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Die Eishöhle in Nepal

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 35

 

Die Eishöhle in Nepal

 

1. Kapitel.

Der Klopfgeist.

„Ich habe mir die Sache anders überlegt Mr. Doorball,“ sagte Harald Harst am Abend eines wundervoll klaren und für indische Verhältnisse recht kühlen Tages zu dem dicken Polizeichef des Städtchens Betija. „Den entflohenen Ingenieur Robin Parmang zu verfolgen, liegt für mich keine Veranlassung vor. Der Mann hat sich ja strafrechtlich nichts zu Schulden kommen lassen. Daß er jenseits der Grenze auf nepalesischem Gebiet eine Diamantenfundstelle entdeckt, diese zum Teil auch schon ausgebeutet hat und der Edelsteine wegen von den beiden Artisten Mautley und Bickpool, die jetzt hier in Betija im Gefängnis als Untersuchungsgefangene sitzen, dauernd mit dem Tode bedroht wurde, geht mich nur insofern etwas an, als ich Zeuge war, wie die beiden Verbrecher den Ingenieur vergiften wollten. Daß diese geriebenen Schurken auch mir und meinem Freunde Schraut eine Dosis Blausäure zugedacht hatten, davon mache ich weiter kein Aufhebens. Wer Liebhaberdetektiv ist, trägt seine Haut eben freiwillig und unentgeltlich zu Markte. – Da Sie, lieber Doorball, unsere Aussagen bereits zu Protokoll genommen haben, steht also meiner Abreise nach Katmandu, der Hauptstadt Nepals, nichts im Wege. Kurz, ich verzichte darauf, mich weiter mit Parmang zu beschäftigen. Morgen früh 6 Uhr wird ein Mietauto Schraut und mich auf dem kürzesten Wege nach Katmandu führen.“

Des dicken Doorballs Gesicht war immer länger geworden.

„Wirklich, Sie wollen uns schon wieder verlassen, Mr. Harst?“ meinte er jetzt und kratzte sich die fuchsige Perücke vor Überraschung und Enttäuschung. „Das tut mir sehr, sehr leid. Ich hoffte doch, Sie würden mir dazu verhelfen, mich irgendwie auszuzeichnen, damit ich endlich aus diesem verwünschten Lausenest herauskomme, in dem ich nun schon fünfzehn Jahre hocke. Gewiß, ich bin hier etwas korpulent und bequem geworden. Aber –“

Wie saßen in Doorballs gemütlich eingerichtetem Herrenzimmer. Es hatte soeben geklopft, und der Polizeichef rief nun etwas ungeduldig: „Herein, zum Henker!“

Es erschien niemand.

Doorball stand auf, brüllte jetzt: „Her–rr–ein!“

Keine Seele meldete sich. Die Tür blieb geschlossen.

„Verflucht!“ brummte Doorball und watschelte zur Tür, riß sie auf.

Der Flur draußen war gleichfalls elektrisch erleuchtet. Aber – er war leer, soweit wir von unseren Plätzen sehen konnten.

Doorball hatte sich in die offene Tür gestellt und entlockte einer Trillerpfeife ein gellendes Signal. Wir hörten, wie irgendwo eine Tür zugeworfen wurde. Dann stand des Polizeichefs indischer Diener Tschama vor seinem Herrn, verbeugte sich mit über der Brust gekreuzten Armen.

„Wer hat hier soeben angeklopft?“ fragte Doorball sehr geistreich. – Harst lächelte mich denn auch dieserhalb an. Wie sollte Tschama das wissen, der doch aus dem Dienerzimmer gekommen war?!

„Niemand, Sahib,“ erklärte der graubärtige Tschama.

Harst hatte sich plötzlich erhoben und ging zu unserem Dicken hin, sagte:

„Vielleicht überlassen Sie mir die Aufklärung dieses unsichtbaren Besuches, lieber Doorball.“ Dann zu Tschama:

„Geh’ und hole den Pförtner.“

Der Pförtner erschien. Er hatte unten im Erdgeschoß seine Loge dicht am Haupteingang, der von 4 Uhr nachmittags ab verschlossen gehalten wurde.

Auch der Pförtner war ein Inder. Harst fragte ihn, ob er jemand in der letzten halben Stunde eingelassen hätte.

„Niemand, Sahib,“ antwortete der im indischen Kolonialdienst ergraute Mann.

„Noch früher dann vielleicht?“ meinte Harst.

„Ja, Sahib. Um 8 Uhr etwa kam eine Dienerin aus dem Pensionat Pellington (Betija ist Luftkurort und liegt bereits in den äußersten Vorbergen der Himalayaketten[1]) mit einer Depesche für Dich.“

„So so. Wann ging sie wieder fort?“

„Soeben erst.“

„Gut, ich brauche Dich nicht mehr.“ –

Wir drei waren allein.

„Teufel noch eins!“ polterte der Dicke los. „Was soll das heißen?! Eine Depesche?! Und das Weib läuft wieder weg?!“

Harsts strich seine Zigarettenasche am Aschbecher ab und rauchte ein paar Züge. Im Zimmer war’s ganz still. Doorball und ich warteten mit gleicher Spannung auf Haralds Antwort.

„Telephonieren Sie mal nach dem Gefängnis hinüber, Doorball,“ sagte Harald dann ganz unvermittelt. „Ich fürchte, Sie werden von dort ungünstige Nachricht über das Befinden der beiden neuen Untersuchungsgefangenen Mautley und Bickpool erhalten.“

Der Dicke bekam förmlich Glotzaugen vor Staunen.

„Was – was soll das, Mr. Harst?!“ stammelte er.

Harst sprang auf. „Ich werde telephonieren. Ich sehe, ich brauche nur umzustöpseln.“ Er stand schon am Wandtelephon.

„Hier Harald Harst im Auftrage des Polizeichefs,“ meldete er sich. „Etwas Neues dort passiert?“

Pause. Antwort von drüben.

„So – nichts passiert. – Dann lassen Sie mal sofort die Zellen Mautleys und Bickpools revidieren. Ich werde warten.“

Doorball fluchte leise. „Glauben Sie etwa, die Kerle sind ausgebrochen, Harst?“

„Nach dem soeben Erlebten muß ich’s annehmen. – Schraut, öffne mal die Flurtür. So – und nun schauen Sie beide hinaus. Sehen Sie was?“

„Nichts!“ meinte Doorball knurrend. Er schwitzte vor mühsam unterdrückter Erregung.

„Siehst auch Du nichts, mein Alter?“ – Das galt mir.

Ich war vorsichtiger: „Ich sehe nur einen Flurläufer aus Bast mit einem sehr hübschen Muster, dann an der Flurwand ein Regal mit Büchern und –“

„Stopp!“ rief Harst, noch immer vom Telephon aus. „Der Läufer genügt. Nur er ist wichtig. Er ist gerade vor der Türschwelle etwas uneben am Rande, steht ein wenig von den Dielen ab. Vielleicht liegt die Depesche darunter; vielleicht hat die – „Dienerin“ sie dorthin gelegt in der Überzeugung, daß Harald Harst den Buckel des Läufers schon bemerken würde.“

Der Dicke hatte sich schon keuchend gebückt.

„Wahrhaftig – ein – ja, ein wie eine Depesche zusammengefalteter Zettel!“ kreischte er jetzt förmlich und[2] schwenkte das Papier in der Rechten.

Da schrillte die Telephonglocke, und so anhaltend, daß Harst, bevor er noch den Hörer zur Hand nahm, rief:

„Das bedeutet Alarm!“

Dann lauschte er. Wir verhielten uns regungslos. Eine ganze Weile verging, bis Harst in den Apparat hineinsprach:

„Danke. Die Meldung ist erschöpfend genug. Ich werde Mr. Doorball alles mitteilen.“ –

Nun – die beiden Verbrecher waren tatsächlich ausgebrochen! Um ½8 hatte der betreffende Wärter die Zellen besucht. Da waren die Gefangenen noch anwesend. Und jetzt – waren sie durch die Fenster nach Zerschneiden der Gitterstäbe entflohen.

Harst entfaltete den Zettel, reichte ihn mir dann.

„Auf Wiedersehen! – Mautley, Bickpool.“

Das war alles was auf dem Zettel mit Bleistift geschrieben stand.

Doorball hatte mir über die Schulter geschaut.

„Ah – also einer dieser Lumpen, dieser Mörder, dieser Halunken war’s!“ sagte er jetzt ganz geknickt. „Ich bin blamiert, entehrt, bloßgestellt! Das Gefängnis gehört zu meinem Ressort! Die Vorgesetzten werden denken, ich hätte die Schufte nicht genügend bewacht. Ich bin ein bemitleidenswerter Mensch!“

Harst lächelte mir abermals verstohlen zu. Der Dicke war wirklich ein Muster von Polizeichef.

„Was nun?!“ fragte Doorball dann weinerlich. „Ich werde natürlich sofort alle Nachbarorte telegraphisch von der Flucht verständigen und –“

„– das wird natürlich zwecklos sein,“ vollendete Harald. „Bester Doorball, Leute wie Mautley und Bickpool, Verkleidungskünstler ersten Ranges, fängt man nicht so leicht. – Ich möchte Ihnen vorschlagen, mal das Polizeigebäude daraufhin zu durchsuchen, ob nicht irgendwo gewaltsam eine Tür geöffnet ist oder etwas fehlt. Als der Pförtner von der Dienerin berichtete, die bereits um 8 Uhr das Haus betreten und es erst gegen ½10 wieder verlassen hatte, war mir schon die Falte des Flurläufers aufgestoßen. Ich sagte mir, daß jemand, der an eine Tür geklopft und sich dann schnell zurückgezogen hat, doch fraglos etwas mit diesem Anklopfen bezweckt haben mußte. Als ich die Falte sah, wußte ich Bescheid. Und als der Pförtner die Inderin erwähnte, war ich überzeugt, daß Jones Bickpool hier wieder eine Gastrolle als Damenimitator gegeben hatte. Nur er kam ja in Betracht. Wer sollte sonst hier im Polizeigebäude Einlaß begehrt haben und nachher es wieder nach Unterbringung der „Depesche“ unter dem Läufer verlassen haben, ohne sich uns zu zeigen?! Wer sollte mir so viel Sehschärfe zutrauen, den Zettel zu finden?! Etwa eine harmlose indische Dienerin?! – Ich könnte diese Kombinationen noch weiter ausspinnen. Jedenfalls: die Flucht eines oder beider Verbrecher war mir bekannt, bevor ich noch das Gefängnis anrief. Jetzt aber werden wir zunächst mal feststellen, weshalb dieser Bickpool so viel wagte und hier als Dienerin erschien. Des Zettels allein wegen sicher nicht! Der Zettel ist nur Nebensache. Die Hauptsache dürfte – Doch, suchen wir sie!“

Und wir fanden sie auch, nämlich diese Hauptsache, fanden bereits im dritten Zimmer, und das war Doorballs Schlafgemach, den dort stehenden Panzerschrank ältester Konstruktion weit offen.

Doorball sank vernichtet in einen Lehnstuhl.

„12 000 Pfund amtlicher Gelder waren drin,“ winselte er kreidebleich. „12 000 Pfund! Und dazu noch 500 Pfund eigenes Geld! – Ich bin verloren! Man wird mich entlassen, pensionieren, mit Spott und Hohn überall –“

Er konnte nicht weiter sprechen. Er tat mir aufrichtig leid, der arme Dicke. Er war ein guter Kerl, war kein Feigling. Nur ein Genie war er nicht.

Harst besichtigte das Schloß des Geldspindes.

„Mit einem Haken geöffnet,“ meinte er. „Das bekommen nur Künstler fertig. Allerdings, dieser Tresor ist für die heutige Verbrecherzunft keineswegs mehr diebessicher. – Doorball, ermannen Sie sich. Kommen Sie und sehen Sie nach, ob noch etwas außer dem Gelde fehlt.“

Ja – es fehlten drei moderne Repetierpistolen nebst Munition, Dienstwaffen für die hiesigen Beamten.

„Also Reisegeld und Waffen!“ sagte Harst. „Deshalb war Bickpool hier. Wer Reisegeld stiehlt und so frech, will in einer Großstadt untertauchen und sich nicht etwa irgendwo in der Wildnis verbergen. Melden Sie das Vorgefallene nach Patna als der nächsten größeren Stadt, Doorball. Und lassen Sie den Zug, der vor zehn Minuten vom hiesigen Bahnhof in Richtung Patna abgefahren ist, anhalten und jeden einzelnen Passagier auf Herz und Nieren prüfen.“

Der Dicke wurde wieder hoffnungsfroh. „Ja, das soll geschehen. Und nicht wahr, lieber Mr. Harst, Sie bleiben wenigstens noch einen Tag in Betija. Wenn Sie mir nicht beistehen, dann bin ich – futsch, als Beamter!“

„Hm – versprechen kann ich’s Ihnen nicht,“ meinte Harald. „Aber wir wollen mal sehen, was sich für Sie tun läßt.“

Wir verabschiedeten uns dann. Es war jetzt ½10. Als wir die Straße entlanggingen, faßte Harald mich plötzlich unter und flüsterte: „Ich habe Doorball einen Rat erteilt, an dessen Zweckmäßigkeit ich selbst nicht glaube. Bickpool wird so kalkuliert haben: „Ich stehle Reisegeld und zwar gelangt mir eine große Summe in die Finger. Da wird Harst sich sagen: die Ausbrecher werden nach Süden zu in bewohnte, kultivierte Gegenden zu entkommen suchen!“ – Aber in Wahrheit vermute ich das gerade Gegenteil: sie werden nicht nach Süden, sondern nach Norden sich gewandt haben, eben weil sie hoffen, ich werde im Süden ihnen nachspüren! Mithin werden wir, mein Alter, noch heute abend Betija den Rücken kehren und uns das Dorf Darbangri an der Grenze als Reiseziel wählen, da in dessen Nähe die Silbermine liegt, wo Robin Parmang als Ingenieur beschäftigt war und wo er während seiner einjähriger Tätigkeit auf die Diamantenstelle gestoßen sein kann. – Vorwärts, der Gastwirt Parkison, der ein Auto zu verleihen hat, wird ja wohl noch zu sprechen sein.“

Eine halbe Stunde drauf hatte Harald den tadellosen Kraftwagen zunächst für eine Woche gemietet, und genau um 10 Uhr 45 Minuten verließen wir mit unseren drei Koffern das freundliche Städtchen, in dem der dicke Doorball in dieser Nacht fraglos recht schlecht nach all dem Pech geschlafen haben wird. Er ahnte nicht, daß wir schon hinter den beiden Artisten her waren, von denen Mautley mehr körperliche und der schlanke, frauenhafte Bickpool mehr geistige Kräfte besaß. Sie ergänzten sich so. Es war ein Verbrecherpaar, wie man es unter Berücksichtigung ihrer Vielgestaltigkeit nicht oft findet. –

Die Autofahrt brachte uns keinerlei Aufregungen. Unser eingeborener Chauffeur wußte überall gut Bescheid. Als wir uns nachmittags 2 Uhr dem Dorfe Darbangri näherten, hatten wir den Chauffeur durch zehn Pfund bereits ganz für uns gewonnen, bogen von der Hauptstraße ab und gelangten auf einer noch leidlich erhaltenen, alten Karawanenstraße durch einsame Täler schließlich zu einem verlassenen kleinen Tempel, der jetzt lediglich von Affen, Schlangen und Fledermäusen bewohnt wurde.

Hier stellten wir den Kraftwagen unter, nachdem wir die Tempelhalle von all den lästigen Insassen gesäubert hatten. Das kleine Heiligtum war ganz aus Felsblöcken erbaut. In einem Nebenraum schlugen wir unser Lager auf. Unser Chauffeur Chutawuru spielte den Koch. Am Morgen wanderten wir beide dann zu Fuß weiter – nach der Silbermine der Songarbiri-Gesellschaft.

 

2. Kapitel.

Liebhaberphotographien.

Mr. Ribblay, der Direktor der Songarbiri-Mine, saß gerade auf der Veranda seines Bungalows beim Frühstück und besprach mit dem Oberingenieur Lebraux dienstliche Angelegenheiten, als er zwei Inder auf das Haus zukommen sah, einen schlanken, älteren, bärtigen Mann und eine Frau mit Gesichtstuch, wie es die mohammedanischen Inderinnen tragen.

Die beiden Inder, recht ärmlich gekleidet, hatten kleine Bündel bei sich und schienen sehr ermüdet zu sein. Die Frau hinkte stark.

Sie machten vor der Veranda halt, und der Mann rief den beiden Herren dann in miserablem Englisch zu, ob es hier wohl Arbeit gäbe. Er hätte gehört, es würden noch Arbeiter eingestellt.

Mr. Ribblay, ein Amerikaner mit einem mageren Vogelgesicht, entgegnete, die Inder sollten drüben nach dem Verwaltungsgebäude gehen.

Da – plötzlich fiel ihm ein zusammengerollter Zettel vor die Füße. Er hob ihn auf.

„Ich bitte Sie, uns Gelegenheit zu einer unauffälligen Unterredung zu geben. Harald Harst.“

So war auf dem Zettel in englischer Sprache zu lesen.

Gleich darauf saßen wir in dem Arbeitszimmer des Bungalows dem Direktor und dem Oberingenieur gegenüber. Sowohl Ribblay als auch Lebraux, der Franzose war, benahmen sich sehr zurückhaltend. Sie mochten fürchten, daß wir etwas von ihren Geschäftsgeheimnissen ausspionieren könnten. Erst als Harst dann erklärte, der Fall Parmang hätte uns hergeführt, meinte der Direktor geradezu erleichtert aufatmend:

„Ah – Parmang! Ganz recht, das ist wirklich eine tolle Geschichte! Der Mann mit den dreizehn Attentaten, die angeblich auf ihn verübt wurden! Nun, der Polizeichef von Betija behauptet heute noch, Parmang habe diese Attentate erlogen oder vorgetäuscht.“

„Ein Irrtum von Mr. Doorball,“ sagte Harst und lehnte sich bequemer in seinem Sessel zurück. „Wir haben die beiden Leute, auf deren Konto diese Überfälle kommen, gefaßt, sie sind aber leider wieder entflohen. Sie wollten Parmang einschüchtern und ihn zwingen, mit ihnen die Ausbeute einer Diamantenfundstelle zu teilen, die er entdeckt haben muß.“

„Wie – eine Diamantenfundstelle?!“ riefen Ribblay und Lebraux in einem Atem. „Das – das ist unmöglich, Mr. Harst,“ fügte der Direktor hinzu. „Die Fundstelle müßte ja hier in der Nähe liegen! Parmang ist Amerikaner wie ich und erst vor einem Jahr von Neuyork hierher gekommen. Er könnte also nur hier in der Umgegend auf –“

„Wo die Diamanten zu finden oder zu suchen sind, ist mir vorerst gleichgültig,“ fiel Harst Ribblay ins Wort. Dem Amerikaner leuchtete schon die Habgier aus den Augen. Und Harst wollte ihm daher sofort klarmachen, daß es nicht die Edelsteine seien, die ihn nach der Songarbiri-Mine gelockt hätten. „Ich bin selbst mehrfacher Millionär,“ fügte er hinzu. „Für mich haben lediglich komplizierte, scheinbar unerklärliche Ereignisse jeder Art Interesse. – Die Sache ist die, Mr. Ribblay, daß Robin Parmang, der vor drei Tagen dabei war, als wir jene beiden Verbrecher festnahmen, sich heimlich aus dem Staube gemacht hat. Ich möchte jetzt einmal feststellen, ob er ein Mensch von einwandfreiem Charakter ist, und dann will ich versuchen, die beiden gefährlichen Hochstapler und Diebe Mautley und Bickpool wieder zu ergreifen. Gestatten Sie daher ein paar Fragen –“

„Aber bitte sehr, Mr. Harst. Es wäre nun doch möglich, daß Sie hier wirklich die Diamantenfundstelle irgendwie –“

Harst machte eine ablehnende Handbewegung.

