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Der sterbende Fechter

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 39

 

Der sterbende Fechter

 

Erstes Kapitel.

Unsere Erlebnisse an Bord der Brigg „Christian von Bergen“ werden dem Leser aus dem vorigen Bande noch geläufig sein. Das Verbrecherpaar Möckern–Rosa Linden, das sich auf die Brigg als flüchtige Fremdenlegionäre eingeschmuggelt hatte, war mit Hilfe eines Motorbootes gerade an der letzten Leuchtboje des Suezkanals nach der Westküste der Sinai-Halbinsel zu entflohen und hatte den berühmten Ellora-Smaragd mitgenommen, der in dem letzten unserer Abenteuer eine so geheimnisvolle Rolle spielte.

Auf Harald Harsts Veranlassung hatte die Brigg alsbald ihren Kurs geändert und war in einer kleinen Bucht der nahen Küste vor Anker gegangen. Wir befanden uns jetzt also auf historisch-biblischem Gebiet, dazu noch auf einem Boden, der, wie Harald betonte, zum Teil noch unerforscht war. Mir erschien dies reichlich merkwürdig. Hier, wo eine der bekanntesten Wasserstraßen, eben der Suezkanal, vorüberführte, sollte es noch unerforschte Länderstrecken geben?! – Unsere späteren Erlebnisse bewiesen mir das zur Genüge, nachher auch eine ganz neue Karte der Sinai-Halbinsel, in die im südwestlichen Teile mehrfach das Wort „Unerforscht“ eingetragen war.

Im Laufe des Vormittags stellten wir fest, daß die Flüchtlinge in einem nahen Beduinenlager zwei Reitpferde nebst Ausrüstung und ein Packpferd gekauft und sich nach Südosten gewandt hatten.

Die Bewohner der Sinai-Halbinsel sind die aus der Bibel bekannten Amalekiter, die mit den Israeliten stets in Feindschaft lebten. Jetzt sind sie vollständig Beduinen geworden, ziehen nomadisierend umher und sind fanatische Anhänger des Propheten Mohammed.

Ich wunderte mich, daß Harst die Nachfrage nach den Flüchtlingen im Lager der braunen Nomaden so lässig betrieb und daß er dort nicht sofort Reitkamele einhandelte, mit denen wir die Verfolgung hätten fortsetzen können.

Wir kehrten zur Brigg zurück. Als ich Harald gegenüber äußerte, ich hätte den Eindruck gewonnen, daß Möckern, Rosa Linden und der Ellora-Smaragd ihm jetzt ziemlich gleichgültig geworden seien, erwachte er scheinbar aus tiefem Sinnen und sagte dann zerstreut:

„Sie haben uns wahrscheinlich belogen. Übrigens scheint mir auch noch ein neues Moment hinzugetreten zu sein.“

„Und das wäre?“

„Der Mann –“

„Welcher Mann?“

Ein verwunderter Blick traf mich.

„Du hast also wirklich nichts bemerkt?“

„Nein. Was denn? So rede doch! Nur nicht wieder die Hälfte für Dich behalten, Harald. Du weißt, dadurch haben wir schon böse Nackenschläge eingeheimst.“

„Stimmt.“ Er langte in die Tasche und hielt mir sein Zigarettenetui hin. „Bediene Dich. Ich bin in Geberlaune.“

Wir rauchten schweigend und wateten durch den tiefen Sand, schwitzten und genossen jetzt von einem Hügel aus den Fernblick über den Golf von Suez, die gleichnamige Stadt und den Kanal.

Harsts Zigarette war aufgeraucht. Er hatte bisher kein Wort mehr gesprochen. Ich bin ja an seine Eigenheiten gewöhnt und habe Geduld mit ihm.

Er blieb plötzlich stehen, warf den Zigarettenrest mit dem Korkmundstück in den Sand und zeigte dann mit dem Finger darauf.

„Sechs waren es, und sämtlich noch feucht. Also eben erst aufgeraucht,“ sagte er in seinem bekannten Depeschenstil, bei dem man stets mehrere Sätze einschalten muß, – wenn man dies kann, notabene.

Nun – ich konnte es heute! Wir hatten im Lager der Beduinen vor dem Zelte des Scheichs gesessen, und zwar auf einem kostbaren, bunten Seidenteppich. Gerade vor uns hatten im Sande Zigarettenstummel gelegen. Daß es sechs gewesen waren, daß die Mundstücke noch feucht gewesen, – das war mir freilich entgangen, oder besser, ich hatte gar nicht darauf geachtet.

„Ich weiß,“ sagte ich jetzt. „Die Stummel lagen dicht vor uns.“

Er faßte in die Tasche und hielt mir nun auf der flachen Hand zwei der Stummel hin.

„Es war nicht leicht, diese Dinger unbemerkt an mich zu bringen, da der Mann im Zelte neben uns hinter dem Türvorhang stand und uns beobachtete. Ich nahm schließlich meine Mütze ab und warf sie achtlos dorthin, wo die Stummel meine Neugier reizten. Mit einer Mütze zusammen kann man dann allerlei aufheben. – Hm – Zigaretten mit Firmenaufdruck sind gefährlich. Sie verraten dem Zigarettenraucher sehr viel.“

Ich besichtigte den einen Stummel und konnte gerade noch den goldenen Stempel entziffern:

Lord Palmerston,
Burkley & Tompkins
London.

„Die Marke Lord Palmerston ist so ziemlich die teuerste, die es überhaupt gibt. Sie kostet 1,50 Mark das Stück,“ erklärte Harald nun. „Man hält sie nur in den teuersten Restaurants und Hotels der Weltstädte. Wer davon sechs hintereinander raucht, ist Liebhaber dieser Marke, denn sie ist sehr stark opiumgetränkt, und ein gewöhnlicher Sterblicher verträgt höchstens eine davon. Der Mann muß also reich sein, ziemlich zerrüttete Nerven haben, da auf die Dauer kein Nervensystem diese Sorte Nikotin aushält und London sehr genau kennen. Nur in London kann er dieses Palmerston-Laster sich angewöhnt haben. Anderswo macht man keine Reklame für diese Giftnudeln.“

„Der Mann beobachtete uns also?“

„Ja. Ich sah nur einen Längsstreifen von seinem Gesicht. Er hat einen hellblonden Spitzbart, eine kleine Nase und helle Augen – lichtgrau. Sehr sonnverbrannt war er nicht. Er muß hier also Neuling sein. Ich halte ihn für einen Engländer. Weshalb er sich vor uns verbarg, ist mir noch unklar. Immerhin werden wir mit ihm rechnen müssen, genau so wie mit den Lügen des ehrwürdigen Gauners von Scheich, der uns so überaus bereitwillig erzählte, daß unsere Freunde Möckern–Linden nach Südost auf Pferden davongeritten seien.“

„Du meinst, Möckern hat den Scheich bestochen, uns anzuschwindeln –“

„Natürlich. Möckern mußte doch auf Nachfragen von unserer Seite gefaßt sein. Geld führt er genug bei sich. Und diese Beduinen, die sich hier in der Nähe von Suez herumtreiben, sind sämtlich nebenbei Fremdenführer und durch diesen Beruf von europäischer Kultur so stark beleckt worden, daß sie es mit jedem Berliner Bauernfänger aufnehmen.“

Ich mußte lächeln. Aber – das Lachen verging mir schnell.

Wir waren von der Kappe des Hügels in eines jener felsigen Täler hinabgestiegen, die man Wadi nennt. – Wadi ist ein ausgetrocknetes Flußbett. Dieses hier zog sich in vielen Windungen dem Golf von Suez zu. Große Felsblöcke lagen auf der Talsohle. Das sah ganz romantisch aus. Und – diese Romantik erhielt nun sehr plötzlich einen gefährlichen Anstrich.

Sieben – acht braune Kerle in schmierigen Beduinenmänteln sprangen hinter einem Felsen hervor, und ehe unsere Hände noch nach den Mehrladepistolen greifen konnten, waren wir schon zu Boden gerissen und auf den Bauch gewälzt.

Man band mir die Arme auf dem Rücken zusammen, warf mir eine stinkende Decke über den Kopf und führte mich davon. Bevor die Decke mich blind machte, hatte ich noch einen Blick von Harst erhascht. Und – Harald hatte mir mit einem kaum merklichen Lächeln wie befriedigt zugenickt.

Eine Viertelstunde darauf lag ich in dem Tragkorbe eines Lastkamels, besser, ich saß darin mit angezogenen Knien und geducktem Kopf. Über mich waren Lumpen und dergleichen gedeckt worden, und die tiefe Stimme des Scheichs, die ich schon kannte, hatte mir in fürchterlichem Englisch erklärt, man würde mir durch das Geflecht des Korbes eine Lanze in den Leib rennen, wenn ich nicht ganz still säße und mich nicht ruhig verhielte.

Im Korbe eines Lastkamels bei etwa 40 Grad Wärme zu reisen, gehört zu den größten Unannehmlichkeiten dieser schönen Erde. Leute, die zur Seekrankheit neigen, opfern bei einem solchen Ritt dem Gott Neptun – hier sagt man wohl besser dem Gott der Wüste – bereits nach fünf Minuten in reichlichstem Maße.

Auch mir drehte sich der Magen um. Aber zu Opferergüssen kam es nicht. Die Sonne stand direkt über mir (also Mittagsstunde), als man mir gestattete, die Beine etwas zu bewegen. Aber die stinkende Decke, die zudem noch von Flöhen wimmelte, behielt ich bei diesem Spaziergang über dem Kopf. Ich konnte also nur mit Hilfe des Gehörs feststellen, was ringsum vorging. Die Beduinen lagerten auf steinigem Boden, offenbar in einem Wadi. Hier herrschte mehr als Backofenglut. Kein Lüftchen regte sich. Ich hörte sprechen, Kindergeschrei, Hundegeknurr.

Dann wurde ich in einem Zelt von einem alten Weibe mit Datteln und Hirsebrot gefüttert, erhielt auch einen Becher Wasser, das mit Essig leicht angesäuert war. Hinter mir saß während dieser Mahlzeit ein Beduine mit einem langen Messer in der Hand, das er mir warnend gezeigt hatte, damit ich nicht etwa Dummheiten machte.

Meine Stimmung? wird der Leser fragen.

Nun, weder schlecht noch gut. Furcht hatte ich nicht. Mit diesen kulturbeleckten Berliner Bauernfängern amalekitischer Abstammung würde Harald schon fertig werden.

Dann ging der Ritt weiter. Jetzt aber auf angenehmere Art. Ich wurde in den Sattel eines Reitkamels gehoben, nachdem der Scheich mit dem tiefen Baß mich gefragt hatte, ob ich mir zutraue, mich im Kamelsattel zu behaupten. Ich hatte eifrig genickt und „Yes“ gerufen. Harald und ich waren ja vor etwa zwei Jahren vom Nil aus hoch zu Kamel nach Suez geritten. Der Leser der früheren Bände wird sich auf unser damaliges Abenteuer „Die Festung des Ali Azzim“ besinnen.

Wer an einen Ritt im Kamelsattel nicht gewöhnt ist, dem ergeht es so wie einem Anfänger beim Radfahren: man ermüdet sehr schnell durch das fortwährende Bemühen, sich im Sattel zu halten. Noch nervöser wird man, wenn man, wie ich damals, mit verbundenen Augen zu reiten gezwungen ist. Außerdem hinderte mich die dicke Decke stark am Atmen. Kurz: ich fühlte meine Kräfte allmählich schwinden. – Krampfhaft umklammerte ich den Sattelknopf. Zuweilen befiel mich bereits eine leichte Ohnmachtsanwandlung. Ich fürchtete jeden Augenblick, ich könnte von dem hohen Sitz herabstürzen und Hals und Beine brechen.

Ich wollte dann gerade den neben mir reitenden Beduinen, die sich schnatternd unterhielten, zurufen, daß ich am Rande meiner Kräfte sei, als dicht vor uns Schüsse knallten.

Ein wüstes Geschrei erhob sich. Mein Kamel stand plötzlich still. Ich flog über den Hals des Tieres hinweg in den Sand. Bei dem Sturz hatte sich der Riemen, der meine Kopfhülle festhielt und der mir unter den Armen durchgezogen war, gelockert. Der eine Deckenzipfel klappte um, und ich hatte das Gesicht frei.

Ich war platt auf den Bauch gefallen. Vor mir auf einer Hügelspitze lag ein Mann im Tropenhelm und feuerte auf die Beduinen, die sich schon auf der Flucht befanden.

Ich hatte mir weiter keinen Schaden getan, richtete mich halb auf und wandte mich um. Mein Reittier hatte sich von selbst in die Knie niedergelassen. Dicht dahinter stand Harald und hatte den Zaum seines Kamels in der Hand. Seine Kopfbedeckung lag vor ihm. Etwa hundert Meter zurück sah ich die letzten Beduinen über den Höhenkamm verschwinden.

Der Mann im Tropenhelm sprang jetzt auf, winkte uns hastig zu und rief auf englisch:

„Aufsitzen – aufsitzen – mir nach!“

Harald schwang sich schon wieder in den Sattel. Ich tat dasselbe. Dann ging’s im Kamelgalopp dem Fremden nach.

Rechts von uns wuchsen aus dem hellen Sandmeer graue Felsmassen heraus und türmten sich zu zackigen Höhen auf. Diese schienen unser Ziel zu sein.

