Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band: 37
„Wir wollen zu Fuß nach Hause gehen,“ meinte Harald Harst, als wir mittags nach dem Besuche bei Frau Ly v. Bloswick die vornehme Mietskaserne in der Fasanenstraße in Berlin W. verlassen hatten. „Dieser Maitag ist ja so wundervoll. Die Dreiviertelstunde Marsch bis zu unserem Heim in der Blücherstraße wird uns nur guttun.“
Ich war durchaus einverstanden. Wir gingen den Kurfürstendamm, diese breite Prachtstraße des Berliner Westens, nach dem Vorort Halensee zu, entlang. Harst sagte dann nach einer Weile:
„Die Diamanten, die die beiden jetzt in Untersuchungshaft sitzenden Verbrecher Mautley und Bickpool unrechtmäßig an sich gebracht und Frau v. Bloswick in Verwahrung gegeben hatten, befinden sich nun in meinem Besitz. Ich werde natürlich mein Versprechen halten und diese Frau, die lediglich aus Liebe zu ihrem Gatten ihr seltsames Doppelleben führte, schonen. Am besten ist, ich teile der Polizei mit, daß ich in der vergangenen Nacht in meinem Schlafzimmer einen kleinen, gelben Lederkoffer entdeckt hätte, der die Diamanten enthält. Dies entspricht ja auch der Wahrheit. Wer den Koffer mir heimlich ins Haus gebracht hat, werde ich verschweigen. Dann ist die Sache erledigt. Es handelt sich jetzt nur um die Frage, wie ich das Vermächtnis des toten Eigentümers der Edelsteine am besten erfülle. Es war ja Robin Parmangs Wunsch, daß der Erlös der Diamanten zu wohltätigen Zwecken verwendet würde.“
Der Leser wird sich auf die genaueren Einzelheiten dieser Ereignisse, die Harald Harst hier nur andeutete, aus den letzten Bänden besinnen. In der „Eishöhle in Nepal“ begann unser Kampf um den Millionenschatz der dort gefundenen ungeschliffenen Diamanten. Dieser Kampf war nun beendet. In Harsts Bücherschrank, im rechten Seitenspinde, war der kleine, gelbe Lederkoffer eingeschlossen, in dem die Edelsteine, deren Wert gegen 50 Millionen betrug, in acht Leinenbeuteln lagen. Die Diamanten waren sämtlich ausgesucht große Exemplare und wasserklar. Wir hatten ja bereits 40 davon in geschliffenem Zustande bewundern können. –
Harst schritt jetzt auf einen Zeitungsverkäufer zu, der uns zugerufen hatte:
„Berliner Mittagszeitung! Das Allerneueste!! Der Mord im Klub „Weite Welt“ –!! Ein Verbrechen mit außergewöhnlich rätselhaften Begleitumständen!!“
Harald kaufte die Zeitung und steckte sie in die Tasche.
„Du siehst, ich kann mich beherrschen,“ meinte er lächelnd. „Ich will mir diesen Spaziergang nicht durch so unschöne Dinge wie einen Mord verderben, obwohl –“
„Ja – obwohl es Dir in allen Fingern zuckt – nämlich nach den geheimnisvollen Begleitumständen!“ vollendete ich, ebenfalls lächelnd. „Ich bezweifle stark, daß diese Zeitung wirklich bis daheim in Deiner Tasche bleibt –“
„Hm – reize mich nicht! Ich will wenigstens versuchen, mich bis zur Blücherstraße zu beherrschen. – Der Klub „Weite Welt“, der stets nur „Klub W. W.“ genannt wird, weil man dort bequem in einer Nacht sich ruinieren kann – daher „Klub W. W.“ oder „Wehe Wehe“ – ist eine Vereinigung von Herren aller Länder, die Geld im Überfluß haben und unter der biederen Maske einer „Gesellschaft zur Förderung internationaler Geistesbestrebungen“ dem Jeu, den Tafelfreuden und der Tanzkunst in Gestalt von Darbietungen schöner Weiber huldigen. Ich war im „Wehe Wehe“ zweimal eingeladen, langweilte mich dort aber derart, daß ich darauf verzichtete, Mitglied zu werden. Das liegt nun bereits fünf Jahre zurück. Ich war damals noch Assessor und ein glücklicher Bräutigam.“
Die letzten Worte sprach er ganz leise. Den Schmerz um den Verlust seiner über alles geliebten Braut hat er ja bis auf den heutigen Tag nicht überwunden. Gerade damals, als seine Verlobte ermordet wurde, lernten wir uns kennen. Damals nahm er mich, den von der Polizei gesuchten Taschendieb und früheren Komiker, bei sich auf und – machte aus mir wieder einen anständigen Menschen.
Ich schob jetzt meinen Arm unter den seinen.
„Wie schnell die Jahre dahineilen,“ meinte ich.
Er verstand, daß ich ihn an all das Gute erinnern wollte, was er für mich getan hatte. Er drückte meinen Arm. –
„Die Braut verlor ich, und – gewann einen Freund, den einzigen, den ich habe: Dich!“
Er schwieg eine Weile. Seine Gedanken waren bei der geliebten Toten. Dann begann er wieder:
„Der Klub W. W. ist recht exklusiv. Die Mitgliederzahl darf 32 nicht übersteigen. Die Aufnahmebedingungen sind sehr scharf. Die Mitglieder duzen sich untereinander. Verheiratete werden zumeist abgelehnt. Die Polizei kümmert sich nicht viel um den Klub, da er außerordentlich wohltätig ist. Ich weiß bestimmt, daß beim Spiel stets gewisse Prozente in die Klubkasse fließen. Leider haben sich dort beim Jeu aber schon viele Herren ruiniert. Angeblich soll bei der Aufnahme jedes Mitglied sich verpflichten müssen, niemals in Berlin Selbstmord zu begehen. Das ist vielsagend genug. Es haben sich denn auch, soweit mir bekannt, bereits neun oder zehn Mitglieder ums Leben gebracht, aber stets irgendwo in einer anderen Stadt und stets so, daß die Gründe für den Selbstmord in Dunkel gehüllt blieben. Eingeweihte wissen jedoch, weshalb es geschah.“
„Ein etwas widerspruchsvoller Klub,“ meinte ich kopfschüttelnd. „Ein Spielklub – und doch wohltätig! Wie reimt sich das zusammen?!“
„Die Wohltätigkeit kann der rosa Schleier sein, hinter dem sich dunklere Dinge unbelästigt treiben lassen,“ sagte Harald achselzuckend.
Wir bogen jenseits der Halenseer Brücke links ab, kamen bald in die stillen, schönen Straßen der Villenkolonie Grunewald. Harald hatte sich eine Zigarette angezündet, erklärte nun plötzlich:
„Ich gebe den Kampf auf –!“ Und er steuerte auf eine Bank zu, die an der Kreuzung zweier Straßen in der Sonne stand. Hier nahmen wir Platz. Er holte die Zeitung heraus und las halblaut:
„Mord im Klub „Weite Welt“. Der Ermordete ein Inder. Rätselhafte Begleitumstände.
In der vergangenen Nacht war das Haus des Klubs W. W. am Savignyplatz in Charlottenburg der Schauplatz eines Verbrechens, das in der Chronik der sensationellen Morde fraglos mit zu den eigenartigsten zu rechnen ist. Der Klub Weite Welt ist im allgemeinen wenig bekannt. Über seine Ziele und Gepflogenheiten sich hier des näheren zu äußern, erübrigt sich. Es sei nur daran erinnert, daß der Klub vor vierzehn Tagen aus Anlaß der Brandkatastrophe in Neukirch eine halbe Million für die Geschädigten stiftete.
Gestern abend halb zwölf Uhr waren im Lesezimmer des Klubs acht Herren anwesend. Darunter befand sich der als Gast durch den bekannten Nervenarzt Dr. Möckern eingeführte, aus Indien stammende Privatgelehrte Dr. Tomar Marauwara, ein Vollblutinder und begeisterter Anhänger der indischen Selbständigkeitsbestrebungen. Um zwölf Uhr fanden sich noch weitere Klubmitglieder ein. Man begab sich in das Spielzimmer, wo man dann an vier Tischen dem Pokerspiel huldigte. Doktor Marauwara schaute dem Spiel lediglich zu. Um ein Uhr morgens war er dann plötzlich verschwunden. Um halb sechs Uhr, als es bereits ganz hell war, hörte der Klubdiener Schmidt im ersten Stock einen kurzen Knall, der ihm ganz wie ein Schuß klang. Dort im ersten Stock liegen die Bibliothek, die beiden Vorstandszimmer und drei Logierräume für die auswärtigen Mitglieder und Gäste. Der Diener, der gerade am Fuße der Treppe gestanden hatte, die in die erste Etage hinaufführt, rief noch einen seiner Kollegen herbei und stieg die Treppe hinan. Hier im oberen Flur sahen sie sofort, daß die Tür zum sogenannten Präsidentenzimmer, welches stets verschlossen ist, und zu dem nur der Klubpräsident den Schlüssel besitzt, halb geöffnet war. Sie schauten hinein und gewahrten den Inder, der mitten im Zimmer auf dem Teppich, das Gesicht nach unten, lang ausgestreckt dalag. Neben ihm bemerkten sie jedoch auch einen Revolver, und dieser Umstand veranlaßte sie, sofort hinab in das Spielzimmer zu eilen, wo noch neun Herren, sämtlich Klubmitglieder, versammelt waren. Unter diesen befand sich auch der als Strafverteidiger sehr bekannte Rechtsanwalt Schobert. Er war es, der nun das Präsidentenzimmer betrat und festgestellt, daß der Inder durch einen Schuß in den Hinterkopf getötet worden und daß die Kugel durch das linke Auge wieder herausgetreten war. Ein Selbstmord erschien dieser Schußverletzung nach ausgeschlossen, zumal das Aussehen der Einschußwunde deutlich dafür sprach, daß die Waffe in einiger Entfernung vom Kopfe des Ermordeten abgefeuert worden war.
Rechtsanwalt Schobert verschloß das Zimmer (der Schlüssel steckte von außen in der Tür) und benachrichtigte die Kriminalpolizei. Auf seinen Wunsch blieben sämtliche Herren und auch die Diener bis zum Eintreffen der Mordkommission im Klubhause.
Wie wir nun erfahren haben, konnte die Mordkommission die Annahme Schoberts nur bestätigen. Der Revolver, eine ganz neue Waffe ohne Hahn, amerikanisches System, enthielt noch sechs Patronen. Die siebente war abgefeuert worden und hatte dem indischen Gelehrten den Tod gebracht. Der Schuß muß etwa eine Handbreit vom Hinterkopf des Ermordeten abgegeben worden sein. Das linke Auge ist durch die wieder austretende Kugel völlig zerstört worden. Der Tod erfolgte augenblicklich. Der Schuß, den der Klubdiener gehört hatte, ist der gewesen, den der Mörder abgefeuert hat.
Nun aber beginnt das Rätselhafte dieses Verbrechens. Wir wollen die einzelnen Punkte, die noch völlig ungeklärt sind, hier aufzählen.
Zunächst: Wer ist der Mörder? Und welches Tatmotiv liegt hier vor? Wer hatte also ein Interesse daran, den indischen Gelehrten zu töten?
Dann: Wie gelangte der Mörder in Besitz des Schlüssels zum Präsidentenzimmer? Hierzu sind nur zwei Schlüssel vorhanden. Den einen trägt der Klubpräsident, zur Zeit Legationsrat Graf Ramon Ventura von der italienischen Botschaft, stets bei sich. Der zweite ist im Vorstandszimmer, im sogenannten Schlüsselspind eingeschlossen. Das heißt: er war dort bis gestern eingeschlossen. Es ist bereits festgestellt worden, daß ein Unbefugter ihn aus dem Schlüsselspinde entfernt hat. – Wer tat dies? – Der Mörder? – Vermutlich ja!
Weiter: Weshalb suchte der Mörder sich zur Tat gerade das Präsidentenzimmer aus, wo doch im ersten Stock die drei Logierzimmer unverschlossen waren? Man bedenke: Doktor Tomar Marauwara war gestern abend zum ersten Male Gast des Klubs, weilt überhaupt erst acht Tage in Berlin, wo er früher mal studiert hat. Von dieser Zeit rührt auch seine Bekanntschaft mit dem Nervenarzte Dr. Möckern her, den er jetzt wieder aufgesucht hatte. – Wie konnte der Mörder in das Klubhaus hineingelangen, wie den Schlüssel stehlen? Wußte er, daß der Inder durch Dr. Möckern in den Klub eingeführt werden würde? – Es sei hier gleich gesagt, daß zu der Zeit, als der Schuß fiel, keines der im Spielzimmer noch anwesenden Mitglieder dieses etwa vorübergehend verlassen hatte. Auch Dr. Möckern saß mit Rechtsanwalt Schobert und zwei anderen Herren an einem Pokertisch. Wir glauben, hierauf hinweisen zu müssen, da nur zu leicht der Verdacht sich auf Dr. Möckern lenken könnte. Die Kriminalpolizei hat uns gebeten, darauf hinzuweisen, daß von den im Klubhause Anwesenden (also von den zur Anwesenheit dort Berechtigten) niemand als Täter in Frage kommt. Anwesend waren: die neun Herren im Spielzimmer, zwei Klubdiener, der langjährige Koch des Klubs, der bereits im zweiten Stockwerk in seinem Zimmer schlief, und der Hauswart und dessen Ehefrau. – Man bedenke weiter: Der Diener, der den Schuß hörte, holte seinen Kollegen herbei, brauchte hierzu aber nur etwa fünf Sekunden, indem er die Tür des Anrichteraumes öffnete. Während dieser Zeit behielt er die Treppe im Auge. Niemand konnte ungesehen diese Treppe hinabeilen. Auch war die Haustür mit einer Glocke versehen, die anschlug, sobald sie geöffnet wurde; außerdem war sie abgeschlossen und der Schlüssel abgezogen. Es ist also vollkommen unerklärlich, wie der Mörder das Haus verlassen haben kann. Die genauesten Nachforschungen der Kriminalpolizei haben nur das eine ergeben: Der Täter muß durch die Flurtür des Präsidentenzimmers sofort nach dem Schuß wieder hinausgeschlüpft sein. Wohin er sich dann wandte, ist nicht nachzuweisen.
Schließlich noch als wichtigster und fraglos geheimnisvollster Punkt: Wie schon erwähnt, war der Inder gegen ein Uhr morgens aus dem Spielzimmer verschwunden. Er hatte bis dahin an dem Tische, an dem Rechtsanwalt Schobert, Dr. Möckern, der englische Oberingenieur Treemantle und der spanische Gesandtschaftsattachee Graf Ravalindo pokerten, lediglich den Zuschauer gespielt. Der Klubdiener Reimer (und dies ist der, den der Klubdiener Schmidt gleich nach dem Schusse herbeirief) hat nun dem Inder kurz nach ein Uhr morgens die Haustür geöffnet. Er hat bekundet, daß Dr. Marauwara tief in Gedanken gewesen sei und ihm in der Zerstreutheit einen Hundertmarkschein als Trinkgeld gereicht habe. Reimer machte den Inder hierauf aufmerksam. Dieser schaute ihn jedoch nur versonnen an und verließ das Klubhaus. Marauwara beherrscht das Deutsche fast fehlerfrei. Er muß also die Worte des Dieners verstanden haben, durch die Reimer ihn auf das doch wohl nur versehentlich so hohe Trinkgeld hinwies. – Jedenfalls: Gegen ein Uhr hat der Inder, ohne sich von den Klubmitgliedern zu verabschieden, sich entfernt. Nur – hierauf gebe der Leser besonders acht! – niemand hat ihm dann wieder die Haustür geöffnet und ihn eingelassen; niemand der im Klubhause gestern nacht Anwesenden weiß, wie Dr. Marauwara wieder hineingelangt ist! –
Das wären die rätselhaften Punkte. Man könnte sie noch durch unwichtigere Einzelheiten ergänzen. Dies erübrigt sich aber. Der Mord ist auch so bereits sensationell genug.
Doktor Marauwara wohnte hier in dem Fremdenheim der Frau Saling in der Bleibtreustraße. Frau Saling und ihr Personal sind bereits vernommen. Der Inder ist in der verflossenen Nacht nicht mehr in seinem Zimmer gewesen. Auch dies steht fest.
Die Kriminalpolizei fordert nun alle die, die gestern nacht nach ein Uhr einen in einen Smokinganzug und mit dunkelgrauem leichten Ulster sowie hellem Velourshut bekleideten, dunkelhäutigen Herrn mit bartlosem Gesicht irgendwo gesehen haben, im Interesse der Aufdeckung dieses Verbrechens und unter Hinweis auf die von dem Klub W. W. bereits ausgesetzte Belohnung von 10 000 Mark für irgendwelche sachdienlichen Angaben dringend auf, sich auf Zimmer Nr. 206 des Charlottenburger Polizeipräsidiums bei Kriminalkommissar v. Meyberg zu melden. –
Nach Redaktionsschluß erfahren wir noch, daß man vor dem Präsidentenzimmer auf dem Flurläufer noch ein Stückchen einer englischen Eisenbahnfahrkarte gefunden hat, die erst vor drei Tagen entwertet worden ist. Da keins der Klubmitglieder und ebensowenig der Ermordete seit einer Woche in England gewesen ist, erhält dieser Fund eine besondere Bedeutung. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Mörder dieses Stückchen Fahrkarte verloren hat. – Weiter hören wir noch, daß die Möglichkeit, es könnte hier trotz allem ein Selbstmord vorliegen, nunmehr durch die Tatsache völlig ausgeschaltet worden ist, daß bei dem Ermordeten sowohl zwei wertvolle Ringe, die er noch vor ein Uhr morgens an der linken Hand trug, und eine Brieftasche mit einer größeren Geldsumme vermißt werden. Aus dieser Brieftasche gab er dem Klubdiener Reimer den Hundertmarkschein als Trinkgeld. Reimer sah, daß sich in der Brieftasche außer allerlei Papieren auch noch mehrere Tausendmarkscheine befanden. Ebenso fehlt die goldene Uhr des Ermordeten nebst Kette. Das Verbrechen dürfte also wohl ein mit besonderem Raffinement verübter Raubmord sein.“
Harst faltete die Zeitung wieder zusammen und lachte leise auf.