„Mich interessieren nicht Edelsteine, sondern Menschen,“ sagte er kurz. – „Meine erste Frage ist: Hat Parmang häufiger Ausflüge in die Umgegend gemacht, war er also vielleicht Jäger?“

„Nein, das war er nicht. Nur leidenschaftlicher Amateurphotograph. – Ausflüge? Das ich nicht wüßte.“

„Hat er häufiger Urlaub erbeten, Mr. Ribblay?“

„Hm – nur zwei Mal. – Einmal war er in Katmandu, der Hauptstadt Nepals, das zweite Mal bei einem Arzt in Patna seiner Nieren wegen.“

„Welche Dauer hatte Parmangs erster Urlaub?“

Oberingenieur Lebraux erwiderte jetzt:

„Zwei Wochen, Mr. Harst. Parmang kam aus Katmandu mit etwa 100 photographischen Aufnahmen zurück.“ Lebraux lächelte noch jetzt über diesen Spleen des Kollegen.

„Haben Sie die Bilder gesehen?“ meinte Harald gleichgültig.

„Und ob! Er hat mir ja Abzüge aller Platten geschenkt.“

„Mir auch,“ lachte Ribblay.

„Kann ich die Bilder mal prüfen?“

Der Direktor nahm eine Pappschachtel aus einem Schrank.

Harst ließ sich Zeit. Die Photographien schienen ihm zu gefallen.

Wir drei unterhielten uns inzwischen. Dann fragte Harald wieder:

„Weiß einer von Ihnen, wo Parmang in Katmandu gewohnt hat?“

„Ja,“ erklärte Lebraux. „Ich hatte ihm das Hotel Blenkox empfohlen. Aber er logierte dann in einem elenden chinesischen Wirtshaus unweit des Flusses. Den Namen des Besitzers habe ich vergessen.“

„Kann ich diese Bilder mitnehmen?“ bat Harst jetzt. „Es sind zum Teil so schöne Aufnahmen, daß ich in Katmandu die Objekte mit der photographischen Wiedergabe vergleichen möchte.“

„Aber gern!“ erklärte Ribblay.

Harst stand auf. „Ich komme morgen wieder,“ sagte er.

Wir taten so, als ob wir die kleine Minenstadt, die hier vor fünf Jahren aus der Erde geschossen war, zur Rechten liegen ließen und den Weg nach der Grenze einschlugen.

„Vielleicht finden wir die Diamantenstelle wirklich,“ sagte Harald mit einem Male. „Die Photographien sind recht wichtig. Ich hätte an die beiden Herren noch so manche Frage zu richten gehabt. Aber ich will mich dieserhalb lieber an eine andere Adresse wenden. Es gibt ja dort drüben in der Barackenstadt sicherlich eine Kneipe, und der Wirt dürfte wie überall hier ein Chinese sein. Wir wollen also nachher im Bogen uns den Baracken nähern.“

Wir hatten die erste Biegung der Straße und gleichzeitig einen Wald erreicht. Harst blieb stehen und schaute vorsichtig zurück nach des Direktors Bungalow.

„Aha,“ meinte er, „ganz wie ich dachte! Ribblay hat uns jemand nachgeschickt! Ja – es sind eben Diamantenliebhaber, diese beiden Herren! Sie wollen sehen, wo wir bleiben. Nun, ein indischer Diener ist gerade kein sehr schlimmer Verfolger. Biegen wir in den Wald ein. Dann kann der Bursche suchen. In der Barackenstadt wird er uns nicht vermuten.“

Kaum zwanzig Minuten später saßen wir in der Kantine des sehr ehrenwerten Mr. Chidlo Ma, eines Chinesen von unangenehmster Höflichkeit. Er witterte in uns bescheidenen Indern Gäste, die er vielleicht ordentlich schröpfen könnte. Harst hatte sofort in furchtbarem Englisch erklärt, wir möchten Reis und ein gekochtes Huhn zum Frühstück haben. Dabei hatte er eine Zehnpfundnote sehen lassen.

Jetzt um die zehnte Vormittagsstunde war es in Chidlo Ma’s Kneipe und Kramladen ganz leer. Er setzte sich zu uns. Harst fragte, ob man hier Arbeit erhalten könne. Er hätte in Betija einen Mr. Parmang, Ingenieur, zufällig kennen gelernt, und der hätte ihn hierher gewiesen.

Schließlich hatte Harald den Chinesen dann beim richtigen Thema; bei Parmangs Urlaubsreise nach Katmandu.

Das, was Harst nun allmählich aus dem ahnungslosen Chidlo Ma mit seltenem Geschick ganz unauffällig herausholte, war sehr interessant. –

Daß ein Europäer hier in Nepal ohne Diener reist, wo es keine Eisenbahnen gibt, kommt nie vor. Harst hatte nun herausbringen wollen, wer damals Parmangs Begleiter nach Katmandu gewesen wären. Zu unserer Überraschung ergab sich folgendes: Parmang hatte hier in der Minenstadt vom ersten Tage an zwei Nepalesen als Diener gehabt, die er von einem Kollegen übernommen hatte. Diese Nepalesen hatten ihn auch nach Katmandu begleitet. Als er von dort zurückkehrte, hatte er jedoch die Diener gewechselt und zwei andere bei sich, die er in Katmandu sich besorgt hatte. Die früheren, so erzählte er, wären ihm ausgerückt und hätten ihm auch noch Geld gestohlen.

Weiter teilte Chidlo Ma über diese beiden ersten Diener dann noch mit, daß es Vater und Sohn gewesen seien, zwei sehr ordentliche, ruhige Leute, die ihren Herrn sehr geliebt hätten. Der Chinese wollte es noch heute nicht glauben, daß sie Parmang freiwillig verlassen hätten und sogar noch zu Dieben geworden wären.

Inzwischen hatten wir unser Frühstück verzehrt und konnten wieder aufbrechen. Harst tat so, als ob wir nachher wiederkehren und hier nächtigen wollten. Chidlo Ma beschrieb uns noch den Weg zum Verwaltungsgebäude. Dann gingen wir – natürlich nicht zum Verwaltungsgebäude, sondern in den Wald und zur Hauptstraße zurück.

Harst war schweigsam. Ich sah ihm an, daß er das Gehörte im Geiste verarbeitete, und mochte ihn daher nicht durch Fragen stören.

Dann begann er von selbst zu sprechen.

„Diese Diamantengeschichte[3] hat eine neue Wendung erhalten,“ sagte er und schaute sich nun schon zum dritten Male vorsichtig um. „Parmangs Person war mir bisher gleichgültig, mein Alter. Jetzt ist es damit anders geworden. Ich will jetzt nicht lediglich Mautley und Bickpool fangen, sondern auch aufklären, wo Parmangs Diener, Vater und Sohn, geblieben sind.“

Ich war froh, daß er hiervon zu reden anfing. Ich hatte mir ja bereits hinsichtlich der Diener so meine besondere Ansicht gebildet.

„Ich verstehe,“ warf ich schnell ein. „Du witterst hier ein Verbrechen.“

„Ja. Nach dem, was der Chinese erzählte, liegt der Verdacht vor, daß die beiden Nepalesen von Parmang beseitigt worden sind. Weshalb aber? Nun, da könnte man annehmen, sie wären seine Mitwisser gewesen. Vielleicht waren sie dabei, als er die Diamantenfundstelle entdeckte. Da wird er sie als ihm unbequem aus dem Wege geräumt haben. – Es waren ehrliche anhängliche Leute, die es bei Parmang gut hatten. Woher sollten sie ihn da so ohne jeden Grund gerade in Katmandu verlassen und noch bestohlen haben?! Er hat eben nur ihr Verschwinden irgendwie erklären wollen, und man hat ihm das auch unbesehen geglaubt.“

„Ganz so hatte ich gemutmaßt,“ meinte ich. „Vielleicht ist er nur nach Katmandu gereist, um sie dort umzubringen.“

„Hm,“ machte Harald sehr gedehnt. „Hm – hier verläßt Dich die Logik, mein Alter. Ich werde Dir das später beweisen. Es gibt in dieser Sache noch einzelne dunkle Punkte, die erst aufgehellt werden müssen.“

Ich blickte ihn überrascht an. „Einzelne dunkle Punkte?“ fragte ich kopfschüttelnd. „Ich meine, die Geschichte ist erst im Anfangsstadium der Aufklärung.“

„Keineswegs. Die Photographien reden für mich eine recht deutliche Sprache und zeigen mir, daß dieser Parmang aus sehr triftigen Gründen es seiner Zeit ablehnte, mit uns zusammen nach Nepal zu gehen, und dann auch, als wir Mautley und Bickpool verhaftet hatten, schleunigst selbst verduftete. Der Mann ist ein Wolf in Schafskleidern. Er hat es verstanden, mir hinsichtlich seines Charakters Sand in die Augen zu streuen. Damit hat es nun ein Ende. Wenn Du genau auf die Bemerkungen Chidlo Ma’s geachtet hättest, wäre Dir aufgefallen, daß er betonte, eine wie große Vertraulichkeit zwischen den beiden Nepalesen Tschumdschu Vater und Sohn und Parmang herrschte und daß man hierüber in der Minenstadt sich sehr wunderte. Diese Vertraulichkeit dürfte eine besondere Ursache gehabt haben. – Schließlich erklärte der kriecherische Chidlo Ma noch so nebenbei, diese beiden Tschumdschus seien in gewisser Beziehung recht geheimnisvolle Leute gewesen, da sie über ihre nähere Heimat sich stets völlig ausgeschwiegen hätten.“

„Oh, das habe ich sehr wohl gehört,“ meinte ich. „Und Du hältst dies „Geheimnisvolle“ für wichtig?“

„Allerdings. Für sehr wichtig. Ich habe mir da eine Theorie aufgebaut, die für den nüchternen Juristen sicherlich allzu stark romanhaft wäre. Aber – man muß eben als Detektiv Phantasie haben.“

Harst näherte sich dem Steingebäude recht vorsichtig. Ich hielt mich dicht hinter ihm. Dann hatten wir die Haupthalle lautlos durchschlichen und bemerkten nun in dem von uns als Wohnraum erwählten Nebengelaß unseren Chauffeur Chutawuru, der mit dem Rücken nach uns hin an einem kleinen, schwach rauchenden Holzfeuer saß, über dem der Wasserkessel stand.

„Na, was Neues, Chutawuru?“ fragte Harst und trat näher.

Der Inder schnellte entsetzt hoch, – besser er heuchelte diese Überraschung und – flog Harald mit einem wahren Panthersprung an die Kehle.

Es war nicht Chutawuru! Es war der lange bärenstarke Mautley. – Das schoß mir noch durch den Kopf, als mich schon zwei Hände von hinten mit furchtbarem Druck würgten.

Ein Blick noch auf Harst; er wehrte sich kaum. Da tat ich dasselbe, täuschte Bewußtlosigkeit vor und ließ mich binden.

 

3. Kapitel.

Ein Walzer ums Leben.

Eine Viertelstunde später.

Harst und ich saßen gefesselt auf den Fliesen des Nebengelasses, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Vor uns hatten es sich Bickpool und Mautley auf den Kissen des Autos bequem gemacht. Mautley trug noch den Anzug unseres Chauffeurs, sagte jetzt so gleichgültig, als spräche er von einer Sache, die ihn nichts anging:

„Ihren Fahrer werden Sie nachher wiedersehen, Mr. Harst. Es gibt in diesem Tempel nämlich einen Kellerraum, den die Brillenschlangen der ganzen Gegend als Paarungsstätte bevorzugen. Gerade jetzt haben diese angenehmen Bestien ihre Liebeszeit. Der Keller enthält so gegen dreißig Stück, und der Chauffeur dürfte schon tot sein, da die Viecher während der Paarung sehr reizbar sind. Wir, Bickpool und ich, haben hier schon früher viele Wochen gehaust, als wir noch auf Parmang Jagd machten. – Schade, daß Ihr Freund Doorball Sie hier jetzt nicht bewundern kann. Er würde erstaunt sein, daß ein Mann wie der große Harald Harst von zwei so minderwertigen Verbrechern, wie wir es sind, sich hat überrumpeln lassen. Doorball hat von Betija aus mit seinen Depeschen das ganze Land nach Süden zu wild gemacht. Inzwischen sind wir als Inderinnen verkleidet auf zwei mit Körben beladenen Maultieren ganz ungestört aus Betija nach Norden zu entkommen, haben uns nachher ein Wägelchen gestohlen und –“

„Das interessiert mich nicht,“ fiel ihm Harst ins Wort. „Ihr Freund Bickpool hätte dem armen Doorball nicht das Geld stehlen sollen, noch dazu die Pistolen. Das war dumm. Ich wußte, Sie beide würden nach Nepal gehen. Nun – habe ich Sie!“

Die Schurken gröhlten vor Heiterkeit.

„Wie, Sie – Sie – haben uns?! Kostbar!“ prustete Mautley. „Das sagt ein Mensch, der jetzt sofort von uns in den Keller geworfen werden wird, wo er an sich selbst probieren kann, ob man nach dem Biß einer Kobra noch zwei Stunden lebt.“

„Das hängt davon ab, wo der Biß sitzt,“ erklärte Harst mit unerschütterlicher Ruhe. „Ich habe mal erlebt, daß ein Kind, dem eine Brillenschlange die Giftzähne in den Oberschenkel schlug, nach fünf Minuten verendete. – Wollen Sie mir noch eine Frage Parmangs wegen gestatten? – So, Sie nicken. Danke sehr. Also: Wissen Sie etwas Genaueres über Parmangs geheimnisvolle Diener, die beiden Tschumdschus?“

Mautley schaute Harald lange an. „Sie sind wirklich ein seltsamer Mensch, Mr. Harst,“ sagte er nun. „Sie haben den Tod so dicht vor Augen und denken noch an Leute, die Ihnen wahrscheinlich als Liebhaberdetektiv –“

„Laß das Gerede,“ fuhr ihn der geistvollere Bickpool grob an. „Wir wollen hier Schluß machen, sonst verlieren wir Parmangs Spur. – Los, fasse mit an, und dann zuerst hinein mit dem berühmten Harst in den Schlangenkeller.“

Mautley erwiderte nichts, erhob sich und nahm Harst spielend leicht in die Arme, trug ihn davon, hinaus in die große Halle. Bickpool schritt hinterdrein.

Er bekam mich im Rücken zu packen, schleifte mich am Boden entlang bis zu einer quadratischen Öffnung in der Halle. Die Schufte hatten vier Fliesen ausgehoben, die das Loch verdeckt hatten.

Ich erhielt einen Stoß, sauste hinab, fiel auf ein Paar Beine, fiel aber kaum zwei Meter tief.

Und – Harst pfiff, pfiff einen schmalzigen Walzer!

Das war das einzige Lebenszeichen von ihm. Ich wollte mich von seinen Beinen wegrollen. Aber er flüsterte: „Rege Dich nicht!“ und – pfiff weiter.

Über uns wurden die Fliesen eingefügt. Das wenige Licht, das durch das Loch hineingefallen war, erlosch.

Um uns tiefste Dunkelheit.

Und – Haralds Walzer ertönte weiter, unermüdlich. Dann – ganz blitzartig kam mir die Erkenntnis! – Dann dachte ich an jene Eigentümlichkeit der Kobras, daß diese Schlangen für Musik so sehr empfänglich sind. Ich hatte selbst einmal in Bombay beobachtet, wie ein Inder eine frisch gefangene Kobra durch Pfeifen geradezu zahm gemacht hatte. Die eklen Bestien richten sich, sobald sie Musik hören, halb auf und pendeln mit den Köpfen hin und her. Sie vergessen über den Tönen einer einfachen Bambusflöte völlig das Beißen.

Harst pfiff. Es war ein Walzer ums Leben! –

Ich raunte ihm zu, daß ich ihn ablösen würde, denn auf diesem Gebiet leistete ich Besseres. Er hörte auf, und ich begann mein Walzerrepertoire.

Harst schien auf den Arm gestützt dazuliegen. Er rührte sich nicht. Aber – ich merkte auch nicht das geringste von der Anwesenheit von Kobras.

Doch – nur zu bald drang dann ein widerlicher Gestank mir in die Nase. Fast gleichzeitig hörte ich Harald flüstern: „Rechts vor uns liegt der arme Chutawuru. Er ist tot, und bei der Hitze hier ist die Leiche bereits in Verwesung übergegangen. – Ich hoffe für uns nur auf eins; daß es mir allmählich gelingt, meine Handfesseln zu lockern. Viel bewegen darf ich mich nicht. Soeben hatte ich eine Kobra dicht vor mir –“

Da – mit einem Male über uns ein Geräusch.

Die Steinplatten wurden entfernt, und Tagesschimmer drang bis zu uns hinab. Dann Bickpools Stimme:

„He, Mr. Harst, schon gebissen?“

Ich richtete meine Augen stier auf eine riesige Kobra, die jetzt langsam in das Dunkel des Kellers davonglitt.

„Nein, noch nicht,“ sagte Harst. „Lange wird’s aber –“

„Gut,“ rief Bickpool „Sehr gut, warten Sie –“

Ein brennendes Bündel Gras flog neben uns.

„So,“ ließ der Verbrecher sich wieder hören. „Nun sind Sie vorläufig sicher, Mr. Harst. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Sie helfen uns Parmangs Diamantenlager suchen, verzichten auf jeden Anteil daran und sollen dafür frei sein, wenn Sie uns Ihr Ehrenwort geben, wirklich ehrlich zu suchen und uns nicht der Polizei oder sonstwem in die Hände zu spielen. Ihr Freund muß bleiben, wo er ist. Mit Ihnen beiden wollen wir die Sache nicht machen. Sie allein können wir beaufsichtigen, aber –“

„Sie halten mich für einen Schurken, wie Sie es sind,“ rief Harald dazwischen. „Schweigen Sie! Entweder Schraut und ich, oder keiner!“

„Hab’s erwartet,“ erklärte Bickpool. „Wie steht’s mit dem Ehrenwort. Meinetwegen sollen auch Sie beide uns suchen helfen.“

„Ich wäre mit einer Einschränkung einverstanden,“ entgegnete Harald. „Finden wir die Diamanten, so darf ich Sie beide zwölf Stunden später wieder verfolgen; finden wir sie innerhalb zwei Wochen nicht, steht mir dasselbe Recht zu. Nun, wie denken Sie darüber? Daß ich meine Zusage wörtlich halte, dafür bürgt Ihnen mein Name, und für Schraut gelten genau dieselben Pflichten und Rechte.“

„Es sei!“ meinte Bickpool. „Wir sind jetzt also bis auf weiteres Kameraden. – Mautley, klettere hinab und schneide die beiden los –“ –

Wir waren frei! Und – wir waren die Genossen von Mördern! Fürwahr eine Lage, die lediglich für einen Harald Harst Reiz haben konnte!