Ich fühlte mich jetzt wieder völlig frisch. Harst hielt sich dicht neben mir. – Wer noch nie ein gutes Reitdromedar hat galoppieren sehen, ist geradezu verblüfft von der Schnelligkeit dieser langbeinigen Geschöpfe. Da kommt selbst ein Rennpferd schwer mit. Unsere Tiere waren gut und ausdauernd, noch besser offenbar aber das unseres Retters.

An eine Unterhaltung bei diesem Tempo war natürlich nicht zu denken. Nach einer guten halben Stunde, als bereits hie und da nackter Fels aus dem Sande hervortrat, rief Harst mir zu:

„Szylla und Charybdis!“

Was sollte das? Was wollte er mit den Namen dieser beiden Unholdinnen, die in der griechischen Mythologie als Schiffsverderberinnen eine so große Rolle spielen, andeuten?! – Ich verstand ihn nicht, rief zurück:

„Zum Rätselraten such’ Dir jetzt jemand anders aus!“

„Blind wie immer!“ lachte er.

Damit war die Unterhaltung beendet.

Blind – blind? – Was hatte ich denn übersehen? – Ich strengte mein Hirn gehörig an. Und – trotz der Hitze, trotz der Schweißperlen, die mir in den Augen brannten und mich zeitweise blendeten, kam mir schließlich doch die Erleuchtung: Der Mann im Tropenhelm hatte ja einen hellblonden Spitzbart und sah sehr wenig sonnverbrannt aus, so daß ich in ihm sofort den Europäer erkannt hatte!

Hellblonder Spitzbart! Und der Lauscher im Nachbarzelt, den Harald bemerkt hatte, der Raucher der teuren Zigaretten hatte denselben Bart!

Da begriff ich die „Szylla und Charybdis“ – Harst hatte durch diesen Hinweis mich darauf vorbereiten wollen, daß wir aus dem Regen in die Traufe gekommen wären! Also hielt er unseren Befreier für alles andere nur nicht für harmlos!

Es wurde kühler, dunkler. Die Sonne war längst untergegangen. Endlich machte der Mann im Tropenhelm halt, stieg aus dem Sattel. Wir hielten jetzt dicht vor ihm.

„Die Herren gestatten,“ sagte er auf englisch, verbeugte sich und lüftete den weißen Tropenhelm. „Ich bin Lord Allan Pimberton. Ich glaube, wir brauchen die Verfolger nicht mehr zu fürchten.“

 

Zweites Kapitel.

Wir waren gleichfalls abgestiegen. Harald nannte nun auch seinen Namen dem Lord und stellte mich diesem vor: „Mein Freund Schraut.“

Lord Pimberton stutzte, als Harst etwas undeutlich seinen Namen aussprach.

„Harst – Harst?“ fragte er rasch. „Etwa der Liebhaberdetektiv Harald Harst?“

„Derselbe, Mylord,“ lächelte Harald.

Pimberton streckte ihm beide Hände hin. „Ah – wie ich mich freue, Sie kennen zu lernen! Sie sind mir insofern kein Fremder mehr, als mein Vetter Lord Wolpoore Ihnen ja mehr als einmal sein Leben zu verdanken hat. Wolpoore schrieb mir darüber so manches.“

Dann gab er auch mir die Hand, meinte liebenswürdig:

„Wer hätte das geahnt, daß es mir beschieden sein würde, gleich zwei Berühmtheiten hier anzutreffen. Denn auch Sie, Mr. Schraut, erwähnte Wolpoore als treuen Gefährten Ihres Freundes und witzigen Gesellschafter.“ –

Wir lagerten uns. Pimbertons Kamel trug zwei Wasserschläuche. Zuerst hatten wir die Tiere getränkt. Von dem Rest Wasser kochte der Lord in einem kleinen Patentkessel, der in den Satteltaschen nebst anderen Reiseausrüstungsgegenständen verstaut war, einen vorzüglichen Tee. Dazu gab es Biskuits und eine Büchse Konservenfleisch aus des Lords geringen Vorräten.

Während der Mahlzeit erzählte er folgendes. – Er hielt sich seit mehreren Monaten in einem Schlosse auf, das auf den Westabhängen des südlichen Teiles des Sinai-Gebirges lag und das er von seinem älteren Bruder Percy zugleich mit der Lordwürde vor kurzem geerbt hatte. – – „Percy war ein großer Sonderling. Vor fünf Jahren ließ er das Schloß in einer zwar romantischen, aber recht traurigen Felseinöde erbauen und bezog es mit seiner jungen Gattin, einer der bekanntesten Schönheiten Englands.“

„Der Operettendiva Lydia Morgan,“ warf Harst ein. „Ich besinne mich auf diese seinerzeit vielbesprochene Eheschließung.“

„Ja – Lydia Morgan! – Es war eine Mesalliance[1], die in den Adelskreisen Englands große Empörung hervorrief. – Doch, lassen wir das – Gestern gegen Mitternacht verließ ich Schloß Medsur – ein benachbarter Berg heißt „Medsur“ oder „Habicht“ –, um nach Suez zu reiten. Ich hatte den Weg bereits dreimal, ohne belästigt zu werden, gemacht. Heute früh traf ich dann aber auf jenes Beduinenlager, dessen Scheich unlängst im Parke des Schlosses verschiedene Sachen gestohlen hatte. Ich wußte genau, daß die Diebe nur dieser übelberüchtigte Scheich Umri Schomar und dessen Leute gewesen sein konnten. Da nun das Lager sich so nahe der Stadt Suez befand, glaubte ich, den Scheich sehr ernstlich zur Rede stellen zu können. Ich verlangte, er solle die gestohlenen Sachen, darunter auch eine Bronzefigur, freiwillig herausgeben. Er behandelte mich zunächst sehr höflich! Wir nahmen, wie dies üblich, vor seinem Zelte auf einem Teppich Platz. Die Beduinen pflegen alles, was irgendwie vorliegt, mit größter Langsamkeit zu besprechen. Nun – Scheich Umri Schomar bewies auch jetzt wieder seinen hinterlistigen Charakter. Plötzlich flog mir von rückwärts eine Schlinge um den Hals. Dann stürzten ein paar der Beduinen herbei, fesselten mich und schleppten mich in das benachbarte Zelt. Gleich darauf erschienen Sie beide im Lager. Der Wächter, der bei mir im Zelte zurückgeblieben war, gab einen Moment lang nicht acht. Ich hatte draußen Ihre Stimmen gehört, stand schnell auf, trat an den Türvorhang heran und wollte mit einem Satz das Freie gewinnen. Da riß der Beduine mich zurück. Nachher gelang es mir, meine Hände aus den Stricken herauszuwinden und den Wächter so lange zu würgen, bis er das Bewußtsein verlor. Ich entfloh auf meinem Reitkamel, sah aber noch, daß man Sie beide angeschleppt brachte. – So, das wäre alles, meine Herren.“

„Eine Frage noch, Mylord,“ meinte Harald jetzt. „Sind Ihnen zwei Leute vielleicht begegnet, bevor Sie das Beduinenlager erreichten, – zwei Leute zu Pferde und mit einem Packpferd?“

„Nein. Ich habe niemanden bemerkt, Mr. Harst.“

„Wir sind nämlich hinter zwei Verbrechern her,“ erklärte Harald und erzählte dann ganz kurz das Nötigste über den als Mörder steckbrieflich verfolgten Nervenarzt Karl Möckern und dessen Geliebte Rosa Linden.

„Ah, wie interessant!“ rief Pimberton. „Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein, die beiden Verbrecher zu fangen. – Zunächst möchte ich jetzt aber für alle Fälle ein Stück zurückreiten, um festzustellen, ob die Beduinen unsere Spur nicht doch vielleicht trotz des Felsbodens gefunden haben.“

Er sattelte sein Kamel, stieg auf und rief uns nochmals ein „Auf Wiedersehen!“ zu. Er verschwand sehr bald in den Schatten der Dunkelheit.

Harald nahm einen brennenden Distelast, setzte damit eine Zigarette in Brand und fragte nach den ersten Zügen:

„Na, mein Alter, wie gefällt Dir diese Geschichte? Seine Lordschaft muß uns für komplette Idioten halten.“

Ich beugte mich vor.

„Szylla und Charybdis –“ flüsterte ich.

Der rötliche Schein des kleinen Feuers bestrahlte Harsts Gesicht zu unregelmäßig, als daß ich etwas aus seinen Mienen hätte herauslesen können. Mir kam es aber doch so vor, als ob er lächelte. Dann sagte er leise:

„Wenn ich nur wüßte, was der Kerl mit alledem bezweckt –! Jedenfalls war es mir bei den Beduinen behaglicher zu Mute als in der Gesellschaft dieses merkwürdigen Lords.“

Ich schüttelte den Kopf. „Entschuldige schon, aber ich verstehe nichts von alledem. Denn daß Du etwa annimmst, der Lord könnte diese unsere Rettung nur als Komödie mit Wissen und Willen der Beduinen in Szene gesetzt haben, kann ich nicht annehmen.“

„So?! Kannst Du nicht annehmen?! Auch gegenüber dieser Fülle von Beweisen nicht, die ich Dir nicht alle aufzählen will, weil mir das zu langweilig ist. Die Sache fing ja schon so unglaublich dämlich an, daß ein Blinder mit dem Stock fühlen mußte: hier stimmt was nicht! Wo werden einige dreißig gutbewaffnete Beduinen vor einem einzelnen Mann ausreißen, der von einem Hügel aus in die Luft knallt?! Wo werden sie so schnell ausreißen, ohne ihre Gefangenen mitzunehmen, obwohl sie gar keine Verluste haben! – Schon da wurde ich stutzig: ich war bereits so gut wie überzeugt, daß hier mit uns nur Theater gespielt wurde. Hatte ich doch in unserem Retter sofort den Mann aus dem Nachbarzelt erkannt.“

Ich war geradezu sprachlos. Auch ich zweifelte jetzt nicht länger daran, daß Harald mit alledem völlig recht hatte.

„Weshalb aber diese Komödie, weshalb?!“ entfuhr es mir nun.

Harald rauchte und starrte in die knisternde Glut. Ich mochte dieselbe Frage nicht nochmals wiederholen, mochte ihn nicht stören.

Dann sagte er ganz unvermittelt:

„Es gibt dafür eigentlich nur eine Erklärung, lieber Alter. Aber diese Erklärung enthält so viel kleine Widersprüche, daß ich nicht recht an ihre Richtigkeit glauben kann. Nimm mal an, der Lord sei Möckern und Rosa Linden begegnet und diese hätten in ihm schnell auf irgendeine Weise einen Verbündeten gewonnen. Dann könnte der Lord sich erboten haben, uns durch diese Komödie, falls wir im Beduinenlager Nachfrage hielten, zu Freunden zu gewinnen und nach Schloß Habicht zu locken, – also in eine Falle. Dort in der Bergwildnis konnte man uns dann verschwinden lassen.“

„Hm!“ machte ich zweifelnd.

„Ja – dieses „Hm“ ist berechtigt,“ nickte Harald. „Nun – warten wir ab. Wenn der Lord jetzt mit der Meldung zurückkehrt, die Beduinen seien uns auf den Fersen und wir täten am besten, uns nach Schloß Medsur in Sicherheit zu bringen, dann – dann gewinnt meine Theorie um ein Beträchtliches an Wahrscheinlichkeit.“

Seltsam: es war, als ob der Lord schon von ferne die Frage löste, was für eine Nachricht er von dem Kundschafterritt mitbrachte.

Wir hörten Hufschläge, – die eines galoppierenden Kamels.

Dann tauchte Pimberton auf, rief uns zu:

„Schnell – satteln, satteln! Wir müssen fort!“

Wir sprangen auf. Er half uns, die Sättel aufzuschnallen, trieb immer wieder zur Eile.

„Die Beduinen schwärmen überall in den Bergen umher,“ erklärte er überstürzt. „Daß Sie beide jetzt nach Suez zurückkönnen, ist ausgeschlossen. Wir werden nach meinem Schlosse reiten; dort wird der Scheich uns nicht anzugreifen wagen. Ich werde dann einen meiner eingeborenen Diener nach Suez schicken, damit die Beduinen durch Militär verscheucht werden. Es wird mir eine Ehre und ein Vergnügen sein, Sie beide als Gäste einige Zeit bewirten zu können.“

Ah – also doch! Wie richtig Harald gemutmaßt hatte. Eine Falle also!

Ich schaute nach Harst hinüber. Doch der stieg schon in den Sattel, sagte nur:

„Wir nehmen die Einladung mit Dank an, Mylord.“

Der Morgen graute. Wir kamen jetzt über einen Paß. Tief unter uns lag ein felsiges Tal mit wunderlichen Felskolossen, die überall verstreut waren. Das Tal dehnte sich endlos weit nach Südwest aus. Einzelne Palmengruppen und Buschinseln belebten es.

Der Lord hatte halt gemacht und uns erwartet.

„Die Sonne wird sofort in jenem Einschnitt in den Bergen erscheinen,“ sagte er. „Dann werden Sie Schloß Medsur hier von der Höhe aus bewundern können.“

Der Sonnenball leuchtete auf. Blendende Helle schoß über die Mitte des Tales hin. Und nun sahen wir auf einer Felspyramide ein aus rötlichen Granitquadern errichtetes Bauwerk, das mehr einer mittelalterlichen Raubburg als einem Schlosse glich. Der Bau war langgestreckt, hatte an den Seiten runde Türme und war von einer Steinmauer umgeben, die dicht am Rande des schroffen Felsens stand. Das Schloß zeigte mit der Front nach Westen. Hinter dem Schlosse bemerkte man allerhand Bäume, – wohl der Park, den der Lord erwähnt hatte.

