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Eine Löwenjagd im Sinai

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 41

 

Eine Löwenjagd im Sinai

 

1. Kapitel.

„Mylady, Sie müssen doch einsehen, daß es für einen Menschen wie mich geradezu unmöglich ist, ein solches Geheimnis auf sich beruhen zu lassen. Das geht wider meine Natur. Wer wie ich aus Liebhaberei Detektiv geworden ist und seit fast drei Jahren die Welt durchstreift, bald freiwillig einem dunklen Rätsel nachspürend, bald gerufen von armen Bedrängten, die anderswo keine Hilfe und keinen Rat finden, der kann eine Gelegenheit wie diese nicht versäumen, wo es sich doch hier fraglos um eine Sache handelt, durch deren Aufklärung man der Allgemeinheit einen Dienst erweist.“

Harald Harst hatte diese Sätze, weit zurückgelehnt in einen Korbsessel, mit leiser Stimme gesprochen.

Lady Lydia Pimberton, die junge, liebreizende Witwe und Herrin des Schlosses Medsur auf den Westabhängen des Sinai-Gebirges, spielte nervös mit ihrem Spitzentüchlein und sagte nun erregt:

„Nein, nein, Mr. Harst, – Sie sollen nicht jenes Tal besuchen! Sie dürfen es nicht! – Ach, ich darf ja über das, was mein verstorbener Mann und ich dort erlebten, nicht sprechen. Meine Zunge bindet einen Eid. Und – wenn ich diesen Eid bräche, würde ich damit mein Todesurteil unterzeichnen.“

Haralds bartloses, tief gebräuntes Gesicht wurde von dem Licht der über dem Tische hängenden großen Karbidlampe grell beleuchtet. Ich schaute ihn an, um festzustellen, welchen Eindruck diese Worte Lady Lydias auf ihn gemacht hatten.

Da wandte die Lady sich schon an mich, sagte eifrig:

„Mr. Schraut, Sie sind Harsts Freund und Privatsekretär. Als sein Freund haben Sie die Pflicht, ihn von einem Wagnis zurückzuhalten, das ebenso gefährlich wie zwecklos ist. Bieten Sie Ihren ganzen Einfluß auf, daß er von diesem Ritt nach dem verborgenen Tale Abstand nimmt.“

„Mylady,“ erwiderte ich ernst, „dieses Wagnis ist nicht zwecklos. Ich gestatte mir, Sie daran zu erinnern, daß wir Beweise haben, daß jenes in dem Tale liegende Koptenkloster von einem jetzt allerdings bereits unschädlich gemachten Mädchenhändler als Schlupfwinkel benutzt wurde. Kann man also wissen, ob dort nicht noch andere Verbrechen vorbereitet oder begünstigt werden, – gerade dort, wo doch die Bewohner des Klosters vor fremden Blicken völlig sicher sind!“

Lady Lydia zerriß ihr Spitzentüchlein, warf die Stücke temperamentvoll über die Steinbrüstung der Terrasse in den Garten hinab und rief:

„Ach, also auch Sie kennen nur eins: diese ruhelose Abenteuersucht, die Sie beide doch noch ins Verderben stürzen wird!“

„Aber Mylady!“ sagte Harald freundlich-vorwurfsvoll. „Abenteuerlust?! Muß ich Sie daran erinnern, daß es einer der Bewohner jenes bisher unbekannten Klosters war, der Sie an den Harem eines indischen Würdenträgers verschachern wollte?! Haben Sie das Teehaus in Bhopal schon vergessen?! – Außerdem, Mylady: aus unserem heutigen Gespräch habe ich die Überzeugung gewonnen, daß in jenem Koptenkloster Dinge vorgehen, die noch weit ärger sind, als ich bisher vermuten konnte. Nur deshalb bleibe ich so hartnäckig bei meinem Entschluß, morgen früh Ihnen für einige Zeit lebewohl zu sagen und mit Schraut jenes Tal zu besuchen, in das wir schon einmal eingedrungen waren, ohne damals Zeit zu finden, es näher zu durchforschen und den Bewohnern des Koptenklosters unsere Aufwartung zu machen. – Ich denke, wir lassen dieses Thema jetzt ruhen. Dieser Abend hier inmitten der gewaltigen Bergszenerie des Sinai ist zu schön, um uns gegenseitig durch Bitten und höfliche Ablehnung dieser Bitten die Stimmung zu verderben.“

Lady Lydia saß jetzt regungslos mit tief gesenktem Kopfe da. Ich beobachtete sie still. Sie tat mir wieder unendlich leid. Ich wußte ja, daß sie Harald heimlich liebte, und daß nur die Angst um sein Leben diese Bitten heraufbeschwor.

Wir weilten jetzt seit drei Tagen abermals als Gäste hier in Schloß Medsur. Der Leser wird sich aus dem Bande „Der sterbende Fechter“ noch genügend auf unsere ersten Erlebnisse hier besinnen. Harald war mit der mir gegenüber fein angedeuteten Absicht nach Medsur gekommen, Lady Lydia von dieser überschwenglichen Schwärmerei für seine Person zu befreien.

Die schöne Schloßherrin regte sich.

„Gut, ich habe mich überzeugen lassen, Mr. Harst.“ Sie seufzte leise. „Vielleicht sind meine Befürchtungen auch umsonst. Sie und Mr. Schraut sind ja schon aus Gefahren unbeschädigt hervorgegangen, die Ihren Schilderungen nach weit größer und seltsamer waren als das, was Ihnen sehr wahrscheinlich dort in jenem Tale droht. Nur eins müssen Sie mir versprechen: Sie müssen nachher sich hier wieder in Schloß Medsur einfinden und mir Bericht erstatten. Nicht wahr, diese Bitte erfüllen Sie mir doch.“

„Mylady, es kann sich ereignen, daß die Dinge, die wir in dem Koptenkloster entdecken, uns bis ans andere Ende der Welt führen. So begann unter Abenteuer mit der verschwundenen Brigg als „Ein gefährlicher Auftrag“ in Deutschland; während die eigentliche Schlußszene, eben die Wiedererlangung des Ellora-Smaragds, sich in Indien abspielte. Ebenso gut können wir jetzt genötigt sein, nach Australien oder Japan reisen zu müssen und zwar in aller Eile.“

„Nun – dann würden Sie doch jedenfalls auf der Rückreise den Weg über Suez nehmen können. Und von der berühmten Kanalstadt bis Schloß Medsur reitet man auf einem guten Dromedar kaum anderthalb Tage.“

„Wenn es sich irgend einrichten läßt, Mylady, werden wir Ihnen abermals als Gäste zur Last fallen,“ meinte Harald in scherzendem Tone.

Lady Lydias Stimmung war jetzt weit besser als vorhin. Ja – ich wunderte mich geradezu, daß sie plötzlich alle Angst um Harald abgeschüttelt zu haben schien.

Es wurde so ein recht heiterer Abend. Erst gegen Mitternacht küßten wir der liebenswürdigen Hausfrau die Hand und zogen uns auf unsere Zimmer zurück.

Harald ging in unserem gemeinsamen Salon noch eine ganze Weile nachdenklich auf und ab und rauchte dabei mehrere seiner Mirakulum-Zigaretten. Als ich ihn fragte, was ihn so sehr beschäftige, erklärte er nur:

„Lady Lydias zum Schluß fast ausgelassene Stimmung.“

Am Morgen tranken wir mit der Schloßherrin zum Abschied noch Kaffee und frühstücken sehr ergiebig. Lady Lydia war wieder in vorzüglicher Laune.

Dann wurden unsere beiden Reitkamele den Serpentinenweg ins Tal hinabgeführt. Noch ein Handkuß, und ich verließ die Terrasse. Ich wollte die beiden bei den letzten Abschiedsworten nicht stören.

Harald holte mich jedoch sehr bald ein, meinte:

„Sie war sehr verständig. Tränen wären mir gräßlich gewesen. – Ich freue mich recht auf den Ritt und die Bergeinsamkeit, mein Alter. Unsere Reittiere kennen wir ja bereits von damals her, als wir sie dem Beduinenscheich Umri Schomar entführten.“

Um Späher, die vielleicht das Schloß heimlich beobachtet hatten, zu täuschen, schlugen wir zunächst die Richtung nach Norden, nach Suez zu, ein. Die Dienerschaft des Schlosses, sämtlich Araber, die schon jahrelang im Dienste Lord Pimbertons standen und nun dessen Witwe ebenso treu ergeben waren, glaubte, wir hätten nur einen mehrtägigen Jagdausflug vor. Harald hatte Lady Lydia dringend gebeten, unsere wahren Absichten vor der Dienerschaft geheim zu halten, da man bei einer Anzahl von fünfzehn Leuten nie wissen könne, ob auch jeder verschwiegen und zuverlässig sei. –

Um ½9 vormittags waren wir aufgebrochen. Um 11 Uhr schwenkte Harald von der bisherigen Richtung ab und bog in ein weites Tal ein, das nach Süden sich erstreckte.

Das Sinai-Gebirge ist größtenteils eine geradezu schauerliche Bergwildnis. Nur selten trifft man auf einen Baum, ein paar kümmerliche Sträucher. Wasser ist hier ebenso selten wie in der Sahara. –

Gefahren gab es hier kaum. Die Beduinen der Sinai-Halbinsel durchstreifen die Sandwüsten im Osten des Gebirges. Hier finden sie nichts, was sie zu einem Zuge in diese Felseinöde bestimmen könnte. Gewiß, der schon erwähnte Beduinenscheich Umri Schomar hatte mit seinen Leuten verschiedentlich Raubzüge nach Schloß Medsur früher unternommen und nachts dort allerlei gestohlen. Wir wußten aber, daß dieser berüchtigte Spitzbube durch Polizei aus Suez vor nicht langer Zeit verfolgt worden war und sich in die endlosen Wüsten der Halbinsel geflüchtet hatte.

Das einzige, was uns zustoßen konnte, war eine Begegnung mit einem Löwen, die auf der Sinai-Halbinsel kaum auszurotten sind, da die geringe Besiedelung und die zerklüfteten Berge dem König der Tiere sehr zugute kommen. – Auch von den Bewohnern des verborgenen Tales, dem wir jetzt einen Besuch abstatten wollten, war hier noch nichts zu fürchten. Jenes Tal lag anderthalb Tagereisen weit im Südosten. Wir konnten also in aller Ruhe und Behaglichkeit dahinreiten, womit nicht gesagt sein soll, daß wir nicht doch so vorsichtig wie immer waren. Diese Vorsicht, dieses stete Umherspähen und Beobachten wird Leuten, die zumeist von Gefahren umlauert sind und jeden Moment mit einer Überraschung rechnen müssen, bald zur zweiten Natur. –

Gegen 1 Uhr wurde die Hitze unerträglich. Auch dieser Hitze wegen ist das Sinai-Gebirge sehr verrufen, genau so wie das Rote Meer. Harst schlug vor, bis 4 Uhr zu lagern. Wir fanden denn auch eine Schlucht, deren enge Wände die Sonnenstrahlen etwas abgehalten hatten und in der es ziemlich kühl war, – was man dort „kühl“ nennt. Ich schätzte auf 30 Grad.

Wir sattelten die Kamele ab, gaben ihnen aus den Patentschläuchen zu trinken und legten uns dann in einer Felsenausbuchtung auf unsere Decken, genossen ein paar Dauerzwiebacke und etwas Konservenfleisch und rauchten als Nachtisch Zigaretten.

Harald war schweigsam. Unsere Büchsen lagen neben uns. Jetzt griff er nach der seinen, schob die Sicherung zurück und sagte:

„Eine böse Mausefalle, mein Alter –!“

Das traf mich wie ein Faustschlag.

„Mausefalle? Was heißt das?“ meinte ich bestürzt.

„Diese Schlucht hat nur den einen Ausgang. Sonst himmelhohe, glatte Wände. Und – dort oben hinter jenem Dornengestrüpp sah ich soeben die helle Burnuskapuze eines Beduinen.“

„Und – und das sagst Du so ruhig?!“ Ich starrte nach dem Strauche empor. Er stand dicht am Rande einer schmalen Terrasse der gegenüberliegenden Schluchtwand in etwa zwanzig Meter Höhe.

„Ruhe allein kann uns aus dieser Patsche heraushelfen, mein Alter. Ich –“

Der Donner eines Schusses hallte durch die Schlucht. Eine Kugel war links von uns gegen das Gestein geprallt.

„Miserabler Schütze! Drei Meter daneben!“ meinte Harst. „Vorwärts – dort hinter jene Steinblöcke!“

Wir waren mit zwei Sätzen vorläufig in Sicherheit. Diese riesigen Felsbrocken lagen kreuz und quer übereinander, und wir hatten unter einem, der wie eine Tischplatte gestützt wurde, Deckung gefunden.

Etwa vierzig Meter vor uns war der Ausgang der Schlucht. Auch dort gab es einen Haufen Felsblöcke. Und – dort erschien nun hin und wieder der helle Zipfel eines Beduinenmantels. Die braunen Banditen selbst bekamen wir nicht zu Gesicht.

„Was nun?“ fragte ich nach einer Weile sehr bedrückt. „Wenn es Umri Schomar mit seiner Bande ist –“

Krach – wieder ein Schuß. Aber auch diese Kugel klatschte über uns in die Steine.

„Pulververschwendung!“ meinte Harald. „Die Kerle können uns in diesem Versteck nicht sehen. Sie wollen sich nur melden. Wenn sie uns nur nicht die Tiere erschießen. Es sind so vorzügliche Reitkamele, wie man sie selten findet.“

Stunde auf Stunde verging. Die Lage für uns war verzweifelt. In großen Pausen knallte ein Schuß. Die Beduinen wollten damit nur anzeigen, daß sie noch da waren.

„Sie werden uns aushungern,“ sagte ich, als die erste Schatten der Abenddämmerung sich zeigten.

Harst schwieg.

Wieder vergingen etwa zehn Minuten. Dann –

Dann über uns, ganz dicht, eine laute, befehlende Stimme:

„Keine Bewegung! Wir stoßen sofort zu –!“

Ich schielte seitwärts. Durch die Ritzen der Steine blinkten zwei Beduinenlanzen.

„Gut. Ergeben wir uns,“ sagte Harald ebenfalls in englischer Sprache. „Wir wären aus diesem Mauseloch ja doch nicht herausgekommen.“

„Werft all Eure Waffen nach vorn!“ befahl dieselbe Stimme. Der Kerl hatte einen scheußlichen, grunzenden Baß. „Wir haben uns an Stricken die Wand hinabgelassen. Wir stehen gerade über Euch. Also – keine Dummheiten!“

Harald schob seine Büchse weit von sich, warf die Pistole dazu und auch das Jagdmesser nebst Scheide. Ich tat dasselbe.

Dann erschien ein baumlanger Kerl, der die Kapuze tief über das Gesicht gezogen hatte. Für die Augen waren Löcher eingeschnitten. Er raffte unsere Waffen auf und verschwand.

Ich will die Schilderung dieser Einleitungsszene für das, was später sich erst in furchtbarsten Ernst verwandelte, nicht zu sehr ausdehnen. Gerade dieses Abenteuer bildet ja wie kein anderes eine fortlaufende Reihe der aufregendsten Bilder, die man in ihrer Bedeutung für die Lösung des aus ihnen sich herausentwickelnden Problems geradezu numerieren könnte. – Wer die wahre Freude an der Lektüre dieser meiner tagebuchartigen Aufzeichnungen haben will, der sollte von der ersten Seite an sehr genau auf das achten, was Harald Harst sagt und tut, – der sollte versuchen, selbst herauszufinden, um was es sich im einzelnen Falle handeln könnte. Vielleicht überfliegt der Leser nochmals jetzt das erste Kapitel. Ich rate dazu mit Vorbedacht. Denn „Die Löwenjagd im Sinai“ ist auch ein sehr lehrreiches Problem. –

Wir wurden nun einzeln aus unserm Versteck „herausbefohlen“. Die Beduinen kannten unsere Namen. Wir bekamen zunächst nur vier dieser Banditen zu Gesicht. Sie hatten sämtlich die Gesichter durch die Kapuzen verhüllt. Der Kerl mit der krächzenden Stimme überhäufte uns, nachdem man uns mit Riemen sehr raffiniert, aber zum Glück nicht in schmerzhafter Weise gefesselt hatte, mit allerlei Schmähungen. Selbst die Augen waren uns durch einen breiten Streifen Stoff, der bis zur Nasenspitze reichte und für die Nase einen Einschnitt hatte, damit der Stoff glatt anläge, verbunden worden.

Ich wurde dann in den Tragkorb eines Lastkamels gesetzt, und die Reise ins Unbekannte begann. Ich zweifelte nicht im geringsten, daß der diebische Scheich Umri Schomar der Führer dieser Beduinen war, die ich den Geräuschen nach auf etwa zehn Leute schätzte.

In der Nacht wurde einmal gelagert. Zu meiner Freude wurde Harald neben mich in den Sand gesetzt. Man machte uns die rechten Hände zum Essen frei. Die Augenbinden behielten wir um.

Harald flüsterte mir bei guter Gelegenheit zu:

„Wenn mich nicht alles täuscht, ist dies die Quittung für allerjüngste Vorgänge –“

Da fuhr schon der krächzende Kerl mit Drohungen dazwischen. Trotzdem konnte Harst nachher noch hinzufügen:

„Du wirst Dich wundern –!“

Der ekelhafte Grobian fluchte schon wieder und drohte mit dem Messer zuzustechen.

Dieser Transport im Kamelkorbe dauerte zweieinenhalben Tag.

Dann wurde ich nach einem Schluck Tee, den man mir gereicht hatte, von einer Schlafsucht befallen, die mit Gewißheit darauf schließen ließ, daß der Tee ein Betäubungsmittel enthalten hatte.

Unklar erreichte in diesem Zustande künstlichen Tiefschlafes eine Menge verschwommener Eindrücke die Bewußtseinsschwelle meines Hirns. Vielleicht hatte ich auch nur geträumt. So dachte ich, als ich auf einem aus Brettern roh zusammengenagelten Bett auf einer Schütte Stroh ohne Fesseln und Augenbinde erwachte.

 

2. Kapitel.

Ich richtete mich auf, überschaute mit einem Blick unser Gefängnis.

Es war ein gewölbter, fensterloser Raum, quadratisch, nicht zu niedrig. Meiner Lagerstatt gegenüber an der anderen Wand stand eine zweite. Dort saß Harald, – Harald mit einer glimmenden Zigarette im Mundwinkel und nickte mir mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck zu.

Zwischen den Betten stand ein Brettergestell, das einen Tisch vorstellen sollte; darauf eine kleine Petroleumlampe mit einem Messingblender, also eine sogenannte Küchenlampe. Zwei ebenso primitive kurze Bänke luden daneben zum Platznehmen ein.

An der linken Wand gab es in der Mitte eine niedrige, mit Eisenplatten benagelte Tür, die oben ein größeres Schiebefenster hatte. An der entgegengesetzten Wand war eine unbenagelte Tür, die in einen kleinen, ebenfalls fensterlosen Raum führte, wie wir nachher feststellten. Dieses zweite Gelaß sollte seiner Einrichtung nach diskreten Zwecken dienen. Diese Andeutung über seine Bestimmung genügt wohl.

Im übrigen war unser Kerker bis auf eine Art Bücherbrett neben der eisenbeschlagenen Tür leer. Auf diesem Bücherbrett befanden sich 2 Zinnteller nebst 2 Löffeln, einige halb zerrissene Bücher und fünf Schachteln Zigaretten, Marke Asra, zu je fünfzig Stück. Unter dem Gestell stand noch eine große, gefüllte Petroleumkanne.

Harald nickte mir wieder zu.

„Fein, nicht wahr? Ganz komfortabel! – Der Hauptwitz ruht da auf dem Tisch, mein Alter.“

Ich stand auf und sah ein Blatt Papier vor der Lampe liegen.

Dieses zerknitterte Blatt enthielt mit kindlichen Buchstaben hingemalt in fehlerhaftem Französisch folgendes:

„Wenn Ihr Euch schriftlich und ehrenwörtlich verpflichtet, hier auf der Sinai-Halbinsel Eurem Berufe in keiner Weise mehr nachzugehen, sollt Ihr frei sein. Andernfalls seht Ihr das Licht der Sonne nicht wieder. Ihr habt drei Tage Bedenkzeit.“

„Na?“ fragte Harald, als ich das Blatt hinlegte.

„Natürlich das Koptenkloster,“ sagte ich kurz.

„Nun gut – das Koptenkloster,“ meinte er. „Und – was sollen wir tun?“

Ich zuckte die Achseln.

„Du bist der Herr, ich bin der Knecht.“

Er lachte. „Sehr diplomatisch!“

Ich ging und prüfte die Tür und die Mauern. Jetzt erst bemerkte ich über der Tür unter der Decke ein mit einem Drahtgeflecht überzogenes Luftloch, etwa 20 mal 30 Zentimeter groß.

„Ausbrechen dürfte hier unmöglich sein,“ erklärte ich.

„Also kapitulieren?! – Niemals! Ich werde ihnen den Spaß verderben. Es kommt nur auf die Geduld an.“

„Du meinst, sie werden uns schließlich doch freilassen?“

„Ja, das meine ich!“

„Bedaure, – diese Ansicht kann ich nicht teilen. Ich wette, sie werden uns durch Zwangsmittel, Hunger und Durst, doch kirre kriegen.“

Harald schwieg. Ich merkte, er hatte mir nur gewisse Hoffnungsfreudigkeit vortäuschen wollen, um mich bei Laune zu erhalten.

„Sechs Päckchen Zigaretten,“ sagte er nach einer Weile.

„Fünf,“ korrigierte ich.

„Bitte, das sechste habe ich schon hier in der Tasche. Leider aber sonst nichts als mein Taschentuch und das Etui mit Taschenkamm und Bürste.“

Ein Geräusch an der Eisentür. Jemand reichte uns eine Schüssel Reis mit Hammelfleisch und einen Blechtopf Tee hinein. Ich nahm es dem Menschen ab. Es war der Kerl mit der krächzenden Stimme.

„Wenn Ihr auszubrechen sucht, schießt der Wächter,“ sagte er. „Ihr werdet dauernd beobachtet.“

Das Schiebefenster knallte zu. Auch dieses war mit einer Eisenplatte benagelt, hatte aber in der Mitte einen kleinen Sehschlitz.

„Hm – das Fleisch ist bereits zerkleinert,“ meinte Harst. „Sehr zuvorkommend! Übrigens – meine Uhr haben die Leute mir doch gelassen. Es scheint hier also kein Taschenuhrenmangel zu herrschen. Es ist jetzt genau 2 Uhr nachmittags.“ Er zog die Uhr auf. Sie hatte ein Achttage-Werk.

Ich begriff Haralds Verhalten nicht.

„Deine Gleichgültigkeit dieser Einkerkerung gegenüber ist mir unverständlich,“ sagte ich leicht gereizt. „Gib Dir keine Mühe, mich durch schlechte Scherze zu täuschen. Du weißt ebenso gut wie ich, daß diese Situation für uns durchaus nichts Komisches an sich hat.“

Harald hatte sich mir gegenüber an den Tisch gesetzt.

„Hm – wem nicht zu raten, ist nicht zu helfen –“

Was sollte das?! – Ich blieb stumm.

„Ich werde gleich nachher die Antwort schreiben,“ fügte Harst hinzu. „Damit Du beruhigt bist! – Wir werden also kapitulieren, aber auf unsere Weise.“

„Zunächst könnten wir doch noch abwarten,“ meinte ich. „Du sollst nachher nicht mir den Vorwurf machen, daß ich Dich zu einem vorschnellen Entschluß verleitet hätte.“

„Gut. Warten wir noch,“ nickte Harst.

„Offenbar stehen doch Beduinen mit den Bewohnern der Klosters hier in Verbindung,“ begann ich nun das mir Wichtigste zu erörtern.

„Vielleicht –“ –

Jedenfalls war mit Harald jetzt nicht zu reden. Ich legte mich nachher auf das Bett und schlief. Harst weckte mich.

„Es ist 8 Uhr abends, mein Alter. Das Abendessen steht bereit. Du bist um Deinen Schlaf zu beneiden,“ meinte er gutgelaunt.

Es gab Hirsebrot und kaltes gebratenes Schaffleisch; dazu wieder Tee.

„Die Schufte wollen uns durch die reichliche Verpflegung erst aufmästen, damit wir den Hunger nachher desto mehr merken, wenn die Zwangsmaßnahmen beginnen,“ sagte ich beiläufig.

„Vielleicht –“

„Du bist unausstehlich, Harald.“ – Ich holte mir eines der zerfetzten Bücher vom Wandbrett, um zu lesen. Es war ein englisches Werk aus dem Jahre 1861 über Forschungsreisen in Arabien, also etwas alt, dafür aber recht interessant geschrieben. Auch der Halbinsel Sinai waren zwei Kapitel gewidmet. Und in diesem fand ich auch einige unter den Sinai-Beduinen vererbte Sagen und Geschichten erwähnt. Ich stutzte mit einem Male. Welch merkwürdiger Zufall! – Da stand etwa folgendes:

„So soll es zum Beispiel im Nordteile des Sinai ein Kloster geben, eine Gründung von Koptenmönchen. Die Kopten sind bekanntlich die christlichen Nachkommen der alten Ägypter, haben ihr besonderes Bekenntnis und leider sehr wenig angenehme Charaktereigenschaften. Dieses Kloster soll in einem großen, völlig unzugänglichen Tale liegen. Die Bewohner dürfen es nie verlassen. Was an alldem wahr ist, konnte bisher nicht nachgeprüft werden.“

Dann wurde im folgenden Abschnitt eine zweite, ebenso geheimnisvolle Örtlichkeit genannt: eine Oase Fartah, in der sich die Ruinen einer Stadt aus der ältesten ägyptischen Kulturepoche befinden sollten. Ich hatte die Angaben über diese Oase erst etwa zur Hälfte gelesen, als ich plötzlich erschrocken zusammenfuhr.

Irgendwoher drang der dumpfe Knall von Schüssen an mein Ohr. Ich blickte Harald an. Er lauschte gespannt, rief dann:

„Sollte wirklich aus dem Scherz Ernst werden?! – Weißt Du, woher die Detonationen der Schüsse bis zu uns dringen?“

Er deutete zu der Luftöffnung empor.

„Schnell – den Tisch dorthin!“ fügte er hinzu.

Er kletterte dann auf den Tisch, riß das Drahtgeflecht mit dem Beine eines unserer Schemel ab und horchte nun in den Luftschacht hinein.

Ich vernahm abermals Schüsse, auch lautes Rufen.

Und dann – dann geschah etwas, das mir zunächst völlig unverständlich blieb. Ich stand dicht am Tische, – also jetzt auch dicht an der Tür. Plötzlich flog das Schiebefenster auf. Ein Bündel wurde durch die Öffnung gestopft, fiel zu uns hinein. Für einen Augenblick erschien ein braunes Gesicht in dem Türausschnitt. Der Mensch riß den Mund auf. Ein paar Silben brachte er noch über die Lippen. Aber ein wildes Geheul ließ ihn auf diese Mitteilung, die er uns offenbar machen wollte, verzichten. Das Fenster schlug zu.

Ich stand wie versteinert da. Harst war schon vom Tisch herabgesprungen, hob das Bündel auf, legte es auf den Tisch, knotete es auf.

Und – darin lagen all unsere Sachen, die man uns abgenommen hatte: die Pistolen, Taschenlampen, Ersatzbatterien, Brieftaschen, Patronenschachteln und so weiter.

„Harald – was bedeutet das?“ fragte ich völlig verwirrt.

„Lieber Alter, darüber sprechen wir nachher! – Fix jetzt! Stellen wir die sogenannten Möbel in einer Ecke zusammen, daß es hier wie in einer Rumpelkammer aussieht. Raus mit dem Stroh aus den Bettkisten! Hier muß eine Unordnung herrschen, als hätten hier nie Menschen gehaust. Auch die spärlichen Einrichtungsgegenstände aus dem Kämmerchen nebenan bauen wir mit auf. Wir selbst verkriechen uns hinter dem Stapel –“ –

All das war bald gemacht. Auch die Lampe verschwand, das Wandbrett, die Petroleumkanne.

Dunkelheit jetzt und Stille. Die Schüsse und das Geschrei waren verstummt. Wir saßen dicht nebeneinander in der Ecke, hatten die entsicherten Pistolen in der Hand. Ich war noch ganz außer Atem. Und keuchend fragte ich nun:

„Was also geht hier vor, Harald?“

„Hm – in dem Bündel lag noch etwas, lieber Alter. Du hast es übersehen. Es war ein Schlüssel. – Ja, ja, ein Schüssel. Fraglos der zu unserer Kerkertür. – Ich wundere mich, daß Du Lady Lydias seltsamen Trick nicht durchschaut hast. Besinnst Du Dich, wie am Abschiedsabend auf der Terrasse ihre Stimmung plötzlich ganz anders wurde? Besinnst Du Dich, daß die Kugeln, die die angeblichen Beduinen in der Schlucht auf uns abfeuerten, so lächerlich weit daneben gingen? – Diese miserablen Schüsse machten mich stutzig. Und dann kam die Entwaffnungsszene, kam der Beduine mit der krächzenden Baßstimme und dem absichtlich verhunzten Englisch. Weißt Du, wer das war? Prigrave, der Hausmeister der Lady. – Da durchschaute ich den Spaß. Und hier im Kerker wurden Lady Lydias Absichten völlig durchsichtig: sie liebt mich; sie wollte mich um jeden Preis zwingen, das verborgene Tal nicht zu besuchen.“

„Ah – nun begreife ich! Der Zettel auf dem Tisch, – und das gute Essen –“

„Ganz recht. Wir befinden uns hier in einem Kellerraum des Schlosses Medsur. – Leider, leider ist jetzt aber aus dem Scherz insofern bitterster Ernst geworden, als ich bestimmt annehme, daß das Schloß soeben überfallen wurde.“

„Hm – vielleicht wieder ein – Trick der Lady.“

„Nein. Wäre es nur ein neuer Bluff, so hätte der Wächter uns nicht unsere Sachen zugeworfen, die draußen vor der Eisentür gelegen haben müssen; sonst hätte er nicht noch schnell den Schlüssel hinzugefügt und uns zurufen wollen: „Flieht!“ Denn die Silben, die er so überhastet hervorstieß, waren das arabische Wort „Flieht!“ In der Eile vergaß der Wächter, englisch zu sprechen. Dann riß er aus. – Pst! Ich höre Schritte und Flüstern. Jetzt gilt’s; jetzt werden wir sehen, ob meine List Erfolg hat –!“

Man rüttelte an der Tür. Das Schiebefenster wurde zurückgeschoben; eine brennende Kienfackel flog in den Keller, brannte am Boden weiter. Der Gerümpelstapel lag der Tür schräg gegenüber. Ein braunes, bärtiges Gesicht lugte durch das Fenster hinein. Worte wurden in schneller Folge von den draußen Stehenden gewechselt.

Wieder rüttelte man an der Tür. Dann ein paar laute Rufe; dann flüchtige Schritte –, Stille.

 

3. Kapitel.

„Geglückt“ meinte Harald leise. „So viel Arabisch verstehe ich doch. Die Kerle riefen einander zu, sich hier nicht aufzuhalten. Sie haben sich täuschen lassen. Oder sie wissen überhaupt nicht, daß wir beide noch in Schloß Medsur als etwas eigenartige Gäste weilen. Fast nehme ich das letztere an.“

Wir verhielten uns noch stundenlang ganz ruhig. Wir hörten hin und wieder oben im Schlosse Geräusche. Erst gegen Mitternacht verstummten diese. Trotzdem warteten wir noch bis 4 Uhr morgens. Inzwischen hatte Harald mir erklärt, er sei fest überzeugt, daß nur Scheich Umri Schomar mit seinen Leuten diesen Überfall unternommen haben könne, wahrscheinlich aus Rache dafür, weil die Polizei ihn so hartnäckig verfolgt hatte.

Wir verließen unseren Kerker. Der Schlüssel paßte tatsächlich. – Die Plünderung des Schlosses Medsur und die Ermordung der gesamten Dienerschaft ist seiner Zeit in englischen Zeitungen ganz eingehend beschrieben worden. In deutschen Blättern fand ich nur kurze Notizen darüber, stets mit dem Hinweis auf die Rolle, die Harst dann bei der Bestrafung der Schuldigen spielte. – Ich halte es nicht für meine Aufgabe, hier zu schildern, in welchem Zustande wir nun die prachtvollen Räume vorfanden. In der Vorhalle waren die Marmorfliesen überall mit Blut besudelt. Die Wände und Fenster zeigten Kugelspuren. – Im Garten hinter dem Schlosse entdeckte Harald Spuren, die uns zu dem tiefen Brunnen hinführten. Hier hinein hatten die braunen Bestien sämtliche Leichen geworfen. Harst ließ eine brennende Laterne an einem Strick hinab. Wir sahen jedoch nur ein paar menschliche Füße aus dem Wasser herausragen.

Nach zwei Stunden kam dann ein schwerverwundeter, kleiner Araber, ein Stallbursche, aus dem – Düngerhaufen hervor gekrochen. Er starb uns leider unter den Händen, konnte aber doch noch angeben, daß man Lady Lydia und ihre neue englische Kammerzofe Marry Southern lebend weggeschleppt hätte. Ebenso bestätigte er Haralds Vermutung, daß Scheich Umri Schomar mit etwa dreißig Beduinen die Angreifer gewesen seien. –

Lady Lydias Tigerdogge Hektor lag mit zwei Schüssen und einem Dutzend Lanzenstichen im oberen Flur. Die Ställe waren leer; die Zimmer verwüstet, das Beste daraus geraubt.

Harald sprach nicht ein Wort. Mit bleichem Gesicht besichtigte er die Spuren dieses unsinnigen Vandalismus. Seine Lippen waren fest aufeinander gekniffen.

Um 7 Uhr morgens wanderten wir dann nach Westen der Küste des Golfes von Suez zu. Wir ließen es an keiner Vorsichtsmaßregel fehlen. Mußten wir doch damit rechnen, daß Scheich Umri Späher zurückgelassen hatte. – Nachmittags gegen 3 Uhr erreichten wir ein kleines Araberdorf, das in den Vorbergen liegt. Wir kannten es schon. Die Bewohner waren friedliche, fleißige Ackerbauer und Viehzüchter. Mit den Beduinen lebten sie auf Kriegsfuß. Harst schickte zwei der Leute mit einer schriftlichen Meldung nach Suez, kaufte zwei Reitkamele und allerlei Kleidungsstücke, ebenso zwei alte Militärkarabiner nebst je dreißig Patronen und erklärte dem Dorfältesten, daß wir jetzt die Beduinen verfolgen würden, die sich fraglos in die Wüsteneien östlich des Gebirges geflüchtet hätten.

Um 6 Uhr nachmittags ritten wir wieder davon, zunächst direkt nach Süden, machten aber sehr bald halt, verbargen unsere Sportanzüge unter Steinen und legten Eingeborenenkleidung an, – auch hellbraune Mäntel mit Kapuzen.

Dann ging es weiter. Harald orientierte sich lediglich nach dem Kompaß. Ich hatte sehr bald die Überzeugung gewonnen, daß unser Ziel nicht etwa Schloß Medsur wäre. Ich glaubte zuerst, wir würden von dort aus die Fährte der Räuber verfolgen. Harst deshalb zu befragen, war zwecklos. Noch nie habe ich ihn so in sich gekehrt gesehen wie damals. Ich fühlte geradezu, daß sein ganzes Inneres lediglich von Vergeltungsgedanken erfüllt war. Er wollte nicht gestört sein. Das Schicksal Lady Lydias macht ihm Sorge. Es war ja immerhin die Frau, die ihn liebte, wenn er dieses Gefühl auch nicht erwiderte.

Wir waren längst nach Südost eingeschwenkt. Das Gebirge zwang uns zu weiten Umwegen. Erst gegen Mitternacht rasteten wir zwei Stunden. Der Mond stand über uns. Wir lagerten auf einer Hochebene, die spärlichen Baumwuchs hatte. Hier hörte ich zum ersten Male das dumpfe Brüllen des Königs der Tiere. In dieser nächtlichen Stille klang es doppelt nervenaufpeitschend.

Jetzt endlich begann Harald auch zu sprechen. Nur wenige Sätze.

„Der Mensch, der die Fackel in unseren Kerker warf, war kein Beduine,“ sagte er. „Es war ein Kopte. Der Gesichtsschnitt, die Stirnform und die Nase der Kopten sind von denen der Beduinen völlig verschieden. – Ein Kopte also. Wie kam der zu Umri Schomars Leuten? Ich kann nur annehmen, daß der Scheich mit den Bewohnern des verborgenen Tales eng befreundet ist und die Leute vorläufig dorthin geschafft hat, wo niemand einzudringen vermag, der nicht das Geheimnis jener Steilwand kennt, an der sich der Aufzug befindet. Wir kennen es. Und deshalb werden wir nachprüfen, ob meine Vermutung stimmt.“

„Wenn Du nur recht hättest!“ meinte ich. „Dann könnten wir die berittene Polizei, die ja schon morgen abend in Schloß Medsur sich –“

Er hatte eine kurze Handbewegung gemacht.

„Polizei?! – Damit die Schufte Lady Lydia und die blonde, muntere Marry ermorden, bevor sie sich ergeben müssen! – Wenn wir beide die Frauen nicht befreien, dann sind sie verloren –“ –

Gleich darauf brachen wir auf.

Der Morgen kam. Wir hatten jetzt allen Grund, überaus vorsichtig zu sein. Harst behauptete, wir wären kaum noch eine Meile von jenem Tale entfernt, dessen südliche, himmelhohe Steinwand einen Teil des ungeheuren Bergwalles bildete, der das Koptenkloster samt den es umgebenden blühenden Felder, Palmenhainen und Wasserläufen von aller Welt abschloß. – Wir sahen uns nun nach einem Versteck für unsere Reittiere um. Den Rest des Weges wollten wir zu Fuß zurücklegen.

Nachher mußte ich zurückbleiben. Harald wollte allein bis an die Steilwand vordringen. Er kehrte bereits nach einer halben Stunde zurück – aber nicht allein. Sein Begleiter war ein ehrwürdiger Greis mit schneeweißem, kurzem Vollbart. Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm an der braunen Kutte und dem einzelnen Haarschopf auf dem im übrigen glatt rasierten Schädel einen Koptenmönch, der nur zu dem verborgenen Kloster gehören konnte, das hinsichtlich der Tracht seiner Insassen besondere Vorschriften haben mußte, da in den ägyptischen Koptenklöstern die Mönchskleidung eine ganz andere ist.

Der würdige Greis war der Prior des Klosters. Harst stellte ihn mir vor, als befänden wir uns in einem Berliner Salon. – Der Prior reichte mir die Hand. Er sprach das Englische völlig fehlerfrei, jedenfalls fließender als ich. Dann erklärte Harald:

„Ich habe den Pater Christomas zufällig vor der Steilwand getroffen. Er sah mir den Europäer sofort an. Ich war zunächst noch etwas mißtrauisch, bis der Pater mich offen fragte, ob ich vielleicht Harald Harst sei. Er vermutete dies, fügte er hinzu, deshalb, weil er einen mißratenen Bruder habe, der vor drei Wochen Lady Lydia nach Indien verschleppte und dort verkaufen wollte. Er wisse nun, daß sein Bruder Eusebius in Bhopal den Tod gefunden habe und daß wir es waren, die Lady Lydia befreit hätten. Er habe mit unserem Erscheinen hier gerechnet, da er sich leicht zusammengereimt hätte, daß ich den hier umgehenden Gerüchten von einem verborgenen Kloster nachgehen würde. – Pater Christomas ist entsetzt über den ruchlosen Überfall auf Schloß Medsur. Er will uns helfen, die beiden geraubten Frauen den Händen Scheich Umris zu entreißen.“

Der Prior nickte ernst. „Ich will noch mehr tun. Ich will Sie beide mit in unser Kloster nehmen. Sie sind dann seit mehr als einem halben Jahrhundert die ersten Fremden, die unser stilles Tal betreten. Nein – nicht die ersten, Mr. Harst. Lord Pimberton und seine Gattin fanden wir einst halb verschmachtet hier in der Nähe auf. Wir schafften sie in das Tal, pflegten sie und ließen sie schwören, nichts von dem Vorhandensein dieses paradiesischen Ortes zu verraten. Freiwillig versprachen sie uns dann noch, jeden Monat an das Kloster als Dank für ihre Errettung 30 Pfund Sterling in Gold zu zahlen; außerdem wollten sie auch mit allen Mitteln dafür sorgen, daß, falls jemand unser Geheimnis entdeckte, der Betreffende gezwungen werden sollte, denselben Eid zu leisten, den sie selbst als Schweigepflicht auf sich genommen hatten. – Kommen Sie, Mr. Harst. Sie werden manches sehen, was Sie nicht für möglich gehalten haben.“

Ich holte dann unsere Reitkamele aus dem Versteck herbei. – Ich wußte nicht, was ich von diesem Prior denken sollte. Harst schien ihm zu trauen. Gewiß: der Greis wirkte überaus würdevoll. Seine Stimme war weich und einschmeichelnd. Aus seinen dunklen Augen strahlte Ehrlichkeit und Herzensgüte.

Und doch! Ich wurde das Gefühl nicht los, daß der Alte schauspielerte. – Ich nahm mir vor, die Augen und Ohren überall zu haben. –

Den Zugang zu jenem Tale habe ich bereits in unserem Abenteuer „Der sterbende Fechter“ genauer beschrieben. Der Aufzug beförderte auch unsere Kamele nach oben. – Der Prior erzählte uns dann, während wir an seiner Seite auf einem gutgepflegten Wege dem am anderen Ende des etwa eine halbe Meile langen Tales gelegenen, aus Granitquadern erbauten Kloster zuschritten, so einiges über dessen Gründung, die im Jahre 115 nach Christi Geburt durch Kopten erfolgte, die aus Ägypten vertrieben worden waren. Jetzt hatte das Kloster 21 Insassen; außerdem gehörten dazu noch acht Koptenfamilien, die in den Nebengebäuden wohnten.

Wir hatten nun die fünf Meter hohe Mauer erreicht, die das Kloster und einen großen Garten umgab. Zwei Mönche nahmen uns die Reittiere ab. Dann führte uns der Prior noch durch den parkähnlichen Garten. Plötzlich standen wir, um eine Hecke biegend, vor einem langgestreckten Raubtierhause, in dem in drei getrennten Käfigen zwölf prachtvolle Löwen gehalten wurden. Der Prior, der sich bescheiden nun Pater Christomas nennen ließ, erklärte, es sei hier seit Jahrhunderten Sitte, daß stets genau zwölf Löwen entsprechend der Anzahl der Apostel das Raubtierhaus bevölkerten.

Der Park war im übrigen ziemlich verwildert. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Selbst in der Nähe der Häuser für die Koptenfamilien zeigte sich niemand.

Wir betraten nun das Kloster durch eine wundervoll geschnitzte, schwere Flügeltür, gingen einen Säulengang entlang und stiegen eine Treppe empor.

In einem schlicht eingerichteten Gemach, dessen Möbel uralt sein mußten, bat uns der Prior Platz zu nehmen. Türen gab es hier nicht. Nur Türöffnungen und davor Teppiche als Vorhänge. Ein Mönch brachte Erfrischungen: Obst, kaltes Geflügel, zartes Brot.

Wir aßen und unterhielten uns, als ob wir in irgend einer Großstadt Gäste eines geistvollen alten Herrn wären. Und saßen doch mitten im unwirtlichen Sinai-Gebirge mit einem Greise zusammen, der mir immer besser gefiel und dem ich doch nicht traute. Wie sehr verlangte mich nach einem Alleinsein mit Harald. Ich wußte ja nicht, wie ich über diesen gastfreien Prior denken sollte. Aber Harald würde es wissen.

Und – Harald gähnte jetzt zuweilen verstohlen. Der Prior verstand den Wink, brachte uns in das inzwischen für uns hergerichtete Gemach, einen dreifenstrigen, kahlen Raum, in dem nur zwei pritschenähnliche Betten, ein Tisch, zwei Stühle und ein kleinerer Tisch mit einem Waschbecken, alles an der einen Schmalseite, standen. Der Prior riet uns, wir sollten zunächst mal den versäumten Schlaf nachholen. – Nun waren wir allein. Harald begann sich auszukleiden, redete dabei alles mögliche, ließ mich gar nicht zu Worte kommen, raunte mir dann zu: „Vorsicht! Sehr gefährlich“ und sprach weiter. – Er fürchtete Lauscher. Das merkte ich. Und ich richtete mich danach, begann die Gastfreiheit des Priors zu loben und begeisterte mich scheinbar bei der Erwähnung der Fruchtbarkeit und Schönheit des Tales. – Harald streckte sich auf seinem Bett aus. Ich tat dasselbe. Irgendwoher drang eine angenehme ganz leise Musik an unser Ohr. – Ich schloß die Augen. Aber ich wollte auf keinen Fall einschlafen. Auch Harald tat wohl nur so, als ob er bereits eingeschlummert wäre.

Ich lag da und lauschte. Ich strengte mein Gehör aufs äußerste an. Ich wurde auch wirklich immer munterer, immer nervöser. – „Sehr gefährlich!“ hatte Harald gewarnt. Das genügte. – Doch – ich hörte nichts. Nur immer die leise, weiche, getragene Musik. Der Schweiß perlte mir vor Aufregung über die Stirn. Ich merkte: sehr lange hielt ich diesen Zustand nicht mehr aus. Ich fürchtete allen Ernstes, einen Herzschlag zu bekommen. Meine Pulse klopften; das Blut brauste mir immer lauter in den Ohren. Endlich warf ich die leichte Decke von mir, setzte mich aufrecht.

Ah – Harald richtete sich gleichfalls auf. „Ich kann nicht einschlafen,“ meinte ich. – „Mir geht es genau so.“ –

Wir kleideten uns an, nachdem wir uns gründlich gewaschen hatten. Harald ging an den Wänden des saalartigen Gemaches entlang, schaute sich die Inschriften an, die überall die polierten Steinwände zierten. Das koptische Alphabet entspricht fast ganz dem altgriechischen. Dann rief Harald mir zu:

„Hier ist etwas sehr Interessantes. Komm’ einmal her.“

Er stand an der anderen Schmalseite des langen Raumes. In der Mitte der Wand war ein mächtiges Steinkreuz mit sehr kurzen Balken aufgestellt. Die Spitze des Kreuzes lief in die Figur eines Löwen aus, der einen Schlangenstab (eine gerade gereckte Schlange) im Maule trug. Die Inschrift des Kreuzes setzte sich seltsamer Weise aus lauter arabischen Ziffern zusammen, zwischen die hin und wieder eine Tierfigur eingeschoben war. Das Fußende des Kreuzes zeigte ebenfalls die Gestalt eines ruhenden Löwen, nur daß dieser hier zwischen den Zähnen einen echten menschlichen Totenschädel hielt, der tadellos erhalten war.

„Das Kreuz muß eine ganz besondere Bedeutung haben, mein Alter,“ sagte Harald jetzt. „Der Schlangenstab war im alten Ägypten das Sinnbild der Zauberei, der Löwe das der weltlichen Macht und der Totenkopf das der Unvergänglichkeit. Ich behaupte, die Inschrift soll eine Art Geheimschrift sein. Ich will nachher doch einmal Pater Christomas fragen, was er über dieses Kreuz weiß.“

 

4. Kapitel.

„Er weiß leider sehr wenig davon,“ ertönte eine milde Stimme hinter uns.

Wir drehten uns um. Der Prior stand hinter uns. Er lächelte sanft. „Sie müssen nicht vergessen, daß Sie sich in einem Koptenkloster befinden,“ sagte er und zeigte auf die gewölbte Decke des Saales und die leicht nach außen gewölbten Schmalseiten. „Jedes Wort, das Sie hier sprechen, wird wie in einer Flüstergrotte weitergeleitet. Einer der Brüder meldete mir, daß Sie sich bereits erhoben hätten. – Ja, dieses Kreuz, Mr. Harst. Es hat damit eine besondere Bewandtnis. Vor Jahrhunderten hat es einer meiner Vorgänger hier aufgestellt. Was es sollte, was die Inschrift besagte, wollte er erst auf seinem Sterbelager seinem Nachfolger anvertrauen. Er verschied jedoch ganz plötzlich. So wurde denn dieses Kreuz“ – dabei hob er den rechten Arm – „das einzige nie zu lüftende Geheimnis unseres Klosters. Daß es seiner Zeit in ganz bestimmter Absicht errichtet wurde, unterliegt keinem Zweifel. Hunderte von Insassen hier, darunter geistvolle Köpfe, haben sich ihr Leben lang abgemüht, die Zahlenschrift zu entziffern. Keinem gelang es bisher – keinem. Auch mir nicht.“

Ich blickte zufällig Harald an. Ich schrak ordentlich zusammen. Er war plötzlich auffallend blaß. Dann schoß ihm das Blut wieder zu Kopfe. Er atmete tief auf.

„Wenn es Ihnen recht ist, Pater Christomas,“ meinte er nun, „will ich zusehen, ob ich glücklicher bin. Vielleicht entziffere ich die Geheimschrift.“

„Ja, Mr. Harst, vielleicht haben Sie Glück –,“ sagte der ehrwürdige Greis in einem Tone, der seltsam gegen seine bisherige Sprache abstach. Es machte auf mich ganz den Eindruck, als liege dem Prior sehr viel daran, daß die Inschrift enträtselt würde.

„Kann ich Papier und Bleistift erhalten?“ bat Harald jetzt. „Ich will mich sofort an die Arbeit machen, denn morgen früh müssen wir doch spätestens die Verfolgung der Beduinen aufnehmen.“

Der Prior schickte Harst das Gewünschte durch denselben Mönch, der vorhin die Mahlzeit gebracht hatte, außerdem aber auch Kaffee nebst allerlei Gebäck. Dieser Mönch war ein großer Mann in den besten Jahren.

Wir saßen am Tische, als er erschien. Harald stand auf und versuchte eins der Fenster zu öffnen, die durch Holzriegel verschlossen waren. Er wurde damit jedoch nicht fertig und bat den Mönch, es zu tun. Die Fenster lagen ziemlich hoch. Der Mönch mußte den rechten Arm hochrecken, so daß der Kuttenärmel nach unten glitt und den Unterarm entblößte. Harald stand daneben, sagte nun: „Ah – so wird es gemacht. Ich danke Dir, Pater –“

„Anselmus,“ ergänzte der Mönch und ging gleich darauf wieder hinaus.

Harst schrieb und zeichnete nun die Kreuzinschrift genau ab, setzte sich wieder und trank mit Behagen den ersten Schluck Kaffee.

„Störe mich jetzt nicht, mein Alter,“ sagte er und entnahm seinem Etui eine Zigarette. „Es wird ein mühseliges Stück Arbeit werden.“

Ich rückte meinen Stuhl an das offene Fenster und schaute über das Tal hinweg. Es war größtenteils noch in Sonnenlicht getaucht. Von dem Klostergarten konnte ich von hier aus nichts sehen. Aber ich hörte, wie die Löwen zuweilen dumpf aufbrüllten.

Dann flatterte vom Tische ein Blatt Papier herab.

„Laß es nur liegen,“ meinte Harst. „Es stehen nur mißglückte Lösungsversuche darauf.“ – Aber er zwinkerte mir dabei in einer Weise zu, daß ich, schnell seine Absicht erkennend, sagte: „Da bin ich wirklich neugierig –“

Ich holte mir das Blatt, rief lachend: „Nur Zahlen und griechische Buchstaben! Das ist allerdings uninteressant.“

Nicht eine Zahl stand darauf! Buchstaben allerdings genügend, aber deutsche! – Ich las folgendes:

„Ich werde eine scheinbar richtige Lösung ersinnen. Ich muß wissen, was dann geschieht. Der Prior hat genau so wie der Pater Anselmus auf dem Unterarm schlecht entfernte Tätowierungen, deren Art auf Seeleute schließen läßt. Jedenfalls gibt es hier ein weit größeres Geheimnis, als ich je vermutete. Die beiden sind niemals Kopten. Wenn uns nicht ein besonderer Zufall hilft, werden wir hier wohl unsere Tage beschließen. – Vernichten!“

Ich starrte auf das Blatt. – Unsere Tage beschließen! – Wenn Harald mich in dieser Weise vorbereitete, dann war die Situation für uns äußerst bedrohlich. – Ich durfte jedoch diese Gedanken auf meinem Gesicht nicht irgendwie sich widerspiegeln lassen. Ich nahm mich zusammen, pfiff leise ein paar Takte, knüllte den Zettel in der Hand wie spielend zu einer Kugel und tat, als würfe ich diese zum Fenster hinaus. – Ich war überzeugt, daß wir dauernd beobachtet und belauscht wurden.

Und – der Beweis hierfür war der Pater Anselmus, der nach einer Weile unter den Fenstern zu – harken begann! Natürlich hatte er es nur auf die Papierkugel dabei abgesehen. Ich wollte ihm aber den Spaß verderben. Ich lehnte mich hinaus und rief ihm zu, er möchte mir doch etwas zum Lesen bringen. Er stellte die Harke weg und erschien darauf mit einem englischen Buche, dem Scott’schen Romane „Ivanhoe“. – Ich verwickelte ihn in ein leises Gespräch.

Dann meldete Harald sich.

„Der Prior wird sich freuen,“ sagte er. „Ein Zufall hat mich den Schüssel der Geheimschrift finden lassen. Hier habe ich die Lösung auf englisch niedergeschrieben.“

„Ah – wirklich?“ Pater Anselmus konnte seine Freude nur schlecht verhehlen. „Ich hole den Prior, Mr. Harst. Einen Augenblick –“

Wir beide traten ans Fenster. Harald tat, als ob er mit mir über die Lösung sprach, streute aber andere Sätze ein mit gedämpfter Stimme:

„Nun kommt die Entscheidung. – Mir ist da ein Rettungsweg eingefallen. – Es wird ein böser Handel werden –“

Der Prior kam. – Ich will hier nicht schildern, wie fein Harst diese angebliche Lösung ausgeklügelt hatte, wie er dem Pater Christomas klar machte, daß lediglich ein Zufall ihm die Bedeutung der in die arabischen Zahlen eingefügten Tierfiguren enthüllt habe.

„Die Lösung lautet also:

Achtzig Schritt vom Tore zur tiefsten Sonne; vierzig Schritt weiter zum rechten Arm. Bewahre es gut, der Du nach mir kommst.

Ich kann mir nur denken,“ fügte er hinzu, „daß es sich hier um etwas handelt, das an einer bestimmten Stelle vergraben wurde, Pater Christomas. Vielleicht irgendwelche Sachen von Wert –“

Ich beobachtete den Prior. Sein Gesicht hatte sich jäh verändert. Das, was jetzt aus seinen Augen hervorleuchtete, war Habgier.

„Wie legen Sie diese Sätze aus, Mr. Harst?“ fragte er schnell.

„Das Parktor zeigt nach Westen. Mit „tiefste Sonne“ kann nur die westliche Himmelsrichtung gemeint sein. Also soll man achtzig Schritt vom Tore nach Westen abmessen. „Zum rechten Arm“ kann nur bedeuten: von dort rechtwinklig vierzig Schritt. Dann muß man die richtige Stelle haben.“

„Ja, ja – so muß es sein,“ nickte der Prior. „Wir werden das nachprüfen, – nicht gleich, später. Es kann sich nur um irdische Schätze handeln. Und danach steht unser Sinn nicht.“

Der Kerl heuchelte – und wie miserabel! Und er war doch sonst ein vollendeter Komödiant!

Er dankte Harald nun sehr salbungsvoll, nahm den Zettel und verschwand.

Wir setzten uns an den Tisch und unterhielten uns über die Geheimschrift. Das war ja jetzt das natürlichste. Harald meinte, es handele sich fraglos um einen Schatz. – Dann trat der Pater Anselmus ein und fragte, ob er uns vielleicht in den Garten führen dürfe. – Harst war sofort bereit. Wir folgten dem Pater, durchschritten das innere Tor, das den Garten von den Nebengebäuden trennte, und befanden uns nun inmitten einer farbenfrohen Wildnis tropischer Bäume und Sträucher. Der Pater hatte uns schon am Tore verlassen und es hinter uns wieder zugedrückt.

Harald blieb auf dem unkrautüberwucherten Hauptwege stehen und nahm sein Feuerzeug aus der Tasche des hellblauen Burnus.

„Auch eine Zigarette gefäl –“ Er brach mitten im Wort ab.

„Ah – die Schurken!“ flüsterte er. Und ich – ich folgte der Richtung seiner Blicke. Dort am Ende der langen, hohen Hecke, hinter der das Raubtierhaus lag, standen zwei Löwen mit pendelnden Schweifen, schauten nach uns hinüber.

Harald packte meinen Arm. Etwas rechts von uns erhob sich im Gebüsch eine Steinpyramide von gut 15 Meter Höhe, offenbar eine Nachbildung der ägyptischen Pyramiden, nur daß diese steiler und von glatter Oberfläche war und eine abgeplattete Spitze hatte.

Harst zog mich dorthin. Wir liefen um unser Leben. Ein Blick nach rückwärts hatte uns gezeigt, daß jetzt drei Löwen in kurzem Trab auf uns zuhielten.

Wie ich dann die Spitze der Pyramide erreicht habe, wie es mir gelang, mich nur an den wenigen Unebenheiten festzuklammern, weiß ich noch heute nicht. Nur das weiß ich, daß Harald vor mir oben war, sich lang hinstreckte und mich vollends hinaufzog.

Die Spitze der Pyramide wurde durch fünf viereckige Steinplatten gebildet, von denen vier die fünfte einschlossen. Die Seitenlänge des ganzen Quadrats betrug etwa 1½ Meter. In den Ritzen zwischen den Platten hatten sich Gräser angesiedelt, sogar ein einzelner Distelstrauch. Sand und Blätter bedeckten die Platten, auf denen wir nun nebeneinander saßen und die Löwen beobachteten, die unten in den Büschen umherstrichen, stehen blieben, zu uns nach oben witterten und leise brüllten.

Harald hatte die entsicherte Pistole in der Hand.

„Hier sind wir geborgen,“ meinte er. „Und von hier aus können wir auch sehen, was die Schatzgräber treiben. Sollte eine der Bestien versuchen, emporzuklimmen, so schießen wir. Ich wette, die Tiere sind heute noch nicht gefüttert worden. Sie liefen schon so sehr unruhig in den Käfigen hin und her, als dieser Betrüger von Prior uns den Garten zeigte. Man hat sie absichtlich hungern lassen – unseretwegen!“

„Um uns durch sie zerreißen zu lassen, meinst Du?“

„Hm – oder um uns durch sie gefügig zu machen, was das Richtigere sein dürfte. Jetzt freilich sollen wir sterben. Man braucht uns nicht mehr. – Ich will Dir erklären, was ich von diesen Dingen halte. Besinnst Du Dich auf Warbattys Testament, auf die Ruinenstadt Indra? Du hast dieses Problem unter dem Titel „Der blinde Brahmane“ (Band 15) veröffentlicht.“

„Ah – man hat uns in dieses Tal freiwillig –“

„Ja – ich sollte hier die Inschrift des Kreuzes enträtseln! Nur deshalb lauerte der Prior draußen auf uns. Er hat – insoweit log er nicht – mit unserem Erscheinen gerechnet. Seine Absichten wurden mir klar, als wir vor dem Kreuze standen. Man hat uns nur deshalb jenen Saal als Wohnraum angewiesen, damit ich auf das Kreuz aufmerksam werden sollte. Der Prior ist Engländer, ohne Frage. Sein Englisch verrät sogar seine engere Heimat durch den Dialekt – Wales! Und – er ist Seemann. Als er vor dem Kreuze den Arm hob, rutschte ihm der Kuttenärmel herab, genau wie dem anderen, den ich das Fenster öffnen ließ, um seinen Unterarm sehen zu können. Nur Seeleute tragen als Tätowierung Anker und darüber ein Schiff. Für die Anwesenheit dieser Leute hier gibt es nur eine Erklärung: es sind entflohene Sträflinge! Vielleicht solche, die zur Deportation nach einer Verbrecherkolonie bestimmt waren, die im Golfe von Suez vielleicht von Bord des Transportschiffes entwichen und den Weg hierher fanden, wo sie sich zu Herren des Klosters machten.“

„Etwas phantastisch,“ meinte ich. Ich hörte aber nur halb hin. Unten am Fuße der Pyramide hatten sich jetzt sieben der hungrigen Bestien versammelt.

„Weshalb phantastisch? Weshalb soll es nicht sogar möglich sein, daß diese Banditen hier schon jahrelang in der Verborgenheit leben, daß sie es waren, die Lord und Lady Pimberton jenen Eid schwören ließen, der die Zunge Lady Lydias noch heute bindet?! – Ah – dort drüben, – sie beginnen zu graben!“

Harald war aufgestanden. Die mittelste Steinplatte, auf der seine Füße ruhten, wippte etwas. Der Dornbusch hatte sie ein wenig an einer Seite hochgedrängt. Ich blickte hin. Haralds Schuhe hatten den Sand und die Blätter an einer Stelle entfernt.

„Du – die Geheimschrift!“ rief ich leise. „Hier – hier auf der mittelsten Platte – genau dieselben Zahlen und Tierfiguren!“

Er setzte sich wieder. „Vorsicht! Man beobachtet uns aus den Fenstern. – Wirklich, Du hast recht! Diese Entdeckung kann – Ja – die Platte ist lose! Jetzt nicht mehr hinsehen.“

Er stand wieder auf, meldete in Pausen. „Sie graben dort in dem Hirsefelde nach. – Sechs Mönche sind es und der Prior. – Ah – ich sehe auch zwei Beduinen! Der eine ist der Scheich! Mithin befinden sich Lady Lydia und Marry Southern ebenfalls hier. – Mögen sie nur nach den Schätzen buddeln! Jetzt ist das Geheimnis wirklich durch Zufall halb gelöst – durch Dich, mein Alter. Unter der Platte befindet sich ohne Zweifel der Eingang ins Innere dieser Steinpyramide, und die Zahlen und Figuren auf dem Kreuze weisen ganz sicher auf die Pyramide hin –“

Eine Stunde drauf – inzwischen hatte sich die Sonne hinter dunstigen Schleiern versteckt – gaben die Schatzgräber die Sache auf. Nur die Löwen hatten mehr Geduld und umstrichen noch immer die Pyramide.

„Es gibt Regen,“ meinte Harald und deutete auf eine schwarze Wolkenwand, die von Westen heraufzog.

Die Mauer, die den Garten nach den Nebengebäuden hin absperrte, war etwa 100 Schritt von der Pyramide entfernt. Und nun erschien oben auf der Mauer der ehrwürdige Prior und rief uns zu:

„He – Mr. Harst! Wir haben nichts gefunden!“

„Glaube ich gern, Pater Christomas. Ich habe mich eben geirrt.“

„Weshalb sitzen Sie dort oben, Mr. Harst? Und – inwiefern haben Sie sich geirrt?“

„Ihre erste Frage ist eine geradezu rührende Frechheit! Halten Sie mich für so dumm, anzunehmen, die Löwen wären von selbst ausgebrochen?!“

„Wie – die Löwen sind frei?! Unmöglich!“

„Lassen Sie doch diese Albernheiten. Ich weiß sehr gut Bescheid. – Was Ihre zweite Frage betrifft, so kann ich Ihnen nur erklären, daß Sie hätten daran denken sollen, es mit mir zu tun zu haben. Ich gab Ihnen absichtlich die falsche Stelle an. Die Zahlenschrift deutet auf einen anderen Ort hin. Diesen werde ich nur unter folgenden Bedingungen nennen: erstens – Sie gestehen ein, daß Sie und die anderen Mönche entsprungene Verbrecher sind. Zweitens – Sie geben Lady Pimberton und ihre Zofe frei und lassen uns vier ungehindert ziehen. Drittens – Sie verfolgen uns nicht. – Wenn Sie dies mir nicht zusichern, erfahren Sie den Ort niemals.“

Der edle Prior ließ nun die Maske fallen. Eine wahre Flut von Verwünschungen und Drohungen ergoß sich über uns. Dann hob er eine Büchse auf, die jemand ihm reichte und brüllte wieder:

„Ich knalle Sie beide dort herunter, wenn –“

Harald lachte schallend.

„Knallen Sie doch! Wenn ich tot bin, werden Sie das ganze Tal drei Meter tief durchwühlen können und den Klosterschatz doch nicht finden!“

Der Halunke sah ein, daß er sich lächerlich machte.

„Oh – Sie werden schon klein beigeben!“ rief er jetzt. „Der Hunger wird Sie zwingen, und die Löwen werden auch das ihrige tun! Morgen früh sind die Bestien halb toll, weil sie seit heute nichts mehr zu fressen bekommen haben! Wir sprechen uns morgen wieder!“ – Dann verschwand er.

„Hm – schade!“ meinte Harst. „Aus dem Handel ist nichts geworden. Ich hatte mir die Sache so schön ausgedacht. Jedenfalls müssen wir noch in dieser Nacht von hier fliehen. Es gibt bestimmt Regen. Dann werden die Löwen in ihren Käfig zurückkehren. Und wir – wir müssen dann versuchen, mit Gewalt zu erreichen, was durch List nicht glücken will.“

Es wurde dunkler und dunkler. Bald fielen die ersten Tropfen, wurden schnell zum Wolkenbruch.

„Hoch mit der Steinplatte,“ sagte Harald. „Weshalb sollen wir bis auf die Haut naß werden –“

Er klemmte die Finger in die Spalte; ein Ruck: die Platte stand aufrecht!

Darunter ein Schacht mit in die Wände eingelassenen Steigeisen.

„Hinab mit uns!“ – Ich kletterte als erster abwärts. Harald ließ die Platte wieder zurückgleiten. Ich hielt schon die Taschenlampe bereit. Der weiße Schein schoß in die Tiefe.

 

5. Kapitel.

Was wir hier fanden? – Zunächst nichts Merkwürdiges. Nur das, was Harald schon vermutet und mir gegenüber angedeutet hatte: drei Grabkammern, ähnlich wie in den ägyptischen Pyramiden; darin Mumien von Koptenmönchen.

Dann aber, bereits unter der Grundfläche der Pyramide, einen größeren Raum, den man am besten mit Bibliothek bezeichnet. Hier lagen auf Wandgestellen eine Unmenge Papyrus- und Pergamentrollen, also Aufzeichnungen aus den ältesten Zeiten des Klosters.

„Ah, – dieser Art sind die Schätze,“ meinte Harald. „Die Banditen würden arg enttäuscht sein. Für die Altertumsforschung freilich sind dies Schätze.“

Er leuchtete auch den aus Steinplatten bestehenden Boden ab. In der Mitte war aus Marmorplatten ein scharf sich abhebendes helles Kreuz eingefügt. Und hier stießen wir zum dritten Male auf die arabischen Zahlen und die Tierfiguren.

„Hm – oben auf der Spitze der Pyramide ließ sich diese Inschrift-Platte lüften,“ meinte Harst. „Ob dies nicht auch hier möglich sein sollte? Ob die Inschrift nicht besagen soll: Versuche nur – hier führt der Weg weiter! –?“

Er kniete nieder. Die Inschrift war auf einer Marmortafel eingemeißelt, die gerade das Mittelstück des Kreuzes bildete.

Haralds sechster Sinn, der Detektivinstinkt, bewährte sich auch hier wieder. Die Platte war tatsächlich nur eingepaßt und bequem herauszuholen. – Harald blickte zu mir empor. Er lächelte.

„Bück’ Dich mal,“ flüsterte er.

Aus dem Schacht unter der Platte, der ebenfalls eingemauerte Steigeisen hatte, drang ein scheußlicher Modergeruch hervor. – Nein – da war noch etwas anderes beigemengt, etwas, das an Salons, Tanzsäle, Theaterlogen erinnerte: Parfüm! – Und nun begriff ich das Lächeln Haralds. Dieses Parfüm benutzte Lady Lydia!

„Wir werden sie finden,“ flüsterte Harald abermals.

Drei Meter ging es hinab. Dann kam wieder eine steile Treppe aus Stein, die in einen völlig leeren Raum hinabführte. Die Wände und der Fußboden bestanden aus Granitquadern, waren feucht, stellenweise sogar schneeweiß von Schimmelpilzen. Hier spürte man den Parfümduft noch deutlicher. Und doch – es befand sich niemand hier!

„Sie ist hier gewesen,“ meinte ich leise.

Harald schüttelte den Kopf. Dann nahm er sein Feuerzeug aus der Tasche. Das kleine Flämmchen brannte nur schwach. Er schritt die Wände entlang, hielt das Feuerzeug überall dicht an die Fugen zwischen den Quadern.

Da – plötzlich trieb ein Luftstrom, der aus einer Fuge herausdrang, das Flämmchen zur Seite. An dieser Stelle gab es also eine Öffnung nach einem Nebenraum. – Harald versuchte auf dieselbe Weise festzustellen, wo sich hier der Rand einer Geheimtür befinden mußte. Das Flämmchen erfüllte seinen Zweck. Wir wußten nun: es gab eine Verbindung nach dem Nebenraum! Und durch die Fugen hatte der Luftstrom auch das Parfüm weitergeleitet.

Harald hatte nach zehn Minuten auch den Verschluß dieser Steinplattentür gefunden. Ganz sacht zog er sie nun auf. Wir hatten zur Vorsicht unsere Lampen ausgeschaltet. – Jetzt – eine Frauenstimme:

„Marry, hörst Du? Was bedeutet dieses Geräusch?“ – Es war Lady Pimberton.

„Mylady – keinen Laut!“ flüsterte Harst. „Wir kommen wieder. Wir holen Sie –“ – Er schaltete die Lampe nicht ein.

„Oh – Sie, Sie!“ hauchte die Lady.

„Still! Verraten Sie uns nicht. Auf Wiedersehen!“ –

Gleich darauf standen wir wieder oben auf der Pyramide. Der Regen hatte aufgehört. Aber die Nacht war inzwischen angebrochen. Schwarzes Gewölk bedeckte den Himmel. Nur im Westen war noch ein feiner rosiger Streifen als letzter Gruß der Sonne sichtbar. – Die Dunkelheit war so groß, daß man nicht einmal bis zur halben Höhe der Pyramide hinab etwas erkennen konnte.

„Warte hier, mein Alter,“ sagte Harald nun. „Gib mir aber Deine Pistole mit.“

„Was – was hast Du vor?“

„Du fragst? Wie sollen wir mit den Frauen durch den Garten bis zur Mauer, so lange noch die Löwen umherstreifen? – Eine Löwenjagd im Sinai habe ich vor! Unsere Clementpistolen mit ihren Stahlmantelgeschossen besitzen eine solche Durchschlagskraft, daß ein Mann ohne Nerven hierbei nichts riskiert. Außerdem – bedenke den Vorteil der Taschenlampen. Die Bestien starren in[1] das grelle Licht!“

„Niemals! Du allein?! – Ich komme mit.“

Er schlug mir leicht auf die Schulter. „Hab’s erwartet, mein Alter! Einer muß mir ja auch den Rücken decken.“

„Harald, die Schüsse werden das Kloster alarmieren. Die Banditen werden den Garten umstellen,“ warnte ich mit Recht.

„Gewiß. Aber – wir werden erst in der kommenden Nacht fliehen. Das ist der Witz! – Nun aber hinunter – und ganz leise! Ich klettere voran. Nimm Dich in acht, daß Du nicht ausgleitest.“ –

Angst? – War das Angst, das ich empfand? – Mein Herz klopfte mir bis zum Halse hinauf. – Zwölf Löwen, hungrig, gierig auf Beute! – Aber – der, der da vor mir nun mit solcher Sicherheit und Ruhe Schritt für Schritt abwärtsstieg, war ja Harald Harst! Und – hatte ich nicht in Bhopal im Stalle des Yogi mit dem Stachelbrett mich gut bewährt?!

Harald machte halt. Seine Lampe blitzte auf. Der Strahlenkegel fiel schräg herab, gerade auf zwei Löwen, die regungslos am Fuße der Pyramide standen, die Vorderpranken auf die Pyramiden gestützt.

Ein prachtvolles Bild! – Schade, daß die Bestie Mensch hier wieder den Vernichter spielen mußte.

Haralds rechter Arm hob sich, streckte sich.

Ein harter, kurzer Knall – noch einer.

Beide Löwen schnellten in die Höhe, fuhren zurück, sanken vorn in die Knie, taten sich taumelnd nieder.

Oh – man muß das Sterben eines dieser prachtvollen, stolzen Geschöpfe gesehen haben um zu begreifen, daß Harald nun sagte:

„Ein Jammer!“ –

Wir standen nun im Garten, rückten langsam vor, nachdem wir die Pyramide umkreist hatten.

„Wir müssen uns beeilen,“ flüsterte Harald. „Womöglich schießen die Schufte auf uns, wenn sie sehen, daß wir die Löwen auslöschen wollen –“

Er schritt dem Raubtierhause zu. „Vielleicht sind einige doch in den Käfigen,“ meinte er. – Und seine Vermutung traf zu. Wir fanden die Gitterfalltüren der drei Abteilungen offen, fanden im ganzen acht Löwen darin, ließen die Türen herabfallen. Die Bestien brüllten. Aber die weißen Lichtkegel schreckten sie.

„Noch zwei!“ – Harald hatte es kaum ausgesprochen, als ich einen furchtbaren Stoß gegen den Hinterkopf erhielt. Ich schlug zu Boden; eine schwere Last lag auf mir; ich hörte zwei Schüsse – noch einen. Dann riß Harald mich hoch.

„Verletzt?“ fragte er keuchend. Dieser Angriff hatte auch seine Nerven zum Vibrieren gebracht.

„Nein – gar nicht!“

Wir waren nun vorsichtiger. Aber – den noch in Freiheit befindlichen Löwen fanden wir nicht. – Jetzt leuchteten überall auf der Mauer Fackeln auf.

„Zurück zur Pyramide!“ sagte Harst. „Die Geschichte wird ungemütlich.“ – Schon beim Auftauchen der ersten Fackel hatten wir die Lampen ausgeschaltet. Der Weg im Dunkeln bis zu unserem Zufluchtsort war der gefährlichste. Harst wollte die Banditen glauben machen, daß wir bereits geflüchtet seien. – Wir standen nun oben auf der Pyramide. Ein feiner Regen rieselte herab. Wir setzten uns. Sehen konnte man uns hier nicht. So weit drang das Fackellicht nicht, da die Fackeln dauernd zu erlöschen drohten.

Nun am anderen Ende des Gartens Schüsse. Nun waren Leute dort in den Garten eingedrungen.

„Hinab!“ befahl Harst. „Ich werde nur eben den halben Kopf herausstrecken und beobachten.“

Ich stieg an den Steigeisen bis zur ersten Mumienkammer abwärts. Nach einer halben Stunde erschien Harald. – „Sie durchsuchen das Tal. Es sind mindestens fünfzig Leute, darunter gut die Hälfte Beduinen. Die Hauptsache: sie vermuten uns nicht mehr hier! Ich habe oben den Dornbusch entfernt und die Platte so aufgelegt, daß Laub und Sand sie wieder bedeckt. – Gehen wir nun Lady Lydia und Marry wieder ein wenig ermutigen und – umquartieren! Es ist ja klar, daß die Banditen die geheime Steinplattentür nicht kennen. Wir nehmen die beiden Frauen also in den anderen Raum.“ –

Es geschah. – Der Kerker der beiden war ein dumpfiges Kellerloch mit ein paar primitiven Pritschen als Lager. Marry Southern bekam vor Freude fast Weinkrämpfe. Die Lady bewies die alte Energie. Sie war wirklich eine bewundernswerte Frau. –

Wir führten sie bis in die oberste Mumienkammer. Hier war die Luft am besten. Harald hörte dann am Morgen das Fluchen und Toben der enttäuschten Banditen durch die Geheimtür hindurch, als sie das Verschwinden ihrer Gefangen bemerkten. Aber – bis zum Abend schwebten wir in steter Angst, die Schurken könnten das Geheimnis der Pyramide entdecken.

Dann war endlich die Nacht da. Wir warteten bis 12 Uhr. Harald ging sehen, ob wir unbelästigt fliehen könnten. – „Sie beladen Kamele und Pferde,“ meldete er. „Sie wollen das Tal verlassen. Sie fürchten, daß wir beide mit Militär das Nest hier ausheben.“ –

Ich kann mich jetzt kürzer fassen. Unsere Flucht ging ohne Zwischenfälle vonstatten, – bis wir den einzigen Ausgang des Tales erreicht hatten. Hier standen zwei Beduinen und einer der angeblichen Mönche Posten. Es half nichts. Sie mußten beseitigt werden. Drei Schüsse – Kopftreffer –; der Weg war frei.

Der Aufzug beförderte uns die Steilwand hinab.

Eine Stunde später stießen wir auf eine Patrouille des Kamelreiterkorps. Und wieder eine halbe Stunde drauf begrüßten wir den Hauptmann Mac Lean vom Kamelreiterkorps, den wir von Suez her kannten. Vierzig Leute hatte er mit. Unsere Boten hatten die Meldung von dem Überfall auf Schloß Medsur richtig überbracht. – Morgens lebten von den Beduinen und den Banditen nur noch 18 Mann. Der „Prior“ war schwer verwundet. Er bestätigte Haralds Annahme: es waren entsprungene Sträflinge, die die Mönche des verborgenen Tales bis auf zwei niedergemacht hatten und nun seit sechs Jahren dort die frommen Kopten, nebenbei die Verbündeten des Räuberscheichs Umri gespielt hatten. – Hauptmann Mac Lean machte kurzen Prozeß: er ließ zwei Stunden drauf auch den Rest der Bande erschießen. –

Lady Lydia gab offen zu, daß sie mit Hilfe des Hausmeisters Prigrave und ihrer Diener den Überfall nur deshalb inszeniert hatte, um uns zu zwingen, auf einen Besuch des gefährlichen Tales zu verzichten. Sie hatte eben gewußt, daß dort jetzt Verbrecher hausten. –

Hiermit schließe ich dieses Abenteuer. Das zerrissene Buch, das ich in unserem „Kerker“ in Schloß Medsur gelesen und das auch einige Abschnitte über die Halbinsel Sinai enthalten hatte, vermittelte uns dann ein noch aufregenderes Erlebnis, nämlich:

 

Das Geheimnis der Oase Fartah.

 

 

Das Geheimnis der Oase Fartah.

 

1. Kapitel.

Im Speisesaale des Schlosses Medsur (fünf Tage hatten genügt, sämtliche Spuren der Plünderung zu beseitigen) saßen wir zu sechs an der Tafel: Lady Lydia Pimberton als Hausfrau an der einen Schmalseite; links von ihr Harald Harst; neben diesem Frau Hauptmann Mac Lean, deren Gatte, ihnen gegenüber Leutnant Sidney Jones und ich.

Das Gespräch drehte sich um die letzten, leider so blutigen Ereignisse. Lady Lydia war ernst und beteiligte sich wenig an der Unterhaltung. Einmal ging ihr die Ermordung ihrer Dienerschaft sehr nahe; dann aber wußte sie, daß Harald heute den letzten Tag unter ihrem Dache weilte. Wir wollten morgen früh Leutnant Jones vom Kamelreiterkorps ins Innere der Halbinsel Sinai begleiten, wo er mit zehn Leuten zwei aus dem Gefängnis in Suez entsprungene internationale Hochstapler und Hoteldiebe suchen sollte, die offenbar zu einem der Beduinenstämme geflüchtet waren.

Durch eine Bemerkung Hauptmann Mac Leans über die Oasen der Sinai-Wüsten wurde ich an das zerfetzte Buch erinnert, in dem ich auch einen Hinweis auf eine Oase namens Fartah gefunden hatte, die nach alten, unter den Wüstenstämmen fortlebenden Überlieferungen die Ruinen einer Stadt aus der ältesten ägyptischen Kulturepoche enthalten sollte.

Da die Mahlzeit bereits vorüber war und wir Herren den üblichen Nachtisch in Gestalt einer Zigarre oder Zigarette genossen, erhob ich mich und stieg in die Kellerräume hinab, fand auch den schon etwas antiken Schmöker und las dann an der Tafel den Abschnitt über die Oase vor.

Hauptmann Mac Lean erklärte, als ich damit fertig war:

„Es ist das nichts als eine Sage. Ich habe die Sandebenen der Sinai-Halbinsel doch bereits nach allen Richtungen durchkreuzt. Diese Oase existiert nicht.“

Leutnant Sidney Jones, ein junger, sehr sympathischer Engländer, räusperte sich und meinte bescheiden.

„Doch – es gibt eine solche Örtlichkeit.“

„Na nu, Jones,“ rief Mac Lean. „Das wollen Sie behaupten, der erst ein halbes Jahr hier beim Korps Dienst tut?!“

Der blonde Leutnant winkte einen der Soldaten heran, die bei Tisch bedient hatten. Es war sein Bursche, ein Araber aus der Gegend von Damaskus.

„Hafid, was weißt Du über die Oase?“ fragte er ihn.

„Mein Vater,“ erklärte der stattliche Reiter mit fester Stimme, „war Händler. Er hat mir erzählt, daß er einst mit seinen beiden Maultieren die Beduinen hier auf der Halbinsel besuchte. Er verirrte sich und kam schließlich durch ein Gebiet von wandernden Sandbergen. Plötzlich gewahrte er eine Oase in der Ferne, daneben eine Reihe von eingestürzten Häusern. Ein Sandsturm, der sich dann erhob, zwang ihn, eine andere Richtung zu nehmen. So kam es, daß er jene Oase nur gesehen, aber nicht besucht hat.“

„Eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung,“ sagte Mac Lean lächelnd. „Das ist kein Beweis für die Existenz der Oase Fartah und der Ruinenstadt. – Übrigens fällt mir da etwas ein –“

Er griff in die Tasche und entnahm seiner Brieftasche ein zerknittertes Blatt Papier.

„Dieses Blatt hat einer der beiden Hochstapler bei seiner Verhaftung in Suez fortzuwerfen versucht. Detektivinspektor Greaper gab es mir mit der Bitte, es Ihnen, Mr. Harst, doch einmal vorzulegen. Er hält es für –“

Harald sagte schon: „Bitte – was Mr. Greaper darüber denkt, möchte ich zunächst nicht wissen.“

Er betrachtete das Blatt. Aller Augen hingen an seinem Gesicht. Man erwartete, daß er nun seinerseits eine Ansicht über dieses Stück Papier äußern würde.

Er zuckte nach einer Weile die Achseln und reichte es mir mit den Worten:

„Das kann alles Mögliche sein.“

Ich legte das Papier, nachdem ich es auf Art und Güte geprüft hatte, auf den Tisch, damit auch Lady Lydia es sich ansehen konnte.

„Ach – ein Haus!“ rief sie.

„Schraut – Vortrag!“ lächelte Harald. „Mache den Herrschaften klar, wie wir so etwas besichtigen.“

„Nun,“ begann ich mit meiner Weisheit, „das Papier ist die Hälfte eines Bogens besten Leinenschreibpapiers und stammt dem Wasserzeichen nach aus einer deutschen Fabrik. Die Zeichnung auf der einen Seite des Blattes stellt ein mit lila Tinte flüchtig durch Striche hingeworfenes Haus dar und macht den Eindruck, daß eine Kinderhand es hergestellt hat. Unter dem Hause stehen noch drei Kreise mit Zahlen und Strichen darin. Die Bedeutung des Ganzen ist so ohne weiteres nicht zu erklären.“ –

Ich will hier die Zeichnung so wiedergeben, wie ich sie auf dem Blatte fand, nur mit geraden Strichen – bis auf die Kreise.

 

 

So also sah das Ganze aus. – Nun mag der Leser versuchen, sich zunächst mal selbst eine Ansicht darüber zu bilden. –

Harald schwieg und blickte starr vor sich hin auf seine linke Hand, an deren kleinem Finger ein Ring mit einem bohnengroßen Diamant funkelte und sprühte.

Auch Frau Mac Lean ließ sich nun das Blatt reichen.

„Natürlich ein Haus!“ meinte sie. „Mitten im Giebel sieht man ja auch so etwas wie ein Hirschgeweih.“

Dann wieder Stille. Harst saß völlig regungslos. Seine Augen hatten sich langsam bis auf einen schmalen Spalt geschlossen. Auf seiner Stirn vertieften sich die drei charakteristischen Falten. In seiner gleichfalls auf dem Tische ruhenden Rechten schwelte zwischen Zeige- und Mittelfinger die Mirakulum-Zigarette unbeachtet weiter und sandte einen feinen Rauchfaden in die Höhe.

Wieder hingen aller Augen an Haralds gebräuntem bartlosen Gesicht. Das Schweigen bekam sehr bald etwas Bedrückendes, Lähmendes. Und doch sagte niemand ein Wort.

Dann – ganz unvermittelt hob er den Kopf, schaute zu Mac Lean hinüber und bat:

„Erzählen Sie alles, was Sie über die beiden Hochstapler wissen.“

Ah – der Bann war gewichen. Und die temperamentvolle Frau Mac Lean rief:

„Wo waren Sie eigentlich mit Ihren Gedanken, Mr. Harst?“

„In Suez. Ich stellte mir vor, wie der eine Gauner das Blatt zusammenknüllte und heimlich fortzuwerfen suchte. – Wer dies versucht, will sich einer Sache entledigen, die entweder für ihn belastend sein kann oder die er den Augen anderer aus sonstigen Gründen entziehen will. Es wäre also zu prüfen, ob das Blatt als Belastungsmaterial in Frage kommt oder ob die „sonstigen Gründe“ vorliegen. – Das alles überlegte ich mir soeben.“

„Inspektor Greaper hält das Blatt für eine Skizze mit verborgener Bedeutung,“ meldete sich der Hauptmann nun. „Er meint, es könne ein Haus sein, wo die Gauner vielleicht wertvolle Beute verborgen haben.“

„So so,“ sagte Harald nur. „Also bitte, was wissen Sie über die beiden.“

„Nicht viel,“ erklärte Mac Lean. „Sie waren vor etwa 14 Tagen im Hotel Atlantic in Suez abgestiegen, und hatten sich als Kaufleute namens Schwertner und Salbing, aus Hamburg, in das Fremdenbuch eingetragen. Sie trieben sich viel in der Umgegend von Suez herum. Dann wurde einem anderen Gast des Atlantic eines Nachts eine Brieftasche mit 2000 Pfund Sterling gestohlen. Die Polizei beobachtete nun auch Schwertner und Salbing und stellte fest, daß sie am Vormittag nach dem Diebstahl zwei gute Reitpferde und ein Packpferd nebst voller Ausrüstung sowie zwei Gewehre nebst Munition von einem Händler gekauft und mit einer 100-Pfundnote bezahlt hatten, die der Bestohlene aus alter Gewohnheit mit besonderen Zeichen versehen hatte, um zu prüfen, ob dieselbe Banknote, nachdem er sie ausgegeben, nochmals in seine Hände gelangen würde. Man verhaftete daraufhin die beiden in ihrem Hotelzimmer. Hierbei warf Schwertner sehr geschickt die Papierkugel zum offenen Fenster hinaus. Bei der ersten Vernehmung verweigerten sie jede Aussage. Aber ein Gast aus einem anderen Hotel erkannte in ihnen – er hatte gerade auf der Polizei zu tun – zwei Hoteldiebe, die kürzlich in Konstantinopel verhaftet worden waren und von dort entwichen sein mußten. Als die beiden dann nach dem Verhör in das Polizeigefängnis zurückgeführt werden sollten, schlugen sie den Aufseher in einem dunklen Gange nieder, gingen frech durch das Hauptportal auf die Straße und direkt zu dem Händler, der ihnen gutgläubig die Pferde und Wasser übergab. Sie flohen dann nach Süden, ließen sich von einem Araber über den Golf von Suez setzen und entkamen in die Wüsten der Sinai-Halbinsel.“

„Und das gestohlene Geld?“ fragte Harst.

„Wurde bei ihnen gefunden und dem Eigentümer wiedergegeben.“

„Waren sie sonst noch im Besitz von Geldmitteln?“

„Nein. Auch ihre Koffer enthielten nur sandgefüllte Schachteln und wertlosen Kram.“

„Sprechen die beiden das Englische mit fremdem Akzent?“

„Ja. Ganz wie Deutsche.“

„Darf ich die Zeichnung an mich nehmen, Mr. Mac Lean?“

„Aber bitte – gewiß! – Was halten Sie denn davon?“

„Sehr viel – auch ohne Ihre Schilderung der Vorgänge in Suez.“

„Was heißt das?“

„Nichts anderes, als daß ich sofort erkannte, daß dies da kein Haus ist, sondern –“

„Nun, sondern?“

„Eine – Landkarte.“

Frau Mac Lean lachte. „Aber Mr. Harst! Eine Landkarte?! Wem wollen Sie das einreden?!“

„Niemandem. – Ich kann mich ja auch irren. Vielleicht ist es wirklich ein Haus.“

Jetzt log Harald. Ich merkte: er wollte nur nicht mit der Wahrheit herausrücken!

Er schob das Blatt in seine Brieftasche und fügte hinzu:

„Wenn wir Schwertner und Salbing erst haben, werden sie uns sagen müssen, ob Sie, Mistreß Mac Lean, oder ich im Rechte war. Jetzt hat eine Erörterung dieser Frage keinen Zweck.“ –

Gegen elf Uhr abends trennten wir uns von den anderen Gästen und gingen in unsere Zimmer hinauf. Wir wollten ja recht früh zusammen mit Leutnant Jones aufbrechen. Harst hatte zuletzt den Müden und Abgespannten gespielt und doch nur eins damit bezweckt: er wollte den traurigen Augen Lady Lydias entgehen! – Sie liebte ihn – liebte ganz aussichtslos.

Wir waren jetzt allein. „Setzen wir uns noch im Dunkeln ans Fenster,“ meinte Harald. „Die Nacht ist so wunderbar schön. Ich möchte diesen Anblick der mondbeschienenen Berge noch einmal auskosten. Wir werden ja nie mehr hierher zurückkehren. Lady Lydia wird Schloß Medsur verkaufen. Wenn ich nicht Detektiv und ein so unruhiger Geist wäre, würde ich es vielleicht erwerben – als Ruhesitz für die alten Tage.“

Ich nahm ihm gegenüber in einem Korbsessel Platz. Der Mond bestrahlte die andere Seite des Schlosses und warf so einen riesigen, schwarzen, verzerrten Schatten des burgähnlichen Bauwerks gerade auf einen Teil des Parkes.

„Übrigens haben wir heute wieder den Beweis erhalten, wie seltsam zuweilen Ereignisse mit demselben „Kern“ ineinander greifen,“ sagte Harst nun.

„Ich verstehe Dich nicht –“

„So?! Und bist doch daran beteiligt. – Aber, lassen wir das jetzt –“

Eine kurze Pause. Dann: „Das „Haus“ auf der Zeichnung ist nichts anderes als der 59 000 Quadratkilometer große, durch den Golf von Suez und den Golf von Akaba umschlossene viereckige Länderteil, Halbinsel Sinai genannt –“

„Ah – wirklich?“ – Ich war in der Tat sehr überrascht.

„Das heißt: nicht das ganze Haus. Nur der Giebel. Den Unterteil mit den Fenstern und der Tür hat man nur hinzugefügt, um das Ganze eben als harmloses Häuschen erscheinen zu lassen. Hättest Du die Zeichnung umgedreht, mein Alter, und dann den Buchstaben S an der rechten Giebelecke beachtet, so wäre Dir dieser Gedanke, es könnte sich um die dreieckige Halbinsel Sinai handeln, wohl auch gekommen. Denn dieses S kann ja Suez sein.“

„Hm – dann sind das Wichtigste dabei also wohl die drei Kreise?“

„Das will ich nicht sagen. Kreise und Dreieck ergänzen sich.“

„Du weißt also bereits ganz genau, worum es sich handelt?“

„Erspare mir jetzt die Antwort, ohne gleich wieder einzuschnappen und mir Geheimniskrämerei vorzuwerfen. Deine Freude wird größer sein, wenn Du nachher alles erfährst.“

Ich schwieg und begann zu grübeln. Sollte es mir nicht gelingen, selbst herauszufinden, worauf Haralds Andeutungen abzielten?

Zu langem Nachdenken kam ich jedoch nicht. Es klopfte. Und dann rief Hauptmann Mac Lean durch die Tür hindurch:

„Mr. Harst – noch zu sprechen?“

Ich ging, riegelte die Tür auf und ließ ihn ein.

„Ah – Sie halten noch nächtliche Dämmerstunde,“ meinte Mac Lean mit etwas gezwungenem Lachen. – Ich schob ihn einen Sessel ans Fenster. Harst reichte ihm das Zigarettenetui, sagte dazu:

„Ihnen ist noch etwas der beiden Hoteldiebe wegen eingefallen – stimmt’s?“

„Ehrlich, Mr. Harst, – nicht eingefallen. Ich wollte das nur vor Leutnant Jones nicht erwähnen. Ich habe nämlich so etwas mit Ihrer Bekanntschaft renommiert. Ich war dabei, als Greaper die beiden vernahm. Als sie so verstockt schwiegen, auch über die Zeichnung, da rief ich ihnen zu: „Das hilft Ihnen nichts – gar nichts! – Haben Sie schon mal von Harald Harst etwas gehört? Der befindet sich hier in der Nähe in Schloß Medsur. Ich werde ihm das Blatt vorlegen, und dann brauchen wir Ihre Aussage nicht mehr!“ – Ich wollte Ihnen dies nicht verschweigen, Mr. Harst. Es war wirklich von mir so etwas Renommiersucht. Ein so berühmter Mann wie Sie, – den Namen nennt man gern!“

„Was sagten denn die beiden hierauf?“

„Nichts. Sie schauten sich nur an. Aber diese Blicke, die sie austauschten – Hallo – was war denn das eben? Ein Schuß –? – Da – noch einer – ein dritter –?“

Wir drei beugten uns zum Fenster hinaus.

„Die Richtung, aus der die Detonationen herüberschallten läßt sich hier in den Bergen nicht feststellen,“ meinte Harald. „Die Schallwellen werden zu oft zurückgeworfen. Ich denke, wir gehen trotzdem mal hinaus und befragen die Wachen.“

 

2. Kapitel.

Mac Lean hatte auf den nächsten Anhöhen, weniger aus Furcht vor einem neuen Überfall, als vielmehr zur Beruhigung Lady Lydias und seiner Gattin, vier Posten aufgestellt und zwar gerade an den vier einzigen Pässen, die in das Tal hinabführten, in dem Schloß Medsur lag.

Wir stiegen dann gerade die Haupttreppe hinab, als Lady Lydia uns entgegenkam.

„Meine Herren, – die Schüsse?“ fragte sie leicht erregt. „Hoffentlich nicht abermals ein Unheil! Dieses Schloß ist wirklich wie mit einem Fluche belastet –“

„Wir gehen schon, um uns zu überzeugen, was los ist, Mylady,“ erklärte Mac Lean. „Angst brauchen Sie nicht zu haben. Mit meinen dreißig Leuten halte ich allen Beduinen der Halbinsel stand.“

Wir eilten weiter. Am Parktor teilte uns der dort stehende Posten mit, daß Leutnant Jones mit seinem Burschen Hafid vor einer Viertelstunde das Schloß verlassen habe, um die Wachen zu revidieren.

„Verdammt!“ rief der etwas polterige Mac Lean. „Wenn dem Kleinen was zugestoßen sein sollte?! Weiter, meine Herren, weiter!“ Der „Kleine“ war Leutnant Sidney Jones. Er war erst 23 Jahre alt, und Frau Mac Lean „bemutterte“ ihn so etwas.

Der nächste Posten war der am östlichen Paß. Wir hielten also auf ihn zu. Zum Teil legten wir den Weg im Trab zurück. Nun ging es eine Schlucht hinauf, hinweg über ein Geröllfels, dann ein Anruf durch den Posten.

Mac Lean meldete sich. – Der Kamelreiter, ein schlanker Araber, trat aus dem Schatten der Felswand hervor. Der Mann war so aufgeregt, daß er kaum sprechen konnte.

„Dort – dort ist geschossen worden –“ stotterte er.

„Waren der Leutnant und Hafid hier?“

„Ja, – sie verfolgten den Beduinen.“

Da mischte sich Harald ein. Mac Leans Art zu fragen war auch nicht gerade sehr geschickt. – So wurde denn in kurzem folgendes festgestellt. Der Posten hatte in den höheren Teilen der Schlucht, die hier den Paß bildete, ein paar Gestalten bemerkt und auch angerufen. Wie viel Leute es waren, konnte er nicht sagen. Auf den Anruf hin regte sich nichts mehr. Dann erschien Leutnant Jones mit Hafid. Gerade als der Posten von dem Beobachteten dem Leutnant Meldung erstattete, tauchte ein Beduine etwa fünfzig Meter weiter aufwärts für wenige Sekunden, vom Monde hell beschienen, auf und war dann ebenso plötzlich wie in den Erdboden hinein verschwunden. Der Leutnant und sein Bursche waren sofort auf den Mann zugerannt. Jones hatte dem Posten noch im Laufen befohlen, seinen Platz nicht zu verlassen. Die beiden hatten dann offenbar nach dem Beduinen gesucht, waren immer höher gestiegen und hatten den im Schatten liegenden Teil der Schlucht betreten. Der Posten hatte daher von ihnen nichts weiter gesehen. Gleich darauf fielen die drei Schüsse, offenbar sämtlich Revolverschüsse dem Knalle nach. Der Posten war nach oben gelaufen, konnte jedoch nichts Auffälliges bemerken, fürchtete auch, aus dem Hinterhalt niedergeknallt zu werden.

Wir drei stürmten nun den Paß aufwärts. Im schwarzen Schatten einiger Felsblöcke fanden wir zuerst Hafid. Er war tot. Eine Kugel war ihm gerade ins Herz gedrungen. Acht Meter oberhalb dieser Stelle lag Jones, ebenfalls tot, wie es zunächst schien. Er hatte eine Schußwunde in der linken Stirn.

Mac Lean schickte nun den Posten auf Haralds Rat nach dem Schlosse. Vier Kamelreiter bewachten dann die Stelle, wo wir die beiden gefunden hatten. Vier weitere trugen die Toten ins Schloß hinab. Harald wollte erst mit Tagesanbruch den Paß auf Spuren durchsuchen. Er machte dem Hauptmann klar, daß eine Verfolgung jetzt in der Nacht zwecklos sei und daß man nur wichtige Fährten verwischen würde.

Wir kehrten ebenfalls ins Schloß zurück. Hier stellte Harst fest, daß Jones doch noch lebte. Aber ihn auch am Leben zu erhalten, war wenig Hoffnung.

Die beiden Damen waren[2] zunächst ganz fassungslos. Lady Lydia erklärte, sie würde keine Stunde länger als nötig in diesen fluchbeladenen Mauern bleiben.

Der arme Jones erlangte nur noch einmal das Bewußtsein wieder. Harald beugte sich über ihn.

„Können Sie uns irgend etwas über die Leute angeben, die Sie niederschossen?“ fragte er.

Der Leutnant versuchte zu sprechen. Er murmelte auch ein paar Worte, die jedoch unverständlich blieben.

„Ich verstehe nichts,“ sagte Harst. „Mr. Jones – ob Sie die Kraft zum Schreiben haben?“

Jones hob den rechten Arm, öffnete den Mund und führte den Zeigefinger mit großer Anstrengung an den rechten Mundwinkel. Dann sank der Arm herab. Der Körper zuckte; die Augen verloren den Glanz. – Er war tot. –

Um 1 Uhr legten Harald und ich uns noch für ein paar Stunden in Kleidern aufs Bett. Ich hatte Harst gefragt, wie er die merkwürdige Handbewegung des Sterbenden deute. Und da hatte er erwidert:

„Was fiel Dir auf, als der arme Kleine den Mund so weit öffnete?“

„Hm – eigentlich waren’s seine Goldplomben,“ erwiderte ich.

„Nun also –“

„Was hat das aber mit seiner Handbewegung zu tun?“

„Gute Nacht, mein Alter. Ich möchte morgen ganz frisch sein, wenn wir nach Spuren in der Schlucht suchen. Fängt Du erst mal zu fragen an, dann findest Du kein Ende.“ –

Um 4 Uhr war es hell genug, um den Schauplatz der beiden Morde in Augenschein nehmen zu können.

Harald tat dies allein. Mac Lean und ich hielten uns stets hinter ihm. Viel zu sehen gab es hier jedoch nicht. Der nackte Felsboden verriet nichts. Nur etwas hob Harald dort auf, wo etwa Jones gelegen hatte: ein etwa ½ Zentimeter langes, zersplittertes Knochenstückchen, in dem ein dünnes Büschelchen kurzer, heller Borsten steckte.

„Ah – ein Stück einer Taschenbürste,“ meinte Mac Lean.

„Vielleicht. – Wenn wir nun noch einen Kugeleinschlag finden, dann behaupte ich folgendes: Jones hat die Beduinen an dieser Stelle angerufen und auf sie geschossen, als sie nicht stehen blieben. Seine Kugel traf jedoch nur die Tasche des einen, in der – sagen wir – ein Bürstchen steckte. Die Kugel riß dieses Stückchen der Bürste mit heraus. Dann knallten die Beduinen Jones und Hafid nieder. Der Kugeleinschlag des Schusses des Leutnants muß sich also weiter oberhalb befinden. Suchen wir danach.“

Mac Lean war’s, der das blaugraue, mit Bleisplitterchen durchsetzte Fleckchen an einem Steine etwa ein Meter über dem Boden entdeckte.

„Die Richtung stimmt,“ sagte Harald. „Es wird schon so gewesen sein, wie ich denke.“

Jenseits der Paßhöhe in einem Tale fanden wir eine Stunde später auch Spuren der Anwesenheit von Pferden. Wie viele Pferde hier gestanden hatten, war nicht recht zu bestimmen. Mac Lean meinte, es seien 4–5 gewesen, Harst schätzte auf 2–3. Jedenfalls hatte man aber den Tieren die Hufe umwickelt gehabt. Das bewiesen die Stoffäserchen[3], die hie und da an rissigen Stellen des Gesteins haften geblieben waren.

Mac Lean hatte schon in der Nacht zwei Reiter nach Suez geschickt, um Inspektor Greaper mit seinem Polizeihund herbitten zu lassen.

Greaper traf erst am anderen Morgen ein. Der Hund bewährte sich vorzüglich. Wir vereinbarten dann, daß Harald und ich sofort in Begleitung Greapers und mit fünf Kamelreitern den Beduinen nachsetzen sollten. – Der Abschied von Lady Lydia war kurz und von ihrer Seite weniger schmerzlich, als ich gefürchtet hatte. Sie rechnete eben bestimmt damit, daß wir sie bald wiedersehen würden. Hätte sie geahnt, daß es ein Abschied für immer war, wäre sie wohl nicht so gefaßt gewesen. Nur um eins bat sie Harald: er solle doch ja vorsichtig sein und sein Leben schonen. – Er versprach es. – Was verspricht man nicht alles einer Frau, der man den Abschied erleichtern will! –

Wir beide benutzten wieder unsere früheren Reitkamele. Der einzige, der ein Pferd ritt, war Tom Greaper. Der Inspektor, erst unlängst nach Suez versetzt, hatte bisher dienstlich viel Pech gehabt. Er wollte jetzt die in Suez erlebten Fehlschläge durch die Ergreifung der Mörder wettmachen und war deshalb allzu eifrig, auch allzu hoffnungsfroh. Im übrigen zeigte er sich als liebenswürdiger Gefährte. Nur eine Eigenart hatte er: allzu großen Rassenstolz! Er behandelte Harald mit einer gewissen heiteren Überlegenheit, als ob er ihn als „nur“ Liebhaberdetektiv nicht recht ernst nahm.

Wir waren um 10 Uhr von Schloß Medsur aufgebrochen. Greaper ritt dann mit dem an einer Leine befestigten Hunde voran. Der Polizeihund, eine Kreuzung von Bulldogge und Terrier, führte uns bis zum Spätnachmittag völlig sicher. Dann stutzte er auf einem langgestreckten Plateau vor einer terrassenartigen Erhebung. Er begann hin- und herzulaufen. Er hatte die Fähre verloren. Wir mühten uns bis Dunkelwerden ab, sie wiederzufinden. Die Kamelreiter, alles langgediente, erfahrene Leute, versagten genau so. Auch Harald war ratlos. Es blieb nichts anderes übrig, als zu lagern und bei Tagesanbruch die Suche aufs neue zu beginnen. Doch auch der folgende Tag brachte nur Fehlschläge. Greaper behauptete schließlich, die Flüchtlinge könnten sich von hier aus nur nach Osten in die Wüste gewandt haben, die wir als helles Sandmeer von diesen Vorbergen aus in der Ferne schimmern sahen.

Harald widersprach. Ein solcher Ritt ins Ungewisse hinein sei zwecklos; Greaper solle sich jetzt nur seiner Führung anvertrauen. – Der Inspektor beharrte bei seinem Entschluß. So trennten wir uns denn am Morgen.

Als die sechs Reiter und der Hund verschwunden waren, sagte Harald zu mir: „So, nun haben wir volle Bewegungsfreiheit. Dieses unbelehrbare polizeiliche Anhängsel störte mich. Leute, die von sich derart eingenommen sind wie dieser Greaper, bleiben stets Stümper. Wäre er bei uns geblieben, hätte er die Mörder bekommen. So wird er sie uns überlassen müssen.“

„Wie meinst Du das: uns überlassen müssen? – Das klingt ja genau so, als wüßtest Du, wo die Beduinen jetzt stecken?“

„Beduinen – hm?! Also auch Du, mein Sohn Brutus?! Auch Du traust einem Beduinen einen Nagelreiniger zu und verwechselst ein Stückchen eines solchen mit dem einer Taschenbürste?“

Haralds letzte Sätze, besonders der Nagelreiniger, hätten jeden stutzig gemacht.

Er hatte das Stückchen polierte Knochenmasse mit dem Borstenbüschelchen schon hervorgeholt und hielt es mir hin.

„Lieber Alter, das ist ein Teil eines jener Nagelreiniger aus Knochen, die an den Schmalseiten je eine Reihe Borstenbüschel und an den Breitseiten eingelassene Feilen, vorn aber eine Spitze haben. Ein Stück einer Taschenbürste sieht ganz anders aus. Meinst Du nun, daß ein Beduine sich mit einem Nagelreiniger herumschleppen wird? Meinst Du, daß ein solcher Kulturapparat, falls ihn ein Beduine zufällig findet, von diesem beachtet werden wird?! – Nein, – behaupte ich. Der braune Kerl wüßte ja gar nicht, was er damit anfangen soll.“

„Mag sein,“ sagte ich nur.

„Der Nagelreiniger allein besagt nichts – gar nichts!“ fügte Harald hinzu. „Da gebe ich Dir vorkommen recht.“ Er entnahm seiner Brieftasche nun ein Büschel schwarze Haare. „Da – besieh Dir dies mal. Leutnant Jones hielt es in der zusammengekrampften Hand, als wir ihn bewußtlos auffanden.“

„Meiner Ansicht nach braune Schafwolle,“ erklärte ich.

„Ganz recht. An diesem Wollbüschel klebt aber noch etwas.“

Ja – da war etwas Klebriges, etwas, das ich nun dem Geruch nach für Harz hielt.

„Es scheint Harz zu sein –“

„Es ist Harz. Man hat es offenbar dazu benutzt, die Wolle festzukleben. Natürlich als Bart. Daß Jones dieses Stückchen falschen Bartes in der Hand hatte, läßt sich nur auf eine Weise deuten. Er wird bei der Suche nach den sogenannten Beduinen einen der Burschen schon gepackt gehabt haben. Vielleicht mit der Linken am Burnus, während er ihm mit der Rechten in der Überzeugung, keinen echten Beduinen vor sich zu haben, den als falsch erkannten Bart abzureißen suchte. In demselben Moment schoß ihn ein anderer der Schufte nieder. – Weißt Du eine bessere Erklärung?“

„Nein. Allerdings nicht.“

„Nun Beweispunkt Nummer drei. – Der sterbende Jones deutete mit dem Finger, da er nicht mehr sprechen konnte, auf seine – Goldplomben, behaupte ich. Er tat dies deshalb, um mir anzudeuten, einer der Mörder habe gleichfalls Plomben gehabt und fraglos recht auffallende. Dieser „Beduine“ mit den Goldplomben kann nur der gewesen sein, dem Jones die Wolle wegriß. – So, nun hören die Beweise auf, mein Alter, und die Kombinationen beginnen. Du siehst jedenfalls, daß man in unserem Beruf auch außerhalb der kultivierten Welt Kleinigkeiten beachten muß und „Feinarbeit“ liefern kann. – Also die sogenannten logischen Schlüsse nun, mit denen Du vielleicht beginnst. Bitte –“

„Es mögen Europäer gewesen sein,“ begann ich vorsichtig, denn bei Harst weiß man nie, ob man sich nicht gehörig blamiert.

„Etwas wenig, mein Alter. Wir wollen aber zu Ende kommen. Es waren, glaube ich, – Schwertner und Salbing. Ich habe Greaper nicht widersprochen, als er behauptete, es handele sich hier um etwa fünf Pferde, also auch fünf Reiter. Ich erkläre noch jetzt: es sind höchstens drei Pferde gewesen. Eins davon kann ein Packpferd sein. Also können die Reiter sehr wohl die beiden Gauner gewesen sein, die ja mit einem Packpferd geflüchtet sind.“

Ich gebe zu: dieser Vortrag wurde mir immer interessanter. Wenn Harald so eine seiner recht verzwickten Theorien entwickelte, bedeutete das für mich stets einen geistigen Genuß.

„Es entsteht nun die Frage: Was wollten sie verkleidet in der Nähe von Schloß Medsur?“ fuhr er fort und nahm eine frische Zigarette. „Die Antwort liegt in dem, was Mac Lean uns über seine „Renommiersucht“ erzählte. Er hat den beiden Hochstaplern gedroht, Harald Harst würde die Zeichnung schon enträtseln. – Nimm nun mal an, diese Zeichnung hätte für die Gauner einen großen Wert. Dann werden sie gern haben feststellen wollen, ob ich, nachdem mir das Blatt vorgelegt worden war, etwas tun würde, das für sie nachteilig oder gefährlich werden könnte. Nimm weiter an, sie haben irgendwie erfahren, daß Mac Lean die Zeichnung mit nach Schloß Medsur brachte und daß ich dort weilte. Sie wollten nun versuchen, bis an das Schloß heranzugelangen. Daß Wachen ausgestellt waren, wußten sie nicht. So laufen sie dem Posten beinahe in die Arme, und daraus entwickelt sich die Tragödie, der Jones und sein Bursche zum Opfer fielen. – So kann die Geschichte gewesen sein. Nein – so wird sie gewesen sein.“

Ich nickte, fragte: „Und weiter?“

„Weiter?! – Nun, aus dem soeben Gesagten kann man unschwer sich ein Bild von den Charaktereigenschaften dieser beiden Verbrecher machen. Mein lieber Alter, das sind Leute, die sich den Wind der Wüste schon gehörig haben um die Nase wehen lassen. Das sind erfahrene Buschklepper, mit der Wildnis, mit Pferden, Waffen und allen Schlichen geriebener Banditen vertraut! Sie sind an dieser Stelle samt ihren Pferden geradezu spurlos verschwunden. Auch ich habe nicht das geringste von einer Fährte entdecken können.“

„Ja, – es müssen Leute sein, die ihre Wildwest-Erfahrungen hinter sich haben,“ erklärte ich eifrig. „Und aus dem, was ich nun weiß, Harald, läßt sich als wichtigstes folgendes herausschälen: sind es Schwertner und Salbing, so werden sie uns auch jetzt nicht aus den Augen lassen!“

„Bravo! Bravo, mein Alter! Siehst Du, genau derselben Ansicht bin ich auch! Sie werden uns aber nicht nur nicht aus den Augen lassen, sondern sogar, falls sie merken, daß ich das Geheimnis ihrer Landkarte entdeckt habe, uns – auszulöschen versuchen. Wir wollen daher den besseren Teil der Tapferkeit wählen und – vorsichtig sein, die Berge meiden, Greaper in die Wüste folgen, dann aber nach Norden abschwenken, da ich diese Oase“ – er holte eine Spezialkarte der Halbinsel Sinai hervor, die ihm Lady Lydia mitgegeben hatte – „zunächst erreichen will.“ Er tippte mit dem Finger auf einen Punkt der Karte. „Sie heißt Dar Dschumieh und liegt, wie Du siehst, etwa 30 Meilen südöstlich von Suez. Haben wir erst Dar Dschumieh, dann finden wir nach dem Kompaß und nach den geheimen Angaben des Blattes auch den Weg nach –“ – eine Pause – „nach der sagenhaften Oase Fartah –!“

 

3. Kapitel.

Er stand auf, ging schnell zu unseren Tieren und legte ihnen die Sättel auf.

Ich saß eine Weile regungslos da.

Fartah – Fartah! – Ich glaubte erst, falsch gehört zu haben. Aber er hatte Fartah gesagt, wirklich Fartah!

Ich eilte zu ihm hin.

„Hilf mir! Wir müssen bis Mittag recht weit gekommen sein,“ rief er sofort. Ich merkte, er wollte nicht, daß ich weitere Fragen an ihn richtete.

Gegen elf Uhr stießen wir auf ein Nomadenlager. Der Beduinenscheich war höflich und erklärte bereitwilligst, daß wir bis zur Oase Dar Dschumieh noch anderthalb Reitstunden hätten. Nach kurzer Rast ritten wir weiter. Als wir in welliges Gelände kamen, suchte Harald mit seinem Fernglas hinter uns den Horizont ab. Er spähte nach Schwertner und Salbing aus – aber umsonst.

Die Spuren im Sande mehrten sich jetzt. Förmliche Wege waren hier in der Nähe der Oase ausgestampft.

Gegen 1 Uhr mittags tauchte die in einer weiten Senke liegende Oase auf. Diese zieht sich mit ihren Palmen und Gebüschgruppen etwa eine Viertelmeile von Nord nach Süd entlang. Im Norden befindet sich ein seeartiger Teich und ein Beduinendorf mit etwa 500 Einwohnern, die seßhaft geworden sind. Ein armenischer Händler sprach uns auf englisch an und führte uns zu dem Dorfältesten. Wir kauften noch vier Wasserschläuche, Hirsebrot und gedörrtes Hammelfleisch. Um vier Uhr nachmittags verließen wir die Oase und ritten eine Viertelstunde nach Osten zu. In einem Wadi, einem tiefen, steinigen Flußbett, machte Harald halt, nahm seinen Kompaß vor und orientierte sich, nachdem er noch einen Blick auf die „Haus-Karte“ geworfen hatte.

„Wir werden nun nach Süden abbiegen,“ sagte er. „Die nächste – „Kreisstation“ ist für uns der Dschebel (Gebirgs- oder Höhenzug) Ahmal, der auf der Spezialkarte Lady Lydias gleichfalls verzeichnet ist.“

„Kreisstation“ hatte er gesagt. Sofort dachte ich an die drei Kreise unter dem „Hause“. – „Gib mir mal das Blatt,“ bat ich.

„Ist Dir endlich ein Licht aufgegangen, mein Alter? – Da, nimm. Ja – die drei Kreise! Das ist ja die Hauptsache. Man kann sagen, es sind drei Kompasse mit je zwei verschiedenen Nadelstellungen. Beim ersten „Kompaß“ läuft der obere Strich, die Nadel, von der Peripherie nach Südost. Die Zahlen in der Mitte aber sind für die gleichen Buchstaben des deutschen Alphabets gesetzt. 4 ist D, 1 ist a, 17 ist r. Das ergibt Dar, also Oase Dschumieh. Die zweite Nadel des ersten Kompasses zeigt nach Süden, und die obere des zweiten gleichfalls nach Süden. Die Zahlen 1, 8, 13, 1, 12 bilden das Wort „Ahmal“, also Dschebel Ahmal. Dieser Dschebel ist mithin die zweite Station. Von hier aus soll man, wie die zweite Nadel angibt, nach Osten reiten. Der dritte Kompaß zeigt mit seiner einzigen Nadel ebenfalls nach Osten. Die Zahlen 6, 1, 17, 19, 1, 8 sind der Name Fartah. – Als ich damals im Speisesaale auf Schloß Medsur die Geheimkarte mir ansah, stieß mir zuerst der Buchstabe S an der rechten Seite des Giebeldreiecks auf. Dann probierte ich auf gut Glück die Zahlen 4, 1, 17 durch die entsprechenden Buchstaben des deutschen Alphabets zu ersetzen, erhielt so „Dar“. Daß es auf der Sinai-Halbinsel eine Oase Dar Dschumieh gab, wußte ich. Bei diesem „Dar“ mußte mir also bereits die Erleuchtung kommen. Ich erkannte, was der Giebel des Hauses vorstellen sollte und was das S bedeutete. Als ich dann so geistesabwesend vor mich hinstarrte, rechnete ich mir die beiden anderen Zahlenreihen aus, das heißt, ich vertauschte die Zahlen gegen die Buchstaben. Du kannst Dir denken, wie „platt“ ich war, als ich im dritten Kreise „Fartah“ zusammenstellte. Gerade Fartah – die sagenhafte Oase! – Nachher in unserem Zimmer sprach ich davon, wie seltsam häufig „Ereignisse mit demselben Kern“ ineinander greifen. Du verstandest mich damals nicht, obwohl ich hinzufügte, daß Du daran beteiligt bist. Ich meinte eben das halb zerfetzte Buch, aus dem Du den Abschnitt über die Oase Fartah vorlasest, und das Blatt, das die Gauner weggeworfen hatten. Der „Kern“ beider Vorgänge war eben „Fartah“. – Die Zeichnung ist also ein Wegweiser nach der geheimnisvollen Oase und in ihrer Art ein kleines Meisterstück. Kein Uneingeweihter wird so leicht darauf kommen, was sie vorstellt. Das „Haus“ erschwert die Lösung. Jeder denkt notwendig zuerst an ein Gebäude, verrennt sich in diese Idee und kommt nicht mehr los davon. – Wir haben jetzt also bis zum Dschebel Ahmal nach Süden zu reiten und dann von diesem immer genau nach Osten, denn die zweiten Nadeln der beiden ersten Kompasse muß man als mit einer Spitze nach der Kreisperipherie hin versehen sich ergänzen, während die oberen Nadeln diese Pfeilspitzen gerade umgekehrt erhalten müssen. Du kannst Dir dies alles am nächsten Lagerplatz genauer ansehen. Jetzt wollen wir weiter!“

Drei Tage später, gegen Mittag, mußten wir den Dschebel Ahmal dicht vor uns haben. Wenigstens hatte Harald dies aus der zurückgelegten Strecke und der auf der Spezialkarte ersichtlichen Entfernung zwischen der Oase Dar Dschumieh und dem Dschebel errechnet.

Wir waren inzwischen keiner Menschenseele begegnet. Nur Wüstenfüchse hatten nachts unsere Lagerplätze umkläfft. Harald hatte von jeder Bodenerhebung aus auch regelmäßig mit dem Fernglase nach rückwärts gespäht. Er wunderte sich, daß von den Gaunern nichts zu spüren war. – „Ich kann mir nicht denken, daß sie uns nicht folgen,“ betonte er des öfteren.

Unser Proviant war nun schon recht knapp. Noch schlechter stand es mit dem Trinkwasser. Es war höchste Zeit, daß wir den Dschebel Ahmal erreichten, wo wir Wasser und auch wilde Schafe als jagdbares Wild zu finden hofften. – Harst hatte soeben wieder von einer Kuppe nach dem Dschebel ausgeschaut.

„Nichts,“ meinte er. „Nichts! Nur Sandhügel – Sandhügel! Wir durchqueren hier fraglos die ödesten Teile der Halbinsel. – Suchen wir einen Platz zum Lagern. Wir müssen die Mittagshitze meiden. Die Tiere sind schon recht schlapp. Da vor uns scheint ein Wadi zu sein. Also vorwärts. Dort gibt’s wenigstens Schatten.“

Harst hatte richtig vermutet. Es gab hier ein felsiges, ausgetrocknetes Flußbett mit steilen Rändern. Aber – es gab hier noch mehr.

Gleichzeitig brachten wir unsere Tiere zum Stehen, dicht am Rande des Abhangs.

Da unten erblickten wir ein Reitkamel, gesattelt, ausgestreckt wie tot zwischen dem Steingeröll liegen. Und etwa fünfzehn Meter weiter lag ein Beduine, das Gesicht zum Himmel gekehrt – regungslos. –

Harald nahm das Fernglas zur Hand.

„Ah – dem Menschen steckt eine abgebrochene Lanze in der Brust! Sein Gesicht ist scheinbar von einer angetrockneten Blutkruste völlig bedeckt –“

Wir führten unsere Reitkamele am Zügel in das schluchtartige Flußbett, näherten uns vorsichtig dem Beduinen. Haralds Augen waren überall. Dann standen wir vor dem Toten. Gesicht und Bart waren durch getrocknetes Blut ganz verklebt.

Harst bückte sich, wollte nach der rechten Hand des Mannes greifen, um zu fühlen, ob der Puls noch schlug.

Da – wie ein Blitz fuhren die Arme des Beduinen hoch, umkrallten Haralds Hals. Im gleichen Moment bekam ich einen Hieb gegen den Hinterkopf, flog vornüber und verlor das Bewußtsein.

Und ich kam wieder zu mir. Nacht war’s. Die Sterne funkelten. Ich lag auf dem Rücken, an Händen und Füßen gefesselt.

Eine neue Ohnmacht. Und wieder erwachte ich. Nacht wie vorher; wie vorher die Sterne über mir. – Ich richtete mich mit dem Oberkörper mühsam auf. Die Schmerzen im Kopf waren unerträglich. Immer wieder kämpfte ich gegen eine Ohnmachtanwandlung mit aller Energie an.

Ich sah Tierschatten umherhuschen – dutzendweise. Wüstenfüchse, die eine Mahlzeit witterten. Ich sah die Ränder des Wadis. Ich befand mich dort, wo ich von hinten offenbar mit einem Büchsenkolben niedergeschlagen worden war.

Von Harald keine Spur.

Die Riemen schnitten in die Haut der Handgelenke ein bei der geringsten Bewegung. Ich war mehr tot als lebendig. Und – wollte doch leben – wollte frei sein, Harald suchen, – Harald, der mich so oft schon gerettet hatte, uns beide, wenn der Sensenmann schon mit der Sense ausholte.

Ich mußte frei sein, bevor der Tag anbrach, bevor die Sonne kam und dieses Tal in einen Backofen verwandelte.

Und ich rollte mich zu einem großen Steine hin, prüfte seine Kanten mit den Augen, suchte die schärfste aus, rutschte näher, setzte mich mit dem Rücken vor diese Kante und versuchte die Riemen durchzuscheuern. Hautfetzen gingen dabei mit; ich fühlte, wie das Blut mir über die Finger lief. Aber – die Todesangst steigert die Energie ins Ungemessene.

Endlich hatte ich die Hände frei. Und als es so weit war, als ich sie nach vorne nahm, sank ich um und wurde abermals ohnmächtig.

Der Morgen graute. Ich war wieder bei Besinnung, fühlte mich auch kräftiger. Ich knotete die Riemen an den Fußgelenken auf, tat taumelnd ein paar Schritte, setzte mich auf einen Stein, schaute mich um.

Wo war Harald – wo?! – Und dieser Gedanke gab mir neue Kraft. Ich suchte; ich kletterte den Abhang in die Höhe, überschaute das Wadi und das Sandmeer.

Nichts – nichts. Nur ein paar Aasgeier hockten dort im Südteile der Schlucht auf ein paar hohen Felsblöcken. – Aasgeier! Gab es dort etwas für ihre Freßgier? Vielleicht eine Leiche – vielleicht Harald? – Ich schritt auf sie zu. Noch fünfzig Meter. Da stiegen sie krächzend auf.

Und hier fand ich ihn.

Ungefesselt lag er mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, die Augen geschlossen.

Ich näherte mich zaudernd. – Mein Gott – tot, tot? fragte ich mich immer wieder.

All das, was ich empfand, drängte sich in einem halblauten Rufe zusammen:

„Tot – er ist tot!“

Ein Wunder geschah: der Tote schnellte empor, hatte die Augen weit offen, lächelte schwach.

„Schade, mein Alter, Du hast mir die Geierjagd verdorben. Ich wollte einen der Vögel auf diese Weise fangen, damit wir – so ekelhaft die Mahlzeit auch ist – etwas Genießbares hätten. Nun – es wird anderswie Rat werden!“

Er drückte mir die Hand. „So komm’ doch zu Dir. Ich lebe ja!“ meinte er herzlich.

Er lebte! Nun war alles gut. –

Wir setzten uns. Er erzählte. Er hatte gefesselt im südlichsten Teile des Wadi gelegen, war aufgewacht, hatte ebenfalls seine Riemen durchgescheuert und sich dann nach mir umschauen wollen. Hier an dieser Stelle war er jedoch ohnmächtig wieder umgesunken. Als er abermals zu sich kam, als er wütenden Hunger und Durst verspürte, als er die Aasgeier auf den Steinblöcken hocken sah, da hatte er sich tot stellen und einen greifen wollen.

„Und wer waren die, die uns überfielen?“ fragte ich.

„Du denkst natürlich an die richtigen, lieber Alter. Es werden Schwertner und Salbing gewesen sein. Wer sonst? Obwohl ich ja nur den „Toten“ gesehen habe. – Oh – es war das ein so raffinierter Streich, wie ihn nur Verbrecher mit viel Phantasie ersinnen können. Die Komödie war glänzend inszeniert. – Aber, all das ist jetzt gleichgültig gegenüber der Tatsache, daß man uns vollständig ausgeplündert hat und daß wir hier in einer Sandwüste hunderte von Kilometern von jeder menschlichen Behausung entfernt notwendig – verhungern und verdursten müssen, wenn wir nicht Wasser und etwas Eßbares finden.“ Seine matte Stimme klang so ernst und traurig, daß ich sofort merkte: er hielt unsere Lage für verzweifelt! –

Nein – wir hatten nichts mehr, – nur unsere Kleider! Und wir saßen hier in einem steinigen, ehemaligen Flußbett von etwa einer halben Meile Länge. – Harald fragte dann, ob ich ebenfalls die Wüstenfüchse bemerkt hätte. Ich bejahte.

„Sieh mal, wo diese kleinen Räuber in solcher Menge auftreten, da muß es in der Nähe Wasser geben. Suchen wir.“ – Nach zwei Stunden befanden wir uns am nördlichsten Ende des Wadi. Hier gab es die höchsten Steine, die größten Felsblöcke, und das Flußbett war kahler, nackter Fels. Überall hatten wir Wüstenfüchse aufgescheucht. Dann deutete Harald auf eine Art Fährte, die wie ein blanker Strich in ein Gewirr von Felsen hineinlief. – „Den Strich haben die Pfoten der kleinen Bestien gezogen,“ sagte er. „Hinein in die Felsen! Ich wittere Wasser!“

Und wir fanden es, fanden ein Felsloch, eine natürliche Zisterne, die jeder Regen von frischem füllte und die von Felsen überdacht war. –

Man denke: zwei volle Wochen blieben wir hier! Wasser hatten wir. Fleisch lieferten die Füchse, denen wir an der Zisterne nachts auflauerten und die wir durch Steinwürfe töteten. Roh verschlangen wir das Fleisch. Als Messer dienten uns lange Steinsplitter. Es war ein Robinson-Dasein, wie es kläglicher nicht sein konnte. Wir magerten ab. Selbst ich wurde schlank. Unsere sonst glatt rasierten Gesichter trugen Stoppelbärte. Es gab für uns nur eine Hoffnung: daß Beduinen das Wadi mal besuchen würden! Denn – zu Fuß durften wir uns ja nicht in die Wüste hineinwagen, um etwa bewohnte Gegenden zu erreichen. Das wäre sicherer Tod gewesen.

 

4. Kapitel.

Vierzehn Tage! Und nichts als rohes, geklopftes Fleisch und Wasser! – Alles, was wir bisher erlebt hatten, war ein nichts gegen dieses Gefängnis dort in der Sinai-Wüste, – ein Gefängnis ohne Mauern, und doch ein Gefängnis, – eine Insel ohne Wasserfläche ringsum, und doch eine Insel.

Vierzehn Tage! – Am Morgen des fünfzehnten machten wir unseren gewohnten Spaziergang um das Wadi herum – oben am Schluchtrande entlang. Ich döste neben Harald her. Er erzählte alles Mögliche, nur um mich anzuregen.

Dann – schwieg er, brüllte nun: „Reiter – Reiter, – zwei Kamelreiter mit drei Packpferden!“

Ich schnellte hoch. Mein Blick überflog die Wüste.

Ja – es waren Reiter! Sie hatten soeben eine Kette Sandhügel passiert und waren kaum fünfhundert Meter entfernt.

Harst begann zu laufen, winkte dabei, brüllte wieder, um die Leute aufmerksam zu machen.

Die Reiter trugen Beduinenmäntel. Sie hielten jetzt, beobachteten uns. Und Harald rannte ihnen im Galopp entgegen.

Da – mir stockte der Herzschlag! – sie machten kehrt, ritten zurück, – verschwanden!

Harald stand lange und starrte ihnen nach. Dann kam er müde durch den Sand gewatet mit hängendem Kopf.

„Sie waren es – sie!“ sagte er nur.

„Schwertner und Salbing!“ murmelte ich trostlos.

Nach dem frohen Hoffnungsschimmer war die Enttäuschung desto furchtbarer.

Wir setzten uns auf einen nahen Sandhügel, spähten dorthin, wo die beiden hinter den Sandkämmen verschwunden waren. – Vielleicht, dachte ich, vielleicht regt sich in ihnen doch das Mitleid. Vielleicht kehren sie zurück.

„Sie kommen von der Oase Fartah,“ sagte Harald da.

„Sie benutzen denselben Weg. Sie mußten also hier vorüber. Sie mögen geglaubt haben, wir wären längst tot.“ –

Und abermals vergingen vier Tage. Ich konnte das rohe Fleisch nicht mehr genießen. Es wirkte bei mir wie ein Brechmittel. Ich fühlte deutlich: es ging zu Ende! Aber – selbst das war mir gleichgültig. –

Am Spätnachmittag war’s. Ich lag in der Nähe der Zisterne auf dem kahlen Gestein. Harald schritt auf und ab. Hin und wieder öffnete ich die Augen. Er ging gebückt wie ein Greis.

In das gleichmäßige Geräusch seiner schlurfenden Schritte mischte sich jetzt ein anderes, stärkeres Klappern. Ein jäher Gedanke. Ich richtete mich auf.

Ein Reiter – ein Mann, der ein Reit- und ein Lastkamel an das Wadi hinabführte!

Harst eilte zu ihm, sprach mit ihm. Der Mann trug einen Beduinenmantel, dazu eine Art Turban, hatte einen krausen, schwarzen Bart und eine fleischige Hakennase. Er ließ jetzt die Kamele niederknien, entnahm dem einen Korbe des Lastkamels einen Beutel Datteln, Brot und in große Blätter gewickeltes, gebratenes Fleisch, näherte sich mir, grüßte in kaum verständlichem Englisch:

„Guten Abend, Effendi, Du hungerst. Ali Scharka wird Dich sättigen. Allah will, daß man den Kranken helfe.“

Harst lächelte mich an. „Siehst Du, mein Alter, – nun ist doch noch der rettende Engel gekommen.“

Ali Scharka war ein kurdischer Händler, der alle zwei Jahre hier die Beduinenstämme besuchte und Türkise aufkaufte, die die Nomaden in den Wadis fanden. Er wollte jetzt zu einem Stamme, der am Dschebel Ahmal seine Weideplätze hatte. Er kannte die Zisterne hier, und er hatte seine Wasserschläuche aufs neue füllen wollen.

Er war ein wortkarger, aber gutherziger Mann. Abends kochte er über einem Feuer von getrocknetem Kameldünger Tee. Ich erholte mich schnell. Die Gewißheit, gerettet zu sein, war der beste Arzt. – Als Waffen führte Ali Scharka eine doppelläufige Büchse und einen Revolver bei sich. Die beiden Tragkörbe seines Lastkamels waren bis obenan gefüllt.

Harald war jetzt genau so glänzender Laune wie ich. Ali Scharka führte sogar Zigarettentabak und -papier bei sich. Harst rollte sich Zigaretten und rauchte mit geradezu verzücktem Gesicht. – Dann holte der Kurde ein paar Decken, und wir streckten uns zum Schlafe aus. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Es hatte jemand mich leicht angestoßen.

„Rühre Dich nicht,“ flüsterte Harald da. „Er ist soeben leise aufgestanden und davongeschlichen. Ich habe bisher kein Auge zugetan. Ich begreife nicht, was die Schurken jetzt beabsichtigen.“

Mir blieb beinahe das Herz vor Schreck stehen. – Die Schurken! Das konnte nur –

Harald flüsterte schon weiter:

„Muß der Mensch uns für dumm halten! Ein Kurde will er sein! Ausgerechnet ein Kurde! Aber er wählte dieses Land als Heimat, weil er annahm, ich verstände die kurdische Sprache nicht. Damit hat er ja auch recht –“

„Also Schwertner oder Salbing?“ warf ich ein.

„Ja. – Der Kerl öffnet beim Sprechen kaum die Lippen, weil er – Goldplomben hat. Einmal vergaß er sich trotzdem, als er rauchte. – Was soll dies nun aber? Weshalb haben sie uns nicht einfach niedergeschossen, die wir doch wehrlos sind?! – Oder – weshalb ließen sie uns hier nicht umkommen?! Weshalb erscheint nur der eine von ihnen als Retter hier?! – Nein, ich begreife diese Handlungsweise nicht! Man könnte ja denken, sie wollen uns im Schlaf ermorden. Doch – wozu die Umstände, da sie dasselbe mit ein paar Büchsenkugeln hätten aus der Entfernung besorgen können! Wozu spielt der Kerl den rettenden Engel?! Ich werde daraus nicht klug!“ Er schwieg. „Die Sache wird immer rätselhafter. Da, der Kerl hat wahrhaftig sein Gewehr liegen lassen! Das kann Absicht sein, um uns sicher zu machen. Anderseits ist es eine Unvorsichtigkeit. Wenn wir nun Verdacht geschöpft hätten und die Waffe uns aneigneten? Der Beutel mit den Patronen liegt dicht daneben. – Still – er kehrt zurück!“

Ich lauschte mit geschlossenen Augen. Der Mann bemühte sich nur wenig, Geräusche zu vermeiden. Er streckte sich wieder zum Schlafen aus. Bald schnarchte er, atmete ganz tief.

Ich konnte kein Auge mehr zutun. Ich grübelte und grübelte. Der Gefahr des Verhungerns waren wir entronnen. Dafür hatten wir nun Menschen zu fürchten, denen ein Leben nichts galt. – Ich sehnte den Morgen herbei. Die Sonne kam. Wir erhoben uns. Unser „Retter“ bereitete den Aufbruch vor. Ich mußte das Lastkamel besteigen; Harst das andere Tier. Ali Scharka ging zu Fuß. – „Wir wechseln uns beim Reiten ab,“ erklärte er. –

Der Tag verging. Abends näherten wir uns dem Dschebel Ahmal. Der „Kurde“ blieb in seinem Verhalten unverändert. Harst und ich hatten keine Gelegenheit, allein uns auszusprechen. Wir lagerten in einen Felsentale, in dem es einen kleinen Tümpel gab. Harst schoß ein Bergschaf, das sich in das Tal verirrt hatte. Die eine Keule briet über dem Feuer. Wir saßen und rauchten, wechselten zuweilen ein paar Sätze. Dann geschah das Merkwürdige. Harst hatte unserem Retter erzählt, wir seien deutsche Gelehrte, Altertumsforscher, und Beduinen hätten uns ausgeplündert.

Nun sagte er plötzlich: „Ali Scharka, Du kennst die Halbinsel Sinai doch recht genau. Ich möchte Dich etwas fragen. – Bist Du auf dem Ritt nach dem Wadi, wo Du uns fandest, zwei Leuten begegnet, die Reitdromedare und drei Packpferde hatten?“

„Ja, Effendi. Ich sprach mit ihnen. Es waren Händler. Sie sagten es wenigstens. Aber ich glaube es nicht. Es waren Europäer, Effendi. Sie trugen aber Beduinentracht.“

Wie frech und schlau der Kerl log.

„Ali Scharka,“ erklärte Harald nun, „wir sind Dir zu großem Dank verpflichtet. Ich bin reich und werde Dich belohnen, wie Du es verdienst –“

Hm – das war etwas doppelsinnig.

„Mehr noch, – ich werde Dir ein Geheimnis anvertrauen,“ fuhr Harald fort. „Wir suchen eine Oase, in der sich die Ruinen einer uralten Stadt befinden sollen –“

Der „Kurde“ lächelte ein wenig. „Effendi, Du brauchst nichts mehr zu sagen. Du meinst die Oase Fartah. Die Beduinen erzählen viel von ihr. Aber der Weg dorthin ist durch Täler versperrt, in denen der feuchte Sand Mensch und Tier verschlingt.“ Er lächelte wieder. „Es gibt nur einen Zugang dorthin, Effendi. Ich fand ihn vor sechs Jahren durch einen Zufall.“

„Ah – Du kennst die sagenhafte Oase,“ rief Harst mit glänzend gespieltem Erstaunen.

Der „Händler“ nickte nur.

„Willst Du uns hinführen, Ali Scharka? Wir wollen uns die Ruinenstadt ansehen. Ich werde Dich gut bezahlen –“

Der „Kurde“ schien zu überlegen –

Was sollte dies nun wieder? fragte ich mich. Was hatte Harald vor? Weshalb begann er von der Oase Fartah zu sprechen? –

„Gut, Effendi,“ erklärte unser Retter. „Wenn Du mir 100 englische Pfund später zahlst, bringe ich Euch hin.“

Der Handel wurde durch Handschlag besiegelt. Am nächsten Morgen ritt „Ali Scharka“ allein davon, um zu versuchen, irgendwo ein Beduinenlager zu entdeckten und Reittiere für uns einzuhandeln. Als Waffe ließ er uns für alle Fälle einen Revolver und ein Messer zurück. Das Lastkamel nahm er mit. Er wollte zugleich auch Türkise eintauschen.

Kaum war er verschwunden, als ich Harald auch schon fragte:

„Was bedeutet das alles? – Der Mensch kann es gar nicht auf unser Leben abgesehen haben! Vielleicht tun wir ihm Unrecht, vielleicht –“

Harald blickte mich seltsam ernst an. „Sie werden uns töten. Verlaß Dich darauf. Nur jetzt noch nicht –“

„Sie – sie?! Aber der Mann ist doch allein –!“

„Ja – und der andere reitet beständig hinter uns her. – Paß auf, Scharka kommt mit zwei Pferden zurück. Die holt er eben von dem anderen, indem er auf unserer Spur zurückreitet.“

„Dann – dann werden wir jetzt fliehen, nicht wahr?“

„Im Gegenteil, mein Alter. Wir werden mit Ali Scharka sehr vergnügt nach der Oase Fartah reiten. Dort findet dann der letzte Akt der Komödie statt, die – für die beiden ein Drama wird! Dafür sorge ich schon!“ –

Abends kehrte Ali Scharka mit seinen Kamelen und – zwei Pferden zurück. Harald hatte also das Richtige vermutet.

Kurz nach Mitternacht brachen wir auf. Der fünftägige Ritt bis zu den Sanddünen, zwischen denen sich überall weite Triebsandflächen hinzogen, war eintönig und ohne jede Abwechslung. Als unsere Wasservorräte bis auf den letzten Tropfen verbraucht waren, hatten wir den Triebsandgürtel erreicht. Es war dies um die Mittagstunde. – Ali Scharka führte uns dann über die einzige feste Stelle, die es hier zu geben schien. Wir hatten die Sanddünen hinter uns. Gegen Abend erreichten wir felsige Berge, durchquerten sie, hielten nun auf einem Plateau, das sich allmählich in die Ebene hinabsenkte.

Und dort – dort unter uns, kaum eine Meile noch entfernt, das liebliche Bild weiter Palmenhaine, davor grüne Weideflächen, Büsche. Und rechts davon, gleichfalls übergossen vom rötlichen Lichte der scheidenden Sonne, die Reste der alten Stadt: Mauern, halbe Türme, eingestürzte Gebäude, – alles überwuchert von Unkraut.

„Fartah!“ sagte unser Retter gleichmütig und deutete dorthin. „Diese Nacht werden wir in einem Hause aus Felsstücken lagern –“

 

5. Kapitel.

Der Kurde hatte uns mitten in die Trümmerstätte auf einen freien Platz geführt, offenbar den Markt der toten Stadt. Dann waren wir durch ein Hoftor in einen ehemaligen Garten eingebogen, in dem ein noch beinahe völlig unversehrtes, einstöckiges Haus stand. Es hatte nur noch leere Tür- und Fensteröffnungen und vier Räume, in denen sich gleichfalls Unkraut aller Art eingenistet hatte, dazu Eidechsen, Riesenspinnen und ein paar kleine Schlangen. Wir säuberten zwei Räume ganz gründlich, brachten in dem einen die Tiere unter und richteten den anderen für uns her.

Bald war aus Steinen ein primitiver Herd aufgebaut. Harst und der „Kurde“ gingen Brennmaterial sammeln, und ich rupfte ein halbes Dutzend Wildtauben, die Harald in der Oase vorhin geschossen hatte.

Als die beiden Holzsammler dann zurückkehrten, rief Harald sogleich (wir sprachen aus Rücksicht auf den „Kurden“ nur englisch):

„Denk’ Dir, ich habe soeben ein zerrissenes Blatt Papier gefunden mit einer Zeichnung darauf. Da – schau’ es Dir an –“

Es war – dasselbe Blatt, das Mac Lean Harst gegeben und das man uns in dem Wadi Fennek gleichfalls abgenommen hatte. – Ich durchschaute die Sache sofort: natürlich hatte Ali Scharka es so weggeworfen, daß Harald es finden mußte! – Was sollte dieser Trick nun wieder? Was beabsichtigte der „Kurde“ damit?

„Ich werde mir die Zeichnung nachher mal ansehen,“ meinte Harald.

„Effendi,“ fragte der Scharka-Schurke da, „ich bin nicht neugierig. Aber – weshalb erkundigtest Du Dich damals nach zwei Beduinen mit drei Packpferden? – Ich habe heute hier noch ziemlich frische Spuren von Pferden und Kamelen bemerkt. Dir werden die halb verwischten Fährten entgangen sein. Effendi, es sind vor kurzem Leute hier gewesen. Vielleicht waren es die, nach denen Du damals mich befragtest.“

„Es ist so, Ali Scharka. Außer uns wollten noch andere Leute hierher und zwar Europäer. Es sind die, denen Du begegnetest.“

Ali Scharka nickte. „Ich dachte es mir, Effendi. Sie haben hier das Papier weggeworfen. Wie sollte es sonst hergekommen sein.“

Der Kerl war wirklich ein raffinierter Komödiant. Seine biedere Miene machte ihm so leicht niemand nach. –

Die Tauben brieten am Spieß. Wir drei hatten uns aus Steinen Sitzgelegenheiten aufgetürmt, saßen darauf und schauten in das Herdfeuer. Harald drehte Zigaretten, rauchte und gähnte. Unser Scharka-Schurke war noch schweigsamer als sonst. Die Dunkelheit nahm schnell zu. An den Wänden huschten Eidechsen hin und her. – Dann war die Mahlzeit fertig. Nachher wurde frisches Holz in die Glut geworfen, und Harst begann nun die in drei Stücke zerrissene Zeichnung zu prüfen. Es war ein Genuß, ihn dabei zu beobachten. Niemand hätte ihm angemerkt, daß er längst wußte, was die Skizze bedeutete. Ganz allmählich entwickelte sich aus seinem Wortschwall dann der Gedanke, es könnte ich um gar kein Haus, sondern um die Halbinsel Sinai handeln. Und so kam er schließlich auch auf die Zahlen und deren Übertragung in Buchstaben, also auch auf das Wort Fartah und die Bedeutung der Kompaßnadeln.

Scharka-Schurke hatte sich weit vorgebeugt und blickte starr auf das Blatt, das Harald auf den Knien hielt.

„Effendi, Du bist klüger als alle, die ich kenne,“ sagte er nun in gut geheuchelter Ehrfurcht. „Alles hast Du an der Zeichnung erklärt. Nur eins nicht. Da in der Mitte des Dreiecks steht noch eine seltsame Figur: ein Punkt mit zwei nach oben gehenden Strichen, an denen wieder kleinere Striche sich befinden. – Was mag diese Figur vorstellen, Effendi?“

Harald rauchte ein paar Züge. „Ja, das ist schwer zu sagen, Ali Scharka,“ meinte er dann. „Es hat auch kaum Zweck, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.“

„Aber Effendi, – man kann doch nicht wissen, ob diese Figur nicht sehr wichtig ist. Vielleicht –“ Er stockte, räusperte sich und fuhr fort: „Vielleicht sind dort aus alter Zeit her –“ Er schwieg schon wieder.

„Ich verstehe,“ nickte Harald gleichmütig. „Du glaubst, die Figur könnte der Hinweis auf eine Stelle sein, wo die Bewohner der Stadt einst ihre wertvollste Habe verbargen –“

„Ja, ja, Effendi, das meine ich. Ich bin gewiß nicht habgierig, aber – mein ganzes Leben hindurch möchte ich doch nicht Händler spielen, und –“

„Schon gut, Ali Scharka. Ich werde versuchen, ob ich herausbringe, was die Figur bedeuten soll.“

„Oh, tu’ es, Effendi, – tu’ es recht bald! Versuche nur. Dir gelingt ja alles.“

„Da hast Du recht, Ali Scharka. Mir gelingt alles, was mit den Kräften des Verstandes irgend zu bewältigen ist. Ich sehe mehr als andere, höre mehr als andere. – Doch, jetzt bin ich todmüde und will schlafen.“ –

Diese Unterhaltung hatte auf mich einen ganz besonderen Eindruck gemacht. Aus zweierlei Gründen: erstens wußte ich ja selbst noch nicht, ob die geweihähnliche Figur im Giebel wirklich auch noch eine geheime Nebenbedeutung hatte oder ob es nur ein bloßer Ausputz der Zeichnung war, um der Skizze mehr das Aussehen eines Hauses zu geben. Zweitens aber hatte ich das bestimmte Gefühl, daß „Ali Scharka“ über diesen Punkt selbst nicht Bescheid wußte und nun Harald um jeden Preis veranlassen wollte, diese Frage endgültig zu lösen.

Wir streckten uns nun zum Schlafe aus. Ich war tatsächlich sehr müde und schlief bald ein. Plötzlich rüttelte jemand mich. Ringsum war es stockfinster.

„Folge mir,“ flüsterte Harald. „Werde munter! Hier meine Hand. Ich führe Dich. Der Himmel ist dick bewölkt.“

Wir hasteten durch den hinteren Teil des Gartens. Ich merkte: Harald war diesen Weg schon einmal gegangen. Er fand sich tadellos zurecht. – Wir kamen über ein paar Höfe eingestürzter Gebäude.

„Nun ganz leise!“ raunte Harst mir zu. „Du wirst durch eine Fensteröffnung die beiden am Feuer sitzen sehen. Sobald Du erkennst, daß „unser Ali“ Miene macht, aufzubrechen, ahmst Du das helle Quäken einer Mauereidechse nach. Es schadet nichts, wenn es Dir nicht recht gelingt. Dann eilst Du an diese Stelle zurück. Ich finde mich auf das Zeichen hin sofort ein.“

Wir schlichen weiter, bogen um die Ecke eines noch leidlich erhaltenen Gebäudes. Da – rechter Hand eine Fensteröffnung. Und dort in dem durch ein großes Feuer erleuchteten Raume saßen unser Ali und ein Beduine. – Laute Worte schlugen an mein Ohr, – deutsche Worte!

„Du bist ein Narr, Karl!“ sagte der „Beduine“ ironisch auflachend. „Ich wette, der Harst hat Dich längst durchschaut! Die ganze Geschichte war Blödsinn –!“

„Na, erlaube mal! Ich bin doch auch nicht gerade aus Dummsdorf, Du! Der Harst hat nichts – nichts gemerkt. So kann sich kein Mensch verstellen. Er ist völlig harmlos. Und der Schraut erst recht. Der spricht ja überhaupt nicht mit. – Wenn Harst das Hirschgeweih mir erklärt hat, dann –“ – Er sprach leiser. Ich konnte leider nicht mehr verstehen, was er sagte.

„Wenn’s nur glückt,“ meinte der Beduine nun. „Weiß der Teufel – ich werde das Gefühl nicht los, daß uns der Tod im Nacken sitzt. Seit wir den alten Derwisch in Konstantinopel so bis aufs Blut gemartert haben, bis er uns verriet, was es mit –“

„Hör’ auf davon, Salbing! Du bist der reine Waschlappen geworden! Gewiß, wir haben seitdem Pech gehabt, sind beinahe ins Gefängnis gewandert, als wir uns das Reisegeld besorgen wollten und – Na – Schwamm drüber! Harst wird der Sache schon ein freundlicheres Aussehen geben –“

„Karl, bedenke, – noch zwei Morde! Das – das ist mehr, als –“

„Verdammt, mit Dir ist überhaupt nichts mehr los! Meinetwegen brauchst Du nicht dabei zu sein. Ich besorg’s schon allein. Auf Dein Konto kommen ja schon die beiden Kamelreiter im Passe vor Schloß Medsur. Gut – da will ich denn also –“ Abermals dämpfte er die Stimme.

Gleich darauf stand er auf. – Ich machte mich schleunigst davon, stieß zweimal das helle Quäken der großen Eidechse aus und traf dann auch richtig mit Harald zusammen. Wir eilten in unser Quartier zurück legten uns nieder, begannen sofort tief zu atmen und gelegentlich auch zu Schnarchen.

Unser Scharka-Schurke erschien, tastete sich ziemlich leise zu seiner Decke hin, räusperte sich, gähnte und fragte dann leise:

„Effendi, bist Du wach?“ – Das galt dem neben ihm liegenden Harst. – Keine Antwort. – Da war er beruhigt und schlief ein.

Harald war es, der uns beim ersten Morgengrauen weckte, – Harald, der noch glänzendere Komödiant!

„Auf – auf! Erhebt Euch! Ich habe die Lösung gefunden!“ rief er.

Wir erhoben uns. Ali Scharka fragte sofort: „Effendi, ist es wahr – ist es wahr?“ – Harald lächelte und nickte.

Ich dachte jetzt an die verflossene Nacht. Harst hatte mir nicht gesagt, weshalb er sich von mir getrennt hatte. – „Das wirst Du morgen erfahren,“ war seine Antwort gewesen. – Nun wußte ich es: er hatte irgendwie dort in der Nähe des Quartiers des anderen Schurken nach der Erklärung für das „Hirschgeweih“ gesucht! – Mir wurde etwas bänglich zumute. Die Entscheidung nahte. Harald hatte mich zwar beruhigt und gesagt: „Uns wird nichts passieren!“ Aber – wir waren ohne jede Waffe! Was sollten wir gegen die zwei bewaffneten Verbrecher ausrichten?!

Harald drängte zum Aufbruch. „Kommt – kommt! – Ich habe da gestern in den halb verschütteten Straßen des Marktplatzes Brennmaterial gesucht. Dabei fiel mir auf, daß von zwei in den Marktplatz mündenden Hauptstraßen mehrere Nebengassen nicht rechtwinklig, sondern spitzwinklig abbogen. Ich nehme an, daß die Figur im Giebel der Zeichnung also das Bild zweier Straßen und ihrer Nebengassen ist, und daß der Punkt, der Kopf des Geweihs also, vielleicht ein altes Denkmal andeuten soll, das dort steht, wo die Straßen in den Markt münden.“

„Effendi – Effendi!“ brüllte Scharka-Schurke förmlich. „So wird es sein! Du bist der weiseste aller Weisen! Laß uns alles schnell nachprüfen.“ –

Nun, diese Prüfung ergab, daß nur zwei Straßen strahlenförmig den freien Platz schnitten und daß zwischen ihren Endpunkten einst eine Säule gestanden hatte, die nun in großen zylindrischen Stücken am Boden lag. Nur der Sockel dieses Denkmals war noch gut erhalten. Harald fand auch bald an einer Seite des mit Stufen versehenen Sockels eine Steinplatte, die ihrer dunkleren Färbung wegen von den anderen abstach. Sie war etwa ein Meter im Quadrat groß und nur lose zwischen die übrigen eingefügt. Wir wuchteten sie hoch. Darunter zeigte sich ein weiter Schacht mit einer Steintreppe.

„Warte, Effendi,“ sagte Ali Scharka jetzt sehr aufgeregt. „Ich hole erst meine Waffen. Man kann nie wissen, was da unten steckt.“

„Ganz recht. Hole sie nur!“ nickte Harald und setzte sich auf die Stufen des Deckels. Kaum war der Verbrecher verschwunden, als Harst aus seiner Tasche – eine Clementpistole hervorzog. „Da, nimm! Das habe ich gestern nacht aus dem Tragkorbe des Packpferdes Salbings herausgesucht, als Du Wache standest. Auch meine Pistole habe ich. Und nun – Achtung!“

Wir warteten. Zehn Minuten vergingen. Da – ein dumpfer Knall.

Harsts Kopf schnellte hoch. „Schraut, Schraut, – der Schuft hat seinen Genossen ermordet! Nun – kommen wir an die Reihe!“

Wieder verstrichen Minuten. Dann hinkte der „Kurde“ über den Markt, rief schon von weitem: „Ich bin gefallen. Mein Gewehr entlud sich. Ich habe mir das Knie verletzt.“

Er trug die Doppelbüchse im Arm. Nun war er noch zehn Schritt entfernt, blieb stehen, lachte plötzlich höhnisch auf:

„Ihr Dummköpfe, Ihr habt’s nicht besser verdient!“ Und – jetzt sprach er deutsch.

Er hob die Büchse, hatte sie schon halb im Anschlag.

Haralds rechter Arm fuhr hoch.

Ein Knall – noch einer.

Der Verbrecher hatte sich zur Seite geschnellt. Nur so kam’s, daß Harsts zweite Pistolenkugel nicht den rechten Arm, sondern die Brust traf – das Herz.

Der Mann taumelte, schlug zu Boden. Als wir uns über ihn beugten, war sein Blick bereits umflort. Gleich darauf hatte er den letzten Atemzug getan. – Wir eilten sofort nach dem Versteck Salbings. Er lag vor dem Hause mit einer Schußwunde quer durch die Brust, röchelte schwer und erlangte nur noch für Sekunden das Bewußtsein wieder, konnte jedoch auf keine Frage Haralds mehr antworten. Er starb eine Stunde drauf. – Die Frage, wie die Verbrecher in den Besitz der Zeichnung gelangt waren, ist daher auch nie restlos gelöst worden. –

Wir haben dann die unterirdischen Räume, deren Zugang die Steinplatte am Sockel der Säule bildete, genau durchforscht. Diese Räume waren nichts als Katakomben, Leichenkammern, vollgestopft mit Mumien jeden Alters. Sonst fanden wir hier nichts. Und dieser Mumien wegen waren die beiden Verbrecher zu Mördern geworden!

Wir blieben noch acht Tage in der sagenhaften Oase. Dann machten wir uns auf den Rückweg nach Suez.

In der berühmten Kanalstadt begann für uns dann ein neues, mehr seltsames als abenteuerliches Problem, für das einzig und allein als Titel paßt:

 

Der Afghan-Teppich.

 

 

Anmerkungen:

  1. Doppeltes Wort „in“ entfernt.
  2. In der Vorlage steht: „war“.
  3. In der Vorlage steht: „Stofffäserchen“.