„Der Redakteur hat eine Ahnung! Ein Raubmord!“ meinte er ironisch. „Wenn je ein Verbrechen kein Raubmord war, denn ist es dieses! Mir erscheint aus diesem ganzen Zeitungsgeschreibsel das eine am wichtigsten: daß Dr. Marauwara zur indischen Freiheitspartei gehörte! Ich wittere hier ein politisches Verbrechen. Und – in die Politik mische ich mich grundsätzlich nicht ein. Das weißt Du, mein Alter. Der Mord hat also zunächst für mich keinerlei Interesse. Erst wenn ich irgendwie merken sollte, daß ich mich in dieser Annahme geirrt haben sollte, würde dieser Fall für uns als ohne Zweifel recht eigenartiges Problem in Betracht kommen. Gehen wir heim. Sonst wartet meine Mutter auf uns mit dem Mittagessen, und wir sind schuld an ihrer schlechten Laune. Wir wollten ja pünktlich sein.“
Haralds „Berufsscherze“ haben sehr oft einen für mich recht bitteren Beigeschmack. Und einer dieser Berufsscherze waren diese Sätze, die er soeben gesprochen hatte. – Was ich hiermit meine, wird der Leser erst merken, wenn ich es merkte. Und das war eigentlich recht spät.
Um halb zwei waren wir in der Blücherstraße. Es gab Haralds Leibgericht: Brathecht mit geriebenem Meerrettich. – Aber – er aß wenig.
„Ich weiß nicht, was sich da plötzlich bei mir im Nacken für scheußliche Schmerzen eingefunden haben,“ sagte er, als seine Mutter immer wieder fragte, weshalb er denn nicht zulange. „Die Schmerzen stören mich. Ich vertrage doch schon einen Puff,“ fügte er hinzu und massierte sich mit der Linken das Genick.
„Du mußt Dir ein Senfpflaster auflegen,“ riet Frau Auguste Harst besorgt. „Du wirst Zug bekommen haben. Dieses Schlafen bei offenem Fenster ist immer schädlich, Harald. Wie oft habe ich Dich nicht schon davor gewarnt. Du hast doch sicher in der vergangenen Nacht wieder die Fenster offen gelassen.“
„Allerdings. Aber – geschlafen habe ich nur drei Stunden, dafür aber um so fester und traumloser. Wir hatten ja bis vierteldrei Uhr morgens Besuch, – Frau Ly v. Bloswick. Ich erzählte Dir ja schon davon. Sie hatte uns den gelben kleinen Koffer mit den Diamanten gebracht – ganz heimlich! Und als sie gegangen war, habe ich noch die Diamanten durchgezählt. Es sind genau noch 1238 Stück, davon 318, auf zwei Beutel verteilt, von fast Taubeneigröße. Freilich, wenn sie erst geschliffen sind, werden sie an Größe verlieren und – an Schönheit gewinnen.“ Er verzog plötzlich schmerzhaft das Gesicht.
„Zum Henker, die Schmerzen nehmen derart zu, daß ich mich nachher von Dir bepflastern lassen werde, Mutter.“
Das Senfpflaster schien zu helfen. Gleich nach Tisch tranken wir auf der Veranda Kaffee. Frau Harst wollte sich jetzt mal die Diamanten ansehen. Harald gab mir den Schlüsselbund, und ich holte den kleinen Lederkoffer aus dem Seitenspind des Bücherschrankes.
Der Schlüssel zu dem Koffer fehlte. Frau v. Bloswick hatte das Schloß erbrochen. Der Leser wird sich an in diese Einzelheit aus unserem vorigen Abenteuer besinnen.
Ich stellte den Koffer auf einen Korbsessel neben Harst, und dieser öffnete nun die Verschlußklammern, mit denen der Koffer versehen war, und dann den Oberteil.
Da – wir beide hatten gleichzeitig einen Blick in den Koffer geworfen, riefen wie aus einem Munde:
„Zwei der acht Leinenbeutel fehlen ja!“
Dann sprang Harald auf.
„Ah – ich bin bestohlen worden! Sollte man das für möglich halten!“ sagte er in einer Erregung, wie ich ihn selten gesehen habe.
„Mein Gott – die offenen Fenster, Harald!“ meinte Frau Harst ganz entsetzt. „Natürlich ist jemand durch Deine Schlafstubenfenster eingestiegen –!“
„Ja – und mein Schlüsselbund lag auf dem Nachttisch! Wie konnte ich aber auch ahnen, daß jemand wußte, welche Werte mein Bücherschrank barg!“ Er sprach bereits wieder ganz gelassen. Die Erregung war verflogen.
Er klappte den Koffer wieder zu, trank seinen Kaffee aus und sagte:
„Entschuldige uns, Mutter. Diese Frechheit soll dem Diebe schlecht bekommen!“
Wir gingen in Harsts Zimmer hinüber. Er verschloß den Koffer wieder und setzte sich im Bibliothekzimmer an den Flügel. – Wer die Entwicklung Harald Harsts zum Liebhaberdetektiv von Weltruf an der Hand dieser meiner kleinen Schilderungen verfolgt hat, die mit Band 7, „Zwei Taschentücher“, beginnen, weiß, daß mein Freund auch ein über den Durchschnitt begabter Klavierspieler ist.
Ich, der all seine Eigenarten kennt, ahnte, weshalb er jetzt sein ganzes Wagner-Repertoire wohl eine Stunde lang zu Gehör brachte. Er behauptete stets, daß gerade Wagner seinen Geist stark anrege. Kurz: er spielte, und seine Gedanken beschäftigten sich mit dem kecken Diebstahl, der in seiner Art einzig dastand. Denn einen Harald Harst zu bestehlen, dazu war wirklich schon eine große Portion Unverfrorenheit nötig!
Ich saß in einem Klubsessel und gab mir als andächtiger Zuhörer gleichfalls die größte Mühe, diesen Raub logisch in seine einzelnen Tatmerkmale zu zerlegen.
So wurde mir bald klar, daß der Dieb bereits in diesem Zimmer, also in der Bibliothek, sich befunden haben mußte, als Frau Ly v. Bloswick so überraschend erschien. Er mußte dann beobachtet haben, wie Harald den Koffer wegschloß und wartete, bis Harst eingeschlafen war, suchte sich in aller Ruhe die beiden Beutel mit den wertvollsten Steinen heraus, schloß den Schrank wieder ab, legte die Schlüssel auf den Nachttisch zurück und verschwand durch das Schlafstubenfenster.
Nur so konnte der Diebstahl ausgeführt worden sein – nur so. Jede andere Möglichkeit war der Sachlage nach ausgeschlossen.
Aber – weshalb hatte der Dieb nicht den ganzen Koffer mitgehen heißen?! – Das war eine Frage, die mir viel Kopfzerbrechen machte.
Da – ganz plötzlich schloß Harald den Deckel des Instruments, stand auf, strich mit der Hand wieder über sein Genick hin und meinte:
„Ich werde den Sanitätsrat herrufen. Ich halte diese Schmerzen nicht mehr aus.“
Ich eilte sofort in das Arbeitszimmer und ließ mich mit dem Hausarzt der Familie Harst verbinden. Der Sanitätsrat Liepner versprach denn auch, sofort im Auto herüberzukommen.
Harst ging jetzt langsam auf und ab, massierte wieder sein Genick. Um ihn abzulenken, erklärte ich ihm, wie ich mir diesen Diebstahl inzwischen zurechtgelegt hätte.
„Ja – nur so kann es gewesen sein,“ meinte er darauf. „Der Dieb war bereits im Bibliothekzimmer, als wir mit Ly v. Bloswick verhandelten. – Aber – jetzt kein Wort mehr von alledem! Ich habe augenblicklich nur Gedanken für diese scheußlichen Schmerzen –“
Ich nahm ein Buch vor und las. Zehn Minuten darauf war der Sanitätsrat da.
„Neuralgie – Nervenschmerzen,“ sagte er nach kurzer Untersuchung. „Ich würde Ihnen raten, sich zu einem Spezialarzt zu begeben, lieber Harst. Sie können es sich ja leisten. Diese Kollegen verfügen über die nötigen Elektrisierapparate und so weiter. Ich könnte Ihnen nur Morphium verschreiben. Das hilft jedoch nur für ein paar Stunden.“
Das Pflaster hatte die Haut bereits stark gerötet. Harald meinte, ein Morphiumpulver hätte er noch im Medizinschränkchen. Er würde es einnehmen und dann einen Spezialarzt aufsuchen.
Der Sanitätsrat empfahl ihm drei als besonders tüchtig. Von diesen dreien wohnte Dr. Karl Möckern am nächsten – in der Knesebeckstraße, Ecke Kurfürstendamm.
Harst ging in sein Schlafzimmer, um das Morphiumpulver zu nehmen. Dann machte er sich zum Ausgehen fertig, sagte aber noch: „Begleite mich doch zu Doktor Möckern –“
Und – da begann es mir plötzlich zu dämmern! Allerdings nur schwach zu dämmern! Möckern war ja der Studienfreund des ermordeten Inders! Sollte Harald etwa gegen diesen Spezialarzt für Nervenleiden Verdacht geschöpft haben?! Sollte diese Neuralgie vielleicht eine schlau berechnete Komödie sein?!
Ich wurde mir nicht klar darüber. Ich wollte es nicht glauben! In dem Zeitungsbericht hatte doch ausdrücklich gestanden, daß Dr. Möckern, als der Schuß fiel, am Spieltisch gesessen hätte!
Das Auto des Sanitätsrats brachte uns dann sofort nach der Knesebeckstraße.
Doktor Möckern wohnte Hochparterre. Er hatte von vier bis fünf nachmittags Sprechstunde. Wir fanden im Wartezimmer erst drei Damen vor. Es war jetzt dreiviertel vier.
Dann bekamen wir den bekannten Arzt zum ersten Male zu Gesicht, als er die erste Patientin in sein Sprechzimmer bat. Mittlerweile hatte sich das große Wartezimmer vollständig gefüllt. Kein Stuhl war mehr frei.
Nun war die Reihe an Harst. Er ging auf die Tür zu, hatte mir aber noch zugeflüstert: „Komm’ mit!“
Karl Möckern war ein magerer Herr mit schmalem Gesicht, dünnem Haupthaar, blondem Spitzbart und trug einen Kneifer ohne Fassung.
Als Harst seinen Namen nannte und hinzufügte: „Hier mein Freund Schraut, der mich auf ausdrücklichen Wunsch meiner Mutter begleiten mußte,“ streckte Möckern ihm hocherfreut die Hand hin.
„Ah – welche Ehre, Herr Harst! Endlich lerne ich Sie nun doch einmal persönlich kennen!“
Dann reichte er mir die Hand. – Ich hatte die Empfindung, daß er diese Freude nur heuchelte. Und – ich erhielt nun aus Harsts kleiner Lüge von der „besorgten Mutter“ anderseits die Gewißheit, daß dieser elegante Weltmann und Spezialarzt das Wild war, das wir einkreisen wollten.
Harst erklärte nun, Sanitätsrat Liepner habe ihn hergeschickt. Die Schmerzen seien jetzt nach dem Morphiumpulver erträglich.
Möckern untersuchte die rot angelaufene Stelle und schalt auf diesen „Unfug“, so scharfe Pflaster zu verwenden.
Ich konnte jetzt an seinem Benehmen nichts Auffallendes mehr entdecken. Er behandelte den Nacken mit Elektrizität und bestellte Harst für den nächsten Vormittag wieder zu sich, begann dann noch eine Unterhaltung über Harsts indische Reise und die glänzenden Erfolge, die Harald dort als Detektiv erzielt hätte.
„Alle Zeitungen brachten ja regelmäßig darüber Berichte,“ meinte er. „Na – und hier in der Heimat haben Sie sich ja ebenfalls durch die Aufklärung des Mordes im Warenhause Michael vorzüglich wieder eingeführt, verehrtester Herr Harst. – Hm – haben Sie denn schon wieder neue Arbeit?“
„Leider nein, Herr Doktor,“ lächelte Harald und seufzte. „Ich glaube, so ein recht interessanter neuer Fall würde das beste Mittel gegen diese Neuralgie sein.“
„O – ich bitte Sie, nur das nicht! Mit Nervenschmerzen dieser Art ist nicht zu spaßen! Ich als Arzt verordne Ihnen mindestens vierzehn Tage absolute Ruhe. Sie müssen mir das versprechen. Sonst ist meine Behandlung zwecklos. Auch das Rauchen stellen Sie ein. Lesen Sie keine Zeitung, kümmern Sie sich um nichts. Setzen Sie sich in die warme Sonne und langweilen Sie sich tüchtig. Ich will ehrlich sein: ich könnte Ihnen da etwas erzählen, was in der verflossenen Nacht sich hier abgespielt hat – hier in Berlin! Aber – ich werde mich hüten!“
„So – um was handelt es sich denn?“
„Still – nichts mehr davon! Sie sind jetzt mein Patient und haben zu gehorchen!“
„Gut, gut,“ lachte Harald. „Soll geschehen. Ich lese keine Zeitung mehr – nichts! Ich werde in meinem Garten arbeiten. Dagegen haben Sie doch nichts?“
So trennten wir uns in bester Stimmung und bestem Einvernehmen.
Wir fuhren dann wieder im Auto heim. Kaum waren wir ein Stück von der Knesebeckstraße entfernt, als ich Harald die Hand auf den Arm legte und fragte:
„Du – die Neuralgie war simuliert, nicht wahr?“
„Vielleicht –!“ nickte er. Und fügte hinzu: „Wie gefiel Dir dieser Spezialarzt?“
„Recht gut. Bis auf die Begrüßungsszene. Es war ein Zuviel der Höflichkeit, mit der er Dich empfing.“
„Ganz recht. Und erst nachher, als er die rote Hautstelle sah und hörte, daß Liepner mich zu ihm geschickt hätte, wurde er wieder ruhiger und sicherer. Aber – ganz beruhigt war er doch noch nicht. Und deshalb leistete er sich eine Riesendummheit, die zum Beispiel Mautley oder Bickpool nie begangen hätten. So etwas Törichtes tut nur jemand, der ein schlechtes Gewissen hat und das Gefühl noch nicht kennt: „Ich habe mich strafbar gemacht!“, also ein Neuling auf der Verbrecherlaufbahn!“
Ich glaubte zu wissen, worauf er anspielte.
„Möckern wollte irgendwie herausbekommen, ob Du schon Kenntnis von dem Morde im W. W. hättest,“ sagte ich schnell.
„Ja – das wollte er. Und anscheinend ist er jetzt fest überzeugt, daß ich ihn wirklich nur als Patient aufgesucht habe – anscheinend. Ganz klar bin ich mir darüber nicht, denn der Mann ist trotz der Dummheit, die er beging, ohne Frage überaus gefährlich, ist wie alle Leute, die im öffentlichen Leben stehen, ein vollendeter Komödiant. Als Verbrecher versagt er vorläufig noch – vorläufig! Aber ein Mann wie er, mit solchen Augen, die er stets schlau hinter den halb geschlossenen Lidern und den langen Wimpern verbirgt, ein solcher Mensch reift sehr schnell zum erstklassigen Gesetzesverächter heran und ist dann infolge seiner Bildung und seiner als Arzt erworbenen Menschenkenntnis eine – sehr, sehr schlimme Bestie!“
Ich fand diesen Ausdruck denn doch etwas zu kräftig.
„Bestie?! Aber Harald. Ich bin von Dir stets eine so präzise Ausdrucksweise gewöhnt –“
„Wenn ich „Bestie“ wähle, habe ich meine Gründe dazu. Solche Augen, wie Möckerns, so hellgrau und daher scheinbar farblos, so harmlos-kurzsichtig und doch so stechend, fand ich einst als Staatsanwaltsassessor bei einer Frau, die acht Giftmorde begangen hatte, um sich zur einzigen Erbin eines großen Vermögens zu machen.“
Jetzt hatte Harst von selbst gerade den Punkt berührt, auf den es mir ankam.
„Erkläre mir eins,“ bat ich eindringlich. „Und dies mal laß bitte Deine nur zu sehr geliebte Geheimniskrämerei aus dem Spiele! Hältst Du Möckern wirklich für den Mörder des Inders? Und – kann er es denn sein?“
„Ich will nicht sagen, daß ich ihn für den Mörder halte,“ erwiderte Harst. „In dem Ausdruck, „jemand für etwas halten“ liegt schon eine gewisse Überzeugung, die man über die fragliche Angelegenheit gewonnen hat. Das ist hier nicht der Fall. Als ich Dir den Artikel aus der Mittagszeitung vorlas, verarbeitete ich das Gelesene sofort im Geiste und kam so notwendig zu der Vermutung, Möckern könnte der Mörder sein – könnte!“
„Ah – so war also Dein Hinweis auf den politischen Mord glatter Schwindel –!“
„Nun ja. Nenne Du es meinetwegen Schwindel. Ich nenne es eine Aufstachelung zu regerem Nachdenken. Ich wollte Deinen Widerspruch reizen. Du solltest mir auf Grund der Einzelheiten des Artikels zurufen: „Unsinn – politischer Mord! Da hätten es sich die oder der Mörder doch bequemer machen können, brauchten sich nicht gerade das Klubhaus als Schauplatz der Tat auswählen und so die Schwierigkeiten bei der Ausführung noch vermehren!“ – So hättest Du sprechen müssen. Und ich hätte hinzugefügt: es ist bei diesem Verbrechen so viel geradezu Gekünsteltes dabei, daß der, der einige Phantasie besitzt, sofort stutzig werden muß und sich sagt: Hier hat jemand einen Mord mit möglichst viel widerspruchsvollen Einzelheiten nur deshalb im Präsidentenzimmer des Klubs begangen, um die Tat in ein recht tiefes Dunkel zu hüllen; und all diese Einzelheiten konnte nur jemand ersinnen, der mit den Verhältnissen im Klubhause genau vertraut war; also – ein Mitglied des Klubs oder einer von dessen Angestellten. – Weiter muß man sich fragen: wer von diesen Leuten erscheint nun an erster Stelle in Betracht zu kommen? Und da gibt es nur eine Antwort, auf die ja auch in dem Zeitungsartikel, freilich in negativem Sinne hingewiesen ist: Daß Doktor Möckern dieser eine ist, denn er hat den Inder in den Klub eingeführt, er ist Klubmitglied, er wird gewußt haben, wo er den Schlüssel zum Präsidentenzimmer heimlich stehlen konnte, er war in der Lage, den Inder wieder heimlich ins Klubhaus einzulassen – und so weiter. – Dies schoß mir so durch den Kopf, als ich den Artikel las. Und gleichzeitig baute ich mir auch eine Theorie auf, wie der Mörder gehandelt haben könnte, ohne daß auch nur der geringste Verdacht auf ihn fiel.“
„Da bin ich wirklich gespannt,“ meinte ich.