Wir saßen nun wieder in dem Nebenraum des Tempels. Aber jetzt hatte Harst die Autokissen für uns mit Beschlag belegt, und Mautley und Bickpool hatten sich bescheiden auf die Fliesen gesetzt.

Harald rauchte eine Zigarette.

„Ich erwartete diesen Vorschlag von Ihnen, Bickpool,“ sagte er zu dem damenhaft zarten Verbrecher. „Ich hatte absichtlich nach den Dienern Parmangs gefragt und Ihre Neugier durch den Ausdruck „geheimnisvoll“ reizen wollen. Nicht wahr, Sie beide haben dann hierüber gesprochen und sind so auf den Gedanken gekommen, mit uns eine Art Vertrag zu schließen?“

„Ja, so ist’s, Mr. Harst. – Was soll nun geschehen?“

„Wir, Schraut und ich, werden unsere Verkleidung ablegen und dann mit Ihnen zusammen nach Katmandu fahren. Ich kann ein Auto steuern. Sie beide verwandeln sich in bärtige Inder und spielen unsere Diener. Ich hoffe die Diamanten zu finden. In Katmandu müssen wir zu suchen beginnen. Morgens habe ich in der Minenstadt so allerlei erfahren, das mir die halbe Gewißheit gibt, Parmang dürfte die Tschumdschus, Vater und Sohn, ermordet haben. – Sie sehen jetzt schon, daß ich unsere Vereinbarung einhalte. Ich werde Sie beide später ja doch zur Strecke bringen.“

Bickpool zuckte die Achseln. „Oder wir Sie, Mr. Harst! Auch wir werden Sie wahrlich nicht schonen. – Wann brechen wir auf?“

„Sofort.“ Harst stand auf. „Es ist selbstverständlich, daß Sie beide jetzt sich ganz als Diener fühlen und meine Anordnungen blindlings befolgen. Ebenso gehört es meinerseits zu meinem Pflichtenkreis, Sie so lange vor den Behörden zu schützen, bis unser Vertrag abgelaufen ist.“

 

4. Kapitel.

Parmang als Photograph.

Katmandu, Hauptstadt von Nepal!

Harst hatte den Pappkarton mit den Photographien Parmangs unterm Arm, meinte jetzt:

„Wir wollen das Studium nun beginnen.“ Er öffnete den Kasten und nahm ein paar Dutzend Bilder heraus. „Aha, hier haben wir schon eins von der Riesenglocke. Die Bilder sind tadellos. Dies zum Beispiel stellt dort jenen Winkel der Tempelmauer dar, und dies wieder jene Fernsicht nach dem Marktplatz.“

Wir konnten jetzt sozusagen an der Hand der Photographien einen bestimmten Weg feststellen, den Parmang während seines Aufenthalts hier zurückgelegt[4] hatte. Harald machte mich darauf aufmerksam, daß Parmang recht oft Örtlichkeiten photographiert hatte, an denen nicht das geringste Bemerkenswerte war.

Ich begriff trotzdem noch immer nicht, weshalb er diesen Bildern so viel Wichtigkeit beimaß.

„Warte nur, Du wirst schon dahinterkommen,“ meinte er, als ich ihn dieserhalb befragte.

Dann deutete er auf fünf Photographien, die in einer engen Gasse aufgenommen waren und lediglich „malerische Winkel“ zeigten, die nichts Malerisches an sich hatten.

Ich begriff noch immer nicht. Wir tasteten uns sozusagen den Weg weiter, den der eifrige Plattenverschwender genommen hatte. Es machte ganz den Eindruck, daß Parmang lediglich allerlei photographiert hatte, nur um zu photographieren. Als ich Harst gegenüber diese Ansicht jetzt aussprach, rief er:

„Aha, mein Alter, Du bist dem Kern der Sache ziemlich nahe.“

Er suchte die nächsten Bilder heraus, die nun unsere Schritte in das neue Viertel von Katmandu lenkten. Schließlich langten wir so vor dem Hotel Blenkox an. Und – dies war ja dasjenige Hotel, das Oberingenieur Lebraux dem Kollegen empfohlen und das Parmang angeblich nicht benutzt hatte.

Wir selbst waren mit unsern Dienern in einem einfachen Gasthause am Flusse abgestiegen. Jetzt aber betraten wir dieses „erste“ Hotel der Stadt und ließen den Besitzer Mr. Blenkox rufen. Es war ein kühl-höflicher, dicker Engländer, dieser Blenkox, und er wurde erst zugänglicher, als Harst ihm gesagt hatte, wer wir waren.

Harald fragte, ob vor etwa acht Monaten hier ein Ingenieur Parmang gewohnt hätte, der ein sehr eifriger Photograph gewesen sei.

Mr. Blenkox schüttelte den Kopf. Aber er lächelte dabei.

„Ein Mr. Parmang wohnte hier nicht. Nur auf einen Kaufmann Pragnar besinne ich mich. Dieser war ein merkwürdiger Herr. Er kam morgens an, nahm ein Zimmer, ließ die Fenster sofort durch Decken dicht verhängen, ließ einen großen Tisch und Schüsseln und Schalen zum Entwickeln der Platten hinstellen, bat sich von mir einen der Hotelboys aus, den er dann mit einer Tasche belud, die Plattenpakete enthielt, und begann sofort mit einem Rundgang durch die Stadt, wobei er alles typte, was nur irgendwie ein Bild ergab. Bereits nach zwei Stunden war er wieder zurück, frühstückte und entwickelte dann die Platten auf seinem Zimmer, wozu er viele Stunden gebrauchte. Die Platten trocknete er durch ein besonderes Verfahren noch an demselben Nachmittag, gab sie mir in Verwahrung und verließ das Hotel wieder gegen Abend. Wohin er reiste, sagte er nicht. Er war überhaupt sehr zugeknöpft. Nach neun Tagen erschien er plötzlich abermals hier bei mir, blieb wieder nur einen Tag und benutzte diesen dazu, von den Platten Abzüge herzustellen. Es waren mindestens hundert Aufnahmen, die er damals an jenem ersten Tage gemacht hatte.“

„Dieser Pragnar hatte keine Dienerschaft?“ fragte Harst jetzt.

„Bei seinem ersten Aufenthalt hier nicht. Beim zweiten brachte er zwei eingeborene Diener mit,“ erklärte Blenkox.

„Waren es Nepalesen?“

„Nein, Inder.“

Harald überlegte. Dann wandte er sich abermals an den Hotelbesitzer.

„Ist der Boy noch hier, der für Pragnar damals die Plattentasche trug?“

„Ja. Soll ich ihn rufen? – Gut, einen Augenblick –“

Der Boy erschien. So ein recht durchtriebener, kleiner brauner Bursche war’s. Einer von jener Sorte, die durch den Fremdenverkehr „helle“ werden.

Harst reichte ihm sofort eine Pfundnote.

„Da, nimm! Ich möchte von Dir einiges über den Sahib erfahren, dem Du mal vor Monaten eine Tasche tragen mußtest. Besinnst Du Dich auf ihn? – Nun, dann denke mal genau nach. Geschah an jenem Vormittag irgend etwas Besonderes, als der Sahib so oft photographierte?“

Der Bengel grinste. „Der Sahib hat nur die Hälfte der Bilder aufgenommen. Er zeigte mir, als wir vom Hotel nicht mehr zu sehen waren, wie ich’s machen sollte. Oh, ich kenne mich mit Kameras aus. Und – so habe ich denn etwa fünfzig Bilder getypt. Erst am großen Buddha-Tempel traf ich wieder mit dem Sahib zusammen.“

„So, so!“ meinte Harst gedehnt. „Und was geschah dann?“

„Nichts. Dann photographierte er. Aber – er tat’s nur, um die Platten zu verbrauchen, schien’s mir. Er hatte es damit sehr eilig. Überhaupt –“ Der Junge schaute plötzlich etwas verlegen zu Boden.

„Nun – überhaupt?“ munterte Harst ihn auf und gab ihm ein zweites Pfund.

„Ja – der Sahib hieß nämlich nicht Pragnar, sondern Parmang,“ sagte der Boy schnell. „Als er damals am Abend das Hotel verließ, nachdem er Sahib Blenkox die Platten in Verwahrung gegeben hatte, bin ich ihm – heimlich gefolgt. Ich dachte, mit diesem Sahib müsse es doch eine besondere Bewandtnis haben. Er hatte nur einen kleinen Koffer bei sich, den er selbst trug. Er wandte sich dem Chinesenviertel zu und verschwand hier im Hause des Teestubenwirtes Tschang, aber in dem Seiteneingang. Ich kletterte über die Hofmauer, um festzustellen, was der Sahib in dem verrufenen Hause wollte. Im Hofe standen drei gesattelte Pferde und ein hochbeladenes Packpferd. Nach einer halben Stunde kam der Sahib, als Chinese verkleidet, mit zwei Dienern und dem Teewirt Tschang in den Hof. Die Diener nannten den Sahib „Master Parmang“, und er redete sie mit „Tschumdschu“ an. Es waren Nepalesen. Die drei ritten dann mit dem Packpferd nach Norden zur Stadt hinaus und bogen nachher in den Paßweg ein, der am linken Ufer des Sun Kusi (Fluß, der vom Himalaya nach Südost fließt) entlangführt. Mehr weiß ich nicht.“

„Hat der Teewirt Tschang Pferde zu verleihen?“ fragte Harst den Boy.

„Jawohl Sahib.“

Der Junge konnte gehen. Wir verabschiedeten uns von Mr. Blenkox und wandten uns dem Chinesenviertel zu.

Tschang war ein geriebener Halunke. Erst als Harst zehn Pfund springen ließ, erinnerte er sich plötzlich an Mr. Parmang und die Tschumdschus. Parmang hatte die Pferde richtig wieder abgeliefert. Aber er hatte damals schon die beiden neuen Diener bei sich gehabt.

Als Harst nun erklärte, wir wollten vier Pferde und ein Packpferd für heute abend reisefertig gestellt haben, zog Tschang die Schultern bedauernd bis an die Ohren hoch.

„Habe nur noch drei im Stalle, Mr. Harst,“ meinte er. „Aber vielleicht kann ich noch zwei Pferde anderswo besorgen.“

„Hm, so haben Sie wohl kürzlich schon Tiere ausgeliehen, Tschang?“ fragte Harst und fixierte den Teewirt durchdringend. „Vielleicht gar an – Parmang, he?“

Tschang krümmte sich, lächelte, schüttelte den Kopf. „Nicht an Mr. Parmang, sondern an einen indischen Kaufmann,“ erklärte er.

„Hm – sollten Sie in diesem Inder nicht Parmang wiedererkannt haben, Tschang? – Mich müssen Sie nicht zu beschwindeln suchen! Sie wissen, wer ich bin.“

Tschang nickte. Er hatte offenbar Angst vor Harst.

„Ja – es war Parmang, und gestern abend ist er mit einem Packpferd weggeritten. Er hat bei mir für die Tiere 30 Pfund hinterlegt.“

Harst wünschte jetzt die Pferde zu sehen, die wir erhalten sollten. Wir gingen in den Stall. Tschang schwor bei allen seinen Ahnen, daß er nicht wüßte, wohin Parmang sich gewandt hätte. Harald traute dem Chinesen offenbar nicht. – Im Stalle sagte er dann zu ihm: „Hier haben im ganzen sieben Pferde gestanden. Zwei hat Parmang gemietet. Aber es sind nur noch drei vorhanden. Wo sind die beiden, die außerdem fehlen?“

Tschang schnitt allerlei Grimassen. Aber – die Angst vor Harst war zu groß. Er wagte keine neue Lüge.

„Mein Sohn und ein Freund von mir sind Parmang heute morgen gefolgt,“ sagte er nach einigem Zögern.

„So – so! Heute morgen?! Und – warum nicht schon gestern abend, Tschang?! Wie wollten sie wohl Parmangs Fährte finden, wenn dieser in der Bergwildnis im Norden vom Paßwege abbog?! – Sagen Sie die Wahrheit! Sie sollen noch zehn Pfund erhalten, wenn Sie mir nichts verheimlichen.“

Tschang feixte jetzt triumphierend. „Mr. Harst, ich habe den Pferden des verkleideten Parmang je ein Hufeisen aus Zinn untergeschlagen. Und solche Eisen lassen auf dem Felsen überall deutliche Spuren zurück. Zinn ist weich, und wo ein derart beschlagener Huf den Steinboden trifft, ruft er silbergraue Striche und Flecke hervor, die kein Regen abwäscht.“

Harst fixierte Tschang weiter. „Sie vermuten, daß Parmang dort in den Bergen etwas Besonderes vorhat?“ fragte er kurz.

„Ja, Mr. Harst. Er wird vielleicht eine Goldader entdeckt haben.“

Harald erwiderte nichts. Wir traten auf den Hof hinaus. Harst bückte sich und untersuchte das Pflaster. Dann deutete er auf ein paar silbergraue Streifen auf einzelnen Steinen, reichte Tschang eine Zehnpfundnote und meinte: „Sie haben wirklich die Wahrheit gesprochen. – Heute nachmittag um 2 Uhr müssen vier Reitpferde bereitstehen. Aber – schweigen Sie. Sie ahnen nicht, daß Ihr Sohn und Ihr Freund sich in Lebensgefahr befinden.“

Als wir dann in unsere Herberge zurückkehrten und Mautley und Bickpool nun von Harst erfuhren, daß Parmang fraglos nach der Diamantenfundstelle unterwegs sei, konnten unsere beiden „Vertragsgenossen“ die Zeit kaum erwarten, bis wir im Sattel sitzen und die Verfolgung aufnehmen würden.

Um 3 Uhr nachmittags befanden wir uns bereits mitten im Hochgebirge. Die uralte Straße, die hier dem Ufer des Sun Kusi folgte, bewies wieder einmal, eine wie hochentwickelte Kultur selbst hier in Nepal vor vielen Jahrhunderten bestanden hatte. – Öffnete sich vor uns ein nach Norden gerichtetes Tal, dann sahen wir bereits in fast greifbarer Nähe die ersten Schneegipfel und Gletscher der Himalayaketten im Sonnenlichte funkeln. Harst war uns stets gut fünfzig Meter voraus. Unsere kleinen, struppigen Gäule bewährten sich tadellos. Selbst an schmalen, steilen Stellen des Weges blieb ihr Schritt lang und gleichmäßig.

Die Zinnfährte stets im Auge zu behalten, war gewiß nicht leicht. Aber Harst machte auch nicht ein einziges Mal halt. Sehr oft trabten wir weite Strecken. – So kam die siebente Abendstunde heran. Da – jetzt bog Harst nach links von der Paßstraße ab. Wir befanden uns gerade auf einer Hochebene, über die ein eisiger Wind hinstrich.

Wieder ging’s nun im Trab weiter – aber nach Westen zu. Drei weißschimmernde Berghäupter reckten sich dort dem Himmel entgegen. In ihren Schluchten lag überall Schnee.

Dann – der uns weit vorausgeeilte Harst winkte. Wir trieben die Pferde an, hielten nun neben ihm. Eine ungeheure Kluft durchschnitt hier die Felsenmassen, wohl zwanzig Meter breit und von einer Länge, die mit den Augen nicht abzumessen war.

Harald deutete stumm auf eine kleine Blutlache, die sich bereits braunschwarz verfärbt hatte.

„Parmang hatte sein Geheimnis verteidigt,“ sagte er dann. „Die Fährte hört hier auf. Wartet, ich will mich genauer an dieser Stelle umschauen.“

Er stieg ab und ging wie planlos hin und her, entfernte sich dann nach Süden zu, immer unweit des Schluchtrandes sich haltend. Er entschwand unseren Blicken, tauchte plötzlich jedoch zu unserer Überraschung an der anderen Seite der Schlucht uns gegenüber wieder auf, rief: „Dort nach Süden werdet Ihr eine natürliche Felsenbrücke finden. Schnell – bringt mein Pferd mit.“

Wir führten unsere Tiere am Zügel über die schmale Brücke. Eine schauerliche Tiefe gähnte sekundenlang zu unseren Füßen. Mautley atmete erleichtert auf, als wir so die Schlucht überwunden hatten. „Verdammt – das war eine kitzliche Sache!“ meinte er.

Harst ging jetzt zu Fuß tief gebückt und in der Linken seine Taschenlampe haltend, Schritt für Schritt weiter. So kamen wir in ein enges Tal mit himmelhohen Wänden. Die Dunkelheit nahm schnell zu. Das Tal stieg nach Nordwest steil an. Wir trafen die ersten Schneehalden und mit Eis ausgefüllten Vertiefungen. Bald war’s so finster, daß Mautley eine Petroleumlaterne anzündete und wir uns sehr inachtnehmen mußten, nicht über Felsstücke zu stolpern. Vor uns sahen wir von Harst nur noch den weißen Lichtkegel seiner Lampe.

Die Kletterei war sehr ermüdend. Wir gingen im Gänsemarsch, die Pferde am Zügel führend. Mautley hatte die Spitze. Ich kam mit meinem und dem Packpferde als letzter.

Harst hatte abermals halt gemacht. Er stand an einer schroffen Felswand – dicht vor einer Felsspalte, die sich in das Gestein hineinzog. – „Die Spur verschwindet hier,“ sagte er leise. „Ich denke, wir sind am Ziel. Ich möchte erst mal allein in die Spalte eindringen.“

„Ah – am Ziel?!“ rief Bickpool. „Wozu dann erst noch diese Vorsicht?! Vorwärts! Wir lassen die Pferde hier und überraschen Parmang!“

„Wie Sie wollen,“ meinte Harst. „Dann werden Schraut und ich hier bei den Pferden bleiben. Sie und Mautley gegen Parmang – das genügt ja!“

Die beiden „Vertragsgenossen“ waren vom Diamantenfieber gepackt worden. Und das soll ja noch schlimmer als das Goldfieber sein. Sie holten ihre Revolver hervor, entsicherten sie, nahmen die Laterne und verschwanden in der Felsspalte.

„Narren!“ sagte Harald kalt. „Bilden sie sich etwa ein, daß die Diamanten nur so aufzulesen sind?! Dann hätten es die Tschumdschus wohl seinerzeit allein getan und sich nicht Parmang anvertraut. Es muß da eben noch ein Hindernis besonderer Art geben, welches ein Ingenieur –“ Er brach mitten im Satz ab, fuhr dann fort:

„Es ist besser, wir bleiben dicht hinter den beiden Burschen. Sie könnten Parmang sonst ohne weiteres niederknallen – und dann uns!“

Ich nickte nur. Auch ich hatte mir längst klargemacht, daß die Verbrecher uns beseitigen würden, sobald wir die Diamanten gefunden hätten.

 

5. Kapitel.

Das Geheimnis der Eishöhle.

Harst band die Pferde in der Felsspalte fest. Sie standen hier unter Wind. Er legte ihnen auch noch Decken auf und meinte dabei: „Man kann nie wissen, wie lange man fortbleibt.“

Ich wunderte mich, daß er sich zu alledem so viel Zeit ließ. Bickpool und Mautley mußten jetzt schon einen recht großen Vorsprung haben.

Abermals sollte ich nun erfahren, wie gut Harald stets meine Gedanken erriet.

