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Der Mord im Warenhause

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 36

 

Der Mord im Warenhause

 

1. Kapitel.

Wir waren hinter den beiden Gaunern Mautley und Bickpool und ihrer Millionenbeute her – seit vierzehn Tagen. Aber wir hatten Pech: immer, wenn wir glaubten, nun hätten wir sie bestimmt eingekreist, entwischten sie uns wieder oder aber – und das war das peinlichere – es stellte sich heraus, daß diese geriebenen Schurken uns gefoppt und uns auf ganz harmlose Leute gehetzt hatten, die dann sehr empört waren, wenn sie vernahmen, für wen sie gehalten wurden. Da gab es denn unserseits viele Entschuldigungen, die stets darin ausklangen, daß Mautley und Bickpool eben Verkleidungskünstler von einer nie gekannten Virtuosität wären.

Was diese beiden Hochstapler und Mörder alles ersonnen, um sich uns endgültig zu entziehen, – damit könnte man Bände füllen. Eine Probe ihrer verbrecherischen Intelligenz habe ich ja dem Leser in unserem vorigen Abenteuer zu kosten gegeben, in „Fünf Stecknadeln“. – Nun, diese Falle damals in Patna hatte uns genügend gewarnt. Zum zweiten Male sollte uns etwas Ähnliches nicht passieren.

Die Sache in Patna lag nun genau zwei Wochen zurück. Wir befanden uns jetzt in Bombay, seit drei Tagen. Harald Harsts Laune war miserabel. Diese Jagd hatte selbst ihn etwas nervös gemacht.

Wir reisten zur Zeit als Mr. Thomas Knoxen nebst Diener Archibald Smuth. Ich spielte Mr. Knoxen, und Harst mimte den Diener mit vollendetem Geschick. Wir wohnten im Hotel Piccadilly und zwar in der sog. Dependance, dem Gartenhause, das mitten im Hotelpark stand und als Bungalow, einstöckig mit umlaufender Veranda, gebaut war.

An Bombay knüpften sich für uns nicht gerade angenehme Erinnerungen. Der Leser der früheren Bände wird sich erinnern, daß wir dort zweimal ganz dicht dem Tode ins Antlitz geschaut haben, wie ich in Band 15 „Der blinde Brahmane“ erzählt habe. –

Es war gegen acht Uhr abends. Ich saß auf der Veranda, die zu unseren Zimmern gehörte, im Liegestuhl, und blätterte in den „neuesten“ deutschen Zeitungen, die bereits 17 Tage alt waren. Das schadete nichts. Es waren deutsche Zeitungen, waren Erinnerungen an die Heimat. Das blieb die Hauptsache.

Harst oder besser mein Diener Archibald Smuth trieb sich in der Stadt umher. Es war jetzt kein Vergnügen, mit ihm dauernd zusammen zu sein. Ein nervöser Mensch ist reizbar. Und Harst ärgerte sich über jede Fliege, die ihn umsummte. Ich erteilte ihm daher sehr gern „Urlaub“, und er hatte auch eigentlich beständig Ausgehzeit.

Die Veranda des Bungalows war durch Holzwände in so und so viele Verschläge abgeteilt. Rechts von uns wohnte seit gestern ein General der indischen Kolonialarmee mit seiner kranken Tochter, die das heiße Klima nicht vertrug und die der besorgte Vater daher nach England zurückbringen wollte. Der General hieß Shaterlain, die Tochter mit Vornamen Bessy. Diese Einzelheiten hatte mein „Diener“ bereits gestern abend festgestellt. Wir mußten ja vorsichtig sein. Der General nebst Tochter hätten ebenso gut Mautley und Bickpool sein können, denn Bickpool trat gern als jüngere Dame auf, war zart und schmächtig und hatte das reine Milchgesicht. –

Ich ließ plötzlich die Zeitung sinken. Nebenan beim General hörte ich erregte Stimmen.

„Es ist nicht wahr,“ rief die Tochter jetzt. „Ich habe niemand während Deiner Abwesenheit empfangen, Pa. Reize mich doch nicht. Entschuldige bitte, daß ich mit diesem „Es ist nicht wahr“ so herausplatzte.“

„He – nicht wahr – nicht wahr!“ polterte der General, der in seinem Ärger ebenfalls nicht bedachte, daß die Nachbarn jedes Wort vernehmen konnten. „Und dies hier, Bessy, – was ist dies hier?! Ich habe mein Lebtag mir die Fingernägel nicht lackiert. Dies hier aber ist ein lackierter, abgebrochener Herrenfingernagel. Nur ein winziges Beweisstück – aber mir genügt es! Dieser dreimal verwünschte Federfuchser, dieser Waschlappen, dieser Geck, – der trug ja stets die Fingernägel lackiert, daß sie nur so blitzten. Richard Gould ist uns gefolgt, und Du hast ihn heute hier in meiner Abwesenheit empfangen. Der Fingernagel – da, sieh ihn Dir nur an! – lag dort drinnen vor meinem großen Koffer auf dem Fußboden.“

Ich hörte jetzt, wie Bessy Shaterlain leise weinte.

„Pa,“ sagte sie dann, „Pa – Mr. Gould war nicht hier. Du tust mir unrecht. Ich habe seit sechs Uhr hier auf der Veranda gesessen und war in meinem Liegestuhl eingeschlafen. Erst Du hast mich soeben aufgeweckt. Und – Du gingst doch um ¾6 erst in die Stadt.“

„Nein – es war fünf Minuten vor 6,“ knurrte der General. „Hm – Du hast mich ja auch noch nie so frech beschwindelt, Bessy. Aber – der lackierte Fingernagel, wie in aller Welt kommt der dort ins Zimmer?“ Sein Ton war versöhnlicher geworden. Ich stellte mir vor, daß er jetzt seiner Tochter vielleicht über das Haar strich.

Dann rief der General mit Donnerstimme:

„Herein!“

Es mußte also jemand Einlaß begehrt haben. Und – jetzt kam die Überraschung: ich erkannte Harald Harsts klares, geschmeidiges Organ, das in der Rolle als Diener noch weicher und bescheidener klang.

„Mr. Shaterlain, Sie entschuldigen. Ich fand vorhin an der rückwärtigen Parkpforte diese Brieftasche. Sie ist leer, aber Ihr Name ist auf der Innenseite in Goldbuchstaben eingepreßt. Ich bin der Diener des neben Ihnen wohnenden Mr. Knoxen. Von dem Zimmerkellner erfuhr ich gestern Ihren Namen. Sie gestatten, daß ich Ihnen die Juchtenledertasche wieder aushändige.“

Harst stand offenbar noch im Zimmer, während er dies sprach, aber immerhin in der Nähe der Verandatür. Der General schwieg ein paar Sekunden. Dann rief er, und ich konnte mir unschwer ausmalen, was für ein Gesicht er dazu machte:

„Verdammt! Wie kommt diese Tasche an die Parkpforte. Und leer – leer?! Sie befand sich doch im Koffer, und es waren nicht nur –“

Plötzliche Pause. Dann – ein förmlicher Wutschrei.

„Ah – der Fingernagel! Und Du, Bessy, Du hast geschlafen. Ich bin bestohlen worden! – Hören Sie mal (und das galt meinem „Diener“), laufen Sie mal zum Hoteldirektor. Er soll mir den Hoteldetektiv schicken und auch gleich der Polizei die Sache melden. Mir sind 10 000 Pfund Sterling aus dem Koffer gestohlen, dazu einige Papiere –“

„Sehr wohl, Mr. Shaterlain. Ich werde alles erledigen.“

Der General wühlte jetzt offenbar im Zimmer den Koffer durch. Er fluchte und wetterte dabei, und seine Tochter weinte wieder. Offenbar machte er ihr Vorwürfe, weil sie bei offener Tür auf der Veranda im Liegestuhl eingenickt war.

Zehn Minuten später erschien Harst. Er winkte mich in unseren Wohnsalon und flüsterte mir zu:

„Dies ist eine glänzende Gelegenheit, schnell und bequem nach Europa zurückzukommen. Denk’ Dir, ich bummele vorhin am Hafen entlang, und – was sehe ich dort: Lord Wolpoores Jacht „India“! Na – das war eine Freude, mein Alter!“

Ich war sprachlos. Weniger über die Anwesenheit der India hier in Bombay, als vielmehr über Haralds Absicht, nach Hause zurückzukehren – nach Berlin! Denn, wenn er auch „Europa“ gesagt hatte, so meinte er doch natürlich Berlin, und zwar Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, wo wir unser nettes, behagliches Heim hatten und Haralds Mutter uns sicher mit Freudentränen begrüßen würde. – Nach Hause! Hatte er etwa die Verfolgung Mautleys und Bickpools aufgegeben?! – Es mußte so sein!

Er lächelte mich jetzt vergnügt an. Er war wie ausgewechselt. Noch mittags hatte er mir mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter gegenübergesessen, und jetzt – jetzt strahlte er geradezu. Sollte lediglich der Anblick der Jacht unseres alten Freundes Wolpoore dies verursacht haben?!

„Nicht war, Du bist platt, mein Alter!“ sagte er nun. „Ich habe Wolpoore gesprochen. Die India geht heute nacht 12 Uhr in See – nach London. Und wir mit. Es ist schon alles vereinbart. Auch Lady Geraldine ist an Bord. Du, das werden reizende Tage werden. Wir kennen die India ja. Wir bekommen wieder unsere alte Kabine. Wolpoore hat sich famos erholt.“

Lord Wolpoore hatten wir vor nicht allzu langer Zeit von seinen unerbittlichen Feinden, den Thug, befreit, jener indischen Mördersekte, die zu Ehren der Blutgöttin Kali[1] ihre Opfer erwürgte. Ich führe dies hier nur so nebenbei an, obwohl unser Kampf gegen die letzten Thug mit das aufregendste war, was wir bisher erlebt hatten. In Band 25, „Die Siegellacktröpfchen“, habe ich hierüber alles Nähere berichtet. –

„Und Mautley und Bickpool und die Edelsteine im Werte von 50 Millionen, die sie geraubt haben?“ fragte ich unsicher, da ich noch immer nicht glauben wollte, daß Harald tatsächlich die Verbrecher einfach laufen lassen wollte.

Er machte eine abwehrende Handbewegung. „Soll ich der beiden Schurken wegen denn ewig hier in Indien sitzen,“ sagte er. „Vielleicht kreuzen sie durch Zufall wieder unseren Weg. Jedenfalls: wir reisen ab!“

Jetzt erst erkannte ich, daß er all das ernst meinte. Und – wer war froher als ich. Mit einer Luxusjacht wie die India und in so lieber Gesellschaft, wie Lord und Lady Wolpoore es waren, nach England zu dampfen und vierzehn Tage etwa sich ausruhen zu können, – das war verlockend genug.

„Unser Gepäck wird um 9 Uhr abgeholt,“ fuhr Harst fort. „Wir müssen also mit dem Packen beginnen. Und auf der India verwandeln wir uns dann schleunigst wieder in Max Schraut und Harald Harst. Ich möchte wirklich wieder einmal ich selbst sein und nicht dauernd, wie in den letzten zwei Wochen, den Verwandlungskünstler spielen.“

Wir gingen in unser gemeinsames Schlafzimmer, wo unsere drei Koffer standen. Harst pfiff vergnügt einen Marsch. Er reichte mir die einzelnen Sachen zu, und ich verstaute sie in den Koffer.

„Du, wie war das denn mit der Juchtentasche, die Du gefunden hast?“ fragte ich nach einer Weile.

„Was geht uns die Geschichte an! – Die Tasche lag dicht neben der Mauerpforte auf dem Rasen, noch innerhalb des Parkes. Ich bemerkte sie, als ich um ½7 aus der Stadt zurückkehrte.“

„Um ½7? – Du hast dem General den Fund doch erst nach 8 Uhr gemeldet. Ja – es war zehn Minuten nach acht.“

„Hm – stimmt genau. Du kennst ja meine Leidenschaft für unseren schönen freien Liebhaberberuf. Ich spürte von ½7 bis 8 dem Diebe nach. Aber ich kam zu spät.“

„Du kamst zu spät?“

„Ja – der Bursche hatte schon eine Kabinenkarte für den Tourendampfer nach Aden, der um ½8 Bombay verließ.“

„Wie – Du hast den Dieb gesehen?“ Ich war abermals sprachlos. Ich begriff Harsts Verhalten nicht.

„Natürlich. Der Kerl räumte die Tasche gerade aus, als ich durch die Parkpforte eintrat. Er stopfte den Inhalt in seine Brusttasche. Bei meinem Anblick tat er ganz harmlos. Aber ich roch doch Lunte, ging nur zum Schein weiter, verbarg mich hinter dem Tennishäuschen und beobachtete so, wie er die Juchtentasche wegwarf. Da habe ich sie denn aufgehoben und bin ihm nachgeschlichen. Wie gesagt: ohne Erfolg.“

„Dann wird die Polizei den Menschen ja bald haben. Sie wird nach Aden telegraphieren, und beim Einlaufen des Dampfers wird –“

„– nichts geschehen,“ vollendete Harst. „Ich werde mich hüten, der Polizei von meinen Beobachtungen Mitteilung zu machen. Sonst hält sie mich als Zeugen hier vielleicht noch Wochen zurück. Ich danke! Dazu habe ich nicht die geringste Lust.“

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Daß Harst einen Dieb entwischen ließ, der doch so leicht zu verhaften gewesen wäre, wollte mir nicht so recht glaublich erscheinen.

„Ich möchte Dich also dringend bitten,“ fügte er hinzu, „genau so hartnäckig diese Einzelheiten zu verschweigen, wie ich es tun werde. Du weißt eben von der ganzen Geschichte gar nichts!“

Wir hatten die Verbindungstür nach dem Wohnsalon offen gelassen. Irgend jemand verlangte jetzt dort durch sehr energisches Pochen Einlaß.

Harst ging öffnen. Und dann kamen zwei Leute hereingestelzt, zwei Europäer, von denen ich den einen, den Hoteldetektiv Greap, bereits von Ansehen kannte.

„Aha – beim Kofferpacken,“ meinte der kleine Greap, der wie ein englischer Jockey aussah. „So – so. Sie beide wollen also plötzlich abreisen. Hm – kann ich nicht mal irgend welche Papiere haben, die Sie beide genügend als Thomas Knoxen und Archibald Smuth legitimieren[2]?“

„Papiere? Ja – die können Sie allerdings haben. Sie sind doch der Hoteldetektiv, nicht wahr?“

„Ja. Und dieser Herr hier ist der Detektivinspektor Karbotter.“

„Freut mich. – Wir reisen morgen vormittag ab. Meine Papiere liegen auf der Kommerzial-Bank. Diese ist heute leider schon geschlossen. Aber morgen um 8 Uhr wird sie geöffnet. Dann können –“

Da trat der Detektivinspektor einen Schritt vor und sagte sehr dienstlich:

„Im Namen des Vizekönigs von Indien verhafte ich Sie beide unter dem Verdacht, den General Shaterlain 10 000 Pfund gestohlen zu haben.“

Die Wirkung dieser Ankündigung war seltsam genug. Mein Diener Archibald besaß die Frechheit, sich in den nächsten Stuhl fallen zu lassen und – so fröhlich mit einer überlauten Lache herauszuplatzen, daß Greap und der Inspektor ihn anstarrten, als hielten sie ihn plötzlich für übergeschnappt.

Dann besann er sich aber schnell auf das Unwürdige und Unangemessene seines Benehmens, stand auf und sagte entschuldigend:

„Bei dieser Szene hätte Ihr Freund Lord Wolpoore mit dabei sein müssen, Mr. Knoxen. Der hätte genau so gelacht.“

Er wandte sich nun an Karbotter.

„Mr. Knoxen braucht Ihnen wohl keine Papiere vorzuzeigen, wenn Lord Wolpoore uns legitimiert. Seine Lordschaft befindet sich auf seiner Jacht India hier im Hafen von Bombay. Die Jacht ankert an den Admiralitäts-Docks. Vielleicht schicken Sie jemand hin und lassen Seine Lordschaft herbitten. Das Zeugnis Lord Wolpoores wird Ihnen wohl genügen.“

Der Inspektor schnauzte jetzt wütend: „Wie, Ihr beiden Spitzbuben beruft Euch noch auf einen so angesehenen Herrn! Solch eine Frechheit! – Sie, Archibald Smuth, sind heute gegen Abend von einer Dame beobachtet worden, wie Sie mit einer roten Brieftasche in der Hand an der hinteren Parkpforte standen, wie Sie weiter die Tasche dann einsteckten, den Park verließen und der Stadt zueilten. Und – Sie sind niemals der Diener dieses kleinen, dicken Menschen da (er meinte mich!), der sich Knoxen nennt und weiß Gott wie in Wahrheit heißen mag! Sie haben sich in diesen drei Tagen ja dauernd in der Stadt umhergetrieben. Welcher Herr gewährt seinem Diener so viel Freiheit?! Master Greap hat Sie zweimal verfolgt, um festzustellen, was Sie treiben, und –“

„– beide Male mußte er mit langer Nase abziehen, da Archibald Smuth nicht gerade auf den Kopf gefallen ist, sondern mit einem Hoteldetektiv allemal fertig wird, das heißt, ihn abschütteln kann,“ führte Harst den Satz mit freundlichem Grinsen zu Ende. – Er war wirklich famoser Laune. Und dann konnte er über Leute, die sich vor Würde und Ehrbarkeit so aufbliesen wie dieser Greap und der noch recht junge Inspektor, in für andere höchst ergötzlicher Weise mit Worten herfallen.

Natürlich war Mr. Karbotter über die neue Frechheit geradezu verblüfft. Man sah es seinem Gesicht an. Bevor er sich noch zu einer Entgegnung hatte aufraffen können, fuhr Harst schon fort:

„Mein Herr hält es für unter seiner Würde, auf so lächerliche Anschuldigungen sich zu verteidigen. Ich werde Ihnen in Ihrem Interesse, Mr. Karbotter, um Sie nämlich vor einem amtlichen Rüffel zu bewahren, eine Photographie des Lords und seiner Familie hervorsuchen, auf der eine Widmung steht. Dann werden Sie wissen, wer Mr. Knoxen ist, – jedenfalls ebensowenig ein Dieb wie ich!“

Karbotters Gesicht zog sich beträchtlich in die Länge, als er dies las. Dann aber meinte er:

„Das Bild können Sie gestohlen haben, um sich dadurch mal aus der Schlinge ziehen zu können.“

 

2. Kapitel.

In demselben Augenblick klopfte es abermals an die Salontür. Harst ging ins Nebenzimmer, öffnete und kam – mit Wolpoore ins Schlafzimmer zurück. Er eilte nun sofort auf mich zu, rief:

„Mein lieber Knoxen, wie unendlich freue ich mich, Sie hier wiederzusehen!“

Wir schüttelten uns die Hände.

Harst sagte dann mit tiefer Verbeugung:

„Mr. Knoxen und ich sind hier soeben als Diebe verhaftet worden, Mylord.“

Wolpoore schaute Karbotter und Greap fragend an.

„Ich bin Lord Wolpoore,“ erklärte er gelassen. „Ich bürge für Mr. Knoxen und seinen Diener.“

Wolpoore ist der reichste Mann Indiens. Er ist in Indien etwa genau so populär wie ein Milliardär in Amerika.

Der Inspektor stammelte verlegen:

„Unter diesen Umständen allerdings nehme ich die Verhaftung zurück, obwohl die Tatsachen den Diener schwer belasten, Mylord.“

„Bitte – in welcher Weise?“ fragte Wolpoore.

Karbotter erzählte. Der Lord wandte sich dann an Archibald Smuth.