„Es genügt eine kurze Andeutung über diese Theorie: Der Schuß, den der Diener hörte, war nicht der, durch den Doktor Marauwara getötet wurde.“
In demselben Augenblick hielt das Auto vor Blücherstraße Nr. 10. Harst stieg aus, bezahlte den Chauffeur und schritt durch den Vorgarten dem Hause zu. Wir gingen in sein Arbeitszimmer. Die Fenster standen weit offen.
Ich warf mich in einen Sessel. „Diese Theorie ist unmöglich,“ sagte ich und schaute zu Harst hinüber, der sich gegen den Fensterkopf gelehnt hatte.
„Sie ist nicht unmöglich, mein Alter. Ist Dir bekannt, daß es auch für Schußwaffen einen sogenannten Schalldämpfer gibt? – Es ist das ein schneckenförmiger Trichter, der oben über die Mündung geschoben wird. Die Erfindung ist seinerzeit patentiert worden, hatte aber den großen Fehler, daß der Apparat das Zielen zu sehr erschwerte. Aber den Knall des Schusses dämpfte er bis zu einem ganz schwachen Geräusch. – Dies mußte ich vorausschicken. Nimm nun an, Doktor Möckern hat den Inder etwa um vier Uhr morgens wieder heimlich in das Klubhaus eingelassen. Sie können dies aus irgendeinem Grunde vereinbart haben. Möckern bringt Marauwara in das Präsidentenzimmer, schließt ihn dort ein. Dann, als nur noch zwei der Klubdiener im Hause sind und er sicher ist, daß niemand mehr in den ersten Stock sich begeben wird, steht er wieder vom Spieltisch auf und tötet den Inder mit dem Revolver, der nachher neben der Leiche lag.“
„Gestatte – aber der Schuß, den der Diener hörte!“ meinte ich kopfschüttelnd.
„Warte ab. – Er tötet den Inder. Der Schalldämpfer bewirkt, daß niemand den Schuß vernimmt. Dann legt Möckern den Revolver ohne Schalldämpfer, nachdem er die abgefeuerte Patrone ergänzt hat, neben den Toten –“
„Aber, – der Schuß – der Schuß!“ rief ich ungeduldig.
„Der Schuß?! Soll ich Dir das Kunststück vormachen?“
Er ging an seinen Schreibtisch und nahm aus der Schublade einen Revolver heraus, der gleichfalls ohne Hahn war.
„Nun gib acht,“ meinte er. – Er entfernte aus einer Patrone die Kugel. – „So hat es der Mörder, falls meine Theorie stimmt, auch gemacht,“ erklärte er.
Ich war aufgestanden. Harst steckte nun auf das in der Patrone lose befindliche Pulver ein Papierpfropfen, in den er ein Stückchen Zündschnur miteingewickelt hatte. Die Zündschnur reichte bis auf das Pulver hinab. Dann brannte er die Zündschnur an und schob die derart präparierte Patrone in den Lauf, schloß die Kammer der Waffe und legte den Revolver auf den Teppich.
Wir warteten. Harst hatte die Uhr in der Hand.
„Fünf Minuten,“ meldete er.
Gleich darauf entlud sich der Revolver.
„Bitte!“ sagte Harald. „Wenn der Mörder diesen Trick angewandt hat, wenn er die Tür des Präsidentenzimmers offen ließ, dann mußte der Schuß unten gehört werden, dann saß er zu derselben Zeit am Spieltisch und – konnte sich ganz sicher fühlen! Ihn durfte ja niemand verdächtigen!“
„Glänzend!“ rief ich jetzt. „Das hast Du wieder wahrhaft genial ausgeknobelt, Harald! Freilich – diese Theorie hat sehr viel für sich!“
„Ja – besonders, wenn man bedenkt, daß Doktor Möckern seine Verlegenheit über unseren Besuch nur schlecht verbergen konnte, was doch auf ein böses Gewissen hindeutet.“
„Allerdings – ganz harmlos kam er ja auch mir nicht vor. Doch – das Motiv der Tat?“
„Beraubung des Inders. Dieser mag eine größere Geldsumme bei sich gehabt haben, mehr noch, als der Klubdiener in der Brieftasche sah. Möckern ist fraglos Jeuratte, kann sich in pekuniären Nöten befinden. Er war des Inders Studienfreund; er kann von diesem Geldbetrag Kenntnis gehabt haben. – Doch – lassen wir all diese Erörterungen. Ich werde Rechtsanwalt Schobert telephonisch herbitten. Er soll aber von der Rückseite des Gartens her zu uns kommen. Man kann ja nie wissen, ob unser Haus nicht beobachtet wird. Schobert saß mit Möckern an demselben Pokertisch. Er wird uns sagen können, ob Möckern kurz vor dem Schuß, den der Diener vernahm und der dann auch die Spieler alarmierte und zur Entdeckung des Toten führte, das Zimmer verlassen hat. Nur hierauf kommt es an. Hat Möckern eine halbe Stunde vor dem Schuß oder –“
Dieser Satz sollte vorläufig nicht beendet werden.
Wir hatten durch die offenen Fenster gleichzeitig gesehen und gehört, daß ein Auto vor dem Hause vorfuhr.
Eine schlanke Dame in langem, seidenem Mantel mit einem schicken Hütchen und einem sehr dichten, bestickten weißen Schleier stieg aus. Über dem linken Arm trug sie eine lederne Handtasche von beträchtlichem Umfang. Damals begann gerade die Mode, den bisherigen Handtaschen das Format kleiner Koffer zu geben.
Harst und ich standen nebeneinander am Fenster und beobachteten die Dame. Sie bezahlte jetzt den Chauffeur. Ihre Börse hatte sie in der Manteltasche stecken gehabt. Mir fiel die Ruhe ihrer Bewegungen auf. Mehr noch: etwas Müdes, Abgespanntes lag über ihrer ganzen Erscheinung.
Dann öffnete sie die Gittertür unseres Vorgartens und kam auf das Haus zu. Uns beachtete sie in keiner Weise, obwohl sie uns kaum übersehen haben konnte. Sie blickte scheinbar starr geradeaus, kümmerte sich um nichts, was außerhalb ihres Weges lag.
Harst ging und ließ sie ein. Sie nahm dann in einem der Sessel am Mitteltische Platz. Harald hatte mich ihr kurz vorgestellt: „Mein Freund Schraut.“
Sie begann nun mit eigentümlich monotoner Stimme zu sprechen:
„Herr Harst, mein Name tut nichts zur Sache. Ich habe durch einen Zufall etwas erfahren, was für die Polizei von Interesse sein dürfte. Bevor ich mich Ihnen anvertraue, möchte ich um die Zusicherung bitten, daß Sie mich unbehelligt wieder gehen lassen und mir auch nicht folgen werden.“
„Bitte sehr – diese Zusicherung haben Sie hiermit.“
„Ich danke Ihnen. Hätte ich mich an die Polizei gewandt, würde diese mich fraglos festgehalten haben. Nur bei Ihnen als einem Gentleman-Detektiv durfte ich auf Entgegenkommen rechnen. – Ich habe in der Berliner Mittagszeitung heute den Artikel über den Mord im Klub „Weite Welt“ gelesen. Hinter Ihrem Gemüsegarten beginnt nun ein Laubengelände. Besondere Umstände führten mich in der verflossenen Nacht dorthin. Ich wurde so unerwartet Zeugin, wie ein junger, recht verwahrlost aussehender Bursche dort etwas vergrub. Er hüllte die Gegenstände in sein Taschentuch ein. Und, ich glaube, es befand sich eine Uhr nebst Kette und eine Brieftasche darunter. Ich könnte Ihnen die Stelle noch genau angeben, Herr Harst. Vielleicht sind es die Sachen, die man bei dem ermordeten Inder vermißt hat. Es ist das freilich nur eine Vermutung von mir.“
Diese Mitteilungen machten auf mich einen ganz besonderen Eindruck. War schon ihr Inhalt recht merkwürdig, so wurde dieses noch durch die Art und Weise erhöht, wie die Dame das alles vorbrachte. Noch nie hatte ich jemand in gleichmäßig-singendem Tonfall so lange sprechen gehört. Auch nicht bei einem einigen Wort änderte diese Frau ihre Stimme.
Ich schaute zu Harst hinüber, um zu sehen, was für ein Gesicht er zu diesem seltsamen Besuch machte. Aber er blickte mit halb geschlossenen Augen vor sich hin auf das farbenfrohe, fein abgetönte Muster des Perserteppichs.
Nach einer Weile fragte er dann, und jetzt waren seine grauen Augen voll und groß auf die elegante Dame gerichtet:
„Was taten Sie nachts auf dem Laubengelände?“
„Das darf ich nicht sagen.“
„Um welche Zeit beobachteten Sie den verwahrlosten Burschen?“
„Das darf ich nicht sagen.“
Jetzt traf mich Harsts Blick. Er zog einen Moment die Augenbrauen hoch. Ich verstand. Das hieß: Achtung – Vorsicht!
„Zeigen Sie uns dann bitte die Stelle,“ wandte er sich abermals an den eigentümlichen Gast. „Haben wir weit zu gehen?“
„Nein. Jenseits des Fahrweges, der Ihre Gartenrückfront von dem Laubengelände trennt, liegt ein von dem Pächter aufgegebenes Laubengrundstück. Dort an der Rückseite des verfallenen Häuschens unter der Regentraufe liegen die Sachen in der Erde.“ – Auch das klang wieder genau so monoton wie alles bisher.
Wir begaben uns durch den Garten an Ort und Stelle. Harst hatte einen Spaten mitgenommen. Zu meinem Erstaunen drückte er diesen dann der Verschleierten in die Hand und sagte: „Bitte – graben Sie nur nach. Sie wissen ja am besten, wo die Sachen liegen.“
Die Unbekannte stutzte, wurde offenbar verwirrt, stammelte undeutlich: „Ich – ich darf –,“ schwieg plötzlich, nahm zögernd den Spaten und handhabte ihn nun sehr ungeschickt. –
Ich lasse hier absichtlich alle unwesentlichen Einzelheiten weg. – Jedenfalls kam sehr bald ein Zipfel eines roten Taschentuches zum Vorschein. Harst bückte sich, hielt dann wirklich ein Bündel in der Hand, löste den Knoten und rief, genau so überrascht wie ich:
„Wahrhaftig – eine Uhr nebst Kette – eine Brieftasche!“
Er reichte mir das Bündel, öffnete die Brieftasche. Sie war jedoch bis auf ein Heftchen mit blauem Deckel leer.
„Ah – ein Militärpaß – für den Kellner Erich Franz Eduard Wurmke,“ sagte Harald. Dann blickte er sich um. Und da erst merkte ich, daß sich die Verschleierte entfernt hatte.
„Mag sie entwischen!“ meinte Harst. „Wir haben ihr ja freies Geleit zugesichert.“
Dann nahm er den Spaten, schüttete das Loch zu und trat die Erde fest. „Bleib’ stehen,“ befahl er jetzt. „Ich will dieses unbenutzte Laubengrundstück mal auf Spuren hin durchsuchen.“
Von der Nebenlaube aus hatte uns ein älterer Mann beobachtet und rief nun:
„He – sind die Herren von der Polizei?“
„Nein,“ rief Harst zurück. „Aber was Ähnliches sind wir: Privatdetektive.“
„So, so.“
Inzwischen hatte ich das rote Taschentuch ganz auseinandergeschlagen. Und – was sah ich jetzt: zwei Leinenbeutel, zum Knäuel zusammengedrückt, – dieselben Leinenbeutel, in denen die Diamanten verpackt gewesen waren!
„Harst!“ Er drehte sich um. Ich hielt die leeren Beutel in die Höhe. Mit einem Satz war er wieder neben mir, riß mir die Beutel förmlich aus der Hand, murmelte vor sich hin:
„Sie sind’s!“
Der Mann von drüben war jetzt über den Zaun gestiegen und gesellte sich zu uns, meinte entschuldigend:
„Unsereiner interessiert sich doch auch für Ihre Arbeit, meine Herren.“ Dann blickte er Harst scharf an, nahm die Schirmmütze ab und fügte hinzu: „Jetzt erkenne ich Sie erst, Herr Harst. Diese Laube da gehört mir nun schon sechs Jahre. Ich habe Sie öfters in Ihrem Garten drüben gesehen. – Werkmeister Müller,“ stellte er sich vor.
Während Harald dann den Boden nach Spuren absuchte, unterhielt ich mich mit Müller. Er war Junggeselle und wohnte von April bis Oktober stets hier draußen in seinem netten Laubenhäuschen. Ich fragte ihn, ob er in der verflossenen Nacht nicht irgend etwas Auffälliges bemerkt hätte.
„Ja – so um halb vier morgens herum hat mein Karo wie toll gebellt und derart an der Kette seiner Hundehütte gerissen, daß ich aufstand. Ich bemerkte aber nichts Verdächtiges.“
Um halb vier! Das war wertvoll. Ohne Zweifel hatte der Hund den Menschen angebellt, der hier das Bündelchen verscharrt hatte. Und dieser Mensch war ja fraglos auch der Dieb, der die beiden Edelsteinbeutel aus Harsts Arbeitszimmer gestohlen hatte.
Harald kehrte jetzt zu uns zurück. Er ließ sich von dem Werkmeister nochmals schildern, in welcher Weise sich die Aufregung des Hundes geäußert hatte. Dann verabschiedeten wir uns von Müller und gingen in unseren Garten hinüber. Hier erst fragte Harst:
„Was hältst Du von alledem?“
Ich konnte nur die Achseln zucken.
„Hm – mein Verdacht war falsch,“ meinte Harald. „Ich glaubte an ein – Attentat. – Ja, ein Attentat. Ich argwöhnte, daß dort, wo das Bündel dann wirklich lag, eine Höllenmaschine oder dergleichen vergraben sei.
Deshalb ließ ich auch die Frau den Spaten benutzen. Sie benahm sich recht seltsam, als ich ihr den Spaten reichte. Überhaupt – man weiß nicht recht, was man von ihr denken soll. Ihre Art zu sprechen und diese träge Ruhe, die sich in jeder ihrer Bewegungen ausdrückte, könnte man –“ Er brach mitten im Satz ab.
Wir betraten sein Arbeitszimmer. Ich legte das rote Taschentuch mit seinem Inhalt auf den Mitteltisch. Dabei stieß ich mit dem linken Fuß an einen Gegenstand, der neben dem Sessel auf dem Teppich stand, in dem die Verschleierte Platz genommen hatte.
Ich hob dieses Etwas auf: es war eine große dunkelgrüne Lederhandtasche mit Nickelbügel, der in der Mitte einen Doppelknopfverschluß hatte.
„Harald, sie hat die Tasche vergessen,“ meinte ich und lächelte. „Nun werden wir bald wissen, wer diese „singende“ Dame war. Die Tasche ist verdammt schwer. Weiß der Himmel, was darin steckt. Sicherlich aber auch irgendein Fetzen Papier, der uns den Namen der Eigentümerin verrät.“
„Halt!“ rief Harst „Halt – berühre den Verschluß nicht –!“
Ich hatte die Tasche öffnen wollen.
Er nahm sie mir aus der Hand, ging zum Fenster, trat jedoch wieder an den Tisch zurück.
„Schließe die Vorhänge,“ meinte er. „Es ist besser so. Von der Mietskaserne aus kann uns jeder beobachten.“
Er drehte dann den schmiedeeisernen Kronleuchter an. Sechs Birnen glühten auf. Und er besichtigte nun den Verschluß der Tasche mit einer Sorgfalt, die mich sofort das Richtige ahnen ließ.
„Die Höllenmaschine steckte nicht in der Erde, sondern befindet sich in diesem Monstrum von Handtasche,“ sagte ich.
Er nickte nur, holte vom Schreibtisch eine kleine Schere und – begann, die Tasche zu zerschneiden. Er tat dies mit größter Behutsamkeit. Er hatte die Tasche dazu auf den Tisch gestellt. Nun hatte er den einen Seitenteil der Tasche und auch das Futter entfernt. Ein schmaler Pappkarton kam zum Vorschein. Aus diesem Pappkarton führten drei besponnene Kupferdrähte nach den Knöpfen des Bügels hin.
Harst durchschnitt sie einzeln, nahm nun den Pappkarton heraus, erklärte dabei: „Elektrische Zündung. Beim Öffnen der Tasche wäre der Kontakt hergestellt gewesen und wir hätten eine Explosion erlebt, die nicht nur die Fensterscheiben zertrümmert hätte.“
Ich verstand: wir beide wären mit erledigt gewesen.
Harst hob nun äußerst vorsichtig den Deckel von dem Pappkarton ab. In diesem befanden sich in Watte verpackt eine Batterie einer gewöhnlichen Taschenlampe und eine Blechbüchse. Von der Batterie liefen zwei Drähte in die Büchse hinein.
„Tragen wir das gefährliche Ding in den Garten,“ meinte Harald.
Wir stellten es in den Schuppen für die Gartengeräte und schlossen diesen ab.
Harst war jetzt völlig verstummt. Ich mußte an Rechtsanwalt Schobert und auch an Kriminalkommissar v. Meyberg telephonieren und die Herren für neun Uhr abends zu uns bestellen, sie auch gleichzeitig bitten, niemandem, sei es, wer es sei, von dieser Zusammenkunft etwas mitzuteilen und durch den Gemüsegarten von der Laubenstraße aus das Haus zu betreten.
Es war jetzt halb sieben Uhr. Harst hatte sich wieder in der Bibliothek an den Flügel gesetzt und spielte.