„Ich zögere absichtlich,“ sagte er leise und steckte aus der einen Satteltasche zwei Ersatzbatterien für seine Lampe zu sich. „Unsere beiden „Freunde“ werden ja ohne Zweifel argwöhnisch sein und abwarten, ob wir ihnen nicht folgen. Sie haben sicher nach einer Weile halt gemacht und werden erst weitergehen, wenn sie glauben, wir seien wirklich bei den Pferden geblieben. Übrigens können wir jetzt auch gleich unserem dicken Doorball zu seinem Gelde zurückverhelfen. Mautley hat heute nachmittag etwas in seine Satteltasche eingeschlagen, als er behauptete, der Sattel säße schlecht. Hilf mir mal. Wir wollen den Sattel abschnallen. – So, dieses in Leinwand gewickelte Päckchen meinte ich! Da haben wir’s ja! Es ist das Geld, das Bickpool aus dem Geldschrank in Betija stahl.“ Harst schob es in die Innentasche seiner Sportjacke und lächelte dabei. „Auf dieses Geld bezog sich unsere Abmachung mit den beiden Halunken nicht,“ fügte er hinzu. „Nun können wir auch aufbrechen. Ich sage ganz offen, ich bin ungeheuer gespannt auf das, was wir hier vorfinden werden. Für alle Fälle wollen wir aber die beiden langen Leinen mitnehmen, die der Teewirt uns mitgab. Allerdings auf meine Veranlassung tat er es. Parmang hatte sich ja ebenfalls zwei solche Leinen ausgebeten. Und was er hier nötig hat, dürften wir genau so gut gebrauchen können.“

Harst ging wieder voran. Die Felsspalte verlief in scharfen, häufigen Biegungen mindestens 200 Meter weit und glich vollkommen einem durch die Naturgewalten geschaffenen Gange. Der Boden war uneben und stellenweise mit Steingeröll bedeckt. – Harald war überaus vorsichtig. Zumeist tappte er im Dunkeln vorwärts. Nur hin und wieder schaltete er seine Taschenlampe ein. Er fürchtete offenbar irgend eine Heimtücke von seiten Bickpools und Mautleys.

Plötzlich öffnete sich dann vor uns das Innere eines kleinen Tales, dessen steile Wände mit vereisten Schneemassen bedeckt waren. Über uns funkelten die Sterne des klaren Nachthimmels. Ein fast geisterhaftes Licht erfüllte das von hohen Bergen eingeschlossene Tal. Weit und breit war kein lebendes Wesen zu erblicken.

Harst stieg über eine Schneehalde in das Tal hinab. Ich hielt mich neben ihm.

„Diesen Felsenkessel findet nur ein Eingeweihter,“ meinte er leise. „Dort drüben in der schroffen, schwarzen Wand, scheint es eine ähnliche Felsspalte zu geben. Da – bemerktest Du soeben den aufzuckenden Lichtschein dort? – Jetzt wieder! Es ist, als ob –“

Ein dumpfer, kurzer Knall ließ ihn schweigen. Es war ohne Zweifel ein Schuß gewesen.

Harst begann zu laufen. Zweimal glitt ich auf dem glatten, vereisten Boden aus, rappelte mich aber sofort wieder empor. Nun hatte ich die schwarze Wand erreicht. Ein dreieckiges Loch gähnte mir entgegen. Harst war bereits verschwunden. Ich hatte die Taschenlampe in der Linken. Ein Druck auf den Knopf, und der weiße Strahlenkegel beleuchtete einen ziemlich steil abwärts führenden Gang. Dann flammte vor mir in der Tiefe ein rötliches Licht auf. Wie gebannt verharrte mein Fuß an derselben Stelle. Das, was ich dort erblickte, war so wunderbar schön, daß ich völlig vergaß, weshalb wir hierher gekommen.

Der Gang mündete in eine Eishöhle. Es mußte das Innere eines ungeheuren Gletschers sein, der sich hier in eine Schlucht hinabgesenkt hatte und dann durch irgendwelche Wärmequellen zu einer mächtigen Grotte weggeschmolzen war. Die köstlichen Farbenspiele riefen die schillernden Eiswände, die Zacken und Säulen, die Spalten und Risse hervor. Kein Maler hätte dieses Bild wiedergeben können.

Und mitten in der Höhle stand auf einer Art Eiskanzel ein Mann, hielt in der Linken eine große, brennende Harzfackel. – Nein – der Mann stand nicht frei da, wie ich nun bemerkte. Er lehnte an der wie in Flammen stehenden Eiswand, hatte die rechte Hand auf die Brust gepreßt.

Unten aber, am Fuße dieses ungeheuren, zum Altan abgeplatteten Wandpfeilers, hatten sich Bickpool und Mautley dicht zusammen in eine Aushöhlung der Eiskanzel geschmiegt. Mautley hatte die Laterne vor sich auf den Boden gestellt, ihr Lichtschein traf die Gesichter der beiden Verbrecher. Und – ich erkannte, daß in ihren verzerrten Zügen eine wahnwitzige Angst sich ausdrückte, mehr noch, ein Grauen, das selbst ihre verhärteten Seelen bis in die tiefsten Tiefen aufgerüttelt hatte.

Nun gewahrte ich auch Harst. Er stand links von der Eiskanzel, halb hinter einer schillernden Zacke, die von der Decke hinabhing. Er stand und folgte mit den Blicken dem weißen Kegel seiner Lampe, die er nach abwärts gerichtet hatte.

Dann von der Höhe der Eiskanzel herab ein wildes Auflachen – Parmang hatte es ausgestoßen. Es klang so furchtbar, daß mir plötzlich die Zähne wie im Fieberfrost aneinanderschlugen.

„Vier Morde – um nichts!“ brüllte Parmang jetzt mit einer Stimme, die vielleicht noch entsetzlicher anzuhören war, als das Lachen. „Holt Euch die Diamanten! Sie sind mit Blut gedüngt!“

Mit letzter Kraft schleuderte er die Fackel im Bogen dorthin, wo Harst noch immer wie entgeistert abwärts stierte. Die Eishöhle, getroffen von den beweglichen, zuckenden Lichtstrahlen der Fackel, schien in Rotglut aufzuflammen – nur für Sekunden.

Die Fackel verschwand. Es mußte dort, wo Harst so regungslos verharrte, einen schmalen Schlund in dem Eisboden der Höhle geben.

Und mit dem Verschwinden der Fackel erlosch auch die feenhafte Beleuchtung. Nur noch der Schein der Laterne und der von Harsts Taschenlampe erhellte engbegrenzte Teile[5] dieser unheimlichen Wundergrotte. Als letztes hatte ich noch gesehen, daß Parmang oben auf der Eiskanzel zusammengesunken war.

Die Lähmung wich von mir. Blindlings tappte ich vorwärts, erreichte den ungeheuren Eiszapfen, wollte mich neben Harst stellen.

„Vorsicht!“ rief er leise und streckte den Arm schützend aus.

Ich beugte mich vor schaute über den Rand des Eisschlundes hinweg. Dort, vielleicht in fünf Meter Tiefe, glostete es jetzt heller und heller in rötlichem Lichte auf: dort lag die Fackel auf nacktem Gestein, brannte wieder mit hochzuckenden Flammenzungen; dort floß ein Wasserrinnsal entlang; dort – lagen am Rande des Bächleins Leichen – neben-, übereinander, mindestens ein Dutzend, alles Nepalesen, alle mit Schaffellmützen auf dem Kopf, alle in Schafpelzen steckend. Greulich entstellte, vertrocknete Totengesichter stierten zu uns empor. Und all diese Leichen waren angeseilt, hatten Stricke um die Brust.

Ein Schwindel befiel mich plötzlich. Harsts Faust riß mich zurück. Und seine Stimme gellte mir warnend in die Ohren:

„Irgend ein Gas entsteigt dort unten den Rissen des Bodens, – ein Gas, dem die zum Opfer fielen, deren Habgier nach den Diamanten lechzte –“

Er nahm mich und führte mich ein Stück von dem Schlunde weg. Schwerfällig setzte ich mich auf einen Eisblock. Das Blut sauste mir in den Ohren; alles drehte sich um mich. Ich kämpfte gegen immer neue Ohnmachtsanwandlungen an. Ich hatte das Gas eingeatmet. Und ohne Harst wäre ich wohl dort hinabgestürzt zu den stummen Zeugen des furchtbaren Geheimnisses dieser Höhle.

Harald war von meiner Seite verschwunden. Der Lichtschein seiner Lampe irrte umher, kletterte dort nun höher und höher: er erstieg die Eiskanzel!

Dann brachte er Parmang angeschleppt, legte ihn mir zu Füßen auf den glitzernden Boden.

„Er atmet noch,“ sagte er. „Aber die Kugel hat die Brust von der Seite durchschlagen –“

Ich war wieder Herr meiner Sinne und meines Körpers.

„Wo sind Mautley und Bickpool?“ fragte ich.

„Geflohen. Mautley hat auf Parmang geschossen. Er hatte den Revolver noch in der Hand. Bickpool wird erkannt haben, daß es sich hier um giftige Gase handelt und daß man ohne besondere Vorbereitungen nicht zu den Edelsteinen hinabgelangt. Diese Erkenntnis und das Entsetzen über die zahlreichen Toten trieb sie davon –“

Parmang regte sich, schlug die Augen auf. Sein bereits halb verschleierter Blick blieb auf Haralds Antlitz haften, der sich tief über ihn gebeugt hatte.

„Robin Parmang,“ sagte Harst eindringlich. „Sehr bald werden Sie –“

Parmang hob wie abwehrend die Hand. Keuchend stieß er hervor:

„Ich weiß – ich muß – sterben. Ich – ahnte es voraus, als Sie hinter mir her waren. Sie haben – das Wild – noch stets zur Strecke gebracht – stets –“ Zwei dünne Blutfäden rannen aus den Mundwinkeln das Kinn hinab.

„Parmang, Sie zwangen Ihre beiden Diener, dort in die Schlucht hinabzusteigen, nicht wahr? Und beide fanden dabei den Tod, nachdem sie Ihnen eine Anzahl Diamanten hinaufgeschafft hatten. – Sie nicken. Also ist es so. Und Ihre Diener, Vater und Sohn, kannten das Geheimnis dieser Eishöhle seit langem –“

„Seit – Jahrhunderten – in der Familie – vererbt –“, quälte der Sterbende hervor.

„Was wollten Sie jetzt hier, Parmang?“

„Auf Sie beide – warten – und Sie – ebenso benutzen wie die Tschumdschus. – Ich – bereue jetzt – ehrlich. Ich habe auch die beiden Chinesen – erschossen, die der Teehauswirt – mir nachschickte. Verzeihen Sie mir, Harst. Ich war bis dahin – ein ehrlicher Mensch. Die Edelsteine – haben mich verblendet. Sie liegen in dem Bächlein dort unten. Millionen und Übermillionen an Wert. Sie, Harst sollen der Erbe – dieses Geheimnisses sein. Stiften Sie – Gutes mit diesen Schätzen. Ich – bereue. Ich ließ mich – verblenden und –“

Sein Leib bäumte sich plötzlich hoch. Ein Blutstrom entquoll seinem Munde. Robin Parmang war tot. –

Harst wollte jetzt zunächst feststellen, ob Bickpool und Mautley etwa auch unsere Pferde mitgenommen hätten. Er eilte davon. In einer Viertelstunde war er wieder zurück. – „Merkwürdig,“ meinte er, „sie haben unsere Pferde wirklich dagelassen. Das Entsetzen muß den Schurken doch so in die Knochen gefahren sein, daß sie nur daran gedacht haben, schleunigst von hier fortzukommen. – Wir werden Parmang jetzt an einem der Seile in die Eisschlucht hinablassen. Mag er dort vorläufig zusammen mit den anderen Opfern ruhen, bis wir Zeit und Gelegenheit haben, Parmangs Vermächtnis zu verwirklichen.“

Bei Tagesanbruch machten wir uns auf den Rückweg nach Katmandu. Wir erreichten es ohne Zwischenfall, setzten dann auch im Auto die Reise bis Betija fort und wollten hier als Gäste bei unserem dicken Doorball wohnen bleiben, bis aus Patna die beiden Sauerstoffhelme einträfen, die Harst bestellt hatte und die es uns ermöglichen sollten, die Schätze der Eishöhle zu heben. Von Bickpool und Mautley hatten wir in dieser Zeit weder etwas gesehen noch gehört. Da – am neunten Morgen unserer Anwesenheit in Betija fand Harst in unserem Wohnzimmer auf dem Tische zwanzig ungeschliffene Diamanten, dazu noch einen Zettel folgenden Inhalts:

„Master Harst! Ihre Sauerstoffhelme kommen zu spät. Wir haben die Eisschlucht bereits völlig ausgeräumt. Sie übersahen, daß es Sauerstoffhelme in jedem Bergwerksbetriebe gibt, also auch in der Songarbiri-Mine, wo wir das Nötige stahlen. Wir gestatten uns, Ihnen zum Andenken zwanzig Steine zu übermitteln. Den Wert der übrigen schätzen wir auf rund 50 Millionen. Es sind Exemplare von fast Hühnereigröße darunter. – Leben Sie wohl. Wir sehen uns nicht wieder! – Bickpool, Mautley.“

Harald reichte mir den Zettel, sagte gelassen:

„Also nun eine Jagd um 50 Millionen! – Wir sehen uns doch wieder! Ihr kennt mich schlecht, Bickpool und Mautley! Ich finde Euch!“ –

 

 

Fünf Stecknadeln.

 

1. Kapitel.

Der seltsame Brief.

Wir wohnten als Gäste bei dem dicken Polizeichef des indischen Städtchens Betija. Mr. Doorball tat alles, es uns recht behaglich zu machen. Wir hatten ja auch sehr anstrengende und aufregende Tage hinter uns. Der Leser wird sich besinnen, daß wir von den beiden Gaunern Mautley und Bickpool überlistet worden waren. Sie hatten sich mit den aus der Eishöhle in Nepal herausgeholten Diamanten im Werte von etwa 50 Millionen aus dem Staube gemacht und uns mit bekannter Frechheit im Wohnzimmer bei Doorball einen Zettel und 20 der ungeschliffenen Edelsteine zurückgelassen. Der Zettel enthielt den ironischen Abschiedsgruß „Auf Nimmerwiedersehen“.

Unser Freund Doorball war über diese Unverschämtheit der beiden Hochstapler so empört, daß er zunächst kein Wort hervorbringen konnte.

Harst hatte mit mir diese neue Wendung der Dinge bereits durchgesprochen, klopfte Doorball nun beruhigend auf die Schulter und meinte: „Sie geht die Sache ja schließlich gar nichts an, Verehrtester. Die Diamanten sind ein Vermächtnis, als dessen Verwalter ich mich betrachte. Mir liegt es ob, sie den Gaunern wieder abzujagen und den letzten Willen des Mannes zu verwirklichen, der sich als Eigentümer der Edelsteine ansehen durfte. Ich werde bei dieser Jagd auf die 50 Millionen jedoch ohne die Hilfe der Polizei nicht auskommen. Bitte lassen Sie also sofort eine Runddepesche an alle Polizeidirektionen der größeren indischen Städte aufgeben etwa folgenden Inhalts:

„Zu fahnden ist auf zwei Verbrecher, die von Betija aus mit ungeschliffenen Edelsteinen im Werte von 50 Millionen ihre Flucht nach Süden, nach Patna, fortgesetzt haben dürften. Es handelt sich um zwei frühere Artisten Mautley und Bickpool. Ersterer groß, schlank, blond, ohne besondere Kennzeichen; letzterer unter Mittelgröße, zart, weiche, frauenhafte Züge, sehr spärliches, blondes Haar. Beide vorzügliche Verkleidungskünstler. Bickpool tritt gern in Frauenkleidern auf. Die Verbrecher werden wahrscheinlich nur in größeren Hotels absteigen, wo sie unter der Menge der Gäste mehr verschwinden, und vielleicht einen kleinen, festen Koffer, der die Diamanten enthält, im Hoteltresor aufbewahren lassen. Man achte besonders auf diesen Umstand. Der deutsche Liebhaberdetektiv Harald Harst und sein Freund Schraut haben die Verfolgung aufgenommen. Man unterstütze Mr. Harst in jeder Weise. Für sachdienliche Mitteilungen, die an Polizeiamt Betija, Nord-Bengalen, zu richten sind, setzt Mr. Harst eine Belohnung bis zu 1000 Pfund aus.““

Wir saßen auf der nach dem Garten hinausgehenden Veranda, als diese Unterhaltung stattfand. Wir hatten soeben gefrühstückt, und nur einer Stunde hatte Harst die 20 Diamanten und den Zettel auf dem Tische unseres gemeinsamen Wohnsalons entdeckt. Es war also in der verflossenen Nacht einer der beiden Gauner in das Haus und die Wohnung eingedrungen, um Zettel und Edelsteine dort als ironischen Abschiedsgruß deponieren zu können. Harst hatte auch schon festgestellt, daß der Mann mit Hilfe einer Leiter durch das offene Fenster des Wohnsalons eingestiegen war. Im übrigen hatte Harald sich aber für diese nächtlichen Besucher nicht weiter interessiert, hatte zu mir gesagt: „Die Kerle sind ja doch längst über alle Berge, mein Alter. Nur keine zwecklose Arbeit.“

Harsts Gleichgültigkeit setzte mich wirklich in Erstaunen. Gewiß, er hatte erklärt: „Mautley und Bickpool irren sich. Wir werden uns wiedersehen!“ Und das hieß eben: „Ich jage ihnen den Raub wieder ab!“ – Doch – sehr eilig schien er es damit nicht zu haben. Auch jetzt rauchte er mit einem Behagen seine Zigarette, wie ein ganz gewöhnlicher Globetrotter, der nichts zu versäumen hat. Sein schmales, bartloses Gesicht hatte die Sonne Indiens tief gebräunt. Die weiße Stirn hob sich scharf gegen die braune Unterpartie ab.

Doorball war ins Haus geeilt, um die Depesche sofort zu besorgen. Ich konnte nicht anders: ich mußte Harald das vorhalten, was ich mir da soeben überlegt hatte.

Er nickte mir zu. „Hast ganz recht, mein Alter. Es macht den Eindruck, daß ich etwas nachlässig bin. Doch ich wiederhole: zwecklos bemühe ich mich nicht gern. Ich glaube nämlich zu wissen, wo wir unsere „Freunde“ finden werden.“

„So? Da bin ich wirklich gespannt –“

„Haben geschliffene oder ungeschliffene Brillanten mehr Wert?“ fragte er.

„Natürlich geschliffene.“

„Gut. Wenn Du nun zum Beispiel Edelsteine besäßest, die Du ungeschliffen auf 50 Millionen schätzt, würdest Du sie nicht schleifen lassen, bevor Du sie verkaufst? Wohlverstanden, wenn Du ein Verbrecher von der Art dieses Mautley und Bickpool wärest, die doch –“

Er schwieg plötzlich. Und dieser Satz sollte so bald auch nicht vollendet werden.

„Frau Marry Conning,“ flüsterte er dann und schaute scharf in die dichten, tropischen Büsche des Gartens hinein, über die sich ein paar mächtige Zedern geradezu majestätisch in die Luft reckten.

Ich folgte der Richtung seiner Blicke. Wirklich – dort halb verborgen im Grünen stand die Gattin des Polizeiinspektors, der einzigen weißen Untergebenen, den unser dicker Doorball hier hatte. Die anderen Beamten waren sämtlich Inder, wie ja überhaupt in Indien der ganze Beamtenapparat zu gut dreiviertel aus Eingeborenen besteht.

Marry Conning winkte Harst zu. Sie schien ihn sprechen zu wollen.

„Schnell,“ meinte er, „verschwinden wir, bevor Doorball zurückkehrt. Er wird denken, wir sind spazieren gegangen.“

Die junge Frau hatte sich bereits tiefer in den Garten zurückgezogen, der mit seiner rückwärtigen Mauer an den Stadtpark stieß. Es gab dort eine Pforte, die stets verschlossen gehalten wurde. Harst hatte sich jedoch einen Schlüssel geben lassen.

Erst an der Pforte trafen wir mit Marry Conning zusammen. Wir waren jetzt ja bereits neun Tage bei Doorball zu Gaste, und da hatten wir natürlich auch die Gattin des Inspektors kennengelernt und ebenso von Doorball ihre und ihres Mannes Lebensgeschichte erfahren. Sir Edward Conning war bis vor drei Jahren Hauptmann in der indischen Kolonialarmee und sehr reich gewesen. Vor sechs Jahren hatte er Marry Braacer, die Tochter seines Obersten, geheiratet. Und dieses bildhübsche, temperamentvolle, verwöhnte Frauchen war sein Unglück geworden. Sie brachte es fertig, nicht nur Hauptmann Connings Vermögen wie Butter in der Tropensonne hinschwinden zu lassen, sondern erregte auch durch ihr Auftreten in Connings neuer Garnison so viel Ärgernis, daß er den Abschied nehmen mußte. So wurde er, nachdem Frau Marry auch den Rest des Vermögens noch in goldenen Leichtsinn vergeudet hatte, Polizeiinspektor in Betija, was etwa dasselbe bedeutet, als wenn ein Beamter plötzlich in ein ostpreußisches Grenznest verbannt wird.

Ich muß mich notwendig hier eingehender mit dieser damals 26 Jahre alten Frau Marry beschäftigen. Sie spielt hier eine ganz besondere Rolle. Das, was später geschah und was Harst selbst stets als „das Stecknadelproblem“ bezeichnete, hängt mit Marry Conning eben eng zusammen. Sie war tatsächlich ein allerliebstes Geschöpf. Ihr Mann trug es ihr nicht im geringsten nach, daß sie tausende und abertausende für ihre Garderobe, für Reitpferde, Autos und so weiter verschwendet hatte. Er liebte sie noch genau so wie einst. Und sie?! – Nun – sie war jetzt hier in Betija zur Vernunft gekommen. Sie bereute, und das, was sie ihrem Gatten angetan durch ihre überschäumende Lebenslust und den fast krankhaften Hang nach Luxus, machte sie jetzt durch doppelte Zärtlichkeit und durch eine oft lächerlich wirkende, aber ernstgemeinte Sparsamkeit wieder gut.

Doorball verehrte die blonde, schlanke Frau sehr und war nur ihrem Gatten nicht recht gewogen, weil dieser alles stets besser wissen wollte als sein Herr Chef. Dazu gehörte nun nicht gerade viel, denn der Dicke war eine Seele von Mensch, nur kein Genie. Bei der Verteilung der Geistesgaben hatte er sich zu bescheiden im Hintergrunde gehalten. –

Wir begrüßten jetzt Frau Conning. Sie war recht erregt und begann sofort:

„Mr. Harst, ich bin meines Mannes wegen hierher geeilt. Ich hoffte, Sie sprechen zu können, ohne daß Mr. Doorball etwas davon merkt. Edward ist nämlich verschwunden. – Nein, nicht verschwunden,“ verbesserte sie sich schnell. „Er hat mir nur einen so merkwürdigen Brief hinterlassen und – Aber das kann ich Ihnen hier nicht alles erzählen. Bitte, bitte kommen Sie doch mit nach unserem Hause. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Doorball wird sehr ungehalten sein, daß Edward sich nicht zum Dienst einfindet. Ich begreife all das ja gar nicht. Ja – ich ängstige mich sogar. Edward fühlte sich hier so unglücklich.“ Sie schluchzte leise auf. „Ich – ich bin ja daran schuld, daß er nicht mehr Offizier ist und sich nun hier mit Doorball herumärgern muß, der ja sonst sehr nett, aber als Vorgesetzter sehr unbequem ist.“

„Gut, Mistreß, – gehen wir also zu Ihnen,“ sagte Harst freundlich. „Wir, Schraut und ich, haben gerade nichts vor. Und – beruhigen Sie sich nur. Die Sache wird wohl so schlimm nicht sein.“

Marry Conning hatte gleichfalls einen Schlüssel zu der Pforte der Gartenmauer. Denn das Haus, in dessen ersten Stock Doorballs Wohnung lag, war ja das Polizeiamt von Betija, und Conning kürzte sich den Weg von seinem Heim hierher ab, wenn er durch den Garten ging.

Wir schritten dann zu dreien durch den Ostteil des Stadtparks. Das bescheidene Häuschen der Connings erreichten wir in vier Minuten. Es lag in einem kleinen, von einer Dornenhecke umgebenen Garten.

Inzwischen hatte uns die blonde Frau Marry noch folgendes berichtet.

Sie war gestern abend gegen elf Uhr zu Bett gegangen. Ihr Mann blieb noch in seinem Arbeitszimmer und schrieb an einem Dienstbericht. Mitten in der Nacht, gegen 1 Uhr etwa, war sie dann wach geworden, da ihr Gatte ihre Hand berührt hatte. Es war ganz dunkel im Schlafzimmer gewesen. Er hatte ihr leise zugeflüstert, daß er soeben eine wichtige Meldung erhalten hätte; er müsse noch ausgehen; sie solle sich also nicht weiter wundern, wenn er erst später schlafen käme. Er hatte ihr dann einen Kuß auf die Stirn gedrückt und war ebenso leise hinausgeschlichen. – Sie schlief wieder ein und erwachte erst gegen 7 Uhr morgens. Da ihr Mann auch jetzt noch nicht zurück war, wurde sie doch unruhig und kleidete sich schnell an. Sie fand dann auf dem Schreibtische Connings einen an sie adressierten, versiegelten Brief. –

Diesen Brief bekamen wir nun zu sehen. Die Anschrift war ebenso flüchtig mit Bleistift auf den Umschlag hingeworfen wie die Zeilen auf dem Briefbogen. Sie lauteten:

„Mein Liebling! Ich werde vielleicht mehrere Tage wegbleiben müssen. Gehe zu Doorball und sage ihm, ich hätte ihn nicht mehr um Urlaub bitten können. Eine peinliche Familienangelegenheit hätte mich nach Dehli gerufen. – Zeige niemandem diesen Brief, wer es auch sei, und erfinde irgend welche Einzelheiten, die mein plötzliches Verschwinden ganz unauffällig machen. Sei vorsichtig! Für uns hängt von den nächsten Tagen ungeheuer viel ab. Verbrenne Brief und Umschlag. Du bist ja mein kluges, liebes Frauchen und wirst bald merken, was das Spektrum bedeutet. – Stets in alter Liebe – Dein E.“

Harst blickte von dem Briefbogen auf und schaute Frau Marry an.

„Sie sollten doch niemandem den Brief zeigen,“ meinte er. „Und nun haben Sie –“

„Oh,“ sagte sie hastig, „ich weiß doch, wem ich mich anvertraue, Master Harst.“

„Gewiß. Auf unsere Verschwiegenheit können Sie unbedingt rechnen. – Hm – hier in dem Briefbogen befinden sich unter der letzten Zeile zehn Löcher und zwar in zwei Reihen untereinander. Man sieht es den Löchern an, daß sie dadurch entstanden sind, daß hier fünf Stecknadeln durch das Papier gestochen wurden. Man sagt wohl besser, in dem Papier festgestochen wurden. Die Spitzen der fünf Nadeln zeigten nach unten. Sie müssen ziemlich große Köpfe gehabt haben. Als Ihr Gatte den Brief zuklebte und mit dem Handballen die Briefklappe festdrückte, preßten sich die Köpfe der Stecknadeln in das Papier etwas ein. Da sind die zehn Vertiefungen – ja, zehn sind es, denn der Briefbogen wurde einmal gefaltet, und so kamen auch fünf Eindrücke in die Schrift hinein. – Bitte, Schraut, sieh Dir das nur an. Es ist ganz interessant –“

Marry Conning platzte jetzt in naivem[6] Staunen mit der Bemerkung heraus:

„Nein – was Sie auch gleich alles herausfinden, Master Harst! – Sie haben nämlich ganz recht. Es steckten fünf Nadeln mit Glasköpfen in dem Papier. Ich habe sie herausgezogen. Dort liegen sie noch.“

Wirklich – dort neben dem Schreibzeug lagen die fünf Stecknadeln. Es waren ganz gewöhnliche Stahlnadeln von 3½ Zentimeter Länge mit bunten Glasköpfen.

Harst saß jetzt in dem Schreibsessel vor Connings Diplomatenschreibtisch. Ich stand hinter ihm; Frau Marry links neben Harst.

Dieser hatte die Nadeln aufgehoben und sah sie sich so genau an, als ob es überaus wichtige Gegenstände wären. Dann gewahrte ich, daß er in Wahrheit gar nicht auf die Nadeln schaute, sondern an ihnen darüber auf die lederbezogene Schreibtischplatte und daß seine Lider dabei fast ganz geschlossen waren. – Ich wußte Bescheid: er sah jetzt überhaupt nichts, weder die Nadeln noch sonst etwas. Er war mit seinen Gedanken anderswo, ließ seinen scharfen Geist auf Bahnen wandeln, die sich nur ihm erschlossen.

Er saß völlig regungslos da wie ein Schlafender. Ich fühlte Frau Marrys erstaunten Blick, winkte ihr zu, Harst nicht zu stören. So verharrten denn auch wir wohl fünf Minuten lang in derselben Stellung.

Dann legte Harst die Nadeln plötzlich hin, nahm mir den Brief, den er mir vorhin gereicht hatte, aus der Hand und sagte:

„Bitte überlassen Sie mir den Brief und die Nadeln, Mistreß Conning.“

„Gern. Sie werden ihn ja niemandem zeigen. Nur eine Frage noch, Mr. Harst: Was soll eigentlich der Hinweis auf das Spektrum in den letzten Zeilen des Briefes? Ich verstehe das nicht. Ich weiß zwar, daß man mit Spektrum das vielfarbige Bild eines durch ein Glasprisma zerlegten Lichtstrahls bezeichnet, aber – was soll das hier?! Und dazu noch der Satz: „– und wirst bald merken, was das Spektrum bedeutet.“ – Ich habe darüber schon den ganzen Morgen nachgegrübelt, und – ich will ehrlich sein – ich kam eigentlich hauptsächlich dieser rätselhaften Sätze wegen zu Ihnen. Es ist da irgend etwas in diesem Brief, das mich wirklich ängstigt. Edward ist sonst ein so nüchterner, offener Charakter, so gar nicht für Geheimniskrämerei. Und jetzt! Ach, Mr. Harst, sagen Sie mir doch, was das Spektrum und die Stecknadeln sollen?“

„Das kann ich leider nicht. – Würden Sie mir jetzt noch ein paar Fragen gestatten, Mistreß Conning? – Haben Sie schon durch Besichtigung der Kleidungsstücke Ihres Gatten festgestellt, was er für diese Reise mitgenommen hat? Denn verreist dürfte er doch fraglos sein. – Was für einen Anzug trug er gestern abend?“

Marry Conning machte jetzt wieder ein ganz weinerliches Gesicht. „Ach, Mr. Harst, – er hatte gestern einen weißen Leinenanzug an. Und, denken Sie sich, den fand ich heute früh dort im Bücherschrank ganz zufällig. Auch Edwards Unterwäsche lag dabei. Er – er muß in einer Verkleidung von hier weggegangen sein. Ich weiß ja, daß er schon häufiger sich als Inder maskiert hat, wenn er den Mitgliedern des indischen Nationalisten-Bundes nachspürte, die auch hier vertreten sind. Sie haben ja fraglos schon davon gehört, daß dieser Geheimbund von Eingeborenen den Wahlspruch hat: Indien den Indern! Es sind gefährliche Umstürzler, diese Leute, und man paßt sehr scharf auf sie auf. Wenn Edward jedoch gegen diesen Bund etwas unternehmen wollte, würde er es mir gesagt haben. Nein – hierum handelt es sich bei dieser Reise niemals!“

„Danke, Mistreß Conning,“ nickte Harst. „Das genügt mir. Ich hatte bereits vermutet, daß Ihr Gatte sich verkleidet hätte. Sehen Sie – hier auf dem Lederbezug des Schreibtisches sind ein paar matte Stellen wie von verwischten Tropfen –“

Er feuchtete den Zeigefinger an und fuhr über eine der Stellen hin. Die Spitze des Fingers war braun geworden. „Irgend ein Hautfärbemittel,“ meinte Harst. „Mistreß Conning, wo bewahrte Ihr Gatte die Sachen auf, die er zum Maskieren brauchte?“

Sie deutete auf einen großen, in die Wand halb eingebauten Schrank. „Dort, Mr. Harst.“

Harald schritt auf den Schrank zu, öffnete ihn. Er war voller Kleider, die teilweise auf Bügeln hingen. – Harst bückte sich und wühlte am Boden des Schrankes umher, richtete sich wieder auf, drückte die Tür zu und sagte: „So – nun wollen wir nicht mehr stören, Mistreß Conning. Sie brauchen Ihres Gatten wegen nicht in Sorge zu sein. Ich werde ihm vielleicht bald irgendwo begegnen. – Noch eine Bitte: falls Sie von Ihrem Gatten bis morgen früh 8 Uhr noch einen Brief erhalten sollten, so senden Sie sofort einen Ihrer Diener zu Mr. Doorball und geben ihm den Brief in einem versiegelten, an mich adressierten Umschlage mit. Tun Sie es auf jeden Fall, Mistreß, – und auch nachts, falls es sich etwa um einen Eilbrief handelt. Und rühren Sie die Stecknadeln, die vielleicht wieder in dem Papier stecken, nicht an. Morgen vormittag 9 Uhr reise ich ab. Aber – wir werden uns später sehr wahrscheinlich wiedersehen. – Guten Morgen. Doorball werde ich mitteilen, wir hätten Ihnen einen Abschiedsbesuch machen wollen, und da hätten Sie uns von der Reise Ihres Gatten nach Dehli erzählt, die er auf ein Telegramm hin antreten mußte.“

Wir verließen die blonde, reizende Frau, die nun wirklich völlig beruhigt war und uns noch heiter lächelnd mit der Hand nachwinkte.

 

2. Kapitel.

Das Sonnenspektrum.

Wir bogen in den Stadtpark ein. Harald schob seinen Arm in den meinen.

„Die arme Frau,“ sagte er leise.

Ich schrak förmlich zusammen. „Arme – Frau?! – Was soll das, Harald?“

„Mein Alter, es wird sehr schwer sein, diese Sache noch leidlich einzurenken, fürchte ich, – sehr schwer! Du hast die Geschichte mit den Stecknadeln doch durchschaut? – Natürlich hast Du es. Sie ist ja so lächerlich einfach. Nur – Marry Connings harmloses Gemüt begriff das nicht, obwohl ihr doch schon der andere Satz in dem Briefe: „Für uns hängt von den nächsten Tagen ungeheuer viel ab –“ die Augen hätte öffnen müssen, ebenso ihres Gatten Mahnung zur Vorsicht und der strikte Befehl, Brief und Umschlag zu verbrennen.“

Ich kam mir jetzt etwa so wie ein Schuljunge vor, der eine einfache Rechenaufgabe nicht begreift. Ich schämte mich, Harst einzugestehen, daß ich ein genau so harmloses Gemüt sei wie Marry Conning. Ich hatte ja keinen Schimmer, was es mit den fünf Stecknadeln auf sich hatte.

Ich schwieg zunächst. Später konnte ich ja noch immer zugeben, daß ich – die Geschichte nicht durchschaut hätte.

Inzwischen sprach Harald weiter. „Ich rechne ganz bestimmt auf einen zweiten Brief. Es ist nur die Frage, ob Conning sofort von Patna aus an seine Frau schreiben wird. Ohne Zweifel ist er mit dem Frühzuge abgereist – um 5 Uhr. Wenn man in Erwägung zieht, daß Mautley und Bickpool in der verflossenen Nacht hier in Betija gewesen sein müssen, da ja einer von ihnen den Zettel und die 20 Edelsteine uns ins Haus gebracht hat, so kann man bei weiterer Berücksichtigung all dessen, was wir jetzt wissen, nur zu dem einen Schluß gelangen.“

Genau so gut hätte Harald mir einen Vortrag über sphärische Trigonometrie halten können. Beides war mir eben gleich unverständlich.

Er schwieg nun. Und ich tat dasselbe. Ich konnte mich ja nur zu leicht durch eine ungeschickte Bemerkung in meiner ganzen Ahnungslosigkeit verraten.

Plötzlich blieb er stehen und schaute zu den Baumwipfeln nach oben, durch deren dichtes Blätterdach einige Sonnenstrahlen hindurchschossen, wie gleißende Streifen.

„Das Spektrum der Sonne hat fünf Hauptfarben in folgender Reihenfolge: Rot, Gelb, Grün, Blau, Lila. – Und die Stecknadelköpfe aus Glas haben dieselben Farben. Merkwürdig, daß dies Frau Conning nicht aufgefallen ist, nicht wahr?“

„Allerdings – sehr merkwürdig!“ Ich fühlte mich als Heuchler gar nicht wohl.

„Wenn diese Idee mit den Stecknadeln von Edward Conning stammt, dann ist er kein Dummkopf. Als er den Brief für seine Frau schrieb, den er nachher auf den Schreibtisch legen wollte, rechnete er mit der Neugier eines seiner eingeborenen Diener, der den Brief vielleicht öffnen könnte. Na – ein Inder, der kaum lesen kann, wäre wohl kaum darauf gekommen, daß das Spektrum und die fünf Stecknadelköpfe auf den Namen der Stadt hinwiesen, in der Conning jetzt weilt. Der Zug, der von hier um 5 Uhr früh abgeht, ist ja um 11 vormittags in Patna. Also befindet sich Conning schon dort.“

Wir gingen weiter. So allmählich lichtete sich nun in meinem Hirn die Finsternis. Ich glaubte jetzt auf der richtigen Fährte zu sein, sagte daher:

„Wenn Conning die Gauner nur wirklich erwischen möchte! Er würde uns dann ein höllisch Stück Arbeit abnehmen.“

Da zog Harst seinen Arm aus dem meinen, schaute mich an und – begann zu lachen, legte mir die Hände auf die Schultern und meinte:

„Du Schwindler, Du! Keine Ahnung hast Du! Ich roch den Braten längst! Wollte Dich nur zu einer ähnlichen Äußerung verführen. – Also so reimst Du Dir alles zusammen – so! Da bist Du aber gründlich auf dem Holzwege! Gründlich! – Sei mal ehrlich: Du weißt auch jetzt noch nicht, wie die Geschichte mit den Stecknadeln und dem Spektrum zusammenhängt.“

„Leider nein.“

Er zog den Brief aus der Tasche. „Du siehst, daß der Satz: „Eine peinliche Familienangelegenheit hätte mich nach Dehli gerufen“ hier in dem Schreiben als einziger so eng zusammengeklemmt ist, daß er nur eine Zeile einnimmt. Dies fällt sofort auf. Die einzelnen Worte sind kleiner geschrieben und die Buchstaben stehen dicht zusammen. Gerade unter dieser Zeile befinden sich die fünf zweiten Eindrücke der Stecknadelköpfe, was als solches ganz harmlos erscheint, genau so harmlos, wie ich es Marry Conning erklärt habe. Die Eindrücke sind aber nicht harmlos. Edward Conning hat die Stecknadeln nämlich absichtlich so in das Papier eingebohrt, daß die Glasköpfchen beim Zusammenfalten des Bogens gerade unter fünf Buchstaben dieser einen Zeile wie Punkte zu stehen kamen, und zwar unter die Buchstaben:

peinliche Familienangelegenheit hätte mich nach Dehli gerufen

also patna – Patna! – Dies sollte seiner Frau verraten, daß er nach Patna gereist sei.“

„Hm – und das Spektrum?“ fragte ich etwas unbefriedigt.

„Das hat für uns erst Interesse, wenn ein zweiter Brief einläuft, den Marry Conning mir dann ja zusenden will. Es mag sein, daß ich mich in dieser Hinsicht irre und daß meine Theorie sich als falsch erweist. Jedenfalls: vollständig falsch kann sie nicht sein!“

„Und diese Theorie wäre?“

„Daß Mautley und Bickpool den Inspektor Edward Conning, der völlig verarmt ist, bestochen haben, ihnen bei ihrer Flucht behilflich zu sein.“

Ich blieb wie angewurzelt stehen. „Unmöglich!“ rief ich. „Conning wird sich auf derlei Geschichten nicht einlassen! Er hat auf mich einen vorzüglichen Eindruck gemacht!“

„Bis auf seine tolle Verliebtheit in seine Frau! Ganz recht sonst! – Er möchte sie eben wieder mit Glanz und Luxus umgeben. Er fürchtet, sie könnte hier mit der Zeit unzufrieden werden. Und – schon mancher Ehrenmann ist aus Angst, die Geliebte zu verlieren, zum Verbrecher geworden.“

Ich war wirklich wie vor den Kopf geschlagen.

„Überlege Dir mal folgendes,“ fuhr Harst fort. „Mautley und Bickpool werden seit Wochen steckbrieflich verfolgt. Sie haben so allerlei auf dem Kerbholz. Auf ihre Ergreifung ist eine Belohnung von 500 Pfund ausgesetzt. Sie waren schon einmal in Betija – vor etwa vierzehn Tagen. Das weiß auch die Polizei in Patna. Sie wird daher sehr scharf den Bahnhof und die Hotels dort überwachen. Damit rechneten die beiden Gauner, die sich mit ihrer 50-Millionenbeute noch mehr bemühten, unerkannt und recht sicher zu entwischen. Sie werden über Connings Vergangenheit unterrichtet gewesen sein. Da dachten sie dann eben: vielleicht läßt sich dieser verarmte frühere Offizier bestechen! – Sie treten irgendwie mit ihm in Verbindung. Er läßt sich betören, stellt ihnen vielleicht Ausweispapiere aus und stempelt sie auch ab. Er ist ja Polizeiinspektor. Die Gauner verlangen, daß er sie mit der Bahn bis Patna begleitet. Dort wollen sie ihm die Belohnung in Diamanten auszahlen. – Sie fühlen sich nun so vollständig als Herren der Situation, nachdem Conning ihnen seine Hilfe zugesagt hat, daß sie mir den Zettel und die 20 Diamanten als höhnischen Abschiedsgruß ins Haus bringen. Dann fahren sie mit dem Morgenzuge mit Conning ab. Sie wissen: ihnen kann vorläufig nichts passieren. Der Inspektor ist ja bei ihnen; seine amtliche Stellung deckt ihnen den Rücken; er kann sie stets für seine Untergebenen oder sonstwen ausgeben, er hat ja seine Legitimation, die ihm Tor und Tür öffnet, auch wenn er als Inder verkleidet ist. Na – und Mautley und Bickpool werden auch Papiere haben – gefälschte, wie ich schon andeutete, durch ihn! – So, mein Alter, das wäre so meine Theorie! Und Du wirst jetzt ohne weiteres einräumen, daß in diese Theorie der Brief Edward Connings sehr gut hineinpaßt, ganz besonders die Wendung von der ungeheuren Wichtigkeit der nächsten Tage und die Tatsache, daß die beiden Gauner sich so riesig sicher fühlten, daß sie uns den ironischen Abschiedsgruß daließen. – Ich vermute über den weiteren Verlauf der Dinge, um auch das gleich zu erledigen, folgendes: Conning wird hierher nicht zurückkehren, weil – wir uns hier aufhalten, also aus Angst vor uns, die sein Spiel durchschauen könnten; er weiß ganz bestimmt nichts von diesem Abschiedsgruß Mautleys und Bickpools für uns, hinter dem nichts als die alte Renommiersucht aller Verbrecher steckt; er hätte dies sonst nie gestattet; er denkt mithin, wir bleiben vorläufig noch hier und ahnen nicht, daß die beiden Halunken die Edelsteine schon aus der Eishöhle herausgeholt haben; er wird seiner Frau schreiben, ihm in aller Stille zu folgen, und er selbst wird – vielleicht – später von irgendwo sein Abschiedsgesuch einreichen, denn er braucht dann, wie er hofft, nicht mehr Polizeiinspektor zu spielen, wenn Mautley und Bickpool ihn bezahlt haben! – Wenn –! Und bei diesem „Wenn“ beginnt das – Lebensgefährliche dieser moralischen Entgleisung für Conning. Es ist nämlich meines Erachtens wahrscheinlicher, daß diese beiden Schurken, denen doch Menschenleben ein Nichts gelten, ihn beseitigen, wenn sie ihn nicht mehr brauchen, als daß sie ihm vielleicht für eine Million Diamanten aushändigen. Conning hat sich da auf einen Handel eingelassen, der ihm das Leben kosten kann.“ –

„Herr Gott!“ entfuhr es mir. „Du magst recht haben mit alledem. So wie Du die Dinge entwickelst, sehen sie unangenehm einleuchtend aus.“

Wir hatten die hintere Gartenpforte des Doorballschen Hauses erreicht. Harst schloß auf und hinter uns wieder ab.

„In Connings Arbeitszimmer befand sich ein ganz untrüglicher Beweis dafür, daß zum mindesten Mautley bei Conning in der verflossenen Nacht sich einige Zeit aufgehalten hat,“ sagte Harst jetzt, als wir auf das Haus zuschritten. „Mautley „priemt“ leidenschaftlich und zwar stets englischen Twist (ein milder, in Stanniol[7] eingewickelten Kautabak). Auf der Aschenschale des Schreibtisches lag Stanniolpapier, zu einer Kugel zusammengedrückt. Du wirst wohl gesehen haben, daß ich es wie spielend auseinanderfaltete. Sowohl der Geruch als auch die an dem Stanniol haften gebliebenen winzigen, braunen Tabakreste verrieten mir die Twist-Umhüllung. Da Conning bestimmt nicht priemt – denn das würde er, der zärtliche Gatte, schon aus Rücksicht auf seine Frau nicht tun –, liegt es den ganzen Umständen nach nahe, daß Mautley nachts dort weilte. Das Stanniol lag ja auf einer Anzahl Zigarettenstummel und Asche. Also war der Aschbecher seit dem vorigen Morgen nicht entleert, und das Stanniol war hinzugekommen, als die 32 Stummel schon die Aschenschale gefüllt hatten.“

„Sehr gut,“ nickte ich. „Hm – und der Kleiderschrank?“

„Ja, der Kleiderschrank, in dem ich herumwühlte, enthielt am Boden unter anderem den Turban, den Mautley in Nepal trug, als wir mit den Schurken jenen Vertrag auf den vorläufigen Waffenstillstand geschlossen hatten. Dieser Turban hatte einen Ölfleck. Das weiß ich bestimmt. Und Farbe und Fleck des Turbantuches am Boden des Schrankes waren genau dieselben. Mautley und Bickpool werden die frühere Verkleidung also abgelegt und sich aus Connings Vorrat neu kostümiert haben. Ich hätte ja Frau Marry noch fragen können, was aus dem Schranke an „Kostümen“ fehlte. Aber ich wollte sie nicht argwöhnisch machen. – Ah – da sitzt Doorball auf der Veranda. Jetzt werde ich ihm die Geschichte von Connings plötzlicher Abreise sofort versetzen –“ –

Der dicke Polizeichef war wütend auf seinen Inspektor.

„Eine Anmaßung, ohne Urlaub einfach abzudampfen!“ meinte er. „Na – mir wär’s am liebsten, Conning käme überhaupt nicht wieder. Sein ewiges Nörgeln und Stöhnen ist ja kaum mitanzuhören. Immer jammert er, wie leid ihm seine Frau tut, daß sie in dieses Posemuckel verbannt ist und nichts mehr vom Leben hat! So ein verliebter Narr und unleidlicher, eingebildeter Besserwisser!“

Harst beruhigte ihn. Doorball war ein Gemütsmensch und ließ sich leicht „umkneten“. Er bedauerte dann selbst den „alles in allem ja ganz netten“ Conning, und die Sache war zunächst erledigt.

Die Runddepesche hatte er besorgt. Sie flog nun bereits allen indischen Polizeidirektionen zu. –

Der Tag verging ohne erwähnenswerte Ereignisse. Harst lag im Liegestuhl auf der Terrasse und rührte sich nicht vom Hause weg. Er wartete auf einen Brief von Marry Conning. Im Laufe des Tages langten in Betija regelmäßig fünf Züge an.

„Vor Abend wird’s nichts werden,“ meinte er einmal zu mir. „Immerhin – ich bin nicht in der Stimmung, auszugehen. Marry Conning tut mir leid. Sie hat sich so von Grund auf gebessert.“

Wir saßen dann gegen neun Uhr gerade in Doorballs sogenanntem Salon, und Harst spielte auf dem arg ramponierten Piano deutsche Volkslieder, als ein Diener der Connings einen versiegelten Brief für Harst brachte.

Harald schob ihn in die Tasche, meinte gleichgültig:

„Ich weiß schon, was sich in dem Umschlag befindet. Frau Conning wollte mir einen Stadtplan von Patna heraussuchen, den ihr Mann mal als Hauptmann gezeichnet hat.“

Der gute Doorball blieb ganz arglos. Nach zehn Minuten begann Harst zu gähnen – sehr ungeniert.

„Entschuldigen Sie, Doorball, – ich muß ins Bett. Ich fühlte mich schon den Tag über wie zerschlagen, hatte nicht Lust, auch nur einen Schritt zu tun. – Gute Nacht. Du bleibst wohl noch auf, mein Alter.“

Ich verstand den Wink. Erst gegen ½11 betrat ich dann unser gemeinsames Wohnzimmer und schaltete das Licht ein. Harald saß in der Sofaecke, flüsterte:

„Hänge für alle Fälle etwas über das Schlüsselloch. Doorball ist Polizeimensch, und daher auch zu harmlosem Spionieren „von Amtswegen“ leichter zu verführen. Vielleicht glaubt er doch nicht an den Stadtplan.“

 

3. Kapitel.

Der zweite Brief.

Der Fall Conning gehört in der Reihe unserer Abenteuer zu denen, die man scharf in einen theoretischen und einen praktischen Teil trennen kann. Der theoretische näherte sich jetzt seinem Ende. Vor Harst auf dem Tische lag Edward Connings Eilbrief an seine Gattin. Unten in dem Briefbogen steckten wieder Nadeln mit bunten Glasköpfen, im ganzen neunzehn. Der Umschlag bestand aus sehr dickem Papier, damit die Nadelspitzen nicht hindurchdringen sollten.

Ich hatte mich neben Harst auf einen Korbsessel gesetzt und ohne weiteres den Brief überflogen.

Mein Liebling! Ich bin hier in Dehli wohlbehalten angekommen. Die Fahrt war so überaus langweilig, so peinvoll anstrengend und arm an Abwechselung. Ich bin im Hotel Royal abgestiegen. Es dürfte hier das beste Hotel sein. Ich schicke Dir nur diesen kurzen Gruß und hoffe Dich bald wiederzusehen. Man soll auf einer Reise möglichst wenig Gepäck mitnehmen. Man bekommt ja alles Nötige zu kaufen. Ich befolge dies schon lange. Wie geht es Dir, mein Liebling? Sehne Dich nicht zu sehr. Auf Regen folgt Sonnenschein, wenn man nur die Wolken zu lenken weiß.

Dein E.

Unter der letzten Zeile steckten die 19 Nadeln in unregelmäßigen Abständen und in vier Reihen etwa.

Frau Conning hatte noch einen Zettel beigefügt:

„Verehrtester Mr. Harst! Ich bin wieder so sehr in Sorge. Dieses Schreiben ist so eigentümlich. Ich werde daraus gar nicht klug. Ihre M. C.“

„So,“ meinte Harald, „nun kannst Du ja mal Spektrum-Studien machen. Fang nur an und laß Dich nicht stören. Ich packe inzwischen unsere Koffer weiter.“

Er stand auf und ging in sein Schlafzimmer. – Ich hatte Mut und Zuversicht, nahm einen Bleistift und ein Stück Papier und schrieb zunächst die Buchstaben der Reihe nach auf, die durch die Eindrücke der Nadelköpfe auch hier gekennzeichnet waren. Es waren dies die Buchstaben aus folgenden Wörtern:

angekommen Fahrt war so so peinvoll anstrengend arm an Es dürfte das sein

Es kamen also folgende Buchstaben in Betracht:

kommFtrsooptnaaEedn

Das gab keinen Sinn. Nur die ersten vier Buchstaben konnten „komm“ bedeuten, also in der richtigen Reihenfolge. Die anderen waren fraglos umgestellt. Also eine Art Geheimschrift. Wo war nun zu dieser der Schlüssel?

Er steckte natürlich im „Spektrum“, in den bunten Nadelköpfen. Ich sah mir also diese Nadelköpfe sorgfältig an. Dadurch wurde ich leider um nichts klüger. Aber – ich wollte mich nicht nochmals blamieren wie am Vormittag! – Die Sache konnte ja nicht allzu verzwickt sein, wenn Conning seiner Frau zutraute, die 19 Buchstaben in die richtige Anordnung zu bringen. Was er seiner Gattin zumutete, würde ich doch wohl herauskriegen!

Ich zündete mir eine Zigarre an. Tabak belebt den Geist. Aber – ich hätte, glaube ich, eine ganze Kiste aufrauchen können, und ich wäre nicht schlauer geworden. – Nur nervös wurde ich.

Dann trat Harald ein, stützte sich auf den Tisch und fragte: „Erledigt?“

„Nein– zum Teufel! Frage nicht so – so spitzen Tones.“

„Hu – bist Du gereizt! Und dazu liegt gar kein Grund vor. Edward Conning hat sich sehr verrechnet. Frau Marry hat den „Schlüssel“ im ersten Briefe, also die fünf Nadeln, achtlos aus dem Briefbogen gezogen, hätte also nie diese Geheimschrift entziffert, die in ihrer Art tatsächlich glänzend „ausgeknobelt“ ist – zu glänzend, das heißt: sie ist allzu schwierig! Conning übertrieb die Vorsicht. Er hätte ohne mich lange auf seine Gattin warten können, sehr lange! Sie wäre nie nach dem Eden-Hotel in Patna gekommen, nie. Sie hätte hier auf ihren Edward gelauert, dem die beiden Gauner nun tatsächlich die Belohnung ausgezahlt zu haben scheinen, was mich sehr – sehr wundert. Er muß jetzt genug ungeschliffene Diamanten besitzen, um sich mit seiner Marry anderswo niederlassen zu können. – Doch – alles der Reihe nach! – Der erste Brief enthielt nur das kenntlich gemachte Wort „Patna“. Es hat fünf Buchstaben. Und in jenem Briefe steckten fünf Nadeln. Sie werden der Farbe nach in der Reihenfolge der Farben des Sonnenspektrums durch das Papier gebohrt worden sein: Rot, Gelb, Grün, Blau, Lila. – Ganz sicher ist es so gewesen. Denn die fünf Buchstaben Patna waren ja auch in der richtigen Reihenfolge kenntlich gemacht durch die Eindrücke der Nadelköpfe. Diese fünf Farben sind nun der Schlüssel, mein Alter. Schau Dir mal die ersten vier Buchstaben da auf Deinem Zettel an. Sie ergeben „Komm“. Und nun die ersten vier Nadeln: Rot, Gelb, Grün, Blau, – also die richtige Reihenfolge! – Es folgen dann die Nadeln beziehungsweise Farben:

Grün, Lila, Lila, Rot, Blau, Gelb.

Ich nehme gleich diese sechs zusammen, um Dir die Sache zu vereinfachen. – Hinter dem ersten „Komm“, das ja einen uns passenden Sinn hat, sind die nächsten sechs gekennzeichneten Buchstaben:

Ftrsoo

Schreibe nun mal unter die sechs Farben diese Buchstaben.“

Ich tat es. Das sah so aus:

Grün, Lila, Lila, Rot, Blau, Gelb.

„Nun ordne Farben und Buchstaben nach dem Sonnenspektrum,“ fuhr Harald fort. „Fange also mit Rot an, das ist s, füge Gelb o hinzu, weiter Grün F und Blau o und Lila r. Das ergibt „sofor“. Dann bleibt noch ein Lila t übrig. Reihe das hinten an, und Du hast „sofort“ entziffert. In derselben Weise wirst Du aus den weiteren Stecknadelköpfen „Patna“ und „Eden“ zusammenstellen[8]. Das Ganze lautet mithin: „Komm sofort Patna Eden“. Was „Eden“ heißen soll, darauf deutet der Satz in dem Briefe hin: „Es dürfte hier das beste Hotel sein“. Also Eden-Hotel! – Kurz: Frau Marry soll sofort, und zwar ohne viel Gepäck, nach Patna reisen und dort ihren Gatten im Eden-Hotel aufsuchen. – Siehst Du, mein Alter, das ist die Bedeutung der bunten Stecknadeln. Eine ganz hübsche Idee. Nur – für ein Frauenhirn, wie Marry Conning es besitzt, zu schwierig. – Wir werden jetzt schlafen gehen, um ½4 wieder aufstehen und mit dem Morgenzuge abreisen. Aber nicht allein. Frau Marry muß mit. Ich werde sie morgens herausklopfen und ihr die ganze Geschichte sehr vorsichtig beibringen. Sie wird uns dankbar sein, wenn wir ihr helfen, Conning wieder moralisch „zurechtzurucksen“, wie man zu sagen pflegt. Es wird natürlich von ihrer Seite viel Tränen geben. Sie wird ahnen, weshalb ihr Edward sich auf so unsaubere Dinge eingelassen hat: eben um sie wieder mit Glanz und Luxus umgeben zu können. – Von Doorball verabschieden wir uns ganz kurz. Er wird nicht viel fragen, weshalb wir schon mit dem Frühzuge reisen. Unser Dicker läßt sich nicht gern im Schlafe stören.“

Nun war es mit der Theorie aus. Die Praxis gestaltete sich weit weniger behaglich für uns – leider! Ich ahnte schon, daß das dicke Ende nachkommen würde. Das war noch stets so gewesen, wenn eines unserer Abenteuer so ohne größere Aufregung begann.

Der Anfang mit diesen Aufregungen machte Frau Marry Conning. Als Harst ihr sehr schonend mitgeteilt hatte, was seines Erachtens die beiden Briefe bedeuteten, bekam sie beinahe einen Weinkrampf.

„Ich bin an allem schuld – ich allein!“ schluchzte sie immer wieder. „Edward konnte sich nicht denken, daß ich mich wirklich von Grund auf geändert hätte. Er glaubte sicherlich, mir mißfalle dieses bescheidene Leben! Und – das ist doch keineswegs so. Ich arbeite gern. Mir macht das Sparen und Wirtschaften Freude. – Oh Mr. Harst – helfen Sie, retten Sie [ihn.][9] Edward darf meinetwegen nicht ehrlos bleiben. Er muß diese schmachvolle Belohnung, diese Diamanten, Ihnen ausliefern. Und dann wollen wir weiter hier in Betija in Ruhe und Zufriedenheit leben wie bisher –“

Schließlich ließ sie sich dann trösten, faßte wieder Mut und begleitete uns zum Bahnhof. Harald nahm ein Abteil für uns allein. So blieben wir drei ungestört, und das arme, einst so verschwenderische Frauchen konnte unbelästigt durch fremde Neugier ihren trüben Gedanken nachhängen. –

Patna mit seinen 140 000 Einwohnern liegt am rechten Ufer des heiligen Ganges-Flusses in einer überaus fruchtbaren Ebene. Der Ganges strömt hier durch die Provinz Bengalen in der Hauptrichtung von West nach Ost, so daß die uralte Stadt mit ihren 30 Kilometer weit am Flusse sich hinziehenden Basarstraßen auf dem künstlich erhöhten südlichen Ufer sich erhebt.

Die Eisenbahnlinie Betija–Patna endet deshalb auch eigentlich schon in dem Patna gegenüber liegenden Städtchen Hadschipur. Ein Fährschiff bringt den Zug jedoch über den Ganges bis nach Patna. Eine Brücke existiert hier nicht. Dazu ist der Strom einmal zu breit und dann auch an den Ufern zu sumpfig.

Wir drei verließen bereits in Hadschipur den Zug. Harst wollte es so. Gründe dafür gab er nicht an. Unser Gepäck ging weiter bis Patna. Wir mieteten dann ein Motorboot, das uns in zehn Minuten an einem Landungssteg unweit des Hauptbahnhofs von Patna absetzte. Das Fährschiff lag noch immer drüben in Hadschipur.

Harst hatte lediglich unsere Handtasche bei sich behalten, die er auch selbst gepackt hatte. Kaum waren wir ein Stück vom Landungsstege entfernt, als er erklärte, ich solle nur mit Mistreß Conning mich drüben in die Anlagen setzen. Er hätte noch etwas zu erledigen, bevor wir nach dem Eden-Hotel gehen könnten. Er trennte sich von uns und nahm die Handtasche mit.

Marry Conning fieberte bereits vor Ungeduld.

„Weshalb müssen wir hier untätig sitzen?“ meinte sie immer aufs neue. „Mr. Schraut, wir beide wollen doch wenigstens sofort Edward aufsuchen. Wenn Mr. Harst uns hier nicht findet, wird er sich schon denken, wo wir sind.“

„Das dürfen wir auf keinen Fall,“ sagte ich nun sehr bestimmt. „Harst würde sehr böse sein. Er verlangt, daß man seine Weisungen genau befolgt. Glauben Sie mir: ohne Grund läßt er uns fraglos hier nicht warten!“

Nach einer Weile begann sie wieder zu betteln. „Mein Gott – ich sehne mich ja so nach Edward! Haben Sie denn gar kein Verständnis für das, was mein Herz bewegt?! Kommen Sie, tun Sie mir den Gefallen, Mr. Schraut. Harst ist doch ein Mann von Gemüt und wird mir diese Eigenmächtigkeit schon verzeihen. Ich nehme alle Schuld auf mich. Kommen Sie –“

„Nein, Mistreß Conning – und wenn Sie noch so inständig flehen. Es ist unmöglich.“

Sie war jedoch so stark nervös überreizt, daß sie mich jetzt mit recht grundlosen Vorwürfen überhäufte, aufsprang und plötzlich davonlief. Ich hinter ihr her. Ich packte ihre Hand.

„So nehmen Sie doch Vernunft an,“ bat ich. „Sie können ja alles verderben –“

Sie riß sich los. „Ich werde Edward schon allein zu bestimmen wissen, diesen Fehltritt wieder gutzumachen.“

Sie rannte weiter. Die Anlagen, in denen sich diese peinliche Szene abspielte, gehörten zum Vorplatz des Gouverneurpalastes. Eingeborene, Soldaten und ein paar Europäer beobachteten uns. Ich kehrte ärgerlich um, setzte mich wieder auf dieselbe Bank und rauchte zur Beruhigung eine Zigarre.

Dann sprach mich jemand an. Ich drehte mich um. Es war ein älterer, grauhaariger Europäer mit einer Hornbrille auf der knallroten Nase.

„Ganz interessant,“ meinte er. „Sie ist also ausgerückt.“

Da – da erst sah ich, daß der alte Herr denselben graugrünen Sportanzug und dieselbe weiße Schirmmütze wie Harst trug.

Es war Harst!

„Na, mein Alter, – also ist Marry Dir ausgekniffen,“ meinte er lächelnd. „Ich hab’s mir beinahe gedacht. Ja, ja, – die Liebe! – Gehen wir nach dem Eden-Hotel –“

„Wo hast Du Deine Handtasche?“ fragte ich.

„Auf dem Hauptbahnhof in Verwahrung gegeben, nachdem ich mich im Waschraum etwas verändert hatte. Ich glaubte, Bickpool oder Mautley würden vielleicht zur Ankunft des Betija-Zuges sich einfinden, um festzustellen, ob wir die Jagd schon begonnen hätten. Es war jedoch niemand dort. Viel Hoffnung hatte ich ja auch nicht, einen der Halunken da anzutreffen. Sie werden Patna längst wieder den Rücken gekehrt haben.“

Wir kannten Patna noch nicht, fragten also einen der sehr höflichen eingeborenen Polizisten nach dem Eden-Hotel.

Er musterte uns erstaunt. Ich wußte nicht recht, weshalb. Er beschrieb uns den Weg. Wir waren bisher falsch gegangen und kamen wieder am Hauptbahnhof vorbei. – „Da kannst Du schließlich ebenfalls einige kleine Veränderungen an Dir vornehmen. In der kleinen Handtasche befindet sich das Nötige. Beeile Dich aber. Der Blick des Straßenpolizisten gefiel mir nicht. Dieses Eden-Hotel scheint eine üble Spelunke zu sein. Da tut man besser, unerkannt sich dort zunächst umzusehen. Der Polizist war doch offenbar sehr überrascht, daß zwei weiße Gentlemen[10] dorthin wollten. Wenn Edward Conning seine Frau in eine solche fragwürdige Art von Gasthaus bestellt, müssen notwendig so allerlei Befürchtungen wieder in uns aufleben. Aber – vorwärts, mein Alter. Klebe Dir einen roten Bart an und zieh’ eine rote Perücke über den Schädel. Ich bleibe hier draußen. Da ist der Aufbewahrungsschein für die Handtasche und der Schlüssel.“

 

4. Kapitel.

Das Eden-Hotel.

Ich war in zehn Minuten fertig. Wenn man wie ich früher mal Komiker war, versteht man sich aufs Maskenmachen. Harst hatte es von mir gelernt. Jetzt leistete er wie auf jedem Gebiet so auch hierin Besseres als ich. Trotzdem hätte Frau Marry mich so, wie ich jetzt auf Harald zuschritt, niemals wiedererkannt. Die Handtasche hatte ich bei mir behalten.

„Inzwischen bin ich mit dem Schlachtplan fertig geworden,“ meinte Harald. „Wir gehen nicht zusammen in dieses Eden-Hotel, sondern einzeln. In Abständen von hundert Meter. Das genügt. Ich werde dort nach Mr. Smith fragen und so tun, als hätte ich nicht ganz reinliche Geschäfte vor. Du bist dann Mr. Smith. Ich werde mich nötigenfalls als Parker dem Wirt vorstellen. Alles Weitere findet sich an Ort und Stelle.“ –

Patna hat nur im sogenannten Regierungsviertel neue, saubere Straßen. Der Rest ist völlig „Orient“: winklige, enge, schmutzige Gassen, pestilenzialische Düfte, unzählige Kinder, brüllende Händler, vor Schmutz starrende Bettler und – lahme Affen, die hier etwa dieselbe Rolle spielen, wie in Konstantinopel einst die Straßenhunde.

Das Eden-Hotel war offenbar ein ehemaliger Palast irgend eines indischen Fürsten und lag an einem kleinen Platze mitten unter winzigen, halb verfallenen Baracken aus Gangesschlammziegeln. Über dem Eingang war ein riesiges Holzschild angebracht, auf dem außer dem Namen in englischer, indischer und chinesischer Sprache stand, daß im großen Saale allabendlich berühmte Artisten ihre Künste zeigten – also noch Varietee-Theater nebenbei.

Ich trat in die Vorhalle ein. Korbsessel standen hier umher. In der Mitte eine künstliche Grotte, davor ein Springbrunnen; rechts ein Glaskasten, das Bureau. Dort drinnen stand Harst und vor ihm ein europäisch gekleideter, hagerer Chinese.

Chinese! Schon faul! dachte ich.

Dann riß ich die Tür des Glaskäfigs ohne weiteres auf. Als Irländer Mr. Smith mit zweifelhaften Geschäftsfreunden muß man auch eine ganz besondere Art Benehmen an sich haben.

„Ah – verdammt, Parker, da bist Du ja!“ gröhlte ich sofort los. „Hast Du die Dinger bei Dir?!“ Ich zwinkerte ihm zu, schob die Reisemütze ins Genick und warf mich in eine Ecke des kleinen Rohrsofas. Die Handtasche stellte ich auf meine Knie.

Mr. Parker-Harst brummte: „Ja – ich hab’ sie. Und wie steht’s mit der Bezahlung? Faule Aktien und so was – damit bleib’ mir vom Leibe. – Wie ist’s, Smith, nehmen wir ein Zimmer hier oder willst Du abends schon wieder zurück, weil’s hier so ’n bißchen ungemütlich zur Zeit ist. Am Bahnhof schnüffelten so ’n paar Geheime rum, die verdammte Brut! – Ist hier denn was passiert?“ wandte er sich an den Chinesen, der verständnisinnig grinsend zugehört hatte.

Dieses Gespräch wurde natürlich in englischer Sprache geführt.

Ich fragte nun auch sofort recht hastig: „Ja – was ist denn eigentlich in Patna los? Ich habe ebenfalls auf dem Bahnhof Angst geschwitzt.“ Dabei drückte ich die Handtasche, in der der Chinese fraglos jetzt weiß der Himmel was für Schätze vermutete, noch fester an mich.

Der Gelbe – es war der ehrwürdige Hotelbesitzer Mr. Tuan – grinste noch immer. Wir hatten diese Szene soeben so erstklassig gespielt, daß selbst seine Gaunerseele überzeugt sein mußte, hier zwei oberfaule Ehrenmänner vor sich zu haben. Wenigstens gewann ich diesen Eindruck aus seinem Lächeln, und seine Antwort schien dies zu bestätigen:

„Seien Sie vorsichtig. Selbst hier bei mir ist man jetzt nicht sicher.“

Mr. Parker machte ein ganz entsetztes Gesicht. „Wieso denn nicht? – Wir sind gerade an Sie empfohlen worden.“

„Von wem?“

„Hm – von – von zwei Artisten,“ erklärte Mr. Parker widerwillig.

Tuan blickte plötzlich zu Boden. Mir kam es vor, als hätten seine Augen einen anderen Ausdruck angenommen. Dann schaute er Parker-Harst wieder an. Und – da lag doch noch dasselbe Gaunerlächeln auf des Hotelbesitzers Gesicht.

„So – zwei Artisten,“ wiederholte er leise. „Darf ich die Namen wissen?“

„Ne – das dürfen Sie nicht,“ grinste Parker-Harst nun. „Also – die Polizei sieht Ihnen jetzt scharf auf die Finger. Wohl auch häufigere Revisionen hier, wie?“

Tuan beugte sich vor, flüsterte: „Man ist hinter zwei Mörder her, Mautley und Bickpool. Gestern traf hier eine Depesche bei der Polizei ein. Die beiden sind mit Edelsteinen – unterwegs.“

„Unterwegs“ war nett gesagt! –

Mir machte dieser heimliche Kampf mit Worten Spaß. Ich wußte nur nicht recht, wo Harald damit hinauswollte.

Parker-Harst flüsterte nun seinerseits: „Können Sie uns für eine Nacht verbergen?“

„Ja. Kommen Sie –“

Er nahm einen Ring mit mehreren Schlüsseln aus dem Pult und ging uns voran. Ich folgte als zweiter. Harst ging hinter mir. Wir stiegen die Treppe hinauf; noch eine, bogen dann rechts in einen Gang ab. Das Haus war der reine Fuchsbau. Wir kamen durch leere Zimmer, durch winklige Flure, über kurze Treppen. Dann machte Tuan vor einer schmalen Tür halt, suchte einen Schlüssel des Schlüsselringes heraus, schloß auf und schritt auf einen Stapel leere Kisten zu. Dieser Raum war einfenstrig und enthielt nur Gerümpel.

Der Chinese rückte die Kisten überraschend leicht zur Seite. Ich hörte Rollen quietschen. Die unterste und größte Kiste schien also schon so eingerichtet zu sein, daß man nicht viel Kraft brauchte, den ganzen Stapel zu bewegen. Der Fußboden bestand aus kurzen Dielenstücken, von denen längst jeder Anstrich abgescheuert war. Tuan drückte jetzt auf einen Ast, der sich im Holze der Diele verschwommen abzeichnete.

In demselben Augenblick zog Harst mich ganz dicht an die Stelle heran, wo der Chinese kniete. Und gleichzeitig schaute er mich in einer Weise an, die wie ein Warnungssignal wirkte.

Ich war jetzt auf meiner Hut. Mir fiel plötzlich wieder ein, daß ich ja vorhin eine Veränderung in Tuans Blick wahrzunehmen geglaubt hatte. Sollte Tuan wissen, wer wir waren? Sollte er nur so tun, als wüßte er es nicht?!

Jedenfalls[11]: die Situation wurde ungemütlich. Wenn ich nur geahnt hätte, was Harald eigentlich beabsichtigte?! Ich mußte immer an Marry Conning denken. Was war aus ihr geworden?! Sollte ihr Mann wirklich in diesem Hotel wohnen?!

Inzwischen hatte sich gerade dort, wo die Kisten gestanden hatten, ein Teil des Fußbodens nach unten geöffnet. Dieses unregelmäßige Dielenstück hing in Angeln und machte nun den Zugang zu einer Holztreppe frei, die in einem engen Schacht abwärts lief. – Oben auf der Treppe stand eine Petroleumlaterne. Tuan zündete sie mit einem Streichholz an, schritt die Treppe hinab und rief Harst zu, er solle die Falltür zudrücken.

Die Treppe endete vor einer starken, mit Eisenblech beschlagenen Tür. Wieder suchte Tuan einen Schlüssel heraus, öffnete, zog die Tür auf und ließ uns eintreten. Harst blieb jedoch dicht neben Tuan, meinte nun:

„Die Laterne ist Ihnen unbequem. Ich werde sie tragen.“ Er nahm sie dem Chinesen ab. – Ich merkte jedoch: er wollte nur verhindern, daß der Gelbe nicht etwa die Tür zuschlüge und uns einsperrte.

Falls der Chinese diese Absicht gehabt hatte, war sie jedenfalls vereitelt. – Tuan ließ sich nicht das geringste merken, zog die Tür hinter sich zu und stellte die Laterne auf einen einfachen Holztisch, reckte die Arme hoch und setzte eine große, an der Decke hängende Petroleumlampe in Brand, deren Lichtschein uns nun ein viereckiges, fensterloses Gemach zeigte, das mit bescheidenen Möbeln und zwei Betten ausgestattet war.

„So, hier sind Sie sicher,“ meinte der Gelbe nun und setzte sich in einen Korbsessel, der links vom Tische neben einem Rauchtischchen stand. „Machen Sie es sich bequem,“ fuhr er fort. „Falls Sie etwas zu essen oder trinken wünschen, bringe ich es Ihnen.“

Harst warf seine Mütze auf das Bett und nahm auf dem Rohrsofa Platz, indem er sich so drehte, daß er Tuan das Gesicht voll zukehrte. Dann holte er sein Zigarettenetui hervor und hielt es Tuan hin.

„Bitte – bedienen Sie sich. Eine solche Zigarette bekommen Sie nie wieder. Es ist nämlich Harald Harsts Spezialmarke Mirakulum.“

Er hatte das Etui in der ausgestreckten Linken. Nun kam auch seine Rechte zum Vorschein, stützte sich auf die Armlehne des Sofas, so daß der Chinese gerade in das schwarze Mündungsloch von Harsts Repetierpistole schaute.

Tuan war nicht im geringsten überrascht durch diese plötzliche Bedrohung. Von erschrocken sein konnte man erst recht nicht sprechen. Er lächelte nur wie einer, der auf ähnliches vorbereitet gewesen war, nahm sich wirklich eine Zigarette und sagte:

„Es ist nur die Frage, Mr. Harst, wer von uns beiden den anderen früher durchschaut hat.“

Dann rieb er ein Zündholz an und rauchte wie ein Kenner die ersten Züge.

Ich hatte mich jetzt auf den Rohrsessel rechts vom Tische gesetzt. Ich beneidete diese beiden Kämpfer da vor mir um ihre stählernen Nerven. Sie waren kühl und gelassen, und ich – ich fieberte förmlich vor Ungeduld und Spannung.

„Ich ließ mich durchschauen,“ sagte Harald nun. „Ich erwähnte absichtlich zwei Artisten, die uns an Sie empfohlen hätten. Ich wartete darauf, daß Sie sich eine Blöße gaben. Sie taten es. Sie schauten zu Boden, um mir nicht das Aufleuchten in Ihren Augen zu zeigen. – Zwei Artisten! Und Mautley und Bickpool waren früher Artisten. Sie aber, Mr. Tuan, sind Besitzer eines Varietee-Theaters, und dieses Varietee war die Brücke, die ich in Gedanken von den beiden Verbrechern zu Ihnen schlug. Sie kennen die beiden. Geben Sie das zu?“

Tuan lächelte weiter und nickte und blies Rauchringe, wie Harst sie nicht besser machen konnte.

„Was ist aus Inspektor Conning geworden?“ fragte Harst.

„Tot,“ erwiderte dieser unglaubliche Mensch etwa in demselben Tone, als hätte er „Bitte“ oder „Danke“ gesagt.

Ich war halb hochgeschnellt aus meinem Sessel, ließ mich dann aber leise zurückfallen, da Harst schon weiter fragte:

„Und Frau Conning, die vorhin Ihr Hotel betrat?“

„Hat hier einen Brief ihres Mannes vorgefunden, in dem dieser sie anweist, nach Kalkutta zu fahren. Sie wird es tun. Der Brief ist natürlich gefälscht. In Kalkutta wird Marry Conning auf ein Schiff geschleppt und nachher an ein Freudenhaus in Peking verkauft werden.“

Harst schwieg eine Weile. Ich wäre am liebsten aufgesprungen und hätte dem Gelben die Faust ins Gesicht geschlagen. – Tuan rauchte, nachlässig dasitzend, weiter. Er hatte die Beine übereinander gelegt und wippte mit der rechten Fußspitze auf und ab.

In dem fensterlosen Gemach herrschte mehr als Gewitterstimmung. Es war etwa so wie nach einem starken Blitz, wenn man atemlos lauschend den nachfolgenden krachenden Donner erwartet.

„Waren auch die beiden Briefe mit den Stecknadeln Fälschungen?“ fragte Harst jetzt in genau so gleichmütigem Tone wie Tuan.

„Nein. Bickpool[12] kam auf die Idee mit den Stecknadeln. Allerdings sagt er Conning nicht, daß wir Sie beide auf diese Weise hier ins Eden-Hotel locken wollten. Bickpool rechnete damit, daß Marry Conning sich an Sie wenden würde. Es ist ja auch alles so gekommen, wie wir annahmen. Wir haben jetzt durch Conning die tadellosesten Ausweispapiere, sind sogar Polizeiagenten mit abgestempelter Photographie auf der Legitimationskarte. Was will man mehr?! Wir werden in aller Seelenruhe unsere Edelsteine verkaufen und dann irgendwo die höchst ehrenhaften Millionäre spielen. Ihr beider Los wird ein etwas anderes sein. Sie werden niemand mehr belästigen.“

Ich glaube, ich bin damals blaß vor Erregung geworden. – „Wir“ – „wir“ sagte dieser Mensch immer! Dann war es gar kein Chinese; dann war es – Mautley!

Und sofort folgte auch die Bestätigung.

„Sie geben wohl zu, Mautley,“ sagte Harst, „daß Sie sich hier etwas lächerlich machen. Nicht wir sind in Ihrer Gewalt, sondern Sie sitzen hier vier Schritt vor einer entsicherten Pistole, die –“

Mautley winkte lässig ab. Bisher hatte er das Englische so gesprochen, wie alle Chinesen es tun. Jetzt verstellte er sich nicht mehr.

„Lassen Sie diese albernen Drohungen, Mr. Harst,“ meinte er. „Sie beide werden so gewiß noch heute sterben, wie heute die Sonne untergehen wird. Sie haben uns unterschätzt. Wir sind nicht nur erstklassige Verkleidungskünstler, sondern auch recht erfindungsreiche Gegner. Eine Probe davon sind die Briefe mit den Stecknadeln, die so prompt ihre Wirkung taten. Genau so gut ist hier alles vorbereitet.“

Ich blickte mich unwillkürlich scheu um. Doch – nirgends war etwas Verdächtiges zu bemerken.

Harst wurde jetzt doch erregt. „Machen wir ein Ende!“ rief er. „Schraut, reiß dort jene Bettdecke in Streifen und fessele Mautley die –“

Da – ein Krach. Die große Petroleumlampe war herabgefallen und das Glasbassin in Trümmer gegangen.

Ein höhnisches Lachen folgte. Ein Schuß.

Ringsum Dunkelheit. Nur auf dem Fußboden glomm der Docht der Lampe, flackerte jetzt höher auf. Das verschüttete Erdöl begann zu brennen.

Ich stand noch so, wie ich vor Schreck hochgeschnellt war. Ich sah Harst, der links vom Tische den Fußboden betastete.

„Eine Decke auf die Flammen!“ rief er jetzt. „Ersticke sie, Schraut, – schnell!“

Ich erlangte meine Bewegungsfähigkeit wieder. Im Nu hatte ich aus den Betten die Decken herausgerissen. Der Brand war dann in kurzem erstickt. Das Gemach hatte sich jedoch bereits so stark mit stinkenden Qualm gefüllt, daß mir die Augen tränten.

Harsts Taschenlampe beleuchtete jetzt die Stelle, wo Mautley vorhin gesessen hat. Der Korbstuhl und auch das Rauchtischchen waren verschwunden.

„Eine Versenkung,“ meinte Harald. „Deshalb war der Schuft auch so ruhig. Er wußte, daß die Lampe herabfallen würde, wenn die Lage für ihn gefährlich wurde.“

Der Lichtkegel glitt zur Decke empor. Dort, wo die Lampe gehangen hatte, gab es ein Loch von gut 12 Zentimeter Durchmesser. Es war fraglos die Mündung eines Ventilationsrohres.

„Und die Tür?!“ fragte ich.

Harald zuckte die Achseln. „Ist auch von innen mit Eisenblech beschlagen und natürlich fest zu.“

Trotzdem eilte ich hin. Ein Drücker war nicht vorhanden. Es gab nur ein einziges Schlüsselloch auf der ganzen Türfläche. – Ich lehnte mich dagegen. Die Tür gab auch nicht einen Millimeter nach, so gut paßte sie in den Rahmen hinein. Und dieser war gleichfalls mit Eisenblech benagelt.

Ich kehrte zu Harst zurück, der sich gegen den Tisch gelehnt hatte.

„Wer hätte das gedacht,“ meinte er. „Dies ist in der Tat eine Falle, wie sie uns nicht oft gestellt wurde. Ich gebe zu: die Möglichkeit, daß die fünf Stecknadeln uns hierher locken sollten, habe ich auch nicht einen Moment erwogen.“

„Was werden die Halunken nun mit uns beginnen?“ fragte ich sehr kleinlaut.

Die Antwort kam – von oben, aus dem Luftschacht, kam in Gestalt eines dicken Wasserstrahls, der polternd und zischend unten auf den Fußboden aufprallte, der an Dicke noch zunahm und das Gemach schnell überschwemmte.

Harst war vor den aufspritzenden Wassermassen bis an die Tür zurückgewichen. Ich folgte ihm. Auch ich hatte jetzt meine Taschenlampe eingeschaltet, flüsterte: „Ersäufen wollen sie uns!“

„Immerhin wissen wir jetzt, was sie wollen, und das ist viel wert,“ sagte Harald langsam und starrte auf den Sturzbach, der sich ununterbrochen aus dem Rohr in das Gemach ergoß. „Meiner Schätzung wird es eine halbe Stunde dauern, bevor der Raum gefüllt ist und – wir wie die Ratten ersoffen sind. Man kann in einer halben Stunde manches tun. Nein – nicht in einer halben Stunde. Wenn wir nicht in zehn Minuten entweder dem Wasser irgendwohin einen Abfluß verschafft oder –“

Er schwieg plötzlich.

Ich blickte ihn an wie ein Gläubiger ein wundertätiges Bild anschaut, von dem er Hilfe erhofft.

Und – Harald lächelte jetzt! – Er – lächelte!

Das Wasser stand jetzt schon so hoch, daß es uns bis an die Enkel reichte.

„Wir werden die Gnadenfrist für uns verlängern,“ sagte Harald lebhaft. „Nimm das Bett dort auseinander. Wir brauchen die langen Seitenteile.“

Er wand dann die Decken um eine Emaillewasserkanne, die neben dem Waschtisch gestanden hatte.

„Dies wird der Pfropfen, den wir dort oben festkeilen müssen, mein Alter. – Nun kippe dort den Schrank um. Runter mit dem Schrank unter diese unangenehme Quelle. Die Seitenbretter des Bettes werden jetzt gerade so hoch reichen, daß wir unseren Pfropfen festkeilen können! – Warte – ich klettere auf den Tisch. Halte die beiden Stützen bereit.“

Sechs Versuche mißglückten. Beim siebenten gelang es. Der mit den Decken umhüllte Unterteil der Blechkanne schmiegte sich so gut in das Loch ein und saß so fest, daß jetzt nur einige fingerdicke Strahlen sich an dem Pfropfen vorbeidrängen konnten und mit großer Kraft überall umherspritzten.

Wir keilten die Bretter dann vorsichtig noch fester. Die Rückwand des Schrankes bog sich unter dem Druck, hielt aber stand.

„So – jetzt haben wir mindestens fünf Stunden gewonnen,“ lächelte Harald und klopfte mir auf die Schulter. Wir waren beide pudelnaß. „Und jetzt kommt Teil 2 des Programms[13]: der Ausbruch!“

 

5. Kapitel.

Der echte Tuan.

Dieser 2. Teil begann mit einer genauen Untersuchung der Wände. Denn den Fußboden hatte Harst sich schon vorher angesehen, als er die Ränder der Versenkung betastete, mit deren Hilfe Mautley so blitzschnell nach unten verschwunden war, daß Harsts in der Dunkelheit abgefeuerte Kugel fehlging.

Die Wände waren mit einem Ölfarbenanstrich versehen. Unter dem Kalkbewurf kamen – Schlammziegel zum Vorschein, als Harst den Putz mit dem Messer abkratzte.

Nun hieß es, irgend ein Werkzeug zu beschaffen, um die Schlammziegel zerbröckeln zu können. Harald patschte hin und her und suchte, zog die Schubladen des Waschtisches auf, zog sie ganz heraus, stellte sie in unseren bereits wieder ein paar Zentimeter tieferen Tümpel und – sprang von einem Stuhle aus so auf die Rückwand herauf, daß die Schublade regelrecht aus dem Leim ging.

Ich will mich nicht zu sehr bei Einzelheiten aufhalten. Jedenfalls stellten wir uns aus den Brettern handliche, spitze Werkzeuge her. Als wir erst einen der Ziegel zerstückelt hatten, war das Schwerste überstanden.

Zehn Minuten drauf waren wir, längst wieder bartlos und in nassen Kleidern, ungeladene Gäste auf dem Grundstück eines braven indischen Tischlers, den wir in seiner Werkstatt nach der Straße zu arbeiten sahen. Sein Häuschen hatte eine offene Durchfahrt. Wir warteten hinter dem Bretterstapel, bis der braune Meister einmal verschwand und liefen dann schleunigst hinaus auf die Straße und den Platz, an dem auch das famose Eden-Hotel lag. Das Häuschen lehnte sich an der Westmauer des ehemaligen Palastes an.

Jetzt schlugen wir ein weniger auffallendes Tempo an. Wir durchweichten Europäer erregten ohnedies genügend Aufsehen unter den Eingeborenen. Wir trafen einen Mietwagen, fuhren zum Bahnhof, ließen uns unsere Koffer herausgeben und vertrauten uns einem der dort Dienst habenden Polizeibeamten an, dem Harst dann noch allerlei Anweisungen gab. Auf der Polizeiwache des Bahnhofs zogen wir uns um. Die Beamten halfen uns. Es waren sämtlich Eingeborene. Der Name Harst war hier genau so gut bekannt wie überall. Und diese Leute rissen jetzt Mund und Ohren auf, als wir beide so nach und nach uns gänzlich verwandelten und schließlich als älteres Ehepaar dastanden. Ich spielte ja nicht zum ersten Male eine Damenrolle.

Gerade als wir fertig waren, trat ein Europäer ein, ein großer, kräftiger Mann mit einem pockennarbigen Gesicht. Er stutzte, nannte dann seinen Namen: Detektivinspektor Warton.

„Mr. Harst, ich stehe Ihnen mit meinen Leuten zur Verfügung. Soeben wurde ich auf Ihre Veranlassung hergerufen,“ sagte er überaus höflich und diensteifrig.

„Bitte lassen Sie das Eden-Hotel unauffällig umstellen und beordern Sie drei Ihrer besten Leute in der Maske von Gepäckträgern, Lieferanten oder dergleichen in die Vorhalle, Mr. Warton. Wie lange Zeit brauchen Sie dazu?“

„Eine halbe Stunde höchstens.“

„Gut. In einer halben Stunde werden Schraut und ich das Eden-Hotel dann zum zweiten Male betreten.“

Es war so weit. Wir fuhren mit unseren Koffern in einem Wagen vor. Der Wagen wartete, und das Artistenpaar Monsieur und Madame Estromelle, „erstklassiger Illusionsakt“, gingen hinein.

Die Vorhalle war leer. Wir setzten uns in die Rohrsessel. Dicht hinter uns waren noch drei Inder, mit großen Pappkartons beladen, eingetreten und stellten sich bescheiden neben dem Bureau auf. Dort saß jetzt ein kleiner Chinese mit grauem Bart an dem Pult und schrieb eifrig. Er trug europäische Kleider, einen gelben Leinenanzug und eine flatternde Künstlerkrawatte. Er hatte uns sehr wohl bemerkt, ließ sich aber Zeit, legte jetzt die Feder hin und öffnete den Glaskäfig, kam auf uns zu und verbeugte sich, wobei seine Schweinsäuglein uns auf Herz und Nieren prüfen zu wollen schienen.

„Sind Sie Monsieur Tuan?“ fragte Monsieur Estromelle. „Ich suche ein Engagement, komme direkt aus dem Orpheum aus Kalkutta. Ich bin der Zauberkünstler Estromelle, – „erstklassiger Illusionsakt“. Ich könnte Ihnen einen Empfehlungsbrief zeigen.“ Er sprach französisch. „Und zwar von Ihren Freunden Mautley und Bickpool, die wir vor fünf Wochen in Kalkutta kennen lernten.“

Es war wirklich jetzt der „echte“ Tuan. Bei den Namen Mautley und Bickpool zuckte er erschrocken zusammen, sah sich scheu um und winkte uns. Wir verschwanden in dem Glaskäfig. Tuan bat uns, Platz zu nehmen, trippelte nun nervös hin und her und meinte dann: „Gut, Sie können hierbleiben, Monsieur Estromelle. Nur eins versprechen Sie mir feierlich: niemandem zu sagen, daß Mautley und Bickpool sich meine Freunde genannt haben! – Haben Sie denn gar nicht die Anschläge auf dem Bahnhof gelesen?! Und – in den Zeitungen stand’s ja auch: Mautley und Bickpool sind Verbrecher geworden, Mörder, Diebe. Ich will mit ihnen nichts mehr zu tun haben.“

Estromelle schüttelte den Kopf. „Aber – die beiden sind doch jetzt hier bei Ihnen. Ich begreife das nicht. Bickpool hat uns –“

Der kleine, spindeldürre Chinese wurde noch nervöser, fuchtelte mit den Armen herum, stierte Harst entsetzt an und platzte heraus: „Wer – wer sind Sie?!“ Sein Gesicht war plötzlich ganz verzerrt. Die Wahrheit schien ihm zu dämmern.

Harst hatte seine Schußwaffe hervorgeholt, hielt sie lässig in der Hand. „Sie vermuten das Richtige,“ meinte er. „Wir sind die, die Sie ersäufen wollten. Ich würde Ihnen raten, Ihren Kopf zu retten zu versuchen. – Wo sind Mautley und Bickpool?“

Tuan war erdfahl geworden. Er stierte Harst wie den bösen Geist an. Seine Lippen zuckten.

„Ich möchte Ihnen nur noch mitteilen, daß Ihr Hotel umstellt ist,“ fuhr Harst fort. „Jene drei Leute dort in der Vorhalle sind Polizeibeamte. Retten Sie Ihren Kopf, Mann! Sie wissen, daß hier in Indien schon ein Mordversuch an einem Europäer mit dem Tode bestraft wird.“

Tuan beleckte sich die Lippen. „Mautley und Bickpool sind sofort abgereist, nachdem – nachdem die Wasserleitung in Tätigkeit getreten war,“ winselte er jetzt. „Ich – ich will alles gestehen, will auch die – die Connings freilassen –“

„Führen Sie uns hin – sofort!“

Tuan schwitzte vor Angst. Hier spielte fraglos noch etwas anderes mit. Dieser Gelbe hatte noch mehr zu verbergen, als wir ahnten. Aber er sah doch wohl ein, daß er verloren war.

„Wenn Sie ein gutes Wort für mich einlegen,“ winselte er wieder „dann – dann –“

„Ja, ich tue es. Sie müssen aber verheimlichen, daß Edward Conning sich von Mautley und Bickpool hat bestechen lassen. Wenn Sie dies für sich behalten, so will ich – Sie entwischen lassen. Weiß noch jemand außer Ihnen von Connings „Geschäft“ mit den Verbrechern?“

„Niemand, Mr. Harst. Niemand.“ –

Er führte uns beide dann wieder treppauf, treppab. Zuerst sahen wir dann Conning wieder. Er lag gefesselt und geknebelt in einem Kellerloch, wo wir ihn nur schwer gefunden hätten. Es stand so ziemlich fest, daß die Schurken ihn hier hatten verhungern lassen wollen.

Gleich darauf öffnete Tuan ein zweites Versteck in diesem verwünschten Fuchsbau. Drei bildhübsche, junge Inderinnen und – Marry Conning waren hier eingesperrt. Um sie am Schreien zu hindern, hatte Tuan ihnen offenbar ein Betäubungsmittel beigebracht. Marry Conning saß auf einem Stuhl, konnte kaum aufstehen, taumelte mit schwachem Freudenruf in die Arme ihres Gatten.

Dann brüllte Harst mit einem Male: „Ah – der schuftige Chinese ist ausgekniffen! Nun – das Haus ist ja umstellt. Er wird der Polizei in die Hände laufen.“

Das tat er natürlich nicht. Er blieb verschwunden. Und – es war gut so. Denn nun konnte Harst dem Detektivinspektor Warton gegenüber Edward Conning weiterhin als Opfer seines Berufseifers hinstellen.

Conning selbst wußte ja ebenfalls Bescheid, was er zu sagen hatte. Und Frau Marry desgleichen. –

Der Hotelbesitzer und Mädchenhändler Tuan wurde nie erwischt. Edward Conning aber ward in Anerkennung seines Pflichteifers zum Polizeichef in Betija ernannt, während der dicke Doorball, der ja schon lange sich aus dem Städtchen fortgesehnt hatte, in gleicher Eigenschaft nach Hadschipur versetzt wurde, was er auch nur Harst zu verdanken hatte. –

Das Ehepaar Conning fuhr schon am Abend desselben Tages, an dem wir es befreit hatten, nach Betija zurück. Wir begleiteten es bis an den Zug. Als die Wagentüren geschlossen wurden, sprang Frau Marry nochmals schnell auf den Bahnsteig, umarmte Harst und küßte ihn auf den Mund. Dabei standen ihr die Augen voll Tränen. – Sie hat es Harst nie vergessen, was er für sie tat. Sie schreibt regelmäßig an ihn. Und in jedem Briefe betont sie, daß sie noch genau so glücklich in ihrer Ehe ist wie damals, als wir sie in Betija kennen lernten.

„So,“ meinte Harald, „die Sache wäre also eingerenkt. Zum zweiten Male wird Conning solche Geschichten nicht anstellen, um Frau Marry mehr verwöhnen zu können. Das Problem der fünf Stecknadeln ist erledigt, und es kommen wieder die fünfzig Millionen und Mautley und Bickpool heran.“

Daß uns die fünfzig Millionen für Monate nach Deutschland zurückführen würden, ahnten wir damals nicht.

Unser nächstes Abenteuer erlebten wir denn auch auf heimatlichem Boden, in Berlin. Ich habe es betitelt:

 

Der Mord im Warenhause.

 

 

Anmerkungen:

  1. „Himalaya-Ketten“ / „Himalayaketten“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Bandübergreifend und einheitlich auf „Himalayaketten“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „uid“.
  3. In der Vorlage steht: „DiamantenGeschichte“.
  4. In der Vorlage steht: „zurückgeegt“.
  5. In der Vorlage steht: „Teil“.
  6. In der Vorlage steht: „naiven“.
  7. In der Vorlage steht: „Staniol“ – Fünf Vorkommen auf „Stanniol“ geändert.
  8. In der Vorlage steht: „zusamenstellen“.
  9. Fehlendes Wort „ihn.“ ergänzt.
  10. In der Vorlage steht: „Gentleman“.
  11. In der Vorlage steht: „Jedenfall“.
  12. In der Vorlage steht: „Blindley“ – Zwei Vorkommen auf „Bickpool“ geändert.
  13. In der Vorlage steht: „Progamms“.