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Die Gespenster-Rikscha

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 40

 

Die Gespenster-Rikscha

 

Erstes Kapitel.

Nach der Befreiung Lady Lydia Pimbertons wohnten wir in dem palastähnlichen Hause des britischen Residenten in Bhopal.

Damals war Lord Robert Scheldon Resident in Bhopal, ein sehr liebenswürdiger, geistvoller Mann von etwa 35 Jahren. Er rechnete es sich zur Ehre an, eine Berühmtheit wie Harald Harst unter seinem Dache beherbergen zu dürfen.

Es war jetzt halb neun Uhr morgens. Lord Scheldon war bereits in der nahen Residentur, seinem Amtsgebäude, gewesen und hatte die Nachricht mitgebracht, daß man an diesem Morgen drei Meilen südlich der Hauptstadt auf einem kahlen Felsplateau der Vorberge des Windhya-Gebirges einen als Eingeborenen verkleideten Europäer, den hier niemand kenne, durch Dolchstiche ermordet aufgefunden und nach dem Leichenkeller des Polizeigebäudes geschafft habe.

Der Lord hatte noch verschiedene Einzelheiten erwähnt, die diesem Verbrechen einen etwas geheimnisvollen Anstrich gaben. Ich hatte auf Lady Ellinor Scheldon während dieser Schilderung, die ihr Gatte von dem Morde gab, nicht geachtet, wurde erst jetzt auf ihre Blässe und Verstörtheit aufmerksam, als der Lord erschrocken ausrief:

„Ellinor, verzeih’. Ich hätte all dies vor Dir nicht erwähnen sollen. Ich vergaß ganz, daß Du mit Deinen Nerven seit Wochen nicht recht in Ordnung bist.“

Lady Ellinor zwang sich zu einem Lächeln.

„Keine Sorge, Robert. Ich fühle mich schon wieder ganz wohl. Der Mord ist es weniger, der mich erregte. Weit mehr tat es Deine Bemerkung, daß gerade das Felsplateau jenseits des Dorfes Imkari der Schauplatz dieses –“

Sie schwieg plötzlich. Ich hatte deutlich wahrgenommen, daß der Lord ihr einen verweisenden Blick zugeworfen hatte.

Harald rauchte eine der stark parfümierten Zigaretten des Lords, streute jetzt die Asche in den gelben Zierkies und meinte:

„Hat denn dieser Europäer, der in der Maske eines armen Hindu doch hier irgend welche Geschäfte besonderer Art erledigt haben muß, keinerlei Papiere bei sich gehabt?“

„Nichts, nichts dergleichen,“ erklärte der Lord. „Nur einen mit fünf Patronen noch geladenen Revolver fand man neben dem Toten. Im übrigen war in den Taschen auch nicht ein Papierschnitzel zu entdecken.“

„Es war also ein sechsschüssiger Revolver, Mylord. Sie sagten noch geladen –“

„Ja, ein Schuß war daraus abgefeuert.“

„Unlängst?“

Der Lord zuckte die Achseln. „Weiß ich nicht, Mr. Harst.“

„Würde ich Ihnen einen Gefallen damit erweisen, Mylord, wenn ich den Fall so etwas untersuchte?“

„Ja, Mr. Harst. Das wäre mir sehr lieb. Es handelt sich um einen Europäer, den niemand hier zu kennen scheint. Wir sind verpflichtet, gerade solchen Verbrechen, die an Europäern begangen sind, die größte Beachtung zu schenken. Sie wissen, daß die indischen Freiheitsbestrebungen, die auf eine völlige Ausschaltung Englands in Indien abzielen, bereits mehrfach zu politischen Morden Veranlassung gegeben –“

Er brach unvermittelt ab, erhob sich schnell und trat neben den Rohrsessel seiner Gattin, die abermals totenbleich und völlig zusammengesunken dasaß.

„Ellinor, soll ich Dich ins Haus führen?“ fragte er besorgt. „Dein Zustand macht mir –“

„Nein, nein,“ meinte sie und strich sich über die Stirn hin, als wollte sie ihre Gedanken sammeln. „Ich begreife selbst nicht, wie mich dieser Mord so sehr außer Fassung bringen konnte. Bitte, schenke mir ein Glas Wein ein, Robert –“

Sie trank das Glas hintereinander mit kleinen Schlucken aus und stellte es auf den Tisch zurück. Ihre Hand zitterte dabei. Wieder quälte sie sich ein schwaches Lächeln ab, sagte dann:

„Wie kannst Du nur Mr. Harst mit dieser Sache belästigen, Robert?! Das ist doch kein Fall für einen Liebhaberdetektiv von Mr. Harsts Bedeutung!“

„Sie haben vielleicht recht, Mylady,“ erklärte Harald liebenswürdig. „Insofern nämlich kein Fall für mich, als ich mich grundsätzlich nicht in politische Dinge einmische. Ich bin Deutscher, und die inneren Angelegenheiten des indischen Kolonialreichs gehen mich nichts an.“

Lord Scheldon nickte. „Ein Standpunkt, der vieles für sich hat, Mr. Harst. Es ist ja auch möglich, daß unser Kriminalinspektor Kippwray die Sache sehr bald aufklärt.“

Damit war das Mordthema zunächst erledigt. Gleich darauf erschien auch Lady Lydia Pimberton. Sie sah noch sehr angegriffen aus. Harst fragte dann, ob sie uns nicht auf einer Spazierfahrt begleiten wolle.

„Es würde Ihnen nur gut tun, Mylady. Lord Scheldon hat mir liebenswürdigerweise seinen Jagdwagen zur Verfügung gestellt, und ich möchte mal wieder den Lenker zweier feuriger Pferde spielen.“

Lady Lydia sagte zu.

Um zehn Uhr verließen wir drei dann zu Wagen das Palais. Nachdem wir das schmutzige Hinduviertel[1] passiert hatten, lenkte Harald nach rechts ab und fuhr an der Stadtmauer entlang bis zum Südtore. Hier hielt er an, rief einen der eingeborenen Polizisten herbei und fragte, wo das Dorf Imkari liege.

Imkari?! – Ich horchte auf. – Imkari! Das war das Dorf, das Lord Scheldon genannt hatte! – Ich wußte jetzt Bescheid: das seltsame Benehmen der Lady Scheldon hatte bei Harst genau dieselben argwöhnischen Gedanken geweckt wie auch bei mir! Dies war keine bloße Spazierfahrt, dies war der Beginn eines neuen „Problems“! Der Mord an dem verkleideten Europäer erschien Harald also wert, sich eingehender damit zu beschäftigen.

Der Polizist erklärte, wir sollten nur durch das Südtor immer dem Hauptwege folgen. Das Dorf Imkari liege rechts der Straße in einem Tale vor einer flachen, felsigen Ebene, die sofort auffalle.

Auf der gut gepflegten Straße ließ Harald die beiden Füchse ordentlich ausgreifen.

Wiederholt drehte sich unser „Kutscher“ um und unterhielt sich mit uns über dies und jenes, was wir als Besonderheiten bemerkten.

Jetzt wandte er abermals den Kopf.

„Ich kann schließlich auch kutschieren, wenn ich mich in den Wagen setze,“ meinte er, reichte mir die Leine und kletterte über die Rücklehne des Kutscherbockes. – „Du kannst mich ja mal eine Weile ablösen, mein Alter,“ sagte er nun. „Ich möchte mit Lady Pimberton so einiges besprechen.“

Lady Lydia rief sofort: „Ah, dacht’ ich’s doch, Mr. Harst. Diese Spazierfahrt hat einen besonderen Zweck.“

„Anhalten!“ befahl Harald plötzlich. Ich brachte die Pferde zum Stehen.

„Entschuldigen Sie, Mylady, daß ich Ihnen so rücksichtslos ins Wort fiel,“ meinte er dann. „Jener Radfahrer dort hinter uns hat für uns mehr Interesse, als mir lieb ist. – Schraut, wende und fahre im Galopp zurück.“

Was geschah? Der Radler kniff vor uns aus!

„So, das genügt,“ lachte Harald. „Der Kerl war also wirklich ein Spion. – Nochmals kehrt, mein Alter! Und dann hin nach Imkari!“

Der Radler war hinter einer Biegung längst verschwunden. Es war fraglos ein Inder gewesen, und zwar ein noch junger Bursche. Zeitweise hatte er sich dem Wagen bis auf fünfzig Meter genähert gehabt. Einen Spion in ihm zu vermuten, war mir jedoch nicht eingefallen.

Harald erzählte Lady Lydia jetzt ganz genau, was sich vor ihrem Erscheinen am Frühstückstisch ereignet hatte.

Als er jetzt schwieg, erklärte sie schnell:

„Sie nehmen an, daß Lady Scheldon diesen Ermordeten kennt, nicht wahr? – Ja, genau dasselbe glaube ich.“

„Ich auch,“ warf ich ein.

„Ganz recht!“ meinte Harst. „Ebenso wichtig ist aber der Blick, mit dem der Lord seine Gattin bedachte, als sie von dem Felsplateau jenseits des Dorfes Imkari in einer Weise sprach, als hätte es mit diesem Plateau etwas Besonderes auf sich. Sie sagte ja wörtlich: „– daß gerade das Felsplateau jenseits – und so weiter.“ Mithin hat diese Örtlichkeit noch eine Bedeutung für das Ehepaar Scheldon, die die Scheldons gern geheimhalten wollen.“

Lady Lydia Pimberton war eine Dame, mit der man derartiges getrost durchsprechen konnte.

Sie war mutig, klug und energisch. – Sie nickte jetzt eifrig. –

„Auch in diesem Punkte bin ich derselben Ansicht, Mr. Harst. Was in aller Welt mag hier nur vorliegen?“

„Jedenfalls etwas keineswegs Harmloses, – von dem Morde ganz abgesehen, Mylady. Der Radfahrer, der uns folgte, ist der beste Beweis, daß –“

„Ah, – meinen Sie, die Scheldons haben ihn uns nachgeschickt?“

„Man muß es annehmen. Wer wußte um diese Spazierfahrt? Nur sie! Und – wer allein konnte fürchten, wir würden nach den Ereignissen am Frühstückstisch Interesse für das Plateau haben? – nur die Scheldons! Der Radfahrer war eine verkleidete Inderin, war ein Weib, ein Mädchen, war – Lady Scheldons Kammerzofe.“

„Unmöglich!“

„Doch. Es ist so. Auf mein Personengedächtnis kann ich mich verlassen. Ich habe die Zofe zwar nur einmal flüchtig im Flur gesehen, aber ich erkannte sofort, daß sie aus Nordostindien stammt, wo der indische Typ bereits stark mit mongolischen Rassemerkmalen vermischt ist. Das Mädchen hat etwas geschlitzte Augen und ein sehr breites Gesicht. Wenn sie sich mit ihrem Rade dem Wagen näherte, hielt sie den Kopf stets tief gesenkt. Ihr Turban saß ihr bis tief im Genick, natürlich um das Haar zu verbergen. Lady Ellinor Scheldon hat ihr sicherlich vor unserer Abfahrt befohlen, anderswo die Männerkleidung anzulegen und dann vor dem Parktor uns mit dem Rade zu erwarten. Und – Lady Scheldon war es, die ihrem Gatten etwas ärgerlich zurief, er solle mich doch nicht mit diesem Morde belästigen. – Wünschen Sie noch mehr Beweise, Mylady?“

„Nein, nein! Ich bin überzeugt, daß –“

Wieder gab es eine Unterbrechung. Dicht am Wege hatte ein schmieriger, alter Hindu mit langem verfilzten Bart und Haar sich aufgerichtet, war mitten in den Weg gehumpelt und hatte mich gezwungen, die Pferde plötzlich zurückzureißen.

Der Wagen hielt neben dem Bettler, der uns nun winselnd seine mit einer unglaublichen Schmutzkruste überzogene Rechte hinstreckte.

Dieser Schmierfink trug den hellen, besonders gewickelten Turban der Brahmanen und ebenso die weiße Brahmanenschnur um den Hals, gehörte also der vornehmsten Kaste Indiens an, die zum Beispiel in Bombay 30 Prozent aller Bettler stellt, was ihrem Ansehen jedoch nicht das geringste schadet.

Harst beugte sich zu dem Alten herab und legte ihm eine Silbermünze in die Hand.

„Ist es noch weit bis Imkari?“ fragte er auf englisch.

Der Brahmane deutete auf einen Waldstrich vor uns und humpelte dann wieder in den Straßengraben.

Wir fuhren weiter. Harald war jetzt auffallend schweigsam.

„Was haben Sie nur?“ fragte Lady Lydia.

Harst stand auf und nahm sein Fernglas aus dem Futteral, stellte es ein und blickte nach rechts in die Felder hinein.

„Das Silberstück hat den Kerl merkwürdig verjüngt,“ sagte er ernst und schob das Glas wieder in das Futteral. „Er rennt jetzt wie ein Wiesel dort an den Gräben entlang – tief gebückt, damit wir ihn nicht bemerken. Die Sache wird spannend. Das war Spion Nummer zwei und – auch ein maskierter Aufpasser, auch ein – Weib, wette ich!“

 

Zweites Kapitel.

Lady Lydia und ich waren gleich sprachlos.

„Ein Weib?“ meinte sie. „Aber – das kann doch nicht sein! Dieser entsetzliche Schmutzfink hatte –“

„– hatte so schmale Hände und so spitz geschnittene Nägel, daß trotz der Schmutzkruste die Kultur und das Geschlecht hindurchgrinsten. Außerdem, Mylady, gab es an diesem Pseudobrahmanen noch etwas zu sehen. Das lassen Sie sich aber von Schraut sagen. Er hat es ja fraglos als alter Indienkenner gleichfalls bemerkt.“

Ich wurde wahrhaftig rot. Ich hatte nämlich – nichts bemerkt, machte mich[2] mit der Leine zu schaffen und knallte mit der Peitsche.

„Na, dann kann ich’s ja auch sagen,“ hörte ich Haralds Stimme. „Jeder dieser indischen Bettler, Mylady, verbreitet für eine Europäernase bis auf vier Schritt im Umkreis einen geradezu scheußlichen Duft. Und – dieser Duft fehlte hier. Das fiel mir zuerst auf. Außerdem noch etwas anderes –“

„Nein, woran Sie auch alles denken, Mr. Harst!“

„Das sind bloße Berufsfertigkeiten, Mylady. – Ah, da rechts biegt der Weg nach dem Dorfe ab. Dort ist das Tal. – Fahre aber geradeaus, Schraut. Ich sehe schon das Felsplateau, eine wahre Steinwüste, sehe da vor uns auch drei Inder, offenbar Bauern hier aus der Nähe. Die wollen wir mal ausfragen. Vielleicht wissen sie etwas von dem Morde.“

Die Straße stieg allmählich an. Der Boden wurde steinig. Bald trat überall nackter, grauer Granit zu Tage. Der Weg schlängelte sich auf den glattesten Stellen dieser kahlen Ebene dahin und war nur durch aufgehäufte, gekalkte Steinhaufen zu beiden Seiten gekennzeichnet.

Die drei Inder radebrechten etwas das Englische und teilten Harst mit, daß man den Toten drüben hinter jener Tempelruine gefunden habe. Der eine erzählte noch, daß sein Bruder die Leiche entdeckt hätte.

Harald beschenkte sie durch ein paar Silbermünzen. Der Wagen rollte davon. Nun bogen wir in eine schnurgerade Strecke ein. Die weißen Steinhaufen bildeten in der Ferne zwei helle Striche. Links der Straße lag die Ruine, die zuerst nur wie ein mit Gestrüpp bewachsener Hügel aussah.

Jetzt hatten wir sie erreicht. Sie erhob sich dicht neben der Straße. Die ganze Vorderfront des ehemaligen Tempels war eingestürzt, so daß die Tempelhalle jetzt ein nach der Straße offenes Viereck ohne Dach zeigte. Die Mauertrümmer hatte man wohl für die Steinhaufen des Weges benutzt. Denn von der Straße bis in diese Halle hinein war der Felsboden wie gefegt.

Der Wagen hielt. Harst stieg schnell aus und half Lady Lydia. Sie schaute ihn mit einem strahlenden Lächeln an. – Arme Lady –!

Harald bat sie dann, den Wagen zu beaufsichtigen. Wir würden sofort wieder zurück sein. – Ich band die Zügel am Spritzblech fest und löste die Sielen von den Schwengeln[3]. Lady Lydia holte ihr Zigarettenetui hervor und bat Harald noch um Feuer. Dann gingen wir nach links um die Ruine herum. Hier lagen sehr viel Blöcke und Schutt umher. Stachelgewächse aller Art hatten sich zwischen den Trümmern angesiedelt.

An der Rückseite des ehemaligen Tempels gab es eine noch ausgedehntere Schutthalde. Harst suchte eine ganze Weile, ehe er auf dem Felsboden zwischen zwei größeren Mauerstücken, die offenbar zu einem Turm gehört hatten, eine bereits schwarzbraun verfärbte und eingetrocknete Blutlache fand.

„Hilf suchen, mein Alter. Vielleicht finden wir noch etwas wichtiges,“ sagte er.

Wir begannen nun auf unsere Weise zu suchen. Da blieb kein Steinchen unbeachtet, kein abgerissenes Blatt – nichts! Aber der Erfolg war vollständig negativ. Auch wir mußten schließlich einsehen, daß hier nichts zu finden war – gar nichts, da der Felsboden nicht einmal Spuren annahm.

Wir verließen den Platz und umschritten nun nach rechts die Ruine, um wieder auf die Straße zu gelangen. Hier lagen weniger Trümmer umher. An einer Stelle war die Mauer noch recht gut erhalten. Man erkannte noch eingemeißelte Figuren und Buchstaben. Einzelne Sträucher verliehen dieser Seite auch ein freundlicheres Aussehen.

Harst blieb plötzlich stehen und griff nach einem trockenen Ast eines Busches, der wagerecht in Augenhöhe weit aus den grünen Blättern herausragte.

„Da – bitte!“ meinte er.

Ich blickte hin. Auf dem faserigen Ende des Astes hing ein hellblondes Gespinst.

„Ein Stück von einem Haarnetz,“ sagte Harald und nahm es behutsam ab, legte es dann in seine Brieftasche. „Immerhin etwas!“ fügte er hinzu. „Lady Scheldon ist jedoch dunkelblond und könnte ein solches Haarnetz nicht tragen.“

Er schaute sich jetzt hier sehr sorgfältig um. Doch es gab nichts Merkwürdiges mehr zu erspähen, selbst für seine Augen nicht.