Harst hörte mitten in einem Takt auf, wandte sich mir zu und sagte:
„Wenn jetzt noch etwas geschieht, worauf ich warte, dann – hat er die zweite große Dummheit gemacht!“
„Und das wäre?“
„Eine telephonische Anfrage nach meinem Befinden.“
Er sprach von Dr. Möckern. Und ich erklärte nun meinerseits: „Du vermutest, er will sich Gewißheit verschaffen, ob sein Anschlag geglückt ist.“
„Ja. Es wäre das ganz unverfänglich und die einfachste Art, sich Gewißheit zu verschaffen. Falls er eben nicht irgendwo draußen einen Spion postiert hat, der den Knall hören müßte. Einen Spion, der genau so gehorsam und zuverlässig wie diese Frau ist, die er uns sandte. Auch das war eine Unvorsichtigkeit von ihm.“
Mir brannte jetzt geradezu eine Frage auf den Lippen.
„Harald, wenn Möckern dieses Weib zu uns geschickt hat, – wie deutest Du dann aber diesen Fund auf dem Laubengelände, zu dem sie uns verhalf?“
Er stand auf, trat vor mich hin, erwiderte leise:
„Es gibt dafür nur eine Deutung. Und diese Deutung wirft meine erste Theorie völlig um. Der Inder hat sich selbst erschossen, behaupte ich jetzt.“
Ich schwieg. Mir wurde wahrhaftig ganz wirr im Kopf. Dann fragte ich zögernd:
„Aber – aber die Beutel in dem roten Taschentuch? Und – die Uhr gehört doch fraglos dem Inder. Sie trägt ja das Monogramm „Dr. T. M.“ auf dem Deckel, also Doktor Tomar Marauwara! Und – der Militärpaß in der Brieftasche?!“
„Es gibt Schachzüge, mein Alter, die überschlau sind.“
Da trat Frau Auguste Harst ein und bat uns zum Abendessen.
Nach Tisch schlenderten wir im Garten auf und ab.
Gegen dreiviertel neun stellten wir uns an die hintere Gartenpforte und erwarteten unsere Gäste. Von Westen her war jetzt eine dicke Wolkenbank hochgestiegen. Es wurde schnell dunkel. Die Luft war schwül und drückend. Die Fledermäuse strichen lautlos ganz tief über die Gartenwege hin.
„Es wird ein Gewitter geben,“ meinte Harald und warf seinen Zigarettenrest auf den Fahrweg.
„Mir kommt das sehr gelegen. Wir werden in dieser Nacht vielleicht noch so etwas die Einbrecher spielen – mit polizeilicher Erlaubnis.“
Auf dem Fahrweg tauchten zwei Gestalten auf, die Erwarteten, Meyberg und Schobert. Sie waren uns bisher fremd. Die Begrüßung war trotzdem zwanglos und vertraulich.
Wir saßen dann in Harsts Arbeitszimmer um den Mitteltisch herum. Ein paar Flaschen Rotwein und Gläser, Zigarren und Zigaretten standen schon bereit.
„Ich möchte zunächst an Sie einige Fragen richten, Herr von Meyberg. Ihnen ist ja der Fall Marauwara übertragen worden. – Wo ist der Inder beheimatet?“
„In Patna, Provinz Bengalen, Britisch-Indien.“
„Ist bereits festgestellt, wo der Inder sich hier in Europa aufgehalten hat, bevor er vor acht Tagen nach Berlin kam?“ fragte Harst weiter.
„Ja. Zuerst in London, dann in Amsterdam, sodann in Pforzheim. Von dort fuhr er nach Berlin. Was er in diesen Städten getrieben hat, weiß man nicht.“
„Doch, Herr von Meyberg, – man weiß es. Er ist Schraut und mir heimlich gefolgt. Denn auf unserer Rückreise von Indien haben wir ja genau dieselben Städte besucht.“
„Und weshalb folgte er Ihnen beiden, Herr Harst?“
„Weil wir Mautley und Bickpool und ihrer 50-Millionenbeute folgten – sehr einfach!“
„Gestatten Sie – das verstehe ich nicht, Herr Harst.“
„Sie werden es verstehen – sehr wahrscheinlich noch heute. – Nun zu Ihnen, Herr Rechtsanwalt. Sie haben gestern nacht mit Doktor Möckern zusammen gepokert. Wann begannen Sie zu spielen, ich meine, von wann ab saßen Sie mit Möckern an einem Tisch?“
Schobert ließ ein lautes „Aha“ hören, fügte lebhaft hinzu:
„Dacht’ ich mir doch, daß Sie Möckern mit diesem Verbrechen in Verbindung bringen würden, Herr Harst. Nun – da kann ich Ihnen gleich sagen: der Doktor kann niemals als Mörder in Betracht kommen!“
„Hm –! Es kann ja auch so eine besondere Art Selbstmord vorliegen!“
„Ausgeschlossen!“ rief Meyberg. „Wir nehmen jetzt ein politisches Verbrechen an.“
„Nun, Sie werden sich bekehren lassen, meine Herren. – Also, Herr Rechtsanwalt –“
„Um halb eins fingen wir zu pokern an und hörten erst auf, als der Mord durch den Diener –“
„Danke. – Besinnen Sie sich vielleicht, ob Möckern häufiger vom Spieltisch aufgestanden und hinausgegangen ist?“
Schobert überlegte, erklärte dann: „Möckern trinkt nie während des Spieles. Er klebt förmlich an seinem Stuhl. Ich weiß genau, daß er nur ein einziges Mal gegen vier Uhr morgens plötzlich erklärte, wir müßten eine kurze Pause eintreten lassen. Dann ging er hinaus und kam nach zehn Minuten zurück.“
„Kurz vor halb sechs, also kurz bevor der Schuß fiel, hatte er das Spielzimmer nicht verlassen?“
„Ganz bestimmt nicht.“
„Hat er sich als Arzt den Toten angesehen?“
„Nur flüchtig. Er fühlte nur nach dem Puls und erklärte, der Inder sei bereits tot.“
„Ist Möckern vermögend?“
„Hm – er war es mal. Er ist ein unglaublicher Pechvogel. Der Klub hat bereits beschlossen, ihm die Teilnahme am Spiel zu verbieten. Das ist bei uns erlaubt. Fügt der Betreffende sich nicht, wird er als Mitglied gestrichen. Der Klubbeschluß sollte von übermorgen ab in Kraft treten.“
„Möckern hat also in letzter Zeit große Summen verloren?“
„Ja. Ehrlich: seine Verluste gehen in die Hunderttausende.“
Harst nickte. „Also auch das stimmt. – Nun möchte ich Ihnen beiden, meine Herren, meine erste, bereits als unrichtig erkannte Theorie entwickeln.“
Er führte genau dasselbe aus, was er mir über den Revolvertrick mitgeteilt hatte, erwähnte auch die Schießprobe, die wir hier im Zimmer angestellt hatten, sagte dann zum Schluß:
„Diese Theorie stützte sich auf die Annahme, daß Möckern kurz vor halb sechs, also bevor der Schuß im Präsidentenzimmer von dem Diener gehört wurde, den Spieltisch verlassen hätte. Er mußte ja die präparierte Patrone in den Lauf schieben. Und er konnte nur eine Zündschnur von geringer Brenndauer hierzu verwenden, weil er doch die Tür des Präsidentenzimmers nicht allzu lange halb offen lassen durfte. Zu leicht hätte doch jemand in den ersten Stock hinaufgehen und dann den bereits Ermordeten und neben diesem den „präparierten“ Revolver finden können. – Ich erklärte soeben, daß ich diese Theorie als unrichtig schon vor Ihrem Erscheinen, meine Herren, verworfen habe. Hätte ich es nicht getan, dann müßte ich es jetzt, wo Rechtsanwalt Schobert so bestimmt angegeben hat, Möckern sei nur ein einziges Mal, gegen vier Uhr hinausgegangen.“
Meyberg seufzte. „Ach – und diese Theorie ist so einleuchtend, wenn man näher darüber nachdenkt. Schade, daß sie nun ad acta gelegt werden muß!“
„Trösten Sie sich: meine zweite Theorie ist dafür auch unfehlbar richtig, meine Herren,“ sagte Harst sehr ernst.
Er berichtete nun von dem Diebstahl der beiden Diamantenbeutel, von unserem Besuch bei Möckern, von der verschleierten Dame im Seidenmantel, von dem Funde des Taschentuchbündels und von der Höllenmaschine.
Meyberg und Schobert hatten mit wachsender Spannung zugehört.
Dann rief der Kriminalkommissar: „Ich kenne jetzt ihre zweite Theorie, verehrtester Herr Harst. Sie nehmen[1] folgendes an: Marauwara ist Ihnen beiden von Indien aus in der Hoffnung gefolgt, den Diamantenschatz an sich bringen zu können.“
„Aber nicht für sich selbst,“ fiel Harald ihm ins Wort, „sondern für die Kasse der indischen Nationalisten, die für ihre Freiheitspropaganda Geld brauchen.“
„Mag sein. Jedenfalls vertraut Marauwara seine Pläne seinem alten Bekannten Möckern an.“
„Hm!“ machte Harst.
„Wie – sind Sie anderer Meinung, Herr Harst?“
„Ja. Aber nur weiter.“
„Nun – Möckern ist so gut wie ruiniert. Er wird Schulden haben. Deshalb will er nun für sich die Millionenbeute erringen. – Marauwara verläßt den Klub um ein Uhr, schleicht sich hier bei Ihnen ein, wird Zeuge, wie Sie den Koffer wegschließen, stiehlt die beiden Beutel mit den wertvollsten Steinen, die er bequem fortschaffen kann, vergräbt die leeren Beutel und –“
„– und seine Uhr und seine Brieftasche gleichfalls, nicht wahr?“ beendete Harst den Satz mit leiser Ironie. „Hier beginnt es mit Ihrer Theorie zu hapern, Herr von Meyberg. Und später würde sie noch unwahrscheinlicher werden, wenn wir erst bei dem Morde angelangt sind. Wenn Möckern den Inder berauben wollte oder beraubt hat, dann müßte er doch der Mörder sein. Wie wollen Sie dies beweisen?“
Der Kriminalkommissar trank schnell einen Schluck Rotwein, meinte dann:
„Verdammt nochmal! Sie haben recht, Herr Harst! Es hapert mit dieser Theorie, die ich für die Ihrige hielt.“
„Es hapert nur in den Hauptpunkten damit,“ lächelte Harald. „Doch – davon später. – Ob Möckern jetzt wohl daheim ist?“ wandte er sich an Schobert.
„Niemals! Der ist von neun Uhr abends nie zu Hause!“
„So, so. Dann könnte man also getrost bei ihm eindringen und nach den Diamanten suchen,“ sagte Harald völlig ernst.
Meyberg beugte sich vor. „Wie – das wollten Sie wirklich, Herr Harst?“
„Ja. Wir können ihn anders nicht überführen.“
„Aber Sie sprachen doch vorhin von Selbstmord!“ rief Schobert kopfschüttelnd.
„Gewiß. Und diesen Selbstmord kann ich ebenfalls in der Wohnung Möckerns nachweisen. – Wenn Sie mir helfen, Herr von Meyberg, werden Schraut und ich ganz bequem in die Wohnung hineingelangen.“
Er entwickelte ihm seinen Plan.
Meyberg überlegte eine Weile.
„Nun gut – ich bin einverstanden,“ erklärte er. „Und Sie, Schobert, machen Sie ebenfalls mit?“
„Sehr gern. Obwohl mein Beruf als Rechtsanwalt eigentlich der ist, Verbrecher vom Galgen loszuschwindeln, während ich hier noch helfen soll, jemand die Schlinge um den Hals zu legen.“ –
Um viertel elf brachen wir auf. Um dreiviertel elf hatten wir den Portier des Hauses Knesebeckstraße Ecke Kurfürstendamm geweckt. Er ließ uns ein, nachdem Meyberg sich als Kommissar legitimiert hatte.
Dann läuteten wir bei Möckern. Schobert wußte, daß Möckern nur eine Aufwartefrau und tagsüber eine Empfangsdame sich hielt.
Niemand erschien. Harst läutete nochmals. Wir vier standen im dunklen Treppenflur und lauschten atemlos. Wenn Möckern daheim war, fiel unser ganzer Plan ins Wasser. Doch – es blieb ganz still hinter der Flurtür.
Harst zog jetzt seinen Patentdietrich hervor. Ich leuchtete ihm mit der Taschenlampe. Gleich darauf war die Tür offen. Wir traten ein. Schobert und Meyberg sollten im Wohnungsflur warten und uns den Rücken decken, falls Möckern plötzlich heimkehrte. So hatte Harst es gewollt. So geschah es auch.
Die Wohnung hatte vier Zimmer. Der Portier hatte uns einen Grundriß des Hauses zeigen müssen, damit wir Bescheid wüßten.
Linker Hand lagen nach der Straße hinaus das Warte- und das Sprechzimmer. Dann gab es rechter Hand ein Badezimmer, ein sogenanntes Berliner Zimmer mit nur einem Fenster und im Hinterflur ein Schlafzimmer, die Küche und die Mädchenstube.
Wir, Harald und ich, begannen im Wartezimmer mit dem Suchen. Harald hielt sich hier jedoch nicht lange auf. Wir waren dann im Sprechzimmer weit sorgfältiger. Schränke und dergleichen ließen wir unbeachtet. Harst war überzeugt, daß Möckern die Steine gerade dort versteckt hätte, wo niemand sie vermutete. Hiernach richteten wir uns.
Wir benutzten als Beleuchtung nur unsere Taschenlampen. Wir hatten uns braune Seglerschuhe mit Gummisohlen angezogen und bewegten uns völlig geräuschlos. – Ich will Einzelheiten übergehen. Wir kamen nach einer halben Stunde ins Speisezimmer, in das sogenannte Berliner Zimmer. Dies hielt uns wieder eine halbe Stunde auf.
Dann öffneten wir die Tür, die von hier aus in den Hinterflur führte. Rechter Hand lag das Schlafzimmer. Harst trat ein. Ich war dicht hinter ihm und drückte die Tür leise ins Schloß.
Die beiden Lichtkreise unserer Taschenlampen glitten über das breite Bett, zwei Schränke, den Marmorwaschtisch und einen fellbedeckten Diwan hin. Der Waschtisch stand gleich linker Hand neben der Tür.
„Da – da!“ flüsterte Harald plötzlich, und der Lichtkreis seiner Leuchte lag auf dem Innern der Waschschüssel still. –
Und dort – dort befanden sich die Diamanten, füllten die Schüssel bis zur Hälfte, waren weit auseinandergebreitet. –
Wir traten näher heran.
„Diese Frechheit!“ meinte ich. „Unglaublich einfach! Der Mensch muß sich sehr sicher fühlen!“
Die Antwort kam sozusagen von der Zimmerdecke. Eine Menge großer Spiralen aus Kupferdraht sank herab, Spiralen von solcher Weite, daß zwei davon sofort uns über die Köpfe und den Oberleib glitten. Und im selben Moment flammte die Ampel über dem Bett auf.
Gleichzeitig fast hinter uns eine Stimme:
„Rühren Sie sich nicht! Sie stehen auf einer großen Kupferplatte, und ich habe den Kontakt in der Hand, kann Ihnen sofort einen Strom von 900 Volt Stärke durch den Körper jagen. Und das – genügt!“
Auch Harst war diese schlaue Falle so überraschend gekommen, daß er sekundenlang sich nicht regte.
Da meldete sich der Doktor bereits wieder.
„Sie sind jetzt gewarnt! Ich werde Sie nicht schonen! – Ich brauche den elektrischen Strom für meine Praxis. Denken Sie nicht, daß ich Sie nur schrecken will. Bei der geringsten verdächtigen Bewegung töte ich Sie! Mein Wort darauf. – Ich rechnete darauf, daß Sie beide sich hier einschleichen würden. Das entspricht ja so ganz Ihrer Arbeitsmethode, Herr Harst. Nun – diesmal sind Sie an einen Mann geraten, der Ihnen doch so etwas über ist. Die Diamanten tat ich in die Waschschüssel, damit Sie sich unter die Kupferspiralen stellten, die ich durch einen Ruck an einem Bindfaden herabfallen lassen konnte. Ich stand hinter dem Schrank am Fenster, als Sie eintraten. – So, und nun klären Sie mich bitte darüber auf, wie Sie gerade auf mich als den angeblichen Mörder des Inders gekommen sind. Ich bin wirklich gespannt auf Ihre Antwort, Herr Harst.“
„Ich darf mich doch wohl wenigstens umdrehen,“ meinte Harald sehr ruhig. „Von Angesicht zu Angesicht verhandelt es sich besser.“
„Ja, das dürfen Sie. Aber – keine Dummheiten! Auch Ihr Freund kann mir seine Vorderseite zukehren.“
Wir taten es.
Möckern saß auf dem Diwan, keine drei Schritt vor uns. In der Rechten hatte er einen gewöhnlichen elektrischen Kontakt in Form einer Birne. Von diesem Kontakt liefen zwei Drähte nach der Decke empor.
„So – nun beginnen Sie!“ sagte Möckern zu Harald.
„Womit denn? – Daß der Inder sich selbst erschossen hat, wissen Sie so gut wie ich. Und daß Sie die verschleierte Dame heute zu uns schickten, wissen Sie ebenfalls. Es war dies wohl eine Ihrer Patientinnen?“
„Vielleicht –!“ lächelte der Doktor.
„Weshalb geben Sie es nicht zu?! Sie sind ja doch verloren. Das Spiel ist aus, Herr Doktor. Wer mit mir anbindet, muß gewitzter sein, als Sie es vorläufig noch sind. Sie als blutjunger Anfänger auf der schlüpfrigen Bahn des Verbrechens sind gleich beim ersten Schritt ausgeglitten. Sie glaubten schlau zu handeln und haben ganz elementare Fehler und Dummheiten gemacht.“
Möckern war über diese Standpauke zunächst sprachlos. Dann verzog er sein Gesicht zu einem überlegenen Grinsen.