„Nun, Smuth, – wie steht’s damit?“

„Es ist richtig, Mylord, ich hob die Tasche auf, steckte sie zu mir und ging nach der Stadt. Dies tat ich, weil ich, kurz bevor ich die Jackentasche fand, einem Manne begegnet war, der mir durch sein scheues Benehmen auffiel. Wenn ich den General Shaterlain mal sprechen könnte, würde ich vielleicht etwas Licht in die Angelegenheit bringen.“

Wir gingen zu Shaterlain hinüber. Smuth-Harst fragte diesen, ob er und seine Tochter auf der Reise von Agra nach hier (der General stand in Agra in Garnison) irgend welche Reisebekanntschaften gemacht hätten.

„Ja,“ erwiderte Shaterlain. „Wir lernten da einen jungen Reverend (Geistlichen der anglikanischen Kirche) kennen, einen sehr netten Herrn.“

„Hm,“ meinte mein „Diener“, „hatte der Reverend ein bartloses, zartes Gesicht, weichliche Züge, eine sehr schmächtige Figur und lackierte Fingernägel?“

„Allerdings,“ nickte der General.

„Nun – derselbe Mann hat Sie dann bestohlen, Mr. Shaterlain. Er war es, dem ich außerhalb der Parkpforte begegnete und dem ich folgte, weil der Kerl mir kein reines Gewissen zu haben schien. Leider entschlüpfte er mir dann.“

Lord Wolpoore fragte den Inspektor jetzt: „Halten Sie Smuth noch für einen Dieb?“

„Nein, Mylord. Die Sache ist ja nun völlig geklärt. Dieser angebliche Reverend wird wohl schon in der Eisenbahn beschlossen haben, den General zu bestehlen, bei dem er größere Geldbeträge[3] vermutete.“

Shaterlain wetterte jetzt los. „Ah – dieser scheinheilige Halunke! Er hat sich von mir Kleingeld in eine 100-Pfundnote umwechseln lassen. Zu diesem Zweck holte ich die Juchtentasche aus meinem Koffer heraus. Da muß er gesehen haben, daß sich ein großer Betrag darin befand! So ein Lump.“

Greap und Karbotter verabschiedeten sich schleunigst.

„Ich werde sofort auf diesen Menschen fahnden lassen!“ sagte der Inspektor. „Auf Wiedersehen, – wir werden ihn bald haben.“

Na – darin täuschte er sich nun. Denn Harst verschwieg ja das Wichtigste: daß der falsche Reverend bereits nach Aden unterwegs war! – Mir blieb Harsts Verhalten rätselhaft. – Als wir um elf Uhr abends dann im Salon der Jacht Lord und Lady Wolpoore gute Nacht sagten und in unsere Kabine gingen, als wir nun wieder Harst und Schraut waren und ungestört uns unterhalten konnten, fragte ich:

„Nun tu’ mir einen Gefallen, Harald, und erkläre mir, weshalb Du diesen Spitzbuben entkommen läßt?! Nachdem Du Karbotter schon die Hälfte der Wahrheit mitgeteilt hattest, konntest Du ihm doch auch die andere Hälfte erzählen, ohne fürchten zu müssen, daß er Dich als Zeugen noch in Anspruch nehmen würde. Man hätte das Signalement des Diebes nach Aden depeschieren können, und der General würde den Verhafteten dann als den Reverend –“

Harst saß in einem Sessel mit weit ausgestreckten Beinen, als ich, vor ihm stehend, ihm dies klarmachte und ihn zu einer erschöpfenden Erwiderung veranlassen wollte. Er ließ mich jetzt nicht aussprechen, sondern meinte nach sehr energischem Kopfschütteln, das mich etwas aus dem Text brachte:

„Max Schraut, Du solltest Dich mit Greap und Karbotter zusammentun und eine Detektei eröffnen. Ihr würdet glänzende Mißerfolge haben! – Weißt Du denn immer noch nicht Bescheid?!“

Ich strengte mein Hirn gehörig an. Was sollte diese Frage?! In welcher Beziehung sollte ich Bescheid wissen?!

Ich zuckte schließlich die Achseln. „Deine Scherzrebusse sind meist zu schwierig für den Durchschnittseuropäer,“ brummte ich.

Er gähnte ungeniert. „Na, dann lassen wir die Geschichte ruhen. Kommt Zeit, kommt Erleuchtung.“

Er begann sich zu entkleiden. Es hätte keinen Zweck gehabt, weiter in ihn zu dringen. Eine seiner Hauptschwächen ist nun mal die Geheimniskrämerei. Er nennt das zu seiner eigenen Entschuldigung: die Trümpfe erst ganz zuletzt zeigen.

Die Reise bis London verlief ohne jeden Zwischenfall und war eine köstliche Erholungszeit. In London blieben wir mit Wolpoores noch fünf Tage zusammen. Harst sprach nie mehr von Mautley und Bickpool und den ungeschliffenen Diamanten im Werte von 50 Millionen, die die Gauner aus der Eishöhle in Nepal herausgeholt hatten und die eigentlich Harsts Eigentum waren, wie der Leser noch aus unserem vorletzten Abenteuer wissen wird. Als Wolpoore ihn einmal gefragt hatte, ob er denn die Verfolgung der beiden „Verwandlungskünstler“ völlig aufgegeben hätte, erwiderte er etwa dasselbe, was er schon mir in Bombay erklärt hatte:

„Vielleicht laufen sie uns zufällig über den Weg.“ Aber er fügte noch mit feinem Lächeln hinzu: „Auch der Zufall läßt sich ja korrigieren.“

Und von diesem Moment an, wo er diese Äußerung getan hatte, beobachtete ich ihn und sein Tun und Lassen aufs schärfste. Ich wollte herausbringen, wann er beginnen würde, „den Zufall zu korrigieren“, denn – für mich stand jetzt fest, daß er mir weit mehr verschwieg, als ich ahnte, und daß er noch immer hinter den 50 Millionen her war. –

Von London fuhren wir nach Amsterdam. Harst liebte diese alte, merkwürdige Stadt. Das wußte ich vor früher her. Hier hatten wir vor anderthalb Jahren das Geheimnis des „Löwen von Flandern“ aufgedeckt und dabei böse Erfahrungen mit der Inneneinrichtung der schmalbrüstigen Häuser im ältesten Viertel von Amsterdam gemacht. Wir blieben hier fast eine Woche. Harst – und das fiel mir sehr bald auf – suchte stets neue Vorwände, ohne mich auszugehen. Als ich dies merkte, spielte ich ein wenig Komödie, tat so, als meldete sich mein altes Ischiasleiden, und erklärte, nicht viel umherlaufen zu wollen. So konnte er dann sehr bequem seine eigenen Wege wandeln. Am vierten Tage schlich ich ihm jedoch vormittags nach. Er bummelte planlos durch die Straßen und – war plötzlich verschwunden. Als ich dann noch hinter der Bude eines Fischhändlers stand und nach ihm ausspähte, bekam ich plötzlich einen gelinden Rippenstoß, fuhr herum und schaute in Harsts vergnügt grinsendes Gesicht.

„Abgefaßt, mein Alter! Kehre nur ruhig um und schone Deine Gebeine! Das, was ich hier vorhabe, muß ich allein erledigen.“

Damit ging er davon. Ich dachte sofort an „Zufall korrigieren.“ Ohne Zweifel: er mußte Mautley und Bickpool hier aufgespürt haben.

Noch drei Tage verstrichen in derselben Weise. Dann reisten wir zu meiner Enttäuschung nach Pforzheim weiter. Wir fuhren Schlafwagen, hatten zwei Kabinen 1. Klasse nebeneinander. Die Verbindungstür stand offen, als wir uns entkleideten. Der Zug hatte vor einer halben Stunde Amsterdam verlassen. – Ich stellte mich in die Verbindungstür. Ich wollte Harald jetzt beweisen, daß ich recht gut wüßte, was er in Amsterdam getrieben hätte.

„Na – hast Du Mautley und Bickpool entdeckt?“ fragte ich.

Er saß auf dem Bettrand und rauchte. Seine tadellose Laune war seit kurzem wieder bedenklich abgeflaut.

„Leider nein,“ antwortete er. „Oder – genauer ausgedrückt: ich habe sie verscheucht. Ich hätte nicht so leichtsinnig als Harald Harst mich auf der Straße zeigen sollen. Am dritten Tage hatte ich ihre Fährte gefunden. Sie wohnten in einem kleinen Gasthof. Aber – noch am selben Tage verdufteten sie. Und ich konnte sie nirgends mehr aufstöbern.“

„Nun hoffst Du sie in Pforzheim zu finden?“

„Vielleicht –“

Harst hatte jetzt wieder seine schweigsamen Tage. In Pforzheim ging er jedoch vorsichtiger zu Werke. Wir verließen den Zug bei der Ankunft einzeln und waren zwei sehr würdige, ältere Herren geworden, wohnten auch in verschiedenen Hotels. Fünf Tage durfte ich mir die Stadt ansehen. Dann ging’s weiter – nach Berlin. Wir reisten zwar in demselben Zuge, kannten uns aber scheinbar nicht. Alles war für Berlin genau verabredet. Wir stiegen im Zentral-Hotel am Friedrichstraßenbahnhof ab, nahmen Zimmer, die nur durch zwei andere voneinander getrennt waren, und verkehrten lediglich durch Zettel, die wir uns ganz unauffällig zusteckten.

Harst hatte doch fraglos die größte Sehnsucht, seine Mutter zu begrüßen, die ja in Berlin-Schmargendorf wohnte. Aber er bezwang sich! Und dieser Verzicht im Verein mit den anderen Vorsichtsmaßregeln sagten mir ganz klar, daß er Mautley und Bickpool hier in Berlin vermutete.

Den ersten Zettel steckte er mir am Abend des dritten Tages zu.

„Lies das heutige 7-Uhr Abendblatt. Ich habe von Pforzheim aus an Wolpoore geschrieben und er hat die Nachricht in die Londoner Blätter hineinlanziert.“

Ich verbrannte den Zettel, kaufte mir die Zeitung und ging in den Kerkau-Palast, um als leidenschaftlicher Billardspieler wenigstens dem Spiel anderer zuzuschauen. Hier sah ich das Blatt durch.

Auf der ersten Seite fiel mir sofort ganz oben die Riesenüberschrift auf:

Der geheimnisvolle Mord im Warenhause Michael.

Nun – diesen Artikel wollte ich mir für nachher aufsparen. Ich suchte also zunächst nach einer Notiz unter „Letzte Depeschen“. Und ich fand auch sehr bald das heraus, was Harst einzig und allein gemeint haben konnte.

Da stand:

„Wie Londoner Blätter melden, ist der berühmte Detektiv Harald Harst vor 12 Tagen zusammen mit dem bekannten Plantagenbesitzer Lord Wolpoore in London eingetroffen. Vorgestern ist des Lords Jacht mit Harald Harst und dessen Freund und Privatsekretär Schraut an Bord nach Madeira in See gegangen, nachdem Harst einen kurzen Abstecher nach Holland und Deutschland gemacht hatte. Man nimmt in London an, daß diese Reise nach Madeira mit dem Verschwinden des Londoner Anwalts Charleton in Verbindung steht, der auf Madeira eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln hatte und dort von einer Fahrt ins Innere nicht mehr zurückgekehrt ist. Es ist sehr zu bedauern, daß Harald Harst seine immensen Fähigkeiten gerade jetzt der Berliner Polizei nicht zur Verfügung stellen kann, wo doch der Mord im Warenhause Michael unsere Kriminalpolizei vor eine anscheinend überaus schwierige und ebenso außergewöhnliche Aufgabe stellt.“

Ah – also das war’s! Harst hatte diesen Anwalt Charleton sehr wahrscheinlich glatt erfunden, um diese angebliche Seereise nach Madeira glaubwürdiger zu machen. Die Notiz war für Mautley und Bickpool bestimmt. Auch das unterlag keinem Zweifel. Sie sollten sich hier in Berlin recht sicher fühlen.

Hm – ob diese geriebenen Schurken auf diesen Trick hereinfallen würden?! Ich hatte meine großen Bedenken.

Dann nahm ich mir den langen Artikel auf der ersten Seite vor. Ich will daraus alles Unwichtige weglassen.

„Gestern am 9. Mai morgens um ¾8 fanden Angestellte des Warenhauses Michael, wie wir schon kurz meldeten, in der Reparaturwerkstatt für Goldwaren im 4. Stock den Goldarbeiter Ernst Bickel mitten in dem langgestreckten Raume vor seinem Arbeitstische auf dem Fußboden tot auf.

Bickel war unverheiratet, 27 Jahre alt, von kleiner Statur, etwas verwachsen und ein sehr wenig umgänglicher Mensch. Er wohnte in Moabit in der Sickingenstraße 158, wo er bei der Witwe Schultz im Vorderhause ein Zimmer mit Flureingang seit einem Jahr innehatte. Ebenso lange gehörte er als Angestellter auch dem Warenhause Michael an. Er lebte früher im Auslande. Wo, konnte nicht festgestellt werden. Bickel sprach nie über seine Vergangenheit. Seine Lehrzeit hat er in Stettin bei dem Goldarbeiter Selig durchgemacht. Mit 19 Jahren verließ er Deutschland und kehrte erst vor einem Jahre zurück. Er war ein fleißiger, geschickter Arbeiter, jedoch wenig beliebt bei den anderen Angestellten des bekannten Kaufhauses.

In der Reparaturwerkstatt befinden sich vier Arbeitstische. Den am weitesten links, zugleich den von der Eingangstür entferntesten, benutzte der Ermordete. Vor diesem Tische lag er auf dem Rücken, als seine Kollegen Martin und Schmolk gegen ¾8 den Reparaturraum betraten, zu dessen eiserner Tür jeder der vier Goldarbeiter einen Schlüssel besaß. Diese Tür war verschlossen gewesen.

Bickels Kollegen ahnten sofort, daß hier etwas ganz Außergewöhnliches vorgefallen sein müsse, obwohl der Tote außer einem verzerrten Gesicht nichts sonstwie Auffallendes an sich hatte. Aber die verschlossene Tür gab den beiden Goldarbeitern sofort zu denken, da ja derjenige, der von den vier Kollegen als erster morgens den Raum betrat, stets die Tür offenließ. Sie glaubten zuerst an einen Selbstmord. Bickel war in der letzten Zeit noch mürrischer und wortkarger gewesen! Er hatte ganz den Eindruck gemacht, als quäle ihn ein geheimer Kummer. Er hatte die Angewohnheit, bei der Arbeit leise Selbstgespräche zu führen. Des öfteren hatten seine Kollegen, besonders der rechts neben ihm sitzende Schmolk deutlich gehört, wie Bickel vor sich hinmurmelte: „Geld haben – nur Geld haben!“

Die Annahme des Selbstmordes ließen Martin und Schmolk jedoch sofort wieder fallen. Sie sahen nämlich, daß der an der Wand neben Bickels Arbeitstisch stehende Stahlschrank, ein Tresor älterer Konstruktion, offen war. In diesem Schranke wurden die wertvolleren Werkzeuge, die Reparaturstücke und das für die Reparaturen nötige Edelmetall aufbewahrt. Den Schlüssel zu dem Panzerspind hatte Martin, der älteste der vier, in Verwahrung. Er verließ auch stets als letzter die Werkstatt. Er pflegte den Schlüssel, um ihn nicht bei sich tragen zu müssen, in der Werkstatt zu verstecken, und zwar in einer Art Geheimfach, das er sich selbst in den Schubladen seines Arbeitstisches hergestellt hatte und von dem er annahm, nur er hätte davon Kenntnis.

Als er jetzt den Tresor offen sah und den Schlüssel im Schlüsselloch bemerkte, hegte er sofort den Verdacht, der Schlüssel könnte aus dem Geheimfach herausgenommen worden sein. Er sah nach und tatsächlich: der Schlüssel fehlte.

Er teilte nun Schmolk diese Einzelheiten mit. Sie verließen die Werkstatt, schlossen hinter sich ab und trafen jetzt mit ihrem vierten Kollegen Welski zusammen. Die Polizei wurde telephonisch verständigt, und bereits eine Stunde drauf war festgestellt, daß Bickel durch einen Stich mit einem schmalen Dolch, der vom Rücken aus das Herz durchbohrt hatte, getötet worden war. Der Tod mußte etwa zwischen 1 und 4 Uhr morgens erfolgt sein. Mithin hatte Bickel sich nachts irgendwie in Begleitung des Mörders in das Warenhaus und in die Werkstatt eingeschlichen und war dann von seinem Begleiter niedergestochen worden.

Die Absicht, die die beiden in das Kaufhaus geführt hatte, war aus dem völlig geplünderten Tresor ersichtlich. Es fehlten sämtliche Goldsachen und auch der geringe Bestand an Edelmetall. Doch ist die Beute des Mörders, der seinem Genossen den Anteil nicht gegönnt haben mag, recht gering. Der Gesamtwert der gestohlenen Sachen beträgt kaum 2000 Mark.

Die Ermittelungen der Kriminalpolizei setzten sofort ein. Man erkundigte sich aufs genaueste, mit wem Bickel in letzter Zeit verkehrt hatte. Seine Wirtin, Frau Schultz, bestätigte jedoch nur das, was im Kaufhaus Michael allgemein bekannt war: daß Bickel mit niemandem Umgang hatte, daß er nie Besuch empfing und ganz für sich allein lebte.

Sie gab ferner an, daß Bickel häufig die Abende in ihrer und ihrer einzigen Tochter Gesellschaft zugebracht hatte. Dann taute er stets auf, wurde gesprächig und erzählte viel von fremden Ländern und Städten.

Die Kriminalpolizei hat inzwischen auch ermittelt, wie Bickel und sein Mörder in das große Gebäude hineingelangt waren. Sie sind vom sogenannten Versandhofe aus an einer der eisernen Feuerleitern bis zum vierten Stock emporgeklettert, haben hier die Fensterscheibe eines Waschraumes eingedrückt und konnten von hier aus sofort hinter der kaum acht Schritt entfernten Tür der Werkstatt verschwinden.

Dies sind die bisherigen Resultate der Untersuchung. Man kann sie nicht gerade als vielversprechend bezeichnen. Die Arbeit der Kriminalpolizei wird noch dadurch erschwert, daß man in Bickels Zimmer auch nicht einen einzigen Fetzen Papier fand, der über seine Vergangenheit oder seine sonstigen Lebensgewohnheiten und Neigungen Aufschluß gegeben hätte. Erwähnt sei noch, daß die Leiche völlig ausgeplündert war. Auch die goldene Taschenuhr nebst Kette und die Krawattennadel, ebenso die Schlüssel hat der Mörder mitgenommen.“

 

3. Kapitel.

Während ich las, hatte an meinem Marmortischchen ein blasser Mensch mit über der Nase fast zusammengewachsenen starken schwarzen Augenbrauen, einem hochgedrehten schwarzen Schnurrbart und in die Stirn gekämmter Pomadenlocke mit einem kurzen: „Ist wohl frei, der Stuhl?“ Platz genommen.

Es war das so der Typ von „Kavalier“, wie man ihn in den Verbrecherkneipen in Berlin N regelmäßig antrifft. Ich hatte mich um den Menschen nicht weiter gekümmert, der zwei Spieler am nächsten Billard durch heisere, freche Zwischenrufe kritisierte und mich durch diese halblauten Bemerkungen bei meiner interessanten Lektüre nicht wenig störte.

Denn – für den „Fachmann“ bot dieser Mord in der Tat allerlei Momente, die ihn zu etwas Besonderem machten. Das war meiner Überzeugung nach ein Verbrechen, hinter dem mehr steckte, als der Laie vermuten konnte.