Blendende Helle überstrahlte diese einsame Burg! Aber trotz der Überfülle von Licht machte sie einen seltsam bedrückenden Eindruck. Die gigantische Bergwelt ringsum, diese furchtbare Einöde des berüchtigten Sinai-Gebirges, in dem einst auch das aus Ägypten vertriebene Volk Israel umhergeirrt war, wischte sozusagen das Freundliche der blinkenden Fenster des Schlosses und das Erquickende des Anblicks der grünen Baumwipfel sofort wieder aus. In dieser schauerlichen Felsenwildnis kam man sich als Mensch so ganz als ein Nichts vor, wirkte jener Bau von Menschenhand dort wie ein klägliches Spielzeug. –

Eine Stunde darauf langten wir am Fuße dieser Felspyramide an, die hier nach Westen zu in drei Terrassen sich zur Talsohle abflachte. Ein Serpentinenweg, teilweise durch Sprengungen hergestellt, lief bis vor das Eingangstor der hohen Mauer hinauf.

An diesem schmiedeeisernen Tor zog der Lord an einem verborgenen Glockengriff. Zwei ältere arabische Diener öffneten das Tor, ließen uns ein und nahmen uns die Reittiere ab. Dann führte der Lord uns durch das Schloßportal und über eine breite Steintreppe in das erste Stockwerk und in einen völlig orientalisch gehaltenen Saal, bat uns, hier zu warten, bis unsere Zimmer in Ordnung gebracht seien und das Badewasser die nötige Temperatur hätte. – Einen Imbiß hatte Harst schon vorher dankend abgelehnt. – „Ich habe nur zwei Wünsche: ein Bad und ein Bett!“ hatte er lächelnd hinzugefügt.

Wir saßen nebeneinander auf einer Ottomane. Der Saal hatte bunte Fenster. Das gab ein angenehm mildes Licht. Staunend betrachtete ich all die kostbaren Teppiche und Altertümer, die hier den ganzen Zauber des Orients uns vermittelten.

Harst hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt.

„Was wird nun geschehen?“ fragte er leise. „Wir werden verdammt vorsichtig sein müssen, mein Alter. Und – schlafen darf nur immer einer von uns, da dieser Lord –“

Er schwieg plötzlich. Und in demselben Moment gewahrte auch ich rechts von uns an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand eine Frau in türkischen, überaus kostbaren Gewändern, – eine blonde Frau von so berückender Schönheit, daß ich sie wie hypnotisiert noch immer anstierte, als Harst sich bereits erhoben hatte und langsam auf sie zuschritt.

Und nun – nun geschah das unerklärliche, das mich geradezu von der Ottomane hochfahren ließ –

Die Frau stand dicht an der Wand vor einem dort als Dekoration aufgehängten Gebetteppich von wundervoller Farbentönung. Jetzt streckte sie die Hand gegen Harst aus. Und in dieser Bewegung lag etwas, das Harald plötzlich halt machen ließ. Dann – mit einem Schlage tiefste Dunkelheit ringsum; nur für Sekunden – vielleicht zwei, drei. Und wieder dieselbe milde Helle darauf – wie durch Zauberschlag. Die blonde Frau aber war verschwunden.

 

Drittes Kapitel.

Ja – verschwunden! Und dies ebenso lautlos, wie sie gekommen war.

Der Saal hatte nur zwei Türen an den Schmalseiten. Durch diese Türen konnte die Frau weder eingetreten, noch hinausgeschlüpft sein. Es waren schwere, geschnitzte Türen aus gebeiztem Zedernholz, und von dort, wo die Frau gestanden hatte, bis zu ihnen hin waren es gut zehn Schritt. Diese zehn Schritt konnte sie während der wenigen Sekunden der Verdunkelung des Saales unmöglich zurückgelegt haben.

Ich stand noch immer an der Ottomane. Und Harald stand ebenfalls noch auf demselben Fleck. – Nun drehte er sich langsam nach mir um und schaute mich mit einem merkwürdig geistesabwesenden Blick an. Dieser Blick wanderte dann nach den Fenstern. Und so verharrte er eine ganze Weile regungslos, als ob es dort auf den bunten Scheiben des mittelsten der fünf Fenster etwas ganz Besonderes zu sehen gäbe.

Diese starre Ruhe Harsts, das soeben Erlebte und die Gedanken daran, daß wir hier fraglos von Gefahren umlauert waren, schufen bei mir sehr schnell jenen Zustand ungewisser, lähmender Furcht, der selbst durch die logische Arbeit des Gehirns nicht zu beseitigen ist. Umsonst machte ich mir klar, daß uns doch im Augenblick nichts zustoßen könnte; Umsonst versuchte ich, mich zu bewegen und durch die kleinste Änderung meiner Körperhaltung diesen auf mir lastenden Bann abzuschütteln. Ich war unfähig dazu. Ich fühlte, wie mein Herz schneller und schneller klopfte, wie mir die ersten kalten Schweißtropfen auf die Stirn traten. Und eine innere Stimme rief mir jetzt auch immer eindringlicher zu: „Es wird sich sofort etwas ereignen – etwas Furchtbares!“

Gerade als meine Beine infolge dieser unnatürlichen Lähmung der Muskeln nervös zu zittern begannen, – gerade da sagte Harald plötzlich ganz laut:

„Unsinn ist’s! Unlogisch im höchsten Maße!!“

Ah – schon dieses erste Wort „Unsinn“ war wie eine Erlösung gewesen, wie ein Schlag mit einer Zauberrute, die eine Rückverwandlung bewirkt.

Ganz von selbst setzte ich das eine Bein vor, schritt auf Harald zu.

Er hatte die Hände in die Taschen seines grüngrauen Sportjacketts gesteckt, hatte die Augen halb zugekniffen und sagte, als ich vor ihm stehen blieb:

„Sieh’ mal, auch der vielgerühmte Harald Harst kann die gröbsten Denkschnitzer machen.“ Seine Stimme war immer leiser geworden. „Wenn der Lord uns beseitigen will, weshalb schleppt er uns denn erst hier ins Schloß?! Wäre es nicht einfacher und sicherer gewesen, uns den Beduinen in die Hände zu spielen, die uns zum Beispiel bei einem plötzlichen Überfall hätten niederknallen und unsere Leichen dann in eine Schlucht werfen können –! – Nein, mein Alter, – wir befinden uns, was meine Theorie angeht, auf dem Holzwege, – nicht vollständig zwar, aber doch, was den Endeffekt der Komödie angeht. Begreifst Du das nun?“

Gewiß: Ich begriff das sehr gut. Aber ich wurde dadurch nur noch ratloser.

„Ja – warum in aller Welt dann aber dieses Wildwest-Schauspiel unserer Verfolgung, – warum?“ fragte ich ganz verwirrt.

„Ja – warum?! Das eine bleibt wohl bestehen: der Lord wollte uns um jeden Preis hier nach Schloß Habicht locken, und zwar so, daß wir ihm noch Dank dafür schuldeten. Doch was er –“

Von der linken Schmalseite des Saales her ein leises Klirren und Rauschen.

Unsere Köpfe waren gleichzeitig herumgefahren.

Auch dort an der Wand waren prachtvolle Orientteppiche befestigt gewesen. Und zwei dieser großen, farbenfrohen Erzeugnisse der Knüpfkunst geduldiger Orientalen waren nun wie Vorhänge zur Seite gezogen und gaben den Ausblick in einen strahlend hellen Raum frei, – in ein Bildhaueratelier, wie ich auf den ersten Blick erkannte.

Gerade vor dieser bisher verdeckt gewesenen Türöffnung aber stand auf einem breiten Postament ein weit überlebensgroßes Tonmodell eines am Boden liegenden, römischen Gladiators.

„Wundervoll!“ sagte Harst, ehrlich begeistert. „Wundervoll! Dieser Gesichtsausdruck! Das muß ein gottbegnadeter Künstler geschaffen haben.“

In demselben Augenblick kam hinter der Statue eine riesige Tigerdogge hervor mit gesträubtem Rückenhaar, die Rute lang nach hinten gestreckt, die Hinterbeine etwas eingedrückt, wie im ersten Ansatz zum Sprunge.

Ein röchelndes Knurren entrang sich der breiten Brust des Tieres; immer langsamer wurde der Schritt; immer höher richteten sich die Rückenhaare auf –

Harald fuhr nach der Beinkleidtasche, wo der Mehrlader steckte.

Die Dogge stand still. Haralds Arm kam wieder zum Vorschein. Er zielte auf das mächtige Tier, rief gleichzeitig befehlend:

„Down – down!“ (Leg Dich – leg Dich!)

Die Dogge knurrte noch lauter, duckte sich zusammen; Jede Muskel spannte sich –

Jetzt – jetzt würde sie springen –

Da – hinter uns eine helle Frauenstimme:

„Hektor – down!“

Und nun gehorchte das Tier augenblicklich; nun trat dieselbe blonde Frau neben uns, leichenblaß, zitternd vor Aufregung –

„Wer – wer sind Sie?“ herrschte sie uns an. „Mein Schwager hat Sie mit hierher gebracht. Aber – wer sind Sie –?! – Hätten Sie mir den Hund erschossen, dann – dann –“

Ihre grauen Augen flammten. Sie beendete den Satz nicht. Aber der Schluß wäre fraglos eine ernste Drohung gewesen.

Harst verneigte sich.

„Mylady, mein Name ist Harald Harst. Dies hier mein Freund Schraut. Ihr Herr Schwager, Lord Allan Pimberton, hat uns gestern aus den Händen von Beduinen befreit. Wir mußten dann bis hierher fliehen.“

Lady Lydia musterte uns von oben bis unten mit Blicken, die geradezu eine Beleidigung waren.

„Schon gut,“ sagte sie mit einer kurzen Handbewegung. Dann schritt sie auf die Dogge zu, kniete neben ihr nieder und preßte den Kopf des Tieres in überströmender Zärtlichkeit an sich, stammelte dazu mit bebender Stimme:

„Oh, wenn man Dich getötet hätte, wenn mir auch das Letzte genommen wäre, was in Treue an mir hängt und was er geliebt hat –! Hektor, Hektor, wer nur hat Dich wieder in diesen Raum eingelassen –?! – Hektor, wenn Du reden könntest –!“

Harald und ich verharrten regungslos bei dieser sonderbaren Szene.

Lady Pimberton, die ehemalige Operettendiva, erhob sich nun, nahm den Hund beim Halsband und wandte sich uns zu. Sie hatte sich wieder beruhigt. Auf ihrem schönen Antlitz prägte sich jetzt deutlich eine gewisse Verlegenheit aus.

„Entschuldigen Sie bitte meine Unliebenswürdigkeit,“ sagte sie weich und mit einer Trauer und mit einem Schmerz in der Stimme, daß in mir sofort das Mitleid aufstieg. „Diese Dogge hat hier meines verschwundenen Gatten und meine Einsamkeit geteilt, war uns wie – wie ein Kind fast – Daher auch mein Entsetzen und meine Angst, als Sie, Mr. Harst –“ Sie schwieg plötzlich, starrte Harald lange an, wiederholte dann leiser:

„Harst, Harst –?! Dieser – dieser Name. Sind Sie etwa der bekannte Detektiv, Mr. Harst?“

Harald verneigte sich. „Ich bin der Liebhaberdetektiv Harald Harst, Mylady.“

Sie trat einen Schritt vor. „Wirklich – wirklich Harald Harst?!“ stieß sie hervor. „Ach – dann segne ich die Beduinen, die Sie zwangen, in Schloß Medsur Zuflucht zu suchen. Dann –“

Hinter uns klappte eine der Saaltüren. Über der schönen Lady Gesicht flog ein Schatten hin. Schritte näherten sich, und Lord Allan rief gutgelaunt:

„Lydia, Sie haben also bereits unsere berühmten Gäste kennengelernt – Da brauche ich dann wohl über die Art, wie Mr. Harst und sein Freund hierher gelangten, keine weiteren Erklärungen abzugeben. – Aber – wie kommt Hektor hier ins Atelier? Ich habe doch verboten, daß –“ Er unterbrach sich.

„Sie werden ihn mitgebracht haben, Lydia, – natürlich!“ fügte er hinzu. „Jetzt müssen Sie unsere Gäste aber gnädigst entschuldigen. Die Herren sind müde, wollen ein Bad nehmen und dann den versäumten Schlaf nachholen.“

Wir waren allein und ungestört. Ich atmete wie befreit auf. Dieses Schloß und seine Bewohner waren mir denn doch etwas zu stark schon auf die Nerven gefallen.

Harald ließ sich im Salon in einen Korbsessel fallen und streckte die Beine weit von sich. Seine grauen, großen Augen ruhten mit einem besonderen Ausdruck auf meinem Gesicht.

„Jetzt – hab’ ich’s!“ flüsterte er so leise, daß ein Lauscher draußen vor der Tür unmöglich etwas verstehen konnte.

Ich nahm einen anderen Korbsessel und setzte mich dicht neben ihn.

„Also die Erklärung dafür, weshalb Lord Allan uns nach Schloß Medsur dirigierte oder besser, mit Hilfe der Beduinen dirigieren ließ –,“ meinte ich ebenso leise.