„Sie haben ganz recht, Herr Harst. Das Spiel ist aus – für Sie beide!“ sagte er dann triumphierend und stand auf. „Ja – ich habe die Diamanten gefunden, die Marauwara Ihnen gestohlen hatte – für den Agitationsfonds der indischen Nationalisten. Ich fand sie erst nach seinem Tode, an dem ich völlig unschuldig bin. Ich brauche die Diamanten. Ich bin – ruiniert! Und – so lang Sie beide leben, müßte ich, selbst wenn Sie mir ehrenwörtlich Schweigen geloben –“
Harst war plötzlich einen Schritt vorgetreten. Der Doktor schnellte empor. Ich sah, daß er auf den Knopf der Birne drückte –
Ein eisiger Schauer ging mir über den Leib. Der Tod mußte ja kommen – der Strom von 900 Volt! – Aber – nichts geschah – nichts!
Harst stand jetzt dicht vor Möckern, sagte kalt:
„Sie Narr! Wir haben Schuhe mit Gummisohlen an! Das haben Sie nicht beachtet!“
Der Doktor wollte zurückweichen. Harst packte ihn schon bei den Handgelenken. Er hatte die Kupferplatte bereits verlassen. Möckern suchte sich loszureißen. Aber was wollte dieser entnervte Mensch gegen die trainierte Kraft Haralds ausrichten?!
Ich sprang nun gleichfalls zu, streifte die Kupferspirale ab, half den Doktor fesseln. Wir banden ihm die Arme auf dem Rücken zusammen. Er ließ jetzt alles mit sich geschehen. Wir führten ihn in sein Sprechzimmer, riefen Meyberg und Schobert hinein.
Möckern saß jetzt leichenblaß und mit dicken Schweißperlen auf der Stirn in einem Sessel.
„Wollen Sie ein Geständnis ablegen?“ fragte Harst kurz.
„Ich – ich sagte ja schon: ich fand die Diamanten, nachdem der Inder sich erschossen hatte,“ stammelte der Doktor.
„Wo fanden Sie sie?“
„In meinen Manteltaschen in der Garderobe des Klubs –“
„Das kann wahr sein, ist jedoch ganz nebensächlich. Sie sind also nicht der Mörder des Inders?“
Mörder?! – Ich wurde immer noch nicht klug aus all diesen Widersprüchen.
„Nein. Wie sollte ich wohl Marauwara erschossen haben?! Kein vernünftiger Mensch wird das annehmen!“ Möckern hatte sich bereits wieder gefaßt. Sein Gesicht bekam wieder eine Spur von Farbe.
„Sie lügen!“ rief Harst jetzt. „Sie sind der Mörder! Denn – Sie haben dem Inder, nachdem Sie ihn hypnotisiert hatten, was Ihnen als Nervenarzt ein leichtes war, den Befehl erteilt, sich auf die und die Art und dann und dann zu erschießen! Sie werden ihm auch in der Hypnose das Geheimnis entlockt haben, weshalb er nach Deutschland gekommen war. Er war Ihr willenloser Sklave, war nichts wie eine lebende Maschine, die Ihnen gehorchte! Sie gaben ihm den Schlüssel zu dem Präsidentenzimmer. Dort mußte er sich erschießen – durch einen Schuß in den Hinterkopf!“
Möckern lachte höhnisch auf. „Beweisen Sie mir das doch bitte – ja?! Bin neugierig darauf!“
„Das ist eine Kleinigkeit, Doktor Möckern. Ich werde die Dame finden, die Sie heute zu mir sandten, um mich und Schraut umzubringen. Diese Frau ist sicherlich eine Patientin von Ihnen. Die monotone Stimme und das Benehmen dieses Weibes verrieten mir, daß sie lediglich in Hypnose all das tat und sprach, was Sie ihr befohlen hatten. Und habe ich diese Frau entdeckt, die sich natürlich an nichts mehr erinnern wird, was mit dem Besuche bei mir zusammenhängt, dann ist der Beweis erbracht, daß Sie Ihre unheimliche Macht dazu benutzt haben, mich, den Sie fürchteten, aus dem Wege räumen zu lassen. Dann wird jedem klar sein, daß auch der Inder unter Ihrem suggestiven Einfluß stand, als er die Diamanten stahl, als er um halb vier morgens seine Uhr, Brieftasche und die beiden Beutel vergrub, wobei er von einem wachsamen Hunde verbellt wurde, – als er weiter um vier Uhr morgens von Ihnen irgendwie in das Klubhaus eingelassen wurde, wo Sie ihm die Diamanten, die Ringe und sein Bargeld abnahmen und ihn im Präsidentenzimmer sich einschließen ließen, bis er dann – auf Ihren Befehl – sich in den Hinterkopf schoß, nachdem er die Tür halb geöffnet hatte – auch auf Ihren Befehl, damit der Schuß unten gehört würde. Dieser Indizienbeweis Ihrer Schuld läßt sich noch in vielen Einzelheiten ergänzen. Jedes Schwurgericht wird Sie hiernach zum Tode verurteilen, den Sie auch verdient haben. – Sie haben diesem Morde absichtlich und mit leidlichem Geschick etwas Geheimnisvolles verliehen. Alle die rätselhaften Begleitumstände klären sich jetzt von selbst. Auch dies eine will ich Ihnen noch mitteilen, nämlich wie ich zuerst auf den Gedanken gekommen bin, daß hier ein Selbstmord und doch ein Mord – also hypnotische Beeinflussung – vorliegt. Die Dame, die Sie zu uns schickten, schritt wie eine Traumwandlerin auf mein Haus zu. Da erinnerte ich mich an die Aussage des Klubdieners Reimer, der ja bekundet hat, der Inder sei beim Verlassen des Klubhauses „tief in Gedanken“ gewesen und habe ihn „versonnen“ angeschaut, als er ihn auf das hohe Trinkgeld aufmerksam machte. – Und nachher, als ich die Verschleierte sprechen hörte, wußte ich völlig Bescheid: beide Personen hatten in Hypnose gehandelt!“
Möckern zuckte nur die Achseln. Aber auf seiner Stirn standen schon wieder die dicken Schweißperlen peinvollster Angst.
Am folgenden Tage wurde die Dame ermittelt, die Möckern in so scheußlicher Weise für seine Zwecke ausgenutzt hatte. Es war die Frau eines reichen Kaufmanns aus dem Vorort Steglitz. Sie besann sich in der Tat auf nichts. Nur ihre neue, große Handtasche war ihr irgendwie abhanden gekommen. – Möckern hatte ihr also befohlen, diesen Besuch bei Harst völlig zu vergessen.
Niemand zweifelte jetzt mehr daran, daß Harsts Theorie „Selbstmord und doch Mord“ die einzig richtige war. Die Zeitungen priesen ihn als den deutschen Sherlock Holmes. –
Weshalb und wo wir es nochmals mit Doktor Möckern zu tun bekamen, erzähle ich in
Der Leser weiß, daß zum Harstschen Hause in Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, ein großer Garten gehört. Im Stallgebäude hinter dem Wohnhause befand sich auch ein Taubenschlag. Harsts Mutter hielt sich eine große Geflügelzucht. Die Tauben waren ihre Lieblinge.
Um neun Uhr vormittags am 1. Juni saßen Harald und ich in Liegestühlen unter den alten Linden im Garten und unterhielten uns über eine Notiz in den heutigen Morgenzeitungen. Danach sollte Dr. Möckern gestern am letzten Mai zur Beobachtung seines Geisteszustandes der Irrenanstalt Dalldorf für sechs Wochen überwiesen worden sein.
Harald sagte hierzu lediglich: „Aha – er fürchtet für seinen Kopf und spielt jetzt den Unzurechnungsfähigen. Eigentlich hätte man das voraussehen können.“
Plötzlich rief Frau Harst überlaut vom Hause her:
„Harald – Harald, man hat uns in der Nacht drei Tauben gestohlen –!“
Natürlich eilten wir sofort hin und untersuchten die Sache. Frau Harst war sehr aufgeregt. Man hatte ihr gerade drei sehr wertvolle und sehr zahme Brieftauben aus dem Schlage herausgeholt.
Das Schloß des Schlages war mit einer Stahlsäge gewaltsam geöffnet worden. Auffallend blieb, daß der oder die Diebe nicht auch die anderen sechzehn Tauben mitgenommen hatten.
Wir standen noch vor dem Stallgebäude und schauten zu, wie Frau Harst ihre Lieblinge fütterte, die ohne Scheu uns zwischen den Beinen umherliefen, als Haralds Mutter mit einem Male hocherfreut auf das Dach des Stalles zeigte.
„Da – da, die drei Entführten sind zurückgekehrt.“
Es waren die drei Brieftauben. Sie kamen denn auch sofort auf den Futterplatz herabgeflattert und pickten gierig die Körner auf.
Harald meinte: „Siehst Du, Mutter, – der Dieb ist ein Gemütsmensch gewesen. Er ahnte, wie sehr Dich dieser Verlust schmerzen würde. – Bitte – greife doch mal die drei glücklich Heimgekehrten. Mir scheint, man hat sie tatsächlich so verwendet, wie es ihre Bestimmung als Brieftauben ist. Schau’ nur genau hin. An jedem rechten Flügel ist an einer Schwungfeder ein Papierröllchen befestigt. Ich glaube, diese Papierröllchen werden für mich bestimmt sein, und man hat die drei Tauben in der vergangenen Nacht nur gestohlen, um mir auf eine gewiß nicht alltägliche Weise eine Nachricht zu übermitteln. Der Dieb brauchte die Tauben nur wieder auffliegen zu lassen, nachdem er ihnen die Brieflein an die Schwungfedern gebunden hatte, – und er hatte Boten an mich abgesandt, die seiner Ansicht nach mindestens ebenso verschwiegen wie ein Grab sind.“
Frau Harst war über die Papierröllchen, die man tatsächlich unschwer bemerken konnte, wenn man erst einmal darauf aufmerksam gemacht worden war, weniger entzückt.
Trotz ihrer mäßigen Freude über dieses in Aussicht stehende neue Problem griff sie dann doch die zahmen Tauben eine nach der anderen und hielt sie Harst so hin, daß er die etwa vier Zentimeter langen, kaum bleistiftdicken Röllchen, die mit Seidenfäden befestigt waren, losschneiden konnte, wobei er auch die Seidenendchen sorgfältig mit ablöste.
Dann gingen wir mit diesem vielverheißenden Funde wieder nach unserem Gartenplätzchen zurück, schoben unsere Liegestühle dicht nebeneinander und untersuchten diese Brieftaubenpost.
Das Papier war sogenanntes Fettpapier. Die drei Papierstreifen hatten eine Breite von vier und eine Länge von fünfzehn Zentimetern.
Sie waren mit Rundschrift beschrieben. Als Tinte war schwarze chinesische Tusche benutzt worden! Jeder Zettel hatte eine Nummer. Die Seidenfäden waren bei dem mit Nr. 1 versehenen Zettel rot, bei dem mit Nr. 2 bezeichneten blau und bei dem dritten weiß.
Der Inhalt von Nr. 1 lautete ohne Anrede, Ort und Datum:
Ich wage nur, auf diese Weise mit Ihnen mich in Verbindung zu setzen. Ich weiß, daß ich von Spionen umgeben bin. Ich habe nur einen Vertrauten, und das ist der, der auf meine flehentlichen Bitten hin die drei Tauben stahl. Sorgen Sie dafür, daß von dieser Taubenpost nichts bekannt wird.
Nr. 2 lautete:
Ich bin Waise und jetzt fast 20 Jahre alt. Vor drei Jahren fiel mir durch Erbschaft von einem in Afghanistan zuletzt ansässigen Bruder meines früh verstorbenen Vaters ein großes Vermögen zu, das in der Hauptsache aus Silbergruben bestand. Ich hatte bis vor kurzem noch einen Onkel und eine Tante mütterlicherseits, die inzwischen jedoch verstorben sind.
Nr. 3 lautete:
Bei diesen Verwandten lebte ich bis vor fünf Monaten. Jetzt befinde ich mich bei meinem Vormund, einem Freunde meines Vaters. Es ist ein weltfremder Gelehrter, der wenig Verständnis für Jugend hat. Ich habe Beweise, daß man mir nach dem Leben trachtet. Wer dahinter steckt, vermute ich nur. Aus Furcht schließe ich mich nachts stets ein. Und doch finde ich jeden Morgen in meinem Zimmer ein oder mehrere abgebrannte, rote Zündhölzer. Ich leide geradezu an krankhafter Schlafsucht. Übermorgen, am 3. Juni, besuche ich das Theater des Westens, wo es die Operette „Das Rosenmädel“ gibt. Orchesterloge Nr. 2, Platz 4. Bitte, bitte, helfen Sie mir.
Harst hatte die Zettel so gehalten, daß ich hatte mitlesen können.
„Na?“ meinte er jetzt.
„Das kann etwas werden,“ sagte ich.
„Hm, – ich bin eigentlich enttäuscht, mein Alter. Die Art der Übermittelung dieser Zettel schmeckt nach hysterischer Überspanntheit. Wenn die Schreiberin einen Vertrauten hat, hätte sie doch weit bequemer mir einen Brief durch die richtige Post zusenden lassen können. Diese Brieftaubenpost war doch weit umständlicher und konnte viel leichter auffallen. Hier – stimmt irgend etwas nicht. Man wird diese junge Dame mit einigem Mißtrauen behandeln müssen. Ich habe so das Gefühl, daß die Sache Schwindel ist. Trotzdem werden wir uns Plätze für dieselbe Loge besorgen, und natürlich werden wir in einer Verkleidung hingehen.“
Er stand auf. „Ich möchte auf meinem Zimmer die Zettel genauer untersuchen. Du kannst derweil die Theaterkasse anrufen. Laß zwei Plätze sofort reservieren. Dann kostümiere Dich um – als Dienstmann, und hole die Eintrittskarten ab. Wir wollen in diesem Fall von vornherein sehr vorsichtig arbeiten. Man kann nie wissen, ob die Theaterkasse nicht beobachtet wird, falls – diese Taubenpost nicht eben – ein schlechter Scherz oder dergleichen ist.“ –
Um elf Uhr vormittags war ich aus der Stadt zurück. Ich hatte noch Plätze in derselben Loge erhalten.
Ich war noch im „Kostüm“, als ich bei Harst eintrat.
„Du bist doch hinten durch den Garten gekommen?“ meinte er sofort.
„Gewiß. Ich werde doch in Verkleidung nicht den Vordereingang benutzen.“
Harald stand in seinem Bibliothekzimmer an dem Tisch, der sein Experimentiertisch war.
„Ich habe auf den Zetteln zwei verschiedene Arten von Fingerabdrücken festgestellt,“ erklärte er jetzt. „Die einen rühren von einer sehr kleinen Frauenhand her, die anderen von einer Männerhand, die an grobe Arbeit gewöhnt ist. Diese männlichen Abdrücke haben so viel Narbenzeichen, daß es sich um einen Menschen handeln muß, der sich häufiger die Finger verletzt. Auf welchen Beruf würdest Du auf Grund dieser Verletzungen schließen?“
Ich hatte mich in den nächsten Sessel gesetzt, dachte lange nach und erwiderte schließlich:
„Schwer zu sagen!“
„Stimmt. Ich bin mir auch noch nicht klar darüber, was dieser Mann treibt. – Bitte, schau’ mal her. Dies ist offenbar der Abdruck einer rechten Zeigefingerkuppe. Ich habe den Abdruck zwanzigfach vergrößert. Du siehst in dem Linienmuster zahlreiche Rillen und Flecke. Das sind alles Narben. Ich zähle sechs größere und fünf geringere Narben.“
„Hast Du sonst noch etwas auf den Zetteln gefunden?“
„O ja. Und – das ist gerade das merkwürdigste. – Da – dies ist Zettel Nr. 3.“
„Wie, Du hast ja die Schrift weggewaschen, und –“
„– und es ist davon nur übrig geblieben:
Rosen-Platz 4.
Alle anderen Wörter ließen sich leicht wegwaschen. Es waren nur von „Rosenmädel“ das „Rosen“ und dann „Platz 4“ mit unverwaschbarer Tusche geschrieben.“
„Hm – das sieht wie eine Adresse aus.“
„Ist es auch, lieber Alter. Da liegt das Adreßbuch von Berlin und Vororten. Und ich habe nicht lange zu suchen brauchen. Hier ganz in unserer Nähe gibt es einen „Rosenplatz“, nämlich im Vorort Dahlem. Und Nr. 4 wohnt Doktor Athanasius Prikola, Privatgelehrter. Nur er und noch fünf Menschen, die ihrem Berufe nach zu demselben Grundstücke, also einer Privatvilla gehören, nämlich:
Anna Fabrich, Wirtschafterin,
Rosa Linden,
Auguste Schmulke, Köchin,
Therese Gerstel, Witwe,
Heinrich Gerstel.
Vielleicht ist Rosa Linden die angeblich von Gefahren umlauerte. Und Heinrich Gerstel kann der Vertraute sein.“
„Ganz recht!“ nickte ich. „Bei beiden fehlt der Beruf. Athanasius Prikola ist dann der Vormund.“
„Sehr wahrscheinlich. – Rosa Linden hat auf meine Schlauheit gerechnet und ihre Adresse daher ganz gewandt in den Brieftext eingeschmuggelt. Ich möchte jetzt fast behaupten, wir hätten uns die Ausgaben für die Theaterplätze sparen können. Sie wird gefürchtet haben, die Brieftauben könnten in fremde Hände fallen. Daher ihre Vorsicht, mit der sie die Operette und den Theaterbesuch zur heimlichen Mitteilung ihrer Wohnung benutzte. Sie wird gar nicht ins Theater gehen. Wer so scharf bewacht wird wie sie, darf doch nicht hoffen, im Theater mit uns in Verbindung treten zu können. Möglich ist es aber trotzdem, daß sie dort übermorgen abend zu finden ist.“
„Du denkst jetzt doch ernster über diesen Fall, Harald?“
„Ja.“ – Er hatte sich in den Stuhl vor dem Experimentiertisch gesetzt. „Würde es sich nur um irgendeinen Streich handeln, den man mir hätte spielen wollen – ich habe ja genug heimliche Neider, die mich gern einmal blamieren möchten, dann könnten nicht diese verschiedenen Angaben stimmen. Rosa Linden (falls sie so heißt!) spricht von einem weltfremden Gelehrten in ihrer Taubenpost. Und Rosenplatz 4 wohnt ein Privatgelehrter, ein Doktor Athanasius Prikola; sie erwähnt weiter einen Vertrauten, und ich finde die Spuren einer verarbeiteten Männerhand auf den Zetteln neben denen zarter Frauenfinger. Schließlich: der Text beweist, daß die Verfasserin hat vorsichtig sein wollen! Aber ihre Jugend und Unerfahrenheit verführten sie doch zu der Erwähnung von Einzelheiten, die ihr hätten gefährlich werden können, wenn, was allerdings ein seltsamer Zufall gewesen wäre, alle drei Tauben in den Besitz eines Menschen gelangt wären, der genügend verbrecherischen Instinkt besaß, hier ein „Geschäft“ zu ahnen und der Absenderin nachzuspüren, um dann irgendwie Kapital aus der Sache zu schlagen. – Nein, ich nehme diese Brieftaubenpost jetzt im Gegensatz zu vorhin völlig ernst und habe mir auch bereits eine Theorie zusammengebaut. Du vielleicht auch?“
„Ja. Ein großes Vermögen hat schon manchen Vormund zu einem Verbrechen –“
„Danke, mein Alter. Wir sind uns einig. Vorläufig also: Erbschleichen oder Ähnliches mit allen Mitteln!“
Dann machte er mir einen Vorschlag, auf den ich gern einging. – Wir verließen nach dem Mittagessen um zwei Uhr das Haus durch den Gemüsegarten, der mit der Rückseite an einen wenig benutzten Weg stieß. Wir hatten uns so gründlich verwandelt, daß wir uns gegenseitig kaum erkannt hätten, wenn wir uns in dieser Maske als ältere, behäbige Herren, Schlag „kleine Rentner“, begegnet wären.