Ich hatte die Zeitung in den Schoß sinken lassen und starrte nachdenklich vor mich hin. – In Ernst Bickels Vergangenheit gab es fraglos manches, was er zu verbergen hatte. Das war der eine beachtenswerte Punkt. – Dann: Bickels Selbstgespräche, aus denen die Sucht nach Reichtum sprach. Weiter: Bickel mußte doch gewußt haben, daß sich in dem Tresor –

Hier riß mein Gedankenfaden jäh ab. Mein Tischnachbar beugte sich vor und krächzte mit seiner heiseren Säuferstimme:

„Nicht wahr – und von wejen 2000 Märker! Der Bickel kannte doch den Inhalt des Stahlschranks! Und deshalb setzt er sich der Jefahr aus, bei die Kletterpartie abjefaßt zu werden, – wejen so ’ne Kleinigkeit – lump’je zwee Braune!“

Ich blickte den blassen Menschen erstaunt an. Genau das, was er soeben ausgesprochen hatte, wollte ich ja soeben in Gedanken verarbeiten.

Der Blasse hatte ganz kleine, zugekniffene Augen. Jedenfalls sah er nicht vertrauenerweckend aus. Auf der Linken trug er riesige Brillantringe, natürlich Simili. Das zeigte mir ein prüfender Blick. Ich hatte gerade in Indien gelernt, in dieser Beziehung Spreu vom Weizen zu scheiden.

Ich nickte nun. „Sie haben ganz recht. Wenn in diesem Tresor noch für 50 000 Mark Gold gelegen hätte! Aber so?!“ – Ich hatte keinen Grund, mich diesem „Kavalier“ gegenüber ablehnend zu verhalten. Er war sicherlich auch „Fachmann“ in solchen Dingen. Nur Fachmann von der – Gegenpartei.

„Hm – vielleicht wollte der Mörder auch was aus dem Schranke stehlen, das bisher niemand ahnt,“ schmunzelte er jetzt so recht pfiffig. – „Wissen Sie, gehn wir beide in die Winzerstuben. Da kann man ungestörter reden. Ich brauch’ einen, der so ’n bißken det Gras wachsen hört –“

Diese Aufforderung erschien mir denn doch reichlich verdächtig. Der Mensch brauchte einen, der – das Gras wachsen hörte! Das klang ganz so, als hielt er mich für einen von seiner Zunft.

Ich schaute ihn mir jetzt mit Polizeiaugen an. Leider war es im Billardsaal an den Wandtischen nur mäßig hell. Ich hätte mir den Burschen zu gern bis ins kleinste angesehen. – Er wurde nicht im geringsten verlegen unter meinem Blick. Um seinen Mund lag noch immer das pfiffige Schmunzeln. Im Mundwinkel hing ihm eine frische Zigarette. Jetzt strich er ein Streichholz an. Die Flamme beleuchtete sein Gesicht. Und ich – ich hätte beinahe vor Überraschung einen Namen gerufen – einen sehr bekannten Namen! Denn die bisher so eng zusammengekniffenen Augen hatten sich aufgetan, waren jetzt groß und klar, waren von jenem dunklen Grau, das die Farbe polierten, bräunierten[4] Stahles hat.

Es war – Harald Harst, der mir gegenübersaß. Aber es war wieder dieselbe krächzende, eigentümlich röchelnde Stimme des Berlin N-Kavaliers, die jetzt sagte:

„Kommen Sie man mit. Ick weeß ja, Angstmeier und Kompagnie ist Ihnen fremd.“

Er rief den Kellner herbei. Wir zahlten und verließen den Kerkau-Palast, stiegen sofort in eins der draußen vorgefahrenen Autos und glitten nun die Linden entlang.

Harst hatte sich dicht neben mich gesetzt. „Na, mein Alter, – feine Maske, wie?! – So sehe ich als Robert Jeschke, Versicherungsagent aus; so wohne ich in der Sickingenstraße 158, vorn eine Treppe, bei Witwe Therese Schultz, – seit heute abend, seit anderthalb Stunden.“

Diese Mitteilung enthielt Stoff zu so unzähligen Fragen, daß ich nicht wußte, wo ich mit diesen Fragen beginnen sollte. Ich sagte daher auf gut Glück:

„Wie konntest Du wissen, daß ich mich im Kerkau-Palast befand?“

„Oh – das Mieten ging schnell. Nachdem ich Dir den Zettel zugesteckt hatte, machte ich aus mir schleunigst Robert Jeschke, fuhr im Auto nach der Sickingenstraße, zahlte für 14 Tage die Miete im voraus, fuhr wieder nach dem Zentral-Hotel und begegnete Dir in der Vorhalle, kehrte um und blieb hinter Dir. Du mußt Dich auf Deinem Zimmer noch 42 Minuten aufgehalten haben, nachdem ich Dir den Zettel in die Hand gedrückt hatte.“

„Stimmt. – Und wenn Du mich nicht mehr angetroffen hättest?“

„Nun – dann hätte ich Dir einen Brief hinterlassen, in dem vielleicht eine Dame Dich um 1 Uhr nachts dort und dort wiederzusehen wünschte. So aber ist es besser. Wir verlieren keine Zeit.“

„Also hast Du etwas vor?“

„Allerdings. Sogar verschiedenes. – Es ist jetzt ½10. Ich habe Frau Schultz gebeten, aufzubleiben und für mich und zwei Bekannte ein einfaches Abendbrot bereitzuhalten. Es wird ganz interessant werden. Es ist der Auftakt zu größeren Ereignissen.“

„Bitte – tu’ mir einen Gefallen und sprich nicht wieder in Rätseln. Zwei Bekannte? Der eine bin ich. Wer ist der Andere?“

„Den holen wir jetzt ab. Er heißt Richard Gould.“

„Richard Gould?“ meinte ich grübelnd. „Der Name klingt mir so bekannt.“

„Genau so klang er mir, als ich ihn in der Fremdenliste des Eden-Hotels las. Und deshalb suchte ich diesen Gould vormittags auf. Das heißt: ich richtete es so ein, daß ich seine Bekanntschaft wie zufällig machte. Und nach fünf Minuten – ich spielte einen Engländer Mr. Balker – wußte ich: es war der rechte!“

Mir wirbelte es jetzt im Schädel immer mehr wie ein Schneeflockenfall von Vermutungen, ungelösten Fragen und seltsamen Tatsachen umher.

„Ich habe Gould versprochen,“ hatte Harald schon hinzugefügt, „ihn zu einer Bummeltour durch Berliner Nachtlokale abzuholen – um ¾10. Wir werden pünktlich vor dem Eden-Hotel sein. Er soll draußen auf und abgehen.“

Unser Auto bog bereits in das östliche Ende des Kurfürstendamms ein. Hier kannte ich mich aus. Es war ja Berlin – meine, unsere Heimat.

Gleich darauf stieg ein überschlanker, bartloser, jüngerer Herr zu uns ins Auto. Harst stellte – in englischer Sprache – vor:

„Mr. Gould – Mr. Knoxen, ein Geschäftsfreund von mir.“

Dann rief Harst dem Chauffeur durch das kleine Fenster zu: „Bahnhof Beusselstraße.“ – Der liegt ganz in der Nähe der Sickingenstraße. Es ist ein Bahnhof des Nordringes der Berliner Stadtbahn.

Im Auto brannte die kleine elektrische Deckenlampe. Ich hatte mir inzwischen diesen Richard Gould genauer angesehen. Ich schätzte ihn auf 30 Jahre. Sein Gesicht war sympathisch, nur trat ein melancholischer Zug darin scharf hervor. – Wer in aller Welt war nun dieser Gould? Weshalb schleppte Harst ihn nach seinem neuen Heim, und weshalb hatte Harst sich gerade dort eingemietet, wo der ermordete Goldarbeiter gewohnt hatte?

Harst unterhielt sich mit Gould über das Berliner Nachtleben.

„Ich brauche Zerstreuung,“ sagte Gould jetzt und seufzte. „Ich habe hier alle meine Hoffnungen zu Grabe getragen.“

„Darüber sprechen wir nachher in Ruhe, Mr. Gould,“ meinte Harst. „Wir fahren zunächst nach meiner Wohnung. Ich habe dort noch etwas Dringendes zu erledigen.“

Ich sah, daß Goulds Gesicht sich veränderte. Er schien argwöhnisch zu werden. Und dann erklärte er auch ganz offen:

„Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, Mr. Balker. Aber wir kennen uns kaum. Und in einer Weltstadt wie Berlin muß man vorsichtig sein. Ich werde Ihre Wohnung nicht betreten.“

„Wie Sie wollen, Mr. Gould. Ich hätte Ihnen nur gern so ein wenig geholfen. Vormittags deuteten Sie an, daß eine Liebesaffäre Sie hier nach Berlin geführt hat. Sie kamen mir so sehr bedrückt vor. Ich bin ein Mann von reichen Lebenserfahrungen, und –“

Da hielt das Auto schon am Bahnhof Beusselstraße. Wir stiegen aus. – „Warten Sie,“ sagte Harst zu dem Chauffeur. „Hier haben Sie das bisherige Fahrgeld und ein Trinkgeld.“

Wer die einsame Gegend dort am Bahnhof Beusselstraße kennt, wird begreifen, daß Gould jetzt noch mißtrauischer wurde.

„Was wollen Sie eigentlich von mir?!“ fragte er Harst erregt und trat noch mehr in den Lichtschein des Bahnhofsgebäudes hinein. „Sie bringen mich hier in eine so abgelegene Gegend, daß ich –“

Harst zuckte die Achseln, unterbrach den Engländer kurz und sagte: „Sie tun mir unrecht. Ich weiß, daß Sie Miß Bessy Shaterlain lieben. Sie sind ihr und ihrem Vater von Indien aus gefolgt. Der General ist gegen diese Partie. Sie als Redakteur der englischen Zeitung in Agra sind ihm als Schwiegersohn nicht angenehm. Bessy aber erwidert Ihre Neigung; ihre Krankheit war nicht so schlimm, daß sie Indien hätte verlassen müssen. Der General wollte Bessy aber aus Ihrer Nähe entfernen.“

Richard Gould war genau so maßlos überrascht wie ich, stotterte jetzt: „Woher kennen Sie alle diese Einzelheiten, Mr. Balker?“

„Ich wohnte in Bombay Tür an Tür mit den beiden Shaterlains. Eines Abends irrte ich mich in der Tür, betrat so das Wohngemach des Generals und hörte eine Unterhaltung mit an, die Vater und Tochter auf der Veranda führten. Ich zog mich leise wieder zurück, klopfte nachher nochmals an und gab Shaterlain seine Brieftasche, die ich im Parke gefunden hatte.“

Gould schüttelte noch immer ganz verwirrt den Kopf.

„Wer – wer sind Sie eigentlich, Mr. Balker? Vormittags trugen Sie einen Vollbart und erklärten mir, Sie würden sich für den Abend etwas anders zurechtstutzen. Mr. Balker, Sie sind – Detektiv und stehen im Sold des Generals, der jetzt seine Tochter wirklich so weit hat, daß – ich für sie Luft bin –“

„Gut – klären wir die Situation, Mr. Gould,“ meinte Harst. „Ja, wir sind Detektive. Aber im Solde des Generals stehen wir nicht. Mein Wort darauf. Die Sache ist die: wir verfolgen Verbrecher, schon von Indien aus. Wir haben in Pforzheim die Fährte dieser Gauner verloren, wissen nur, daß sie sich nach Berlin gewandt haben. Ihnen, Mr. Gould, ist wohl bekannt, daß der General in Bombay bestohlen wurde. Im Zuge von Agra nach Bombay –“

„Danke – weiß Bescheid. Stand ja alles in den Zeitungen.“

„Schön. Also dieser Reverend, der sich da an den General angepirscht hatte und ihm nachher 10 000 Pfund stahl, war einer der Verbrecher, die wir suchen. Ich habe nun hier in Berlin die Fremdenlisten der großen Hotels durchgesehen, da Gauner vom Schlage der Leute, hinter denen wir her sind, sich in solchen Massenquartieren, wo niemand auf sie achtet, stets am sichersten fühlen. So entdeckte ich Ihren Namen, Mr. Gould. Ich machte Ihre Bekanntschaft lediglich zu dem Zweck, um von Ihnen zu erfahren, wo der General und seine Tochter sich jetzt aufhalten. Da Sie hier in Berlin waren, vermutete ich die Shaterlains gleichfalls hier. Und da der General sehr reich ist und sich schon einmal von unseren Gaunern so leicht hat bestehlen lassen, dachte ich – unsereiner muß ja jede Möglichkeit in Betracht ziehen – daß unser „Wild“ vielleicht nur des Generals wegen von Pforzheim nach Berlin gereist wäre, – eben um ihn ein zweites Mal zur Ader zu lassen. – Begreifen Sie jetzt schon den Zusammenhang? Wir haben die Fährte verloren, und ich hoffte nun, die Verbrecher könnten sich wieder an den General herandrängen und wir auf diese Weise –“

„Ich verstehe,“ nickte Gould mit einem weit freundlicheren Gesicht. „Sie wollten so hintenrum mich aushorchen, ohne sich als Detektive zu erkennen zu geben. Nun – Sie taten sehr klug daran, jede Möglichkeit, also auch mich, zu berücksichtigen. Der General war mit Bessy zuerst in London. Leider bekam er mich dort zu Gesicht. Da hat er denn ganz heimlich London verlassen und ist nach Hamburg weitergereist, von da nach München. Hier holte ich Vater und Tochter ein, und Bessy konnte mir bei einem kurzen Wiedersehen mitteilen, der General wolle später nach Berlin. Er muß dann jedoch abermals von meiner Anwesenheit in München Wind bekommen haben und verstand es diesmal so gut, jede Spur hinter sich zu verwischen, daß ich schließlich auf gut Glück hierher fuhr. Vielleicht waren die Shaterlains schon in Berlin, sagte ich mir. Ich habe dann sechs Tage alle Hotels und Pensionen abgesucht, habe auch die Hilfe einer Detektei in Anspruch genommen. Sehen Sie, Mr. Balker, ich wollte eben den General durch diese Hartnäckigkeit allmählich umstimmen. Die Detektei hat mir dann vorgestern morgen gemeldet, daß der General und Bessy unter ihren richtigen Namen in dem Vorort Wannsee eine kleine Villa gemietet und auch bereits bezogen haben. Ich habe mich sofort nach Wannsee aufgemacht und bin durch den Garten bis an die Villa herangeschlichen. Ich sah auch eine blonde junge Dame und hoffte, Bessy würde in den Garten kommen, der recht ausgedehnt und sehr verwildert ist. Sie kam jedoch nicht. Ich schickte dann einen Knaben in die Villa, den ich auf der Straße getroffen hatte, und gab ihm genaue Anweisungen und einen Zettel für Bessy mit. Der Junge kehrte mit dem Bescheid zurück, die junge Dame hätte erklärt, sie wünsche von mir nicht weiter belästigt zu werden. Er hatte Glück gehabt und Bessy allein sprechen können. – Sie können sich vorstellen, Mr. Balker, wie mich diese Antwort niederschmetterte. Der General hat nun also doch erreicht, daß Bessy den Kampf aufgibt. Ich hätte ihr das nie zugetraut.“

Er starrte vor sich hin. Weiß Gott – er hatte Ausdauer, dieser Liebhaber! Er konnte einem wirklich leidtun.

„Haben Sie sich Miß Bessy nochmals zu nähern versucht?“ fragte Harald jetzt.

„Nein. Wie darf ich das wagen?! Der Junge erzählte mir ja, daß Bessy mit dem Fuße aufgestampft und in ihrem fehlerfreien Deutsch gerufen hätte: „Dieser Mensch fehlt uns gerade noch! Er soll sich zum Teufel scheren!“ – Er seufzte geradezu kläglich. „Was soll ich nun machen, Mr. Balker? Raten Sie mir?“

„Abwarten, Mr. Gould. Ich werde Ihnen helfen. Ich suche Sie morgen wieder im Eden-Hotel auf. – Was hatten Sie auf den Zettel geschrieben?“

„Nichts weiter als: „Geliebte, ich bin wieder in Deiner Nähe. Ermögliche mir ein Wiedersehen. Wenn Dein Vater nicht bald nachgibt, entführe ich Dich. Dein Richard Gould.“

„So, nun fahren Sie ins Hotel zurück, Mr. Gould,“ meinte Harst. „Dort steht ja noch das Auto. Fassen Sie Mut. Ich werde Sie nicht im Stich lassen.“

Gould drückte uns dankbar die Hände und stieg ein. Das Auto rollte davon, die Beusselstraße hinunter. Harst blickte dem Kraftwagen nach, schob seinen Arm in den meinen und sagte lebhaft: „Das haben wir fein gemacht! Diesen Gould hat uns der Himmel geschickt. Und nun zu Witwe Therese Schultz.“

 

4. Kapitel.

Wir gingen davon, bogen rechts in die Sickingenstraße ein. Ich richtete an Harst verschiedene Fragen, erhielt jedoch stets nur zur Antwort: „Tu’ dasselbe wie Gould: warte ab!“

Wir betraten dann das bescheiden möblierte Zimmer mit Flureingang. Harst hatte die elektrische Zuglampe eingeschaltet. Der Tisch war gedeckt. In einer Ecke stand ein Schließkorb, darauf lag ein großer Pappkarton.

„Das sind die Sachen des Ermordeten,“ sagte Harst leise. „Die Polizei hat hier schon alles durchwühlt und das Weitervermieten des Zimmers gestattet. – Nun werde ich bei meiner Wirtin anläuten und das Abendbrot bringen lassen. Und – hoffentlich serviert es uns Fräulein Änne Schultz. Ich habe ihr beim Mieten so viel Schmeicheleien zu kosten gegeben, daß sie –“

Es klopfte. Harst rief „Herein,“ und – Änne Schultz erschien.

Ich war erstaunt, einem so feschen, hübschen Mädel vorgestellt zu werden. Das hatte ich allerdings nicht erwartet. Diese Änne war so eine von jenen Berlinerinnen, die sich anzuziehen verstehen, die schlagfertig und lebenslustig sind und um deren Mund ein Lächeln zuckt, das anzudeuten scheint: „Oh – Ihr Männer macht mir nichts mehr vor. Ich kenne Euch aus dem ff.“

Änne brachte dann das große Teebrett und stellte Rührei, Schinken und anderes auf den Tisch.

„Mein Freund Ruhnke hat leider keine Zeit,“ meinte Harst. „Oder – sagen wir: hat zum Glück keine Zeit! Verehrtestes Fräulein, jetzt müssen Sie den dritten Mann abgeben. Drei Gedecke liegen da, für drei war das Abendbrot berechnet. Also –“

Sie zierte sich nicht lange. – Harst konnte ja jede Art Unterhaltung in Fluß bringen, jede – mit jedem! Und so waren wir drei denn sehr bald recht vergnügt.

Ich war Änne als Herr Sekretär Bachmann vorgestellt worden. So ganz – ganz allmählich kam Harst auf Ernst Bickel, den ermordeten Goldarbeiter, zu sprechen.

Aha – also Änne sollte ausgehorcht werden. – Und – wie glänzend gelang das Harst. Nur er kann so unauffällig und so tropfenweise eine Quelle zum Fließen bringen, nur er! Es war geradezu ein Genuß, diese jongleurhafte Gewandtheit zu beobachten, mit der er dem Kern der Sache näherrückte. – Ich will hier lediglich das Ergebnis dieser Unterhaltung mitteilen.