„Ja!“ Er beugte sich vor und legte mir die Hand auf den Arm. „Wir brauchen uns hier nicht zu fürchten. Es wird uns kein Haar gekrümmt werden, mein Alter, obwohl dieses Schloß sehr wahrscheinlich eine Mörder –“ Den Rest des Wortes verschluckte er, sprang auf –

Meine Augen folgten der Richtung der seinen.

Und ich sah – sah Lady Lydia in der linken Ecke des Salons vor einem altertümlichen Schranke stehen.

Sie hob jetzt den Zeigefinger, legte ihn auf die Lippen, nahm dann ein Taschentuch und deutete auf die Tür des Salons, die in den Flur führte.

Harald ging auf die Tür zu und hängte sein eigenes Taschentuch über das Schlüsselloch.

Lady Lydia winkte dann, öffnete die Tür des großen, altertümlichen Schrankes und – verschwand darin.

Harst kniff die Augen zu, lächelte mich aufmunternd an und stieg gleichfalls in den Schrank hinein. Ich folgte als Letzter, mußte die Tür auf der Lady Geheiß wieder zuziehen.

Die Rückwand des in die Mauer halb eingelassenen Möbels war beweglich und bildete den Zugang zu einer schmalen Treppe, die in ein mit geradezu raffiniertem Luxus ausgestattetes Damenschlafzimmer führte, wo in einer Ecke ein ähnlicher Schrank stand.

Lady Lydia machte eine einladende Handbewegung nach einem Diwan hin.

„Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herren,“ sagte sie wieder mit derselben müden, traurigen Stimme. „Hier sind wir vor Lauschern sicher.“ – Sie rückte einen Hocker neben die Seite des Diwans, wo Harst saß. – „Mr. Harst,“ fuhr sie fort. „Sie hat mir wirklich der Himmel gesandt. Ich will mich heute nur ganz kurz fassen. Ich weiß, Sie beide sind müde und abgespannt. Trotzdem mußte ich Sie noch sprechen und Ihnen mein Herz ausschütten. – Vor fünf Monaten ist mein Gatte verschwunden. Einen Monat vorher hatte er seinen jüngeren Bruder Allan zu sich genommen. Allan ist Künstler, Bildhauer, hat aber auch als Forschungsreisender einen gewissen Ruf erlangt. Sein unstetes Leben erforderte große Summen. Da sein Vermögen nicht bedeutend war, geriet er häufiger in Schulden, die mein Gatte Percy stets bezahlte. Dann schrieb Allan vor etwa sieben Monaten an ihn einen Brief aus London und bat ihn, wir möchten ihn hier in Schloß Medsur für längere Zeit als Gast beherbergen. Er wolle ein Werk schaffen, das ihn mit einem Schlage als Bildhauer berühmt machen solle. Percy antwortete, daß Allan uns willkommen sein würde. Dabei war das Verhältnis zwischen den Brüdern seit langem nur noch ein rein äußerliches. Sie waren eben zu verschiedene Naturen. Meines Gatten ernster, gediegener Charakter stand allem Abenteuerlustigen fremd gegenüber. Und Allan war eben so etwas wie eine Abenteurernatur. Aber – er hatte sich offenbar sehr gebessert. Kaum daß er hier eingetroffen war, ging er auch sofort mit Eifer an die Arbeit. Er lebte ganz für sich, was Percy und mir nur lieb war, denn wir beide waren uns stets genug. Wir hatten uns aus tiefer, gegenseitiger Neigung geheiratet, und wir fühlten uns hier in der Einsamkeit überaus glücklich.“

Sie konnte jetzt vor innerer Bewegung nicht weitersprechen. Tränen perlten aus ihren Augen, und ihr zartes, feines Antlitz war wie erstarrt in unendlichem Schmerz.

„Mylady, eine Zwischenfrage,“ sagte Harst in seiner weichen, tröstenden Art. „Haben Sie Ihren Schwager schon vor Ihrer Heirat gekannt?“

Lady Lydia wurde flammend rot. „Ja, Mr. Harst,“ erwiderte sie zögernd. „Auch Allan gehörte zu meinen Bewunderern. Ich war früher Operettensängerin, aber, das darf ich mit Recht behaupten, mein Ruf war tadellos! Allan wurde dann eigentlich durch unsere Ehe erst in die Fremde getrieben und begann seine Forschungsreisen. – Ich will nun zur Hauptsache kommen. Es dürfte Ihnen bekannt sein, daß es auf der Halbinsel Sinai noch Löwen gibt, wenn auch nur vereinzelt. Die Sandwüsten mit ihren eingestreuten Felspartien und die geringe Besiedlung schützen die Löwen vor vollständiger Ausrottung. Percy war nun ein leidenschaftlicher Jäger, hatte mir aber fest versprochen, nie an dieses gefährliche Großwild sich heranzuwagen. Am 25. Februar dieses Jahres erklärte mir Percy abends, daß er am nächsten Morgen in aller Frühe einen Pirschgang auf Bergschafe unternehmen wolle. Am 26. gegen 3 Uhr morgens stand er dann auf, kleidete sich an und verabschiedete sich von mir. Ich – ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen.“ Abermals mußte sie ihren Bericht unterbrechen und die Tränen niederkämpfen, die das Leid ihr in die Augen drängte. „Percy kehrte von diesem Jagdausflug nicht mehr zurück,“ fuhr sie dann fort. „Wir haben das Gebirge durchsucht, und wir fanden schließlich am Rande einer tiefen Schlucht seine Mütze und sein Gewehr, aus dem eine Patrone abgefeuert worden war. In der Schlucht, die etwa 80 Meter tief ist, fließt ein Bach entlang und verschwindet dann in einem Felsenloch, um erst weit südlicher wieder zu Tage zu treten. Die beiden Detektive, die ich telegraphisch aus London hergerufen hatte, fanden dann noch an einer Steinzacke der steilen Felswand jener Schlucht ein Stückchen Stoff aus dem Sportjackett meines Gatten und weiter unten sein zerschmettertes Fernglas. Sie hatten sich an Tauen herabgelassen und die ganze Schlucht auf das genaueste durchsucht. Auf ihre Aussage hin wurde Percy dann für tot erklärt und als Todesursache ein Unfall angenommen. Ein Löwe sollte ihn angesprungen und in die Schlucht geschleudert haben. Percys Leiche sei von den reißenden Wassern des Baches in den unterirdischen Tunnel entführt worden, heißt es weiter in dieser Todeserklärung. Ich aber, Mr. Harst, – ich glaube an diesen Unfall nicht! Nein, nein, – niemals werde ich daran glauben!“ Sie hatte diese Worte in steigender Erregung hervorgestoßen, sprang nun auf und hob wie flehend die Arme. „Mr. Harst, nur wenn Sie, der den Vetter meines Mannes, Lord Wolpoore, so oft vor den Nachstellungen der Mördersekte der Thugs geschützt und der diese unheimlichen Bestien in Menschengestalt schließlich sämtlich unschädlich gemacht hat, – nur wenn Sie diese Angelegenheit untersucht und die Überzeugung gewonnen haben, daß hier wirklich ein Unfall vorliegt, dann – dann will auch ich meinen Verdacht fallen lassen! Ich wollte längst an Sie schreiben, längst. Aber – ich wagte es nicht.“

„Sie wagten es nicht, Mylady?“

„Nein, denn ich fürchtete, daß dieser Brief – mein Todesurteil sein könnte.“

Sie hatte sich wieder gesetzt und starrte verzweifelt zu Boden.

„Ich verstehe,“ meinte Harald. „Der Brief hätte geöffnet werden können, und der Mann, den Sie für – den Mörder Ihres Gatten halten, hätte dann aus Furcht vor meiner Einmischung seine schlimmste Feindin stumm machen können.“

Lady Lydia saß regungslos und erwiderte nichts. Erst nach einer geraumen Weile sagte sie ganz leise:

„Ich will niemand verdächtigen, – nein, ich will es nicht! – Werden Sie nun versuchen, Mr. Harst, mir endlich Gewißheit zu geben?“

„Ja, gern, Mylady. Da wir nun schon einmal bei der Erörterung der Angelegenheit sind, wollen wir sie auch gleich erledigen. Ich bin nicht im geringsten mehr müde oder abgespannt. Und mein Freund Schraut sicherlich auch nicht. Sie gestatten vielleicht, daß ich rauche, Mylady. Die Zigarette bedeutet für mich dasselbe wie für andere ein Glas Sekt.“

 

Viertes Kapitel.

Harald hielt auch mir sein goldenes Etui hin, nachdem Lady Lydia erklärt hatte: „Aber bitte – ich bin ja selbst leidenschaftliche Raucherin.“

Nach den ersten Zügen, die er mit völlig geschlossenen Augen tat, sagte er dann, ohne die Lady anzusehen:

„Wollen Sie mir bitte einige Fragen beantworten. Einige davon werden Ihnen vielleicht sehr merkwürdig erscheinen. – Zunächst: Hatte Ihr Gatte die Gewohnheit, ohne Begleitung auf die Jagd zu gehen?“

„Ja. Nur mich hat er einige Male mitgenommen. Er blieb auch stets nur allerhöchstens einen halben Tag weg.“

„Hat jemand ihn am 26. Februar früh das Schloß verlassen sehen?“

Die Lady wurde etwas verlegen. „Nein, Mr. Harst. Dies war auch nicht möglich. Denn – ich vertraue auf Ihre Verschwiegenheit! – es gibt hier einen unterirdischen Gang, der in eine große Felsenhöhle führt. Aus dieser Höhle gelangt man dann in ein Tal nördlich des Schlosses. Nur Percy und ich kennen oder kannten dieses Geheimnis. Es war für uns ein Rettungsweg für die Stunde der Gefahr. Percy hat ganz allein diesen Gang, der ursprünglich nur eine Felsspalte war, so eingerichtet, daß er betretbar war. Er ist ohne Zweifel damals auf diesem Wege aus dem Schlosse gelangt. Jedenfalls hat ihn niemand von der Dienerschaft bemerkt. Die Londoner Detektive haben das Personal auch hiernach befragt, besonders die beiden Leute, die in jener Nacht die Wache hatten. Percy ließ nämlich Schloß und Park der diebischen Beduinen wegen regelmäßig bewachen.“

„Letztens sind wieder Diebstähle vorgekommen, nicht wahr?“

„Ja. Mein Schwager Allan hielt die Bewachung für überflüssig. Dies werden die arabischen Diener wohl ausgeplaudert haben, und deshalb hat sich wieder braunes Gesindel in den Park gewagt.“

„Mylady, weshalb streckten Sie uns vorhin im orientalischen Saale so gebieterisch die Hand entgegen? Wie verdunkelten Sie den Saal? Wo liegt die Geheimtür, durch die Sie eintraten und wieder hinausschlüpften?“

„Allan hat zwei Freunde aus London eingeladen. Ich glaubte, Sie beide wären diese Herren, die mir noch von meiner Künstlerlaufbahn her dem Namen nach bekannt sind und die als Spieler und Lebemänner seinerzeit geradezu berüchtigt waren. Meine Handbewegung sollte nur andeuten, daß ich mit diesen Herren nichts zu schaffen haben wollte. Die Verdunkelung wurde durch die Eisenjalousien bewirkt, die vor den Fenstern im Mauerwerk so eingelassen sind, daß man sie durch einen Druck auf einen der Parkettstäbe des Saales geräuschlos hochgehen und auch wieder verschwinden lassen kann. Dieser Parkettstab befindet sich dort, wo ich in jenem Augenblick stand, und die Geheimtür wieder im Wandgetäfel hinter dem großen Gebetteppich.“

„Weshalb betraten Sie den Saal, Mylady? Wußten Sie, daß Fremde eingetroffen waren?“

„Nein, ich wußte es nicht. Ich suchte die Dogge. Ich schwebe in ständiger Angst, man könnte sie vergiften oder sonstwie beseitigen. Hektor ist ja hier mein einziger Freund. Selbst meiner Kammerzofe traue ich nicht mehr.“ Sie wurde wieder erregt, rang die Hände im Schoß und rief leise: „Ich wäre ja längst schon hier fortgezogen, wenn mich nicht die Hoffnung beseelt hätte, Percys Tod doch noch restlos aufklären zu können.“

„Mylady, nach einer Äußerung Lord Allans scheint die Dogge sich häufiger im Atelier aufgehalten zu haben, – wohl stets gegen Ihren Willen?“

„Allerdings, Mr. Harst. Das kluge, treue Tier hat eine merkwürdige Vorliebe jetzt für das Atelier. Sobald es nur entschlüpfen kann, läuft es dorthin. Es vermag sich die Türen selber zu öffnen, drückt mit der Vorderpfote die Türdrücker herab und –“

„Danke, Mylady. – Lord Allan ist es wohl nicht lieb, daß Hektor ins Atelier kommt?“

„Nein, nein, – er mag Hektor nicht leiden. Er hat deshalb auch die Drücker der Saal- und Ateliertüren so umändern lassen, daß man erst unten am Drücker auf eine Feder –“

„Gut, Mylady, – ich habe dies an der einen Saaltür bemerkt. – Wie mag die Dogge denn aber heute in das Atelier gelangt sein?“

„Ja – wenn ich das wüßte! Der Dienerschaft ist streng verboten, Hektor dort einzulassen, mag er auch noch so sehr winseln. Als Sie hier eintrafen, saß ich mit einem Buche im Park. Ich hatte Hektor in meinen Salon dort nebenan eingeschlossen. Ich begreife nicht, wie –“

„Danke, Mylady. Sie werden auch dies begreifen.“

„Wie – wie?! ‚Auch[2] dies – auch dies?‘ sagen Sie, Mr. Harst? Das klingt ja so, als ob – als ob ich noch anderes begreifen würde –! – Oh mein Gott – haben Sie etwa bereits eine Vermutung, wie –“

Harald hatte sich erhoben. „Mylady, fragen Sie jetzt nichts,“ unterbrach er sie. – „Ihr Schwager ist leidenschaftlicher Zigarettenraucher?“

„Er läßt die Zigarette nur während des Schlafs aus den Fingern.“

„Ich möchte mir jetzt gleich den geheimen Gang und die Höhle ansehen, Mylady, falls dies so geschehen kann, daß uns niemand bemerkt.“

„Gewiß, Mr. Harst. Dies ist sehr leicht zu machen. Von meinem Salon führt eine Geheimtreppe direkt in den Gang. Bitte, kommen Sie nur –“

Ich will mich hier nicht mit Einzelheiten aufhalten, was die Einrichtung dieses Geheimweges ins Freie betrifft. Schloß Medsur war jedenfalls der reine Fuchsbau. Lord Percy mußte doch ein ziemlich spleeniger Herr gewesen sein, daß er an derlei Spielereien Gefallen fand.

Lady Lydia hatte uns auch mit elektrischen Taschenlampen und Ersatzbatterien aushelfen können. Auf ihre Begleitung verzichtete Harst. Es genügte uns, daß die Lady uns den Ausgang der Höhle ganz genau beschrieben hatte.

Die Felsspalte, die Lord Percy zu einem unterirdischen Pfade umgestaltet hatte, bezeichnet man besser als ein Gefüge von spaltenähnlichen Hohlräumen. Hölzerne Leitern von verschiedenen Größen waren es in der Hauptsache, die ein Passieren dieser Klüfte ermöglichten. Nachdem wir etwa eine Viertelstunde mit Hilfe dieser Leitern vorgedrungen waren, gelangten wir in die Höhle. Diese zog sich als mächtiges Gewölbe, oft sich verengernd, oft zu imposanter Größe sich erweiternd, in der Richtung nach Norden hin. Da man sich hier leicht verirren konnte, hatte Lord Percy den kürzesten Weg zum jenseitigen Ausgang durch einen weißen Kalkstrich auf dem Steinboden kenntlich gemacht.

Bisher hatte Harald hartnäckig geschwiegen. Jetzt blieb er stehen, sagte kurz: „Du rechts, ich links von dem Kalkstrich. Aufgabe: nach Zigarettenstummeln suchen!“

Endlich konnte ich nun meinem übervollen Herzen Luft machen.

„Lady Lydia hält Lord Allan offenbar für den Mörder ihres Gatten,“ meinte ich überstürzt. „Dieser Verdacht ist doch aber Wahnsinn! Wo wird ein Mörder einen Harald Harst an den Ort der Tat schleppen! Dieses Problem kommt mir so vor wie ein Kriminalroman, den ein Verrückter geschrieben hat! Dann noch dieses Schloß mit seinen Geheimtüren und -treppen –! Was soll das Ganze nun eigentlich?“

„Oh – Du könntest die Verwirrung der vorliegenden Tatsachen und Möglichkeiten noch vergrößern, mein Alter, indem Du an Möckern und Rosa Linden denkst, und an den Hund. Ich rate Dir, Dich in Gedanken recht viel mit Hektor zu beschäftigen. – Jedenfalls will ich, bevor ich mit dem Hammer dieses Gebilde von Lug und Trug zerschmettere –“ – er sprach diesen Satz mit erhobener Stimme – „den Beweis erbringen, daß dieser unterirdische Weg nicht nur Lord Percy und der Lady bekannt war. Also vorwärts, lieber Alter! Leuchte rechts des Strichs sehr genau den Boden ab. Jemand, der diesen Pfad vielleicht schon öfters gewandelt ist, wird als leidenschaftlicher Raucher kaum auf die Zigarette hier verzichtet, aber aus Vorsicht die Stummel weit zur Seite in das Steingeröll geschleudert haben. Die Arbeit dürfte etwas zeitraubend für uns werden. Aber – es muß sein!“

Und so begannen wir denn diese Suche, die bereits nach wenigen Minuten den Erfolg hatte, daß Harald drei und ich zwei Stummel fand. Unter meinen Stummeln aber gab es einen, dessen Mundstück sich noch weich und feucht anfühlte. Diese Zigarette konnte also erst vor kurzem geraucht worden sein –! – Als ich Harald diesen wichtigen Fund hinhielt, als er ihn dann auch mit der Nase geprüft hatte, als er gleich darauf noch näher nach dem Ausgang hin gleichfalls einen Zigarettenrest entdeckte, der eben erst fortgeworfen sein konnte, da erklärte er:

„Es sind sämtlich Reste der Marke Lord Palmerston. Unser Freund Allan ist diesen Weg vor kaum fünf Minuten gegangen. – Wohin will er, der doch sagte, er sei hundemüde und würde gleichfalls bis zum Nachmittag schlafen, – wohin? Was hat ihn auf diesem Wege in die Bergwildnis getrieben?“

Ein Gedanke kam mir. – „Vielleicht will er sich mit –“

„Ja – auch ich nehme das an!“ fiel mir Harald ins Wort. „Mit Möckern und der Linden will er sich in Verbindung setzen! Lieber Alter, wenn wir Glück hätten! Wenn wir die beiden erwischten!“ –

Gleich darauf waren wir im Freien. Das Tal, in dem wir uns jetzt befanden, hatte sehr schroffe Wände und zeigte nur nach Süden zu einen Einschnitt. Dorthin also mußte man sich wenden, wenn man aus diesem Kessel hinauswollte.

Harald drückte mich jetzt zwischen ein paar große Steine.

„Warte hier!“ sagte er in so merkwürdigem Tone, daß ich stutzig wurde. Ein Blick in sein Gesicht bewies mir auch weiter noch, er müsse hier soeben eine wichtige Entdeckung gemacht haben.

„Nein – ich komme mit. Ich lasse Dich nicht allein die Kastanien aus dem Feuer holen!“ erklärte ich sehr bestimmt.

„Es ist besser, es verbrennt sich nur einer die Finger, mein Alter. Dann kann der andere Arzt spielen. – Aber, – meinetwegen! – Bitte – dort!“ Er zeigte mit der Hand auf eine Stelle, wo etwas wie gelbliche Fasern auf dem Felsboden lagen. „Hier hat jemand frischen Pferdedünger entfernt, – aber nicht sorgsam genug! Ich wette, die Gesuchten stecken in diesem Tale, und zwar im nördlichen Teil. Du erkennst schon von hier aus, daß das Tal eine Biegung macht. Allan wird Möckern und der Linden dieses Tal genau beschrieben haben. – Doch sehen wir zu, ob wir uns anschleichen können. Ich werde mich stets zehn Schritt vor Dir halten. Wir werden weite Strecken kriechen müssen –“

 

Fünftes Kapitel.

Jetzt wurde dieses Abenteuer wieder ein wenig aufregend. Trotzdem glaubte ich nicht, daß uns irgend etwas zustoßen könnte. Der einzige Gegner, den ich für voll rechnete, war Karl Möckern. Der Lord und Rosa Linden waren kaum zu fürchten. Besonders ersterer hatte ja bei der Wildwest-Komödie so grobe Fehler gemacht, daß ich ihm keine sehr große verbrecherische Intelligenz zutraute. – Das Anschleichen war mühsam und schmerzhaft. Nach zwanzig Minuten – inzwischen war Harald schon des öfteren lang auf den Boden geschmiegt liegen geblieben – winkte er mir zu und schob sich dann zwischen Steingeröll hinein. Ich folgte ihm. Als ich mit ihm in einer Höhe war, flüsterte er mir zu: „Hörst Du nichts?“

Ja – jetzt vernahm ich dumpfes Stampfen. Das waren die Pferde, die da vor uns irgendwo standen. Auch Schnauben und das Klirren von Kinnketten war zu unterscheiden.

„Wo mögen sie stecken?“ fragte ich leise.

„Es muß da vorn in der Talwand eine Grotte geben. Tief kann diese nicht sein, sonst hätte man die Pferde weiter hineingeführt. Warten wir, bis Lord Allan wieder zurückkehrt. Dann machen wir mit den beiden kurzen Prozeß. Sie werden leicht zu überrumpeln sein. Und nachher kommt Freund Allan an die Reihe. Dann haben wir ein Mörder-Trifolium beisammen.“

„Also hältst Du Allan doch für seines Bruders –“

Weiter kam ich nicht. Irgendwoher erklang ein gellender Schrei, der jedoch sehr bald in ein qualvolles Stöhnen überging. Auch dieses verstummte jetzt. Und dann folgte ein höhnisch-triumphierendes Auflachen, das ich bereits einmal gehört hatte – von Rosa Linden, der Geliebten des Mörders Karl Möckern –

Unwillkürlich hatte ich Haralds Arm ergriffen, schaute ihn nun ratlos und entsetzt an.

„Entweder eine Falle für uns oder aber – Lord Allan hat die Treulosigkeit dieses Möckern soeben kennengelernt,“ flüsterte Harst. „Jedenfalls rühren wir uns zunächst nicht von der Stelle –“

Zehn Minuten mochten vergangen sein. Dann das Geräusch schleichender Schritte. –

Möckern war’s, der an unserem Versteck vorbeihuschte –

„Ah – also das!“ sagte Harald mir ins Ohr.

Und abermals verstrichen zehn Minuten. – „So – nun kommt die Reihe an uns!“ flüsterte Harald. „Rosa Linden wird sich kaum freuen, uns hier wiederzusehen.“

Er kroch voran. Dann lagen wir dicht vor einem Distelgestrüpp. Man muß diese Riesenarten der Distel im Orient kennen, um zu verstehen, daß ein solches oft drei Meter hohes Dickicht den allerbesten Schutz oder die allerfesteste Tür bildet. Das Gestrüpp zog sich an der schroffen Talwand entlang. Wieder hörten wir Pferde stampfen und schnauben. – Also waren die Distelsträucher hier der Verschluß der Grotte –

Harald schob sich weiter vor. Nun drehte er den Kopf zurück, deutete auf einige verdorrte Distelstauden, die mitten unter den noch grünenden standen, aber doch ein zusammenhängendes Ganzes zu bilden schienen. – Ich wußte, was er meinte: die verdorrten Büsche waren der Eingang!

Harst kniete jetzt, packte ein paar Stauden ganz unten am Boden. Dann ein Ruck – er riß sie heraus, schleuderte sie nach rückwärts, sprang in die Lücke hinein – Auch ich schnellte hoch, blieb ihm dicht auf den Fersen, stand nun neben ihm in dieser grottenartigen Vertiefung des Felsens, stand und fühlte, wie sich mir die Haare sträubten, wie mir ein Eisesschauer über den Leib rann –

Das Tageslicht fiel über die Spitzen der Distelwand hinweg blendend hell bis in den hintersten Winkel der Grotte. Und uns gegenüber an der Grottenwand lehnten dicht an dicht menschliche Leichen, – Mumien, aber so gut erhalten, daß man die Gesichtszüge noch deutlich erkennen konnte. All diese Mumien hatten lange graue Vollbärte und das Haupthaar bis auf einen dicken Haarschopf in der Mitte des Kopfes rasiert.

Gerade das Überraschende dieses Anblicks war’s, das diese stumme Versammlung von Toten weit schauerlicher erscheinen ließ, als sie es in Wirklichkeit war. Ich faßte mich denn auch schnell; ich schaute mich um. Rechts an der Wand waren drei Pferde angebunden. Daneben lagen die Sättel und die Tragkörbe des Packpferdes. Aber – ein Mensch war nirgends zu erblicken –

Harald schritt auf die Tragkörbe zu. Sie waren mit Decken halb belegt.

„Rosa Linden,“ sagte er gelassen, „das Spiel ist aus.“ Ein Griff – eine der Decken flog zur Seite, und in dem Korbe richtete sich nun die Gestalt des jungen, schönen Weibes langsam auf.

Haralds Pistole wachte über jede ihrer Bewegungen.

„Schraut – fesseln!“ befahl er kurz. – Das war im Nu erledigt.

„Wo ist Lord Allan Pimberton?“ fragte Harst dann.

Rosa Linden zuckte die Achseln. „Bitte – suchen Sie ihn doch!“

Harald drehte sich um. Sein Blick glitt die Reihe der Mumien entlang. Plötzlich ein Satz, – und er riß einer der Mumien den grauen Bart vom Gesicht. Es war dies die einzige, die den Kopf mit einer Kapuze bedeckt hatte.

Es war keine Mumie; es war der durch einen Hieb gegen die Schläfe schwer betäubte Lord Allan, den die Verbrecher an die Wand gefesselt hatten, so daß der Körper in seiner vornübergebeugten Haltung ganz den Eindruck einer der Mumien machte, zumal man ihm noch eine der mönchsartigen Kutten übergezogen hatte.