Ein Schmuckplatz mitten im Kiefernwalde; nur ein einzelnes Grundstück stößt mit der Front der hohen Gartenmauer an diesen Platz.
Wir hatten uns auf eine schattige Bank gegenüber der Mauerpforte jenes Grundstücks gesetzt, hatten unsere Zeitungen hervorgeholt und beobachteten nun, was ringsum geschah.
Die Mauer bestand aus verwitterten Ziegeln. Oben waren Eisenstäbe eingelassen, an denen sich Stacheldrähte wie eine Telegraphenleitung hinzogen.
„Die Drähte sind neu,“ sagte Harst plötzlich. „Auch die Eisenstäbe. Hm – ob Doktor Prikola diese stachlige Mauererhöhung erst hat anbringen lassen, nachdem sein Mündel zu im gezogen und nachdem – die beiden Verwandten Rosa Lindens verstorben waren!“
Das war keine Frage, die Harald gestellt hatte; das war eine direkte Verdächtigung des Doktors – eine schwere Verdächtigung, die eben in dem letzten Satze lag.
„Auch die „krankhafte Schlafsucht“ gibt zu denken,“ sagte Harald wieder, ohne von der Zeitung aufzusehen. „Nur aus den roten Zündhölzern werde ich nicht klug. Wenn sich jemand nachts bei Rosa Linden einschleicht, wird er doch nicht Streichhölzer als Leuchte benutzen –! Und dann noch die abgebrannten Zündhölzer wegwerfen –!“
„O – ein zerstreuter Gelehrter, der nur ein Dilettant in der Kunst des Verbrechens ist –!“
„Ja – das wäre eine Erklärung. Doch – auch ein Dilettant des Verbrechens wird solche Fehler nicht machen, er müßte denn gerade ein Dummkopf sein. Ausgerechnet auch noch rote Zündhölzer dort zurücklassen, wo man heimlich eingedrungen ist, – nein, das – das behagt mir nicht, das ist etwas für meinen Geschmack zu – zu Auffallendes. – Doch – vorläufig hat es wenig Zweck, diese Dinge zu erörtern. – Ah – sieh, ein ganzer Taubenschwarm hat sich hinter dem Hause erhoben, wo das Wirtschaftsgebäude stehen dürfte. Tauben! Mein Alter, dann ist es begreiflich, daß Rosa Linden auf den Gedanken der Taubenpost kam.“
Die Toreinfahrt gerade vor uns in der Mauer hatte eine Flügelgittertür. Daneben lag die Pforte für den Personenverkehr. Beide waren durch Eisenblech undurchsichtig gemacht.
Die Pforte öffnete sich jetzt. Ein kleiner, buckliger Herr mit rötlichem Vollbart trat heraus. Er war in einen altmodischen, braunen Rock mit langen Schößen gekleidet. Auf einer dicken Knollennase saß schief ein Nickelklemmer, dessen Schnur über das rechte Ohr gelegt war.
„Doktor Athanasius Prikola,“ sagte Harst leise.
Der Doktor – er war es zweifellos – schloß hinter sich die Pforte ab und schaute sich dann nach allen Seiten um. Wir hatten unsere Zeitungen in der Hand und taten, als kümmerten wir uns nicht im geringsten um ihn.
„Ein sehr argwöhnischer Mensch,“ flüsterte Harald.
Der Doktor schritt die Straße nach Osten zu hinunter. Als er um die nächste Ecke verschwunden war, stand Harst auf. „Ich werde hinter ihm bleiben,“ erklärte er. „Beobachte Du hier weiter.“
Er eilte davon. Nach zehn Minuten bemerkte ich einen älteren Gärtner, der die Beete des Platzes in Ordnung brachte. Ich schlenderte auf ihn zu. Wir kamen ins Gespräch. Ich erzählte, ich sei erst vor kurzem hier nach Berlin verzogen. „Ich wohne in Schmargendorf, aber ich möchte mich gerne ankaufen. Es muß aber ein großer Garten mit dabei sein. Ob wohl das Grundstück dort drüben verkäuflich ist?“
Der Gärtner winkte eifrig ab. „Nein, nein, Herr. Das gehört einem Gelehrten, der sehr reich ist.“
Ich lächelte. „Und der wohl Angst vor Dieben hat! Schön sieht der Stacheldraht da oben auf der Mauer nicht aus!“
„Ja – der Stacheldraht!“ nickte der Gärtner vielsagend. „Was der soll, weiß so recht niemand. Doktor Prikola hält sich doch drei scharfe Hunde, die nachts frei umherlaufen. Die genügen als Schutz gegen Diebe vollkommen.“
„Das Haus muß sehr alt sein, schätz’ ich.“
„Seine 200 Jahre ganz gut, Herr. Der Doktor kaufte es vor 30 Jahren. Jetzt ist das Grundstück ’ne Million wert. Der Garten ist sehr groß. Sogar ein kleiner See befindet sich darin mit einer Insel. Und auf der Insel steht ein Häuschen, so eine Art Turm. Der Doktor hat es erbauen lassen. Er war früher in Japan, erzählt man hier.“
Ich bot dem freundlichen Alten eine Zigarre an.
„Vorhin sah ich an der Pforte ein junges Mädchen,“ log ich. „Wohl des Doktors Tochter?“
„So – an der Pforte? – War sie allein, die junge Dame?“
„O – sie schaute nur einen Moment hindurch. Dann wurde die Pforte wieder geschlossen.“
„Das glaub’ ich!“ meinte er mit besonderer Betonung. „Das arme Fräulein darf ja nie einen Schritt allein tun.“
„Hm – ist sie – geisteskrank?“
„Ja, wenn man das wüßte, Herr!! Man erfährt überhaupt nichts, was dort hinter der Mauer vorgeht.“
Um den Alten nicht argwöhnisch zu machen, wechselte ich das Thema. Ich hatte genug erreicht. Nach einer Weile verabschiedete ich mich und schritt um das Grundstück des Doktors herum, das ein ganzes Straßenviereck einnahm. Überall gab es die gleiche Mauer, überall auch die gleichen dicken Stacheldrähte.
Ich dachte über das nach, was der Gärtner da soeben ahnungslos ausgeplaudert hatte.
„Das arme Fräulein!“ hatte er gesagt. Er bedauerte Rosa Linden also.
Alles sprach dafür, daß dieser Doktor, wie Harald vermutete, seine Hand nach dem Erbe seines Mündels ausstreckte. Aber: sollte er wirklich ein solcher Tölpel sein, ein solcher Dilettant des Verbrechens, daß er seine Vorbereitungen so auffällig betrieb, – genau so auffällig wie die roten Zündhölzer es waren?! –
Plötzlich irgendwoher ein Pfiff, – nein, ein paar Walzertakte:
„Komm’ herab, o Madonna Theresa –“
Ich schaute mich um.
Da stand links vom Wege mitten zwischen den Kiefern eine uralte, knorrige Eiche. Und – ein gar seltsamer Vogel hatte sich da auf einem der mittleren Äste niedergelassen: Harald Harst!
Ich schwenkte sofort von der Straße ab, verschwand zwischen den Kiefern. Die Eiche erhob sich auf einer flachen Bodenwelle.
„Warte noch ein paar Minuten,“ kam der Bescheid von oben herab. „Ich signalisiere soeben mit einer jungen Dame, die sich auf dem flachen Dache einer Art Pagode befindet.“
Aus den Minuten wurde eine halbe Stunde. Dann kam Harst herabgeturnt. Ich mußte ihm zunächst die Kleider abklopfen. Er war allerbester Laune.
„Du, das wird ein ganz feiner Leckerbissen,“ meinte er. „Rosa Linden ist für ihre Jahre schon recht gerissen – zu ihrem Glück. Sonst wäre sie vielleicht schon – ins Jenseits hinüberbefördert. Du weißt ja, mein Alter: wenn ich so einem recht scheinheiligen Schurken das Handwerk legen kann, dann bin ich mit doppeltem Eifer dabei.“
„Auch ich habe einige Erfolge gehabt,“ meinte ich und berichtete, was mir der Gärtner erzählt hatte.
„Merkwürdig,“ meinte Harald. „Der Doktor ist in der Tat geradezu lächerlich unvorsichtig. Wenn die Leute schon über seine Behandlungsmethode seines Mündels sprechen, muß diese – Kerkerhaft doch so öffentlich über das arme Mädel verhängt werden, daß man allgemein aufmerksam wird. – Hm – ich denke, wir statten nun einmal dem nächsten Nachbar des Doktors einen Besuch ab. Du besinnst Dich auf die elegante Villa rechts vom Rosenplatz. Im Vorübergehen las ich das Schild an der Gartenpforte: v. Beberritz.“
Wir schlängelten uns auf Umwegen dorthin. Inzwischen teilte Harald mir folgendes mit:
Er war dem buckligen Gelehrten bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle gefolgt. Hier hatte dieser auf die Elektrische gewartet und war unruhig und offenbar tief in Gedanken an der Haltestelle auf und ab gewandert. Als die Straßenbahn ihn dann entführt hatte, suchte Harald sich einen günstigen Baum in der Nähe des Prikolaschen Parkes aus, um einen Blick in den Garten zu werfen. Dann war er plötzlich von der Höhe der Mauer aus angerufen worden. Er gewahrte den Kopf einer blonden, reizenden jungen Dame, die ihn hastig und ängstlich anflehte, ihr doch einen Brief zu befördern.
„Sie müssen mir aber ehrenwörtlich versichern, mein Herr, den Brief nicht zu öffnen und jedermann gegenüber zu schweigen,“ hatte sie ebenso scheu hinzugefügt. „Der Brief muß zu Assessor Harald Harst –“
Dann hatte sie sich mit einem Male umgeschaut, hatte leise aufgeschrien: „Ach, mein Gott – das Weib ist schon wieder da – Schweigen Sie, ich flehe Sie an!“
Und Harst hatte ebenso eilig erwidert:
„Brieftaubenpost! Ich bin Harald Harst!“
Da war es wie ein Aufleuchten über ihr zartes Gesicht gegangen. Ein Brief flog durch die Stacheldrähte.
„Auf einen Baum – Pagodendach – Morsezeichen,“ hatte sie noch geflüstert. Und plötzlich war ihr reizender Kopf verschwunden. Harst hörte jenseits der Mauer noch eine scheltende, rauhe Frauenstimme, bevor er sich im Walde verbarg.
Erst nach einer Weile hatte er dann die Eiche gefunden und erklettert. Und – nun hatte das Signalisieren begonnen. Rosa Linden war auf dem Dache des eigenartigen Bauwerkes erschienen, das sich auf einer Insel in einem kleinen See erhob, hatte einen größeren Spiegel mitgebracht, und, gedeckt durch eine Rollwand, nach Westen hin, nach der Eiche zu, wo sie Harst offenbar bemerkt hatte, Zeichen gegeben, indem sie das Licht der bereits tief stehenden Sonne auf den Spiegel fallen ließ und so Lichtblitze von längerer und kürzerer Dauer hervorrief.
Immerhin hatte sie sehr lange Zeit gebraucht, bevor sie von Harst durch Winken mit dem Taschentuch dahin verständigt wurde, daß er jetzt endlich die Zeichen richtig aneinandergefügt hätte.
„Ja, denke Dir, mein Alter. Sie hat mir nur zwei Worte telegraphiert:
„Diese Nacht!“
und hier hast Du ihren Brief. Wenn Du ihn gelesen hast, wirst Du dieses: „Diese Nacht“ verstehen.“
Der Briefbogen steckte in einem Umschlag ohne Adresse. Auf dem Briefbogen war in Rundschrift geschrieben:
„Theaterbesuch wahrscheinlich verboten. Erwarte Sie nachts zwölf Uhr bei guter Gelegenheit. Gebe dann noch kurz Nachricht. Nur durch zwei Worte: „Diese Nacht!“ Werde die Hunde für diese Nacht dann unschädlich machen. Erklettern Sie Baum nach Westen zu vor Parkmauer. Wenn vom Dach der Pagode um dreiviertel zwölf grünes Licht viermal aufleuchtet, ist alles sicher. Erwarte Sie am Westufer des kleinen Sees bei der Anlegebrücke. Muß Sie unbedingt ungestört sprechen. Helfen Sie mir! Retten Sie mich. Ich habe keinen Freund auf der ganzen Welt.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Eine tolle Sache!“ meinte ich. „Beinahe zu – zu hintertreppenromanhaft, ehrlich gesagt.“
„Wenn Du das arme Mädel mit den wundervollen dunklen, so verängstigten Augen gesehen hättest, würdest Du nicht von einer „tollen Sache“ und von „Hintertreppenroman“ sprechen,“ rief Harst leise und fast ärgerlich.
„Aber – weshalb rief sie Dir nicht einfach dieses „Diese Nacht“ zu, bevor sie vor irgend jemand von der Mauer sich zurückzog?!“ erklärte ich als hartnäckiger Zweifler, denn ich wurde nun einmal das Gefühl nicht los, daß bei alledem ein Zuviel von seltsamen Begleitumständen war. „Vielleicht ist diese Rosa Linden tatsächlich geisteskrank. Vielleicht bildet sie sich all diese Nachstellungen nur ein, und wir –“
„Geisteskrank?!“ unterbrach Harald mich. „Ich habe einen guten Blick für den Ausdruck von Augen und ein noch besseres Urteilsvermögen über schriftliche Mitteilungen. Die Augen Rosa Lindens waren die eines gehetzten, furchtsamen Weibes. Und ihre Niederschriften – die Brieftaubenpost und dieses Schreiben hier – sind durchaus logisch und vernünftig. So, wie dieses Mädchen sich Hilfe zu verschaffen sucht, würde kein Irrer es tun.“
Ich mußte ihm recht geben. Meine Zweifel schwanden.
„Daß sie mir nicht sofort zurief: „Diese Nacht“ –,“ fügte Harst hinzu, „kann allerlei Gründe haben. Wir werden das Mädchen ja sprechen, und sie wird schon eine genügende Erklärung bereithaben. Ich bin überzeugt, sie hat mir noch mehr hinübertelegraphieren wollen. Ich habe drei Seiten meines Notizbuchs mit Strichen und Punkten gefüllt, aber nur eben die beiden Worte entziffern können. Da ist schon die Villa Beberritz.“
Er läutete an der Gartenpforte. Ein Diener erschien und fragte nach unseren Wünschen.
„Wir möchten Herrn von Beberritz in einer persönlichen Angelegenheit sprechen,“ sagte Harst. „Unsere Namen sind Baron von Hartwig und Graf Pragenstein.“
Na – der Baron und der Graf wirkten! Schulze und Müller wären kaum von dem Diener mit in die Villa genommen worden.
Wir saßen in einem sehr bescheidenen Salon. An den Wänden hingen desto wertvollere Gemälde. Inzwischen hatten wir schon von dem Diener gehört, daß Herr v. Beberritz Exzellenz war.
Dann erschien er selbst. Ein stattlicher, alter Herr, dem man den früheren Militär auf den ersten Blick ansah.
Harst und ich erhoben uns.
„Exzellenz, Sie entschuldigen,“ begann Harald sofort, „daß wir uns hier bei Ihnen durch falsche Namen Zutritt verschafft haben. Ich heiße Harald Harst, und dies hier ist mein Freund Schraut.“
Exzellenz machte ein sehr erstauntes Gesicht.
„Ah – der Detektiv Harald Harst! – Nun, es freut mich, eine solche Weltberühmtheit kennen zu lernen. Bitte, nehmen die Herren wieder Platz.“
„Ich komme in einer etwas heiklen Angelegenheit, Exzellenz,“ erklärte Harst dann. „Ich möchte gern einiges über Ihren Nachbar Doktor Prikola erfahren. Ich nehme an, daß Sie mir wenigstens –“
Herr v. Beberritz hatte die Stirn gekraust und fast unwillig gerufen:
„Lassen Sie mich mit dem Menschen in Ruhe!“ Dann fuhr er schnell fort: „Verzeihen Sie, Herr Harst, aber allein der Name schon reizt mich.“
Wir hörten von ihm über Doktor Prikola dann folgendes:
Prikola hatte den General (denn diesen Rang hatte Beberritz bekleidet) vor vier Jahren kennengelernt. Es hatte sich ein recht lebhafter Verkehr entwickelt. Der Doktor war ein angenehmer Gesellschafter und ein sehr feingebildeter, geistvoller Mann. Vor einem halben Jahre etwa hatte er dem General gelegentlich etwas über die Tochter seines besten Freundes, des Sanitätsrats Dr. Linden, mitgeteilt und Beberritz sozusagen sein Herz ausgeschüttet. Er stellte Rosa Linden als ein nur allzu verwöhntes, dabei recht gemütsarmes junges Mädchen hin, das leider von Jugend an einen starken Hang zum Lügen und zu allerhand dummen Streichen gehabt hätte. Er betonte, daß sie ihm als sein Mündel viel Ungelegenheiten bereite. – Drei Wochen später wieder war er von einer Reise nach Pommern, wo Rosa Linden damals bei ihrer Tante lebte, ganz verstört zurückgekehrt.