Ernst Bickel hatte sich in Änne verliebt gehabt, hatte ihr sogar zwei Anträge gemacht. Änne lachte ihn aus. Sie und dieser verwachsene Gnom – unmöglich! Außerdem: sie hatte ihres Erachtens auf Grund ihres Äußeren Anspruch auf eine erstklassige Partie. Ihr Vater war Steueraufseher gewesen, und sie und die Mutter besaßen ein kleines Vermögen. – Kurz: Änne hatte Millionärträume! Das sagte sie auch Bickel, – und wahrscheinlich in etwas herzloser Weise. Denn diese Änne war ein reizender Schmetterling – ohne viel Gemüt. Das war mir sehr bald klar geworden. Einer ihrer Sätze war besonders kennzeichnend für sie:

„Ja, Herr Bickel, wenn Sie ’ne halbe Million besäßen, dann würde sich bei mir die Gegenliebe vielleicht finden –“

Diesen Satz wiederholte sie lachend und fügte hinzu:

„Denken Sie – er erwiderte: „Geben Sie mir ein Jahr Zeit, und ich besitze eine Million – ein ganze Million!“ So einen Unsinn zu reden, nicht wahr! Wo wollte er ’ne Million wohl herholen?“

„Wann sagten Sie das von der halben Million zu ihm, Fräulein Änne?“ fragte Harst.

„Oh – das war vielleicht vor anderthalb Wochen, es können auch zwei Wochen her sein –“

Harst schnitt dann ein anderes Thema an, – genau so geschickt und genau so auf Umwegen: ob Bickel denn wirklich mit niemandem verkehrt hätte und ob Änne hierüber nichts wüßte; man interessiere sich doch nun mal für jeden Mord, und er ganz besonders für den Fall Bickel, weil er doch nun hier das Zimmer des Toten bewohne.

Änne schüttelte den Kopf, lachte etwas wegwerfend.

„Der und Verkehr haben! Er war ja so – so menschenscheu, so, als ob er was auf dem Gewissen hatte. Und geizig war er und so mißtrauisch! Dort an dem Kleiderschrank hat er sich selbst ein Patentschloß angebracht. Als ob wir ihn bestehlen würden?! Und als ob er wer weiß was für wertvolle Dinge dort aufbewahrte?! Nie ließ er den Schrank offen. Aber –“ sie lächelte jetzt sehr überlegen – „ich hab’ doch mal hineingeschaut, als Bickel die Schlüssel dort auf dem Nachttischchen hatte liegen lassen und bei Muttern in der Küche war. Und da sah ich denn, daß außer seinen Kleidern noch so ’ne Art Maschine drin stand, so wie ’ne Nähmaschine etwa; wenigstens war unten ein Schwungrad und oben auf der Platte so was wie ’ne Scheibe. Ich habe noch nie was Ähnliches gesehen.“

„Und wo ist diese Maschine jetzt geblieben?“

„Ach – die hat er vor vier Tagen verkauft. An eine Frau. – Das Ding ließ sich auseinandernehmen. Das Weib muß Kräfte gehabt haben; es schleppte die zusammengebundenen Teile allein die Treppe runter in eine Droschke.“

„Eine Frau?! Dann war’s doch wohl ’ne Nähmaschine, Fräulein Änne?“

„Weiß ich nicht. Ist mir auch gleichgültig. Nur das Weib – sie hatte schon graue Haare – imponierte mir, weil sie so stark war. Es war eine Russin; sie sprach etwas gebrochen Deutsch –“ Sie horchte plötzlich auf. Auch wir hörten im Treppenflur laute Stimmen.

Dann – wurde die Tür mit einem Ruck geöffnet. Auf der Schwelle standen zwei bärtige Schutzleute im Helm. Der eine trat näher, musterte Harst und mich durchdringend und sagte nur: „Vorwärts – mitkommen!“

Das war eine fatale Überraschung. – Harst blieb ganz ruhig, fragte, was wir denn verbrochen hätten.

„Maul halten!“ meinte der Beamte barsch. Und plötzlich hatte er mich gepackt und – legte mir Stahlfesseln an.

Harst nickte mir zu. „Die Geschichte wird sich ja bald aufklären, mein Alter.“

Da hatte auch ihn der Schutzmann schon an Kragen. Harst hielt ihm gelassen die Hände hin. „Bitte – Sie werden mir die Fesseln bald wieder abnehmen und sich noch obendrein entschuldigen. Wo haben Sie denn den Verhaftbefehl für uns?“

Die beiden Beamten führten uns ab, würdigten uns keines Wortes. Unten vor dem Hause hielt ein geschlossenes Auto. Änne Schultz war hinter uns geblieben und rief uns zu, als wir einstiegen:

„Aha – also von der Sorte seid Ihr! Herr Wachtmeister, die beiden haben mich nach allerhand über Bickel ausgefragt.“

„Glaub’s schon! Kein Wunder!“ meinte der größere der beiden. „Es sind ja die Mörder Ernst Bickels!“

Das Auto rollte davon. Der eine der Beamten holte eine kleine Blendlaterne hervor, zündete sie an und stellte sie zwischen sich und seinem[5] Kollegen auf den Polstersitz. Der schwache Lichtschein traf Harst und mich. Wir saßen auf dem Rücksitz. Von den beiden Schutzleuten sahen wir so gut wie nichts. Nur die Helmbeschläge und die Uniformknöpfe blitzten matt.

So allmählich konnte ich nach dieser plötzlichen Unterbrechung unserer Unterhaltung mit Änne Schultz meine Gedanken wieder genügend klären, um das, was jetzt geschah, in gewisser Weise kritisch zu prüfen. Da fiel mir denn zunächst auf, daß es im Innern des Autos bis auf den Lichtschein der kleinen Laterne so gleichmäßig dunkel blieb. Wir fuhren doch an so und so vielen Straßenlaternen vorüber, und deren Lichtschimmer hätte doch stets für Sekunden durch die Fenster für uns sichtbar werden müssen. Aber dem war nicht so.

Ich wandte etwas den Kopf zur Seite. Ich ergänzte mir das, was ich mir soeben überlegt hatte, noch durch eine neue Frage: Die Straßen Berlins sind doch auch nachts so hell erleuchtet, daß man durch die Fenster eines Autos die Häuserreihen erkennen kann. Wie kam es, daß wir scheinbar auf einem gänzlich unbeleuchteten Wege und scheinbar in einer Dunkelheit, die es bei klarem Mainachthimmel wie heute in solcher Schwärze nie gibt, dahinfuhren? – Vorhänge besaßen die Fenster nicht. Also –

Und der Gedanke, der mir nun jäh durch den Kopf schoß, war so bedeutungsvoll für die ganze Beurteilung dieser Verhaftung, daß ich unwillkürlich ein halblautes „Unmöglich!“ ausstieß.

Dieser Gedanke war: die Fenster sind absichtlich undurchsichtig gemacht worden. Man hat sie von innen mit einer dunklen Farbe überzogen! Und – es handelte sich hier doch um kein Dienstauto, keinen Polizeikraftwagen! Es war ein gewöhnliches Taxameterauto. Beim Einsteigen hatte ich ja die Taxameteruhr neben dem Chauffeursitz bemerkt! Sollten wir es hier mit einem[6] frechen Streich Mautleys und Bickpools zu tun haben? War diesen internationalen Gaunern nicht sehr wohl zuzutrauen, daß sie sogar in der Rolle als Polizeibeamte in Uniform sich an uns heranwagten? Und schließlich: war nicht der eine Schutzmann groß und hager und der andere klein und fast überschlank? – Auf meinen Ausruf erhielt ich sofort Antwort. Wieder war es der lange Beamte, der mich jetzt anschnauzte:

„Schweigen Sie! Wir lassen mit uns nicht spaßen!“ Und gleichzeitig erschien in der Lichtbahn der kleinen Laterne eine Hand, die einen Browning umspannt hatte, dessen Mündung sich dann etwa auf meine Brust richtete.

„Wer von Ihnen beiden unaufgefordert den Mund aufmacht, tut’s zu seinem eigenen Schaden,“ fügte der Lange jetzt hinzu und legte dann die Hand mit der Waffe schußfertig auf den rechten Schenkel.

Harst hatte sich links neben mir bequem in die Ecke zurückgelehnt, hatte sich bisher nicht gerührt. Nun aber meldete er sich. Und das, was er sagte, bestätigte meine Vermutung vollständig.

„Ich denke, Mr. Mautley, wir geben dieses Komödienspiel auf,“ erklärte er sehr ruhig. „Sie bilden sich doch nicht etwa ein, mich noch immer täuschen zu können. Bereits als ich zwei Minuten auf diesem Platze saß, wußte ich Bescheid. Die Fenster sind dem Geruch nach von innen mit Stiefelwichse geschwärzt worden. Außerdem sprechen Sie das Deutsche bei längeren Sätzen mit merklichem Akzent, der den Ausländer verrät. Ich gebe zu, daß ich durch dieses Wiedersehen völlig überrascht worden bin. Daß Sie und Bickpool von Pforzheim nach Berlin gereist waren, hatte ich feststellen können. Hier jedoch wurde ich genau wie in Amsterdam und in Pforzheim sehr wenig vom Glück begünstigt. Ich konnte Sie nirgends aufstöbern. Deshalb bin ich Ihnen auch sehr dankbar, daß Sie sich endlich bemerkbar gemacht haben. Vielleicht teilen Sie mir mit, woher Sie wußten, daß ich heute abend bei der Witwe Schultz zu finden war. Ich bin nämlich sehr enttäuscht, weil ich nun eingesehen habe, daß das Wild diesmal scharfsichtiger war als die Jäger. Ich hielt unsere Masken für tadellos. Nun – irren ist menschlich –“

All das sprach er im leichten Plauderton, als säße er jemandem in einem eleganten Salon gegenüber. Und doch war jeder Satz, wie ich nachher merkte, aufs allergenaueste erwogen.

Ein paar Sekunden nichts. Dann lachte Mautley ironisch auf.

„Ja – das Wild ist wirklich klüger als die Jäger, Mr. Harst. Ich sah Sie heute abend auf der Straße und erkannte Sie sofort, folgte Ihnen natürlich und stellte fest, daß Sie das Haus Sickingenstraße –“

„Danke,“ unterbrach Harald ihn. „Es war also doch mehr ein Zufall, daß Sie mich gegen 8 Uhr trafen und erkannten, als ich in der Mohrenstraße kurz nach dem Verlassen unseres Fremdenheims ein Auto heranwinkte. Denn nur da können Sie mir begegnet sein.“

Ich begriff sofort: Harst wollte Mautley auf das Glatteis führen, wie man zu sagen pflegt. Das Fremdenheim und die Mohrenstraße waren ja purer Schwindel! Harst hatte mir ja vorhin erzählt, daß er am Bahnhof Friedrichstraße ein Auto genommen hätte und nach der Sickingenstraße gefahren sei.

„Gewiß bin ich Ihnen dort begegnet. Aber – ich war es, der die besseren Augen hatte!“ meinte Mautley jetzt übereifrig. „Sie gingen achtlos an mir vorüber. Ich tat es nicht. Ich fuhr hinter Ihnen drein. Und als Sie das Haus in der Sickingenstraße wieder verlassen hatten, wurde ich Zeuge, wie diese Frau Schultz dem Grünkramhändler freudestrahlend berichtete, sie habe das Zimmer soeben wieder vermietet. Da holte ich mir denn Freund Bickpool herbei, der sofort den schönen Plan ausheckte, Sie – zu verhaften, sobald Sie das neue Heim betreten hätten. Uniformen und Helme lieferte ein Trödler, und –“

„Das genügt mir,“ fiel Harald ihm abermals ins Wort. „Was gedenken Sie nun zu tun?“

„Naive Frage! Sie sind einer der unbequemsten Menschen, die es auf der Welt gibt. So lange Sie und Schraut am Leben sind, können wir nicht so ungestört, wie wir es möchten, unsere ungeschliffenen Diamanten verkaufen.“

„Das heißt also, Sie wollen uns umbringen.“

„Ja. Sie beide werden so spurlos verschwinden, wie noch nie zwei Schnüffler Ihrer Sorte verschwunden sind. Wissen Sie mit der Feuerungsanlage eines Hochofens für Kalkbrennerei Bescheid? Morgen früh wird –“

„Das hat keinerlei Interesse für mich, Mr. Mautley,“ unterbrach Harst ihn gleichmütig. „Wir müssen ja alle einmal sterben. Immerhin hätte ich noch recht gern den Fall Bickel erledigt. Sie werden davon sicher in den Zeitungen gelesen haben. Die Sache war für mich zwar nur ein Notbehelf, weil ich eben mit Ihnen beiden auf dem toten Punkt angelangt war.“

Mautley äußerte sich hierzu nicht. Bickpool dagegen sagte: „Nach den Zeitungsberichten handelt es sich doch um ein Durchschnittsverbrechen. Ich wundere mich, Mr. Harst, daß Sie sich mit einer solchen Lappalie abgeben.“

Ich muß jetzt, bevor ich die weitere Entwicklung der Dinge schildere, noch folgendes erwähnen. Harst saß Bickpool gegenüber. Dieser hatte sich jetzt beim Sprechen vorgebeugt und die Arme auf die Knie gestützt. Nur Mautley hielt in der rechten Hand eine Schußwaffe und hatte diese Hand jetzt auf das rechte Knie gelegt. Uns beiden waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. –

„Ganz recht, es ist eine Lappalie,“ erklärte Harst in demselben harmlosen Salonton. „Der Mörder ist einer der drei Kollegen Bickels, und zwar –“

Dann – dann schnellte urplötzlich Harsts linker Fuß hoch, traf Mautleys rechte Hand. Der Browning flog Mautley aus den Fingern. Und gleichzeitig hatte Harst mit dem Absatz des anderen Fußes dem kurzen Türdrücker so geschickt einen Schlag versetzt, daß die Tür aufflog. Außerdem war auch noch die kleine Laterne umgekippt und vom Polstersitz herabgerutscht.

All das ging so unerwartet und so blitzartig vor sich, daß Mautley zu spät in dem jetzt dunklen Auto brüllte: „Er ist hinausgesprungen! Ihm nach!“

Diesmal wollte ich mich aber von meinem Herrn und Meister doch nicht zu sehr übertrumpfen lassen. Die offene Tür zeichnete sich als helleres Viereck ab, und Mautley und Bickpool standen nun dicht hintereinander vor dieser Tür, noch völlig verwirrt durch diesen so glänzend gelungenen Fluchtversuch.

Ich erhob mich, warf mich mit aller Kraft gegen Bickpool und – die beiden Gauner flogen denn auch wirklich infolge dieses Rammstoßes hinaus auf die Straße.

Der Chauffeur fuhr bereits langsamer. Mautley hatte doch noch die Geistesgegenwart gehabt, während des Sturzes zweimal „Halt – halt!“ zu brüllen.

Ich wartete noch ein paar Sekunden. Dann – ein Satz, – ich war draußen! Ich rannte wie gehetzt durch den Straßengraben, kletterte eine Böschung hoch und verschwand in dem dunklen Kiefernwalde. Mich hier zu finden war ausgeschlossen. Ich beeilte mich also nicht sonderlich. Zwischen den Stämmen war es so hell, daß ich nicht zu fürchten brauchte, gegen einen Baum zu laufen. Nachdem ich eine Anhöhe hinter mir hatte, gewahrte ich rechts von mir ein im Sternenlicht matt glänzendes Gewässer. Es war der Nikolassee, wie ich bald erfuhr.

Zehn Minuten drauf betrat ich den Dienstraum des Vorortbahnhofs Nikolassee. Es war genau fünf Minuten vor Mitternacht. Nachdem ich den Beamten mitgeteilt hatte, wer ich sei und wie ich dergestalt als Gefesselter hierher käme, ereignete sich das, was ich vorausgesehen hatte: man schenkte mir keinen Glauben, lachte mich aus und bedeutete mir, für solche Räubergeschichten sollte ich mir Dümmere aussuchen; ich sei einfach ein entsprungener Häftling, und man würde mich daher in sicheren Gewahrsam nehmen, bis die Polizei käme und mich holte. – Der Bahnhofsvorsteher telephonierte nach Berlin, und um 7 Uhr morgens erschien dann ein Kriminalbeamter, der mir die Handschellen abnahm und mir befahl, ihm zu folgen. Als wir den Bahnhof verlassen hatten, änderte er sein Benehmen vollständig.

„Entschuldigen Sie, daß ich so kurz angebunden war,“ meinte er. „Ich weiß, daß Sie Herrn Harsts Freund, also Herr Max Schraut sind. Herr Harst ist gleichfalls entkommen und erwartet Sie dort drüben im Walde.“

Der Vorort Nikolassee ist ringsum von Wald eingeschlossen. Wir bogen sehr bald von der Straße ab und fanden dann in einer Bodensenkung unter den Bäumen sechs Leute lagern. Der eine sprang auf und kam mir entgegen. Es war Harst, – jedoch Harst in der Maske eines Briefträgers. Er streckte mir die Hand hin.

„Tag, lieber Alter. Ich hatte mich also in Dir nicht verrechnet. Ich hoffte, daß Du den beiden ebenfalls auskneifen würdest. – Darf ich die Herren bekannt machen: Herr Kriminalkommissar Schellert und vier seiner Beamten, dort Herr Richard Gould; heute früh aus dem Hotel abgeholt. Wir brauchen ihn. Ich behaupte nämlich, daß Mautley und Bickpool sich in der Villa Shaterlain aufhalten.“

Kriminalkommissar Schellert fügte hinzu: „Ja – und weiter behauptet Herr Harst, daß die Tochter des Generals die Mörderin Ernst Bickels ist. Er will es beweisen. Da bin ich wirklich gespannt –“

 

5. Kapitel.

Ich hatte keine Zeit, hierzu irgend eine Bemerkung zu machen. Harst winkte einem der Beamten, der einen Pappkarton mithatte. In diesem lag alles Nötige für meine Verwandlung in eine ältere Dame, deren Sohn der Kommissar spielen sollte. Während ich Toilette machte, entwickelte Harst mir seinen Schlachtplan. Die Villa sollte sofort nachher umstellt werden. Dann wollte Harst an der Gartenpforte läuten. Schellert und ich sollten wie zufällig hinzukommen, sobald man ihm öffnete. Wir – Schellert und ich – hatten die Rolle von Londoner Bekannten der Shaterlains zu spielen.

Um ½9 brachen wir auf. Eine Strecke weiter auf der Chaussee warteten zwei Autos. Wir stiegen ein und fuhren dem nahen Vorort Wannsee zu. – Das Restaurant „Schwedischer Pavillon“ am Nordufer des Wannsees ist – ja, man kann ruhig sagen: weltbekannt. Der Ausländer findet es in jedem Reisehandbuch über Deutschland verzeichnet. Dicht hinter dem Schwedischen Pavillon lag die Villa, die der General gemietet hatte. – Die Autos hatten schon vorher gehalten; wir waren ausgestiegen und verteilten uns nun unseren verschiedenen Rollen entsprechend. Harst ging der Gartenpforte zu und läutete. Schellert und ich schlenderten auf und ab. Dann sahen wir, daß Harst an die Mütze faßte und seiner Depeschentasche ein Telegramm entnahm. Wir traten jetzt gleichfalls hinzu. In der Pforte stand ein Herr, der ganz entfernt dem General glich. Nun mußte ich vereinbarungsgemäß eingreifen, sagte auf englisch, indem ich den Schleier bis zur Nasenspitze hochhob:

„Ich bin Mistreß Folkerblay aus London. Zufällig erfuhr ich gestern, daß ein General Shaterlain diese Villa gemietet hat. Shaterlain ist ein Vetter von mir. Ich möchte ihn begrüßen. Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

Der Herr mit dem grauen, dicken Schnurrbart und den grauen Bartkoteletten machte ein sehr verlegenes Gesicht. Kein Zweifel: er suchte hier den General vorzustellen! Auf dessen Züge besann ich mich von Bombay her noch recht gut. Diese Maske war eben nur leidlich gelungen. – Bevor der angebliche Shaterlain noch antworten konnte, erschien Richard Gould.

„Ist dieser Herr der General Shaterlain?“ fragte ich ihn. – Gould starrte den Mann lange an.

„Kennen Sie mich?“ meinte er. Und der falsche Shaterlain wurde noch verlegener. – „Sie sind ja gar nicht der General,“ fuhr Gould erregt fort. „Zum Teufel – was bedeutet dies?! Wenn ich nur erst Bessy zu Gesicht bekommen hätte, dann –“

Er stockte, stieß den angeblichen Shaterlain beiseite und rannte auf eine junge Dame zu, die soeben hinter den Büschen des Gartens aufgetaucht war.

Da geschah etwas sehr Merkwürdiges: die Dame suchte zu fliehen. Gould hatte sie jedoch sehr bald eingeholt, packte ihren Arm und hielt sie fest, brüllte dann in heller Wut: „Das – das ist ja gar nicht Bessy! Nur das hellblonde, gescheitelte Haar stimmt!“

Harst hatte uns einen Wink gegeben. Wir drei – Schellert, Harald und ich – warfen uns auf den falschen Shaterlain. Er wehrte sich verzweifelt. Aber zwei Kriminalbeamte waren uns jetzt zu Hilfe gekommen. Stahlfesseln schnappten zu. Und genau so erging es der angeblichen Bessy.

„So,“ meinte Harst, „Miß Bessy und Master Shaterlain, die Rechnung von gestern nacht ist glatt. Gestern verhafteten Sie uns, heute wir Sie! Nur daß Sie beide uns nicht entkommen werden!“ Ein paar schnelle Griffe, und er hatte eine graue Herrenperücke in der Hand. „Herr Kommissar,“ wandte er sich an Schellert, „ich übergebe Ihnen hier die wegen Mordes und verschiedener Diebstähle steckbrieflich von Indien aus verfolgten beiden früheren Artisten Mautley und Bickpool, die hier als Shaterlains mit aller Ruhe auftreten konnten, weil Bickpool in Bombay dem General sowohl verschiedene Legitimationspapiere als auch 10 000 Pfund, die in einer roten Juchtenbrieftasche enthalten waren, gestohlen hat. Ich war heimlich Zeuge, als Bickpool die Tasche ausleerte und wegwarf. Ich ließ ihn nach Aden entschlüpfen, denn ich wollte eben beide Verbrecher gleichzeitig fangen. Ich wußte, wo ich sie wiederfinden würde: in Amsterdam, der Hauptzentrale für Edelsteinschleiferei! Die beiden hatten für 50 Millionen ungeschliffene Diamanten in Nepal in einer Eishöhle erbeutet. Der geschliffene Stein hat nun einen ganz anderen Wert als der ungeschliffene. Ich konnte also damit rechnen, daß so großzügige Gauner wie diese beiden den Wert ihrer Beute zu vervielfachen versuchen würden – eben dadurch, daß sie die Steine schleifen ließen. In Indien durften sie dies nicht wagen. Sie mußten dorthin, wo sie auch einen Edelsteinschleifer zu finden hofften, der gegen gute Bezahlung ihr Genosse wurde. Hierfür kam nur Amsterdam in Betracht. Und – dort stieß ich denn auch auf ihre Spur; dort war, wie ich ermittelte, ihnen ein jetzt in Pforzheim lebender, äußerst geschickter Schleifer empfohlen worden, der in Amsterdam wegen verschiedener Betrügereien zu Gefängnis verurteilt, also gerade für sie der geeignete Mann war. Dieser Mann namens – Ernst Bickel war jedoch von Pforzheim nach Berlin verzogen. – Dies alles wußte ich bereits, als ich den Zeitungsartikel über den Mord im Warenhause Michael las. Ich machte mich an Bickels Kollegen Schmolk heran. Dieser erzählte mir, daß der Stahlschrank in der Reparaturwerkstatt auch verschiedene zur Edelsteinschleiferei nötige Werkzeuge enthalten hätte. Daß diese ebenfalls gestohlen waren, hatte bisher niemand beachtet. Und doch ist Bickel nur dieser Instrumente wegen ermordet worden. – Sie, Jones[7] Bickpool, hatten sich als Frau verkleidet an den Ermordeten herangedrängt[8], haben ihm seine Edelsteinschleifbank, die er in seinem Schranke aufbewahrte, abgekauft und sich von ihm fraglos Unterricht im Edelsteinschleifen erteilen lassen. Es fehlten Ihnen jedoch Werkzeuge, die Sie nicht kaufen wollten, um alles irgendwie Verdachterregende zu vermeiden. Sie haben dann Bickel veranlaßt, mit Ihnen zusammen das Stahlspind in der Werkstatt auszuräumen. Sie stachen ihn nieder, als Sie die Instrumente hatten, denn Sie brauchten Bickel jetzt nicht mehr. Sie wollten keinen Mitwisser haben und hier in der Villa nun in aller Sicherheit eine kleine Edelsteinschleiferei einrichten. – So hat sich dieser Mord abgespielt. Es wäre mir wohl nun recht schwer geworden, Ihrer beider Versteck hier zu ermitteln, wenn nicht Richard Goulds Liebe zu der echten Bessy mir zu Hilfe gekommen wäre. Gould erzählte mir, daß Bessy, die mit ihrem Vater hier in Wannsee wohne, nichts mehr von ihm wissen wolle und daß sie seinen Boten unter anderem mit den Worten abgefertigt hätte: „dieser Mensch fehlt uns gerade noch!“ womit Gould gemeint war. – Diese Redewendung und das plötzliche völlige erkalten einer Herzensneigung, die bei Bessy doch genau so tief und aufrichtig gewesen wie bei Gould, machte mich stutzig. Mir fiel der Diebstahl in Bombay ein, bei dem Bickpool doch auch Legitimationen des Generals erbeutet hatte. Ich faßte so die Möglichkeit ins Auge, daß die angeblichen Shaterlains Mautley und Bickpool sein könnten. Heute früh telephonierte ich von Berlin aus mit dem hiesigen Gemeindevorsteher, der mir mitteilte, der General hielte keinerlei Bedienung. Dies war doch ebenfalls sehr auffallend. Aus diesen Gründen wollte ich mir den General und Bessy doch einmal aus nächster Nähe ansehen. – So, das wäre alles.“

Wir fanden dann in einem Zimmer der Villa wirklich eine Schleifbank mit der üblichen horizontalen Drehscheibe, fanden auch vierzig recht gut geschliffene Diamanten. Aber – die Hauptmenge der Edelsteine fanden wir nicht! –

Mautley und Bickpool schwiegen bei allen Vernehmungen hartnäckig. Harst wies letzteren jedoch den Mord an dem Edelsteinschleifer bis ins einzelne nach. Daß Ernst Bickel lediglich aus Liebe zu Änne Schultz sich mit den Verbrechern eingelassen hatte, um ihr wirklich die versprochene Million bieten zu können, unterlag keinem Zweifel. – Auch der Chauffeur des Autos, in dem wir entführt worden waren, wurde ermittelt. Er hatte 5000 Mark erhalten und hatte die beiden falschen Schutzleute und uns nach einer Zementfabrik bei Potsdam fahren sollen. Dort wollten Mautley und Bickpool uns dann fraglos verschwinden lassen. –

Der Mord im Warenhause war jetzt aufgeklärt. Richard Gould fand dann an Harst einen warmen Fürsprecher bei General Shaterlain. Das Paar verlobte sich vierzehn Tage drauf.

 

 

Die Kartenlegerin der Borsigstraße.

 

1. Kapitel.

Wir saßen zu dreien morgens am Kaffeetisch auf der nach dem Garten hinausgehenden Veranda des Harstschen Hauses.

Frau Auguste Harst, die Mutter des längst weltberühmt gewordenen Liebhaberdetektivs, hatte ihr einziges Kind vor sechs Tagen wieder in die Arme schließen dürfen. Die Jagd nach den Edelsteindieben Mautley und Bickpool hatte uns ja von Indien nach Berlin zurückgeführt. Auch ich, Harsts Privatsekretär und Freund, war von Frau Auguste mit mütterlicher Herzlichkeit empfangen worden.

Wie schön war’s doch in der Heimat! Wie schön in dem alten, behaglichen Hause in der Blücherstraße in Berlin-Schmargendorf! Und wie köstlich mundeten die Leibgerichte, die Frau Auguste uns täglich vorsetzte.

Harald Harst blätterte in den Morgenzeitungen.

„Junge, tu’ mir einen Gefallen!“ meinte seine Mutter und nahm ihm einfach die Zeitungen weg. „Lies vierzehn Tage nichts – nichts, jedenfalls keine Zeitung! Sonst findest Du darin womöglich wieder etwas, das diesen himmlischen Frieden unseres jetzigen Beisammenseins stört. Ruhe Dich aus, erhole Dich und –“

Harst hatte ihre Hand genommen, streichelte sie und lächelte so eigentümlich.

Frau Auguste schwieg, schaute den Sohn fragend an und rief mir dann zu:

„Bester Schraut – er hat schon wieder etwas, das er „sein Problem“ zu nennen pflegt. Sehen Sie nur, wie er lächelt! Ach – ich arme Mutter! Ich wünschte, Harald wäre dümmer, als es die Polizei erlaubt, dann brauchte ich doch nicht dauernd in Angst zu schweben.“

Jetzt lachte ich. „Liebe Frau Harst, seien Sie froh, daß er nicht dumm ist! Und seien Sie mal ehrlich: sind Sie nicht doch so ein bißchen stolz auf ihn? Haben Sie nicht mit glänzenden Augen die Artikel in den Zeitungen gelesen, durch die die hiesige Presse Ihren Sohn bei seiner Rückkehr geradezu begeistert begrüßte?“

In demselben Moment betrat die alte, treue Köchin die Veranda und meldete:

„Herr Juwelier Siegfried Löwenstein bittet um eine kurze Unterredung.“

Harst erhob sich schnell, küßte seine Mutter auf die Stirn und meinte scherzend:

„Du siehst, die „Probleme“ kommen ganz von selbst. Im übrigen – ich habe tatsächlich in der heutigen Morgenzeitung etwas ganz Interessantes gefunden.“

„Schrecklich!“ seufzte Frau Auguste.

Harst winkte mir, und wir gingen nach vorn in sein Arbeitszimmer.

Dort saß Herr Juwelier Siegfried Löwenstein, ein vertrocknetes, kleines Männchen, mit sehr verlegenem Gesicht im Klubsessel, schnellte sofort hoch und haspelte folgendes herunter:

„Entschuldigen Sie schon, Herr Harst, daß ich Sie belästige. Man rennt aber doch nicht jeder Kleinigkeit wegen gleich zur Polizei. Ich las, daß Sie wieder in Berlin sind, und auch davon, daß Sie den Mord im Warenhause Michael so schnell aufgeklärt haben. Nu – bei diesem Mord spielen doch ungeschliffene Edelsteine eine gewisse Rolle, und da nu doch gestern abend ’ne Frau mir welche in der Straßenbahn verkauft hat – nur fünf Stück, so – so –“

„Setzen Sie sich, Herr Löwenstein,“ unterbrach Harald ihn. „Solche Dinge muß man in Ruhe erörtern. – Wo wohnen Sie?“

„Mein Geschäft habe ich in der Invalidenstraße Nr. 249 gegenüber dem Stettiner Bahnhof, Herr Harst. Es ist nur e kleiner Laden, aber die Lage ist gut. Man lebt davon. Meine Privatwohnung befindet sich in der Turmstraße Nr. 199 in Moabit. Ich bin verheiratet und habe eine Tochter von 43 Jahren, – das arme Mädchen ist verwachsen. Meine Frau –“

„Danke, Herr Löwenstein. Das genügt mir. Also gestern abend –“

„Ja, gestern abend schloß ich wie immer um 8 Uhr das Geschäft und fuhr mit der Straßenbahn nach Hause. Mit mir zusammen stieg eine blonde Dame ein, – nu sagen wir: ’ne jüngere Frau. Sie war sehr bescheiden angezogen, hatte ’n Strohhut auf und ’n weißen Schleier vorgebunden. Sie saß mir gegenüber. Der Wagen war leer. Bei dem schönen Wetter laufen die Leut’ lieber zu Fuß. Wie wir etwa am Lehrter Bahnhof waren, nimmt die Frau aus ihrem Lederhandtäschchen – ’s war e ganz billiges Ding – ’ne Schachtel raus und klappt den Deckel auf. ’s war so ein Schächtelchen aus Holz mit Brandmalerei. Und da sah ich in dem Schächtelchen auf Watte fünf Steine liegen. Die Frau beguckte sie, seufzte und wollte die Schachtel wieder zu machen.

„Verzeihn Sie,“ sagt’ ich da schnell, denn unsereiner hat doch ’n Blick für so was. „Wollen Sie die Steine vielleicht verkaufen?“

Da meint sie achselzuckend. „Es sind nur Bergkristalle. Ich habe sie von meinem Vater geerbt!“

Nu – ich hab’ mir die Bergkristalle angesehen, Herr Harst. Es waren ungeschliffene Diamanten. Und da hab’ ich der Frau vorgeschlagen, mit in meine Wohnung zu kommen. Ich würde die Steine genau untersuchen und ihr dann ’n anständjen Preis zahlen, wenn sie wirklich echt wären. – Sie kam auch mit. In zehn Minuten waren wir einig. Ich gab ihr 3500 Mark, und sie war zufrieden und ging. Beim Abendbrot erinnerte mich meine Tochter dann an den Zeitungsartikel über den Mord im Warenhause. Da kriegte ich ’n bösen Schreck! Ich dachte mir: womöglich hast Du ’n paar von den Diamanten gekauft, die die Verbrecher Mautley und Bickpool in Indien gestohlen und hier in Berlin versteckt haben! – Deshalb bin ich nun zu Ihnen geeilt, Herr Harst, gleich heute morgen. Hier – dies sind die fünf Steine.“

Harald nahm sie und meinte: „Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Steine zu den gestohlenen gehören. Der weitaus größte Teil der von den beiden Gaunern geraubten Diamanten ist ja bisher nicht aufgefunden worden. Und die nunmehr verhafteten Verbrecher werden das Versteck auch kaum verraten. – Haben Sie die Frau nach dem Namen gefragt?“

„Ja, natürlich. Sie sagte, sie heiße Hilde Görger, sei Schneiderin und wohne Paulstraße 16 bei einer Frau Matthies. Das ist aber alles gelogen. Paulstraße 16 wohnt zwar eine Frau Matthies, die vermietet jedoch nicht möbliert. Das hat sie nicht nötig, erklärte sie mir; eine Hilde Görger sei ihr ganz unbekannt.“

„Das war vorauszusehen,“ meinte Harst.

„Was denn?“ fragte Löwenstein unsicher.

„Daß die Frau, die Ihnen die Diamanten verkaufte, Sie beschwindeln würde. – Hat sie den Schleier mal gelüftet?“

„Nein – nur bis zur Nasenspitze schob sie ihn hoch. – Ich war ja so ohne alles Mißtrauen, Herr Harst. Wie sollte ich auch denken, daß ich gestohlene Steine kaufte, wo doch die Frau rein durch Zufall mit mir bekannt wurde.“

„Allerdings. Zum Mißtrauen lag kein Grund vor. – Sie haben also das Gesicht der Frau nicht gesehen?“

„Nein – nur so durch den Schleier hindurch. Häßlich schien sie nicht zu sein. Sie sprach das Deutsche so – so wie ’ne Ausländerin, so mit ’n ganz kleinen fremden Akzent. Nur die rechte Hand sah ich ohne Handschuh. Es war eine wundervoll geformte, schmale Hand, sehr verarbeitet allerdings. Die Außenseite des Zeigefingers war rissig.“

Harst saß in der einen Ecke des Klubsofas; rechts neben ihm der Juwelier in dem einen Ledersessel; ich in dem zweiten links vom Tische. – Harst spielte mit den fünf Diamanten, schob sie auf der Tischdecke hin und her und schien auf die letzten Sätze Löwensteins gar nicht geachtet zu haben.

Der kleine Herr, der Haralds Eigentümlichkeiten nicht kannte, warf ihm jetzt einen Blick zu, der etwa andeutete: „’n komischer Mann, dieser berühmte Liebhaberdetektiv! Weshalb schiebt er nur immer die Steine bald so, bald so zu einer Figur zusammen?!“

Harst behielt jetzt zwei Steine in der Hand. Die anderen drei hatte er mit geringen Zwischenräumen nebeneinander gelegt. Und nun sagte er:

„Herr Löwenstein, dies hier sind die drei Möglichkeiten.“ Er tippte auf den Stein an weitesten links. „Erste Möglichkeit. Sie belügen uns, Sie haben nicht nur fünf, sondern weit mehr Steine gekauft, und auch nicht von einer Frau, sondern vor mehreren Tagen von einem Manne, der wie ein Ausländer das Deutsche sprach. Sie fürchten nun, dieser Mann könnte einer der beiden, jetzt verhafteten Verbrecher sein, und es könnte irgendwie herauskommen, daß er Ihnen Diamanten käuflich überlassen hat. Da wollen Sie sich von vornherein als Biedermann aufspielen, indem Sie sich hier direkt in die Höhle des Löwen wagen und mir etwas über einen Diamantenkauf anvertrauen. So hoffen Sie später, falls Mautley oder Bickpool etwas verraten, sich darauf berufen zu können, Sie hätten zwar mal fünf Edelsteine gekauft, aber von einem Weibe, und hätten Mautleys oder Bickpools Angebot abgelehnt, weil Ihnen die Sache verdächtig vorgekommen sei; und jetzt behaupteten die Verbrecher nur aus Rache des abgelehnten Geschäftes wegen, Ihnen Diamanten überlassen zu haben.“

Löwenstein hatte erst ganz starr dagesessen. Dann erhob er abwehrend die Hände, rief jetzt: „Herr Harst, ich war mein Lebtag ein ehrlicher Mann –“

„Was ich gar nicht bezweifle. Ich spreche ja auch nur von Möglichkeiten.“

„Nu – ich leiste jeden Eid darauf, daß –“

„Wir wollen hier nicht mit Beteuerungen operieren, sondern mit dem Verstande, Herr Löwenstein,“ fiel Harst ihm ins Wort. „Die zweite Möglichkeit“ – und er tippte auf den zweiten Stein – „ist die, daß Ihnen eine Frau Diamanten verkauft hat und daß Sie diese Frau im Gegensatz zu Ihrer eigenen Darstellung sehr wohl kennen. Dann sind Sie aus ähnlichen Gründen, wie ich sie soeben bereits entwickelte, jetzt zu mir geeilt. Ich selbst würde diese zweite Möglichkeit als die wahrscheinlichste –“

Löwenstein war aufgesprungen.

„Herr Harst, ich kann nur nochmals betonen,“ sagte er mit stark gerötetem Gesicht, „daß ich kein Lügner bin. – Ich – ich verzichte auf jedes weitere Wort. Sie haben hier einen sechzigjährigen Mann vor sich, der noch nicht ein einziges Mal auch nur zu einer Polizeistrafe verurteilt ist, der – Aber – was rede ich noch! Guten Morgen, meine Herren.“

Er heuchelte diese Empörung nicht. Das mußte jeder erkennen – selbst der miserabelste Menschenbeurteiler. – Er ging zur Tür, öffnete sie, wollte hinaus.