Es gelang uns, den Lord sehr bald wieder ins Bewußtsein zurückzurufen. Er erholte sich dann auch schnell, so daß wir nun, nachdem Rosa Linden an seiner Stelle an die Felswand gebunden worden war, eiligst ins Schloß zurückkehren konnten.

Der Lord hatte Harst ohne weiteres geglaubt, daß dieser zufällig die geheime Treppe, die aus unserem Salon in Lady Lydias Schlafgemach führte, entdeckt und so mit der Lady zusammengetroffen sei, die uns gebeten hätte, doch sofort den unterirdischen Weg zu durchsuchen, da sie dort vorhin ein Geräusch gehört hätte. – Wer Harsts schauspielerische Fähigkeiten kennt, wird begreifen, daß es ihm leicht wurde, dieses Märchen so vorzutragen, daß Lord Allan keinerlei Verdacht schöpfte.

Der Lord selbst log bedeutend ungeschickter. Er hätte heute erst den Zugang zu der Höhle gefunden, behauptete er. Er sei dann in das Tal gelangt, hätte hier die Spuren von Pferden bemerkt und wäre so den beiden Verbrechern in die Hände geraten.

Dies erzählte er, während wir die Höhle nun im Geschwindschritt passierten.

Harst schwieg zu diesen plumpen Lügen.

„Möckern muß mich beobachtet haben, als ich die Höhle verließ,“ fügte der Lord nun hinzu. „Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, Mr. Harst: der Schurke wird versuchen, im Schlosse Kostbarkeiten zu stehlen –“

Wie töricht und durchsichtig war all das! Dieser Allan war ein veritabler Dummkopf! Ich konnte mir leicht zusammenreimen, wie der wahre Zusammenhang der Dinge sein mußte. Allan hatte seine neuen Freunde in der Grotte besucht und ihnen aus irgendeinem Grunde das Geheimnis des unterirdischen Weges mitgeteilt. Dadurch hatte er erst Möckern zu dem heimtückischen Überfall veranlaßt. Er war von diesem niedergeschlagen worden, und Möckern beabsichtigte jetzt tatsächlich, im Schlosse irgend etwas zu rauben, – etwas, wovon aber ebenfalls nur Lord Allan gesprochen haben konnte. –

Wir hatten jetzt die Felsklüfte erreicht. Es begann die mühselige Kletterei über schmale Felsgrate und die vielen Leitern. Dann stiegen wir die geheime Treppe empor, die noch eine zweite Abzweigung nach dem Arbeitszimmer Lord Allans hatte. Wir jedoch betraten durch die Geheimtür den Salon Lady Lydias. Der Lord hatte Harald beiseite gedrängt und war als erster im Zimmer. Ehe Harald ihn noch festhalten konnte, war er, einen Revolver aus der Beinkleidtasche reißend, an der Tür zum Schlafgemach, stieß sie auf, hob den Arm, – feuerte, feuerte nochmals –

Wir waren jetzt neben ihm –

In dem luxuriösen Schlafzimmer lehnte an der Wand zwischen den beiden Fenstern Karl Möckern – Und in Höhe seines Kopfes bemerkten wir ein geöffnetes Geheimfach.

Er lehnte an der Wand, stierte uns an, sank nun kraftlos zur Seite, fiel dann schwer nach vorn auf das Gesicht. Seine Arme und Beine zuckten noch ein paarmal krampfhaft. Dann war er tot –

Lord Allan lachte hart auf. „Er hat dieses Schicksal reichlich verdient. Ich gebe zu, ich hätte nicht so voreilig schießen sollen – Na – um den Menschen ist’s wahrlich nicht schade. In dem Geheimfach dort befinden sich Lady Lydias Juwelen.“

In demselben Augenblick rüttelte jemand an der in den Flur führenden Tür, die Möckern von innen verriegelt hatte. Harald schob den Riegel zurück, stellte sich sofort so in die Tür, daß Lady Lydia – denn sie war es – der Anblick des Toten entzogen wurde –

„Mylady, wir wollen uns in den orientalischen Saal hinabbegeben. Dort werden wir Ihnen berichten, was inzwischen geschehen ist –“

Er wollte scheinbar noch etwas hinzufügen. Aber – von links her, wo der Saal und das Atelier lagen, erscholl plötzlich ein langsam anschwellendes, klägliches Heulen –

„Mein Gott – was hat Hektor nur wieder!“ rief die Lady. „Schon häufiger hat er vor der Tür des Ateliers –“

Sie schwieg. Lord Allan hatte sie fast roh zurückgestoßen.

„Der verdammte Köter!“ keuchte er in einem mir völlig unverständlichen Wutanfall.

Er rannte den Flur entlang. Die Dogge stand vor der Tür des Ateliers – Lord Allan hob den Revolver; die Lady kreischte auf –

Aber Harst hatte schon den Arm des Lords am Handgelenk gepackt – Der Schuß knallte, – die Kugel fuhr in die Decke –

Ein Ruck – Lord Allan brüllte vor Schmerz, ließ die Waffe fallen –

„Das Spiel ist aus!“ sagte Harst, und er hatte jetzt den Mehrlader auf den Lord gerichtet.

„Gehen Sie voran ins Atelier. Bei der ersten verdächtigen Bewegung drücke ich ab –“

„Was soll das heißen?!“ fuhr Pimberton auf. „Sind Sie plötzlich verrückt geworden?! Hier in meinem Schlosse –“

„Gehen Sie!“ rief Harald drohend. „Mylady, bitte nehmen Sie den Hund am Halsband und kommen Sie mit. Die Stunde ist da, wo Sie die Wahrheit über den Tod Ihres Gatten erfahren sollen –“

Gleich darauf saß Lord Allan in einem Sessel in seinem Atelier, in einem zweiten Lady Lydia. Wir beide aber standen vor ihnen an einen Tisch gelehnt.

Lord Allan war jetzt leichenblaß. Dicke Schweißperlen waren auf seiner Stirn sichtbar. Seine Hände flatterten nervös auf den Armlehnen des Sessels. Um seinen Mund zuckte ein halb irres Lächeln, mit dem er seine Angst zu verheimlichen suchte.

Auf Haralds Bitte hatte Lady Lydia die Dogge freigelassen. Der Hund war leise winselnd einige Male um das Tonmodell des sterbenden Fechters herumgegangen und hatte sich dann dicht neben dem Postament gelagert, winselte in derselben Weise weiter und stieß auch zuweilen ein klagendes Heulen aus.

„Lord Pimberton,“ begann Harald dann, „ich will Ihnen in kurzen Worten ihre schändlichen Taten vorhalten. Sie haben Lady Lydia einst genau so leidenschaftlich geliebt wie Ihr Bruder Percy es tat, den sie dann heiratete. Lord Percy flüchtete mit seiner Gattin vor den gehässigen Zungen der Londoner Gesellschaft hier in die Einsamkeit, um nur seiner Liebe und seinen Studien zu leben. Diese große Liebe für Lady Lydia ließ ihn auch das Schloß hier mit geheimen Gängen, Treppen und Türen ausstatten, da noch vor fünf Jahren, wie mir sehr wohl bekannt, auf der Halbinsel Sinai ein Aufstand der Beduinen vielen Europäern das Leben gekostet hatte.

Sie selbst gingen ins Ausland, machten Forschungsreisen und mögen so ehrlich bemüht gewesen sein, die Lady zu vergessen. Doch Sie waren nebenbei auch Spieler und Lebemann und hatten Schulden, die Ihr Bruder stets bezahlte. Endlich gewann dann doch das Schlechte in Ihnen die Oberhand. Sie wollten mit einem Schlage zweierlei sich aneignen, ohne das Sie nicht leben konnten: den Reichtum Ihres Bruders und sein Weib! – Sie kamen hierher, angeblich, um als Bildhauer ein bedeutendes Werk zu schaffen. Aber Ihr Geist sann auf anderes, Schlimmeres. In jener Nacht wird Lord Percy noch bei Ihnen gewesen sein, bevor er zur Jagd das Schloß verlassen wollte. Sie – ermordeten ihn! Sie kannten den geheimen Weg in jenes Tal schon damals. Nicht heute erst haben Sie ihn entdeckt. In der Höhle fanden wir alte Zigarettenstummel Ihrer Spezialmarke in Menge, – ich betone – alte! Freilich auch ganz frische. – Sie beseitigten die Leiche, und mit Hilfe des geheimen Weges haben Sie noch in derselben Nacht Lord Percys Mütze, Gewehr, Fernglas und so weiter dort nach jener Schlucht geschafft, die Sie für Ihr Vorhaben schon vorher ausgewählt hatten, weil jeder annehmen mußte, der reißende Bach hätte den zerschmetterten Körper ins Innere der Erde entführt.

Der erste Teil Ihres Planes war geglückt. Kein Mensch konnte Ihnen etwas beweisen. Nun sollte auch noch Lady Lydia die Ihre werden. Doch Sie fühlten sehr wohl, daß die Lady gegen Sie einen unbestimmten Verdacht hegte. Bevor dieser Verdacht nicht beseitigt war, durften Sie sich ihr als Bewerber nicht nähern. Vorgestern wollten Sie nach Suez. Unterwegs müssen Sie Gelegenheit gehabt haben, Karl Möckern und Rosa Linden zu belauschen, die bereits zu Pferde vor mir flohen und ohne Zweifel meinen Namen als den ihres Verfolgers nannten. Da kam Ihnen ein Ihres Erachtens glänzender Gedanke: Sie wollten auf ganz zwanglose – scheinbar zwanglose – Weise uns nach Schloß Medsur bringen, wo dann Lady Lydia mich doch fraglos bitten würde, den Fall Percy zu untersuchen. Sie waren ganz sicher, daß ich nichts entdecken würde. Und Lady Lydia mußte dann daraus, daß Sie den gefürchteten Harald Harst hierher geführt hatten, die Überzeugung gewinnen, sie hätte Ihnen Unrecht getan. – Deshalb bestachen Sie die Beduinen; deshalb wurden wir überfallen; deshalb befreiten Sie uns; Sie wollten sich mir gegenüber eben von der besten Seite zeigen. So kamen wir hierher; so erzählte uns Lady Lydia von dem Tode ihres Gatten. – Lord Allan, geben Sie jetzt zu, Percy ermordet zu haben?“

„Sie sind verrückt!“ sagte der Lord grob und verächtlich. „Die Polizei in Suez wird Ihnen beweisen, daß man einen Lord Pimberton nicht ungestraft als Schurken behandeln darf.“

„Ah – ich verstehe! Sie hoffen, ich werde die Leiche nicht finden! – Lord Allan, Sie haben die Dogge heute früh ins Atelier eingelassen, damit das Tier uns anfallen und ich es erschießen sollte. Der Hund war Ihnen im Wege! Sie fürchteten – seine gute Nase! Hektor hat immer wieder hier ins Atelier hineingewollt – aus Anhänglichkeit an seinen toten Herrn! – Ah – Sie verfärben sich wieder! Sie zittern! – Schurke, Sie haben Ihres Bruders Leiche dort in dem Gipsmodell des sterbenden Fechters verborgen! Sie hatten ihn hier ermordet, und Sie konnten die Leiche nicht durch den geheimen Weg fortschaffen! Das ging der vielen Leitern wegen nicht, überstieg Ihre Kräfte! So haben Sie denn in die Rückseite der Statue unten am Gipssockel ein Loch geschlagen, den Körper hineingezwängt und das Loch wieder ausgefüllt! Mit einem Hammer werde ich den sterbenden Fechter zerschlagen und –“

Lord Allan war bewußtlos aus dem Sessel auf den Boden geglitten –

Ich habe nicht mehr viel hinzuzufügen. Die Leiche wurde in dem Gipsmodell gefunden. Sie wies zwei Stichwunden in der Brust und Würgemale am Halse auf. Lord Allan hat sich später im Gefängnis in Suez erhängt. –

Als wir dann an demselben Tage Rosa Linden in das Schloß bringen wollten, fanden wir die Grotte leer. Auf dem Felsboden lag ein Zettel von Rosa Lindens Hand:

„Scheich Umri Schomar ist gerade noch zur rechten Zeit erschienen! Auf Wiedersehen. R. L.“

Unser Abenteuer, das ich nach der Statue des sterbenden Fechters betitelt habe, war zu Ende.

 

 

Das Teehaus in Bhopal.

 

Erstes Kapitel.

Wir hatten uns fünf Tage lang die redlichste Mühe gegeben, festzustellen, wohin der Beduinenscheich Umri Schomar mit seiner Schar und der uns abermals entwischten Rosa Linden sich gewandt hatte. Von Schloß Medsur aus hatten wir mit unseren vorzüglichen Reitkamelen, geführt von einem arabischen Diener Lady Lydia Pimbertons, weite Ausflüge in die Umgebung gemacht. Alles vergeblich. Selbst Harald Harsts geübte Detektivaugen hatten auf den harten Felsen der Schluchten und Berge des Sinai-Gebirges keinerlei Spuren der Flüchtlinge entdecken können.

Lord Allan Pimberton, den Harald in diesem auf den Westabhängen des Sinai-Gebirges erbauten Schlosse des Mordes an Lord Percy Pimberton überführt hatte, war in das Polizeigefängnis von Suez in Untersuchungshaft abgeführt worden. Am sechsten Tage nach seiner Verhaftung brachte eine Polizeipatrouille aus Suez die Nachricht, daß der Mörder sich vorgestern in seiner Zelle erhängt hatte und bald darauf beerdigt worden war.

Wir saßen mit Lady Lydia, der Witwe Lord Percys, im Speisesaal des Schlosses beim Abendessen.

„Morgen früh heißt es also Abschied nehmen, Mylady,“ meinte Harald zu der schönen Schloßherrin.

Lady Lydias wundervolle Augen hingen mit besonderem Ausdruck auf dem Gesicht meines Freundes. Sie seufzte leise, errötete etwas und sagte dann:

„Ich werde Sie hier sehr vermissen, sehr. Ich schulde Ihnen ja so unendlich viel Dank, Mr. Harst.“

„Dank?! Nun gut, Mylady. Dann erfüllen Sie mir eine Bitte. Ich habe gemerkt, daß Sie, wenn wir über die Mumiengrotte jenes Tales nördlich des Schlosses sprachen, schnell das Thema wechselten. Ah, Mylady, – weshalb werden Sie denn abermals so unruhig und verlegen? Hängt denn mit diesen Mumien, zu denen die Inschriften gehören dürften, ein Geheimnis zusammen, das Sie mir nicht verraten dürfen?“

Lady Lydia machte eine hastige Handbewegung.

„Mr. Harst – ich bitte Sie, sprechen Sie nicht hierüber. Wirklich nicht, – unterlassen Sie es! Ich darf Ihnen keinerlei Auskunft geben, und ich möchte doch wiederum nicht undankbar erscheinen. Meine Zunge bindet ein furchtbarer Eid.“

Sie sah plötzlich ganz verängstigt aus, so daß Harald schnell erklärte:

„Entschuldigen Sie, Mylady. Das konnte ich nicht ahnen. Gut – reden wir von anderen Dingen. Also morgen in aller Frühe werden Schraut und ich hoch zu Reitkamel die Suche nach Rosa Linden in noch nachdrücklicherer Art als bisher von neuem und diesmal allein aufnehmen, da der Führer, den Sie uns liebenswürdigst bisher mitgegeben hatten, sich stets alle Mühe gab, uns nicht die Richtung nach Südost einschlagen zu lassen.“

Lady Lydia war jetzt ganz bleich geworden und starrte Harald mit großen, entsetzten Augen an, rief dann leise:

„Oh – tun Sie das nicht, Mr. Harst. Auch Percy und ich haben es bitter –“

Sie schwieg plötzlich, erhob sich und fügte völlig verwirrt hinzu:

„Gehen wir in den Park. Ich möchte diesen letzten Abend mit Ihnen recht angenehm verbringen, Mr. Harst. Sie müssen mir erzählen, wie Sie Detektiv wurden und Ihre Braut durch Mörderhand verloren.“

Ich schützte Arbeit vor, erklärte, ich müßte mir noch über unsere letzten Abenteuer Notizen machen, und ließ die beiden allein.

Ich ging in unsere Zimmer nach oben und setzte mich mit einer guten Zigarre an das offene Fenster unseres Wohnsalons.

Mir wurde der Abschied von Schloß Medsur schwer. Die Bergeinsamkeit, in der es sich mit seinen zwei Türmen trotzig emporreckte, hatte bei aller Einsamkeit etwas Erhaben-Gigantisches an sich. Und nun sollte ich die Behaglichkeit dieses Salons hier und unserer Schlafzimmer schon morgen mit der Wildnis des Sinai-Gebirges für längere Zeit vertauschen, sollte an Harsts Seite eindringen in das unerforschte Gebiet –!

Meine Gedanken wurden hier jäh abgelenkt. Meine Augen hatten ganz zufällig drüben auf dem Vorsprung des nächsten Berges eine Gestalt entdeckt, – einen Menschen, dessen hellbrauner Mantel sich von dem schwarzen Gestein recht scharf abhob.

Der Mann da drüben war mit bloßem Auge nicht genau zu erkennen. Da ich sofort in ihm womöglich einen Späher der Beduinenhorde Scheich Umri Schomars vermutete, stand ich langsam auf, holte mein Fernglas und richtete es auf die regungslos dastehende Gestalt.

Ich zuckte zusammen, als ich das Glas eingestellt hatte. Ich glaubte im ersten Moment an eine Sehtäuschung, an ein Trugbild, das mir lediglich meine Phantasie vorgaukelte.

Der Mann dort hatte nämlich in allem die größte Ähnlichkeit mit jenen Mumien, die wir in der Grotte gefunden hatten, wo wir Rosa Linden gefangen nahmen –!

Ja – die allergrößte Ähnlichkeit! Das war dasselbe mönchsartige Gewand, derselbe graue Vollbart, derselbe kahl geschorene Kopf mit der dicken Scheitellocke –!

Ich beobachtete den Menschen weiter. Er lehnte an der Felswand und drehte nur hin und wieder den Kopf.

Das Abendrot verschwand. Die Schatten der Dämmerung senkten sich über die Schluchten und Berge des Sinai. Die Gestalt drüben wurde immer undeutlicher.

Ich hob das Fernglas wieder an die Augen.

Aber – ich suchte jetzt umsonst. Die Gestalt war verschwunden. Dann wurde es schnell dunkler und dunkler. Nochmals schaute ich nach dem Manne aus, konnte jedoch nichts mehr erkennen.

Mit Ungeduld erwartete ich Haralds Erscheinen. Erst gegen zehn Uhr fand er sich ein. Ich berichtete ihm sofort, was ich dort drüben bemerkt hatte.

„Das wäre ein weiterer Beweis für die Existenz eines bisher unbekannten Koptenklosters[3] im Sinai-Gebirge,“ meinte Harald leise.

„Wofür?“ Ich hatte den Namen vor „Kloster“ nicht genau verstanden.

„Koptenkloster, mein Alter. Sollten Deine Schulreminiszenzen nicht hinreichen, so will ich Dich dahin belehren, daß die Kopten die christlichen Nachkommen der alten Ägypter sind, die heute noch in Ägypten, im Sudan und in Abessinien in einer Stärke von rund einer Million leben.“

Er schwieg und starrte zum Fenster in die Dunkelheit hinaus. Wir hatten das Licht noch nicht angezündet. Das Schloß besaß eine Acetylengas-Anlage.

„Viermal schaute sie nach der Uhr –,“ sagte er dann, wie zu sich selber sprechend. „Viermal! Und – sie hatte doch nichts zu versäumen –!“

„Lady Lydia natürlich,“ meinte ich.

„Ja. Wenn man dieses Interesse für ihre Armbanduhr berücksichtigt und ferner ihre steigende Nervosität, je mehr die Zeiger sich der 10 näherten, dann –“

Er schwieg abermals, erklärte nun sehr lebhaft:

„Wir wollen noch einen Spaziergang machen. Nehmen wir aber für alle Fälle unser Handwerkszeug mit. Man kann nie wissen –!“

Gleich darauf eilten wir die Treppen hinab. Der arabische Pförtner am Parkeingang teilte uns dann auf Harsts Frage mit, daß Lady Lydia vor kaum fünf Minuten mit ihrer Tigerdogge Hektor das Schloß verlassen habe.

„Wie war sie gekleidet?“ wollte Harald wissen.

„Langer[4] Seidenmantel und Schleier um den Kopf, Effendi,“ dienerte der alte Araber.

Harst eilte schon den Serpentinenweg ins Tal hinab. Als wir die Talsohle erreicht hatten, schlug er einen langen Trab an.

„Du mußt jetzt führen, mein Alter,“ rief er leise. „Dieser Koptenmönch hängt mit diesem späten Spaziergang der Lady fraglos zusammen.“

Ich fand mich trotz der Dunkelheit gut zurecht. Die nähere Umgebung des Schlosses kannten wir jetzt zur Genüge.

Nun ging es den Berg hinan, auf dessen terrassenartigem Vorsprung der Mann gestanden hatte.

Da – hoch über uns ein kurzes Aufheulen. Dann polterte eine Steinlawine herab. Einzelne Felsbrocken sausten uns um die Köpfe.

Wir waren stehen geblieben.

„Die Dogge!“ flüsterte Harald. „Hier ist fraglos irgendeine Teufelei im Gange – Weiter!“

Aber er verharrte trotzdem regungslos an derselben Stelle. Links von uns war plötzlich ein klägliches Winseln laut geworden.

Harald lauschte noch einige Sekunden. „Wir haben jetzt keine Zeit für den Hund. Erst die Lady –!“ stieß er dann hervor.

Wir kletterten höher. Der Weg wurde immer schwieriger. Wir vermieden nach Möglichkeit jedes Geräusch.

Endlich erreichten wir die Terrasse. Harst kroch auf allen Vieren mir voran. Doch – die Felsabplattung war leer.

Dann sah ich ganz dicht am Abhang etwas Helles schimmern. Es war Lady Lydias leicht nach Parfüm duftendes Spitzentüchlein.

„Sie hat es vielleicht absichtlich fallen lassen, um uns ein Zeichen zu geben,“ meinte Harst. „Sie rechnet damit, daß wir sie überall suchen werden.“

„Sie ist entführt worden?“ fragte ich rasch.

„Ja. Alles spricht dafür. Sehen wir jetzt nach Hektor. Man hat den Hund niedergeschlagen und den Abhang hinabgeworfen. Wozu das, wenn man es nicht auf die Lady abgesehen hatte?!“

Er begann bereits wieder den Abstieg. An eine Verfolgung des Mönches, der wahrscheinlich noch Helfershelfer gehabt hatte, war ja bei der Finsternis nicht zu denken.

Wir fanden die prächtige Dogge halb begraben unter Steingeröll. Sie wimmerte nur schwach. Es war kein leichtes Stück Arbeit, sie ins Schloß zu tragen. Hier erregte unser Erscheinen mit dem so übel zugerichteten Hunde, der seine Herrin nie verließ, einen wahren Aufstand. Der Hausmeister, ein Engländer namens Prigrave, der schon bei den Eltern des ermordeten Lord Percy Diener gewesen war, wurde von Harald sofort eingehend ausgefragt, nachdem wir die Dogge, die durch einen Schlag auf den Kopf schwer betäubt worden war, durch zweckmäßige Behandlung wieder zum Bewußtsein gebracht hatten.

 

Zweites Kapitel.

Prigrave wollte erst nicht recht mit der Sprache herausrücken. Dann gab er zu, daß Lord Percy und Lady Lydia einmal einen Jagdausflug gemacht hätten und erst nach fünf Tagen völlig erschöpft zurückgekehrt seien. Das wäre vor drei Jahren etwa passiert. Der Lord habe damals erklärt, sie hätten sich verirrt gehabt.

„Haben Sie mal gehört, daß es hier im Südosten im Gebirge ein Koptenkloster gibt, Prigrave?“ fragte Harald nun, da der Hausmeister sich abermals in Schweigen hüllte.

„Die Beduinen der Sinai-Halbinsel besitzen einen reichen Sagenschatz,“ meinte Prigrave ausweichend.

„Ist irgendwie zu Ihrer Kenntnis gelangt, daß Lord Percy Beziehungen zu Koptenmönchen unterhielt? – Verhehlen Sie mir nichts Prigrave. Ich wiederhole: die Lady ist fraglos entführt worden.“

Der alte Hausmeister knetete verlegen seine Hände.

„Ich – ich habe Lord Percy geloben müssen, über all das zu schweigen, Mr.[5] Harst. Meine Zunge bindet ein Eid.“

„Nun gut. Ich will nicht weiter in Sie dringen. Ich bin überzeugt, daß der Lord und die Lady damals bei jenem Jagdausflug das verborgene Kloster entdeckt haben und daß man sie nur freigelassen hat, nachdem sie durch einen Schwur sich zum Schweigen verpflichtet und auch versprochen hatten, eine gewisse Abgabe an das Kloster zu entrichten. Lady Lydia wußte, daß sie heute dort auf der Felsterrasse erwartet wurde. Ich behaupte, sie wollte einem Vertreter des Klosters die Abgabe aushändigen. Vorhin habe ich den Pförtner ausgeforscht. Er erklärte, seit dem Tode Lord Percys sei die Lady jeden Monat einmal zu später Stunde, nur von der Dogge begleitet, in das Tal hinabgestiegen und stets nach etwa einer Stunde zurückgekehrt.“

Prigrave stand mit gesenktem Kopfe da.

„Gehen Sie,“ meinte Harst. „Wir werden Ihre Herrin suchen. Der Mond ist soeben über den Bergen aufgetaucht. Diese Beleuchtung genügt uns. Lassen Sie unsere Reitkamele satteln und sorgen Sie dafür, daß wir Proviant und Trinkwasser für drei Tage mitbekommen.“

Gegen 1 Uhr morgens brachen wir auf. Aus dem Gewehrschranke des Lords nahmen wir auch diesmal jeder eine zwölfschüssige Winchesterbüchse und genügend Patronen mit. Die Dogge hatte sich bereits so weit erholt, daß sie uns begleiten konnte, Sie hinkte zwar noch, aber das kluge Tier schien zu wissen, worum es sich handelte.

Der Mond stand im abnehmenden Viertel. Die von Silberglanz überflossene, wilde Gebirgsszenerie hatte ihre besonderen Reize. Wir führten die Reitdromedare am Zügel, ließen Hektor dann auf der Felsterrasse die Witterung des Taschentuchs der Lady nehmen und erlebten auch die Freude, daß der Hund sofort mit der Nase auf dem Boden der Südecke der Terrasse zulief, wo ein Felsgrat im Bogen in ein Tal hinablief.