Der General betonte diesen Ausdruck „ganz verstört“ so stark, daß Harst fragte:
„Wie äußerte sich diese Verstörtheit, Exzellenz?“
„Nun – er war eben wie verwandelt, total verwandelt. Ich traf ihn, als er vom Bahnhof kam. Er tat erst so, als sähe er mich nicht. Dann erzählte er mir sehr aufgeregt, aber auch merkwürdig befangen, er müsse Rosa Linden jetzt zu sich nehmen, da deren Tante plötzlich gestorben sei. – Ich äußerte, ich sei sehr gespannt darauf, diese junge Dame nun auch persönlich kennenzulernen. Darauf rief er sofort: „Das wird kaum der Fall sein, Exzellenz. Ich werde mein Mündel jetzt in ganz strenge Obhut nehmen. Ich will versuchen, sie noch zu ändern. Sie soll endlich merken, daß es auch jemand gibt, der sie durchschaut.“ – Ich war hierüber sehr erstaunt. Noch mehr wunderte ich mich, als der Doktor mir dann absichtlich auswich, bis ich ihn eines Tages besuchte und geradezu fragte, weshalb er den Verkehr mit mir abgebrochen hätte. – Er war sehr verlegen, machte allerhand Ausflüchte und meinte schließlich, er habe jetzt so viel Arbeit, daß er für Bekannte kaum noch Zeit fände. Da wußte ich Bescheid, verabschiedete mich sehr kühl und ging hinaus. Vor dem Hause traf ich dann Rosa Linden. Ich konnte nicht anders. Ich blieb stehen. Ein so liebreizendes Geschöpf hatte ich wirklich noch nicht gesehen. Ich stellte mich vor, und wir plauderten eine Weile im Garten. Dann hinter uns eine geradezu wutentstellte Stimme: „Rosa, ich denke, Du hast in der Küche zu tun!“ Es war der Doktor. – Dem jungen Mädchen traten Tränen in die Augen. Sie lief davon. Und ich konnte noch hören, wie Prikola sie scharf anfuhr und den Ausdruck „faules Geschöpf“ oder dergleichen gebrauchte. Auf mich hat die junge Dame einen vorzüglichen Eindruck gemacht. – Seit jenem Tage vermeide ich es, den Doktor zu grüßen. Wir gehen wie Fremde aneinander vorüber.“
Harst schaute nachdenklich vor sich hin. Er hatte die Augen halb geschlossen. Nach einer geraumen Weile erst fragte er:
„Exzellenz, wie alt ist der Doktor? Ist er reich? Halten Sie es für möglich, daß er etwa in sein Mündel verliebt ist? Und – wissen Sie irgend etwas über Vorgänge im Hause Prikolas, die dazu genügten, das Vormundschaftsgericht einschreiten zu lassen?“
„Prikola ist 51 Jahre alt, Herr Harst. Er besitzt fraglos ein bedeutendes Vermögen. – Ob er in Rosa Linden verliebt ist? Hm – da sprechen Sie etwas aus, woran auch ich schon gedacht habe. Möglich ist ja alles. Und es wäre kein Wunder, wenn er im steten Beisammensein mit dieser köstlichen, jungfrischen Rose auf allerlei Dummheiten käme. – Was das Vormundschaftsgericht angeht, so dürfte dieses bisher keinen Grund zur Einmischung gehabt haben, obwohl – hm ja – obwohl hier in der Nachbarschaft so allerlei gemunkelt und der Doktor jetzt allgemein „geschnitten“ wird.“
„Kennen Sie, Exzellenz, die Hausgenossen Prikolas?“
„Ja – alle drei. Es sind Leute, die er seit Jahrzehnten bei sich hat und die sicherlich seine gehorsamen Sklaven sind.“
„Was ist Heinrich Gerstel für ein Mensch?“
„Ah, der Schwachsinnige! Ein harmloser, dreißigjähriger Bursche. Seine Mutter spielt die Wirtschafterin bei Prikola.“
„Wie erklären Sie es sich, Exzellenz, daß der Doktor sein Mündel wie eine Gefangene hält?“
„Ja – wenn ich offen sein soll, Herr Harst: ich denke, er tut’s – aus Eifersucht. Er will nicht, daß Rosa Linden andere Männer kennenlernt.“
„Exzellenz, ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet,“ sagte Harald darauf und erhob sich. „Ich möchte Sie bitten, auch vor Ihrer Familie zu verschweigen, wer wir beide, Schraut und ich, in Wahrheit sind. Tun Sie so, als hätten wir Sie – anbetteln wollen. Behandeln Sie uns eisig kühl vor dem Diener. Ich will Ihnen anvertrauen, daß dort drüben im Hause Prikola sehr ernste Dinge sich vorbereiten. – Ich habe die Ehre, Exzellenz.“
Der General reichte uns die Hand. Dann ließ er uns durch den Diener an die Gartenpforte bringen.
Wir schritten der nächsten Straßenbahnhaltestelle zu.
Harald ging mit gesenktem Kopf neben mir her und schwieg. Ganz unvermittelt sagte er dann:
„Ja – es gibt nur die eine Erklärung: Prikola liebt sie bis zum Wahnsinn! Es muß so sein. Die Theorie von dem Geldmotiv, von der Absicht, des Mädchens Vermögen sich anzueignen, war falsch. Ihre krankhafte Müdigkeit dürfte die Folge von Schlafpulvern sein, die er ihr heimlich beibringt. Dann dringt er nachts bei ihr ein und betet ihre Schönheit an, berauscht sich durch den Anblick der holden Schläferin und leidet dabei Folterqualen, weil er, das Scheusal, nie auf Gegenliebe hoffen darf.“
„Aber – die Zündhölzer, die roten Zündhölzer?!“ meinte ich.
„Ein Liebestoller hat keine Gedanken, keine Überlegung.“
Wir waren an der Haltestelle angelangt. Gleich darauf kam eine Straßenbahn. Wir stiegen ein und fuhren nach Hause. –
Abends elf Uhr. Den Harstschen Gemüsegarten verließen zwei Männer, die dunkelgraue Sportanzüge und Schuhe mit Gummisohlen trugen. Ihre Spitzbärte sahen tadellos echt aus und waren es doch nicht; ihre Brillen hatten Fensterglas in der Horneinfassung.
Die beiden gingen den Fahrweg entlang, der die Laubenkolonie von der Rückseite der Gebäude der Blücherstraße trennt.
Fünf Minuten vor dreiviertel zwölf waren wir am Fuße der Eiche angelangt. Ich half Harst, sie zu erklettern.
Ich stand dann an den Baum gelehnt da und wartete –
„Alles in Ordnung,“ murmelte Harst und stieg herab. „Das grüne Licht zeigte sich.“
Wir begaben uns an das Parktor. Dort war das Übersteigen der Gitterpforte am bequemsten; dort waren nur drei Stacheldrähte vorhanden, durch die man sich hindurchwinden konnte, wenn der andere die Drähte auseinander hielt.
Kaum hatten wir das Hindernis überstiegen, als wir auch schon nach links ins Gebüsch schlüpften. Alles blieb ruhig. Wir kamen ungefährdet bis an den kleinen See, der etwa 50 Meter Durchmesser hatte. Das Inselchen in der Mitte konnte nur ganz winzig sein.
Nach Westen zu gab es am Ufer einen weißgestrichenen Bootssteg. An diesem lag ein zierlicher Kahn. Der Himmel meinte es gut mit uns und hatte die Wolken heimgeschickt. Wir sahen in dem Nachen eine dunkle Gestalt. Lautlos glitten wir über den Bretterbelag des Steges.
„Taubenpost!“ flüsterte Harst.
„Diese Nacht!“ erwiderte eine weiche, angenehme Stimme.
Wir kletterten in den Kahn. Dann trieb Rosa Linden ihn mit vorsichtigen Ruderschlägen der Insel zu. Bald standen wir vor der Tür der Pagode.
„Wir müssen klettern,“ flüsterte das Mädchen, das einen dunklen Seidenmantel mit schwarzer Kapuze trug.
Sie hatte jetzt ein Tau in der Hand, das vom untersten Schirmdach herabhing.
Harst begann wortlos emporzuklimmen. Mir wurde diese Arbeit schon saurer. Aber ich schaffte es trotzdem. Oben half mir Harst dann, durch eins der kleinen Fenster ins Innere mich hineinzuschwingen.
Dann erschien auch schon Rosa Linden, zog das Tau nun ein und rollte es auf, schloß das Fenster, schob einen Vorhang vor und schaltete eine elektrische Lampe ein, die an der Decke dieses viereckigen, schmalen Gemaches hing.
Wir befanden uns in Rosa Lindens Wohnzimmer.
Wir nahmen in Rohrsesselchen Platz. Das Mädchen selbst lehnte sich vor uns an den kleinen, kostbaren Kaminofen, begann nun sofort:
„Herr Harst, ich bin hier eine Gefangene seit fünf Monaten. Ich wagte es nicht, die volle Wahrheit den Zetteln anzuvertrauen. Ich wage ja überhaupt kaum noch etwas. Wenn nicht der arme Heinrich Gerstel hier so treu zu mir stehen würde, wenn er mir nicht Mut zusprechen würde, – nie hätte ich an Sie mich gewandt! Ich las Ihren Namen letztens in der Zeitung aus Anlaß der Verhaftung Doktor Möckerns. Da – da dachte ich: nur Harald Harst kann Dir helfen!“
Sie schluchzte leise auf, trat plötzlich einen Schritt vor und – sank vor Harald in die Knie, hob die Hände zu flehender Gebärde und wimmerte:
„Helfen Sie mir –! Retten Sie mich! Nehmen Sie mich mit! Verbergen Sie mich irgendwo! Er – er hat mich gestern nacht vergiften wollen!“
Harst stand schnell auf, zog sie empor.
„Fassen Sie sich!“ sagte er zart und herzlich. „Fassen Sie sich!“ Er drückte sie in seinen Sessel, zog einen geschnitzten Schemel herbei und ließ sich neben ihr nieder, behielt ihre eine Hand in der seinen.
„Vergiften?“ fragte er. „Sollten Sie sich nicht täuschen? Vielleicht war’s nur –“
Sie schnellte förmlich hoch. Ihr ganzer Körper bebte in wilder Erregung.
„Kommen Sie!“ flüsterte sie mühsam. Und sie riß die Tür nach dem Nebengemach auf.
Ein mildes, bläuliches Licht erfüllte diesen Raum. Es war Rosa Lindens Schlafzimmer. An der Wand gegenüber der Tür stand ein weißes Bett. Alle Möbel hier waren weiß lackiert. An der Decke hing eine Ampel mit blauem Seidenschirm.
Auf dem Nachtschränkchen neben dem Bett standen eine Wasserkaraffe, ein Glas, ein Uhrständer und ein Parfümzerstäuber.
Das Mädchen deutete auf das Glas.
„Ich pflege nachts hin und wieder einen Schluck Wasser zu trinken, Herr Harst. In der vergangenen Nacht gegen ein Uhr morgens erwachte ich. Ich hörte noch, wie hier im Zimmer etwas zuklappte, – ganz leise, – so wie eine Tür, die man hastig schießen will, aber ohne Geräusch. Ich griff nach meiner Taschenlampe unter dem Kopfkissen. Bevor ich sie noch eingeschaltet hatte, bemerkte ich dort vor dem Bettvorleger ein winziges, glühendes Pünktchen. Nachher stellte ich fest, daß es – ein noch glimmendes rotes Zündholz gewesen war. Ich habe schon häufiger beim Erwachen solche glühenden Pünktchen gesehen.“
Sie ließ sich plötzlich erschöpft auf den Bettrand fallen.
Sie schluchzte, konnte nicht sprechen. Harald ließ ihr Zeit, sich zu beruhigen.
„Und das Gift, Fräulein Linden?“ fragte er dann.
Sie erhob sich schwerfällig, suchte unter den Kissen ein Fläschchen hervor, reichte es Harst.
„Dies ist ein Teil dessen, was ich in der vergangenen Nacht in meinem Wasserglase fand. Es scheint nur leicht getrübt, dieses Wasser. Aber – riechen Sie nur daran, Herr Harst. Der Geruch warnte mich.“
Harst zog den Korken heraus.
„Ja – es riecht eigentümlich scharf,“ nickte er.
„Und es ist Gift!“ rief sie leise, aber mit zuckenden Lippen. „Ich wollte die Probe machen. Heinrich Gerstel hatte mir Fleischstücke und ein starkes Schlafmittel für die Hunde besorgt. Als wir vorhin gegen halb elf den Hunden die Fleischstücke gaben, in die ich die Pulver eingehüllt hatte, da – da tränkte ich die letzten Stückchen mit diesem milchigen Wasser. – Und – und die Hunde – sind – jetzt – tot –“
Sie erschauerte.
Harst steckte das Fläschchen zu sich.
„Und die roten Zündhölzer, Fräulein Linden?“
Sie winkte und ging ins Wohnzimmer. Wir folgten ihr. Aus einer mit künstlichen Disteln gefüllten Vase nahm sie ein Päckchen heraus, faltete das Papier auseinander.
Es lagen eine Unmenge abgebrannte, rote Zündhölzer darin.
„62 sind es, Herr Harst, – 62 Stück!“ flüsterte sie.
Harald besichtigte ein paar davon, steckte dann auch dieses Päckchen zu sich.
„Weshalb trachtet der Doktor Ihnen nach dem Leben?“ fragte er und setzte sich wieder, drückte auch das Mädchen wieder sanft in den Sessel.
„Ich habe von Onkel Richard 17 Millionen geerbt; so viel brachte der Verkauf der Silbergruben in Afghanistan ein. Doktor Prikola ist ein Ungeheuer, eine Bestie, ein gieriger Tiger. Ihm genügt sein eigenes Vermögen nicht –“
Harst starrte vor sich hin, schüttelte wie unzufrieden den Kopf.
„Liebt Ihr Vormund Sie vielleicht?“ meinte er langsam.
„Ich – ich nehme es an! Er hat mir letztens gesagt, wenn ich ihn heiraten würde, wolle er schweigen.“ Sie wischte ein paar Tränen fort. „Er – hat mich gegenüber dem Vormundschaftsrichter derart verleugnet, daß dieser ihm ganz freie Hand läßt. Und er behauptet, er würde mich – in einer Anstalt für Geisteskranke für immer lebendig begraben, wenn – wenn ich –“ Ihre Tränen flossen reichlicher. Ihre Stimme erstickte vor dem Übermaß ihrer Verzweiflung.
„Fräulein Linden, hören Sie mich an,“ sagte Harald jetzt. „Wir werden Sie zu mir bringen, in mein Haus, zu meiner Mutter. Dort sind Sie in Sicherheit. Dann werde ich mit der Polizei mich in Verbindung setzen. Und noch in dieser Nacht wird der Doktor verhaftet werden.“
Sie flüsterte nur: „O, mein Gott – gerettet, gerettet –“
Harald stand auf. „Gehen wir, Fräulein Linden.“
Er nahm das Tau, schaltete die Lampe aus und öffnete das kleine Fenster.
Wir gelangten glücklich an den Bootssteg, ebenso wohlbehalten an die Pforte. Wir halfen Rosa Linden durch den Stacheldraht und über das Gitter, fanden ein Auto und fuhren – nicht nach der Blücherstraße, sondern nach dem Henriettenplatz in Halensee, stiegen aus und gingen zum nahen Ringbahnhof Halensee, fuhren bis Schmargendorf und legten den Rest des Weges zu Fuß zurück.
Frau Harst fragte nicht viel. Sie wollte sofort selbst das Fremdenzimmer in Ordnung bringen.
Wir verließen das Haus wieder und waren um halb zwei abermals an der Parkpforte der Besitzung des Doktors. Harst hatte sich die Sache anders überlegt.
Wir fanden den Kahn noch an der Anlegebrücke, ruderten nach dem Inselchen, fanden auch das Tau noch und kletterten in das Wohngemach hinauf.
Harst sah nach, ob die von hier auf die Treppe führende Tür verschlossen war. Der Schlüssel steckte von innen. Sie war verschlossen. Das Tau hatten wir nicht wieder hochgezogen.
„Ich werde erst noch den Nachen an den Landungssteg zurückbringen und dann schwimmend nach der Insel kommen,“ sagte Harald nun. „Es ist besser so. Falls der Doktor draußen umherstreift, soll er nicht gleich argwöhnisch werden. Er kommt vielleicht auch in dieser Nacht hierher, und dann –“
Wir standen mit dem Rücken nach dem kleinen Fenster hin, das wir nur angelehnt hatten. Nur Harst hatte seine Taschenlampe in der Hand, hielt sie aber mit der Linse dicht gegen die Brust. Es war ringsum deshalb auch fast völlig dunkel.
Jetzt hörte ich einen dumpfen Schlag. Harst stürzte vornüber. Gleichzeitig fast sauste mir etwas Hartes gegen die Schläfe. Ich taumelte, erhielt noch einen Hieb. –
Ich kam zu mir. Wie lange ich bewußtlos gewesen, weiß ich nicht. Besser: ich wußte es damals nicht. Ich fand mich auf einem Holztisch liegen – auf dem Rücken; mein Kopf war durch ein Polster hochgestützt. Arme und Beine, Oberleib und Hals waren durch Riemen an den Tisch geschnallt.
Und – neben mir lag Harst. Über uns brannte eine elektrische Bogenlampe. Um uns herum standen allerhand Apparate, Gestelle mit großen Flaschen und Gläsern.
Ohne Zweifel: Prikolas Laboratorium!
Ich wandte den Kopf nach rechts – nach Harald hin. Auch sein Kopf bewegte sich. Unsere Blicke trafen sich.
„Wir sind, fürchte ich, doch nicht vorsichtig genug gewesen, mein –“ Er schwieg plötzlich, fügte ebenso leise hinzu: „Kein Wort! Man will uns fraglos belauschen!“
Wir lagen still. Eine kleine Ewigkeit verging. Dann hinter uns ein Geräusch, Schritte. –
Doktor Prikolas Gnomengestalt tauchte neben dem Tische auf. Er stellte sich an das Fußende, schaute uns an.