„Herr Löwenstein – auf ein Wort bitte,“ sagte Harald da und erhob sich. „Nehmen Sie wieder Platz. Was ich mir hier soeben und Ihnen erlaubt habe, war kein unziemlicher Scherz, sondern lediglich eine Probe auf Ihren Charakter. Sie sind mir gänzlich unbekannt. Ich mußte mir doch also zunächst über Ihre Denkungsart Aufschluß verschaffen, bevor – bevor ich Ihnen die dritte Möglichkeit – und darin liegt der Schwerpunkt der ganzen Sache – entwickelte.“

Er reichte dem Juwelier die Hand. „Die Probe haben Sie bestanden. Ihre Entrüstung war ehrlich, war keine Komödie. Setzen Sie sich. Nun können wir in anderer Tonart miteinander verkehren. – Schraut – bitte gib doch die Zigarren her, die kleine Kiste. – So – bedienen Sie sich, Herr Löwenstein. Mir gestatten Sie wohl, daß ich eine Zigarette rauche –“

Der alte Herr war schnell versöhnt, lächelte jetzt und meinte:

„Ich weiß, Sie rauchen stets Ihre Spezialmarke Mirakulum –“

Harst blies seine tadellosen Rauchringe, lehnte sich in seiner Sofaecke zurück und erklärte nun:

„Ihr Abenteuer in der Straßenbahn von gestern abend interessiert mich weit mehr, als Sie ahnen. Diese fünf Edelsteine sind nämlich ohne Zweifel ein Teil jener Riesenbeute, die den Verbrechern im Himalayastaate Nepal in die Hände fiel. Die Diamanten aus jener Eishöhle sind sämtlich in eine graublaue Quarzart eingebettet. Der Quarz ist, genau wie bei diesen Steinen hier, größtenteils bereits auf natürliche Weise abgescheuert, so daß die Steine fast ganz freiliegen. – Nun zu der dritten Möglichkeit, die diese Bezeichnung nicht recht verdient, denn so, wie ich jetzt Ihnen die Einzelheiten Ihres Abenteuers mit jener Frau schildere, muß der Zusammenhang des Ganzen sein. – Also: die Frau kannte Sie, wußte, daß Sie Juwelier sind und daß Sie allabendlich am Stettiner Bahnhof die nach der Turmstraße gehende Straßenbahn besteigen. Die Frau lauerte Ihnen auf, setzte sich Ihnen gegenüber, zog die Schachtel wie zufällig hervor. Aber – alles war schlau berechnet und kein Zufall! Sie sah voraus, daß Sie auf den Köder anbeißen würden; sie wartete darauf, daß Sie von den Steinen zu sprechen begannen. So geschah es auch. Und – die Frau erreichte ihren Zweck: Sie gingen ahnungslos auf das Geschäft ein! – Sie werden nun fragen: Weshalb muß das alles gerade so gewesen sein und nicht anders? – Und ich antworte: Es ist doch ein sehr merkwürdiger Zufall, daß eine Frau, die fünf ihrer Ansicht nach wertlose Steine geerbt hat, diese Steine gerade in der Straßenbahn mit sich führt, als sie – gerade einem als recht bekannten Juwelier gegenübersitzt, dessen Aufmerksamkeit sie dann recht plump auf diese Steine lenkt. – Nein, dieser Zufall ist zu seltsam, als daß man daran glauben könnte, zumal die Frau Ihnen nachher einen falschen Namen angibt und sich hütet, ihr Gesicht sehen zu lassen.“

„Hm,“ meinte Löwenstein nachdenklich, „diese Ihre Ansicht hat sehr viel für sich, Herr Harst. Es mag schon sein, daß ich dem Weibe kein Fremder war und daß sie das Zusammentreffen in der Straßenbahn absichtlich –“

„Es war Absicht,“ sagte Harst lebhaft. „Bedenken Sie: die Frau wollte Diamanten veräußern, von denen jetzt in allen Zeitungen aus Anlaß des Mordes im Warenhause Michael und infolge der Festnahme der Täter die Rede ist. Da mußte sie ganz besonders vorsichtig und schlau zu Werke gehen. Ich behaupte: die Frau hat dringend Geld gebraucht und wagte nur zunächst fünf Steine zu veräußern, denn eine größere Anzahl hätte zu leicht Ihren Verdacht erregt, Herr Löwenstein. – Jedenfalls wissen wir nun etwas Neues über den Verbleib der Beute Mautleys und Bickpools: Eine unbekannte, jüngere weibliche Person befindet sich im Besitze von Edelsteinen, die zu dieser Beute gehören. Wir haben jetzt mithin eine Spur, die zum mindesten einiges Licht in die bisher ungeklärte Frage bringen könnte, wo die Verbrecher die Hauptmenge der Steine verborgen oder sonstwie mir und der Polizei entzogen haben. Jede Spur läßt sich weiter verfolgen – jede! Und auch diese werden wir aufnehmen und so versuchen, jene Frau zu finden. Nur eine Bitte, Herr Löwenstein: Schweigen Sie über dieses Abenteuer! Und schärfen Sie auch Ihrer Gattin und Tochter Verschwiegenheit ein.“

Der alte Herr schüttelte jetzt zweifelnd den Kopf. „Gewiß – wir werden schon den Mund halten, Herr Harst, – aber – ich fürchte, Sie werden diese Person, die ich Ihnen nicht einmal näher beschreiben kann, kaum aufstöbern können. Wie wollen Sie das anfangen?“

„Meine Sorge!“ lächelte Harst.

Der Juwelier stand auf. „Ich muß mich verabschieden. Meine Tochter vertritt mich im Geschäft.“

Wir begleiteten ihn bis an die Gitterpforte des Vorgartens.

„Vor anderthalb Jahren hatte ich hier als Gegenüber nur einen Holzzaun,“ meinte Harst seufzend. „Jetzt, Herr Löwenstein, hat man mir da fünf vornehme Mietskasernen vor die Nase gesetzt – scheußlich!“

Der Juwelier packte plötzlich Haralds Arm.

„Da – da ist ja wieder das alte Weib, das mir schon in der Straßenbahn auffiel, als ich hierher kam. Sie stieg nachher ebenfalls in den Grunewaldring um. Dort – die mit der schwarzen Mantille und dem unglaublichen Hut –“

Tatsächlich: Da stand schräg gegenüber unserem Hause eine weißhaarige Frau vor der Eingangstür eines der Mietpaläste! Und – dieses ärmlich gekleidete Weiblein hinkte nun die vier Stufen zu jener Haustür empor und verschwand im Flur.

Harst sagte schnell: „Starren Sie nicht so auffällig hinüber, Herr Löwenstein. Gehen Sie nur getrost heim. Das Weib dort werden wir schon erledigen.“

Er gab dem Juwelier die Hand, und gleich darauf schritt unser Gast der nächsten Straßenbahnhaltestelle unweit des Ringbahnhofs Schmargendorf zu.

„Ins Haus, mein Alter,“ kommandierte Harald. „Machen wir uns zum Ausgehen fertig. Die Kaserne da drüben hat nur den einen Ein- und Ausgang. Das Weib muß also wieder die Straße betreten. Sie ist ja fraglos nur deshalb dort verschwunden, um sich vor Löwenstein zu verbergen. Diese Geschichte wird jetzt immer spannender –“

 

2. Kapitel.

Wir lauerten hinter den Gardinen zwei volle Stunden. Das Weiblein erschien nicht. Nur ein paar andere Leute verließen das betreffende Haus, auch drei Frauen. Aber von diesen Frauen glich auch nicht eine der weißhaarigen Alten.

Dann gingen wir zu dem Portier der Mietskaserne. Harst, den der Mann sofort erkannte, hatte nach wenigen Fragen festgestellt, daß eine Greisin, die stark gebückt ging und eine Mantille und einen schwarzen Strohhut mit buntem Seidenband trug, hier nicht wohnte. – Zu allem Überfluß holte der Portier noch seine Frau, die gerade die Treppen gesäubert hatte. Und nun kam die seltsame Überraschung: die Portierfrau hatte die Alte sehr wohl bemerkt, hatte auch gehört, daß diese bis zum vierten Stock emporstieg. Dann war nach einer Weile eine junge, schlanke Dame mit einem Paket die Treppen herabgekommen. Diese blonde Dame war der Portierfrau ebenfalls unbekannt gewesen. Sie hatte ihr nachgeschaut, weil die Fremde so sehr stark nach Parfüm roch.

Auch wir hatten diese Dame gesehen. Sie hatte ein in Packpapier eingeschnürtes, länglich-rundes Bündel in der Linken gehabt und war in ein blaues Kostüm gekleidet gewesen, hatte dazu einen kleinen englischen Strohhut getragen und recht schick ausgeschaut.

Harald dankte den Portierleuten und fügte hinzu:

„Ich möchte doch mal die Treppen bis zum Boden emporsteigen.“

Wir taten es. Harst ging voran und hatte die Augen überall. So kamen wir in den vierten Stock. Auf dem Treppenabsatz unter dem bunten Fenster befanden sich die Heizkörper. Das Haus hatte Zentralheizung. Harald bückte sich plötzlich und zog hinter den Heizkörpern einen völlig zerknüllten schwarzen Strohhut mit buntem Seidenband hervor, hielt ihn mir unter die Augen und sagte:

„Also deshalb kam die Greisin nicht zum Vorschein! Sie hat sich hier in die schlanke Blonde verwandelt. Gehen wir noch höher hinauf.“

Und hier – fünf Stufen vor dem Ende der Treppe, blieb Harald wieder stehen und fragte:

„Riechst Du was?“

„Ja – Parfüm!“

Er deutete auf die eine der Stufen, die hier keine Läufer mehr hatten, kniete nieder und beroch das Holz.

„Bitte – überzeuge Dich,“ sagte er und richtete sich auf. „Hier hat die Frau sich parfümiert. Ein paar Tropfen sind vorbeigespritzt. – Oh – es ist eine ganz Geriebene, diese Blonde! Das Parfüm sollte sie uns unkenntlicher machen! – So, den Hut nehmen wir mit.“

Gleich darauf standen wir in seinem Arbeitszimmer am Fenster und besichtigten den Hut, den Harst scherzend mit „Kiepe“ bezeichnete.

Doch – die Kiepe verriet nichts – nichts! Sie hatte zwar ein Futter, aber ohne Firmenaufdruck.

Harst schloß den Hut weg. „Vielleicht brauchen wir ihn noch gelegentlich,“ meinte er und lächelte dazu.

„Du hast doch etwas gefunden, das –“ – Er ließ mich nicht aussprechen.

„Ja – etwas, das Du ebenfalls hättest bemerken müssen, etwas, das sich sozusagen zueinander in Gegensatz stellt –“

Um was es sich handelte, fragte ich erst gar nicht. Er hätte mir’s ja doch vorenthalten mit seiner unausrottbaren Sucht, Geheimniskrämerei zu treiben. –

So begann für uns das Problem, das ich „Die Kartenlegerin der Borsigstraße“ betitelt habe. Weshalb – das wird der Leser sehr bald sehen. Ich bitte ihn nur jetzt schon, sich alle Einzelheiten des Vorausgegangenen genau einzuprägen und ebenso genau auf die folgenden zu achten, denn diese „Kartenlegerin“ gehört zu den verwickeltsten Fällen, die Harald Harst je zu bearbeiten und die er doch bereits im Anfangsstadium in der Hauptsache lediglich auf Grund allerfeinster Geistesarbeit durchschaut hatte. –

Harst hatte die Kiepe verwahrt, kehrte nun zu mir an das Fenster zurück und legte mir die Hand leicht auf die Schulter.

„Die Frau mit den „ererbten“ Diamanten und den verarbeiteten, aber schön geformten Händen und die Besitzerin der Kiepe dürften ein und dieselbe Person sein, mein Alter,“ sagte er leise und in jenem etwas farblosen Tone, der stets verriet, daß sein Hirn emsig bemüht war, präziseste Kombinationen aus winzigen Kleinigkeiten herzustellen. „Die Frau aus der Straßenbahn hat heute früh Löwensteins Haus beobachtet. Sie wollte sehen, ob der Juwelier über Nacht irgendwie hinsichtlich dieses Kaufes argwöhnisch geworden war. Sie folgte ihm bis zur Paulstraße und weiter bis hierher. Falls sie nicht gewußt hat, wer Blücherstraße 10 wohnte, – jetzt weiß sie es sicher! Im Adreßbuch steht ja „Blücherstraße Nr. 10 – Harald Harst, Gerichtsassessor a. D.“ Das wird der Frau genügt haben. Sie ist nun gewarnt: „Harst ist hinter Dir her, den der Juwelier natürlich des Diamantenkaufs wegen aufsuchte!“ – Also wird sie sich bemühen, uns die Arbeit nach Kräften zu erschweren. Der Kampf dürfte nicht ganz einfach werden, mein Alter, denn diese Frau, die so tadellos eine Greisin darstellt und fünf Minuten drauf eine schicke junge Dame, ist als Gegnerin nicht zu verachten. Wir werden jetzt zunächst zu Löwenstein nach der Invalidenstraße fahren. Ich möchte ihn noch einiges fragen. Vielleicht hat er doch noch mehr Einzelheiten an der Person festgestellt, ähnlich der von dem rissigen Zeigefinger, der doch auf gröbere Hausarbeit hindeutet und unsere Gegnerin in solidere Kreise einreiht. Sie gehört sicherlich nicht zu den gewerbsmäßigen Hochstaplerinnen und ähnlichen „Damen“, da diese Sorte sich schwer hütet, die Hände zu einer Arbeit zu rühren, bei der die Fingerchen leiden. Ja – ich wiederhole: diese Verschleierte verkaufte die Diamanten aus Not, aus Geldmangel, denn trotz des ganz fein ausgeklügelten Planes hätte dieser immer noch vorbeigelingen und die Frau dann in eine böse Patsche bringen können. Ich möchte beinahe sagen, daß –“

Das Telephon auf dem Schreibtisch schrillte. Harst nahm den Hörer von den Gabeln.

„Hier Harald Harst. – Ah – Frau Löwenstein. Ja – ich verstehe sehr gut. – Etwas Neues ist passiert? – Gut – wir sind in einer Viertelstunde in Ihrer Privatwohnung. – Auf Wiedersehen! Regen Sie sich nicht unnötig auf. Wir werden die Sache schon aufklären. Ihren Gatten trifft doch keinerlei Vorwurf –“

Er legte den Hörer weg.

„Alterchen,“ sagte er händeringend. „Jetzt gefällt mir Berlin wieder ausgezeichnet. Vorwärts – hin zu Löwensteins nach der Turmstraße.“

Wir läuteten an der Flurtür. Uns öffnete dann nach einer Weile eine grauhaarige Frau mit einem Hornkneifer auf der Nase.

„Bitte – mein Mann kommt sofort,“ flüsterte sie nervös. „Ach – Herr Harst, ich bin noch ganz verstört! Noch nie hat mein Siegfried was mit der Polizei zu tun gehabt – noch nie! – Treten Sie hier in den Salon ein, meine Herren –“

Wir setzten uns in die altmodischen Seidensessel. Sie trippelte geschäftig hin und her, bot uns Zigarren an und nötigte uns ein Gläschen Malaga auf.

„Trinken Sie nur. Er ist vorzüglich. Siegfried sagt, so eine Blume wie dieser Malaga hätte kein anderer Süßwein –“

Wir stießen mit ihr an. Der Wein war wirklich gut. Ich betupfte mir mit dem Taschentuch die Lippen, griff dann nach dem Aschbecher – nach meiner Zigarre.

Aber – der Arm gehorchte mir nicht mehr. Ein furchtbares Schwindelgefühl hatte mich gepackt. Das ganze Zimmer sauste scheinbar in wahnsinnigem Tempo um mich herum. Ich empfand noch undeutlich, daß ich vom Sessel herabrutschte. Dann – war es aus mit mir – vorläufig.

Als ich endlich wieder zu mir kam, als ich trotz der starken Kopfschmerzen und trotz des Ohrensausens, trotz der Übelkeit, die mir in der Kehle würgte, und trotz des nervösen Zitterns in Armen und Beinen mir über meine Lage klar wurde, da spürte ich auch gleichzeitig in meinem Rücken eine Bewegung, da – stieß etwas gegen meinen Hinterkopf. – Und im Moment wußte ich Bescheid: ich war Rücken an Rücken mit jemand zusammengebunden, und dieser jemand konnte nur Harald sein!

Ringsum war es völlig dunkel. Ich merkte nun auch, daß mir ein Knebel im Munde steckte, der mir mit einer Schnur im Genick festgebunden war.

Immer mehr klärten sich meine Gedanken. Frau Löwenstein hatte uns durch den Malagawein betäubt. Wir waren in eine Falle geraten! Kein Zweifel – dieser biedere Juwelier war ein ganz abgefeimter Halunke!

Harst regte sich wieder. Ich tat dasselbe. Nun wußte er, daß ich wach war. Ich suchte mir über die Art unserer Fesselung nun gleichfalls klar zu werden. Wir standen aufrecht da. Unter meinen Armen lief ein Strick in die Höhe, der mich während meiner Bewußtlosigkeit in dieser Stellung festgehalten hatte.

Allmählich schwanden Übelkeit und Beinzittern. Und so standen wir beide denn und – warteten – warteten. Irgend etwas würde sich ja nun ereignen. Der kleine Juwelier würde mit einer Laterne erscheinen und uns höhnisch angrinsen. – Ja – und was würde er dann tun?!

Ich konnte diese Gedanken nicht weiter ausspinnen. Ich hörte ein Geräusch. Ein Türdrücker bewegte sich, ein Schloßriegel schnappte zurück. Dann schoß der Lichtkegel einer Taschenlampe auf uns zu. Die Batterie mußte frisch sein. Die Leuchtkraft war recht stark.

Ich wandte den Kopf. Ich erkannte einen mittelgroßen Mann, erkannte undeutlich ein bärtiges Gesicht.

Das war niemals der kleine Löwenstein! Wer in aller Welt war das nur?!

Und der Mann begann zu sprechen, mit gedämpfter, heiserer Stimme:

„Wenn Sie beide mir ehrenwörtlich versichern, nicht um Hilfe zu rufen, nehme ich Ihnen die Knebel ab. Sie dürfen auch nur flüsternd mit mir verhandeln und müssen sich nachher die Knebel wieder in den Mund schieben lassen.“

Ich fühlte, daß Harst eifrig nickte. Ich bekundete daher auf dieselbe Weise, daß ich den Knebel los sein wollte.

Der Mann trat näher. Ich roch deutlich den Schnapsduft, der seinem Munde entströmte.

Dann holte ich tief Atem! Der Knebel war doch recht lästig gewesen.

Der Mann lehnte sich wieder an den Türrahmen. Ich sah, daß wir uns in einem leeren Raume mit geweißten Wänden befanden. Rechts von mir war ein kleines, längliches Fenster in der Wand. Es war mit einer alten Decke verhängt.

„Ich möchte Ihnen jetzt zunächst eröffnen,“ fing der Mann wieder an, „was aus Ihnen beiden wird, wenn Sie meinen Vorschlag ablehnen. Sie stehen auf einer schmalen Kiste. Entferne ich die Leinen, die Ihnen unter den Armen durchgezogen und die oben an dem Lampenhaken festgeknotet sind, so dürfen Sie sich nicht mehr bewegen, sonst kippt die Kiste um und – Sie hängen jeder in einer Schlinge, die um Ihre Hälse gelegt ist.“

Er beleuchtete die Kiste. Ich schaute nach unten. Die Kiste war schmal und hoch. Und – auch unsere Füße waren eng aneinander gefesselt! Da durften wir uns allerdings nicht viel bewegen!

„Wie gesagt,“ fügte der Schnapsduftende hinzu, „wenn Sie nicht tun, was meine Auftraggeberin verlangt, lasse ich Sie hier so lange stehen, bis Sie vor Ermüdung von der Kiste fallen und dann – Ihr eigenes Todesurteil sprechen! Glauben Sie nicht, daß wir umsonst drohen. Für uns steht hier zu viel auf dem Spiel!“

„Was verlangen Sie denn?“ meldete Harst sich jetzt.

„Ihre ehrenwörtliche Versicherung, daß Sie beide der Frau nicht mehr nachspüren werden, die dem Juwelier Löwenstein die fünf Diamanten verkaufte, und daß Sie sich von hier in einer Weise dann wegführen lassen, wie sie mir am richtigsten scheint. Ebenso dürfen Sie niemandem etwas von dieser Ihrer Gefangenschaft mitteilen und müssen auch mich ganz unbehelligt lassen.“

„Hm – Sie verlangen etwas viel,“ meinte Harald. „Sie haben vor uns Angst. Ihre Drohungen verlache ich. Man wird nach uns suchen und uns auch finden.“

Der Bärtige kicherte höhnisch. „Finden?! Na, da können Sie lange warten! Hier sucht Sie niemand, und wenn die gerissensten Detektive an der Arbeit wären! Sie selbst würden sich hier nicht suchen, Herr Harst!“

„So?! Na, da irren Sie sich gründlich. Als wir das Haus betraten, in dem Löwenstein wohnt, sah ich an der Haustür eine Papptafel hängen:

5-Zimmerwohnung in der 2. Etage von sogleich zu vermieten. Anfragen beim Hauseigentümer nebenan Nr. 198, 1 Treppe.

Diese Tafel läßt mich vermuten, daß wir in der Mädchenkammer dieser leeren Wohnung zur Zeit uns erzwungenerweise aufhalten. Ich durchschaue auch das ziemlich kecke Räuberstückchen, dem wir zum Opfer fielen. Die, die mich und Schraut telephonisch zu Löwensteins bestellte, ist ebensowenig Frau Löwenstein gewesen wie die Frau, die uns dann dort empfing und uns den Malaga so vollendet harmlos aufdrängte. Frau Löwenstein und ihre Tochter wird man durch einen ähnlichen Schwindel vorher aus der Wohnung entfernt haben. In diese wirklich originelle Falle mußten wir hineintappen! Ich gebe zu, daß ich erst Bescheid wußte, als der Wein zu wirken begann. – Sie sehen also: mir bleibt so leicht nichts verborgen! Und genau so gut wie ich auf den Gedanken gekommen bin, daß wir uns in der Wohnung über Löwensteins befinden, wohin man uns leicht über die dunkle Treppe schleppen konnte, wird auch ein Kriminalbeamter bei der Suche nach uns –“

Der Mann kicherte schon wieder und rief leise: „Kein Mensch sucht Sie, Herr Harst. Wir haben an Ihre Mutter ein Stadttelegramm geschickt:

„Muß für ein paar Tage verreisen. Herzlichst – Harald.“

Diese Depesche schützt uns ebenfalls.“

Harst schwieg.

„Nun?“ fragte der Mann. „Ich darf Ihnen nur noch fünf Minuten Bedenkzeit geben –“

Harst schwieg wieder. Ich ruckte mit dem Kopf nach hinten, munterte ihn so auf, doch zuzustimmen. Die Lage für uns war heikel genug.

Da – die fünf Minuten mußten beinahe vorüber sein – da sagte Harst ärgerlich:

„Zum Teufel, – wenn’s denn nicht anders geht: Sie haben mein Wort, daß ich Ihre Bedingungen genau und wörtlich einhalten werde.“

„Auch ich verspreche dasselbe,“ erklärte ich hastig, und mir fiel ein Stein vom Herzen.

Der Mann knotete unsere Fesseln auf, holte unsere Hüte und Spazierstöcke, bat uns, die Stiefel auszuziehen und ihm lautlos zu folgen.

Nun – es war wirklich das Haus, in dem Löwensteins wohnten! Ich erkannte es an den Treppen wieder, die wir nun hinabschlichen. Der Mann schloß die Haustür auf und sagte: „Gehen Sie schnell davon und drehen Sie sich nicht um.“

Wir schlüpften in die Stiefel und gingen.

 

3. Kapitel.

Es war ½1 Uhr morgens, als uns ein Auto dann vor Blücherstraße 10 absetzte. Harst hatte bisher hartnäckig geschwiegen. Erst als wir in seinem Arbeitszimmer saßen und die Kaffeemaschine vor uns auf dem Tische summte, als ich aus der Speisekammer allerlei gute Sachen geholt hatte und wir unseren knurrenden Mägen etwas zukommen ließen, meinte er:

„Schade, daß wir das Weib unbehelligt lassen müssen. Ich hätte zu gern festgestellt, wer sie eigentlich ist und welcher Art ihre Beziehungen zu Mautley und Bickpool sind. Na – zum Glück habe ich noch eine andere Sache bei der Hand, die uns hoffentlich diesen Reinfall schnell vergessen macht. Du besinnst Dich, mein Alter, was ich zu meiner Mutter gestern beim Frühstück sagte: daß ich in der Zeitung bereits –“

„Ja ja – ich besinne mich!“ meinte ich rasch. „Um was handelt es sich denn?“

„Um das Verschwinden einer Frau Anita Paszenski aus der Borsigstraße Nr. 221, Gartenhaus, Erdgeschoß rechts. Sie war als Opernsängerin polizeilich gemeldet, war jedoch – Aber das alles liest Du besser in der Zeitung nach. Warte, ich suche sie Dir heraus. Da – bitte, hier ist der Artikel.“

Da stand:

Ein geheimnisvoller Selbstmord und das Verschwinden einer bekannten Kartenlegerin.

Vor drei Tagen, also am 18. Mai, ließen die Bewohner des Gartenhauses Borsigstraße 221 abends vom Polizeirevier einen Beamten kommen, damit in dessen Gegenwart die Wohnung der dort im Erdgeschoß rechts wohnenden Witwe Anita Paszenski geöffnet würde. Seit dem 11. Mai hatte niemand die Paszenski und ihren Aftermieter, den unverehelichten Musiker Friedrich Reinke, gesehen. Niemand hatte auch irgend ein Geräusch in der aus zwei Stuben bestehenden Wohnung der Paszenski gehört.

Ein Schlosser öffnete die Flurtür. Rechter Hand liegt das Zimmer, das der 62jährige Reinke seit anderthalb Jahren bewohnte. Hier fand man Friedrich Reinke an einem Bilderhaken erhängt vor. Der starke Leichengeruch bewies, daß Reinke bereits vor längerer Zeit verstorben sein mußte.

Im übrigen war die Wohnung leer. Die Witwe Paszenski scheint ihr Heim in der Absicht verlassen zu haben, es nicht wieder zu betreten. In dem Kachelofen ihres Zimmers fand man Asche von Papier und anderen Dingen. Die Schubladen und Schränke waren bis auf ganz unpersönliche Dinge leer.

Noch am Abend des 13. Mai erschien die Kriminalpolizei und stellte noch folgendes fest: Aus der Stube des seit langem beschäftigungslosen Musikers waren ein Sparbuch, die Uhr des Toten und dessen recht wertvolle Geige verschwunden. – Man rechnete also mit einem nur vorgetäuschten Selbstmord, obwohl die Bewohner des Hauses sämtlich bekundet haben, daß Friedrich Reinke seit langem kränklich war und wiederholt geäußert hatte, er würde sich erhängen, falls sein Zustand sich nicht bald bessere.

Die Nummer des Sparbuchs ist inzwischen ermittelt worden. Reinkes Ersparnisse betrugen vor einem Jahre 2250 Mark, die jetzt bis auf einen Rest von 125 Mark zusammengeschmolzen sind. Er litt an einem Ohrenleiden, und seit 8 Monaten war er ohne Stellung. – Die Sektion der Leiche hat jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, das Reinke ermordet worden ist. Die Ärzte haben übereinstimmend erklärt, die chronische Mittelohreiterung des Reinke müsse außerordentlich schmerzhaft gewesen sein und hätte das Hirn auch bereits in Mitleidenschaft gezogen. Der Tod sei wahrscheinlich am 11. Mai früh morgens eingetreten und lediglich infolge Erdrosselung durch die Schlinge des um den Bilderhaken geschlungenen Strickes.

Die Kriminalpolizei hält trotz alledem hier ein Verbrechen für vorliegend und nimmt an, daß die Witwe Paszenski die Mörderin ist. Hierfür sprechen in der Hauptsache die beiden Verdachtsmomente, daß die Paszenski doch offenbar geflüchtet ist und daß aus dem Zimmer Reinkes die einzigen ihm gehörigen Dinge von Wert verschwunden sind.

Über die Paszenski konnten die Hausbewohner mancherlei angeben. Sie ist polizeilich als Opernsängerin gemeldet, lebte aber lediglich von ihren Einnahmen als Kartenlegerin. Sie wohnte im Gartenhause Nr. 221 seit 1¾ Jahren. Zunächst hatte sie nur wenig Kundschaft. Sie verstand es aber, für sich Reklame zu machen. Es ging mit ihrem Geschäft dann immer besser. Sie hatte schließlich Kundinnen in den feinsten Kreisen. Sie verlangte nie Geld für ihre etwas fragwürdige Kunst. Jeder gab, was er geben wollte. Und doch muß die Paszenski sehr viel verdient haben.

Das Zimmer in dem sie aus den Karten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthüllte, war von ihr – wohl absichtlich – auf das ärmlichste eingerichtet worden. Die Möbel waren nur altes zusammengewürfeltes Gerümpel. Sie selbst ist jetzt ihrem polizeilichen Meldeschein nach 43 Jahre alt. Ihr Mann war Schauspieler, ist aber früh verstorben. Die Ehe war kinderlos. Die Paszenski zog von München aus vor 1¾ Jahren nach Berlin. Sie wird als etwas über mittelgroß, schlank und rothaarig geschildert. Sie trug stets eine goldene Brille und puderte sich stark. Ihr Gesicht fiel wegen der dicken, geraden, dunklen Augenbrauen auf. Das rötlich-braune Haar hatte sie stets gescheitelt und halb über die Ohren frisiert. In der Kleidung war sie sehr nachlässig und bevorzugte lose, bunte Gewänder.

Wichtig erscheint, daß die Paszenski spät abends stets noch ausging. Einer Hausbewohnerin hat sie anvertraut, sie hätte eine Anstellung als Garderobenfrau in einem Nachtlokal. Die Kriminalpolizei hat jedoch bereits festgestellt, daß dies nicht der Fall gewesen ist. – Auf der Straße ging die Paszenski nur verschleiert und trug ganz unmoderne Sachen, die sie für alt irgendwo kaufte. Die Mittagsmahlzeit nahm sie stets außerhalb ein. Von ¼12 bis ½2 mittags war sie nie daheim. –

Wir enthalten uns hier jedes Urteils, ob man dieser Frau einen Mord zutrauen kann. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei gehen weiter.

Nach Redaktionsschluß noch gemeldet: „Die angebliche Anita Paszenski hat sich hier, wie nunmehr feststeht, auf falsche Papiere polizeilich angemeldet. Es gibt eine Opernsängerin dieses Namens, die aber inzwischen wieder geheiratet hat und in guten Verhältnissen in Konstanz lebt. – Die Persönlichkeit der jetzt steckbrieflich Verfolgten erhält hierdurch einen noch rätselhafteren Schimmer. Man kann gespannt sein, wie dieser nicht alltägliche Kriminalfall sich klären wird.“

Ich ließ die Zeitung sinken und begegnete Harsts wie fragend auf mir ruhenden Blicken.

„Na?“ meinte er, als ich schwieg und nur nach der Zigarre langte, die auf dem Aschbecher lag.

Ich zuckte leicht die Achseln. „Der Redakteur hat ganz recht: man muß sich hier jedes Urteils vorläufig enthalten.“

„So?!“ Er stand auf und füllte unsere Kaffeetassen. „So – enthalten?! Hm, nachdem jetzt erwiesen ist, daß diese Kartenlegerin unter falscher Flagge segelte, gewinnt die Sache doch ein ganz anderes Aussehen.“

Er setzte sich und fuhr fort:

„Versetze Dich mal in die Lage dieser Frau, die sich mit falschen, fremden Papieren hier angemeldet hatte. Sie findet am Morgen des 11. Mai ihren Mieter erhängt auf. Sie weiß, daß die Polizei erscheinen und daß man ihr sehr wahrscheinlich scharf auf den Zahn fühlen wird. Bisher hat sich niemand um sie gekümmert. Sie wird nun sehr triftige Gründe gehabt haben, ihren wahren Namen zu verheimlichen. Sie will weiter in Sicherheit und in der Verborgenheit leben. Deshalb flieht sie, verbrennt alles, was auf ihre Spur führen kann, nimmt zum Schein alles Wertvolle des Toten mit und will so die Polizei über die Beweggründe ihres Verschwindens täuschen, will dem Selbstmorde Reinkes –“

Er schwieg. Draußen im Flur hatte die elektrische Glocke kurz angeschlagen.

„Na nu – noch Besuch?!“ meinte Harst kopfschüttelnd und eilte zur Tür.

Ich hörte ihn im Flur mit jemand sprechen. Dann trat Herr Siegfried Löwenstein ein, hinter ihm Harald.

Der alte Herr war erregt, drückte mir die Hand, begann sofort:

„Ich habe Sie gestern um ¼1 Uhr mittags telephonisch angerufen, Herr Harst. Ihre Frau Mutter erklärte, sie hätte soeben eine Depesche erhalten, daß Sie beide plötzlich verreist seien. Wenn ich nun jetzt in der Nacht trotzdem versuchen wollte, ob ich Sie bereits wieder antreffen würde, so hat das seinen guten Grund. Mir ist vor drei Stunden etwa im Stadtbahnzuge zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Bahnhof Bellevue etwas sehr Merkwürdiges begegnet. Ich mußte im Abteil stehen. Der Wagen 2ter war dicht besetzt. Im Nebenabteil hörte ich plötzlich eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Dann besann ich mich: es war die Stimme jener Frau mit den „ererbten Bergkristallen“. Ich drängte mich sofort bis in das Nebenabteil durch. Dort saßen fünf Damen. Im Gange standen noch drei und mehrere Herren. Leider schwieg die Betreffende jetzt. Und ich konnte beim besten Willen nicht feststellen, welche von den acht Damen die war, auf die ich es abgesehen hatte. Ich habe sie alle scharf gemustert. Zwei Blondinen waren darunter. Doch – damit ließ sich nichts anfangen. Trotzdem wollte ich nötigenfalls über meine Station Bellevue hinausfahren. Die beiden Blondinen stiegen jedoch Bellevue aus. Sie waren verheiratet und hatten ihre Männer mit. Ich konnte dann nur dem einen Paare folgen und sprach den Herrn einfach an. Er stellte sich mir als Regierungsbaumeister Meier oder Beier vor, und seine Gattin – hatte nicht das weiche Organ mit dem fremden Akzent, das ich suchte. Ich wollte dann noch dem anderen Paare nach, fand es aber nicht mehr. Außerdem ist gestern vormittag meiner Frau und meiner Tochter ebenfalls etwas sehr Sonderbares passiert. So gegen ½12 wurde meine Privatwohnung angerufen, angeblich vom Polizeipräsidium aus. Ein Kommissar Lehnert bat meine Frau und meine Tochter, sofort auf Kosten der Polizei im Auto nach dem Präsidium am Alexanderplatz zu kommen, um dort in einer dringenden Sache vernommen werden zu können. Sie fuhren denn auch hin. Aber – alles war Schwindel, und auf dem Präsidium riet man ihnen, schleunigst heimzukehren, da inzwischen vielleicht die Wohnung ausgeräumt sein könnte. Zum Glück fanden sie jedoch daheim alles unverändert vor. Wir halten keine Bedienung, und da lag die Gefahr, daß Diebe die Meinen vom Hause weggelockt hätten, doch sehr nahe. Es muß sich aber jemand nur einen schlechten Scherz erlaubt haben.“

„Fraglos!“ meinte Harst und blinzelte mir zu.

Der Juwelier kam dann wieder auf die Frau mit den „ererbten“ Diamanten zu sprechen. Harst erklärte nun, es würde uns doch wohl sehr schwer fallen, dieses Weib zu ermitteln.

Löwenstein verabschiedete sich erst gegen 2 Uhr morgens. Wir hatten sehr angeregt geplaudert. Der starke Kaffee erhielt uns munter. Auch als wir nun wieder allein waren, schien Harald ans Schlafengehen noch immer nicht zu denken.

Er wanderte im Zimmer auf und ab und hielt mir einen langen Vortrag über die kriminelle Seite weiblicher Frisuren, über die Rolle, die einzelne Frauenhaare bei berühmten Mordprozessen gespielt hätten und über die Leichtigkeit, mit der man durch eine Damenperücke das echte Haar verbergen könne.

Ich wurde allgemach müde, wurde jedoch schnell wieder munter, als Harst nun seinen großen Bücherschrank öffnete und aus dem linken Seitenspind den zerknüllten schwarzen Strohhut herausnahm.

 

4. Kapitel.

„Vielleicht siehst Du ihn Dir nochmals an,“ sagte er und legte ihn mir auf den Schoß. „Ich empfehle die Unterseite des Randes Deiner Beachtung. Die Frau, von der die Diamanten verkauft wurden und die nachher eine gebückte Greisin spielte, hat bei alter Schlauheit eins nicht bedacht: daß ein Strohgeflecht wie dies da sehr leicht Haare festhält, die nachher eine ganze Geschichte erzählen –“

Ich besichtigte den Hut jetzt in anderer Weise als beim ersten Male. Meine Aufmerksamkeit galt lediglich der Unterseite des Randes. Und – ich fand zunächst eingeklemmt in rissige Teile des Geflechts zwei kurze Stücke eines weißgrauen und ein Stückchen eines blonden Haares, dann –

Ja – dann rief ich: „Jetzt begreife ich! Deshalb also mußte ich die Zeitungsberichte über die Paszenski lesen – deshalb!“

Und dieses „deshalb“ bestand in drei Stückchen rötlich-braunen Frauenhaars! Und Haar von dieser Farbe besaß ja die Kartenlegerin der Borsigstraße –!

„Ist das alles?“ fragte Harald.

„Ich denke, es ist übergenug,“ meinte ich, noch ganz erregt durch diese Entdeckung.