Wir gingen weiter, bogen nun um die linke Ecke der Ruine, erblickten den Wagen, erblickten gleichzeitig neben dem Wagen den letzten Rest einer von selbst weiterglimmenden Zigarette ohne Mundstück auf dem kahlen Gestein, aber Lady Lydia war verschwunden.

„Laufe nach links um die Ruine herum, ich nach rechts,“ sagte Harald hastig. „So müssen wir sie finden, falls sie uns gefolgt sein sollte.“

Wir fanden Lady Pimberton nicht. Wir kehrten eiligst zum Wagen zurück. Die Zigarette schwelte noch. Die Asche lag als langer, hellgrauer Streifen da.

Harald deutete auf diese Asche.

„Sie hat höchstens acht Züge geraucht, dann die Zigarette fallen lassen,“ meinte er leise und musterte mißtrauisch das Innere der Ruine. „Wenn sie freiwillig diesen Platz verlassen hätte, würde sie die Zigarette wohl mitgenommen haben. Sie ist aber nicht freiwillig weggegangen. Man hat sie – abermals entführt. Wir hätten sie niemals allein lassen sollen. Ich mache mir deshalb schon die größten Vorwürfe. – Nun, eins ist ja sicher: über das ebene Plateau hinweg hat man sie nicht weggeschleppt. Das wäre zu gefährlich gewesen. Sie kann nur mit Hilfe eines verborgenen Zugangs dort in der Halle weggebracht worden sein. Also vorwärts – suchen wir danach!“

Wir suchten zwei volle Stunden. Dann erklärte Harald ganz niedergeschlagen: „Es hilft nichts. Wir müssen nach der Stadt zurück und die Polizei benachrichtigen. Vielleicht kennt die sich hier besser aus, vielleicht – weiß auch Lady Scheldon etwas über eine geheime Tür in diesen uralten Mauern.“

Zur Rückfahrt brauchten wir eine Stunde. Mit schweißbedeckten Pferden trafen wir im Palais Scheldon ein. In der Vorhalle kam uns Lady Ellinor sehr aufgeregt entgegen.

„Wo ist Lady Pimberton? – Ich sah Sie vom Fenster aus vorfahren, Mr. Harst. Was ist geschehen? Die Pferde sind schaumbedeckt –“

Harst schaute die junge, schlanke Gattin des Residenten durchdringend an.

„Lady Lydia ist in der Tempelruine südlich von Imkari spurlos verschwunden, Mylady,“ sagte er leise und betonte das Wort Tempelruine ganz besonders stark.

Das pikante, frische Gesicht Ellinor Scheldons wurde geisterbleich. Die Augen weiteten sich unnatürlich und nahmen einen Ausdruck an, der nur als Grauen zu bezeichnen ist.

Aber diese Ellinor Scheldon besaß eine große Willenskraft. Das bewies sie jetzt, als sie das Entsetzen überraschend schnell überwand und mit nur leicht vibrierender Stimme sagte:

„Darf ich die Herren für einen Augenblick in meinen Salon bitten. Hier hat die Unterredung zu viel Zeugen.“

Das stimmte. Im Hintergrunde der Vorhalle eilten dauernd die farbigen Diener hin und her.

Hoch aufgerichtet schritt Lady Ellinor uns voran.

Ihr kleiner Damensalon war wie ein Gedicht. Selbst Harald schien durch diese geschmackvolle und eigenartige Ausstattung befriedigt, obwohl er, was Zimmereinrichtungen angeht, sehr anspruchsvoll ist.

Lady Ellinor wies auf zwei kleine Brokatsessel.

„Danke,“ meinte Harald kurz. „Wir haben nicht viel Zeit, Mylady. Ich will die Polizei benachrichtigen. Es muß da in der alten Tempelruine ohne Zweifel einen geheimen Eingang zu verborgenen Räumen geben. Nur so ist es möglich, daß Lady Pimberton weggeschleppt werden konnte.“

„Nein – es gibt keinen –!“ stieß Ellinor Scheldon wie verzweifelt hervor. Dann biß sie sich auf die Lippen, wurde flammend rot und stammelte: „Ich meine, – niemand weiß hier etwas von einem solchen Zugang –“

Harst beobachtete die schlanke Frau unausgesetzt. Auf seiner Stirn standen jetzt die charakteristischen drei Falten. Die Haut über den Backenknochen war scharf angespannt, die Augenlider halb geschlossen.

„Mylady,“ meinte er leise aber eindringlich, „Sie wissen genau, mit wem Sie hier sprechen. Ich bin Gast in Ihrem Hause. Ich werde es nach einer halben Stunde nicht mehr sein. Der Salonmensch Harald Harst weicht dem Detektiv. Und der Detektiv wittert hier dunkle Geschehnisse, in die Sie irgendwie mit hineinverwickelt sind. Deshalb kann der Detektiv Harst Ihr Gast nicht mehr sein.“

Lady Ellinor verharrte einen Moment regungslos. In ihren Augen lag eine furchtbare Angst. Sie stierte Harald an, als hätte sie ihn nicht recht verstanden. Dann verdunkelten Tränen ihre Blicke; ihre Arme hoben sich zu einer flehenden Gebärde. Sie war rührend schön in dieser Haltung, wirkte so mitleiderregend hilflos.

„Nur das nicht – nur das nicht!“ hauchte sie. „O mein Gott, was tue ich nur. – Ich – ich habe ihm ja so fest versprochen, zu schweigen – Und – und er würde es mir nie verzeihen, wenn –“ Sie schwieg, griff nach Haralds Hand, fuhr noch erregter fort:

„Ich schwöre Ihnen bei der Liebe zu meinem Gatten und zu meinem Töchterchen, daß mein Gewissen völlig rein ist, Mr. Harst. Eine Verkettung unseliger Umstände ist es, die –“ Sie brach schon wieder ab. Sie fürchtete offenbar, sich irgendwie zu verraten, eben zu viel zu sagen.

„Mylady, haben Sie mir Ihre Kammerzofe nachgeschickt?“ fragte Harald jetzt bedeutend freundlicher. „Sie brauchen mich nicht zu fürchten, wenn Sie wirklich ein reines Gewissen haben. Ich bin der Vertraute vieler gewesen, ebenso mein Freund Schraut. Bei uns sind Geheimnisse besser bewahrt als in der Brust derer, die sie etwas angehen –“

Lady Ellinor hauchte ein „Ja“ und blickte zu Boden.

Harst drückte ihre Hand, legte noch seine Linke auf ihre zarten Finger und meinte:

„Gut, daß Sie nicht gelogen haben, Mylady. – War auch der schmierige Brahmane am Wege nach Imkari Ihr Spion?“

„Brahmane? – nein, – wirklich nicht.“ Das klang so aufrichtig, – oder aber Lady Ellinor war eine ganz gefährliche Heuchlerin.

Dann fügte sie sofort hinzu: „Bitte, bitte, fragen Sie nichts mehr! Ich darf nicht sprechen, – ich darf nicht!“ Das letzte klang wieder wie ein Verzweiflungsschrei. „Und – verlassen Sie unser Haus nicht, Mr. Harst, nein, tun Sie es nicht! Dann – dann –“

Ihre Stimme[4] erstickte in einem würgenden Aufschluchzen.

Harald erklärte schon: „Beruhigen Sie sich, Mylady. Wir bleiben Ihre Gäste. Das, was ich an Ihnen beobachtet habe, werde ich aus meinem Gedächtnis streichen – für andere.“ Er verbeugte sich und schritt hinaus.

In der Vorhalle rief er dem indischen Hausmeister des Lords zu: „Sofort zwei Rikschas – sofort!“

Drei Minuten später standen die leichten, von flinken braunen Läufern gezogenen Bambuswägelchen vor dem Portal. Wir stiegen ein. Hinter jeder Rikscha lief noch ein Ersatzmann für das menschliche Zugpferd und ein Diener her.

Bis zur Residentur war es nicht weit. Die Rikschas ließ Harst vor dem großen Dienstgebäude warten. Dann standen wir Lord Scheldon gegenüber.

„Mylord, Lady Pimberton ist in der Tempelruine auf dem Felsplateau südlich Imkari verschwunden,“ erklärte Harst sofort.

Lord Scheldon prallte zurück, verfärbte sich.

„Sie – Sie waren also dort draußen –,“ sagte er stockend. „Sie haben also den Mord untersuchen wollen –?“

„Ja. Ich glaubte, damit in Ihrem Sinne zu handeln.“

„Oh, das stimmt, Mr. Harst. Ich bin Ihnen sehr dankbar. – Haben Sie etwas entdeckt?“

„Nichts. Nur etwas verloren: Lady Pimberton. – Wissen Sie, Mylord, ob es dort in der Halle der Ruine eine Geheimtür und unterirdische Räume gibt?“

Lord Scheldon wurde etwas rot und blickte zur Seite.

„Ich – ich glaube nicht, Mr. Harst,“ erwiderte er zögernd. „Jedenfalls habe ich noch nie etwas davon gehört.“

„So. – Nun dann müssen wir weiter – zur Polizei. Diese soll uns suchen helfen. Lady Pimberton muß gefunden werden, ehe es Abend wird. Ich vermute hier einen Streich von Freunden des Exministers Dscham Dauli, der ja Lady Lydia seinem Harem einverleiben wollte und nun im Gefängnis sitzt.“

„Sie mögen recht haben, lieber Harst,“ nickte Lord Scheldon zerstreut. Er machte ja überhaupt einen ziemlich fahrigen Eindruck und hatte eine recht ungesunde Gesichtsfarbe. „Ich rate dringend zur Vorsicht,“ fügte er hinzu. „Vergessen Sie nie, daß Sie in Indien sind und daß hier mehr Leute spurlos verschwinden, als die Behörden bekannt geben.“

Wir verließen die Residentur, bestiegen die Rikschas und fuhren nach dem Polizeigebäude.

Als wir über den Bürgersteig schritten, drängte sich eine verschleierte Inderin an uns heran und drückte mir einen Zettel in die Hand. Ehe ich sie noch festhalten konnte, war sie hinter den Verkaufsbuden der Obsthändler und Zuckerbäcker verschwunden, die hier am Rande des Fahrdamms standen.

„Später lesen,“ flüsterte Harst, der den Vorgang also beobachtet hatte.

„Weshalb griffst Du das Weib nicht?“ meinte ich erstaunt.

„Weil sie uns ja doch belogen hätte. Sie hätte erklärt, daß sie sich nur einen Botenlohn habe verdienen wollen und den Absender des Zettels nicht kenne.“

Wir ließen uns dem Detektivinspektor Kippwray melden. Wir standen an einem Fenster des Flures. Ich gab Harald den Zettel. Er faltete ihn auseinander. Wir lasen folgendes darauf mit offenbar verstellter Schrift in englischer Sprache:

„Erkundigen Sie sich in Imkari nach der Gespenster-Rikscha und finden Sie sich kurz nach Sonnenuntergang an der einsamen Dattelpalme vor der Ruine ein. Es ist heute wieder der fünfte Tag.“

„Hm,“ meinte Harald. „Vielleicht eine Falle –!“ und er schob den Zettel in die Tasche, nachdem er ihn noch an die Nase geführt hatte. Da kam auch schon der Polizeibeamte und geleitete uns in Austin Kippwrays Arbeitszimmer.

Dieser Detektivinspektor gehörte zu jener Sorte Menschen, die dauernd Theater spielen und alles nur darauf anlegen, anderen zu imponieren. Wir hatten ihn schon in der verflossenen Nacht flüchtig „genossen“, erhielten aber erst jetzt den rechten Eindruck von diesem steifleinenen, gekünstelten Menschen, der sich die größte Mühe gab, deutlich hervorzukehren, daß ein Harald Harst ihm nicht im geringsten imponiere.

Er war durchaus höflich, aber kühl bis ans Herz hinan. Als wir Platz genommen hatten und Harald ihm erzählte, daß uns Lady Pimberton dort in der Ruine auf unerklärliche Art abhanden gekommen sei, sagte er noch um fünfzig Prozent kühler:

„Wenn auch Lord Scheldon Ihre Hilfe angenehm ist, Mr. Harst, so muß ich doch als Beamter der Begum (Fürstin) von Bhopal deshalb Ihre Einmischung in die Untersuchung des Mordes aus dem einfachen Grunde höflichst ablehnen, weil Sie dadurch nur Ihr Leben gefährden würden. Es liegt hier fraglos ein politischer Mord vor, und –“

„Oh – lassen Sie nur, Mr. Kippwray,“ fiel Harald ihm ins Wort. „Ich werde mich hüten, mich irgendwie aufzudrängen.“ Er lachte harmlos. „Mich geht lediglich dieses Verschwinden Lady Pimbertons etwas an. Und diese Sache werde ich weiterverfolgen, auch gegen Ihren Willen, Mr. Kippwray.“ Alle Liebenswürdigkeit war aus Haralds Antlitz und Stimme wie weggewischt.

Ich habe schon wiederholt erwähnt, wie stark Harald Harsts ganze Persönlichkeit gerade auf etwas unfertige, willensschwache Menschen wirkte. Wenn er einen Ton anschlug wie jetzt soeben, wenn er seine grauen Augen so durchdringend in die eines anderen tauchte, dann war es stets mit der erkünstelten Männlichkeit dieses anderen vorbei.

So auch jetzt. Austin Kippwrays langer, hagerer Oberleib krümmte sich förmlich zusammen.

„Oh – gegen meinen Willen, Mr. Harst –?! Wo werde ich Ihnen Hindernisse in den Weg legen,“ meinte er verlegen und unsicher. „Nein, daran denke ich gar nicht. – Sehen Sie, sehr verehrter Mr. Harst, meine Stellung hier ist sehr schwierig. Ich bin Beamter der Begum, und Lord Scheldon hat mit der Gerichtsbarkeit und der Polizei nichts zu tun. Trotzdem mischt er sich zuweilen in Dinge, die ihn nichts angehen, so zum Beispiel gestern nacht bei der Befreiung Lady Pimbertons, wo er einfach durch Soldaten in Zivil das Teehaus hatte umstellen lassen, dann weiter vor drei Wochen bei Gelegenheit dieser albernen Geschichte mit der Gespenster-Rikscha –“

„Wie – Gespenster-Rikscha?“ fragte Harald lächelnd. „Das klingt ja überaus schauerlich –!“

 

Drittes Kapitel.

Kippwray lächelte gleichfalls.

„Eine ganz unsinnige Rederei,“ meinte er achselzuckend. „Es lohnt gar nicht darüber zu sprechen. Aber Lord Scheldon wollte der Sache auf den Grund gehen und hat durch Militär die Ruine da draußen auf dem Felsplateau mehrfach auf geheime Zugänge durchsuchen lassen.“

„Ah!“ machte Harst und warf mir einen langen Blick zu.

Ich verstand: deshalb hatte also Lady Ellinor so bestimmt ausgerufen, daß es in der Tempelhalle Geheimtüren nicht gebe!

„Wollen Sie mir vielleicht erzählen, was man von dieser Gespenster-Rikscha weiß,“ bat Harald nun den langen Inspektor. „Der Ausdruck „Gespenster-Rikscha“ erinnert mich an eine Erzählung Rudyard Kiplings. Ich glaube, sie hat denselben Titel. Da spielte eine Rikscha eine Rolle, die sich stets in nichts auflösen sollte. Also eine Art Geisterwagen –“

„Na – genau so verhält es sich hier, Mr. Harst. Eines Abends nach Sonnenuntergang bemerkten ein paar Leute aus dem Dorfe Imkari auf dem Heimwege auf dem Felsplateau eine weißgestrichene Rikscha, in der eine Dame in einem hellblauen Kleide und einem Riesenhute mit blauen Straußenfedern saß. Die Rikscha wurde von einem in Hellblau steckenden Kuli gezogen, während hinterher ein Diener lief, – ebenfalls im hellblauen Leinenanzug und mit hellblauem Turban. Die Rikscha kam in wildem Galopp an den Landleuten vorbei, bog in den Weg nach der Tempelruine ein und wurde von den Bauern mit den Augen verfolgt, bis sie plötzlich in einer Nebelwolke immer undeutlicher wurde und verschwand. Die Nebelwolke zerflatterte schnell. Weit und breit war weder von der Rikscha, noch der Dame, noch den beiden Hellblauen etwas zu bemerken. Die vier Bauern aus Imkari haben es meinem Kommissar Drenga Mirar erzählt. Die Kerle schwören natürlich, die Rikscha sei[5] tatsächlich vorhanden und –“

„Hm –,“ machte Harald. „Hm – und man hat diese weiße Rikscha noch häufiger gesehen?“

„Gesehen?!“ Der Inspektor lächelte überlegen. „Mr. Harst, es wird damals eine Luftspiegelung oder dergleichen gewesen sein, und die Leute, die sie nachher noch erblickt haben wollen, haben sich lediglich eingebildet, etwas zu –“

„Danke, Mr. Kippwray. – Sie selbst haben sich um diesen Spuk nie gekümmert?“

„Nie. Ich habe Besseres zu tun.“

„Haben Sie mal Lord Scheldon deshalb befragt?“

„Ja. – Er antwortete: „Lassen Sie doch diese Ammenmärchen, Kippwray!“ Und das sagte er in sehr gereiztem Tone.“

„So, so. – Sie erwähnten Ihren Kommissar Drenga Mirar vorhin. Hat er die Rikscha beobachtet?“

„Lächerlich genug: er behauptet es! Sie soll gewöhnlich jeden fünften Abend zu sehen sein. Nur als Lord Scheldon mehrfach Militär aufgeboten hatte, erschien sie nicht.“

„Allerdings eine recht tolle Geschichte,“ meinte Harald ironisch. „Nicht wert, auch nur den kleinen Finger deswegen aufzuheben. – Würden Sie mir mal die Leiche des ermordeten Europäers zeigen?“

„Ja, gewiß. – Ich werde Sie in den Leichenkeller führen lassen.“

Ein Polizeibeamter brachte uns auf den Hof und in einem Nebengebäude in den Keller.

Man hatte dem Toten den falschen Bart und die braune Farbe von der Haut bereits entfernt. Der Ermordete war ein etwa dreißigjähriger Mann mit blondem, kurzgeschnittenem Haar und bartlosen, scharfen Zügen.

„Weiß man noch immer nicht, wer dieser Mann ist?“ fragte Harald den Beamten, einen hellhäutigen Eurasier.

„Nein. Er ist hier ganz fremd. Es ist selbst in den Hotels nachgefragt worden. Nur ein Bahnbeamter hat sich gemeldet, der vor drei Tagen einen Europäer auf dem Bahnhof sah, – klein, bartlos, hager wie dieser Tote. Der Fremde kam mit dem 11-Uhrzuge von Allahabad an und wurde von einer verschleierten Eingeborenen abgeholt. Er hatte einen kleinen Koffer bei sich. – Der Bahnbeamte kann aber nicht genau sagen, ob es dieser Tote ist. Er war vor einer Stunde hier, gerade als ich Lady Scheldon den Ermordeten zeigen mußte.“

Lady Scheldon?! – Das ging mir wie ein Ruck durch den Körper. – Ich schaute Harald an. Er – er verzog ganz wenig die Lippen, sagte dann:

„Gehen wir –!“

Und wir gingen wieder in Mr. Kippwrays Dienstzimmer, wo Harald dann sich telephonisch mit der Polizeidirektion Allahabad verbinden ließ.

Kippwray war genau so gespannt wie ich, was Harst in Allahabad anfragen wollte. – Nach zehn Minuten war die Verbindung hergestellt. Inzwischen hatte Harald am Fenster gestanden, auf die Straße hinabgeblickt und schweigend vier seiner Mirakulum geraucht.

„Darf ich mich an Ihrer Stelle melden, Mr. Kippwray?“ fragte er jetzt den Inspektor und sprach dann in den Apparat hinein:

„Hier Detektivinspektor Kippwray, Bhopal. – Gibt es dort ein Detektivinstitut oder einen Privatdetektiv? – So, also nur einen einzigen Privatdetektiv namens Thomas Rablay. – Kennen Sie Rablay? – Ja? – Ist er klein, blond, hager, bartlos mit einer Narbe unter dem linken Auge? – So, danke. – Würden Sie mich mit Rablays Wohnung nur zu einer kurzen Anfrage verbinden? – So, verreist ist er, – und seit vier Tagen. Wohin, wissen Sie wohl nicht. – So, so, – also ein ganz diskreter Auftrag, sagte er. – Nun, ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Rablay hier in der Nähe der Residenz ermordet worden ist. Näheres erfahren Sie später. – Schluß –“

Kippwray starrte Harald ganz entgeistert an.

„Wie haben Sie denn herausbekommen, daß dieser Tote gerade ein Privatdetektiv war?“ rief er.

„Ich habe es ihm vom Gesicht abgelesen,“ erklärte Harald völlig ernst. „Jetzt müssen wir aber weiter, Mr. Kippwray. Ich –“

Es hatte geklopft. Und dann – dann trat niemand anderes als Lady Lydia Pimberton ein –!

„Ah, Mr. Harst, also sind Sie wirklich noch hier,“ sagte sie lebhaft und reichte Harald die Hand. „Ich sah die beiden Scheldonschen Rikschas noch vor dem Polizeigebäude und – doch ich will Sie nicht zu lange auf die Folter spannen, Mr. Harst. Lady Ellinor erzählte, in welcher Sorge sie meinetwegen sind –“ Sie begrüßte nun erst auch mich und Kippwray, diesen nur durch Kopfneigen.

„Ja, es war ein etwas aufregendes Abenteuer, Mr. Harst,“ erzählte sie dann. „Ich stand mit dem Rücken nach dem Wagen hin, rauchte und sah mir so aus der Entfernung die alte Ruine und die offene Tempelhalle an, als mir plötzlich von hinten eine schwere, dicke Decke über den Kopf geworfen wurde. Die Decke war mit Chloroform getränkt, und ich kam gar nicht dazu, um Hilfe zu rufen. Als ich aus der leichten Betäubung wieder erwachte, befand ich mich in einem ganz nett eingerichteten Zimmer, lag auf einem Diwan und wurde von einer verschleierten Inderin bewacht, die einen langen Dolch in der Hand hielt. Nach einer Weile bewegte sich dem Diwan gegenüber ein Türvorhang. Ja – denken Sie, Mr. Harst, – durch den Vorhang lugte derselbe schmierige Brahmane herein, der uns auf der Straße angebettelt hatte. Er verschwand wieder, und nach einer Stunde wurde ich dann von zwei Kerlen mit Tüchern vor dem Gesicht gepackt, bekam wieder die Decke über den Kopf, atmete wieder Chloroform ein und – erwachte in der Tempelruine, ging nach dem Dorfe Imkari, mietete einen Wagen und fuhr nach Bhopal zurück. Das ist alles –“

„Und die Leute haben mit Ihnen nichts gesprochen, Mylady?“

„Nichts. Nur durch Zeichen hat die Verschleierte mir klar gemacht, ich müsse mich still verhalten. Und dann schnappte ich ein – nein, zwei Worte auf, die einer der maskierten Männer ausrief, als sie mir die Decke in dem Zimmer über den Kopf drückten.“

„Und die Worte waren?“

„Verdammt – falsche!“

„Wie? Falsche?“

„Ja – falsche! – Ich weiß nicht, was das bedeuten sollte. Jedenfalls war’s aber in englischer Sprache gesagt, beides, – „verdammt“ und „falsche“. – Das ist aber nun wirklich alles, was ich angeben kann, Mr. Harst.“

„Oh – es genügt,“ nickte Harald. „Es genügt, daß Sie gesund und ohne Schaden dieses Abenteuer überstanden haben, Mylady. – Mr. Kippwray, wir verabschieden uns. Auf Wiedersehen.“

Zehn Minuten darauf waren wir im Palais Scheldon. In der Vorhalle sagte Harald zu Lady Lydia leise: „Seien Sie vorsichtig mit Äußerungen und halten Sie jetzt Lady Ellinor eine halbe Stunde in ihrem Salon fest.“ –

Was hatte Harald vor? – Nun, ich sollte es sehr bald erfahren. Zu dem Palais gehörte ein ausgedehnter Park. Auf einem Hügel im hinteren Teile stand da in einer förmlichen Wildnis ein gemauerter, altertümlicher Pavillon. Der Hausmeister hatte uns erklärt, der Pavillon würde nie mehr benutzt. Lady Ellinor habe die Schlüssel dazu. – Wir schlenderten dorthin, und Harald drückte eine der bunten Scheiben eines Fensters ein, öffnete es und kletterte in das achteckige phantastische Bauwerk hinein. Ich folgte ihm. Hier fanden wir einen kleinen Lederkoffer, einen Sportanzug, eine Reisemütze und einen leichten Staubmantel, – alles Sachen des ermordeten Privatdetektivs Rablay.

Der Pavillon war mit Rohrmöbeln und einem Diwan ausgestattet. Harst setzte sich in einen Sessel und meinte:

„Nimm gleichfalls Platz. Wir können jetzt mal eine halbe Stunde Atem schöpfen. Dieser Tag war etwas sehr ereignisreich. – Was sagst Du zu diesem Morde, zu Lady Ellinors Verhalten, zu der Gespenster-Rikscha und der Entführung und Wiederfreilassung Lady Lydias?“

Er nahm sein Zigarettenetui, hielt es mir hin und reichte mir dann auch Feuer. Wir rauchten schweigend die ersten Züge. Dann sagte Harald:

„Nun?! – Ich hoffe, Du bist nicht so ein kurzsichtiger Komödiant wie dieser Kippwray. Natürlich existiert die Gespenster-Rikscha. Und ebenso natürlich spielt sie hier die Hauptrolle.“

„Das habe ich mir auch schon gedacht, Harald. Aber – begreifen tue ich trotzdem von der Sache nichts!“

„Das eine doch wenigstens, daß Lady Scheldon sich den Detektiv in aller Heimlichkeit herbestellt hatte. Nicht einmal ihr Gatte weiß etwas davon. Als dieser am Frühstückstisch heute von dem Morde an dem verkleideten Europäer erzählte, hat sie gleich an Rablay gedacht. Daher ihre Aufregung, daher auch später ihr auffälliges Benehmen. Ihr Gatte ließ der Gespenster-Rikscha durch Militär nachspüren. Sie tat es durch einen Detektiv. Sie wollte dann Gewißheit haben, ob Rablay der Tote wäre, und ließ sich die Leiche zeigen.“

„Aber – wer ermordete den Detektiv?“

„Dieselben Leute, die die Geisterkomödie dort auf dem Plateau mimen.“

„Himmel – ich werde daraus nicht schlau, Harald,“ meinte ich kopfschüttelnd. „Wo soll ich anfangen zu fragen? Wo nur? – Wer ließ mir zum Beispiel den Zettel zustecken?“

„Lady Ellinor. Der Zettel riecht nach ihrem Händeparfüm. Sie gebraucht Peau d’Espagne-Seife von Roger und Galler aus Paris. Und die ist im Geruch schärfer als flüssiges Parfüm.“

Ich konnte nur wieder den Kopf schütteln.

„Und der Zweck der Geisterkutsche, bei deren Anblick einem ja ganz hellblau vor Augen werden muß?“

„Du, scherze nicht! Die Sache ist verflucht ernst, mein Alter. Das sagt Dir schon der Mord an Rablay! Er hat das Geheimnis der Gespenster-Rikscha im Auftrage Lady Ellinors aufklären sollen, wird die Erklärung auch gefunden haben und wurde deshalb von den Hellblauen stumm gemacht. – Wir wollen nun mal beraten, wie wir uns zu dieser Abendeinladung bei der Dattelpalme verhalten wollen. Ich denke, wir gehen nicht hin.“ – Er lachte dann über meinen Gesichtsausdruck leise auf. „Das heißt: wir gehen selbstverständlich hin, nur nicht als Harst und Schraut, lieber Alter. Wir müssen eine Verkleidung wählen, die unmöglich zu durchschauen ist. Was meinst Du zu diesem Vorschlag?“

Er setzte mir seinen Plan ganz eingehend auseinander. Ich fand ihn vortrefflich.

 

Viertes Kapitel.

Wir gingen dann nach dem Palais zurück, ließen uns bei Lady Ellinor melden und fanden noch Lady Lydia bei ihr in dem stilvollen Damensalon vor. Es begann eine zwanglose Unterhaltung. Dann begann er, Lady Ellinor auf seine Weise auszuforschen. Sie merkte gar nicht, daß es eigentlich ein Verhör war, das sie jetzt durchmachte.

Inzwischen war es fünf Uhr nachmittags geworden. Der Lord erschien jetzt zu Tisch. Er war sehr zerstreut und nervös, nahm sich aber vor uns zusammen.

Um sieben Uhr erhoben wir uns von der Tafel. Harst entschuldigte uns dann, erklärte, wir wollten mal verkleidet das Hinduviertel durchstreifen und einige Tempel besuchen.

Wir packten aus unserem Requisitenkoffer alles Nötige in eine Handtasche und schlichen uns durch einen der Hinterausgänge des großen Hauses in den Park und in den Pavillon, wo wir sehr sorgfältig Maske machten. Die beiden alten Hindu, die dann den Pavillon verließen und über die hintere Parkmauer kletterten, hätte niemand für verkleidete Europäer gehalten.

Der Park grenzte an ein Palmenwäldchen, in dem sich ein kleiner Teich befand. Die Ufer waren morastig. Der Morast verlieh unseren Beinen und Armen noch die rechte Schmutzpatina jener frommen Bekenner Brahmas, die sich nur alle vier Wochen in den heiligen Wasserbassins waschen, zu deren Füllung echtes Gangeswasser mit der Eisenbahn herbeigeschafft wird.

Diese beiden Hindu wanderten jetzt zum Bungalow des englischen Residenturarztes Doktor Gramsy. Harst ließ mich draußen warten, blieb zehn Minuten bei dem Arzte und sagte, als er wieder erschien: „So, nun ist die Geschichte ganz im Lot, mein Alter. Gramsy hat auch mal den Versuch gemacht, die Gespenster-Rikscha zu Gesicht zu bekommen, wie der Inspektor erwähnte, konnte sie aber nur noch sozusagen im letzten Stadium beobachten, das heißt, kurz bevor sie sich in Nebel auflöste. Er erklärte mir, „die Sache macht einen wirklich seltsamen Eindruck“.“

„Hm – hast Du ihn nicht noch nach anderen Dingen ausgefragt?“ meinte ich mißtrauisch.

„Vielleicht, mein Alter, vielleicht. – Laß das aber jetzt. Ich sage Dir: es ist ein feiner Stoff für einen Familien-Liebesroman. Nur der Mord hätte nicht geschehen dürfen. – So, nun werden wir irgendwo die größeren Requisiten schnell noch einhandeln. Du kannst übrigens unauffällig Ausschau halten, ob jemand uns nachschleicht. Ich glaube es nicht. Aber Vorsicht ist hier sehr geboten.“

Die größeren Requisiten bestanden in einem zweiräderigen Karren, einem altersschwachen Maultier als Zugpferd und einigen leeren Körben, die als Fracht in den Wagenkasten kamen. Dieses alles mietete Harst bis morgen früh. Dann zogen wir mit unserem Gefährt von dannen und erwarben noch in einem Fahrradgeschäft zwei Räder mit recht großer Übersetzung, die im Wagenkasten unter den Körben und ein paar Decken verstaut wurden. Auch ich mußte dort Platz nehmen. Außerhalb der Stadt verschwand ich dann ganz und gar, konnte aber durch das Geflecht eines Korbes bequem Ausschau halten.

Harald hockte vorn auf dem Sitzbrett. Das Maultier war sicher tief empört, daß es in flottem Trab uns bis an die Wegekreuzung beim Dorfe Imkari ziehen mußte. Zitternd und schaumbedeckt blieb es hier stehen. Der Weg stieg von hier aus ziemlich steil zum Plateau an, und da streikte die alte Mähre eben. Es half nichts: Harst mußte hinten am Karren durch Schieben helfen, sonst wären wir nie an die einsame Dattelpalme gekommen.

Diese Palme stand etwa 500 Meter vor der Ruine rechts vom Wege. Als wir mit ihr etwa in einer Höhe waren, führte Harald eine wohlgelungene Komödie auf, indem er so tat, als ob unser Zugtier nun auf keine Weise mehr vorwärtszubringen wäre.

Er brüllte und schimpfte, benahm sich echt fuhrmannsmäßig, und all das, obwohl weit und breit keine lebende Seele zu sehen war.

Zwischendurch unterhielt er sich mit mir. Ich steckte noch immer unter dem Korbe, hatte aber in das Geflecht jetzt ein Loch geschnitten, so daß ich den Teil des Plateaus rechts der Straße bequem beobachten konnte.

Die Sonne war vor etwa zehn Minuten untergegangen. Die ersten Schatten der Abenddämmerung senkten sich über die kahle Steinwüste.

Da – rechts von uns tauchte plötzlich die Gespenster-Rikscha auf. Sie kam aus einem Gewirr großer Felsblöcke heraus. Ein Blick hatte mir genügt: es war die weiße Rikscha, die hellblaue Dame, der Federhut, der Rikschakuli in Hellblau und hinterdrein der Diener.

„Harald – Achtung!“ rief ich.

„Schon gut!“ rief er zurück.

Die Rikscha raste über den Felsboden des Plateaus hinweg auf die Ruine zu.

Jetzt Haralds Stimme: „Runter mit den Körben!“

Er half. Im Nu hatten wir die Räder herausgehoben, saßen auf, jagten die Straße entlang – Wir waren schneller als der Rikschakuli. Der Geisterwagen bog nun in die Straße ein. Noch 150 Meter, noch 120 – noch 100 –

Oh – wir mußten die Bande bekommen, mußten!

Jetzt war die weiße Rikscha kaum noch fünfzig Meter von der Ruine entfernt. Nie in meinem Leben habe ich meine Beinmuskeln so angestrengt wie damals. Mein Rad fraß förmlich die Meter. Harald war dicht vor mir, sogar so dicht, daß ich jetzt zur Seite ausweichen mußte, da er merkwürdigerweise nicht schneller vorwärtskam als ich. Und er war doch größer, schlank und weit kräftiger.

Wir fuhren jetzt Lenkstange an Lenkstange fast. Ich saß vornübergebeugt im Sattel wie ein Rennfahrer.

„Wir kriegen sie!“ keuchte ich. Der Schweiß lief mir über das Gesicht.

Die Rikschaleute hatten nicht die geringste Notiz von uns genommen. Lautlos raste der leichte Wagen auf seinen Gummirädern vor uns her. Die Straußenfedern des Hutes der Dame flatterten. Jetzt sah ich nur ihre Rückseite, das blonde Haar und den tadellos gewachsenen Oberkörper. Sie hielt sich sehr gerade, regte sich nicht. Aber vorhin hatte ich das Profil eine ganze Weile betrachten können. Diese Frau mußte jung und hübsch sein –

Noch sechzig Meter – noch fünfzig –

Da – ein feiner grauer Nebel schien plötzlich hinter der Gespenster-Rikscha herzuziehen, wurde im Moment fast dichter und dichter, hüllte den Wagen und den hellblauen Diener völlig ein –

Nur eine graue und undurchsichtige Wolke lagerte nun auf dem Wege, flog an der Ruine immer die Straße entlang vorüber –

„Los – Höchstgeschwindigkeit!“ rief Harald.

Ich gab mein Letztes her. Wie die Pfeile schossen wir der Wolke nach. Dann – dann hatte ich das Gefühl, daß ich plötzlich ein Sprungbrett aufwärts fuhr, – dann flog ich mit meinem Rade hinein ins Leere, – in die Luft, schlug, wieder herabfallend, mit dem Schädel hart auf und verlor das Bewußtsein –

Ich kam zu mir, ganz allmählich.

Ich war auf einem Stuhle festgebunden. Stricke hielten den Körper fest. Die Arme waren an die Hüften gepreßt, die Hände vor dem Leibe übereinander gebunden.

Als ich die Augen öffnete, stachen mir grelle Lichtstrahlen wie Dolchspitzen ins Hirn. Ich schloß die Lider schnell. In meinen Ohren brauste es wie das Toben einer gewaltigen Brandung, vermischt mit Glockenklängen und gellenden Pfiffen. Mein Kopf war ein einziger bohrender, wütender Schmerz. Als ich ihn etwas zu heben suchte, bekam ich eine neue Ohnmachtsanwandlung. So saß ich denn still da. Nach einer Weile klangen durch das Brausen der Ohrgeräusche Stimmen hindurch. Und wieder nach einer Weile verstand ich einzelne Worte –

Harald sprach. Seine Stimme war matt und seltsam tonlos.

„Wo sind wir? Weshalb hast Du uns wie Verbrecher gefesselt?“ – Mein Hirn funktionierte wieder. Ich erfaßte[6] den Sinn der Worte. Ich merkte, daß Harst hier bereits wieder Herr der Situation zu werden suchte. Er tat ganz harmlos, als hätten wir nie den Mördern des Berufskollegen Rablay nachgespürt.

Eine heisere, tiefe Stimme erwiderte nun in schlechtem Englisch:

„Dort seid Ihr, wo Ihr nicht wieder herauskommen werdet. Ihr habt Dscham Dauli, den Exminister der Begum, der Polizei in die Hände gespielt. Ihr werdet sterben.“

Ich öffnete die Augen, blinzelte trotz der wahnsinnigen Schmerzen in das Licht einer weiß brennenden Stehlampe mit weißer Glocke. Es war eine Karbidlampe. Sie stand auf einem viereckigen Tisch, der mit einer indischen, golddurchwirkten Decke belegt war.

Ich saß an der einen Tischecke. Rechts von mir an der Schmalseite Harald, genau so gefesselt wie ich. An der anderen Schmalseite aber der schmierige Brahmane –

Mein Blick glitt weiter umher. Es war ein zweifenstriger Raum; an den Wänden Teppiche und Stoffdraperien; die Möbel modern; das Ganze behaglich –

Außer uns dreien befand sich niemand im Zimmer.

„Wenn wir schon sterben sollen, so kannst Du mir wenigstens verraten, wo die Rikscha geblieben ist,“ sagte Harald jetzt. – Er behandelte den Bettler also ganz so, als ob er einen Inder vor sich hätte. Er nannte ihn „Du“, und er wußte doch, daß es nur ein verkleidetes Weib war. Mein Interesse an dieser Unterredung wuchs. Harst wollte den angeblichen Brahmanen aushorchen. Ob es ihm gelingen würde?

Der Bettler saß weit zurückgelehnt da. Vor ihm auf dem Tische stand ein flacher, runder Korb mit Deckel. Der festgebundene Deckel hob sich zuweilen etwas –

„Rikscha?“ meinte der Schmutzfink. „Rikscha? Ich weiß nichts von einer Rikscha. Ich weiß nur, daß Gott Brahma meine Gebote erhört und die Feinde der Gläubigen in die Luft schleudert, daß sie bewußtlos auf dem Felsboden liegen. Bist Du auch töricht genug, etwas zu sehen, was es nicht gibt, wie dies die Bauern aus Imkari tun, die alle Welt mit dem Geschwätz von einer Geister-Rikscha erfüllen?!“

„Ob ich töricht bin, hat Dscham Dauli ja erfahren. Bist Du ein Freund von ihm?“

„Ich bin ein Brahmane der Sahrasvata-Kaste. Mir gehorchen Mensch und Tier, Wasser und Luft. Ich schütze die Gläubigen.“ – Das klang durchaus nicht wie Prahlerei. Dieses verkleidete Weib mimte ihre Rolle vorzüglich und mußte die indischen Verhältnisse sehr genau kennen. Die Brahmanen als oberste, vornehmste Kaste der Hindu zerfallen nämlich wieder in viele Unterkasten, von denen die Sahrasvata sich die allererste dünkt! Aus ihr gehen hauptsächlich als abermalige Unterkaste die vielgenannten Yogi, fälschlich als Fakire bezeichnet, hervor.

Auch die Stimme verstellte dieses verkleidete Weib mit den spitzgeschnittenen Nägeln tadellos. – Ein Gedanke schoß mir plötzlich durch den Kopf: dieser Bettler konnte vielleicht die hellblaue, hellblonde Dame aus der Gespenster-Rikscha sein!

Da sagte Harald schon mit spöttischem Auflachen:

„Merkwürdig, daß Du uns so sorgfältig gefesselt hast, wenn Dir Mensch, Tier, Wasser und Luft gehorchen. Du bist wohl ein Yogi? Dann beweise doch, daß Du mehr kannst als andere! Was hast Du dort in dem Korbe? Ich vermute Schlangen.“

„Du vermutest richtig. Ich bin ein Yogi. Und die Schlangen sind Madrawas, die Euch nachher den Tod bringen werden.“

Madrawas? Also Baumschlangen jener überaus giftigen Art, die der Inder mehr fürchtet als die bedeutend größeren Brillenschlangen oder Kobras. – Ich war jetzt mit einem Schlage völlig wach und frisch. Mir sind schon Eidechsen unangenehm. Jedes kriechende Gewürm verabscheue ich. Nun gar diese Madrawas, deren Biß jeden wilden Büffel nach einer Stunde tötet! – Die erste Angst beschlich mich. Ein leiser Eisesschauer ging mir über den Leib. Blitzschnell hatte ich mir klar gemacht, daß wir an Hilfe von außen hier nicht zu rechnen hatten. Und unsere Fesselung war so raffiniert ersonnen, daß wir kein Glied rühren konnten. Nur den Kopf konnten wir bewegen. –

Das so tadellos maskierte Weib begann jetzt, den Deckel des Korbes loszubinden, drückte ihn dann aber noch mit der Linken fest.

Ich verfolgte jede ihrer Bewegungen mit steigendem Herzklopfen. Was würde nun geschehen? Was –? Würde das Weib uns durch die Madrawas beißen lassen –?

„Ich bin ein Yogi,“ wiederholte der Bettler langsam. „Ich weiß, daß Du heute nach Lady Pimberton gesucht hast und –“

„Ah – Lady Pimberton!“ fiel Harst ihm ins Wort. „Richtig, Lady Lydia! Gestatte, daß ich Dir sage, daß Du Dir widersprichst. Soeben erklärtest Du, daß Du uns töten willst, weil Du ein Freund Dscham Daulis bist. Und doch hast Du heute Lady Lydia freigelassen, als Du erkanntest, daß Deine Leute die Falsche ergriffen hatten. Und – Lady Lydia ist genau so beteiligt an Dscham Daulis Verhaftung wie ich! Wie reimt sich das zusammen?“

Das schmutzige Gesicht der Verkleideten änderte nicht im geringsten den Ausdruck.

„Lady Pimbertons Stunde schlägt auch noch,“ erklärte sie ruhig.

„Hm – eine feine Ausrede! Du hattest es in Wahrheit jedenfalls auf eine andere Frau abgesehen. Einer Deiner Leute flüsterte: „Verdammt – die Falsche!“ Lady Lydia hörte nur: „Verdammt – falsche!“ Aber das war leicht zu ergänzen. Sie wurde ja dann freigelassen. – Doch, wie steht es nun mit einem Beweise Deiner Macht, he?! – Übrigens – ich bin leidenschaftlicher Raucher. Dort hinter dem Lampenfuß sehe ich den Inhalt unserer Taschen liegen, unsere Pistolen, Messer und mein Zigarettenetui. Willst Du mir nicht eine Zigarette gewähren?“

„Ja, wenn Du mir sagst, ob Du weißt, wer der Mann ist, den man heute früh ermordet hinter der Ruine fand.“

„Ein verkleideter Europäer ist’s, ein Detektiv aus Allahabad –“

„Ah – also ist es wahr!“ entfuhr es dem Weibe wohl gegen ihren Willen. Zum ersten Male hatte sie jetzt die Stimme nicht genügend verstellt.

„Es ist wahr, daß Lady Scheldon ihn beauftragt hat, das Geheimnis der Gespenster-Rikscha aufzuklären,“ sagte Harald ruhig.

„Ich ahnte, daß Du bereits –“ Das Weib schwieg plötzlich. –

„– daß ich bereits recht viel ermittelt habe,“ ergänzte Harst sofort. „Ich werde auch noch den Rest an den Tag bringen. Ich vermute längst, wie all das zusammenhängt –“

„Die Rikscha ist ein Hirngespinst,“ meinte der Brahmane gleichmütig. Aber in Sprache und Haltung lag bereits eine gewisse Unsicherheit.

Harald lenkte ab. „Wie ist es mit der Zigarette?“ fragte er.

Keine Antwort. Das Weib starrte in das Lampenlicht. Sie hielt die Lider stets so weit geschlossen, daß man die Augenfarbe nicht erkennen konnte. Sie schien zu überlegen.

Und dann – dann sagte sie, offenbar jedes Wort genau abwägend:

„Wenn Du versprichst, mit Deinem Freunde sofort abzureisen, Indien zu verlassen und mit niemandem mehr über das, was Dir hier begegnet ist, zu sprechen, dann – sollt Ihr frei sein –“

In demselben Moment tat sich rechts eine Tür auf. Zwei Inder traten ein, mit Tüchern vor den Gesichtern. Der eine beugte sich zu dem Weibe herab und flüsterte ihr etwas zu.

Sie machte eine unwillige Kopfbewegung. Der Inder richtete sich wieder auf, stellte sich abseits neben den anderen und verharrte regungslos.

 

Fünftes Kapitel.

„Dieses Versprechen gebe ich nicht,“ erklärte Harald fest. „Ich warne Dich, uns zu beseitigen. Du würdest –“

Die Frau hatte mit der rechten Hand schon nach dem Zigarettenetui gelangt, öffnete es und legte es dicht vor Harald auf den Tisch. Dann nahm sie Harsts Feuerzeug, ließ das Flämmchen aufflackern, steckte Harald eine Zigarette in den Mund und hielt das Flämmchen daran. Er rauchte; die Spitze der Zigarette glühte –

„Du hättest Euer Leben retten können,“ sagte die Verkleidete. „Ich wäre gern –“

Einer der maskierten Inder war schnell nähergetreten, riß ihre Hand von dem Deckel des Korbes weg und warf den Deckel auf den Fußboden.

Der angebliche Yogi schnellte empor, sprang zurück. Aus dem Korbe schossen die grüngelben Leiber von fünf Madrawas hoch. Die kleinen, platten Köpfe der zwei Finger dicken Giftschlangen pendelten hin und her. Das grelle Lampenlicht störte sie.

Die beiden Inder zogen das Weib jetzt hinaus. Sie sträubte sich. Dann wurde von draußen der Schlüssel umgedreht und abgezogen.

Meine entsetzten Blicke glitten wieder zu dem Korbe hin.

Harsts leise Stimme nun: „So lange die Lampe brennt, sind wir sicher. Die Schlangen werden unter die Schränke flüchten –“

Die Madrawas schlängelten sich aus dem Korbe vollends heraus, verschwanden. Harald bog den Kopf nach rechts –

„Sie kriechen am Tischfuß uns gegenüber nach unten,“ flüsterte er. „Wenn nur die Lampe vorhält, bis wir frei sind –“

Er schaute mich an und nickte aufmunternd.

„Mein Alter, wenn das Weib mir die Zigarette nicht gewährt hätte, würde ich das Versprechen abgegeben haben. Man hat nur ein Leben zu verlieren.“

Er bückte sich nach vorn. Er konnte gerade noch mit dem Munde das Zigarettenetui erreichen.

Ich beobachtete ihn mit fieberhafter Spannung. Was beabsichtigte er?

Und ich sah nun, wie er die halb aufgerauchte Mirakulum vor das Etui auf die Tischdecke legte. Harsts Spezialmarke brennt von selbst wie viele Zigaretten weiter.

Die halbe Zigarette schwelte. Ein dünner Rauchfaden stieg empor. Ich dachte an die Tempelruine, wo die Zigarette Lady Lydias gleichfalls am Boden verkohlt war.

Harst suchte jetzt mit den Lippen eine andere Zigarette aus dem Etui herauszunehmen. Es gelang ihm. Er faßte sie mit den Lippen am Mundstückende, hielt die Spitze an die glimmende andere Zigarette.

Dann bog er sich zurück, schaute nach unten auf seine vor dem Leibe gefesselten Hände, senkte den Kopf, ließ die Zigarette fallen. Und durch kleine Bewegungen der Hände und des Leibes hatte er sie dann von der rechten Handfläche, wo sie liegen geblieben war, so dirigiert, daß sie nun der Länge nach auf zwei Windungen der Stricke an den Handgelenken ruhte.

Dann blies er sie vorsichtig an. Die Spitze glühte lichter auf.

Und dasselbe Jongleurkunststück vollführte er mit zwei weiteren Mirakulum, die dann nebeneinander schwelend in der Rinne zwischen den Strickwindungen lagen.

Wieder fachte er die glimmenden Spitzen durch Blasen an. – Wer einmal eine Zigarette aus Unachtsamkeit auf einer Tischplatte hat verkohlen lassen, weiß, daß davon ein brauner, versengter Strich zurückbleibt. Diese drei nebeneinander glühenden, durch den Luftstrom noch stärker zum Glimmen gebrachten Zigaretten mußten den Hanfstrick notwendig gleichfalls angreifen und erst nur wenig, dann stärker in Brand setzen. Der Strick war völlig trocken. Stinkender leichter Qualm stieg auf. Und Harald blies weiter, gleichmäßig, mit kühler Berechnung.

Der Strick glostete; die Glut fraß weiter. Harsts Haut wurde ohne Zweifel mit versengt. Er achtete nicht darauf. Ich sah, wie er an den Stricken zerrte, wie er immer wieder versuchte, die halb verkohlten Stücke zu zerreißen –

Dann – gelang es ihm. Er hatte die Hände frei.

Sofort griff er nach den Pistolen, sah nach, ob die Laderahmen noch gefüllt waren. Dann nahm er sein Messer vom Tisch, zerschnitt seine Fußfesseln, die anderen Stricke, befreite auch mich.

Auf dem Bastteppich glühten noch die Zigarettenreste. Er trat sie aus, drückte auch die glimmenden Ränder des Loches aus, das die erste Zigarette in die Tischdecke gebrannt hatte.

Oben auf dem linken Handgelenk hatte er zwei große Brandblasen. Was tat’s?! Wir waren ja frei.

Er schlich zu dem einen Fenster, schlug den dicken Vorhang etwas zurück, setzte sich wieder neben mich. Bis dahin hatten wir kein Wort gewechselt.

„Sie werden fliehen,“ sagte er leise. „Um drei Uhr morgens geht ein Zug nach Indore. Das ist eine Stadt im westlichen Teile des Windhya-Gebirges. Unweit davon liegen die Goldbergwerke der Windhya-Zentral-Kompagnie. Dort ist ihr Vater Oberingenieur. Sie wird dorthin flüchten. Eifersucht ist ein Born, aus dem ungeheuerliche Gedanken hervorquellen.“

Er sah nach der Uhr. „Halb zwei morgens – Sie werden das Haus schon verlassen haben. – Wir befinden uns hier in einem an eine grauhaarige Malerin vermieteten Bungalow unweit des Dorfes Imkari. Die Malerin mietete ihn vor einem Monat. Und vor einem Monat fiel Lord Scheldon vor Schreck aus dem Sattel, als er die weiße Rikscha und die hellblaue Dame erblickte. – Woher ich das alles weiß? Von dem Residenturarzt Dr. Gramsy. Ich fragte ihn so nebenbei, ob hier in Bhopal sich unlängst Europäer niedergelassen hätten. So hörte ich von dieser alten Miß Elizabet Tompkins, wie sie sich hier nennt, die angeblich aus London gekommen ist, um hier indische Motive zu malen. In Wahrheit heißt sie Ethel Parell, ist etwa 24 Jahre alt und die sehr verwöhnte und sehr exzentrische Tochter des Oberingenieurs Parell.“

„Hm – das ist ja alles recht interessant, Harald,“ meinte ich erregt. „Wäre es aber nicht besser, wir suchten schleunigst im Dorfe Imkari einen Wagen zu mieten? Dann könnten wir Ethel Parell doch noch auf dem Bahnhof in Bhopal abfassen.“

„Oh, das wird ohnedies geschehen.“ Er deutete auf eine Ecke hinter einen Schrank. „Dort hängt das Telephon. Sollte Ethel es unbrauchbar gemacht haben, so können wir noch immer von der Polizeistation des Dorfes aus telephonieren.“ Er stand auf und schritt auf den Apparat zu. Gleich darauf meldete sich das Postamt in Bhopal. Fünf Minuten später war Freund Kippwray an dem anderen Ende des Sprechdrahtes. Harst gab ihm genaue Verhaltungsmaßregeln.

„Verhaften Sie die Dame auf meine Verantwortung,“ erklärte er. „So – Lord Scheldon hat schon nach uns suchen lassen? Nun, vielleicht läuten Sie ihn an und bestellen Sie, daß wir uns um sieben Uhr pünktlich zum ersten Frühstück unter der Fächerpalme einfinden werden.“

Damit war das Gespräch zu Ende. Wir jagten nun die Schlangen unter den Schränken hervor und Harald schlug sie mit einem Malstock tot, der in einer Ecke lehnte. Dann durchsuchten wir den Bungalow. Keine lebende Seele war mehr darin. Außer Ethel Parells Schlafzimmer fanden wir noch zwei Zimmer, die recht nett eingerichtet waren und als Schlafzimmer gedient hatten.

„Dacht’ ich’s doch,“ meinte Harst. „So bringt man nicht indische Diener unter. Dr. Gramsy sprach von zwei Brüdern der Ethel. Hm – diese dürften den Rikschakuli und den Diener gespielt haben.“

Wir verließen das Haus. Draußen war es fast taghell. Der Mond stand am Himmel und die Sterne taten auch das ihrige, uns genügend Licht zu spenden. – Der Bungalow war sehr malerisch auf einer Abdachung des Plateaus gebaut. Nach Westen zu erhob sich das große Dorf Imkari aus der fruchtbaren Ebene. – Harald kletterte hinter dem Hause den Abhang empor. Wir befanden uns nun auf dem Felsplateau, sahen schräg rechts die Tempelruine liegen. Dicht neben uns gewahrten wir aber jene Anhäufung von Felsbrocken, aus denen die Gespenster-Rikscha hervorgekommen war.

Harald steuerte auf die Felsen zu. Wir suchten dort eine volle Stunde, wobei wir zeitweise unsere Taschenlampen benutzten. Dann hatten wir das Geheimnis entdeckt: eine scheinbar enorm dicke Felsplatte ließ sich spielend leicht zur Seite rollen und gab so den gut 1,50 Meter hohen und 1 Meter breiten Eingang zu einer natürlichen Höhle frei, die sich endlos weit nach Westen erstreckte. Hier fanden wir überall deutliche Anzeichen dafür, daß sie einst zu Wohnzwecken benutzt worden war. Es gab hier sogar einen kleinen Tempel mit verschiedenen Buddha-Statuen. Der Buddhismus war ja durch den Brahmanismus als Religion aus Zentralindien schon vor Jahrhunderten verdrängt worden. – Noch mehr fanden wir, weil Harald danach suchte, – „Es muß hier eine große Felsplatte geben, die sich wie eine Falltür nach unten öffnen läßt und deren Oberseite gleichzeitig einen Teil der Straße dicht hinter der Tempelruine bildet. Die Gespenster-Rikscha verschwand stets in diesem Loche, nachdem sie sich durch Rauchbomben, die an ihr befestigt waren und die der hinterherlaufende Diener zur Entzündung brachte, unsichtbar gemacht hatte,“ sagte er zu mir. „Diese Falltür vermutete ich sofort, als Lady Lydia uns erzählte, sie habe mit dem Gesicht nach der Tempelhalle hin gestanden. Also konnten die Leute, die sie überfielen, nur von rückwärts gekommen sein –“ – Gleich darauf hatten wir auch diese Frage gelöst. In einer Nebengrotte lag ein riesiger Haufen Maisstroh; daneben stand die weiße Rikscha. Auch unsere beschädigten Räder sahen wir hier wieder. Die Decke der hochliegenden Grotte war durch Balken zum Teil gestützt. Dazwischen hingen Ketten und ein Rad, über das ein Tau hinlief. Es war dies die primitive Maschinerie, um die Steinplatte, die sich oben in den Felsboden der Straße genau einfügte, zu senken und zu heben. – „Man hat uns sehr schlau von den Rädern befördert,“ meinte Harald. „Man hob die Platte über das Straßenniveau an der einen Seite an, so daß wir in voller Fahrt wie auf ein Sprungbrett hinaufrasten und dann herabplumpsten.“

Gleich darauf hatten wir unseren Maultierkarren an derselben Stelle unweit der Dattelpalme wiedergefunden, stiegen auf und fuhren nach Bhopal zurück. Harald ließ sich durch keinerlei Bitten erweichen, mir jetzt schon darüber Aufschluß zu geben, was mit dieser Geisterkomödie beabsichtigt gewesen war. Ich erfuhr es erst morgens gegen sieben Uhr im Arbeitszimmer des Hausherrn im Palais Scheldon.

Wir waren hier zu vieren versammelt: das Ehepaar Scheldon und wir beide.

„Mylord,“ begann Harald, „ich habe Ihnen mitzuteilen, daß die Dame aus der Gespenster-Rikscha verhaftet worden ist, ebenso deren Brüder Archibald und Thomas.

Ich kenne jetzt die ganzen Zusammenhänge. Doktor Gramsy hat mir manches erzählt, ebenso Detektivinspektor Kippwray. Das übrige konnte ich mir ergänzen. Dafür bin ich ja Detektiv. – Sie waren vor vier Jahren Resident in der Minenstadt Indore. Dort verlobten Sie sich mit der Tochter des Oberingenieurs Parell. Ethel Parell war Ihnen jedoch zu exzentrisch, zu wenig Weib. Außerdem hatten Sie in Ihrer amtlichen Eigenschaft mit ihren Brüdern sehr ernstliche Differenzen. Archibald Parell wurde mit Gefängnis bestraft, und Sie lösten das Verlöbnis auf und erhielten hier in Bhopal die Residentur. Ethel Parell soll Sie über alles geliebt und Ihnen zugeschworen haben, sie würde sich das Leben nehmen, falls Sie eine andere heirateten. Vor anderthalb Jahren schlossen Sie die Ehe mit Ihrer jetzigen Gattin. Sie hatten Ethel längst vergessen. Dann erhielten Sie vor vier Wochen die Todesanzeige Ethels. Auch Dr. Gramsy, der noch vor einem Jahre in Indore Residenturarzt war, bekam diese Anzeige und einen Brief des alten Parell, daß seine Tochter in einen der größeren Schmelzöfen gesprungen sei und daß man nach Ablöschen des Ofens von ihr nur noch winzige Knochenreste gefunden habe. Doktor Gramsy erzählte Ihnen dies. Seitdem waren Sie zerstreut, nervös und bedrückt. Der Doktor hat Ihnen, damit Sie Schlaf fänden, Morphium verschrieben. Sie nahmen jedoch mehr davon, als Sie sollten, auch am Tage. Ich merkte den Einfluß dieses Giftes an ihrer plötzlich weit angeregteren Stimmung. – Eine Woche nach dem angeblichen Tode Ethels sahen Sie die Gespenster-Rikscha. Genau so in Hellblau mit hellblauem Kuli und Diener und weißer Rikscha war Ethel Parell in Indore umhergefahren, als die Verlobung von Ihrer Seite aufgehoben wurde. Sie stürzten vor Schreck vom Pferde, als Sie Ihre einstige, jetzt tote Geliebte in dieser Aufmachung an sich vorüberjagen sahen. – Als der Detektivinspektor mir dies erzählte, war das[7] Geheimnis für mich kein Geheimnis mehr. Ich sagte mir, daß Sie die hellblaue Dame kennen müßten. Vermutet hatte ich es schon vorher. Die Rikscha-Dame war hellblond. Und den Teil eines hellblonden Haarnetzes hatte ich auf einem Strauche neben der Tempelruine gefunden. Ebenso bemerkte ich aber auch auf den schmierigen Lumpen eines als Brahmane verkleideten Weibes drei blonde lange Frauenhaare. Außerdem hatte dieser schmierige Bettler auch sehr spitz geschnittene Nägel. Doktor Gramsy beschrieb mir Ethel Parell als hellblond. So kam eins zum anderen, bis ich das Ganze zusammengefügt hatte. – Sie, Mylord, haben sich Ihrer Gattin anvertraut, als Sie damals vom Pferde fielen. Sie mußte Ihnen feierlich geloben, die Sache nie wieder zu erwähnen und alles aus ihrer Erinnerung zu streichen. Aber sie sah, daß Sie seelisch litten, und deshalb bestellte sie heimlich den Detektiv Rablay aus Allahabad hierher, der das Geheimnis der Rikscha aufklären sollte. Er war Ethel Parell und ihren Brüdern fraglos dicht auf den Fersen. Die Brüder Parell machten ihn daher für alle Zeiten stumm. – Ich war vorhin im Polizeigefängnis. Ethel hat ein reumütiges Geständnis abgelegt. Sie ist als grauhaarige Malerin Elizabet Tompkins mit zwei Dienern – ihren Brüdern – hierher gekommen, um Sie, der Sie als geborener Schotte zum Aberglauben neigen, durch die Gespenster-Rikscha allmählich dem Wahnsinn zuzutreiben. Archibald Parell wollte sich gleichzeitig an Ihnen rächen, weil er auf Ihre Veranlassung mit Gefängnis bestraft worden ist. Die Ermordung Rablays geschah gegen Ethels Willen. Auch Schraut und mich wollte sie heute nur einschüchtern. Aber ihre Brüder fürchteten mich und hofften, uns beseitigt zu haben. Lady Lydia raubten die Brüder nur, weil sie sie mit Ihrer Gemahlin verwechselt hatten. Sie hatten die Falsche weggeschleppt und ließen sie daher wieder frei. – Jedenfalls brauchen Sie sich jetzt keine Gewissensbisse mehr zu machen, Mylord. Ethel Parell lebt und läßt Sie herzlich bitten, ihr zu verzeihen. Ihre Reue ist fraglos echt.“

Ethel wurde sehr bald aus der Haft entlassen und verschwand aus Indien. Ihre Brüder sitzen noch heute im Europäer-Zuchthaus in Bombay.

Ich habe nun nichts mehr hinzuzufügen. Höchstens das eine, daß Haralds Brandblasen am Handgelenk sehr schnell verheilten und ihm in keiner Weise hinderlich waren, Doktor Gramsys Bitte zu erfüllen, noch ein zweites Geheimnis in Bhopal aufzuklären, das ich unter dem Titel:

Die beiden Brahmanen

schildern will.

 

 

Die beiden Brahmanen.

 

Erstes Kapitel.

„Die Sache ist folgende, Mr. Harst,“ begann Doktor Lionel Gramsy, der Residenturarzt in der Hauptstadt des zentralindischen Vasallenstaates Bhopal. „Mir liegt die Überwachung der behördlich angeordneten Vorbeugungsmaßregeln gegen Seuchengefahr ob. Vor einem halben Jahre mußte ich das Eingeborenenviertel unserer Residenzstadt daraufhin revidieren, ob die sanitären Vorschriften hinsichtlich der Ableitung der Schmutzwässer auf den einzelnen Grundstücken befolgt seien. Am sogenannten Schamri-Kanal, einem toten Arm des Betowa-Flusses, an dem unsere Stadt bekanntlich liegt, fand ich nun die Ruine eines kleinen Schlosses bewohnt vor. Dieses alte Schloß gehört dem Exminister Dscham Dauli, der jetzt auf Ihre Veranlassung wegen Entführung einer Europäerin verhaftet worden ist. Die Insassen der Ruine, die in den unteren Räumen sich noch leidlich für Wohnzwecke eignet, waren zwei aus Nordindien zugewanderte Brahmanen, alte Leute, die nur sehr wenig Englisch verstanden. – Dies als Einleitung.“

Doktor Gramsy hob sein Bowlenglas und trank uns zu. Wir saßen auf der zu seinem reizenden Bungalow gehörigen Veranda. Es war ein prächtiger, nicht zu heißer Abend. Außer Harald Harst und mir saß noch mit am Tisch Doktor Gramsys Gattin, eine Eurasierin (Mischling zwischen Weißem und Inderin) von blendender Schönheit und zwangloser, vornehmer Liebenswürdigkeit.

„Ich mußte damals sehr lange gegen die schwere, geschnitzte Pforte der Schloßruine donnern, bevor mir geöffnet wurde,“ fuhr der Doktor fort. „Der alte Brahmane, der mir öffnete, war merkwürdig verlegen und unruhig. Er führte mich links in den einen kleinen, leeren Saal, wo ich mich dann als Residenturarzt legitimierte und verlangte, durch das Grundstück geführt zu werden. Das Schlößchen – es heißt hier allgemein die Dschanna-Burg, liegt inmitten eines völlig verwilderten Parkes, dessen Rückseite an den erwähnten Kanal grenzt. Der Brahmane zeigte mir dann freiwillig ein Schriftstück, dessen Inhalt besagte, daß Exminister Dauli den Brahmanen Savimandra und Tumaru die Ruine auf ein Jahr vermietet habe. Während ich diese Urkunde überflog, stand Savimandra, ein großer, hagerer Greis, neben mir. Als ich ihm das Papier dann wiedergeben wollte und aufblickte, war zu meinem grenzenloser Erstaunen ein anderer Inder, nämlich der zweite Brahmane, Tumaru, neben mir. Man hat sich ja nun mit der Zeit hier in Indien an allerlei Seltsames gewöhnt. Aber dieser Wechsel der Personen in meiner unmittelbaren Nähe und völlig lautlos überraschte mich denn doch. – Der Brahmane schaute mich gleichgültig an und sagte in gebrochenem Englisch:

‚Savimandra läßt sich entschuldigen, Sahib Doktor. Er ist krank an den Beinen. Ich werde Dich führen. Ich heiße Tumaru.‘

Dieser Tumaru ist klein und bucklig. Seine Augen gefielen mir von vornherein nicht. Es lag ein Ausdruck von Hinterlist, Europäerhaß und überlegenem Hohn darin. Er merkte, daß dieser Austausch der Personen mich etwas stark irritiert hatte, und er kostete den Triumph mit schlecht verhehlter Freude aus, mich in Verwirrung gebracht zu haben. – Nun, es kam noch besser. Wir gingen um die Ruine herum. Plötzlich sprang aus den Mauertrümmern eines eingestürzten Turmes ein Panther heraus, duckte sich vor mir zum Sprunge zusammen und zwang mich, schnell hinter dem Buckligen Deckung zu nehmen. Tumaru riß seinen mantelartigen Überwurf von den Schultern, faßte ihn so, daß er sich im Schwunge glatt ausbreitete und deckte ihn über die vor Wut geifernde Bestie, so daß sie völlig darunter verschwand.

Dann, Mr. Harst, – dann erlebte ich etwas, das man in ähnlicher Art nur bei den besten Yogis, den indischen Zauberern zu sehen bekommt.

Tumaru trat hinter mich, sagte mit seiner monotonen, tiefen Stimme:

‚Sahib Doktor, zieh’ den Mantel getrost weg.‘

Ich ahnte, daß es sich hier um ein Yogikunststück handelte.

Unter dem Mantel bewegte sich der Panther fortgesetzt und schien sich halb aufzurichten.

Ich packte den Stoff und sprang damit zur Vorsicht nach der Seite hinter einen Mauerblock.

Und – was sah ich nun? – Sie werden es niemals raten, Mr. Harst?“

Harald lächelte.

„Vielleicht doch. – Sie sahen einen Menschen anstatt des Panthers.“

„Wahrhaftig. Sie lesen einem wohl die Gedanken von dem Gesicht ab?“

„Vielfach ja, Mr. Gramsy.“

„Nun gut. Also einen Menschen,“ nickte der Doktor. „Doch – was für einen Menschen?“

„Es war eine junge Inderin, sehr hellhäutig, mit wundervollen, großen, melancholischen Augen, gekleidet in kostbare indische Stoffe aus den Webereien in Dehli,“ sagte Harald gleichmütig.

Wir drei waren sprachlos. Und Gramsy rief erst nach ein paar Sekunden, förmlich nach Luft schnappend:

„Das – das ist einfach unglaublich! Ich habe doch nur Mia von diesem Abenteuer erzählt, sonst niemandem. Sie sind wirklich der reine Hexenmeister, Mr. Harst.“

„Es gibt weder Hexenmeister, noch Dinge, die sich nicht erklären lassen,“ entgegnete Harst. „Die Sache ist sehr einfach, Mr. Gramsy. Vorgestern, als ich Sie zum ersten Male der Gespenster-Rikscha wegen besuchte, deuteten Sie ja bereits dieses Geheimnis, das Ihrer Ansicht nach mit den beiden Brahmanen verknüpft ist, kurz an und nannten auch den Namen der Schloßruine. Sie luden uns zu heute ein und wollten uns dann das Nähere erzählen. Ich hatte also Zeit, mich schon vorher so etwas über die Örtlichkeit und die beiden geheimnisvollen Inder zu unterrichten. Als indischer Bettler verkleidet besuchte ich den Park des Schlosses und habe mich an dem lieblichen Gesange der jungen Inderin erfreut, die oben in einer Fensteröffnung des halb eingestürzten Turmes saß und so gekleidet war, wie ich soeben andeutete.“

Gramsy lachte.

„Allerdings – einfacher konnte die Erklärung nicht sein! Ja – sie war es, die sich nun aufrichtete, als ich den Überwurf des Buckligen weggezogen hatte. Sie schaute mich, der wie versteinert dastand, erst an und ging dann in den Park hinein. Ich folgte ihr mit den Blicken und gewahrte erst nachher, daß abermals neben mir ein Wechsel der Personen stattgefunden hatte. Tumaru war verschwunden und an seiner Stelle bemerkte ich den langen, hageren Savimandra, der nun gelassen erklärte:

‚Sahib Doktor, es ist meine Urenkelin, die Du soeben[8] sahst. Sie teilt unsere Einsamkeit. Sie ist eine Gandagri.‘

– Wissen Sie, was eine Gandagri ist, Mr. Harst?“

„Ja. Der Ausdruck bedeutet wörtlich übersetzt: „Eine Verbrannte“. Sie ist also eine jener Witwen, die, noch als Kind einem Knaben angetraut, wie dies unter den Hindu Sitte, ihren Gatten verlor, bevor die Ehe wirklich vollzogen war. Diese jungfräulichen Witwen gelten hier als von den Göttern gezeichnet. Man verachtet sie, und die Bezeichnung Gandagri, „Verbrannte“, ist der Hinweis auf den uralten Brauch der Witwenverbrennung.“

„Sehr richtig, Mr. Harst. Diese armen Geschöpfe sind tatsächlich bemitleidenswert. Sie meiden die Menschen und werden gemieden. – Doch, zurück zu unserem Thema. Ich schritt weiter und zwang den Brahmanen so, mir zu folgen.

Wir kamen am Ostflügel des Schlosses vorbei. Hier ist der untere Teil der Mauer eingestürzt. Man kann daher einen langgestreckten Raum überblicken, mit wundervollem Goldmosaik an den marmorgetäfelten Wänden.

Ich stutzte plötzlich, nein, ehrlich: ich prallte förmlich zurück –

In dem Saale hatte ich einen ausgewachsenen Tiger bemerkt, auf dessen Rücken – Ja, nun raten Sie mal, Mr. Harst, – was saß wohl auf dem Rücken des Raubtieres?“

„Bedaure. Hier versage ich –,“ meinte Harald, der jetzt mit größter Spannung zugehört hatte.

„Nun – da saß der bucklige Tumaru – aber ohne Kopf –! Seinen Kopf aber hatte der Tiger im Rachen. Ich erkannte ganz deutlich, wie aus der Schnittfläche des Halses Blut herablief und wie dort, wo die Tigerzähne den Schädel samt dem Turban gepackt hatten, feine Blutstreifen herabrannen. Ich drehe mich rasch nach Savimandra um. Er schaute gleichgültig ins Leere.

‚Was – was bedeutet das?‘ frage ich verwirrt.

‚Was denn, Sahib Doktor?‘

‚Dort – der Tiger und –‘

Ich hatte den Kopf wieder gedreht. Ich beuge mich vor; am liebsten hätte ich mir die Augen gerieben –“

„Also waren der Tiger und der kopflose Bucklige verschwunden,“ meinte Harald.

„Nur der Tiger, Mr. Harst, nur der Tiger. Tumaru stand in dem Saale und fütterte eine Ziege, die dort angebunden war –“

„Was geschah dann, Mr. Gramsy,“ fragte Harald gespannt.

„Nun – ehrlich, Mr. Harst: ich bekam einen kleinen Wutanfall, brüllte den langen Inder an und verbat mir, mit einem Regierungsbeamten sich derartigen Unfug herauszunehmen. Er war scheinbar maßlos erstaunt, fragte sehr unterwürfig, was ich denn eigentlich meine. Da riß mir vollends der Geduldsfaden. Ich packte den alten Kerl vorn an seiner weißen Brahmanenschnur und brüllte noch lauter:

‚Es ist verboten, in der Stadt Raubtiere zu halten! Ihr habt einen Panther und einen Tiger, und das kostet Gefängnis!‘

Der Blick fanatischen Hasses, der mich aus den Augen des Brahmanen traf, brachte mich zur Besinnung. Ich ließ den Halunken los.

Und er – er erklärte mit stoischer Ruhe:

‚Ein Panther – ein Tiger, Sahib Doktor?! – Hole die Polizei. Nein, mag Tumaru sie sofort herbeirufen. Wir werden beweisen, daß es hier kein Raubtier gibt.‘

‚Und der Panther, den Tumaru mit seinem Mantel bedeckte?‘ fragte ich bereits etwas unsicher.

Savimandra rief Tumaru an. Der kam eilends zu uns.

‚Der Sahib Doktor spricht etwas von einem Panther, den Du bedeckt haben sollst,‘ sagte der lange Brahmane zu dem Buckligen.

‚Panther – Panther?‘ Der kleine Kerl glotzte mich an, als ob ich verrückt sei. ‚Ah‘, rief er dann, ‚deshalb sprang der Sahib Doktor so ängstlich zurück, als er den Stoff wegriß. – Folge mir bitte,‘ fügte er hinzu.

Und ich ging wie im Traum hinter ihm her bis zu jener Stelle, wo ich den Panther erblickt hatte. Dort – weidete jetzt – ein angepflocktes Schaf –

Tumaru nahm sein Obergewand, schwang es durch die Luft, warf es über das harmlose Tier.

‚Zieh’ es wieder weg, Sahib Doktor!‘ – Ich tat es widerwillig. Ich dachte, ich würde die hübsche Inderin dadurch wieder hervorzaubern. Aber – es – es war –“

„Der Panther –,“ vollendete Harald schnell.

 

Zweites Kapitel.

Doktor Gramsy wiederholte mit schwerer Zunge:

„Ja – der Panther, Mr. Harst –! – Die Bestie saß wieder wie vorhin zum Sprunge zusammengeduckt da – Und – wissen Sie, was ich nun tat? Ich – ich machte kehrt und ging davon, verließ den Park, trat wieder auf die Straße hinaus, war froh, als eine kreischende Schar von nackten braunen Kindern mich umtobte. Ich bestieg meine Rikscha, die hier auf mich gewartet hatte, fuhr nach Hause und – trank ein Sherryglas Kognak aus.“

„Ganz blaß und verstört war Lionel damals,“ sagte die schöne Frau Doktor leise. „Lionel hat mir dann alles erzählt und mir versprechen müssen, nie wieder dorthin zu gehen.“

„Nun werden Sie mich auslachen, weil ich tatsächlich nicht mehr hingegangen bin,“ fügte Gramsy etwas kleinlaut hinzu. „Gelegenheit hätte ich dazu genug gehabt. Wir hatten damals hier ein paar Pestfälle, und da sollte das Eingeborenenviertel scharf auf etwa verheimlichte Todesfälle kontrolliert werden. Ich schickte einfach Kommissar Drenga Mirar von der hiesigen Polizei hin –“

„Ah – das ist der indische Untergebene Detektivinspektor Kippwrays –“

„Ja. Ein sehr gebildeter junger Mensch.“

„Und dem Kommissar ist nie etwas Ähnliches wie Ihnen begegnet?“

„Nie. Wenigstens muß ich das annehmen. Sonst hätte er wohl darüber gesprochen. Ich stehe sehr gut mit ihm. Er geht bei uns ganz zwanglos aus und ein.“

„Sie haben Ihr damaliges Erlebnis also niemandem außer Ihrer Gattin mitgeteilt, Mr. Gramsy?“

„Nein, niemandem sonst.“

„Sie wünschen nun, daß ich diese Dinge aufkläre, Mr. Gramsy.“

„Nein – nicht so sehr diese seltsamen Vorfälle mit dem Panther und dem Tiger, vielmehr die geheime Absicht, die dahinter steckt.“

„Haben die Brahmanen sich hier sonstwie auffällig benommen,“ fragte Harst.

„Man sieht sie überhaupt nicht. Nur die hübsche Inderin geht zuweilen aus und macht Einkäufe. Die drei Leute leben wie die Einsiedler.“

„Haben Sie sich bereits eine bestimmte Ansicht gebildet, Mr. Harst?“ fragte jetzt Frau Maria (daher der Kosename Mia!) lebhaft.

„Soll ich lügen?“ entgegnete Harst mit feinem Lächeln. „Wenn ich nein sage, entgehe ich Ihren weiteren Fragen und – lüge. Wenn ich ja sage, werden Sie mit dem Vorrecht der Damen, neugierig zu sein, über mich herfallen und wissen wollen, wie meine „Theorie“ lautet.“

„Also haben Sie schon eine Theorie, Mr. Harst?“

„Vielleicht –“

„Aber – das ist doch nicht möglich!“ rief Frau Gramsy kopfschüttelnd.

„Es ist Tatsache,“ erklärte Harst ernst. Er holte sein Taschenbuch hervor und riß eine Seite heraus, schrieb einige Worte mit Bleistift darauf, rollte das Blatt eng zusammen und reichte es der Hausfrau.

„Bitte – bewahren Sie es sorgfältig auf und lesen Sie es erst, wenn ich Sie dazu auffordere. Dann werden Sie durch meine Zeilen den Beweis erhalten, daß ich die Theorie in großen Zügen wirklich bereits entworfen hatte, als ich dieses Glas auf Ihr Wohl leerte.“

Er trank der reizenden Frau mit einer Verbeugung zu. Bald darauf verabschiedeten wir uns.

Es war jetzt halb elf Uhr. Der Mond war am Himmel erschienen, wurde aber durch ziehende Wolken zeitweise verdeckt. Hier im Europäerviertel waren die sauberen Straßen tadellos erleuchtet.

Harald hatte mich untergehakt und sagte nun, als wir einige fünfzig Schritt von der Gartenpforte des Bungalow des Doktors entfernt waren:

„Ich bin gespannt, ob der Trick glücken wird –“

„Trick?“

„Ja. – Es ist allerdings die Frage, ob das andere glückt. Wir wurden nämlich belauscht –“

„Auf der Veranda soeben?“

„Ja. Und der Zettel ist der Trick. Ich gab Frau Gramsy das Blatt Papier in der Hoffnung, daß der Lauscher versuchen wird, es zu stehlen, weil er eben großes Interesse daran hat, zu wissen, was ich zu wissen glaube.“

Zwei leere Rikschas kamen an uns vorüber. Die Rikschakulis riefen uns an.

Harald winkte den Leuten. „Der Abend ist so köstlich, mein Alter, daß ich mir mal das Schloß der Begum (Fürstin von Bhopal) bei Mondlicht ansehen möchte. Steigen wir ein –“

Unsere Rikschas rollten nebeneinander her. Wir konnten uns bequem unterhalten. Wir sprachen natürlich deutsch und brauchten daher nicht zu fürchten, von den Rikschakulis verstanden zu werden.

„Das Erlebnis Gramsys würde man daheim in Deutschland für die Ausgeburt der Phantasie eines Irrsinnigen halten,“ begann Harald und hatte schon wieder eine brennende Zigarette zwischen den Fingern. „Hier im Lande der Yogis, der Zauberer, Schlangenbeschwörer und freiwilligen Toten –“

Er rief den Rikschakulis plötzlich ein „Dwarsa – Dwarsa!“ (Halt, halt) zu.

Die leichten Wägelchen hielten. Harald deutete rechts auf den Fußgängerweg. Dort hockte ein frommer Yogi auf einem Brett, durch das lange, spitze Nägel geschlagen waren. Der Inder saß auf diesen Nagelspitzen[9], hatte die nackten Fußsohlen gleichfalls auf die Nägel gesetzt und murmelte in einem fort dasselbe Wort:

„Brahma – Brahma – Brahma –“

Schon gestern vormittag hatte er an diesem Platze gesessen. – Wir stiegen aus. Harst reichte ihm eine Goldmünze, fragte:

„Kannst Du uns noch ein besonderes Kunststück zeigen?“

Der Yogi hatte das Geldstück schnell an sich genommen, kümmerte sich im übrigen aber nicht im geringsten um uns, sondern schnatterte sein „Brahma – Brahma – Brahma“ unaufhörlich weiter.

Harald wandte sich ab und zog mich mit sich fort.

„Schade, ich hätte mich mit diesem Yogi gern angefreundet und ihn gefragt, wie er sich die Erlebnisse Gramsys erklärt. Natürlich hätte ich die Geschichte anderswohin verlegt und mich als den „Helden“ hingestellt, der den kopflosen Tigerreiter gesehen hat.“

Da – hinter uns die Stimme eines der Rikschakulis:

„Sahib, Sahib –!“

Wir drehten uns um. Ganz dicht vor dem Yogi stand ein Mast der elektrischen Straßenbeleuchtung mit einer Bogenlampe.

Ah – der alte Kerl da auf seinem Stachelbrett winkte uns.

Wir gingen wieder zu ihm. Er brabbelte sein „Brahma – Brahma – Brahma“ ohne Unterlaß, deutete uns gleichzeitig aber durch Gesten an, daß wir ihm nur folgen sollten. Dann machte er die Fingerbewegung des Geldzählens.

Harald lachte. „Das scheint die Hauptsache zu sein!“ – Er reichte ihm eine Fünfpfundnote.

Der Alte schüttelte den Kopf. Harald gab ihm noch eine Fünfpfundnote. Da stand der Yogi auf, nahm sein Stachelbrett auf den Rücken und schritt rechts in die Parkanlagen hinein, die hier vor der Stadt sich am Flusse hinzogen.

Ich bezahlte noch schnell die Rikschakulis und dann wanderten wir hinter dem Inder drein.

Nach einer Weile blinkte vor uns der Betowa-Fluß auf. Der Yogi kettete von einer kleinen Landungsbrücke einen Nachen los und winkte uns, in der Mitte des Kahnes auf dem Sitzbrett Platz zu nehmen. Auch nicht eine Sekunde hörte er mit seinem „Brahma – Brahma – Brahma“ auf.

Von der Betowa zweigen sehr viele Kanäle und Bewässerungsgräben ab. Nach zehn Minuten hatten wir einen ganz schmalen Graben erreicht, der uns nun im Bogen in das Hinduviertel der Stadt führte. Die ganze Fahrt dauerte etwa einige zwanzig Minuten.

Der Yogi trieb jetzt den Nachen in ein Bassin hinein, kettete ihn hier an, nahm sein Stachelkissen auf und stieg an Land. Dort erhob sich, hell vom Monde beschienen, ein langgestrecktes, niedriges, schilfgedecktes Häuschen aus Schlammziegeln. Es sah wie ein Stall aus.

Der „Brahma-Anrufer“ schritt an dem Bauwerk entlang, öffnete dann eine Holztür und brachte uns, nachdem er eine Öllaterne angezündet hatte, in einen Raum, in dem linker Hand auf Maisstroh zwei Ziegen lagen, während rechts neben der Tür zwei Schafe in einem Verschlage uns verschlafen anglotzten. Neben diesem Verschlage bemerkte ich etwas wie einen Kochherd aus Schlammziegeln. Auf diesen Herd stellte der Alte die Laterne und – setzte sich nun so eilig auf seinen Stacheldiwan, als entbehrte er bereits den Genuß der vielen Nagelspitzen.

 

Drittes Kapitel.

Harald lehnte sich an die Schafhürde und begann dem Yogi zu erzählen, was er angeblich droben in Amritsar erlebt hatte: mit einem Panther, der sich in ein Mädchen verwandelte und einem Tiger, auf dem ein Yogi ohne Kopf gesessen hätte.

Unser Freund machte eine verächtliche Handbewegung. Er wollte wohl andeuten, das sei für ihn alles ein überwundener Standpunkt.

„Zeige uns Besseres oder erkläre uns das, was ich gesehen habe,“ meinte Harald.

Der Alte wies auf eine Leiter, die drüben auf der Ziegenseite am Boden lag. Dann deutete er nach oben. Die Decke dieser primitiven, von den übelsten Düften angefüllten Behausung war aus roh behauenen, dünnen Bäumen hergestellt. In der Mitte hatte sie ein viereckiges Loch. Es gab da also fraglos noch einen Heuboden.

Harald holte die Leiter und lehnte sie in diese Öffnung hinein.

Der Alte machte uns klar, wir sollten hinaufklettern. Harst stieg als erster empor. Dann folgte der Yogi, und ich machte den Beschluß.

Offen gesagt: jetzt begann mir dieses Abenteuer unheimlich zu werden. – Aber Harald schien nicht im geringsten mißtrauisch zu sein. Und deshalb suchte ich mich wieder zu beruhigen. Aber ein Rest Argwohn blieb doch in mir rege, und – das war zu unserem Glück!

Der Boden war so niedrig, daß wir kriechen mußten. Der Alte mit der trübe brennenden Laterne schob sich auf allen Vieren vor uns her. Als zweiter kam Harst. Ich machte den Beschluß.

Es gab hier eine Schicht muffiges Heu. Der Staub kitzelte so in der Nase, daß ich niesen mußte. Trotzdem bewirkte der Rest von Argwohn, daß ich in die Schlüsseltasche der Beinkleider griff, die treue Clement-Pistole herausholte und entsichert in der rechten Hand behielt.

Da – die Laterne erlosch plötzlich. Gleichzeitig brüllte der Yogi mit voller Lungenkraft:

„Brahma – Brahma – Brahma –!“

Im selben Moment senkte sich die Balkendecke unter mir, und ich plumpste nicht allzu tief auf etwas Weiches, das blitzschnell unter mir forthuschte.

Ich hatte mich nicht verletzt. Ich saß aufrecht da.

Es gibt Augenblicke im Leben, wo unser Hirn äußere Eindrücke der verschiedensten Art mit Blitzesschnelle verarbeitet, das heißt, logisch aneinanderpaßt.

So auch jetzt. Das erste war der weiche Körper gewesen – fraglos ein Tier. – Dann roch ich deutlich jenen charakteristischen Geruch, der allen Raubtierhäusern im Zoologischen Garten anhaftet. Dann bemerkte ich rechts vor mir zwei gelblich-grüne, helle Punkte. Und dabei war es hier stockdunkel. – Die leuchtenden Punkte lagen etwa eine Handbreit auseinander, änderten ihren Platz, behielten aber dieselbe Entfernung voneinander bei.

Raubtieraugen! blitzte ein Gedanke in mir auf. Und als nächster: der Tiger – der Tiger des Doktors Gramsy –!

Ich hob den Arm. Zielen konnte ich nicht. Aber bis zu den Raubtieraugen waren es keine drei Meter.

Ich drückte ab – nochmals – nochmals –, alle neun Schuß feuerte ich ab –

Ein dumpfes Brüllen –

Die gelbgrünen Lichter schwebten plötzlich auf mich zu. Ich schnellte mich nach vorn. Das Tier streifte nur meine Füße –

Da – wieder Schüsse. Diesmal feuerte Harald; wieder das schauerliche Brüllen, dann ein dumpfes Winseln –

Ein weißer Lichtkegel sprang aus der Finsternis auf, irrte umher, beleuchtete jetzt den mächtigen Körper eines regungslos daliegenden bengalischen Tigers –

Harsts Taschenlampe suchte mich.

„Verwundet, mein Alter?“ fragte er.

Ich richtete mich taumelnd auf. „Nein! Und Du?“

„Ich war auf den rechten Ellenbogen gefallen, und der Arm gehorchte mir nicht sofort.“

Wir standen vor dem Tiger.

„Lieber Alter, wenn Du nicht die Pistole bereit gehabt hättest, würden wir hier nicht lebend herausgekommen sein. Ich war diesmal unverantwortlich vertrauensselig. Jetzt erst durchschaue ich –“ Er schwieg. „Erst laden – schleunigst!“ fügte er hinzu.

Wir füllten die Patronenrahmen.

„So. Nun mag auch der Panther kommen,“ sagte er. „Aber – die Schurken werden sich hüten, sich nochmals an uns heranzuwagen. – Die Geschichte hängt also so zusammen, denke ich. Die beiden Rikschas waren „bestellte Arbeit“, das heißt, sie lauerten uns auf. Wir nahmen sie dann auch. Die Rikschakulis hatten fraglos Befehl, uns irgendwie zu beseitigen. Ihnen kam also die Fahrt nach dem Schloß der Begum sehr gelegen. Es war ihnen genau so lieb, daß wir dann den Yogi ansprachen. Erst wollte der Halunke nichts von uns wissen. Als wir davongingen, werden die Rikschakulis ihn schnell instruiert haben. Daher riefen sie uns zurück. Während der Bootsfahrt hatten sie Zeit, hier die Balken der Decke über dem Tigerstall durchzusägen und so durch Pfähle abzustützen, daß sie diese mit Leinen wegreißen konnten, nachdem der Yogi sein Signal gebrüllt hatte. Bitte – da liegen die Stammstücke; da sind die frischen Sägeflächen, da die Pfähle und die Stricke, die dort in den Nebenstall laufen. Ich –“

Er hatte mir plötzlich einen Stoß gegeben. Ich flog zur Seite. Ein dunkler Tierkörper war wie ein Blitz auf Harald zugesprungen – der Panther!

Harst hatte sich gleichzeitig der Länge nach hingeworfen, so daß die Bestie nur seine Beine erreichte. Ebenso schnell drehte er den Oberleib herum, hielt dem Panther die Taschenlampe dicht vor die Augen. Das völlig geblendete Raubtier knurrte dumpf –

Und wieder war ich es, der zuerst zum Schuß kam. Vier Patronen genügten. Der Panther schnellte hoch, fiel auf die Seite, scharrte mit den Pranken den Boden und lag still.

Dann – und ich wußte nicht, was Harst damit bezweckte – dann schoß er auf gut Glück in die Bretterwand hinein, in der sich eine kleine Tür abzeichnete, durch die man den Panther eingelassen hatte.

Jetzt – ein gellender, kurzer Aufschrei – dicht neben uns – offenbar im Nachbarstall.

„Ah – also doch!“ rief Harald und sprang auf, stieß mit dem Fuß gegen die kleine Holztür. Sie widerstand.

Drüben kein Laut mehr.

„Einer der Schufte hat seinen Denkzettel weg,“ sagte Harald ingrimmig. „Jetzt werden sie wohl genug haben –!“

Doch – diese Nacht hatte noch längst nicht ihre ganzen Schrecken für uns offenbart.

Von oben drang plötzlich durch das längliche Loch in der Balkendecke ein sehr verdächtiger heller Lichtschein zu uns herab.

„Feuer!“ rief ich. „Der Heuboden brennt!“

Harst untersuchte schon die Wände. Sie waren mit Brettern verkleidet. Und das Holz war jenes blauschwarze Alkaria-Holz, das hart wie Eisen ist.

Es gab hier nur die eine kleine Tür. Und über uns flammte bereits der ganze Bodenraum wie Zunder auf. Die ersten Hitzewellen kamen herab, die ersten Qualmschwaden –

„Die Stützen, Schraut!“ sagte Harst jetzt. „Nur Ruhe! Wir beide werden doch wohl mit so einem Balken als Rammbock die Tür eindrücken!“

Er legte die Taschenlampe so auf den Leib des Tigers, daß der Lichtkreis die Tür traf.

Wir packten zu – Drei Stöße genügten. Die Tür flog nach der anderen Seite aus den Gelenken.

Harald war schon hinaus; ich dicht hinter ihm. Hier in dem Pantherstall gab es einen Ausgang ins Freie; diese Tür war nur angelehnt.

Die feurige Lohe hatte sich schon durch das Binsendach hindurchgefressen. Wir liefen auf einen Holzzaun zu, überkletterten ihn, kamen über einen Hof, überstiegen einen zweiten Zaun und waren in einer der engen Gassen des Hinduviertels.

Jetzt gingen wir langsam. Hinter uns brannte der lange Stall lichterloh, wurde es auch in den Häusern lebendig.

„Zur Polizei!“ sagte Harald. „Wir müssen Anzeige erstatten. Das Reden besorge ich. Die Anzeige muß so gehalten sein, als ob wir annehmen, der Yogi habe uns ermorden wollen. Von den beiden Brahmanen kein Wort. Die Schufte müssen glauben, wir hätten keinerlei Verdacht gegen sie. Diese Anzeige wird sehr natürlich wirken. Jeder handelte so.“

Eine halbe Stunde später hatten wir auf der Polizeiwache alles zu Protokoll gegeben – in Gegenwart von fünf eingeborenen Polizisten. Also wußte morgen früh die ganze Stadt davon.

Unsere Anzüge waren stark beschmutzt und stanken nur zu eindringlich nach „Raubtier“. Der Polizeiwachtmeister schickte sofort seine Leute zur Verfolgung des Yogi aus, den hier in Bhopal, wie er uns erklärte, jeder kannte.

Wir verabschiedeten uns und gingen heim. Wir waren als Gäste des Residenten Lord Scheldon in dessen palastartigem Hause im zweiten Stock untergebracht. Nachdem wir dort noch ein Bad genommen und unsere Anzüge dem uns zugeteilten Diener zum Reinigen gegeben hatten, saßen wir noch eine halbe Stunde auf und erholten uns bei einem Schluck Nepalwein von den Aufregungen dieser Nacht.

Harald konnte mir gar nicht genug Lob spenden, weil ich heute der Mißtrauischere gewesen war.

„Hör’ endlich auf,“ meinte ich. „Sage mir lieber, was Du auf den Zettel geschrieben hast, den Du Frau Gramsy gabst.“

„Gut, mein Alter, – eigentlich sollte das ja für Dich eine Überraschung werden. Also ich habe geschrieben:

„Du hast etwas gestohlen, was Dir nichts nützt. Sei vorsichtig.“

Das steht auf dem Zettel.“

„Harald, Du – Du schwindelst –!“

„Nein, wirklich nicht. Heute nacht Dich belügen, hieße undankbar wie ein heuchlerischer Kopte sein!“

 

Viertes Kapitel.

Ich stutzte. Wie kam Harald plötzlich auf die Sekte der Kopten? Lag dem eine bestimmte Absicht zugrunde?

Ich blickte ihn forschend an. Das half nicht viel. Er gähnte jetzt sehr ungeniert.

„Die Müdigkeit kommt,“ meinte er. „Wir tun gut, diese Nacht recht schnell zu schlafen. Um sieben Uhr werde ich Dich wecken, mein Alter. Um neun Uhr geht der Zug nach Bombay ab. Wir werden Scheldons sehr enttäuschen, weil wir so plötzlich den Staub Bhopals von unseren Füßen schütteln.“ Er flüsterte jetzt. „Wir haben ja in dem nahen Städtchen Sehar einen guten Freund in dem poltrigen Polizeimeister Sampson. Der alte Haudegen wird sich freuen, uns wiederzusehen.“

„Hm – wenn wir dort den Zug verlassen, kann dies auffallen und –“

„Wir werden ihn anders verlassen – So, nun ins Bett.“

Um halb acht Uhr morgens saßen wir mit Scheldons und Lady Lydia am Frühstückstisch unter der riesigen Fächerpalme im Parke.

Dann brachte man uns zur Bahn. Natürlich mit allem Gepränge, wie es der Stellung eines Residenten und der Bedeutung eines Harald Harst zukam.

„So,“ meinte Harald, als sich der Zug in Bewegung setzte, und setzte sich in die Fensterecke, „das wäre überstanden. Nun paß mal auf, mein Alter. Wenn wir nach anderthalb Stunden in den Bahnhof Sehar einlaufen, dann –“

Der Plan, den er mir entwickelte, war wieder ganz Harald Harst. – Nun – es war nur ein Plänchen. Aber – es glückte glänzend.

Der Zug fuhr langsamer. Harald lehnte im offenen Türfenster. Da – die Tür mußte nicht richtig eingeklinkt gewesen sein, sprang auf und – Harst stürzte auf den Bahnsteig, suchte sich zu erheben, befühlte seinen rechten Fuß und rief ein paar ihm zu Hilfe kommenden Beamten zu:

„Im Gelenk gebrochen. Bitte, besorgen Sie mir einen Wagen und nehmen Sie unser Gepäck schnell heraus. Ich kann so die Fahrt nicht fortsetzen.“

Die Szene hatte eine große Menge Zuschauer. In allen Zugfenstern lehnten Leute. Der Name Harst flog von Mund zu Munde.

Der Wagen brachte uns zu Major a. D. und Polizeimeister Sampson. Der weißbärtige Junggeselle war um den „armen“ Harst so rührend bemüht, daß die Komödie diesem peinlich wurde und er ihm bei erster Gelegenheit zuraunte:

„Der Fuß ist ja heil; der Knöchelbruch nur so ein bescheidenes Trickchen zur Täuschung von Spionen.“

Trotzdem wurde Harald erst abends nach Dunkelwerden „gesund“. Bis dahin hatte er auf der Veranda im Faulenzer gelegen.

Ja – er wurde gesund und wurde wie ich mit Hilfe unseres Requisitenkoffers ein waschechter chinesischer Händler, wie man sie selbst in dem verborgensten Winkel des indischen Riesenreiches antrifft.

Sampson hatte den Tag über für uns wenig Zeit gehabt. Er tat mit dem, was er vorhatte, sehr geheimnisvoll.

„Dienstsache, lieber Mr. Harst!“ erklärte er. „Muß aber ganz diskret behandelt werden. Das wäre etwas für Sie. Gestern kam die Geheimverfügung aus dem Zentralamt in Kalkutta. Sogar in Chiffreschrift. Daraus ersehen Sie schon, daß es sich um etwas ganz Großes handelt. Ich darf Ihnen leider nichts davon mitteilen – nichts.“

„Also wohl politisch?“ meinte Harald.

„Nein, nein, – das nicht. Oder wenigstens nicht so, wie Sie es denken. Im weiteren Sinne spricht da auch die Politik mit –“

„So, – na das interessiert mich nicht weiter –“ sagte Harst. „Politik – nichts zu machen, Mr. Sampson! Das wissen Sie ja.“ –

Es war jetzt elf Uhr abends. Wir saßen in unserem Gastzimmer und tranken bei dicht verhängten Fenstern mit dem Major die Abschiedsflasche.

Sampson kam wieder auf seine heutige Tagesarbeit zu sprechen.

„Verdammt – wie die Herren in Kalkutta es sich wohl denken, aus 262 Millionen Menschen, die es hier in Indien gibt, ein paar ganz geriebene Schurken herauszufinden!“ meinte er. „Ich bin den ganzen Tag herumgelaufen und habe beinahe Haus für Haus abgeklappert, ob – Aber, das interessiert Sie ja nicht. – Hm, haben Sie vielleicht Rupienscheine bei sich?“

„Weshalb?“ fragte Harst kurz und rauchte, offenbar mit den Gedanken anderswo, seine Mirakulum in schnellen Zügen.

„Hm – zeigen Sie mir die Rupienscheine nur,“ lächelte Sampson verschmitzt.

Ich griff in die Tasche und legte meinen Papiergeldvorrat vor ihn hin. Ich führte ja stets die Reisekasse.

Sampson suchte die drei unter den Banknoten befindlichen Tausendrupienscheine heraus, besichtigte sie flüchtig und meinte:

„Na – Sie haben Glück!“

„Glück, Mr. Sampson?“ fragte ich.

„Bedaure: Dienstgeheimnis –!“

Harald war plötzlich aufgestanden und ging im Zimmer hin und her. Dann blieb er am Fenster stehen und sagte:

„Mr. Sampson, einen Augenblick –“

Der Major ging zu ihm. Sie flüsterten miteinander.

Ich beobachtete sie. Der Major sträubte sich offenbar, wollte über irgendetwas mit der Sprache nicht herausrücken. Dann flüsterten sie noch leiser. Aber Sampson schüttelte immer wieder den Kopf.

„Na – wenn Sie durchaus nicht wollen!“ sagte Harald jetzt lauter.

„Ich darf nicht,“ erklärte Sampson kläglich.

Harald hatte gelächelt: „Na, denn nicht. Nehmen Sie unseren Dank für die gastliche Aufnahme. Unsere Koffer senden Sie bitte morgen mit dem Vormittagszuge an Lord Scheldons Adresse.“

Wir schlichen durch den Garten davon. Wir hatten jeder nur ein gewöhnliches, mit Bindfaden umschnürtes Bastkörbchen bei uns, in dem für alle Fälle alles Nötige für eine andere Verkleidung verpackt war.

Um zwölf Uhr nachts ging ein Güterzug nach Bhopal. Für ein gutes Trinkgeld drücken auch indische Bahnbeamte beide Augen zu. Wir wurden in einen nur zur Hälfte mit landwirtschaftlichen Maschinen beladenen offenen Wagen eingeschmuggelt, wo wir unter die Ölplane krochen, mit der eine kleine Lokomobile bedeckt war. Wir machten es uns hier nach Möglichkeit bequem, benutzten die Bastkörbe als Kopfkissen und schliefen auch bald ein. Gewiß, ich hätte Harald noch eine ganze Menge zu fragen gehabt. Aber der Wein war ein nur zu gutes Schlafpulver.

Der Zug sollte um halb vier Uhr morgens in Bhopal eintreffen. Wir also auch. Aber – es kam anders. Wir hatten uns zu sehr darauf verlassen, daß Haralds „Knöchelbruch“ allgemein als echt angesehen worden war. Kurz – wir hatten die Leute, die uns zuerst durch den Yogi mit dem Stachelbrett aus dem Wege räumen lassen wollten, sehr unterschätzt.

Wie lange ich unter dem Einfluß des Weines fest geschlafen hatte, kann ich nicht sagen. Jedenfalls war das Erwachen etwas unangenehm, unerwartet und aufregend.

Ich träumte, daß ich durch herabstürzende Steinmassen verschüttet wurde, daß ein flacher Stein mir die Kehle zudrückte. Träume sind nichts als eine Reaktion unseres Gehirns auf Eindrücke der Vergangenheit oder der Gegenwart, mögen dies nun innere oder äußere Eindrücke sein.

Gesehen hatte ich wenig, bevor mir die Sinne schwanden. Nur daß die Ölplane von einer Seite aufgehoben war und daß ein bartloses, braunes Gesicht mit hellem Turban sich dicht über mir befand.

Die Betäubung war jedoch nicht von langer Dauer. Als ich gefesselt und mit einem Knebel im Munde von dem offenen Güterwagen hinabgeworfen wurde und einen Abhang hinabrollte, war ich schon wieder halb bei Besinnung. Der Zug mußte an dieser Stelle wohl eine Steigung zu überwinden gehabt haben und sehr langsam gefahren sein, denn sonst hätte ich mir Hals und Beine gebrochen.

Ich lag nun unten am Bahndamm zwischen Maisstauden. Die Nacht war hell. Dann flog mir ein Tuch über den Kopf. Ich wurde gepackt und etwa 100 Meter weit getragen. Ich gab nun bereits auf alles sehr genau acht. Dann flog ich auf etwas Weiches, Raschelndes: Maisstroh. Man hatte mich vorher so hoch gehoben, daß ich sofort dachte: man verlädt dich in einen Wagen! Ich hörte auch das unruhige Stampfen eines Pferdes. – Dann nach fünf Minuten etwa leises Flüstern; ein schwerer Körper fiel neben mir in das Stroh: Man bedeckte uns mit allerlei weichen Dingen, – Säcken oder dergleichen. Ich regte mich nicht.

Dann ein Ruck, ein Quietschen schlecht geschmierter Räder –

Also wirklich ein Wagen! – In flottem Trab ratterten wir über eine holprige Straße dahin.

Nach einer Weile raschelte das Stroh. Nun Haralds Stimme:

„Kannst Du mich verstehen? Bist Du bei Besinnung?“

„Ja –!“ wollte ich antworten. Aber der Knebel – der Knebel!

Harald hatte ihn offenbar mit der Zunge herausgestoßen. Ob nicht auch mir dies glücken würde. Es gelang.

„Harald!“ flüsterte ich.

„Ah – Du hast es also auch geschafft! – Sprich getrost lauter. Bei dem Geratter und Gequietsche können die beiden vorn nichts hören. Ich habe mich mit dem Kopf für einen Moment durch die Säcke durchgewühlt. Wir liegen in dem Kasten eines großen Lastwagens. Unsere Fesseln sind nicht abzustreifen. Oder – gelingt es Dir mit den Deinen?“

Ich probierte. Die Stricke waren jedoch um die Handgelenke ganz brutal festgezogen.

„Nein – es geht nicht!“

„Dann müssen wir uns bis ganz nach hinten schieben, uns aufrichten und herabfallen lassen. Die Halunken vorn glauben, wir sind noch bewußtlos. Wenn wir nur ein wenig Glück haben, liegen wir sehr bald auf der Straße. Wir warten, bis eine sandige Strecke kommt, sonst dürften die Püffe beim Sturz doch zu arg werden. Dieser Weg führt zwischen Feldern entlang.“

Nun war es soweit. Harald hatte die Säcke beiseite geschoben. Wir lagen mit den Köpfen dicht am Hinterbrett des Kastens.

„Los!“ flüsterte Harst. –

Wir richteten uns auf, setzten uns auf das Brett, ließen die Oberkörper nach unten hängen, rutschten aus der Kniebeuge auf die Straße. Ich bekam einen gehörigen Schlag gegen den Hinterkopf. Aber was tat’s! Wir waren entschlüpft, rollten uns sofort weiter in ein nahes Gebüsch.

Es war ein leichtes, die Stricke nun aufzuknoten, da wir uns ja Rücken an Rücken legen und jede beliebige Stellung einnehmen konnten. – Zehn Minuten später wanderten wir schon querfeldein dem Bahndamme wieder zu, den Harald von der Spitze eines Baumes aus glücklich erspäht hatte.

Es wurde bald heller und heller. Die Morgendämmerung war da. Wir kamen an eine kleine Bahnstation, wo Harald den indischen Vorsteher durch 200 Rupien leicht bewog, uns mit einer Motordraisine nach Bhopal zu bringen. Den Ausschlag gab dabei allerdings, daß Harst dem Inder seinen Ausweis zeigte, den ihm Lord Scheldon für Indien ausgestellt hatte.

Um fünf Uhr morgens verließen wir dicht vor Bhopal die Draisine und begaben uns zu Fuß in die Stadt, wo im Hinduviertel bereits alles munter war.

Wir hatten bisher nicht viel miteinander gesprochen. Ich hatte von dem Schlag gegen den Hinterkopf starke Kopfschmerzen, und auch die dicke Beule auf der Stirn, die ich den beiden Banditen verdankte, die uns auf dem Güterwagen niedergeschlagen hatten, brannte wie Feuer.

„Wohin nun?“ fragte ich etwas matt. „Zu Scheldons?“

„Nein, mein Alter. Zu unseren lieben Freunden Savimandra und Tumaru, die jetzt ja nicht daheim sind. Sie können allerhöchstens um neun Uhr hier mit dem Morgenzuge anlangen. Sie werden inzwischen wohl schon gemerkt haben, daß wir ihnen ohne ihre Erlaubnis lebewohl gesagt haben.“

Ich glaubte, ihn nicht recht verstanden zu haben.

„Ja, ja,“ meinte er. „Es ist so. Es waren die beiden etwas rätselhaften Brahmanen, lieber Alter.“

„Aber – Tumaru soll doch bucklig sein. Und diese beiden Inder waren jung und bartlos außerdem.“

„Bärte sind anklebbar, und das Alter läßt sich vortäuschen. Das wissen wir am besten. – Ja, sie waren es.“

„So sind sie uns von Bhopal aus doch gefolgt?“

„Natürlich! Und haben den Schwindel mit dem Knöchelbruch durchschaut, haben den Güterzug mit uns zusammen benutzt, sind vom Nachbarwagen des Zuges zu uns herübergeklettert und haben zuerst mich gehörig gewürgt. Ich wehrte mich nach altem Rezept nur schwach. Das Weitere weißt Du. Daß sie es waren, bewies der lange Savimandra, der die linke Hand dick verbunden hatte. Ich habe ihm also in dem Tigerstall durch die Wand hindurch eine Kugel zufällig gerade in die Hand gejagt.“

„Hm – so recht überzeugend in das alles nicht. Die Frage ist ja überhaupt noch ungeklärt, weshalb die beiden uns als Rikschakulis aufgelauert und dann mit dem Stachelbrett-Yogi gemeinsame Sache gemacht haben sollen. Es wäre nun an der Zeit, daß ich auch in diesem Punkte klar sehe.“

„Stimmt, mein Alter. – Zunächst also: als ich die junge hübsche Inderin auf dem Turme beobachtete, hat mich fraglos einer dieser Brahmanen im Parke der Schloßruine bemerkt und ist mir dann nachgeschlichen. Es kann für ihn nachher nicht schwer gewesen sein, festzustellen, wer allein dieser Spion, der in Lord Scheldons Park verschwand, gewesen sein muß. Von da an werden die Halunken uns nicht aus den Augen gelassen haben. Ich habe ja bereits zugegeben, daß ich mich hier in Bhopal völlig sicher fühlte. Ich ahnte nichts von dieser steten Überwachung durch die beiden. Sonst wäre uns die Geschichte mit dem alten Yogi nicht passiert. Und ebenso habe ich mich auch bei Sampson etwas lässig gezeigt. Halt, da sind wir ja schon. Dies ist die Mauer des Parkes der Schloßruine. Ein Parktor gibt es nicht mehr. Nur eine Lattentür. Dort ist sie. Also hinein mit uns –“

Nun begriff ich: Harald wollte die Abwesenheit der Brahmanen zu einer Durchsuchung der Ruine benutzen!

Die Lattentür war nur durch einen Holzriegel verschlossen. Wir traten ein, riegelten wieder hinter uns zu und schritten durch eine wahre Wildnis von Gestrüpp dem durch die Bäume hindurchlugenden Schlosse entgegen.

Harald bog dann aber nach links ab. Wir schlichen weiter, immer durch Gebüsch gedeckt. Dann hatten wir die Rückseite des verfallenen Gebäudes dicht vor uns.

„Ah – das Mädchen!“ hauchte Harst.

Wirklich, die Inderin saß da auf einem der Mauertrümmer, hatte das Gesicht in den Händen vergraben und – weinte still in sich hinein.

Nach einer Weile erhob sie sich. Jetzt sah ich auch ihr hellbraunes, für eine Farbige geradezu liebreizendes Gesicht und die großen, schwarzen, traurigen Augen.

Langsam schritt sie dem kleinen Hofe und dem Bassin des Springbrunnens zu. Sie setzte sich auf den Rand des Bassins auf die dem Hause am nächsten liegende Seite, beugte sich in das Bassin hinab und hob eine flache Steinplatte auf. In ihrem Antlitz, in all ihren Bewegungen offenbarte sich eine müde, trostlose Verzweiflung.

„Näher heran,“ flüsterte Harald. – Wir krochen auf allen Vieren hinter ein paar große Mauertrümmer.

Als ich nun wieder nach der Inderin ausschaute, hatte sie – in der rechten Hand eine große Kobra dicht hinter dem Kopf gepackt und hielt das wütend um ihren Arm sich ringelnde Reptil in Brusthöhe vor sich. Mit der Linken aber schlug sie der Brillenschlange immer wieder mit einem kurzen Zweige gegen den platten Kopf.

Harst kroch plötzlich weiter vor. Das Mädchen, das uns das Profil zukehrte, bemerkte ihn nicht. Nun reckte er den rechten Arm lang. In seiner Hand blinkte matt die kleine Clement-Pistole.

Dann ein kurzer Knall –

Die Inderin ließ die Kobra vor Schreck fallen. Ich hatte noch gesehen, daß der Kopf der Schlange nach dem Schuß nach vorn gesunken war, und die aufgeblähte Haube schlaff wurde.

Harald sprang auf, war mit einem Satz neben dem Mädchen, hob es empor, und trug es zu mir hin, setzte es hier auf einen Mauerblock und sagte freundlich:

„Du hast Dich von der Kobra beißen lassen wollen. Du wolltest sterben. Ist es nicht so?“

 

Fünftes Kapitel.

Die junge Inderin stierte Harald wie einen bösen Geist an. Sie zitterte am ganzen Leibe. Dann rief sie leise:

„Wer – wer bist Du?“

„Ein Freund. – Wie heißt Du?“

„Goda. – Sahib, Du bist kein Chinese, nein. – Du bist –“ Sie schwieg. Wieder lief ein Beben über ihre Gestalt hin.

„Ich bin ein Europäer,“ sagte Harald gütig. „Kennst Du den Namen Harst?“

„Ja – ja. Ich kenne ihn.“

„Nun, ich bin dieser Harst. Hat Kommissar Drenga Mirar Dir meinen Namen genannt?“

„Er – er erzählte von – von der Gespenster-Rikscha –“

„Nannte noch jemand Dir diesen Namen?“

Sie blickte verlegen zu Boden und blieb stumm.

„Tat es der Mann, der sich hier Dein Großvater nennt? Ist Savimandra vielleicht Dein Vater und nicht Dein Großvater? – Goda, Du kannst uns wirklich vertrauen. Du wolltest Dich soeben töten, weil Du unglücklich bist. Wir werden Dich glücklich machen, Goda. Du wirst zu guten Menschen kommen, die Dich liebevoll behandeln. Drenga Mirar hat Dir wohl den Namen Doktor Gramsy genannt. Er verkehrt dort. Frau Doktor Gramsy wird Dich gern aufnehmen. Alle Deine heimlichen Wünsche sollen erfüllt werden, Goda. Das sage ich Dir, ich, Harald Harst, vor dem nichts verborgen bleibt.“

Abermals siegte der Einfluß der Persönlichkeit Haralds – wie so oft schon! Er konnte Herzen zu Tränen rühren, wenn er wollte; er konnte die verstocktesten Seelen öffnen. Ein Zauberer war er – ein Seelenzauberer, ein Seelenbezwinger.

Die hübsche Goda weinte jetzt still in sich hinein. Dann hob sie die schwarzen Augen zu Haralds freundlichem Gesicht.

„Sahib,“ sagte sie leise, „der, der sich hier Savimandra nennt, ist mein Vater. Er hat Deinen Namen außer Drenga Mirar noch erwähnt.“ – Ihr Englisch war tadellos. Ihre Ausdrucksweise verriet Sicherheit und Bildung.

„Ihr habt in Kalkutta gewohnt, bevor Ihr nach Bhopal kamt,“ erklärte Harst nun, halb fragend, halb als Behauptung.

„Du weißt es, Sahib?“ rief sie da erschrocken. Dann senkte sie wie in ihr Schicksal ergeben den Kopf. „Ich vergaß: Du weißt alles, was Du wissen willst,“ fügte sie hinzu.

„Dein Vater zwang Dich, mit ihm zu gehen und hier zu helfen, die Gefahr der Entdeckung zur verringern,“ sagte Harald wieder in demselben nur halb forschenden Tone.

„Ja, Sahib,“ erwiderte sie ganz leise. „Ich bin in Kalkutta in einer Missionsanstalt erzogen. Aber – ich bin nicht Christin geworden.“

„Weshalb wolltest Du Dich von der Kobra beißen lassen, Goda? Was ist geschehen, daß Du so verzweifelt bist?“

„Du weißt es doch, Sahib Harst. Sie hätten Dich und Deinen Freund beinahe getötet. Mein Vater kam in der Nacht mit der zerschossenen Hand heim. Er schwor Dir aufs neue den Tod. Und dann ist er mit seinem Freunde Euch nachgereist. Er hat Dir ja dauernd nachspioniert, nachdem Du hier im Parke gewesen warst. Ich ahnte, daß Du alles entdecken würdest. Aber ich konnte mir nicht denken, daß Du mit mir Mitleid haben würdest. Niemand darf ja gütig zu mir sein. Ich bin eine Gandagri, eine Verbrannte. Nur Drenga Mirar war hier freundlich zu mir, und nun auch Du, Sahib. Ich danke Dir.“ – Das klang alles so rührend harmlos und kindlich –

„Der alte Yogi, dem der Stall gehörte, war Deines Vaters Verbündeter –,“ forschte Harald tastend weiter.

„Ja. Er ließ sich bestechen. Er ist sehr habgierig. Sein Haus, das Du Stall nennst, liegt drüben an der anderen Seite des Kanals, der hinter dem Park vorüberläuft. Jetzt ist der Stall verbrannt. Du weißt es, Sahib.“

„Wozu benutzte Dein Vater den Yogi bisher, Goda?“

„Der Yogi mußte jede Woche verreisen, bald hierhin, bald dort hin. Er brachte das Fertige unter.“

„Goda, Du liebst Drenga Mirar[10] –“

„Ja, Sahib. Und auch er liebt mich –“ Sie schluchzte wieder. „Wenn er jetzt aber von Dir erfährt, daß ich ihn zuerst nur –“

„Er wird nichts erfahren, Goda, nichts!“ unterbrach Harald sie und drückte ihre kleine, braune Hand. „Weißt Du, weshalb Dein Vater und sein Freund hier verkleidet wohnen und was sie hier treiben?“ fuhr er nach kurzer Pause fort.

„Ja, Sahib. Sie fertigen Schmuck an, den sie so nachahmen, als wäre er sehr alt. Und diesen Schmuck mußte der Yogi dann anderswo verkaufen.“

„Armes Kind!“ meinte Harald mitleidig. „Du sollst glücklich werden. Komm’ nun, ich bringe Dich zu Frau Doktor Gramsy. Damit wir aber in den Straßen nicht auffallen, geh’ uns ein paar Schritt voran.“ –

Gramsys saßen bereits auf der Veranda beim Frühstück. Goda mußte sich vor der Veranda auf eine Bank setzen. Wir begrüßten das Ehepaar, das uns zunächst gar nicht erkannte. Dann erklärte Harald, weshalb wir die junge Inderin hierher geführt hätten.

„Mr. Gramsy,“ sagte er, „Ihre seltsamen Erlebnisse mit den beiden Brahmanen sind jetzt restlos aufgeklärt. Goda und Kommissar Drenga Mirar lieben sich. Nehmen Sie das arme Mädchen vorläufig in Ihr Haus auf. Godas Vater und dessen Helfershelfer werden wir nachher verhaften. Sie können mit dabei sein, ebenso Inspektor Kippwray.“

Frau Gramsy hatte schon bei der Begrüßung einen sehr verlegenen Eindruck gemacht. Als Harst sich jetzt ihr zuwandte und sagte: „So, nun dürfen Sie den Zettel lesen, den ich Ihnen gestern abend gab,“ wurde sie sehr rot und stammelte:

„Mr. Harst, – er – er ist mir abhanden gekommen – Ich hatte ihn unter einen Teller geschoben, als wir Sie beide noch bis zur Gartenpforte begleiteten. Wie ich dann auf die Veranda zurückkehrte, war er verschwunden.“

„Das dachte ich mir. – Bald darauf erschien dann noch Drenga Mirar als später Gast, nicht wahr?“

„Ja. So ist es. Hat er Ihnen erzählt, daß er uns noch besuchte?“

„Nein. Ganz im Gegenteil. Er hätte mir dies wohl nie erzählt. Er hat uns nämlich belauscht. Ich sah ihn dort den Weg entlangkommen. Er stutzte, als er uns erspähte. Dann schlich er von der Seite an die Veranda heran.“

„Ja – weshalb das aber?“ rief Frau Gramsy ungläubig.

„Weshalb? – Weil er hoffte, vielleicht aus meinem Munde etwas darüber zu erfahren, wie ich über die beiden Brahmanen dachte. Er wird ihnen mißtraut haben. Und – er liebt Goda. Deshalb stahl er auch den Zettel, auf dem ich nur einen nichtssagenden Satz geschrieben hatte.“

„Ich – ich werde aus alledem nicht klug!“ meinte nun auch Doktor Gramsy. – Er sprach mir aus der Seele. Auch mir waren die inneren Zusammenhänge noch lange nicht klar.

„Bitte – rufen Sie ihn telephonisch her, Mr. Gramsy,“ sagte Harald. „Wenn Drenga Mirar hier ist, werde ich Ihnen näheren Aufschluß geben.“ –

Zehn Minuten darauf erschien Drenga Mirar. Beim Anblick Godas, die jetzt mit am Tisch auf der Veranda saß, fuhr er sichtlich erschrocken zurück. Der Kommissar war ein junger, schlanker Mann von leicht gelblicher Hautfarbe. Er sah mehr wie ein Spanier als wie ein Inder aus. – Er nahm dann Platz. Und Harald begann sofort:

„Mr. Mirar, Sie haben uns gestern abend hier belauscht. Sie haben dann auch den Zettel an sich genommen. Geben Sie das nur getrost zu. Niemand wird es Ihnen verargen. Sie hofften doch, hier von mir unter Umständen meine Ansicht über die beiden Brahmanen zu hören, die Ihnen als Kommissar nicht ganz harmlos vorgekommen waren. Bei Ihnen stritten Pflicht und ein anderes Gefühl miteinander.“

„Ja, Mr. Harst,“ erklärte Mirar offen. „Die Polizei hier hatte gestern eine Verfügung aus Kalkutta erhalten, und –“

„Schon gut. Das genügt schon. Jedenfalls hegten Sie nun einen ganz bestimmten Verdacht gegen die beiden. Sie glaubten, ich könnte womöglich dieselbe Angelegenheit in die Hand genommen haben, und wollten in dieser Hinsicht klar sehen. – Ich wieder schrieb den Zettel, weil ich Sie zunächst im Bunde mit den beiden glaubte. Wenn Sie den Zettel stahlen, sollte dies mir die Gewißheit über diesen Punkt geben. Ich habe mich zu Ihrem Schaden geirrt, Mr. Mirar. Ich will das wieder gutmachen. – Begleiten Sie uns jetzt. Es ist höchste Zeit. Der Morgenzug muß sofort hier eintreffen.“

Wir fünf – Gramsy, Detektivinspektor Kippwray, Drenga Mirar und wir – waren von der Rückseite in das verfallene Schloß eingedrungen und standen nun wartend in dem großen Vordersaale rechter Hand der Eingangshalle. Wir konnten durch die Fenster bis zur Lattentür der Parkmauer sehen.

„Sie kommen!“ rief Harald leise. „Und sie laufen, als gelte es ihr Leben. Sie werden hier nur noch einiges holen und dann fliehen wollen. Nachdem wir ihnen von dem Wagen entwischt sind, fühlen sie sich nicht mehr sicher –“

Gleich darauf wurde die Eingangstür aufgeschlossen. Wir hatten uns in den Ecken der dunklen Halle jetzt verteilt. – Die beiden Brahmanen, wieder als Greise herausstaffiert, traten ein, schlossen hinter sich ab und – wurden sofort von Kippwray und Mirar gepackt. Stahlfesseln schnappten zu. –

Sie wurden in den Saal geführt.

„Mr. Gramsy,“ sagte Harald dann, „Ihre Abenteuer hier mit dem Tiger und dem Panther waren nichts als wohlüberlegte Abschreckungsmittel dieser beiden Falschmünzer, die früher in der Banknotendruckerei in Kalkutta angestellt waren und von dort mit Druckplatten und großen Mengen Banknotenpapier flüchteten. Sie als Residenturarzt sollten von hier ferngehalten werden. Sie hätten diese Verbrecher gestört. Das, was Sie hier Wunderbares erlebten, wird seine sehr natürliche Aufklärung durch Falltüren und Geheimtüren in den Wänden und sonstige Hilfsmittel finden. So ist zum Beispiel dieser Tumaru nicht bucklig, sondern genau so gerade gewachsen wie wir. Als er den Tigerreiter spielte, wird er seinen Kopf in dem Buckel verwahrt und Ihnen einen Wachskopf gezeigt haben. Das sind alte Klownsscherze, die früher in den Zirkussen sehr beliebt waren. Der Tiger ist ganz sicher durch irgendein Mittel halb betäubt, wohl auch zahm gewesen. Im übrigen ist dies alles unwichtig. – Von Kalkutta aus ist jetzt, da hier überall gefälschte Tausendrupienscheine auftauchen, eine Geheimverfügung erlassen, wie man den Fälschern nachspüren solle. Ich habe durch geschickte Fragen aus dem Polizeimeister Sampson in Sehar so viel herausgelockt, daß ich mir das Richtige ergänzen konnte. – Drenga Mirar, führen Sie die beiden jetzt vor das Haus. Wir werden es nun durchsuchen.“

Als der Kommissar den Saal mit den Verhafteten, die keinerlei Widersetzlichkeit zeigten, verlassen hatte, fuhr Harald fort: „Der angebliche Savimandra hat seine Tochter dazu benutzt, Drenga Mirar, den Doktor Gramsy als Vertreter hersandte, durch sie ablenken zu lassen, wenn er zur Revision hier erschien. Das Mädchen ahnte nicht, daß ihr Vater Banknotenfälscher war. Sie ist ein harmloses Kind, auf die wir die größte Rücksicht nehmen wollen. Sie und Drenga Mirar sind ein Liebespaar geworden, und dieser soll nie erfahren, daß Goda zunächst sozusagen den Lockvogel spielte.“

Wir fanden dann in den geheimen Gewölben der Ruine eine vollständige Fälscherwerkstatt, fanden geheime Gänge und Türen und auch einen Wachskopf. Harald erklärte Dr. Gramsy nun ganz genau, wie die beiden Verbrecher all die „Tricks“ ausgeführt hatten.

Als wir dann den Vorplatz betraten, kam uns Drenga Mirar ganz entsetzt entgegengeeilt. Im Grase lagen die beiden Brahmanen – starr, leblos. Sie waren plötzlich umgesunken und sehr bald verschieden. – Nachher wurde festgestellt, daß sie sich jeder eine vergiftete Nadel, die sie in den langen Ärmeln ihres Gewandes unten am Handgelenk bei sich geführt haben mußten und die sie hatten herausziehen können, in die Pulsader gebohrt hatten. – Für Goda war dies die beste Lösung. Sie hat nachher Drenga Mirar geheiratet, wie Doktor Gramsy Harald brieflich mitteilte. –

Das ist die Geschichte der beiden Brahmanen. – Unser nächstes Abenteuer erlebten wir in der grandiosen Felsenwildnis des Sinai-Gebirges. Ich schildere es im nächsten Bande als:

 

Eine Löwenjagd im Sinai.

 

 

Anmerkungen:

  1. „Hindu-Viertel“ / „Hinduviertel“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Hinduviertel“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „mir“.
  3. Sielen und Schwengel: Gemeint ist ein sogenanntes Sielen- oder auch Brustblattgeschirr. Die am Brustblatt befestigten Zugsträge laufen dann nach hinten bis zum Ortscheit bzw. Schwengel. Und genau diese Verbindung hat der Herr Schraut in dieser Erzählung gelöst. Die Links zu Wikipedia sind im Erklärungstext enthalten.
  4. In der Vorlage steht: „Stimmer“.
  5. In der Vorlage steht: „seit“.
  6. In der Vorlage steht: „faßte“.
  7. In der Vorlage steht: „daß“.
  8. In der Vorlage steht: „Soeben“.
  9. In der Vorlage steht: „Nägelspitzen“.
  10. In der Vorlage steht: „Marar“.