Es war taghell hier. Ich musterte sein Gesicht, prüfte seinen Gesichtsausdruck.
Seltsam: in dem häßlichen Antlitz war nur etwas wie Trauer und Sorge zu entdecken!
Dann fragte er:
„Wer sind Sie beide? Sagen Sie mir die Wahrheit.“
Harst antwortete nicht. Er hatte hier ja das Wort zu führen, nicht ich. Also blieb ich gleichfalls stumm.
Der Doktor schaute uns nacheinander an.
„Ich habe Sie noch nie gesehen. Wo haben Sie die Unglückliche hingebracht? Wie konnte sie sich mit Ihnen in Verbindung setzen? – O – Sie ahnen ja nicht, was Sie getan haben!“
Er seufzte. – „Welch ein Komödiant!“ dachte ich. Harst erwiderte nichts.
„Ich habe Ihre Taschen durchsucht,“ sagte Prikola nun. „Ich hoffte, darin etwas zu finden, das mir Aufschluß über Sie geben könnte. Nur zwei Taschenmesser, zwei Repetierpistolen, zwei Ersatzbatterien und zwei Taschenlampen fand ich, dann noch – dies hier!“
Er faßte in die Tasche und hielt das Päckchen mit den Zündhölzern und das Giftfläschchen hoch.
„Sie haben meine Hunde vergiftet,“ fuhr er fort. „Sie müssen Leute sein, die derartiges verstehen, auch das Einschleichen. – Wer sind Sie? Ich gebe Ihnen drei Minuten Zeit. Dann –“
Er zuckte wie bedauernd die Achseln.
„Dann – werden Sie verschwinden, für immer!“
Harst lachte jetzt leise auf.
„Bilden Sie sich ein, uns einschüchtern zu können, Herr Doktor Prikola?! Wenn wir verschwinden, wird Rosa Linden dafür sorgen, daß Sie zur Verantwortung gezogen werden!“
Er seufzte wieder.
„Sie – Sie arme Narren! Wie wenig kennen Sie Rosa Linden! Sie wird niemals und niemand verraten, daß ihre Helfer mit dem Tode büßen mußten. Sie wird Sie – belächeln!“
Er hatte wie aus Nervosität das Päckchen auf der Tischplatte geöffnet, so daß ein paar der roten Zündhölzer herausfielen.
„Wozu tragen Sie eigentlich diese Zündhölzer mit sich herum?“ fragte er Harald nun.
„Hm – sollten Sie das nicht wissen, Doktor Prikola?“
„Nein. Ich weiß es nicht. Ich weiß ja leider überhaupt nichts – leider, leider! Wenn Sie beide doch nur ehrlich sein wollten! Ich – biete jedem von Ihnen hunderttausend Mark, wenn Sie mir alles bekennen.“ Er hatte jetzt lebhafter gesprochen. „Sie sollen sofort frei sein. Ich schwöre Ihnen bei der heiligen Freundschaft, die mich mit meinem Freunde Linden verband, daß ich mein Versprechen halte! Hunderttausend Mark! Jedem! Nur die Wahrheit muß ich wissen! Rosa darf nicht entkommen. Es – es wäre der Anfang vom Ende. Und ich habe doch Werner Linden an seinem Sterbelager gelobt, für Rosa wie für mein eigen Kind zu sorgen. Ich war zu nachsichtig als Vormund. Ich –“
Er fuhr sich über die hohe Stirn hin, wischte ein paar Schweißperlen weg.
Einige Sekunden nichts. Dann sagte Harst:
„Geben Sie mir bitte mal die Zündhölzer her. Mir ist da soeben etwas eingefallen –“ Auch er sprach jetzt ganz anders als bisher.
Der Doktor gehorchte unwillkürlich. Harst hatte den Kopf noch höher gehoben.
„Ja – es sind alles Jupiter-Hölzer, Sicherheitszündhölzer, die nie weiterglimmen!“ murmelte er jetzt. „Und – sie behauptete, sie hätte häufiger die Zündhölzer noch auf dem Fußboden glühen sehen! Das ist unmöglich! Diese roten Hölzchen glimmen nie weiter – nie! – Also hat sie in diesem einen Punkte uns – belogen!“
Der Doktor stand noch neben dem Tische am Kopfende.
„Was – was soll das?“ fragte er unsicher.
Harst rief plötzlich:
„Schraut – Schraut – wir sind vielleicht wirklich Narren! Bedenke: Rosa Linden belog uns. Und wenn dies eine erlogen war, daß sie die glimmenden Zündhölzer gesehen hätte, dann – dann kann auch das Übrige lediglich –“
Der Doktor hatte sich über den Tisch gebeugt, stieß jetzt heiser vor Erregung und doch flehenden Tones hervor:
„Herr, wer sind Sie?“
„Ich bin Harald Harst und – diesmal das Opfer eines Weibes, die selbst mich getäuscht hat!“
Athanasius Prikola war zurückgetaumelt.
„Harst!“ keuchte er. „Mein Gott – Harald Harst! Wenn ich das geahnt hätte!“
Er schnallte mit zitternden Händen die Riemen auf, die Harald an den Tisch fesselten.
Harst setzte sich aufrecht, löste meine Fesseln und erwiderte dann erst:
„In meinem Hause ist sie, Herr Doktor.“
„Dann schnell – schnell, ehe sie uns entwischt!“ rief Prikola. „Schnell, meine Herren – ich bitte Sie kniefällig!“
Er tanzte vor Ungeduld förmlich wie ein Verrückter umher.
„Geduld!“ meinte Harst. „Weshalb fürchten Sie denn, daß sie entfliehen könnte? Bevor ich nicht alles weiß, bleibe ich hier!“
Er hatte auf einem Nebentisch den Inhalt unserer Taschen bemerkt, ging hin und steckte die Sachen ein, behielt nur seine Pistole in der Hand.
Der bucklige Doktor war wie verzweifelt auf einen Stuhl gesunken. Dann schnellte er hoch, brüllte mit hochgereckten Armen:
„Sie beide werden ja schweigen! Sie sind Ehrenmänner! Rosa hat – hat zwei Menschen ermordet – ihren Onkel und ihre Tante – aus Rache, weil diese als Familienrat ihre Zustimmung dazu verweigerten, daß Rosa schon vor Vollendung des 21. Lebensjahres mündig erklärt wurde.“
Harst stützte sich schwer auf den Tisch. Er war bleich geworden.
„Mein Gott –!“ murmelte er. „Ich begreife jetzt alles –! Und – so, so habe ich mich täuschen lassen!“
Dann raffte er sich auf.
„Vorwärts – zu mir nach Hause!“
Wortlos eilten wir dahin. Der Doktor stöhnte zuweilen leise auf.
Dann waren wir angelangt.
Harst öffnete die Haustür –
Nein – er öffnete sie nicht, wandte sich nach uns um.
„Unverschlossen!“ sagte er mit schwerer Zunge.
„Meine Ahnung – meine Ahnung!“ rief Prikola.
Wir traten ein. Harald ging in den ersten Stock hinauf. Ich führte den Doktor in Harsts Arbeitszimmer. Er taumelte in einen Sessel, stöhnte verzweifelt.
Harst kam.
„Entflohen! Das Fremdenzimmer ist leer –“
Er schaute sich um.
„Ah – mein Schreibtisch erbrochen –!“ Er riß die obere Schublade auf. „Die Kassette leer – und die Edelsteine, die ich hier im Hause behalten hatte, gleichfalls weg – 80 Stück!“
Er ging ins Nebenzimmer, kehrte mit – Rosa Lindens Kleidern zurück.
„Sie hat sich in meinem Schlafzimmer als Mann verkleidet. Alle Sachen aus meinem Requisitenschrank hat sie herausgeworfen und sich das passende ausgewählt. Es fehlt ein vollständiger Anzug und ein leichter Ulster, dazu ein weicher, heller Filzhut. – Und dies hier“ – er legte die Damenkleider auf einen Sessel und hob die Hand hoch – „dies ist das blonde, köstliche Haar Rosa Lindens. Sie hat es ganz kurz abgeschnitten und eine dunkle Scheitelperücke übergezogen.“
Harald nahm jetzt gleichfalls Platz.
„Erzählen Sie uns, wie Sie herausbekamen, daß Rosa Linden – eine Mörderin ist,“ sagte er. „Berichten Sie uns alles, was wichtig ist, auch über des Mädchens besondere Neigungen, über ihre Charakterentwicklung. Ich muß mir ein genaues Bild ihres wahren Wesens zusammenfügen. Nur so kann ich irgendeinen Entschluß fassen. Ich muß das Wild eben kennen, dem ich nachstelle.“
„Verwöhnt, einziges Kind, – maßlos verwöhnt von den wohlhabenden Eltern,“ begann der Doktor mit einer Stimme, die wie zerbrochen klang. „Mit elf Jahren Waise. Dann bei Onkel und Tante, weltfremden Kleinstädtern, weiter erzogen – noch mehr verzogen. Und ich als Vormund nachsichtig dem hübschen Kinde gegenüber, – zu nachsichtig. Dann ging ich ins Ausland, kehrte zurück und fand eine junge Dame vor, die auf Grund ihres Vermögens unerhörte Ansprüche machen zu können glaubte, die das Geld mit vollen Händen wegwarf, die so und so oft allein verreiste, oft hier bei mir als Gast weilte, die allerhand Liebeleien unterhielt, die nach außen die harmlose kindliche Unschuld spielte und innerlich nach Zerstreuungen lechzte, deren sich jedes Mädchen schämen müßte. Lügen, Heucheln war ihr zur zweiten Natur geworden. Erst allmählich durchschaute ich sie, wollte ihr Sparsamkeit, Lust zu geregelter Tätigkeit beibringen. Nichts vollendete sie, was sie begann, nichts! Musik, Malerei, Kunstgewerbe, – alles trieb sie nur ein paar Wochen. Dann trat sie an mich mit dem Wunsche heran, sie für mündig erklären zu lassen. Ich wollte die Verantwortung los sein, überließ alles dem Vormundschaftsgericht. Aber der Onkel und die Tante, die Rosa ebenfalls durchschaut hatten, weigerten sich. Sie waren als Familienrat befragt worden. Vor acht Monaten wurden so des Mädchens Hoffnungen, der lästigen Aufsicht zu entrinnen, zerstört. Und zwei Wochen darauf war sie wieder einmal bei mir, für ein paar Tage nur, wie stets. Nach ihrer Abreise vermißte ich in meinem Laboratorium ein Gläschen mit einem japanischen Pflanzengift, das sehr wenig bekannt ist. Ich glaubte, ich hätte es verlegt. Und wieder nach zwei Wochen starb dann Rosas Onkel. Ich fuhr zum Begräbnis hinüber, sah mir den Toten an und – wäre fast am Sarge zusammengebrochen: das Gesicht der Leiche zeigte eine besondere Art von dunklen Flecken, die ich als Folgeerscheinung der Wirkung jenes Giftes kannte. Der Arzt hatte als Todesursache Herzlähmung bescheinigt. – Ich schwieg. Ich redete mir ein, die Flecke seien lediglich eine zufällige Veränderung. Ich konnte damals noch nicht an so viel Verworfenheit glauben. Und – auch die Tante Rosas starb. Ich wollte erst dem Begräbnis fernbleiben. Aber die Unruhe trieb mich hin. Wieder sah ich dieselbe Erscheinung, nur schwächer, – dieselben Flecken! Und als ich das Mädchen unter vier Augen fragte, ob sie nicht wüßte, wo ein Gläschen mit Gift aus meinem Schrank geblieben sei, wurde sie totenbleich, faßte sich aber überraschend schnell wieder und meinte: „Gift? Wie kommst Du auf diese Frage, Onkelchen?“ – Und dabei umarmte sie mich und schmiegte sich an mich. Aber in ihren Augen, die mich so forschend musterten, stand die Schuld geschrieben. – Ich schwieg wieder, nahm sie mit mir hier in mein friedliches Haus, behandelte sie streng, ließ sie nicht aus den Augen. Wenn sie aufzubegehren wagte, fragte ich stets nach – dem Giftfläschchen. Dann wurde sie gefügig. Aber sie haßte mich; sie wollte auch mich beseitigen. Dreimal versuchte sie, mich zu töten, – auf so raffinierte Weise, daß ich nur durch meine Wachsamkeit diesen Anschlägen entging. Sie verstand es, den schwachsinnigen Heinrich Gerstel ganz für sich zu gewinnen. Sie wird ihm kleine Vertraulichkeiten gewährt haben. Der arme Mensch ist jetzt völlig verwirrt durch die Sehnsucht nach diesem Weibe. –“
Er schwieg. Harst sagte leise: „Ich habe vieles kennengelernt, viel menschliche Verworfenheit. Etwas derartiges doch noch nicht!“
Er stand auf und begann Rosa Lindens Kleider zu durchsuchen. Auch den Seidenmantel mit der Kapuze befühlte er an den Aufschlägen, prüfte jede Naht.
„Ich sehe jetzt in allem klar,“ meinte er während dieser sorgfältigen Arbeit. „Sie hätte auch ohne mich entweichen können, nachdem die Hunde beseitigt waren. Aber sie brauchte das, was zu einer Verkleidung notwendig ist. Nur bei mir konnte sie dies finden, und dazu – Geld! Welch Raffinement! Welch kaltblütige Berechnung aller Schachzüge! Wären die Jupiter-Zündhölzer nicht gewesen, hätte sie nicht diese Dummheit gemacht, von weiterglimmenden Streichhölzern zu sprechen, – wer weiß, wie die Sache jetzt stände, Herr Doktor! – Ah – hier in der Kapuze steckt im äußersten Zipfel etwas, – da, ein Papierkügelchen.“
Er breitete es auseinander, stutzte.
„Ein Zeitungsausschnitt!“ meinte er hastig. „Es ist die Meldung von der Überführung Doktor Möckerns in die Irrenanstalt Dalldorf. – Herr Doktor Prikola, hat sich Rosa Linden vielleicht einmal bei Möckern behandeln lassen?“
„Ja – ja!“ Der bucklige Doktor war aufgesprungen.
„Sollte etwa Möckern zu Rosa in irgend welchen Beziehungen stehen, Herr Harst?“
Harald schaute in den leuchtenden Sonnenschein des Vorgartens hinaus. „Eine Spur – vielleicht!“ murmelte er. –
Eine Stunde darauf brachte ein Auto Harst und mich nach dem hauptsächlich durch seine große Irrenanstalt bekannten Orte Dalldorf im Regierungsbezirk Potsdam. Wir hatten eine andere Verkleidung angelegt. Wir suchten dann in sämtlichen Hotels und Gasthäusern nach einem jungen Menschen mit Ulster und hellem Filzhut. Schließlich fragten wir auch dort nach, wo man möblierte Zimmer vermietete. In einem Häuschen, unweit der Irrenanstalt, bei braven, älteren Leuten hatte sich um neun Uhr vormittags tatsächlich ein auffallend hübscher Herr eingemietet. Er war jetzt spazieren gegangen. Wir ließen uns das Zimmer öffnen. Dort stand ein neuer Koffer. Harst sprengte das Schloß auf. Wir fanden in dem Koffer einen neuen, fertig gekauften Herrenanzug, eine Reisemütze, zwei Herrenperücken, zwei falsche Bärte, Schminken, Klebstoff und – die 80 Diamanten aus Haralds Schreibtisch.
„Sie hat Möckern zur Flucht verhelfen wollen,“ sagte Harst und schloß den Koffer wieder. „Sie wird versuchen, einen der Wärter zu bestechen. Vielleicht – vielleicht ist sie nur zur Mörderin geworden, weil sie es – mußte –!“
„Hypnose?“ flüsterte ich.
In demselben Moment trat ein schlanker, bildhübscher Bursche ein: Rosa Linden.
Sie stutzte – ein Sprung nach rückwärts – ein Zuknallen der Tür, das Kreischen des Schlüssels –
Ich stand der Tür am nächsten, hatte schon den Drücker in der Hand, kam um den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Die Tür war verschlossen.
Harst riß das Fenster auf. Man konnte bequem hinaussteigen, so dicht lagen die Fenster über der Erde.
Im Garten hinter dem Häuschen, unter einer alten Buche, auf einer verwitterten Holzbank, fanden wir Rosa Linden. Sie saß da, an den Stamm gelehnt, und blickte uns mit einem rätselvollen Lächeln entgegen. Neben ihr auf dem grünbemoosten Sitzbrett lag ein winziges Fläschchen.
„Ich erkenne Sie beide auch jetzt,“ sagte sie, und das Lächeln wurde überlegen-geringschätzig. „Sie haben nun doch gesiegt, Herr Harst. Ich hätte in meiner siegesgewissen Stimmung den Zeitungsausschnitt nicht in der Kapuze verstecken sollen. Es war halb Übermut von mir, halb ein dunkler Trieb, das Schicksal zu versuchen. Nicht wahr, Sie haben das Papierkügelchen gefunden? – Nun – das Spiel ist eben aus –“
„Haben Sie Ihre Verwandten vergiftet?“ fragte Harald schnell, denn er sah genau wie ich, daß auf des Mädchens Stirn dicke Schweißperlen erschienen und daß ihr Gesicht immer bleicher wurde. „Hat Doktor Möckern Sie zu diesen Morden angestiftet? Hat er womöglich Hypnose angewandt, um –“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe Möckern über alles geliebt. Ich wollte ihn heiraten. Ich wußte, daß er den Nervenkitzel des Spiels gebrauchte. Als man mich nicht mündig sprach, wollte ich die, die dagegen waren, beseitigen. Onkel und Tante waren alt, hatten vom Leben nichts mehr zu erwarten. Mir aber wollten sie Jahre des Glücks stehlen. Und Sie – Sie wollte ich – durch ihn, durch den, der meine Jugend dann weiter knebelte, vernichten lassen. Ich hoffte, es – es würde zu – einer[2] Katastrophe kommen, als – Sie – mich – in – der Pagode –“
Dann ein paar krampfhafte Atemzüge; dann nichts mehr –
Das Spiel war aus. –
Die Geschichte der Jupiter-Zündhölzer hat eine Fortsetzung. Ich will hier nicht einmal andeuten, wie sie zustande kam. Ich veröffentliche sie im nächsten Bande als:
Anmerkungen: