wußten jetzt, daß auf Deck sich keine Wache befand. Nur auf der Brücke lehnte ein Mann, der uns jedoch unmöglich sehen konnte.

Die Oberlichtfenster waren hochgestützt. Wir hörten Stimmengewirr, Lachen und Gläserklirren. Dann sang eine Frauenstimme ein leichtfertiges Lied, daß bei den Zuhörern schallende Heiterkeit auslöste. Diese Frau konnte nur Lady Ralbrout sein.

Das Lied war zu Ende. Wieder Lachen und weinselige Stimmen. – „Es lebe die Insel Morton!“ rief jemand. Und das war ein anderer als der merkwürdige Lord.

Harald drückte meinen Arm.

Oh – ich hatte alles deutlich verstanden! – Insel Morton! Also das war’s was der sterbende Brabazon noch hatte aussprechen wollen! „Morton in“ – Morton-Insel! Nun wußten wir es!

Und abermals eine Stimme – die Kapitän Toborts:

„Ein Uhr ist’s. Ich werde das Signal geben!“

Wir huschten nach dem Vorschiff zurück, blieben auf der Treppe des Mannschaftslogis und paßten auf.

Drei – vier Männer erschienen an Deck, gingen auf die Brücke.

Plötzlich flammten auf der Brücke drei bengalische Flammen auf: Rot, Grün, Rot.

Die kleine Insel wurde für Minuten in ein fahles Licht getaucht.

Die Dunkelheit nachher war um so tiefer. – Zehn Minuten verstrichen. Dann hörten wir das Knattern eines Bootsmotors. Ein Boot legte am Fallreep an. Vier Leute kamen an Bord. Das Boot aber ward durch Axthiebe leck geschlagen und versenkt.

„Sie haben es gestohlen,“ flüsterte Harald. „Im übrigen stimmt die Zahl: sieben sind desertiert; drei fuhren als Spione im Zuge mit; vier sind hier wieder eingetroffen.“

Wir mußten jetzt in unsere Kojen zurück, da ein paar Leute sich der Treppe näherten. – Kaum hatte Harst das Brett wieder eingefügt, als die Motoren der Jacht zu arbeiten begannen.

Wir setzten uns nebeneinander auf Harsts Koje.

„Na – was denkst Du nun über Ralbrout und die Jacht, mein Alter?“ fragte Harald leise.

Ich schwieg und überlegte, erwiderte dann: „Wenn nicht General Collingham, der Gouverneur, das Ehepaar Ralbrout bei sich empfangen hätte, würde ich sagen: es ist gar nicht der Lord!“

„Sehr richtig. Dieser Verdacht muß in einem aufsteigen angesichts dieser Zustände hier an Bord. Aber – es muß ja wohl anderseits Ralbrout sein, falls wir es eben nicht mit Verbrechern zu tun haben, die genau wußten, daß der falsche Ralbrout dem echten Lord so ähnlich sieht, daß Collingham den Betrug nicht merken könnte.“

„Allerdings – dann!“ murmelte ich.

„Ja – dann durfte die Bande es schon wagen, hier in Benares aufzutauchen, wo sie vielleicht außer der Geschichte, bei der Brabazon beteiligt war, noch etwas anderes erledigen wollte, – vielleicht ein Geschäft mit der Filiale der Bank von England.“

„Hm – das verstehe ich nicht ganz –“

„Oh – die Sache liegt sehr nahe, mein Alter. – Es ist wohl selbstverständlich, daß es einen echten Lord Ernest Ralbrout gibt, der mit seiner jungen Gattin auf dem Star of London England verlassen hat. Den echten Lord muß eine Verbrecherbande überfallen und die Jacht genommen haben. Wo die ursprüngliche Besatzung geblieben ist, wo die Jacht den Besitzer gewaltsam wechselte und was sie weiter vorhat, wissen wir nicht. Jedenfalls dürfte der echte Lord hier in Benares bei der Filiale der Bank von England Kredit gehabt haben. Und da mag der falsche Ralbrout von der Bank ein nettes Sümmchen erhoben haben. General Collingham als guter Bekannter des Lords genügte, alle etwaigen Schwierigkeiten bei der Abhebung des Geldes zu beseitigen. – Kurz – diese Verbrecher sind so etwas wie moderne Piraten, – Seeräuber modernster Art und –“

 

3. Kapitel.

Der kleine Tom.

Harald schwieg.

Ich hatte vor Schreck seinen Arm umkrallt.

Jemand hatte gegen die Wand nach der Segelkammer gepocht. Und das Pochen wiederholte sich nun nochmals. Es klang, als ob ein Mensch mit dem Fingerknöchel geklopft hatte.

Wir beide saßen regungslos.

Da – hastige Schritte draußen im Gang. – Im Nu lagen wir auf unseren Betten, schnarchten.

Die Tür der Kammer ging knarrend auf. Ein Lichtschein glitt über mich hin.

Eine Stimme brüllte barsch: „Aufstehn Ihr beiden! Vorwärts! Ihr müßt die Deckwache übernehmen!“

Wir gähnten, reckten uns. Wir spielten die Schlaftrunkenen. Und doch dachte ich: „Es ist ja alles zwecklos! Ihr seid entdeckt!“

Ich schob die Rechte faul in die Jackentasche, entsicherte für alle Fälle die Repetierpistole.

„Vorwärts!!“ befahl Steuermann Salforglay nochmals. „Oben an Deck werdet Ihr schon nüchtern werden.“

Salforglay war allein. Das beruhigte mich etwas. Wir folgten ihm. Die Jacht fuhr wieder stromabwärts. Es war heller geworden. Oben auf der Brücke lehnte der Franzose Challier am Steuer. Salforglay ging und ließ uns allein.

Wir schlenderten an der Reling auf und ab. Nach einer Weile rief Challier:

„He, Pratt, versteht Ihr was vom Steuern? Werdet Ihr die Fahrrinne halten können?“

„Wenn’s weiter nichts ist!“ grunzte Harst. „Soll ich auf die Brücke kommen?“

Challier ließ sich so am Steuer ablösen und verschwand im Mannschaftslogis. Er hatte schwer geladen und schwankte. Das war ja eine nette Disziplin hier an Bord!

Harald winkte mich sehr bald zu sich herauf.

„Toll!“ meinte er. „Einfach toll! Eine Piratenbande wie diese gibt’s kaum noch und hat’s kaum gegeben. Hier tut jeder, was er will. – Was hältst Du von den Klopftönen? Ich gebe zu – mein Schreck war nicht klein! Aber – er war überflüssig. Heute droht uns noch keine Gefahr. Die beginnt erst, wenn die Bande merkt, daß ihre drei Spione, die sie Harst und Schraut nachgeschickt haben, verschwunden sind!“

„Aber – wer war denn der, der an die Wand pochte?“

„Ohne Zweifel ein Verbündeter von uns!“

„Wie das?“

„Nun – vielleicht jemand der früheren Besatzung, mein Alter. Nimm an, der Mann ist bei dem Überfall auf die Jacht – Da – da!“ unterbrach Harst sich. „Da – eine Gestalt an der Reling. Das ist ja ein Zwerg oder ein Knabe. Paß auf, Schraut: es ist der „Klopfer“!“

Auch ich bemerkte jetzt die Gestalt. Gewandt wie ein Aal glitt der kleine Mensch an der Reling hin, war dann blitzschnell oben bei uns auf der Brücke.

Es war ein Knabe – blaß, mager, dem Anzug nach ein Schiffsjunge.

Ganz atemlos stieß er hervor:

„Um Gottes willen – wer sind Sie?! Sie sind doch nicht einfache Matrosen und gehören nicht zu den Piraten, nicht wahr?“

„Nein, mein Junge. – Wer bist denn Du?“

„Das will ich Ihnen nächste Nacht erzählen. Ich muß wieder weg. Ich halte mich meist in der Segelkammer verborgen. Ich hörte, wie Sie das Brett zersägten. Morgen nacht also –“

„Halt! – Du bist einer der Besatzung der –“

„Ja, ja – Tom Farting, der Schiffsjunge. Morgen komme ich in Ihre Kammer –“

Er eilte wieder davon. Er verschwand in der vordersten Luke, deren Deckel er hinter sich wieder niederfallen ließ.

Harald schaute ihm nach.

„Muß ein tapferer kleiner Kerl sein, dieser Tom. Bin gespannt, was er erzählen kann. Es ist sicher nichts Alltägliches. Eine Jacht von der Größe des Star of London zu kapern und die Besatzung verschwinden zu lassen, und dann so geschickt zu verheimlichen, daß das Schiff den Besitzer gewechselt hat, dazu gehört ebenso viel Kühnheit wie Schlauheit; das alles erfordert Vorbereitungen und einen hervorragenden Anführer. Ein solcher ist der falsche Ernest Ralbrout ohne Zweifel. Er spielte seine Rolle als anmaßender, blasierter, anderseits auch liebenswürdig-vornehmer Weltmann vorzüglich. – Geh’ jetzt wieder auf das Deck hinab. Es ist besser, wir fallen durch nichts auf. Ich gebe für unser Leben keinen Pfifferling, falls die Bande uns durchschaut. Ich will auch ganz ehrlich sein: Ich habe recht große Sorgen, was die drei Spione anbetrifft! Wer weiß, was die Leute hier mit ihnen über ihre Rückkehr an Bord vereinbart hatten! Vielleicht wird der falsche Lord durch das Ausbleiben der drei doch argwöhnisch gegen uns. Und – wo erst ein Argwohn vorhanden, da kommt rasch Kleinigkeit zu Kleinigkeit, und aus Argwohn wird ein bestimmter Verdacht! Bis jetzt sind wir sicher. Beim ersten Anzeichen von Gefahr müssen wir jedenfalls fliehen oder unsere Flucht mit der Waffe in der Hand erzwingen.“ –

Daß diese Bedenken Harsts in mir recht ernste Gedanken wachriefen, war zu verstehen. Ich schlenderte wieder auf Deck hin und her. In der Jacht herrschte völlige Ruhe. Nur die Motoren arbeiteten. Dann erschien der Maschinist Long, ein älterer Mann zweifelhafter Nationalität, durch den Mittelaufgang an Deck und unterhielt sich mit mir eine Weile.

Der Morgen kam. Long war wieder im Maschinenraum verschwunden. Gegen ½6 tauchte Lord Ralbrout auf. Ich wünschte ihm guten Morgen. Er schaute zur Brücke empor und beobachtete Harst, rief dann:

„Pratt, Sie scheinen recht oft schon am Steuerruder gestanden zu haben.“

„Und ob, Mylord, und ob! Wenn der verdammte Schnaps nicht wäre, hätte ich’s längst zum Steuermann gebracht!“

Am rechten Ufer tauchte wieder eine Stadt auf. Schlanke, weiße Minaretts und golden leuchtende Kuppeln hoben sich scharf gegen den klaren Morgenhimmel ab. – Ralbrout hatte eine Karte hervorgeholt. Er breitete sie auf dem Klapptisch auf dem Achterdeck aus. Ich mußte sie festhalten, denn es wehte ein recht frischer Wind auf dem Flusse.

Es war eine Karte des Unterlaufes des Ganges. – „Es kann Damraon sein,“ murmelte Ralbrout nachdenklich.

In demselben Moment erschien die Lady neben uns. Ich machte einen unbeholfenen Kratzfuß. Sie nickte mir zu. Ich sah sie nun bei Tageslicht aus nächster Nähe. Sie war wirklich schön wie ein Gemälde, hatte einen wunderbar zarten Teint und prachtvolle dunkle Augen, die zu dem aschblonden Haar einen anziehenden Gegensatz bildeten.

Ralbrout trat mit ihr beiseite. Sie flüsterten miteinander. Dann nahm er mich mit auf die Brücke und sagte:

„Ihr könnt mal die Jolle zu Wasser bringen. Ich werde das Steuer übernehmen. Rudert nach der Stadt und fragt auf dem Postamt nach einer Depesche für mich – postlagernd für Lord Ernest Ralbrout. Ihr trefft die Jacht dann östlich der Stadt. Wir werden dort auf Euch warten.“ –

Um ¼8 waren wir auf dem Postamt in Damraon. Harald ließ sich bei dem Postvorsteher melden, der im selben Gebäude wohnte. Der Herr war ein Engländer. Harst zog ihn vollständig ins Vertrauen und telephonierte dann an die Filiale der Bank von England nach Benares. Da in Indien die Geschäfte stets schon um 7 Uhr geöffnet werden, konnte er den Bankdirektor sprechen und erhielt die Auskunft, daß Lord Ralbrout von der Bank 30 000 Pfund Sterling abgehoben hatte. Das waren 600 000 Mark. Harsts Vermutung stimmte also: der echte Lord hatte in Benares unbeschränkten Kredit gehabt, und der falsche Ralbrout hatte dies nach Kräften ausgenutzt. –

Eine Depesche war jedoch hier in Damraon nicht eingetroffen. – „Das dachte ich mir,“ meinte Harald. „Sie konnte nur von den drei Spionen abgesandt werden. Und die drei sind ja kaltgestellt.“

Der Postvorsteher half uns dann, eine Depesche zu fälschen, der Harald folgenden Text gab, der in deutscher Sprache lautete:

„Wollen sofort aus bestimmten Gründen Morton besuchen. Sonst alles in Ordnung. – Drei.“

Als wir mit dieser geschlossenen Depesche an Bord zurückkehrten, fanden wir den Lord, den Steuermann und Long auf der Kommandobrücke.

Ralbrout riß das Telegramm auf und überflog es. Sein Gesicht verriet Unruhe und Erstaunen. Er winkte Long und Salforglay auf das andere Ende der Brücke und beriet sich leise mit ihnen. – Daß er keinerlei Argwohn schöpfte, die Depesche könnte gefälscht sein, ging aus seinem Verhalten uns gegenüber hervor. Wir sollten frühstücken und uns dann ausschlafen, sagte er freundlich.

Wir stiegen in unsere Kammer hinab, nachdem wir uns aus der Kombüse Tee und anderes geholt hatten.

Unsere Kammer besaß nur ein kleines rundes Fenster. Wir aßen und zogen dann den Vorhang vor das Fenster. Unsere Tür hatte von innen einen starren Riegel. Wir riegelten uns ein, und Harald hob dann das Brett aus der Wand heraus, kroch in die Segelkammer und brachte auch wirklich Tom Farting mit, der sich auf Harsts Bett legen mußte, wo er mit der Decke bedeckt wurde. Wir gaben ihm zu essen. Der arme Junge, der etwa vierzehn Jahre alt sein mochte, war völlig erschöpft.

Harst verdunkelte die Kammer noch mehr, indem er ein Kopfpolster gegen das Fenster preßte. – Was der kleine Tom uns dann leise erzählte, enttäuschte uns sehr. – Vor etwa drei Wochen hatte die Jacht auf dem Wege von Singapore einen durch ein Unwetter übel zugerichteten Schoner getroffen. Der Kapitän dieses Schoners, der „Lord Nelson“ hieß, hatte den Lord angefleht, sein wrackes Schiff ins Schlepptau zu nehmen, da der Schoner seine einzige Habe sei. Der Lord hatte die Bitte denn auch erfüllt. – Diese Begegnung mit dem Lord Nelson fand nördlich der zu der Andamanen-Gruppe[3] gehörigen Preparis-Inseln gegen neun Uhr abends statt. Tom Farting war dann gegen Mitternacht als erster schlafen gegangen. Die übrigen Jachtmatrosen (die ursprüngliche Besatzung hatte aus nur zehn Leuten bestanden) blieben noch auf Deck, da es noch allerlei zu tun gab. Bevor er noch eingeschlafen war, hörte er oben Lärm und Schüsse. Als er eiligst in die Kleider fuhr, polterten schon hastige Schritte die Treppe zum Mannschaftslogis hinab, und eine Tom unbekannte Stimme rief: „Der Junge fehlt! Dann haben wir sie alle!“ – Tom war geistesgegenwärtig genug, um schnell in der Segelkammer zu verschwinden, deren Fußboden eine kleine Falltür besaß, die in einen Verschlag hinabführte, wo lediglich Reserveteile für die Motoren aufbewahrt wurden. Der Junge verstand es, in diesen Verschlag zu schlüpfen und die Segelballen wieder über die Falltür zu häufen. Man fand ihn nicht. Erst nach zwei Tagen wagte er sich wieder hervor. Hunger und Durst peinigten ihn zu sehr. Es war Nacht, und er gelangte auch unbemerkt in den Vorratsraum der Kombüse, versah sich mit allem Nötigen und kehrte in sein Versteck zurück. Er hatte dabei das Vorderdeck passieren müssen. So sah er denn, daß die Jacht inmitten flacher, kahler Felseilande in einem seeartigen Becken vor Anker lag. Das Mannschaftslogis war damals leer gewesen. Die Leute mußten sich also wohl an Land befinden. – Er hatte dann fast jede Nacht den Verschlag verlassen, konnte jedoch auch in den drei Städten, in denen die Jacht nachher ankerte, nicht entfliehen, da sich stets an Deck mehrere Wachen aufhielten und da er sich am Tage erst recht nicht hervorwagte. Er war überzeugt, daß die Piraten ihn kaltblütig getötet hätten. So lebte er die ganze Zeit über in dem dunklen Verschlag, bis er dann in der vergangenen Nacht das Arbeiten von Harsts Säge hörte und merkte, daß wir beide Neulinge an Bord und offenbar keine Mitglieder der Bande seien. –

Harald richtete an Tom noch allerlei Fragen, die den Lord und dessen Gattin und die rechtmäßige Besatzung des Star of London betrafen. Wir ersahen aus den Antworten, daß der falsche und der echte Lord Ralbrout tatsächlich miteinander Ähnlichkeit haben mußten, ferner daß die echte Lady Ralbrout ebenfalls aschblond war und daß die Besatzung bereits seit vier Jahren unverändert auf der Jacht Dienst getan hatte. Tom selbst, ein Neffe des Steuermanns, war als Schiffsjunge erst vor Antritt dieser nachher so unglücklich verlaufenen Reise an Bord gekommen. Er war, wie er betonte, überzeugt, daß die Piraten die Mannschaft niedergemacht hätten. – Der arme Junge konnte uns jetzt nicht wortreich genug versichern, wie froh er sei, daß er nun zwei Verbündete und noch dazu zwei Detektive gefunden habe. – Wir hatten ihm unsere Namen genannt, und er versprach, alles zu tun, was Harst verlangte. Harald sagte ihm, wir würden ihn jetzt reichlich mit Speise und Trank versorgen. Vorläufig solle er in seinem Versteck bleiben. – Er verschwand dann wieder. Es war ein mutiger, unternehmungslustiger kleiner Bursche. Daß er das Herz wirklich auf dem rechten Fleck hatte, sollten wir sehr bald erfahren. –

Ich kann die folgenden zwei Tage hier überspringen. Sie brachten nichts Neues. Wir waren jetzt schon halb und halb vollwertige Mitglieder dieses Banditengesindels geworden. Allerdings spielten wir unsere Rollen als rohe, gewalttätige, dem Trunk ergebene Seeleute auch tadellos. Man mißtraute uns in keiner Weise. Zum Schein stahl Harst sogar zweimal je eine Flasche Rum. Aber Kapitän Tobort sperrte uns deswegen nicht wieder ein.

Am Abend des zweiten Tages näherten wir uns Kalkutta. Wir legten vor der Stadt an. Erst nach Mitternacht passierten wir den Hafen und steuerten der offenen See zu.

 

4. Kapitel.

Das einsame Licht.

Es war eine düstere Regennacht. Am Himmel war kein Stern zu sehen. Zweimal wurde die Jacht von Zollkuttern angehalten. Wir merkten, daß die ganze Besatzung unter den Röcken Waffen trug. Die Zollbeamten gingen jedoch sofort wieder von Bord, nachdem sie die Schiffspapiere flüchtig eingesehen hatten.

Gegen elf Uhr beenden Harst und ich unsere Wache. Auf der Brücke befand sich nur noch der Matrose Akupulos, der Grieche, der das Steuerruder bediente. – Um halb zwölf gewahrten wir beide gleichzeitig hinter der Jacht die Positionslaternen eines Fahrzeuges, das dem Star of London an Schnelligkeit weit überlegen war. Dabei lief die Jacht schon ihre 18 Knoten.

„Ein Motorrennboot,“ meinte Harald leise. – Wir standen an der Reling des Achterschiffs. „Die Geschichte behagt mir nicht. Das Festland liegt bereits drei Meilen hinter uns. Und ein Polizeiboot kann es auch nicht sein. Sonst hätte man die Jacht in Kalkutta angehalten. Wenn die drei Spione etwa geflohen sind, können sie ein Rennboot gestohlen haben und jetzt an Bord kommen. Gehe für alle Fälle hinunter und sage Tom, daß er sich bereit halten soll. Sind es die drei, müssen wir fliehen.“

Ich eilte davon. – Fliehen?! dachte ich. Aber wie?! Hier auf offener See?! – Als ich zu Harald zurückkehrte, flüsterte er mir zu: „Ich werde Akupulos das Boot erst melden, wenn es dicht heran ist!“

Es kam jetzt eine heftige Regenbö hernieder. Unsere Ölmäntel troffen vor Nässe. – Die grüne und die rote Laterne des Bootes waren nicht mehr zu sehen.

Als der Regen nachließ, bemerkten wir sie jedoch kaum zweihundert Meter hinter dem Star of London. Harald kletterte auf die Brücke und meldete dem Griechen das Boot. Akupulos schickte ihn ins Achterschiff; er sollte den Kapitän und den Lord wecken.

Harald ließ sich Zeit damit. Als er wieder an Deck erschien, lief das niedrige, lange Motorboot dicht neben der Jacht.

Dann ein Ruf von drüben – nur ein Wort:

„Morton!“

Akupulos bückte sich sofort über den Maschinentelegraphen. Die Motoren der Jacht verstummten.

„Hole Tom!“ rief Harald mir ins Ohr. „Jetzt gilt’s! Es sind die drei!“

Da – man erkannte drüben auf dem Motorboot zwei Männer und ein Weib.

Tom verkroch sich an Deck vorläufig hinter dem Kombüsenaufbau. – Der Lord und Tobort waren aufgetaucht.

„Laßt das Fallreep herab!“ befahl Tobort uns.

Wir taten’s.

Die See war nur wenig bewegt. Die Jacht drehte mit halber Kraft bei, und das Motorboot legte am Fallreep an.

Der falsche Ralbrout und Tobort lehnten sich über die Reling. – „Verdammt, was bedeutet das alles?!“ brüllte Ralbrout den dreien zu.

„Verrat!“ rief der eine der Männer. „Du wirst Dich wundern! Die beiden Schufte haben uns verhaften lassen. Wir konnten erst heute abend den Aufseher bestechen. Zum Glück sahen wir die Jacht den Hafen passieren.“

Der Mann stieg das Fallreep empor. Ihm folgten die Frau und der andere Mann auf dem Fuße.

Harald war nach der Backbordreling gelaufen. Er wollte Tobort, Ralbrout und die drei vom Fallreep entfernen.

„Ein Dampfer mit abgeblendeten Lichtern!“ ertönte sein Ruf.

Eine neue Regenbö setzte ein.

Die fünf stürzten zur Backbordreling.

Ich war schon von selbst hinter den Kombüsenaufbau gelaufen. Ich wußte jetzt, daß Harst mit dem Rennboot entfliehen wollte.

Als Tom und ich das Fallreep hinab hasteten, löste Harst bereits die eine Trosse, mit der das Boot befestigt war.

Da – die Stimme des Griechen von der Brücke –

„Achtung – sie fliehen! Verrat! Hierher!“

Der Regen hätte ein paar Minuten länger anhalten sollen. Ich hatte gerade die zweite Trosse losgeworfen, als Tobort von der obersten Stufe des Fallreeps auf mich feuerte. Die Kugel riß mir den Ölhut herunter.

Ich griff in die Tasche. Die Clement war entsichert.

Ich drückte ab.

„Knalle sie nieder!“ brüllte Harst, der sich am Motor zu schaffen machte.

Tobort war zurückgetaumelt.

Wieder blitzte es von der Jacht auf. Aber das Boot war schon eine Strecke abgetrieben.

Hinter mir begann der Bootsmotor zu knattern.

„Ans Ruder, Tom,“ rief Harald.

Ich sah, wie der falsche Lord vom Fallreep zum Sprunge ansetzte. Er sprang zu kurz, fiel ins Wasser.

Unser Boot kam in Fahrt – schoß in das Dunkel hinein.

Und jetzt – jetzt von dem Star of London ein wahres Schnellfeuer. Ich warf mich lang hin; ich hörte die Kugeln gegen den Kajütaufbau prasseln, hörte von der Jacht ein wildes Wutgeheul. –

Die Dunkelheit hatte uns verschluckt. Um uns her Stille – das graue Nichts der Regennacht. Ich ging nach hinten, wo Harst vor dem kleinen Maschinenraum stand.

„Lichter aus!“ befahl er.

Ich löschte die beiden Laternen.

„Tom, wir dürfen die Jacht nicht aus den Augen verlieren!“ rief Harst wieder.

„Soll geschehen, Master,“ meinte der Junge fröhlich.

„Suche in der Kajüte nach einem Fernglas, mein Alter,“ sagte Harald nun, während das schlanke Rennboot in kurzem Bogen wendete.

Ich schaltete meine Taschenlampe ein. Die Kajüte war sehr elegant eingerichtet. Aber ein Fernglas fand ich nicht. –

Nun – wir fanden auch die Jacht nicht mehr! Wir hatten Pech. Es goß plötzlich in Strömen. Man sah die Hand vor Augen kaum.

„Die Motoren laufen auch ohne mich,“ meinte Harst. „Das Boot ist für Seereisen bestimmt. Es muß in der Kajüte Karten geben.“

Tom mußte jetzt südlichen Kurs steuern. Wir stellten fest, daß das Boot Miranda hieß, daß reichlich Benzin und Proviant an Bord war und daß in einem Schränkchen zwölf Seekarten lagen. Die eine breitete Harst auf dem Tische aus. Sie zeigte in der linken Ecke die nördlichsten Eilande der Andamanen-Gruppe.

„Was suchst Du eigentlich?“ fragte ich gespannt.

„Die Insel Morton, lieber Alter. Ich vermute, daß sie in der Nähe der Preparis-Inseln liegen wird. Dort traf die Jacht den wracken Schoner. Also kann man annehmen, daß die Bande dort irgendwo ihren Schlupfwinkel gehabt hat. Tom erzählte ja von den kahlen Felseninselchen, die er in der dritten Nacht nach dem Überfall wahrnahm –“ – Er beugte sich tiefer über die Karte. Sein rechter Zeigefinger drückte sich fest auf eine Stelle der Karte. Mit der Linken hielt er die Taschenlampe.

„Hier steht: Morton-Riff!“ sagte er aufatmend. „Und dieses Morton-Riff gehört zu der südlichsten der Preparis-Inseln. – Da – dies Zeichen bedeutet, daß die Preparis-Inseln unbewohnt sind. Und hier siehst Du Korallenbänke angedeutet. – Nun sollst Du auch erfahren, weshalb ich an Bord der Jacht blieb, obwohl uns dort jede Stunde der Tod drohte. Ich wollte mit nach der Morton-Insel. Ich bin überzeugt, daß die Piraten den Lord und seine Gattin geschont haben. Ein Lord Ralbrout zahlt gern ein immenses Lösegeld. Solchen Fang schlachtet man nicht ab!“

Ich nickte. „Das mag stimmen. – Wir werden also nach dem Morton-Riff fahren?“

„Ja. Vielleicht finden wir den Lord. Unser Boot läuft mindestens 23 Knoten. Es ist seetüchtig. Wir werden vor der Jacht die Morton-Insel erreichen. In zweiundeinhalb Tagen können wir dort sein, die Jacht erst in drei Tagen!“

Jetzt hatten wir Glück. Gegen Morgen klärte sich der Himmel auf. Es trat völlige Windstille ein. Wir lebten sehr behaglich an Bord. Es fehlte uns an nichts. Wir fanden in der Kajüte Papiere, die besagten, daß die Miranda dem Kaufmann Charles Bolbrinaux in Kalkutta gehörte. Wir entdeckten auch Zigarren und Zigaretten. Kurz: es ging uns prächtig. – Tom erholte sich in diesen zweieinhalb Tagen so gut, daß er die „Zuchthausfarbe“ völlig verlor.

Am Abend des zweiten Tages gegen zehn Uhr sichteten wir bei hellem Mondschein die nördlichste und größte der Preparis-Inseln. Harst hatte tadellos Kurs gehalten. Wir hatten es also nicht nötig, die Inseln zu suchen. – Wir fuhren weiter nach Süden, immer angesichts der Inselküste. Dann verschwand sie hinter uns. Das nächste Eiland tauchte auf. Wieder offenes Meer. Wieder ein paar Inselchen.

Wir ließen die Miranda nur noch mit halber Kraft laufen. Es wurde Mitternacht. Dann links von uns, umgeben von flachen, winzigen Felseninselchen, eine riesige einzelne Klippe, ein Berg, oben abgestumpft, – ein Berg wie ein vielseitiger Kegel ohne Spitze.

Tom stierte hinüber.

„Mr. Harst,“ keuchte er, „Mr. Harst, – da – jenen Berg sah ich damals in der Ferne, damals, als die Jacht in dem seeartigen Becken lag. Es war sehr dunkel, und ich –“

Er schrie plötzlich auf.

„Ein Licht – ein Licht!“

Auch wir hatten es bemerkt. Es war nur für Sekunden aufgeblitzt – etwa in der halben Höhe des Kegels.

 

5. Kapitel.

Gefunden! Und doch –?!

Wir brauchten volle drei Stunden, bis wir endlich von Süden her dem Morton-Riff uns bis auf dreihundert Meter genähert hatten. Es war dies wahrlich nicht leicht gewesen. Wir hatten das Motorboot durch die Kanäle der kahlen Klippen hindurchschleppen müssen. Die Motoren durften wir nicht arbeiten lassen. Sie hätten uns verraten. So aber hofften wir, daß niemand uns bemerkt haben könnte – niemand von den Leuten, die auf dem Morton-Riff hausten und die fraglos zu den Piraten gehörten.

Der Morgen mußte sehr bald anbrechen. Wir machten die Miranda im Schutze einer steilen Felswand fest. Tom mußte an Bord bleiben. Wir beide schwammen weiter von Eiland zu Eiland, hatten nun die Morton-Insel auf der Südseite erreicht. –

Eine Insel?! Nein – diese Bezeichnung verdiente der zerklüftete, steile, vielleicht vierzig Meter hohe Felskegel mit dem steinigen, schmalen Uferstreifen wirklich nicht.

Das Ufer bestand aus kleineren Klippen. Wir mußten erst über sie hinwegklettern, bevor wir an den Fuß des Kegels gelangten. Wir standen hier im Schatten des Berges, standen und lauschten. Dann umschritten wir ihn, vermieden jedes Geräusch, spähten nach oben, suchten nach einer Stelle, wo das riesige Morton-Riff sich vielleicht erklimmen ließe.

Nichts davon! Bis zur halben Höhe nur glattes Gestein! Erst von der Mitte ab zeigten sich Zacken und tiefe Spalten, Vorsprünge und schmale Risse.

„Wo und wie sollen hier Menschen hausen?“ flüsterte ich, nachdem wir den Steinkoloß zum zweiten Mal umrundet hatten.

Harald schwieg. Im Osten zeigte sich der fahle Schimmer des neuen Tages. Der Morgen graute.

„Und das Licht, das wir sahen?!“ meinte Harst dann leise. Er schaute dabei gen Osten. „Der Tag naht. Und – auch die Jacht kann nicht mehr fern sein!“ fügte er hinzu. „Wir müssen einen Gewaltstreich wagen. Es müssen Leute hier sein. Ich werde rufen!“

Er bog den Kopf nach oben, brüllte mit voller Lungenkraft:

„Hallo! Hier zwei Neue vom Star of London! Meldet Euch. Es droht Gefahr!“

Keine Antwort – nichts. Nur die Seevögel kreischten uns eine höhnische Erwiderung zu.

Wir gingen nach der Nordseite. Dort war das Licht aufgeflammt; dort wiederholte Harst den Ruf – genau dieselben schlau berechneten Worte.

Zweimal noch rief er hier.

Dann von oben eine Stimme: „Wer seid Ihr?“ – Der Mann selbst war nicht zu sehen.

Harst brüllte zurück: „Die Jacht ist in Kalkutta angehalten worden. Kapitän Tobort schickt uns. Wir konnten entfliehen. Ihr sollt den Lord anderswohin bringen. Wir haben ein Motorboot mit.“

Auch das war fein berechnet! Es mußte Eindruck machen!

Die Stimme von oben fragte noch verschiedenes, bis Harst rief: „Zum Teufel, beeilt Euch! Der Grieche ist zum Verräter geworden! Die Jacht wird wahrscheinlich sehr bald auftauchen. Polizei ist an Bord. Wenn Ihr noch lange zögert, fahren wir davon. Unser Hals juckt uns noch lange nicht nach einem Hanftau!“

Das genügte.

Eine Strickleiter fiel herab. – Es war jetzt so hell geworden, daß wir auch den Mann dort oben in der breiten Spalte erkannten.

„Kommt herauf!“ meinte er.

„Ihr seid verrückt!“ brüllte Harst scheinbar wütend. „Wir fahren ab, wenn Ihr nicht sofort die Gefangenen hinablaßt! Es ist höchste Zeit. Was sollen wir da oben!“

Der Kerl, ein pockennarbiger rothaariger Schotte, kletterte geschwind die Strickleiter abwärts und musterte uns mißtrauisch. Wir trugen die Anzüge der Jachtmatrosen, und Harst erzählte jetzt im Depeschenstil so viel Einzelheiten von der Verhaftung der Jachtbesatzung, daß dieser Mac Oven wirklich Angst bekam und jeden Verdacht fallen ließ.

„So sehr eilig ist’s noch nicht,“ sagte er. „Am Horizont ist kein Schiff zu sehen. Immerhin, wir werden die sechs sogleich hinabschaffen. Holt derweilen das Motorboot her.“

Wir ließen uns noch die Fahrrinne beschreiben und verließen das Riff, schwammen zurück, versteckten Tom im vorderen Verschlag der Miranda und fuhren durch die Kanäle dem Felskegel zu. Dies hatte etwa eine Viertelstunde Zeit beansprucht. Als wir am Ufer anlegten, sahen wir fünf Männer und eine Dame mit gebundenen Händen am Fuße der Riesenklippe stehen. Sie wurden von vier Leuten bewacht, die im Gürtel jeder zwei Revolver trugen und deren Gesichter deutlich zeigten, daß es ihnen auf ein Menschenleben nicht ankam.

Furchtlos gingen wir auf die Gruppe zu.

Harst grinste den echten Lord Ralbrout unverschämt an. „Sie haben Pech, Mylord!“ höhnte er. „Die Polizei will Sie befreien. Aber – sie wird uns nachpfeifen können!“ – Dann zu den vier Banditen: „Los – rein mit ihnen ins Boot!“

Die Kerle traten plötzlich zurück. Ihre Hände fuhren nach den Gürteln; ihre Augen hingen an Harsts Gesicht.

Und – da sah ich, daß Haralds falscher Schifferbart sich durch das Schwimmbad halb gelöst hatte.

Der eine der vier legte schon auf uns an.

Und ich – ich riß Harst lachend den falschen Bart völlig herunter, meinte recht frech und rüdig:

„Da – Das ist Peter Pratt, den die Polizei sucht! – Jungens, steckt die Knallbüchsen wieder ein! Einer, der die Hanfkrawatte umgelegt kriegen sollte, läuft nicht mit seiner wahren Visage herum!“

Die vier schienen beruhigt. – „Na, Ihr seid ja auch nur zu zweien!“ meinte Mac Oven. – Doch ein anderer trat jetzt an mich heran und – riß auch mir den Bart herunter.

Im selben Moment holte ich aus. Der Fausthieb gegen die Herzgrube streckte ihn zu Boden. Auch Harst hatte schon Mac Oven niedergeschlagen, ebenso den dritten. Der vierte aber feuerte. Harald sprang zur Seite.

Da – vom Motorboot her ein dünner Knall.

Der Kerl drückte zwar noch zum zweiten Male ab, taumelte aber schon zur Seite.

Tom hatte gerade noch zur rechten Zeit geschossen. Die Kugel des schweren Coldrevolvers, den wir in der Kajüte der Miranda gefunden hatten, war dem Banditen durch die Brust gegangen. –

Im Nu hatten wir die Fesseln der Gefangenen zerschnitten.

„Hinein ins Boot!“ rief Harst. „Dort draußen – es ist der Star of London! – Vorwärts! Keine Sekunde dürfen wir zögern!“

Wir ließen die vier Piraten liegen. Die Motoren der Miranda knatterten –

Wir entkamen mit genauer Not. Die Jacht suchte uns den Weg aus den Riffen zu verlegen; Gewehrkugeln umpfiffen uns, gaben uns das Geleit. Die Schnelligkeit der Miranda rettete uns. Der Star of London ließ sehr bald von der Verfolgung ab.

Wir nahmen Kurs auf Kap Negrais, die Südwestspitze von Unter-Birma. Es war dies der nächste Punkt des Festlandes. Bisher hatten wir keine Zeit gehabt, mit den Befreiten ein Wort in Ruhe zu wechseln. Nur Tom hatte dem Lord und der Lady bereits mitgeteilt, wer wir seien.

Lord Ernest Ralbrout bedankte sich jetzt bei uns, drückte uns die Hände. Er hatte tatsächlich einige Ähnlichkeit mit dem Piratenanführer. Nur Lady Ralbrout konnte sich, was das Äußere betraf, nicht mit jenem aschblonden Weibe messen, das wir in Benares als Lady kennengelernt hatten.

Dann saßen wir in der Kajüte des Motorbootes, und der Lord berichtete, wie die Leute des angeblich wracken Schoners die Jacht gekapert und dabei vier seiner braven Matrosen über den Haufen geschossen hatten, – wie man die Überlebenden dann in den hohlen Felskegel gebracht und dort bewacht hatte. – Auf Harsts Fragen erwiderte er sodann:

„Ja, ich hatte sowohl in Kalkutta als auch in Benares bei den Filialen der Bank von England unbeschränkten Kredit. Außerdem befanden sich an Bord der Jacht die Juwelen meiner Frau. Diese Piraten werden also wohl auch in Kalkutta eine große Summe abgehoben haben.“

„Und der Anführer der Bande, Mylord? Ist Ihnen der Mann irgendwie von früher her bekannt?“ meinte Harald nun.

„Bekannt, Mr. Harst?! – Nein – woher sollte ich den Menschen wohl kennen?!“

Ich erwähne hier diese Antwort, weil sie für den zweiten Teil dieses Abenteuers wichtig ist. – Ich habe nur noch folgendes hier zu bemerken:

Wir trafen vier Tage drauf in Kalkutta ein. Inzwischen hatte ein Passagierdampfer, dem wir südlich von Kap Negrais begegnet waren, durch Funkspruch bereits einen englischen Kreuzer nach dem Morton-Riff geschickt. Der Kreuzer fand das Felsennest der Piraten leer. Von der Jacht war im ganzen Meerbusen von Bengalen und weiter südlich nichts mehr zu entdecken. Alle Häfen, alle Schiffe waren gewarnt worden. Die allgemeine Razzia auf den Star of London blieb ohne Erfolg. – In Kalkutta hatte der falsche Lord Ralbrout ebenfalls von der Bank 35 000 Pfund Sterling abgehoben. Der echte Lord hatte so den Verlust seiner Jacht und einer Summe von rund 2¼ Millionen zu beklagen. –

Die Fortsetzung dieses Abenteuers begann in Kalkutta. Wo und wie, wird der Leser sofort sehen.

 

 

Der Taucher von Sandriwata

 

1. Kapitel.

Der tote Chinese.

Lord Ernest Ralbrout hatte gleich nach unserer Ankunft in Kalkutta eines jener eleganten Wohnschiffe gemietet, die selbst dem besten Luxushotel vorzuziehen sind. Er hatte uns eingeladen, dort seine Gäste zu sein, und hatte auch den Rest der Besatzung des noch in Piratenhänden befindlichen Star of London in dem schwimmenden Hause untergebracht. – Harald war diese Einladung, wie er nachher sagte, aus bestimmten Gründen nicht angenehm. – „Man hat auf diese Weise zu viele gesellschaftliche Verpflichtungen,“ meinte er. „Uns fehlt die Bewegungsfreiheit. Alle Zeitungen haben den Fall Ralbrout breitgetreten. Zum Unglück liegt unser Wohnschiff am Dampferkai vertäut und wird nun den Tag über von Neugierigen belagert. Man kann keinen Schritt unbeobachtet tun. Wir beide sind die Hauptzielscheibe von photographischen Apparaten in allen Größen. Ich verzichte gern auf diese vornehm ausgestatteten Räume und das prächtige Essen! Ich will mein eigener Herr sein!“

Er hatte recht: dieser Sensationshunger der Bevölkerung war überaus lästig! – Ich wollte jetzt etwas fragen. Aber Harald fuhr schon fort: „Du willst wissen, weshalb ich soeben von „bestimmten Gründen“ und dem Wunsch nach voller Bewegungsfreiheit sprach. – Meinst Du, daß die Piratenbande für mich abgetan ist?! Niemals! Schon aus dem einfachen –“

Er schwieg. Es hatte an die Tür unserer Luxuskabine geklopft. – Harst rief: „Herein!“

Es war Lady Mabel Ralbrout. – Sie trat hastig ein, drückte die Tür hinter sich zu und blieb schwer atmend stehen. Ihre Augen zeigten Tränenspuren.

Wir hatten uns erhoben. – „Wollen Sie bitte Platz nehmen, Mylady,“ sagte Harst leise und rückte ihr einen Korbsessel zurecht.

Sie streckte ihm die Hand hin, flüsterte:

„Oh mein Gott, – wie ich darunter leide!“

Zwei Tränen rannen die schwach gebräunten Wangen entlang.

„Das kann ich verstehen, Mylady,“ erklärte Harald voll herzlicher Teilnahme.

Sie blickte ihn erstaunt an. – Auch ich war überrascht. Wie konnte Harst wissen, was diese junge, verwöhnte Frau bedrückte?!

„Setzen Sie sich!“ wiederholte er zart. – Sie tat es. Ihre Augen ruhten dann wieder gespannt auf seinem Gesicht.

„Mylady,“ fügte er hinzu und nahm neben ihr Platz, „es ist jetzt zehn Uhr vormittags. Wir sind vor vier Tagen hier in Kalkutta eingetroffen. In der zweiten Nacht nach unserer Ankunft konnte ich nicht schlafen und ging an Deck des Wohnschiffes, lehnte mich vorn an den Kombüsenaufbau und genoß die Reize der Tropennacht und die des stets belebten Hafens. Da sah ich, daß Ihr Gatte ebenfalls an Deck erschien, daß er eilig die Jacht verließ. Er verschwand zwischen den Kaispeichern. Gestern nacht wiederholte sich dasselbe, ebenso in der verflossenen Nacht. In den beiden ersten Nächten kehrte Ihr Gatte gegen sieben Uhr morgens heim. Heute hat er sich noch nicht wieder eingefunden. – Sie haben hier auf dem Wohnschiff getrennte, aber benachbarte Schlafgemächer, Mylady. Sie merkten, daß Lord Ernest sich davonschlich. Haben Sie ihn gefragt, was er nachts in der Stadt treibt?“

Ich war sprachlos! Ich hatte keine Ahnung von alledem! Also Harald hatte dem Lord nachspioniert, hatte ihn beobachtet! – Weshalb in aller Welt, – weshalb nur?!

Lady Mabel nickte. „Ja, ich fragte ihn. Und er – er erbleichte, als ich ihm auf den Kopf zusagte, daß er Geheimnisse vor mir hätte! Er wich einer direkten Antwort aus, behauptete, er hätte sich nur Bewegung machen wollen. Am Tage sei es so sehr heiß. – Das war gestern nachmittag. Und jetzt – jetzt ist er noch nicht zurück!“

Sie schluchzte auf. „Oh, Mr. Harst, ich flehe Sie an, suchen Sie Ernest! Es muß ihm etwas zugestoßen sein!“ rief sie verzweifelt. „Es ist ja bereits zehn Uhr, und –“

Harald hatte den Kopf geschüttelt. Die Lady stockte, fragte dann rasch: „Ist ihm nichts zugestoßen?“

„Nein. Noch nicht,“ erwiderte Harst. „Bitte kehren Sie jetzt wieder in Ihre Gemächer zurück, Mylady, und sagen Sie Ihrem Gatten nichts davon, daß Sie sich mir anvertraut haben. Sie können vorläufig ganz außer Sorge sein. Ihr Gatte wird beschützt.“

„Beschützt?!“ meinte sie verwirrt. „Weshalb? Von wem?“

„Von uns und – der Polizei, Mylady. – Gehen Sie! Es ist besser so. Und verraten Sie nichts!“

Sie erhob sich zögernd. „Es – es handelt sich also um nichts, das mich – eifersüchtig machen könnte?“ fragte sie jäh errötend.

„Nein, Mylady. – Weshalb Lord Ernest das Wohnschiff heimlich verläßt, weiß ich nicht – noch nicht. Es wird sich alles klären.“

Sie reichte uns nacheinander die Hand zum Abschied.

„Wenn Harald Harst jemand beschützt, ist jede Angst unnötig,“ sagte sie mit einem schwachen Lächeln und huschte davon. –

Harald nahm eine seiner Mirakulum und zündete sie umständlich an.

„Nicht wahr, mein Alter,“ meinte er dann, „nun wirst Du mir Vorwürfe machen, weil ich Dich nicht sogleich eingeweiht habe. – Laß’ das bitte! Ich hätte Dir nämlich heute alles ohnehin erzählt. – Ich bin natürlich in der zweiten Nacht nach unserer Ankunft nicht zufällig auf Deck gewesen. Nein, ich vermutete, daß Ralbrout das Wohnschiff verlassen würde. Wir waren doch damals abends im Alhambra-Theater. Ich beobachtete, wie der Logenschließer dem Lord heimlich einen Zettel zusteckte, den er nachher, weil er sich vor spähenden Augen sicher wähnte, in unserer Loge zerriß und auf die Erde warf.“

„Ah,“ unterbrach ich ihn, „als wir fortgingen, kehrtest Du nochmals in die Loge zurück, weil Du Dein Opernglas vergessen hattest –“

„Ja, weil ich die Papierfetzen sammeln wollte –“ – Er holte ein Blatt aus der Tasche hervor, auf das er die Schnitzel sauber festgeklebt hatte.

Ich sah mir den Zettel an. Es stand nur darauf, und zwar in Maschinenschrift:

„2 Uhr morg. Teehaus an der Pao-Poolu-Pagode. H.“

„Ich bin Lord Ernest alle drei Nächte gefolgt,“ erklärte Harald weiter. „Er besuchte das Teehaus und wurde dort regelmäßig von einem alten buckligen Chinesen angesprochen, mit dem er sehr lebhaft sprach. Diese Unterredung dauerte eine Stunde, auch in der verflossenen Nacht. Nachher irrte der Lord durch die Straßen wie einer, den eine furchtbare Sorge ruhelos macht.“

„Und jetzt – heute? Wo steckt er denn heute?“

„Er wartete, bis die Filiale der Bank von England um 7 Uhr geöffnet wurde, und betrat das Bankgebäude. Ich aber ging hier nach dem Wohnschiff zurück und legte mich leise zu Bett. Du bist um Deinen festen Schlaf zu beneiden.“

„Und die Polizei?“

„Ah so – die Polizei! – Ich habe gleich nach der ersten Nacht Detektivinspektor Plamport einen Wink gegeben, den Lord beobachten oder besser beschützen zu lassen. Zwei Beamte, die besten Leute Plamports, gehen Lord Ernest nicht von den Fersen.“

Ich nahm mir eine Zigarre, schnitt die Spitze ab und fragte: „Du weißt wirklich nicht, was den Lord in das Teehaus treibt?“

„Nein. Wirklich nicht. Ich ahne es nur. Und Du könntest es ebenfalls ahnen, wenn Du –“

Und wieder klopfte es. Der Diener Lord Ernest meldete uns einen Mr. Robert Portamp in sehr dringender Angelegenheit.

„Gut, Baptiste, führen Sie den Herrn her. – Ist Seine Lordschaft bereits sichtbar geworden?“

„Nein, Mr. Harst.“ – Baptiste verbeugte sich und ging.

Harald lächelte. „Mr. Portamp ist Dir kein Fremder. Er ist die Perle der indischen Staatsdetektive – er ist einfach Walter Plamport, der Inspektor, nur in anderer Aufmachung, damit sein Besuch hier bei uns nicht auffällt.“

Und Plamport trat ein. Der dürre Plamport hatte jetzt als Mr. Portamp ein Spitzbäuchlein und einen fuchsigen Bart, trug Brille und stotterte seine Begrüßung krächzend hervor.

Harst winkte ab. „Hier nicht nötig, Plamport! Uns kann niemand belauschen. Die Wände sind doppelt und haben Korkeinlagen.“

Der Detektivinspektor hatte ganz wilde Augen, als er jetzt hervorstieß:

„Der bucklige Chinese ist tot! Nur Lord Ralbrout kann ihn erstochen haben.“

Harst warf die Zigarette in den Aschbecher. „Setzen Sie sich und erzählen Sie, Plamport!“

Der Inspektor tupfte sich den Schweiß von der Stirn. „Da ist nicht viel zu erzählen, lieber Harst. Der Lord verließ heute gegen halb acht die Bank. Er trug ein flaches Päckchen in der Linken. Meine beiden Leute blieben, als ärmere Inder verkleidet, hinter ihm. Der Lord nahm einen Wagen und fuhr über die Pontonbrücke nach Howrah hinüber, verließ den Wagen außerhalb der Industrievorstadt und verschwand in dem Garten eines verfallenen Bungalow. Meine Leute wollten sich von hinten an den Bungalow heranschleichen. Sie hörten plötzlich zwei Schüsse und einen leisen Schrei. Als sie den freien Platz an der Rückfront des Hauses überschauen konnten, fanden sie den Chinesen regungslos im Grase liegen. Der Mann hatte einen Stich genau im Herzen. Er lebte noch und stammelte, bevor er verschied: „Lord Ralbrout hat mich –“ – Mehr brachte er nicht über die Lippen. – Meine Beamten fanden das verwahrloste Haus leer. Der Lord war bereits geflüchtet. – Und dann stellten sie fest, daß der bucklige Chinese mit der Hornbrille und dem dünnen grauen Bart gar kein Chinese und auch nicht bucklig war. Der Buckel war ein Kissen, und der Tote ist ein Europäer von etwa vierzig Jahren. – Sie meldeten mir den Mord. Ich ließ die Leiche an Ort und Stelle bewachen und kam zu Ihnen. Das ist alles.“

„Gehen wir, Plamport,“ sagte Harald kurz. „Ich möchte mir den Toten anschaun.“

Als wir das Deck betraten, schritt gerade Lord Ralbrout über die Laufplanke. Er war aschfahl im Gesicht und stützte sich schwer auf seinen Spazierstock. Er sah uns, zauderte. Das Blut schoß ihm in die Wangen. Dann ging er uns entgegen, begrüßte uns. Um seine Augen lagen dunkle Ringe. Harst stellt Plamport als Mr. Portamp, Kaufmann aus Barhampur, vor.

„Mr. Portamp braucht unsere Hilfe, Mylord,“ fügte er hinzu, ohne das leidende Aussehen Ralbrouts zu beachten. „Entschuldigen Sie. Wir müssen nach seinem Hotel.“

Wir verließen das Wohnschiff. Wir bogen in eine der Speichergassen ein, und Plamport meinte nun sehr ernst:

„Ralbrout sah wie ein Mörder aus! Ich hätte ihm den Mord –“

„Nichts da!“ fiel Harald ihm ins Wort. „Ralbrout ist Ihnen sicher. Lassen Sie ihn vorläufig in Ruhe. Glauben Sie ja nicht, lieber Plamport, daß es sich hier um einen Mord handelt! Wir werden die Wahrheit nie erfahren, wenn wir nicht sehr behutsam zu Werke gehen.“

„So?! Ich soll ihn also nicht ins Verhör nehmen?“

„Auf keinen Fall. Ihre Beamten werden schweigen. – Fahren wir nach der Bank.“

Dort erklärte uns der erste Kassierer, daß Lord Ralbrout heute früh 25 000 Pfund Sterling abgehoben hätte. Er versprach uns, dem Lord unsere Nachfrage zu verheimlichen.

Wir fuhren weiter nach der Industriestadt Howrah am anderen Ufer des Hugli. Dann standen wir vor der Leiche.

Ich erkannte in dem Toten sofort den Piratensteuermann Salforglay. Harst drückte meinen Arm. Ich schwieg also.

Die Beamten hatten dem Toten bereits die Taschen geleert. Das, was der falsche Chinese bei sich getragen hatte, war völlig belanglos.

Harst durchsuchte die Taschen nochmals. Auch er entdeckte nichts mehr. – Der breitkrempige Basthut des Toten lag abseits an der Hintertreppe des Bungalow. Harald hob ihn auf, warf ihn wieder weg.

„Sie können die Leiche fortschaffen lassen, Plamport,“ meinte er. „Hier gibt es nichts mehr zu sehen. Schraut und ich werden noch hier bleiben.“

Nach einer Viertelstunde waren wir allein in dem verwilderten Garten.

Harald bog jetzt ein kleines Gebüsch an der Treppe auseinander und – zog den Basthut des Steuermanns hervor.

„Siehst Du, mein Alter, so läßt man wichtige Beweisstücke verschwinden,“ sagte er. „Bitte – schau ihn Dir an!“

Es war ein billiger, neuer, aus Bast geflochtener Hut, innen mit Schweißleder und einer dünnen Korkeinlage im gewölbten Hutkopf.

Aber der Hut war merkwürdig schwer.

Ich wog ihn in der Hand. Dann faßte ich unter die Korkeinlage. Dort war ein zusammengefaltetes Stück Leinwand verborgen. Und in der Leinwand lag etwas Hartes, Rundes, ganz Flaches: eine dicke Glasscheibe! – Nichts weiter!

 

2. Kapitel.

Eine Warnung.

Harald wartete geduldig, bis ich sie mir genügend ausgesehen hatte. Ihr Durchmesser betrug etwa 18 Zentimeter. – Es war keine Scheibe. Es war eine konvexe Linse. Sie war recht eigenartig geschliffen. Ich hatte noch nie eine solche Linse in der Hand gehabt. Am Rande war folgendes eingeritzt:

Syst. Rotax 18½, 7 plus 3.

„Eine Linse,“ sagte ich und reichte sie Harst, der inzwischen den Hut gehalten hatte.

Er betrachtete sie, schaute hindurch und schob sie in die Tasche.

„Hier nach Fußspuren zu suchen erübrigt sich,“ meinte er. „Die Beamten haben alles zertrampelt. Diese Leute werden es nie lernen, ihren Beruf zur Kunst auszubilden. Kehren wir an Bord zurück.“

Er knöpfte den Hut unter seine Sportjacke, wobei er ihn ganz flach drücken mußte.

Gegen ein Uhr mittags langten wir auf dem Wohnschiff an. Lord Ralbrout lag auf dem Achterdeck unter dem Sonnensegel in einem Liegestuhl. Seine Gattin saß neben ihm. Ihr bekümmertes Gesicht verriet, daß Ralbrout ihr neuen Anlaß zu trüben Gedanken gegeben hatte.

Der Lord selbst sah sehr angegriffen aus. – Wir begrüßten das Ehepaar und nahmen in Korbsesseln Platz.

„Ein interessanter Fall?“ fragte Ralbrout matt. „Wie hieß der Herr aus Barhampur doch? War’s nicht Partomp?“

„Portamp, Mylord. – Allerdings ein interessanter Fall. Der Herr steht unter dem Verdacht, einen Mord begangen zu haben,“ erwiderte Harst ohne besondere Betonung.

„Mein Gott!“ rief Lady Mabel entsetzt. „Ein Mord?! Wie verhält sich die Sache denn?“

Ralbrout war noch bleicher geworden.

„Der Herr soll einen Chinesen niedergestochen haben,“ erklärte Harald und zog sein Zigarettenetui hervor, gleichzeitig auch den Basthut.

„Was haben Sie denn da?“ meinte die Lady erstaunt.

„Den Hut des Opfers, Mylady –“

Ralbrout hatte jetzt die Augen wie in einem Anfall von Schwäche geschlossen.

„Die Einzelheiten dürften nichts für die zarten Nerven einer Dame sein,“ fügte Harald hinzu und warf den Hut auf den nächsten Stuhl.

Ich sog jetzt unauffällig die Luft ein. Mir schien’s, als wehte von Ralbrout ein leichter Geruch von Jodoform herüber.

Lady Mabels Augen hatten sich plötzlich mit Tränen gefüllt.

„Da mögen Sie recht haben, Mr. Harst,“ sagte sie leise. „Meine Nerven haben auch durch die Gefangenschaft in der Morton-Klippe sehr gelitten. Es ist heiß hier an Deck. Die Herren entschuldigen mich –“

Sie stand auf und ging die Treppe hinab.

Ralbrout schaute ihr nach. In seinem Blick lag etwas Müde-Verzweifeltes. Dieser Blick wanderte dann scheu zu Harst hin, der weit zurückgelehnt seine Zigarette rauchte.

„Mr. Harst!“ flüsterte Ralbrout dann hastig, „ich sehe, daß Sie mir heimlich gefolgt sein müssen. Das – das ist ein schlechter Dank mir gegenüber!“ – In seiner Stimme klang ebenso Bitterkeit wie Hoffnungslosigkeit mit.

Haralds graue Augen ruhten auf des Lords linkem Oberarm.

„Sie sind verwundet worden und haben sich bei einem Arzt verbinden lassen, Mylord,“ meinte er leise. „Wollen Sie sich uns nicht anvertrauen?“

Ralbrouts Lippen lagen ganz fest aufeinander. Er starrte auf die weiß gescheuerten Bootsplanken. Dann entgegnete er:

„Nun gut, Mr. Harst. Es sei. – Die Geschichte begann in der Loge des Alhambra-Theaters –“

„Ich weiß das alles, Mylord,“ fiel Harst ihm ins Wort. „Sie trafen dreimal in dem Teehause mit dem verkleideten Steuermann der Piratenbande zusammen. Heute hoben Sie 25 000 Pfund Sterling von der Bank ab. Zu welchem Zweck?“

„Es handelte sich um die Rückgabe der Juwelen meiner Frau. Deshalb verhandelte ich mit jenem Salforglay. In dem leeren Bungalow sollte ich ihm heute das Geld aushändigen und dafür die Juwelen zurückerhalten. Salforglay schoß jedoch auf mich und traf meinen linken Oberarm. In der Notwehr stieß ich mit meinem Dolchmesser zu. Dann rannte ich in meiner Kopflosigkeit davon. Ein Arzt legte mir einen Verband an und lieh mir seine bastseidene Jacke, da der Ärmel der meinigen[4] mit Blut getränkt war.“

Harald nickte. „Also um die Juwelen ging es. Haben Sie sie denn nun wiederbekommen?“

„Nein – nein! Ich war über den Anblick des zusammengesunkenen Salforglay so entsetzt, daß ich wie ein Wahnsinniger forteilte –“

„Salforglay hatte die Juwelen aber doch wohl bei sich?“

„Das weiß ich nicht –“

„Wir haben sie nicht gefunden, Mylord. Es war sehr leichtsinnig von Ihnen, sich in den verwilderten Garten zu wagen – sehr leichtsinnig! Nun, die Sache ist für Sie ja noch glücklich abgelaufen. Es wäre empfehlenswert, wenn Sie den zuständigen Beamten, den Detektivinspektor Plamport, herbitten und den Sachverhalt zu Protokoll geben würden. Damit wäre die Angelegenheit erledigt. Es liegt ja ohne Zweifel Notwehr vor. Totschweigen läßt sich der Vorfall nicht. Niemand kann Ihnen daraus einen Vorwurf machen, daß Sie insgeheim sich mit einem der Piraten in Unterhandlungen einließen, um die Juwelen zurückzuerlangen.“

Lord Ralbrout blickte Harst gespannt an. „Sie meinen also wirklich, daß man mich nicht durch eine langwierige Untersuchung quälen wird?“

„Nein – niemals, Mylord! Wenn es Ihnen recht ist, fahren Schraut und ich sofort zu Plamport, den ich von früher her gut kenne.“

„Oh – tun Sie es! Meinen herzlichsten Dank, Mr. Harst. Das werde ich Ihnen nie vergessen – nie!“ –

Wir verließen das Wohnschiff wieder, nahmen einen Wagen und fuhren durch den Maidan-Park zur Polizeidirektion.

Als wir auf den wundervollen Wegen inmitten hochstämmiger Palmen dahinglitten, sagte Harald plötzlich:

„Mein Alter, er log ganz geschickt – nur nicht logisch! Logisch ist das, was ein scharfer Verstand sinngemäß ordnet und aneinander reiht. Der Lord vergaß den Zettel, der ihm zugesteckt wurde, also den Anfang der Geschichte. Der Zettel aber war mit H unterzeichnet. Und – der Steuermann hieß S – Salforglay! Woher wußte der Lord, daß es sich um einen der Piraten handelte, als er diese Einladung in die Teestube erhielt – woher?!“

Ich schwieg etwas beschämt. Daran hatte ich allerdings nicht gedacht!

„Ja – als Ganzes genommen sind die Angaben Ralbrouts überzeugend,“ fuhr Harald fort. „Auch Plamport wird sich damit zufrieden geben. Nur wir nicht! Ich muß wissen, weshalb der Lord heute die 25 000 Pfund Salforglay aushändigen wollte und wer dieser H ist, der den Zettel dem Lord zustellen ließ! – Ich sagte Dir heute ja schon: ich ahne, weshalb Ralbrout der Aufforderung dieses H so bedingungslos nachkam. Und Du könntest es jetzt noch leichter ahnen als vormittags! Denke mal an die Abfahrt vom Morton-Riff, als wir den Kugeln der Piraten entgangen waren; denke an das, was damals in der Kajüte der Miranda gesprochen wurde und wie der Lord mir eine Frage beantwortete. Auf dieses Wie kommt es an.“

Ich sann angestrengt nach. Aber ich erinnerte mich an nichts, das mir aufgefallen wäre.

Wir hielten vor dem Polizeigebäude. – Harald berichtete Plamport von Ralbrouts Verwundung. „Es ist zu begreifen,“ fügte er hinzu, „daß der Lord vor aller Welt verheimlichen wollte, sich mit einem der Piraten derart eingelassen zu haben. – Der arme Mensch hätte sein Leben dabei einbüßen können. Verfahren Sie milde mit ihm, Plamport!“

„Weshalb nicht?!“ meinte der Inspektor: „Die Sache ist ja geklärt!“ –

Harst lehnte es ab, Plamport zu begleiten. „Wir haben noch ein paar Einkäufe zu besorgen,“ sagte er.

Als Plamports Dienstauto verschwunden war, ließen wir uns in das Hafenviertel fahren, wo es alle möglichen Geschäfte mit Seemannsartikeln gab.

Harald blieb vor einem Basar stehen, in dessen einem Schaufenster Fischereigeräte ausgestellt waren.

„Vielleicht ist die Linse hier gekauft, mein Alter,“ meinte er.

Wir traten ein, – „Haben Sie Linsen für einen Perlentaucherhelm, System Rotax?“ fragte er einen Angestellten.

Dieser bejahte. – Harst zog die Linse hervor.

„Ist diese Linse von Ihnen bezogen worden?“

„Jawohl. Gestern. Ein Chinese kaufte sie.“

„Danke. – Kaufte der Mann noch mehr?“

„Entschuldigen Sie, Master, – ich weiß nicht recht, ob –“

„Mein Name ist Harst – Harald Harst!“

„Oh – dann allerdings, Mr. Harst!“ dienerte der Verkäufer. „Ja, der Chinese kaufte noch einen Kochapparat für vier Personen, zwei Kessel, eine Pfanne und vier Eßbestecke, ferner zwei Messer, Aluminiumteller und anderes, was man so für eine kleine Bootsküche braucht.“

„Nahm er die Sachen mit?“

„Nein. Sie sollten sofort nach Chittagong geschickt werden. Es war eine ganze Kiste voll. Gestern nachmittag ging der Tourdampfer nach Chittagong ab. Der hatte die Kiste an Bord.“

„Für wen war sie in Chittagong bestimmt?“

„Sie sollte dort für einen Master Smith, Robert Smith, lagern. Sie würde abgeholt werden, sagte der Chinese. Ich denke, der Mann wird Perlenfischer gewesen sein. An der Nordwestküste von Hinterindien sind in letzter Zeit häufig Perlenbänke entdeckt worden. Chittagong ist ja dort in der Nordecke des Meerbusens von Bengalen der Haupthafen.“

„Ich danke Ihnen. Bitte schweigen Sie über mein Interesse für den Chinesen.“ –

Wir bestiegen wieder unseren Wagen. Als der Kutscher die Ponys antreiben wollte, rief Harst ihm zu, noch zu halten. Er zündete sich dann sehr umständlich eine Zigarette an.

„Vorwärts!“ befahl er hierauf. Und fügte leise für mich hinzu: „Kapitän Keeger von der Jacht ist hinter uns her. Du weißt, daß der alte Keeger schon Lord Ernestes Vater viele Jahre treu gedient hat. – Wir haben einen Fehler gemacht. Wir hätten in dem Basar etwas kaufen sollen. Am besten ist, wir kehren um.“

So fuhren wir denn abermals vor dem Geschäft vor. Als wir den Verkäufer suchten, den Harald vorhin ausgeforscht hatte, wurde uns mitgeteilt, der Betreffende sei im Oberstock. Und hier fanden mir ihn im Gespräch mit dem alten Keeger.

Der wackere Kapitän des Star of London bekam einen blauroten Kopf vor Verlegenheit. Wir hatten gerade noch bemerkt, wie der Verkäufer eine Banknote in die Tasche schob.

„Ah, auch hier, Kapitän?“ meinte Harald harmlos.

„Ja. Wollte für – für die Kombüse des Wohnschiffes einiges besorgen –“

„So – so!“ – Harst winkte den Verkäufer beiseite. – „Mann, Sie haben geplaudert!“ sagte er kurz.

Der Verkäufer entschuldigte sich. „Ich dachte, Kapitän Keeger dürfte ich –“

Harald machte kehrt und rief Keeger einen Abschiedsgruß zu. Draußen im Wagen erklärte er: „Nun weiß Keeger, was wir wissen: daß die Piraten in Chittagong die Kiste abholen werden! Aber wir wissen noch mehr: daß Ralbrout Keeger beauftragt hatte, uns zu folgen. Bin neugierig, was der Lord nun tun wird.“ –

Um drei Uhr waren wir wieder auf unserem Wohnschiff. Wir gingen in unsere Luxuskabinen hinab. Sehr bald klopfte es, und Ralbrout erschien, dankte nochmals für unsere Vermittlung bei Plamport und sagte dann:

„Ich beabsichtige, eine andere Jacht zu mieten und nach England zurückzukehren. Mein alter treuer Keeger hat bereits einen Makler beauftragt, ein passendes Schiff zu beschaffen. Falls Sie, meine Herren, die Reise mitmachen wollen, – ich würde mich sehr freuen, Sie weiter als meine Gäste betrachten zu dürfen.“

Harald nahm dankend an. „Mich hält nichts mehr in Indien zurück, Mylord,“ meinte er. „Ich hatte erst die Absicht, den Star of London zu suchen. Das würde mich aber monatelang vielleicht hier festhalten.“

Lord Ralbrout lächelte gezwungen. „Der Herr aus Barhampur war Inspektor Plamport, Mr. Harst. Plamport hat dies schon zugegeben.“

Wir drei saßen um den Tisch herum. – Harald nickte. „Plamport versteht es, sich zu verkleiden –“

„Meine Frau ist nun völlig beruhigt,“ sagte Ralbrout und strich die Asche seiner Zigarette ab. „Die arme Mabel war so besorgt, – Nicht wahr, Mr. Harst, meine unpassenden Redensarten nehmen Sie mir nicht weiter übel. Ich war heute mittag auf Deck etwas gereizt und warf Ihnen Undankbarkeit vor.“

„Das ist längst vergessen, Mylord –“ –

Die Unterhaltung blieb harmlos und freundschaftlich. Aber in Ralbrouts Augen lauerte irgend etwas, das mich störte. Ich hatte das Gefühl, daß er sich nur zur Höflichkeit uns gegenüber zwang. Und – das Merkwürdigste, das für ihn recht Belastende: er erwähnte unsere Begegnung mit Keeger in jenem Basar in keiner Weise! –

Um fünf Uhr begann das Diner im großen Salon. Es waren mehrere Gäste da. – Nach dem Diner fuhren wir alle in den Maidan-Park.

Als wir abends gegen zehn Uhr wieder auf unserem Wohnschiff anlangten, meldete Keeger dem Lord, daß eine Dampfjacht bereits gemietet sei und daß wir morgen früh in See gehen könnten.

Wir wünschten dem Ehepaar Ralbrout gute Nacht und begaben uns in unsere beiden Räume hinab. –

Ich habe unseren kleinen Freund Tom Farting bisher hier nicht erwähnt. Er war uns als Diener, als Steward zugewiesen worden. Als wir uns nun zu entkleiden begannen, klopfte es sehr leise. Harst riegelte die Tür auf, und Tom schlüpfte herein.

Er war sehr verlegen und sehr scheu, ganz anders als sonst. Dann flüsterte er:

„Mr. Harst, Sie – dürfen nichts verraten. – Käpten Keeger hat doch heute die Dampfjacht Thetis gemietet, und Sie beide wollen die Reise mitmachen. Ich – ich warne Sie! Mehr darf ich nicht sagen. Dringen Sie nicht in mich. Ich muß schweigen. Mein Vater, der Steuermann Farting, hat – Nein, nein auch das sollen Sie nicht wissen! – Ich warne Sie!“

Harald zog den Jungen dicht an sich heran.

„Wovor warnst Du uns?“

„Nach – nach dem Star of London etwa zu suchen,“ quälte Tom weinerlich hervor. „Ich habe Sie beide gern, Mr. Harst. Aber – aber mein Vater und Käpten Keeger und der Lord sind auch so gut zu mir! Der Lord ist wirklich ein edler Mann!“

Harald strich ihm über das Haar.

„Geh’ schlafen, Junge! Mach’ Dir keine Sorgen um unseretwegen! Gute Nacht!“

Aber Tom blieb noch.

„Mr. Harst,“ flüsterte er noch leiser. „Man – man würde Gewalt anwenden, wenn Sie –“

Harald schob ihn schnell zur Tür hinaus, riegelte wieder ab, legte mir beide Hände auf die Schultern und sagte bedächtig:

„Merkst Du was?! Die Thetis wird nicht nach London fahren, sondern nach Chittagong! Und uns beide hat der Lord zur Mitreise nach England nur deshalb aufgefordert, damit er uns ständig unter Aufsicht halten kann. Wir könnten ihm gefährlich werden, wenn wir auf eigene Faust etwas gegen Master Robert Smith, den Kistenempfänger in Chittagong, unternehmen würden.“

Ich starrte Harald in die Augen. „Was – was plant der Lord denn?! – Sage es mir!“ bat ich gespannt.

„Planen?! Das ist ein falscher Ausdruck. Er will nur etwas verhüten: daß wir die Piraten entdecken und der Polizei übergeben!“

Mir wurde ganz wirr im Kopf.

„Wie – er will sie also beschützen?“ stieß ich atemlos hervor. „Weshalb denn?!“

„Weil – weil er Lord Ernest Ralbrout, der Träger eines der berühmtesten Namen Englands ist!“

„Unbegreiflich!“ murmelte ich. „Erkläre Dich deutlicher!“

„Später, mein Alter. Jetzt gehe ich zu Bett!!“ –

Ich schlief nicht so bald ein. Ich grübelte. Ich wollte ergründen, weshalb Ralbrout die Entführer seiner wunderbaren Jacht vor uns in Schutz nehmen sollte. Ich fand die Lösung nicht, obwohl sie so einfach war.

Alles Einfache wird so leicht übersehen.

 

3. Kapitel.

Ungemütliche Tage.

Die Dampfjacht Thetis war kleiner als der Star of London, – kleiner und recht wenig luxuriös eingerichtet. Harst und ich mußten uns mit einer Kabine begnügen. Sie lag am Mittelgang des Achterschiffs. Uns gegenüber wohnte Kapitän Keeger, links neben uns Farting, der Steuermann, und rechts der Ingenieur Macdonald.

Wir hatten Kalkutta vormittags zehn Uhr verlassen. An Bord befand sich nur die Besatzung des geraubten Star of London, das Ehepaar Ralbrout und wir beide, also kein einziger Fremder, kein neuer Matrose.

Um sechs Uhr nachmittags speisten wir auf der Thetis zum ersten Mal auf hoher See. Das Diner zog sich bis gegen neun Uhr hin. Mit bei Tisch saßen noch Keeger und Macdonald.

Nachdem Lady Mabel die Tafel aufgehoben und sich in ihre Kabine zurückgezogen hatte, wollte Harald an Deck gehen.

„Ich möchte ein wenig frische Luft schnappen, Mylord,“ meinte er und schritt der Tür des großen Salons zu.

Ralbrout lächelte. „Bleiben Sie nur hier, lieber Harst. Das Deck wird gescheuert. Spielen wir lieber eine Partie Schach –“

Harald hatte sich langsam umgedreht.

„Weshalb hat die Thetis den Kurs geändert, Mylord?“ fragte er laut. „Erst fuhren wir Südwest, jetzt fahren wir Nordost. Erst trafen die Wellen die Jacht auf Backbordseite, jetzt schräg von vorn. – Glauben Sie doch nicht, daß Sie mich täuschen können! Ich soll nicht an Deck, damit mir der veränderte Kurs verborgen bleibt! Ich denke, wir spielen lieber mit offenen Karten! Sie wollen nach Chittagong!“

Ralbrout rief sogleich – aber er traf den erstaunten Ton sehr schlecht:

„Chittagong?! Was sollten wir dort?! Wie kommen Sie auf den Gedanken, Mr. Harst?!“

Harald lehnte sich an die Tür. Sein Gesicht zeigte jenes liebenswürdig-ironische Lächeln, das er stets für Leute bereit hat, die ihn mit plumpen Redensarten zu übertölpeln hoffen.

„Mylord, lassen Sie doch diese Scherze!“ meinte er. „Sie wollen nach der Hafenstadt Chittagong. Kapitän Keeger weiß, daß der tote Salforglay dorthin die Kiste beordert hat. Sie wünschen nichts anderes, als mit den Piraten zu unterhandeln.“

„Nun ja,“ sagte Ralbrout hastig. „Ich will es nicht leugnen. Die Jacht und die Juwelen meiner Frau kann ich nur zurückerhalten, wenn die Behörden ganz aus dem Spiele bleiben.“

Harald ging langsam auf Ralbrout zu. Dicht vor ihm blieb er stehen.

„Mylord, der Star of London existiert gar nicht mehr,“ erklärte er, jedes Wort betonend. „Die Jacht liegt irgendwo auf dem Meeresgrunde! Vielleicht ist sie das Opfer eines Unfalls geworden. Das ist leicht möglich, da die Ballastsäcke innen Blechkistchen enthielten, wie sie zur Verschickung von Pulver benutzt werden. Das habe ich schon in Benares festgestellt –“

Ralbrout war zurückgewichen.

„Wie – auch das wissen Sie?!“ entfuhr es ihm. Dann biß er sich auf die Lippen, fügte hinzu: „Unsinn! Das ist eine bloße Vermutung von Ihnen! Wie wollen Sie beweisen, daß –“

Da – Kapitän Keeger mischte sich ein. „Mylord, lassen Sie mich mit Mr. Harst reden. – Mr. Harst, zunächst möchte ich Ihnen sagen, daß wir alle hier an Bord der Thetis Seiner Lordschaft bis zum Äußersten treu ergeben sind – bis – zum – Äußersten! Wir alle! Nur Sie beide nicht! Das heißt: Sie gehören nicht zu uns! – So, und nach dieser Einleitung erkläre ich Ihnen im Namen der ganzen Besatzung, daß wir nicht dulden werden, daß Sie sich in Seiner Lordschaft persönliche Angelegenheiten einmischen!“

Das war eine Drohung! Das war offen gesprochen!

Harald verbeugte sich nach Keeger hin.

„Kapitän, ich werde mich in nichts einmischen, was mich nichts angeht!“ sagte er. „Ich werde untätiger Zuschauer bleiben, bis man mich bittet, einzugreifen. – Ich könnte die Situation zwischen uns mit einem Worte klären. Ich will dies später tun – im geeigneten Moment! Ich verarge Ihnen, Kapitän, Ihre drohenden Worte keineswegs. Wir alle hier wollen gut Freund bleiben.“

Er setzte sich an einen der Seitentische. „Mylord, spielen wir eine Partie Schach –“

Keeger jedoch rief jetzt: „Mr. Harst, Ihr Versprechen genügt uns nicht! Sie müssen uns versichern, mit Mr. Schraut in Ihrer Kabine zu bleiben, so lange wir es wünschen.“

„Nein, Kapitän, – diese Zusicherung verweigere ich!“ erwiderte Harald ernst und bestimmt. „Ich lasse mich nur deshalb nicht von der Außenwelt absperren, weil ich nicht Lust habe, mein Leben hier auf der Thetis zu beschließen. Und – das könnte passieren, wenn ich die Ereignisse nicht persönlich beobachten kann. Einmischen werde ich mich nicht. Aber – sehen will ich alles! In Schrauts und meinem Interesse!“

Ralbrout winkte jetzt Keeger und Macdonald in eine Ecke. Sie flüsterten eifrig miteinander. Dann sagte der Lord sehr höflich und mit einem Ton von Herzlichkeit, der fraglos nicht ganz echt war:

„Abgemacht, Mr. Harst! – So, nun wollen wir die ganze Geschichte vergessen! Spielen wir Schach –“ –

Und Harald spielte auch, – besser noch als sonst. Keeger, Macdonald und ich setzten uns an einen anderen Tisch und nahmen uns gegenseitig das Geld im Makao ab, einem Kartenhazard, das mit dem berüchtigten „Mauscheln“ Ähnlichkeit hat.

Man stelle sich diese Situation für uns beide vor: wir wußten, daß der Lord aus Gründen, die uns (oder doch wenigstens mir!) noch verborgen waren, mit den Piraten, die jetzt aufs eifrigste von der Polizei aller Hafenstädte und von sämtlichen in den indischen Meeren befindlichen Kriegsfahrzeugen gesucht wurden, ein Zusammentreffen zu irgend einem noch dunklen Zweck herbeiführen wollte! Wir wußten ferner, daß dieser Zweck nicht der sein konnte, die Piraten den Behörden in die Hände zu spielen! Wir wußten drittens, daß man uns beide um jeden Preis daran hindern würde, diese Seeräuberbande, die doch vier Mann der Besatzung des Star of London bei der Kaperung der Jacht niedergemacht hatte, zu entwaffnen und festzunehmen! – Jeder wird zugeben, daß unsere Lage höchst eigentümlich war! Harst hatte das Versprechen abgegeben, sich in nichts unaufgefordert einzumischen. Wir befanden uns mithin gleichsam an Bord eines Fahrzeuges, das mit einer uns in gewissem Sinne feindlichen Besatzung einem in jedem Falle ungesetzlichen Abenteuer entgegenfuhr. Denn ungesetzlich blieb es, daß der Lord die Verbrecher vor den Behörden schützte und mit ihnen, um es mit einem strengen Ausdruck zu bezeichnen, gemeinsame Sache machte! –

Mit demselben Manne, der uns noch soeben unverblümt Drohungen ins Gesicht geschleudert hatte, mit Kapitän Keeger, saß ich nun und spielte Makao! Wir tranken dazu einen vorzüglichen Eispunsch, prosteten uns zu und waren scheinbar die besten Freunde!

Scheinbar! – Nein – ich konnte den Gedanken nicht einen Augenblick loswerden, daß der Lord und seine Getreuen doch irgendwie zu den Piraten in näheren Beziehungen stehen müßten. Denn – was wollte Ralbrout von der Bande?! Fuhr er jetzt mit der Thetis nur nach Chittagong, um wegen der Rückgabe der Juwelen zu verhandeln?! Die Jacht selbst schien ja tatsächlich für immer durch eine Katastrophe verloren gegangen zu sein! – Nur der Juwelen wegen dieses gesetzwidrige Abenteuer?! Wirklich nur[5] der Juwelen wegen?! – Mir wollte das nicht in Kopf. –

Erst um Mitternacht trennten wir uns. Harald hatte zwei Partien gewonnen, ich 500 Rupien verloren. Wir sagten den dreien mit kräftigen Händedrücken gute Nacht.

Dann riegelte Harald unsere Kabine hinter uns ab und setzte sich an den kleinen Tisch. Er nahm sein Zigarettenetui und knipste es auf und zu, tief in Gedanken versunken.

Ich rückte einen Korbsessel dicht neben den seinen. Da hob er den Kopf, legte den Zeigefinger einen Moment auf die Lippen und sagte dann gähnend: „Meinetwegen kann Lord Ralbrout mit den Piraten sich verbrüdern! Ich lasse meine Finger davon weg! Diese – Verbrüderung kann böse auslaufen! Mir gleichgültig!“

Ich merkte: diese Sätze hatten einen verborgenen Sinn. – So war es auch. Sogar einen doppelten Sinn, wie ich nachher erfuhr.

„Jedenfalls,“ fügte er hinzu, „existiert der prächtige Star of London nicht mehr. Das muß der Lord von Salforglay, dem nunmehr toten Steuermann, erfahren haben. Ob ein Unfall die Jacht vernichtete, oder ob vielleicht unter den Piraten ein Streit ausbrach, in dessen Verlauf das schöne Schiff irgendwie zu Grunde ging, – das ist eine Frage für sich! – Salforglay hatte ja in Kalkutta in dem Basar nur eine Ausrüstung für vier Personen eingekauft. Du besinnst Dich: vier Eßbestecke, vier Trinkbecher und so weiter. Es dürften von der Bande also nur vier Leute der Katastrophe entgangen sein. Nun sind es nur noch drei, da Salforglay in Kalkutta den Lohn für seine Schurkerei empfing.“

„Er wollte also tatsächlich Ralbrout die 25 000 Pfund rauben?“

„Ohne Zweifel.“

„Und – woher wußtest Du, daß der Star of London wahrscheinlich nicht mehr existierte?“

Da beugte er sich dicht zu mir hinüber und flüsterte: „Weil Salforglay die Linse für das Taucherhelmfenster gekauft hatte! Ich sagte mir: vielleicht wollen sie mit Hilfe einer Taucherausrüstung in das Wrack der Jacht hinabsteigen und die Juwelen herausholen, die mit untergegangen sind. Als ich dem Lord so bestimmt ins Gesicht sagte, die Jacht sei vernichtet, war das nur eine Anzapfung. Sie glückte. Ralbrout verriet sich. – Wir werden belauscht, möchte ich Dir noch mitteilen. Farting und Macdonald sind unsere Nachbarn. An den Wänden nach ihren Kabinen hängen jetzt zwei der scheußlichen Seebilder anders als heute um acht Uhr abends. Sie hängen vor den Löchern, die man in die Holzwände gebohrt hat. Und – sie sind durch Korkstücke ein wenig von der Wand abgerückt worden, damit der Schall die Löcher besser erreicht. – Schau‘ nicht hin! Es ist so! Ralbrout und die Seinen unterschätzten uns zum Glück!“

Gleich darauf gingen wir schlafen.

 

4. Kapitel.

Das Dunkel lichtet sich.

Am nächsten Morgen langten wir in Chittagong an. Inzwischen hatte sich in unserem Verhältnis zu Ralbrout und der Besatzung nichts geändert. Nur Lady Mabel war uns gegenüber seltsam scheu.

Der Hafen von Chittagong bietet nichts besonderes, die Stadt noch weniger. – Allerdings, wir durften uns die Stadt nur vom Ankerplatz der Thetis aus betrachten, denn kaum war die Dampfjacht vor Anker gegangen, als Kapitän Keeger uns bat, das Schiff nicht zu verlassen. Er bat! Aber die Bitte klang wie ein Befehl. – Harald sagte nur: „Gut – wie Sie wünschen!“

Wir standen auf dem Achterdeck und beobachteten, wie Ralbrout, Macdonald, Farting und ein Matrose in der Jolle an Land ruderten.

Nun überstürzten sich die Ereignisse förmlich. – Die Jolle verschwand zwischen den anderen ankernden Schiffen. Dann kam ein Sampan auf die Thetis zu, in dem ein Inder aufrecht stehend ruderte. Er legte am Fallreep an und reichte dem Matrosen, den Keeger hinabgeschickt hatte, einen Brief. Keeger gab den Brief Lady Mabel, die jetzt zu uns getreten war. – Ich sah, daß die Adresse mit Maschine geschrieben war.

Lady Mabel nahm den Brief mit bebender Hand in Empfang. Dann wandte sie sich an Harst. Ihre Augen drückten eine solche Angst aus, daß ich das arme Weib ehrlich bemitleidete. Sie schien etwas sagen zu wollen. Da rief Keeger plötzlich herrischen Tones:

„Master Harst, ich möchte Sie und Mr. Schraut allein sprechen. Gehen wir in Ihre Kabine.“

Harald entschuldigte sich bei Lady Ralbrout. „Sie hören, Mylady – Kapitän Keeger befiehlt!“ meinte er ironisch.

Wir schritten hinter Keeger die Treppe hinab. In unserer Kabine sagte Keeger finster und erregt: „Mister Harst, Sie beide dürfen jetzt diesen Raum vorläufig nicht verlassen!“

„Gut – wie Sie wünschen, Käpten! Ich mische mich nicht ein!“

Keegers Gesicht umwölkte sich. Er seufzte und erklärte verlegen: „Spaß macht’s mir wahrhaftig nicht, zwei Gentlemen wie Sie zu bevormunden. Aber – es muß sein!“

Dann ging er hastig hinaus. – Nach zehn Minuten kam der kleine Tom mit dem Frühstück, stellte das große Teebrett auf den Tisch und sagte: „Gesegneten Appetit! Da – es gibt heute eine frische Büchse Hummer!“

Er verschwand wieder. – Harald bog den aufgeschnittenen Deckel der Hummerbüchse hoch und rief: „Das sieht lecker aus! Hummer ist mein Leibgericht!“

Und ich – ich konnte von Hummer nichts wahrnehmen! Nein, ich sah nur in der Büchse einen Zettel und einen zusammengerollten Briefumschlag.

Harald langte in die Büchse hinein. Der Zettel lag oben. Wir lasen in kindlicher Schrift mit Blei geschrieben:

„Trinken Sie den Tee nicht! Den Brief hole ich wieder ab. Lady M. vertraut mir. Sie sagte, Sie sollten mit dem Briefe machen, was Ihnen angebracht scheint.“

Der Brief war der, den der Inder abgegeben hatte. Harald besichtigte ihn. – „An Ernest Ralbrout adressiert,“ flüsterte er. „Riegle die Tür ab!“

Dann löste er das Siegel und öffnete die Briefklappe, indem er den Dampf aus der Teekanne den Klebstoff erweichen ließ. – Der Briefbogen enthielt folgendes:

„Du hast Salforglay getötet. Ich werde Dich jetzt nicht mehr schonen, falls Du die Summe nicht auf 50 000 Pfund erhöhst. Kehre nach Kalkutta zurück und besorge das Geld. Dann komm’ allein wieder nach Chittagong. H.“

Ich war sprachlos. – Was bedeutete das nun wieder? Eine Erpressung?! Und dieser „H“ duzte den Lord?!

Harald schob den Bogen in den Umschlag zurück, klebte ihn zu und preßte ihn in einem Buche glatt. Toms Zettel verbrannte er. Dann befestigte er das Siegel wieder vorsichtig auf der alten Stelle. – Ich hatte wortlos zugeschaut. – Harst legte den Brief in die Hummerbüchse und drückte deren Deckel zu, sagte nun ganz leise:

„Lady Mabel hat wieder Verdacht geschöpft. Wir sollen nicht mit ihr sprechen. – Warten wir ab, was Ralbrout an Land ausrichtet und dann tun wird. Den Tee können wir noch immer zum Schein trinken.“

„Wer ist dieser „H“?“ fragte ich rasch.

„Ralbrout braucht sich gar nicht mehr mit ihm zu verbrüdern, glaube ich!“ lautete Harsts Antwort.

Und – in demselben Moment kam mir die Erleuchtung!

„Sein – Bruder etwa?!“ flüsterte ich.

„Ja, mein Alter. Ich habe in der zweiten Nacht, als ich Lord Ernest in Kalkutta nachgeschlichen war, eine Depesche nach London aufgegeben und mir in der dritten die Antwort abgeholt. Diese Antwort der Londoner Auskunftei lautete:

„Hektor Ralbrout vor fünf Jahren nach Amerika wegen Wechselfälschungen entflohen. Ein Jahr jünger als Lord Ernest. Nur diese zwei Söhne vorhanden. Hektor gilt für tot.““

„Dann war der falsche Lord eben Hektor Ralbrout!“ meinte ich etwas beschämt. „Ja – die Ähnlichkeit hätte allerdings auch mich auf diesen Gedanken bringen müssen.“

Es klopfte. Tom kam und fragte, ob wir noch etwas wünschen.

„Ja – eine zweite Büchse Hummer, mein Junge!“ rief er vergnügt. „Da – nimm die leere mit!“

Tom trat näher. „Und der Brief, Mr. Harst?“ fragte er schnell. „Es ist niemand in den Nebenkabinen!“

„Lady Mabel soll ihn Lord Ernest abgeben und ganz außer Sorge sein!“

Tom eilte mit der Büchse davon. – Nun erst begannen wir zu frühstücken. Wir füllten die Teetassen ebenfalls, tranken aber nicht.

Gleich darauf näherten sich unserer Kabinentür hastige Schritte. – Es war Lord Ernest.

Er war totenbleich, sank in einen Sessel, stierte Harald verzweifelt an.

„Die Kiste ist bereits abgeholt worden, nicht wahr?“ sagte Harst dann mit einem gewissen Mitgefühl. „Nun wissen Sie nicht, Mylord, wie Sie den Ort finden können, wo Ihr Bruder Hektor anzutreffen ist!“

Ralbrout zuckte zusammen, lehnte sich wie in einer Anwandlung von Schwäche zurück, ließ die Arme matt herabhängen und stammelte: „Auch – auch – davon haben Sie Kenntnis?!“

Harald nickte. „Auch davon, Mylord! – Wollen Sie nun nicht endlich ganz offen sein?“

Ralbrout fuhr mit der Hand über die schweißfeuchte Stirn.

„Ich – ich – darf nicht!“ stieß er mühsam hervor. „Sie – Sie – wissen nicht alles! Auch Sie würden schweigen, wenn – wenn –“ – Er zögerte. Seine Lippen zuckten.

„– wenn Sie selbst wie ich kein reines Gewissen hätten!“ vollendete Harst Ralbrouts Satz. „Ist es nicht so, Mylord?! Sind Sie nicht an den Wechselfälschungen Ihres Bruders irgendwie beteiligt?!“

„Nein, nein, – bei Gott, nein! Nicht beteiligt! Ich habe nur davon gewußt und Hektor zur Flucht verholfen! Er sollte nicht ins Gefängnis kommen! Ein Ralbrout im Gefängnis! – Ich habe damals vor der Polizei eine falsche Aussage unterschrieben – das war’s! – Ich hörte nie wieder etwas von Hektor, bis er kurz vor meiner Hochzeit aus Kalkutta an mich schrieb und Geld verlangte – gleich 20 000 Pfund! Ich schickte ihm einen Scheck. Und dann – dann überfiel er mit seiner Bande die Jacht! Er war Pirat geworden, nur um mich und Mabel in seine Gewalt zu bekommen. Er drohte mir, mich wegen falscher Zeugenaussage anzuzeigen. Ich bot ihm an, das Geld in Bengalen und Kalkutta abzuheben und Mabels Juwelen zu behalten. Er war unersättlich. Er verlangte, ich solle auch den Kredit meines schwerreichen Schwiegervaters in Anspruch nehmen. – Dann hat er Salforglay als Unterhändler nach Kalkutta geschickt. Ich sollte 40 000 Pfund Salforglay noch aushändigen. Er würde nach Empfang des Geldes für immer verschwinden, ließ er mir sagen. Ich hatte jedoch nur noch für 25 000 Pfund Kredit bei der Bank in Kalkutta. Salforglay glaubte mir nicht. Wir gerieten in Streit. In meiner Wut wollte ich Salforglay, völlig besinnungslos vor Verzweiflung, niederstechen. Er schoß, traf. Da stach ich zu. Und nun – nun hat Hektor mir einen Brief geschickt und fordert 50 000 Pfund –“

Er stöhnte auf und rief: „Ich kann das Geld nicht mehr beschaffen! Ich kann es nicht! Und ich weiß nicht einmal, wo Hektor sich befindet! Ich muß ihn sprechen! Er muß Vernunft annehmen! Muß Geduld haben, bis –“

Harst hatte Ralbrout die Hand auf das Knie gelegt.

„Mylord, beruhigen Sie sich! – Was ist mit dem Star of London gesehen?“

„Die Piraten haben gemeutert, wollten Hektor, dessen Frau und Salforglay und den Kapitän Tobort ermorden, um die Juwelen und das Geld nur unter sich teilen zu müssen. Hektor hat die Jacht jedoch durch eine vorbereitete Bombe leck gemacht und versenkt. Nur er und die drei anderen entkamen lebend von Bord. Wo die Jacht versenkt wurde, weiß ich nicht.“

„Wollen Sie es mir überlassen, mit Ihrem Bruder die Angelegenheit zu regeln, Mylord? – Ich werde ihn finden und zwar sehr bald.“

Ralbrout drückte Harsts Hand. „Oh – wie gern nähme ich diesen Vorschlag an, wie gern würde ich von Ihrem hochherzigen Anerbieten Gebrauch machen,“ sagte er bewegt. „Aber – ich darf nicht! Hektor hat mich durch Salforglay gewarnt, nicht etwa Sie, Mr. Harst, ins Vertrauen zu ziehen! Er ließ mir sagen, daß in demselben Augenblick, wo er merkte, daß Sie und Ihr Freund –“

Harald hatte leicht die Achseln gezuckt und dazu vielsagend gelächelt. „Er wird nichts merken, Mylord. – Verzeihen Sie, daß ich Ihnen ins Wort fiel. – Wenn Sie also auf mich hören wollen, dann geben Sie Befehl, daß die Thetis abends die Anker lichtet und mit Kurs auf Kalkutta davondampft.“

Ralbrout zauderte noch. Dann erhob er sich rasch. „Gut, es sei! Ich lege mein Schicksal in Ihre Hände, Mr. Harst.“

„Halt – noch einen Augenblick, Mylord. Ich rate Ihnen, Ihrer Gattin alles einzugestehen. Sie hätten dies längst tun sollen. Ich glaube, Sie beurteilen Ihre Gemahlin insofern falsch, als Sie annehmen, sie könnte sich von Ihnen abwenden, wenn sie erfährt, daß Sie damals eine falsche Zeugenaussage abgegeben haben. Lady Mabel wird im Gegenteil froh sein, daß diese Heimlichkeiten endlich völlig geklärt werden.“

Der Lord nickte. „Vielleicht haben Sie auch hierin recht. Ich werde also beichten.“

„Das ist verständig von Ihnen, Mylord. – Dann noch etwas: verschweigen Sie der Besatzung, auch Keeger und Macdonald, daß wir nun Verbündete sind. Es ist besser so. Wenn ich auch nicht annehme, daß sich unter Ihren Leuten ein Verräter befindet, so kann doch immerhin durch eine unvorsichtige Äußerung meine nunmehrige Aufgabe erschwert werden.“

Er deutete dann auf die gefüllten Teetassen und blickte Ralbrout halb belustigt an. – Dem Lord schoß das Blut zu Kopfe.

„Sie – Sie haben doch hoffentlich noch nicht getrunken?“ rief er schuldbewußt. „Ich – ich war durchaus dagegen, Ihnen auf diese Art ein Schlafmittel beizubringen, Mr. Harst. Aber Keeger wollte es, und –“

„Wir werden trinken – zum Schein, Mylord! Wir werden auch schlafen! Sorgen Sie nur dafür, daß die Thetis gegen elf Uhr abends die Anker lichtet und daß um zehn ein Sampan hier unter unserem Fenster liegt. Ich möchte mit Schraut unbemerkt von Bord verschwinden. Vielleicht bestellen Sie einen Gemüsehändler für zehn Uhr hierher –“ – Er gab Ralbrout noch allerlei Winke, wie dieser uns unser Vorhaben erleichtern könnte.

Der Lord verabschiedete sich dann.

Eine halbe Stunde später fand Tom uns auf unseren Betten in Kleidern scheinbar fest schlafend liegen. Die Teetassen und die Kanne waren leer.

 

5. Kapitel.

Der Taucher.

Ich schlief nach einer Weile wirklich ein. Um acht Uhr abends weckte mich Harald. Er sagte mir, daß inzwischen nur Tom einmal nach uns gesehen hätte. – Wir riegelten uns ein und entnahmen unseren Koffern das, was wir an Land gebrauchen würden. Wir packten alles in ein kleines Bündel zusammen. – Um neun kam Ralbrout und brachte uns heimlich etwas zu essen. Harst erinnerte ihn nochmals an das, was er schon mittags mit ihm vereinbart hatte. – Um zehn Uhr legte ein großer Sampan mit Bambushütte auf dem Achterdeck auf Backbordseite der Jacht an. Unser Kabinenfenster war gerade weit genug, uns durchzulassen. Nachdem die beiden Händler an Bord geklettert waren, verbargen wir uns in der Bambushütte. Alles klappte vorzüglich. – Gegen halb elf ruderten die Sampanleute dem Lande zu. Harst und ich hatten in der Hüttenwand an der Seite einige Stäbe gelockert. Als der Sampan unweit der Stadt in einer schmalen Bucht an einem Bootssteg festgemacht worden war, schlüpften wir in der Dunkelheit mit unserem Bündel an Land. Eine halbe Stunde später begehrten wir bei dem Hafenmeister Einlaß. Mr. Knoxon, ein sehr höflicher Mann, versprach, nichts zu verraten. Harald fragte ihn dann nach allem möglichen aus, ohne die Piraten zu erwähnen. Harst tat so, als ob wir es auf betrügerische Perlenfischer abgesehen hätten.

Knoxon bejahte, daß vor etwa elf Tagen drei Leute, die offenbar Engländer gewesen seien, hier in Chittagong einen großen Segelkutter mit Aushilfsmotor gekauft hätten, ebenso eine ältere Taucherausrüstung, System Rotax. Wohin die drei dann gesegelt seien, wisse er nicht genau. Vor drei Tagen hätte ihm jedoch der Kapitän eines Schoners, der die Perlenmuschelsuche betreibe, erzählt, er hätte nachts die Insel Sandriwata passiert und am Ostufer innerhalb der Riffe bei Mondschein ein einmastiges Schiff bemerkt, während vom Inselgestade mit einer Laterne offenbar Signale gegeben wurden.

Harst dankte Knoxon und fragte weiter, ob dieser uns vielleicht einen Motorkutter sofort zur Verfügung stellen könne. Der Hafenmeister nickte, nahm seinen Hut und ging mit uns zum Hafen hinab. – Um zwei Uhr morgens fuhren wir beide mit dem Kutter in die offene See hinaus. Es war eine windstille, drückend heiße Nacht. Wir fanden die Thetis wie verabredet acht Seemeilen von Land mit abgeblendeten Lichtern kreuzen. Inzwischen hatte Ralbrout hier bereits die Besatzung eingeweiht. – Harald und Kapitän Keeger stellten auf einer Seekarte fest, daß die Insel Sandriwata der weit größeren Insel Kutabdia an der Westküste Hinterindiens vorgelagert war und daß man sie in etwa 32 Stunden erreichen könnte. Die Thetis sollte bei Nacht eine der nördlichen Buchten von Kutabdia anlaufen, schlug Harald vor, und dort auf uns warten.

Die Thetis nahm unseren Kutter ins Schlepptau. Als wir nach anderthalb Tagen Sandriwata mit dem Fernrohr sichten konnten, kreuzte die Jacht bis Dunkelwerden vor der Insel. Dann erst verließen wir die Thetis und hielten mit dem Kutter auf die Westseite von Sandriwata zu. Wir hatten Tom mitgenommen. Er hatte so inständig gebeten, uns begleiten zu dürfen. Er verdiente diese Auszeichnung auch.

Um Mitternacht näherten wir uns der ersten Riffreihe. Es war sehr dunkel, und der Himmel drohte mit einem Gewitter. – Mit allergrößter Vorsicht suchten wir einen Weg durch die verderbendrohenden Riffe und Korallenbänke. Erst gegen zwei Uhr morgens liefen wir in eine felsige Bucht der unbewohnten, wenig fruchtbaren Insel ein. – Der Kutter wurde dann an einem Baume vertäut. Tom sollte an Bord bleiben. Er war sehr stolz, daß er von Ralbrout einen Revolver als Waffe erhalten hatte. Am liebsten wäre er ja mitgekommen. Harald erklärte aber sehr energisch, daß wir den Kutter nicht unbewacht lassen könnten.

Als wir beide dann die langgestreckte, etwa eine Viertelmeile breite Insel in tiefer Dunkelheit durchquerten, brach das Gewitter mit jener fürchterlichen Gewalt los, von der man sich bei uns daheim keine Vorstellung machen kann. Ganze Bündel von Blitzen fuhren herab. Wahre Wolkenbrüche wechselten mit kurzen Sturmstößen ab. Wir wurden bis auf die Haut durchnäßt.

Gerade als wir die Höhe des östlichen Steilufers erreicht hatten, bot sich uns ein wunderbarer Anblick dar. Zwischen der Inselküste und der Inneren Riffreihe lag ein großer Segelkutter in dem hier völlig ruhigen Wasser vor Anker. Und dieser Kutter leuchtete im weißen Lichte eines Sankt Elms-Feuers so intensiv, als wäre er mit Leuchtfarbe angestrichen worden. – Das schlanke Fahrzeug bot so einen gespenstischen Anblick dar. Auf dem Deck bewegte sich eine einzelne Gestalt hin und her. Es machte ganz den Eindruck, als ob der Mann dort sich in wilder Aufregung befände.

Harald berührte meinen Arm, flüsterte: „Dort am Gestade – ein Weib!“

Ja – ein Weib stand am Ufer auf einem flachen Felsblock und schwenkte mit der Linken eine Laterne.

Harst begann den Abhang hinabzuklettern. Wir brauchten uns nicht besonders in acht zu nehmen. Der Donner verschlang das Geräusch der herabpolternden Steine. – Wir kamen so unbemerkt hinter die Frau, deren dunkler Mantel und blondes Haar im Winde flatterten und deren ganze Haltung die gespannteste Aufmerksamkeit ausdrückte.

Am Fuße des Steilufers wuchs Gestrüpp. Wir kauerten dort nieder. – Plötzlich erlosch das Sankt Elms-Feuer. Mit einem Schlage war der Kutter draußen verschwunden. Nicht eine Laterne brannte dort an Deck. Man konnte nur vermuten, daß der Kutter in jener Richtung liegen müsse.

Wieder ein rauschender, knatternder Wolkenbruch. Es goß wie aus Eimern. Wir sahen selbst die Frau nicht mehr, obwohl sie doch kaum acht Meter vor uns stand.

Dann hörte der Guß auf. Die Stille ringsum wirkte bedrückend. Nur draußen vor der ersten Riffbarriere tobte die Brandung. –

Die Frau hatte die Petroleumlaterne unter den Mantel genommen. Jetzt schwenkte sie sie abermals. Es war heller geworden. Das Gewitter war vorüber.

Dann – dann hauchte Harald mir ins Ohr:

„Einer ist unten – unten bei dem Wrack des Star of London! – Da – siehst Du den fahlen Lichtschein aus der Tiefe heraufdringen. Eine Taucherlampe!“ –

Die Frau klemmte die Laterne unter den Arm, formte die Hände vor dem Munde zum Sprachrohr und rief nach dem, nur undeutlich sichtbaren Kutter hinüber:

„Hallo, Tobort! Was ist dort geschehen?“

„Ich komme!“ erklang die Antwort aus der grauen Finsternis zurück.

Gleich darauf tauchte ein winziges Boot auf, das ein Mann stehend mit einem Ruder vorwärtstrieb.

Die Frau sprang von dem Stein herab.

„Tobort – was ist mit Hektor?“ fragte sie, als das Boot über die Muscheln knirschend hinglitt und dann stillag[6].

„Er – er beantwortet die Signale mit der Leine nicht mehr,“ sagte Tobort dumpf. (Der Taucher verständigt sich mit den Leuten, die oben die Luftpumpe bedienen, durch Rucke an einer Leine. Diese ist am Gürtel des Tauchers befestigt.)

„Antwortet nicht!“ kreischte das blonde Weib auf. „Tobort, weshalb hast Du ihn denn nicht hochgezogen?!“

„Wie sollte ich, Ellen?! Er war doch im Innern des Wracks!“

„Aber – aber die Taucherlaterne wirft doch einen hellen Schein nach oben?!“ fragte die Frau hastig. „Tobort, die Laterne muß sich doch oben auf dem Wrack befinden! Mithin auch Hektor.“

Ihr Mißtrauen schien erwacht zu sein. Sie hielt ihre Petroleumlaterne so, daß der rötliche Lichtschein Tobort in das bärtige Gesicht fiel.

Der Piratenkapitän hatte plötzlich mit der Faust von unten her dem Weibe die Laterne aus der Hand geschlagen. Klirrend zerbrachen die Gläser. Die Frau war jedoch geistesgegenwärtig zurückgesprungen.

Tobort hatte sie packen wollen, griff ins Leere.

In der Hand des Weibes blinkte ein Revolver.

„Tobort!“ rief sie schneidend. „Du hast Hektor ermordet! Du wirst den Luftschlauch zerschnitten haben! Elender – auch auf Dich ist kein Verlaß! Auch Dich hat die Gier verblendet!“

Tobort lachte kurz auf. „Ellen, Du bist nicht bei Sinnen! Du weißt recht gut, daß ich Hektor warnte! Die nur gekittete Linse des Taucherhelmes hat dem Druck des Wassers nicht standgehalten. Weshalb mußte Hektor heute abermals hinab, nachdem die Linse gestern schon undicht geworden war?! – Steck’ Deinen Revolver ein! Ich bin –“

Und – da tat er einen Satz – einen Sprung auf sie zu, schlug die Waffe in die Höhe. – Ein Schuß krachte.

Doch – diese Ellen war gewandter als der Mann. Sie hatte sich nach hinten zu Boden geworfen, um seinen Fäusten zu entgehen, feuerte nochmals.

Tobort prallte zurück, drehte sich um sich selbst, sank zur Seite auf die weißen Muscheln.

All das hatte sich viel zu schnell abgespielt. Wir konnten nicht mehr eingreifen. Jetzt jedoch hatte Harald Ellen Ralbrouts Handgelenk umklammert, entriß ihr die Waffe.

Die Frau richtete sich taumelnd auf.

„Mistreß Ralbrout,“ sagte Harst, „nun sind Sie die letzte, die Lord Ernestes Geheimnis kennt! Ich hoffe, daß Sie –“

Das blonde Weib war bereits im Wasser, hatte Harst zurückgestoßen, schwamm dem Kutter zu.

„Ins Boot!“ rief Harald. „Es ist Wahnsinn von ihr!“ Und noch lauter: „Mistreß zurück – zurück! Das Licht der Taucherlampe hat ein paar Haifische angelockt!“

Wir schoben das Boot ins Wasser. Die Frau war keine zwanzig Meter entfernt. Sie hörte nicht, schwamm weiter.

Harst ruderte. – Ein heller Strich, eine schillernde Furche glitt durch die Oberfläche des Wassers: ein Hai!

„Schieße – schieße!“ rief Harald.

Und ich feuerte auf das sich vorwärtsbewegende Ende der Furche – feuerte alle neun Schuß ab.

Dann – ein entsetzlicher, die Nerven aufpeitschender Schrei.

Die Furche hatte die Schwimmerin erreicht.

Noch ein gurgelnder Angstruf.

Dann – nichts mehr.

Auch Ellen Ralbrout hatte den Tod gefunden, – dieselbe Ellen, die wir in Benares als Lady kennengelernt hatten und die General Collingham in seinem Palast festlich bewirtet hatte. –

Am Morgen war die Thetis zur Stelle. Das Wrack des Star of London lag in nur zehn Meter Tiefe. Wir holten Hektor Ralbrout, den Taucher von Sandriwata, herauf. Die Linse des Taucherhelms war, offenbar absichtlich, schief eingeschraubt worden, so daß die gekitteten Teile des Glases durch den Wasserdruck auseinanderfallen mußten. Tobort hatte diesen Schurkenstreich verübt, und Hektor Ralbrout war elend ertrunken.

Da wir die Ersatzlinse mithatten, konnte einer der Matrosen, der als Taucher ausgebildet war, das Wrack durchsuchen. Er fand auch die Juwelen der Lady. –

 

Nächster Band:

Die Katzen der Gräfin Baltholm.

 

 

Verlagswerbung:

Männe und Max

Lustige Bubenstreiche

von

Walther Neuschub

mit Bildern von R. Hansche

Diese Ausgabe hat den Beifall weitester Kreise gefunden. Der zündende Humor der Dichtung und die goldige herzerfrischende Komik der Illustrationen kann nicht übertroffen werden. Die Heftchen haben ein dreifarbiges Titelbild und enthalten meist über 25 Textillustrationen.

Bisher sind die nachstehenden Heftchen erschienen:

1. Onkel Adolars Geburtstag – 2. Schornsteinfeger Krause. – 3. Das Gespenst. – 4. Der Gang zum Photographen. – 5. Der Schweinestall. – 6. Köchin Line. – 7. Räuber Trald. – 8. Die Kindtauffeier. – 9. Die Reise nach Berlin. – 10. Knödelmeyers neue Köchin. – 11. Eine Kremserfahrt. – 12. Der Ritt nach Afrika. – 13. Kohn, der Papagei. – 14. Der Flohzirkus. – 15. Daniel in der Löwengrube. – 16. Der tote Puterhahn. – 17. Die Kartoffeldiebe. – 18. Der strenge Kandidat. – 19. Bobbis Begräbnis. – 20. Das Motorrad. – 21. Sonntagsjäger Haberland. – 22. Die Moorbadkur. – 23. Äppelschnuts Lehrlinge. – 24. Die Gauner Klapp und Pelle. – 25. Der Boxkampf. – 26. Der Indianer Heitawai. – 27. Josua Grind, der Pirat. – 28. Die Fuchsjagd. – 29. Der Dreibund im Zoo. – 30. Der Meisterschuß. – 31. Die Walfischjagd. – 32. Die sechs Mohren.

 

 

Anmerkungen:

  1. Englische Abkürzung für „Muhammad“, während die deutsche Schreibweise üblicherweise „Mohammed“ ist.
  2. In der Vorlage steht: „den“.
  3. „Andamanen-Gruppe“ / „Andamanengruppe“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Andamanen-Gruppe“ geändert.
  4. In der Vorlage steht: „minigen“.
  5. In der Vorlage steht: „nun“.
  6. In der Vorlage steht: „stilllag“.