„Als einzelnes wiegt diese nunmehr vorhandene Wahrscheinlichkeit, daß die „Frau“ auch die angebliche Paszenski gewesen sein dann, nur leicht. Denn Du stützt diese Wahrscheinlichkeit lediglich auf drei Endchen rötlich-braunes Haar. So läßt sich aber unschwer bis zur Gewißheit logisch weiterbauen. Dann erst hat sie Wert. Und dieses Weiterbauen ist so einfach, mein Alter. Denke nur ein wenig nach.“

Er hatte sich dicht neben mich an den Tisch gelehnt. „Indizienbeweise nennt man bekanntlich solche, die anstelle eines augenscheinlichen Beweises durch zusammenfügen von winzigen, dem sogenannten Beweisthema fernliegenden Tatsachen so logisch und zwingend überzeugend sind, daß ihre Gesamtheit den greifbaren Beweis ersetzt. Sehen wir zu, was wir an Indizienbeweisen in diesem Falle aufbringen. – Die Diamantenverkäuferin und die Kartenlegerin wollen wir also sozusagen zu einer Person zusammenschweißen. Die äußere Erscheinung beider können wir weglassen. Wir wissen ja am besten, wie wenig darauf zu geben ist, und wie leicht man sich äußerlich durch allerlei Kunstgriffe verwandeln kann. Für uns darf nur das Handeln der betreffenden Personen und deren besondere Lebensverhältnisse mitsprechen. – Beginnen wir nun. Erstens: die Frau in der Straßenbahn muß den Juwelier gekannt haben. Darüber sind wir uns einig. Die Kartenlegerin wieder wohnte in nächster Nähe des Geschäftes des Juweliers, nur um die Ecke herum. Sie wird Löwenstein also ebenfalls gekannt haben. Es spricht jedenfalls eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür.“

Hier wollte ich mein Licht leuchten lassen und sagte schnell:

„Außerdem war ja Rosa Löwenstein bei ihr feste Kundin. Die Kartenlegerin konnte diese also über den alten Herrn ausfragen.“

„Ganz recht. Ich wollte mir die Tochter des Juweliers bis zuletzt aufsparen – als eines der wichtigsten Beweismomente. Gut – berücksichtigen wir sie sofort. Die Kartenlegerin hatte durch sie die Möglichkeit, sich über die Charaktereigentümlichkeiten Löwensteins sehr bequem Aufschluß zu verschaffen. Auch in der Nachbarschaft wird der Juwelier im guten Rufe gestanden haben, – eben als anständiger, gutherziger Geschäftsmann. Und diese Nachbarschaft wird zum großen Teil auch zur Kundschaft der angeblichen Paszenski gehört haben. – Das wäre Punkt eins, nämlich der Wahrscheinlichkeitsbeweis dafür, daß gerade die Kartenlegerin mehr als jede andere weibliche Person in der Lage war, sich gerade den Juwelier Löwenstein für diesen Diamantenverkauf auszuwählen. Mehr als jede andere! Und darauf kommt es an; daraus ergibt sich die Möglichkeit, daß die Diamantenverkäuferin, die wir ja als Verwandlungskünstlerin bereits kennen, eben die angebliche Paszenski gewesen ist. – Punkt zwei. Wir haben hier einen Frauenhut, in dem wir drei Haarstückchen von verschiedener Farbe fanden: blond, grauweiß und rotbraun. Der Hut ist also sowohl von einer Blondine, als auch von einer Frau mit ergrautem und schließlich noch von einer mit rötlich-braunem Haar getragen worden. Wir wissen nun, daß die Diamantenverkäuferin als Blondine und als Greisin aufgetreten ist. Jetzt entdecken wir noch rotbraune Haarstückchen in dem Hutgeflecht. Wir entdecken sie, nachdem wir uns bereits klar gemacht haben, daß die Möglichkeit vorliegt, daß die Kartenlegerin und die Frau in der Straßenbahn ein und dieselbe Person sein können. Wir müssen uns nun sagen: gewiß, es kann ein Zufall sein, daß auch gerade noch rotbraune Haarteile in der Krempe sich festgeklemmt haben – es kann! Aber dieser Zufall in Verbindung mit dem zu Punkt eins Erörterten verliert so gut wie ganz das Aussehen des Zufälligen. Der höchste Grad von Wahrscheinlichkeit ist jetzt bereits dafür vorhanden, daß der Hut von derselben Person benutzt wurde, die mit Hilfe von Perücken und durch andere zweckmäßige Mittel sich in Frauen der verschiedensten Altersstufen verwandelte. – Punkt drei: die angebliche Paszenski führte ein etwas geheimnisvolles Dasein. Um die Mittagszeit war sie nie in der Borsigstraße anzutreffen, und nachts war sie ebenfalls nicht daheim, behauptete irgend eine Anstellung in einem Nachtlokal zu haben. Ich bin nun der festen Überzeugung, sie hat noch eine zweite Wohnung gehabt, in der sie das Mittagsmahl einnahm und in der sie auch schlief. Ihr Doppelleben wurde durch ihren Mieter, den alten Musiker, nicht gefährdet. Er war ja schwerhörig, und sie stellte sich zu ihm auch möglichst offiziell. Dieses Doppelleben in zwei Behausungen und natürlich unter zwei verschiedenen Namen ist kaum anzuzweifeln.

Nun zu Punkt vier. – Bitte lies jetzt aber erst in der Zeitung den Steckbrief durch, der gegen die Anita Paszenski erlassen ist.“

Er zeigte mir im Anzeigenteil die betreffende Stelle. – Ich will hier nur das anführen, was für die Beurteilung unseres Versuchs, die Kartenlegerin und die Diamantenverkäuferin „zu einer Person zusammenzuschweißen“, in Betracht kommt.

Da stand unter anderem:

„Die Paszenski hatte die Angewohnheit, sich stark zu pudern und dadurch ihre krankhaft rote Gesichtsfarbe zu verdecken. Ebenso trug sie stets vielfach gestopfte Zwirnhandschuhe, auch wenn sie Kundinnen aus den Karten wahrsagte. Die Augenbrauen sollen stets stark nachgetuscht gewesen sein.“

Ich legte die Zeitung wieder auf den Tisch, nickte Harst zu und meinte: „Die Handschuhe sollten die schön geformten Hände verbergen; diese Hände waren eben zu verräterisch.“

„Bravo!“ rief Harald. „Punkt vier wäre also: die Kartenlegerin trug stets Handschuhe, und die Diamantenverkäuferin hatte eine auffallend schöne Hand. Die Handschuhe können also klug berechnete Hüllen für diese verräterischen Hände gewesen sein. – Würden diese vier Punkte für den Nachweis der Identität der beiden Frauen genügen?“

„Ja – vollauf!“

„Mir ebenfalls. Wir haben also durch Indizien bis zur höchsten Wahrscheinlichkeit den Beweis erbracht, daß die angebliche Paszenski die Diamanten an Löwenstein verkauft hat; wir sind des weiteren überzeugt, daß von einer Flucht der Paszenski keine Rede ist, sondern lediglich von einem Aufgeben der Rolle als Kartenlegerin, und daß diese Frau, die eine glänzende Schauspielerin sein muß, hier in Berlin nun in ihrem zweiten Heim in voller Sicherheit weiterlebt. Wir haben uns nun verpflichtet, der Diamantenverkäuferin nicht weiter nachzuspüren. Das werden wir auch nicht tun. Aber wir werden die Frau suchen, die als Kartenlegerin viel Geld verdiente und die im Verdacht steht, den Musiker Reinke ermordet zu haben. – Würde ich die Frau aus der Straßenbahn suchen, so könnte ich Dich jetzt noch auf folgendes hinweisen: Bei der am 10. Mai erfolgten Verhaftung Mautleys und Bickpools wurde nur der geringste Teil der Diamanten gefunden. Einen Tag drauf verschwindet die Kartenlegerin, die fünf von diesen Diamanten am 16. Mai abends dem Juwelier verkauft – also nach Bekanntwerden der Verhaftung der beiden Verbrecher. Die Kartenlegerin scheint also die Diamanten erst zu verkaufen gewagt zu haben, nachdem Mautley und Bickpool verhaftet waren. Man kann hieran noch allerlei Mutmaßungen knüpfen: daß die Verbrecher dieser Frau irgendwie nahe standen und ihr den Hauptteil der Beute zur Aufbewahrung übergeben haben. – Aber: die Diamantenverkäuferin geht uns ja nichts an, darf uns nichts angehen! Mithin dürfen wir uns auch nicht um die Diamanten und Mautley und Bickpool weiter kümmern. Lediglich die Kartenlegerin als solche ist jetzt unser Jagdobjekt. Von ihr wissen wir, daß sie hier in Berlin wohnt. Und wir werden sie so suchen, daß wir dabei alles das aus unserem Gedächtnis ausschalten, was sie mit der Diamantenverkäuferin gemeinsam hat; also die schönen Hände zum Beispiel! Lediglich auf Grund des Zeitungsberichtes und des Steckbriefs gehen wir an diese neue Aufgabe heran, werden also nicht wortbrüchig werden.“

„Eine schwierige Geschichte,“ meinte ich.

„Vielleicht nicht so schwierig, wie Du denkst, mein Alter. Wir werden uns morgen vormittag von der Kriminalpolizei die Erlaubnis erwirken, die Wohnung der Paszenski besichtigen zu dürfen. Es müßte doch schon sehr merkwürdig hergehen, wenn wir beide nicht irgend etwas finden sollten, das einer Spur gleichkommt. – So, nun ins Bett! Gute Nacht!“

Er streckte mir die Hand hin.

Aber die meine blieb wie gelähmt im Schoße liegen.

 

5. Kapitel.

Ich saß in meinem Klubsessel so, daß ich die nur durch dicke indische Vorhänge verschlossene Tür nach dem Nebenzimmer (und das war Haralds Bibliothek und Musiksalon) etwa fünf Schritt entfernt gerade vor mir hatte.

Die Vorhänge hatten sich plötzlich geöffnet, und lautlos war ein Mann eingetreten, besser ein gut gekleideter Herr in dunklem Jackenanzug, darüber einen kurzen, hellen Sportpaletot. Auf dem Kopfe trug er einen weichen, grauen Filzhut, und in der halb erhobenen rechten Hand eine etwas klobige Pistole.

Harst wurde aufmerksam, wandte den Kopf.

„Ah – sehr angenehm!“ meinte er ruhig. „Sie kommen fraglos in Sachen der Diamantenverkäuferin. Sie sind vom Garten aus durch mein offenes Schlafstubenfenster eingestiegen und werden uns schon eine Weile belauscht haben.“

Die klobige Pistole hob sich bis zur Brusthöhe.

„Setzen Sie sich neben Ihren Freund in die Sofaecke,“ befahl der Fremde mit derselben heiseren, röchelnden Stimme, die ich in dieser Nacht bereits einmal in der Mädchenkammer der leeren Wohnung gehört hatte. „Ich warne Sie vor jedem Angriff oder jedem Ungehorsam. Diese Waffe hier ist eine Blabart-Luftpistole mit Repetiervorrichtung und einer Durchschlagskraft, die jedem Revolver gleichkommt.“

Harst fixierte den Mann scharf, sagte dann:

„Obwohl ich weiß, daß Sie nicht schießen werden, will ich doch tun, was Sie wünschen. Ich bin Damen gegenüber stets höflich.“

Er nahm in der Sofaecke Platz.

Ich aber glaubte, mich verhört zu haben. – Damen gegenüber?! Damen?! Was sollte das?!

Der Fremde näherte sich dem Tische und stellte sich hinter den zweiten Klubsessel. Die Pistole bedrohte uns weiter.

„Setzen Sie sich doch bitte gleichfalls,“ meinte Harst jetzt mit leichter Verbeugung. „Ich verspreche Ihnen, in keiner Weise die Pflichten eines Gastgebers zu verletzen. Und – ich betrachte Sie eben als Gast.“ Das klang so höflich, so ohne jede Ironie, daß der Fremde einen Moment verlegen wurde, zu Boden schaute und dann wirklich Platz nahm.

In wenigen Fällen habe ich die Macht von Harsts überragender Persönlichkeit so deutlich gespürt wie damals in jener lauen Mainacht. Auch der Fremde konnte sich diesem Einfluß nicht ganz entziehen. Als er jetzt mit höhnischem Auflachen sagte: „Zum Scherzen bin ich nicht hergekommen!“ klang das auffallend unsicher.

„Nein – zum Scherzen nicht! Das glaube ich sehr wohl,“ nickte Harst. „Sie wollten uns belauschen, wollten hören, was wir über unser Abenteuer in der leeren Wohnung äußern und ob wir auch wirklich unser Ihnen verpfändetes Wort halten würden. Es war also letzten Endes die Angst, die Sie hierher trieb, die Angst vor der Aufdeckung Ihrer Geheimnisse. – Haben Sie mitangehört, was wir über die Kartenlegerin der Borsigstraße sprachen?“

Die Rollen schienen plötzlich vertauscht zu sein. Der Fremde hatte die Pistole sinken lassen, stützte die Hand auf den Tischrand und hielt die Waffe nur nachlässig fest.

„Ja,“ erwiderte er zögernd. „Ich habe alles mitangehört. Ich betrat die Bibliothek, als der Juwelier sich verabschiedete.“

„So so, – und trotzdem begehen Sie jetzt die Torheit und zeigen uns, daß Ihre rechte Hand genau wie die Linke in einem viel zu weiten Herrenhandschuh steckt?!“

Da – der Fremde ließ plötzlich die Hand verschwinden, barg sie samt der Waffe im Schoße.

Harst lachte leise. „Meine Gnädige, Sie haben sich ja bereits verraten. Mich täuscht man nicht so leicht. Schon in der Mädchenkammer wußte ich, daß der nach Schnaps duftende Mann ein Weib war. Sie sind niemand anderes als die Kartenlegerin der Borsigstraße, also auch die Diamantenverkäuferin. Sie sind eine Frau, die mir imponiert. Sie besitzen Erfindungsgabe, Energie, hohes schauspielerisches Geschick und Mut. Ich möchte so gern wissen, wer Sie in Wahrheit sind.“

In der ganzen Haltung der Frau trat jetzt deutlich etwas wie Hilflosigkeit zu Tage. Sie ließ die Blicke unruhig umhergleiten.

„Schonen Sie mich!“ flehte sie dann mit ganz anderer, weicher und lebender Stimme.

„Sie sind mein Gast, wie ich schon betonte,“ sagte Harst kurz, jedoch nicht unfreundlich. „Es steht Ihnen jeden Augenblick frei, mein Haus wieder zu verlassen. Wir werden Ihnen auch bestimmt nicht Nachschleichen. Ich würde Ihnen jedoch raten, lieber uns gegenüber alles einzugestehen. Ich vermute, daß Bickpool und Mautley die Diamanten Ihnen in Verwahrung gegeben haben. Diese Diamanten gehören mir. Der Eigentümer der Edelsteine ist tot und hat gewünscht, daß ich den Erlös aus dem Verkauf der Diamanten wohltätigen Zwecken zuführe. – Ich werde Sie zu finden wissen, glauben Sie mir!“

Die Frau hielt den Kopf tief gesenkt. Sie kämpfte mit sich. Sie hätte gern gebeichtet. Aber – sie wagte es nicht.

Sie stand auf. „Bitte – gestatten Sie, daß ich mich entferne,“ flüsterte sie scheu.

Harst verneigte sich. „Ich werde Sie bis zur Gartenpforte begleiten,“ sagte er.

Und die Frau stammelte ein „Meinen Dank!“ und hastete zur Tür.

Nach wenigen Minuten war Harald wieder bei mir. Wir trennten uns. Meine Zimmer liegen jenseits des Flurs. Als ich gerade die Krawatte losband, erschien Harst nochmals und – trug in der Hand einen kleinen, gelben Lederkoffer.

„Der Koffer stand vor meinem Bett,“ sagte er. „Er enthält – die Diamanten. Die Frau hat ihn mir gebracht. Die Sache ist jetzt wieder etwas unklar geworden. Doch – darüber Näheres morgen.“ –

Ich wachte erst gegen ½10 Uhr auf. Als ich zum Frühstück auf die Veranda kam, teilte mir Harsts Mutter mit, daß er bereits um ½8 das Haus verlassen hätte.

Wir saßen dann noch beim Frühstück, als er sehr eilig erschien.

„Vorwärts – mein Auto wartet,“ sagte er. „Entschuldige, liebe Mutter. Wir haben nur eine Kleinigkeit in der Fasanenstraße 103 zu erledigen und sind zum Mittagessen wieder zurück.“

Das Auto fuhr den Kurfürstendamm entlang. Harst hatte bisher geschwiegen. – „Ich war bei acht Waffenhändlern,“ erklärte er nun. „Der achte war der rechte. Er hatte die Luftpistole vor einem Jahr zur Reparatur gehabt. Sie ist Eigentum des durch allerhand Intrigen seiner Heirat wegen entmündigten Prinzen von Bloswick-Blennerheim, der sich seit ein paar Tagen in einem Lungensanatorium befindet. Der Fall ist nun völlig geklärt. Der Prinz heiratete in München vor vier Jahren die englische Varietee-Soubrette Ly Livingstone. Er war schon damals lungenkrank. Seine Familie sagte sich völlig von ihm los. Seine Frau, mit der er in glücklichster Ehe lebte, ist seit 1¾ Jahren angeblich Tippdame in einem Holzgeschäft und hat den arbeitsunfähigen Prinzen und sich durch ihre Arbeit ernährt. Diese Arbeit war jedoch eine etwas andere, als Ly Livingstone die Welt glauben machen wollte.“

„Ah – die Kartenlegerin!“ rief ich. „Ich begreife jetzt: sie wollte mehr verdienen, als es ihr als Angestellte möglich war. Deshalb –“

Das Auto hielt. Harsts stieg aus. Dann durchschritten wir den Hof der eleganten Mietskaserne, stiegen im Gartenhause vier Treppen empor. Dort hing an der Flurtür einer Zweizimmerwohnung eine Karte mit der Aufschrift in Tinte:

„v. Bloswick“.

Harst läutete. Die Flurtür öffnete sich sehr bald.

Ein Angstruf. Eine schlanke Frau mit kastanienbraunem Haar taumelte bei unserem Anblick zurück.

Wir traten schnell ein; ich drückte die Tür zu.

„Fürchten Sie nichts, Frau von Bloswick,“ sagte Harst gütig. „Wir werden Ihr Geheimnis nicht verraten. Nur ein paar Fragen beantworten Sie mir bitte –“

So erfuhren wir, daß Ly Livingstone vor vier Jahren in London mit Mautley und Bickpool zusammen am Alhambra-Theater engagiert gewesen war. Die beiden Verbrecher waren ja Artisten von Hause aus. Sie hatten gewußt, daß ihre einstige Kollegin in Berlin wohnte, und Bickpool hatte dann bald herausgebracht, daß sie hier ein Doppelleben führte, und hatte sie gebeten, den gelben kleinen Koffer für ihn vorläufig in Verwahrung zu nehmen. Was er enthielt, wußte Ly Livingstone nicht. Nach der Verhaftung der beiden hatte sie eines Morgens ihren Mieter Reinke tot aufgefunden. Sie fürchtete die Einmischung der Polizei und beschloß, ihr Leben als Kartenlegerin endgültig aufzugeben. Zur Irreführung der Polizei nahm sie Reinkes Wertgegenstände mit, ebenso den Koffer, den sie nun gewaltsam erbrach. Sie ahnte, daß die vermißten Edelsteine sich darin befinden würden. Ihr Gatte war schwer leidend und hätte längst ein Sanatorium aufsuchen müssen. Um hierzu die Mittel zu beschaffen, verkaufte sie fünf der Steine an den Juwelier, den sie von Ansehen gut kannte. –

Harst sprach der in Tränen jetzt völlig Aufgelösten herzlich zu. „Ihr Geheimnis wird niemand erfahren. Hier sind noch dreißig Diamanten. Verkaufen Sie sie in Holland und ziehen Sie mit Ihrem Gatten nach dem Süden. Das, was Sie taten, geschah Ihres kranken Mannes wegen. Sie imponieren mir nicht nur – ich achte Sie sehr hoch!“–

So endete dieses Problem. Ich habe die Namen der Hauptbeteiligten geändert. Und deshalb darf ich dieses Abenteuer mit der Kartenlegerin der Borsigstraße heute nach acht Jahren getrost veröffentlichen. –

Der gelbe Koffer mit den Diamanten spielte dann noch eine Rolle in unserem nächsten Erlebnis. Ich will es nennen:

 

Der Spielklub W. W.[8]

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „Chali“.
  2. In der Vorlage steht „legitimiren“.
  3. In der Vorlage steht „Gelbeträge“.
  4. Anderer Ausdruck für „brünieren“, vom französischen brunir – bräunen.
  5. In der Vorlage steht „seinen“.
  6. In der Vorlage steht „einen“.
  7. In der Vorlage steht „James“.
  8. In der Vorlage steht „heangedrängt“.
  9. In der Vorlage steht „WW.“ – Im folgenden Heft wird dagegen sowohl auf dem Titelbild als auch in der Überschrift sowie im Text durchgängig „W. W.“ verwendet. Daher hier ebenfalls geändert.