Harst band die Dogge jetzt an eine Leine. Im Tale saßen wir auf. Der Hund gewann seine Bewegungsfähigkeit immer mehr zurück. In flottem Trabe ging es das Tal entlang nach Süden zu. Dann schwenkte Hektor in ein östliches Quertal ein. Hier fanden wir die ersten untrüglichen Zeichen, daß mehrere Leute hinter ein paar Felsbrocken gelagert hatten. Hier auch wurde Hektor unsicher, lief hin und her und winselte.

„Man hat die Lady an dieser Stelle auf ein Pferd gehoben,“ meinte Harald, der tief gebückt den Boden mit der Taschenlampe ableuchtete. „Ah – ein Stück schottische Seide! Das stammt von Lady Lydias Mantel! Wenn sie nur so klug wäre, weitere Stücke heimlich wegzuwerfen! – Schraut, Schraut!“ rief er plötzlich ganz erregt, „da – schau’ Dir dies an!“

Er hielt mir auf der flachen Hand einen Zigarettenstummel hin.

„Marke Lord Palmerston, mein Alter,“ fuhr er fort. „Die Lieblingszigarette Lord Allans, des angeblichen Selbstmörders! Dazu eine Marke, die so selten geraucht wird.“

„Angeblichen Selbstmörders?! Angeblichen?!“ Ich war völlig verblüfft. Wie kam Harald denn auf diesen Gedanken. Sollte der Selbstmord Lord Allans wirklich Schwindel sein?!

„Vorläufig habe ich lediglich als Beweis für dieses „angeblich“ diesen Zigarettenstummel und Allan Pimbertons Charakter. Ein so lebenslustiger und genußhungriger Mensch bringt sich nicht so leicht um. Wer weiß, auf welche Weise man die Polizei in Suez getäuscht hat. Du darfst nicht vergessen, daß dieser Allan weite Reisen gemacht hat. Vielleicht hat er in Indien – daß er dort gewesen, erzählte er selbst uns ja – dasselbe Nervengift sich verschafft, mit dem ein Cecil Warbatty die Polizei in Madras so gründlich hinters Licht führte. Du besinnst Dich. Du hast dieses Abenteuer ja in etwas sensationeller Aufmachung unter dem Titel „Der Fakir von Nagpur“ bereits veröffentlicht. – Doch, ob ich mit alledem recht habe, wird die Zukunft lehren. Die größere Sorge ist jetzt, die Spur der Räuber Lady Lydias nicht zu verlieren. Der Hund versagt jetzt, wie Du siehst. Wenn wir ihm nur klarmachen könnten, der Spur der Reiter zu folgen. Sonst wird es für uns ein sehr mühseliges Geschäft, vielleicht auch ein ergebnisloses.“

Leider versagte Hektor jetzt vollkommen. Als Harald einmal aus Unachtsamkeit die Leine fallen ließ, benutzte der Hund sofort diese Gelegenheit, auf der Fährte im Galopp zurückzulaufen. Er mochte hoffen, seine Herrin im Schlosse wiederzufinden. Wir kümmerten uns nicht weiter um ihn. Nachdem Harald dann in diesem Quertale nach Südost zu auf dem felsigen Boden noch ein paar Stücke Hanfschnur und einige Wollfasern gefunden hatte (er deutete diese dahin, daß die Entführer der Lady hier ihren Pferden die Hufe mit Stücken von einer Wolldecke umwickelt hatten), begann für uns, besser für Harald, die äußerst schwierige Arbeit, eine Spur zu verfolgen, die sich lediglich hier und da durch verschobene Steinchen und an zackigen Bodenerhebungen hängengebliebene Wollfaserchen kennzeichnete.

Als der Morgen graute, gelangten wir in eine von Bergen eingeschlossene Sandebene. Die Leute vor uns waren am Rande dieser Ebene auf festem Boden entlanggeritten.

Bei Sonnenaufgang bemerkte Harst in einem Dornendickicht auf einem Zweige hängend einen zweiten Seidenstoffetzen aus Lady Lydias Mantel. Hier bog die Spur auch wieder in die Berge ab. Wir näherten uns jetzt einer Reihe sehr schroffer Abhänge, die steil wie Mauern emporwuchsen und sich, soweit das Auge reichte, nach Süden zu erstreckten.

Harst war wieder abgestiegen. Ich führte sein Reitkamel.

„Auch nicht die geringste Fährte!“ rief er mir ungeduldig zu. Er kniete jetzt und hatte den Kopf ganz dicht über dem aus grauschwarzem Granit bestehenden Boden, rutschte Schritt für Schritt weiter und sagte dabei noch etwas, das ich jedoch nicht verstand.

Ich ließ mein Reittier niederknien und stieg ab. Haralds Dromedar tat sich von selbst nieder. Ich band nur die beiden Zügel zusammen und schritt dann auf Harst zu. Inzwischen hatte er sich einige dreißig Meter entfernt und stand nun aufgerichtet etwa drei Meter von der Steilwand ab, die hier jedes Vordringen unmöglich machte.

Er streckte mir den Zeigefinger der rechten Hand entgegen.

„Da – sehr wichtig, mein Alter!“ meinte er.

Die Fingerspitze war mit einer braunschwarzen Masse bedeckt.

„Was soll das?“ fragte ich.

„Rieche!“

Ich tat es. Das Zeug am Finger roch etwas nach schlechtem Öl und auch wie Teer etwa.

„Wagenschmiere nennt man das,“ lächelte Harald. Ja, er lächelte! Seine vorhin nicht gerade glänzende Laune hatte sich sehr gebessert. Weshalb nur?!

Ich schaute ihn forschend an.

„Ist die Wagenschmiere wirklich so wichtig?“ fragte ich.

„Und ob!“ Er deutete auf den Felsboden. Zunächst sah ich nichts als rissiges, grauschwarzes Gestein. Ich bückte mich. Nun bemerkte ich kleinere und größere Flecke, die etwas glänzten. Und dann nahm ich auch in einer kleinen Spalte eine ganze Menge Wagenschmiere wahr.

Ich richtete mich wieder auf.

„Interessant, wie?!“ meinte Harald augenzwinkernd.

Ich habe stets den Ehrgeiz gehabt, Harald wenigstens so etwas hinter seine geistvollen Kombinationen, hinter diese Berufsschliche, zu kommen. Manchmal gelang es mir. Diesmal versagte ich – genau wie die Dogge, die ihrer Herrin Spur verloren hatte.

„Bringe die Reitkamele erst mal irgendwo in der Nähe unter, mein Alter,“ fuhr Harst schon fort. „Beeile Dich. Laß auch die Büchsen in dem Versteck. Sie dürften uns nur hinderlich sein. Schnell doch! Wir müssen diese Banditen überraschen, bevor sie noch mit unserem Erscheinen rechnen. Jetzt halten sie sich noch für völlig sicher. Sie denken, das Verschwinden der Lady wird erst heute früh bemerkt werden und dann erst werden wir die Suche beginnen. Ihre gegen uns gerichteten Vorsichtsmaßregeln dürften also nicht früher als heute abend einsetzen. Bis dahin müssen wir Lady Lydia also befreit haben. – So geh’ doch! Ich erkläre Dir nachher schon alles.“

Ich gehorchte sehr zögernd. Ich führte die Dromedare in eine nahe Schlucht, in deren hinterstem Ende ich eine aus Felsblöcken durch Zufall gebildete Naturhütte als recht gutes Versteck fand.

Als ich dann nach vielleicht zwanzig Minuten zu Harald zurückkehrte, saß er auf dem kahlen Gestein mit dem Rücken gegen die Steilwand und rauchte sehr behaglich eine seiner Mirakulum-Zigaretten. Er stand sofort auf, drehte sich mit dem Gesicht der Felswand zu, hob den rechten Arm und griff in eine Spalte hinein, die sich wie ein Riß nach oben zu fortsetzte. Ich sah, daß er nun in der Spalte an irgend etwas mit aller Kraft zog.

„Bitte – oben!“ sagte er dabei.

Ich schaute empor. – In einer Höhe von vielleicht zwanzig Meter bildete die Steilwand die erste terrassenartige Ausbuchtung. Dort wuchsen stachlige Rankensträucher, die zum Teil weit überhingen.

Da – mit einem Male schob sich von dieser Terrasse aus dem Gestrüpp heraus ein dicker Balken vor, der vorn ein Rad hatte, über das ein dickeres Tau lief. Jetzt rollte das eine Ende dieses Taues, welches mit einem Stück Eisen beschwert war, zu uns herab. Dann fiel aus den Ranken auch das andere Ende heraus. Ich fing es auf, rief gleichzeitig:

„Die Wagenschmiere diente zum Schmieren des Rades da oben! Jetzt begreife ich!“

Die Flecke von Wagenschmiere, die man auf dem Steinboden nicht sorgfältig genug ausgerieben hatte, befanden sich ja gerade unter dem Ende des Balkens.

„Allerdings,“ erklärte Harald vergnügt. „So ist es, mein Alter. Am schwierigsten war das hier in der Felsspalte verborgene Tau zu finden, das den Balken vorschiebt, wenn man daran zieht. – So, nun werde ich mal zunächst an den beiden Tauenden emporklettern –“

Auf nähere Einzelheiten bei der Beschreibung dieses primitiven Personen- und Lastenaufzugs will ich mich nicht einlassen. Er war primitiv, aber praktisch, und man konnte damit fraglos sogar Tiere emporbefördern. – Es kostete mich dann manchen Tropfen Schweiß, ebenfalls nach oben zu gelangen. Es gab hier in der Rückwand der Terrasse eine Felskluft, die schon nach wenigen Metern eine scharfe Biegung machte und in eine oben offene Spalte überging, die wie ein Kanon zwischen himmelhohen Wänden entlanglief. Der Boden der Spalte zeigte überall deutliche Spuren eines lebhaften Verkehrs. Dieser Weg mußte sehr oft begangen werden. Nach etwa fünf Minuten kamen wir ins Freie. Wir standen jetzt auf der obersten eines Dutzends terrassenartiger Abstufungen, die sich allmählich in ein sehr großes Tal hinabsenkten. Der erste Blick über dieses Tal hin entlockte mir einen Ausruf des Staunens.

Ein wahrer Garten Eden lag hier eingebettet zwischen den schroffen, unwirtlichen Bergen; Palmenhaine, weite Felder, Gebüschgruppen, im Sonnenlicht glitzernde Wasserläufe und ein kleiner See schufen ein köstliches Bild einer fruchtbaren Landschaft.

Und dort – ganz weit entfernt – sah ich nun auch ein mächtiges Bauwerk emporragen, düster und trutzig wie eine Raubburg. Ein einziger Turm reckte sich aus dem Gemäuer dem Himmel entgegen. Und auf der Spitze dieses Turmes funkelte und gleißte ein mächtiges, offenbar vergoldetes Kreuz.

„Harald – wie wunderbar schön!“ sagte ich leise.

Keine Antwort. Ich drehte mich nach ihm um. Er stand da, hatte mit beiden Händen einen Seidenstoffetzen glatt gezogen und schien das schottische Muster mit mir unverständlichem Interesse zu besichtigen.

„Ja – es ist wunderbar!“ meinte er nun, ohne aufzusehen. „Dieses ist der dritte Fetzen aus Lady Lydias Mantel; der wichtigste ist’s. – Ah – wenn es das wäre!“ rief er dann leise. „Wenn diese Schurken – Doch nein, wie sollten sie die Frauen gerade bis dorthin schaffen –“

Er stierte noch immer auf das etwa zwei Handbreit große Stück Seide.

Ich fragte nichts, regte mich nicht. Harald hatte die Augen jetzt fast völlig zugekniffen. Auf seiner Stirn erschienen die charakteristischen drei Falten. Die Haut über den Backenknochen zog sich straff.

Ich kannte alle diese Anzeichen höchster geistiger Anspannung längst. Deshalb schwieg ich auch.

„Und doch – es muß so sein, es muß!“ murmelte er jetzt. „Wenn man die Frauen wirklich dorthin schaffen sollte, dann – dann spielt hier noch ein Geheimnis besonderer Art mit.“

Er schob den Seidenfetzen in die Tasche, blickte über das Tal hin.

„Jetzt haben wir für diesen Ort keine Zeit, mein Alter,“ sagte er kurz. „Aber – wir werden hierher zurückkehren und Abrechnung halten. – Vorwärts – zurück nach Schloß Medsur und nach Suez. Frage jetzt nichts. Ich habe übergenug zu denken.“

Ich war enttäuscht, andererseits aber auch froh, daß wir das Koptenkloster dort drüben nicht besuchten. Harmlos wäre diese Visite fraglos nicht gewesen –!

Wir ließen uns wieder mit Hilfe des primitiven Aufzugs in das Tal hinab. Harst zog den Balken wieder ein.

Nichts verriet, daß Fremde das offenbar Jahrhunderte alte Geheimnis dieser verborgenen Koptensiedlung jetzt kannten.

Unbehelligt langten wir am Spätnachmittag in Schloß Medsur an. Der Hausmeister gab uns einen Diener als Führer mit. Der junge Araber brachte uns dann auch auf kürzestem Wege nach Suez.

 

Drittes Kapitel.

Der Leser mag sich bereits wundern, weshalb ich dieses Abenteuer ausgerechnet „Das Teehaus in Bhopal“ betitelt habe.

Titel für Filme, Theaterstücke, Romane und so weiter zu finden, ist nicht leicht. Der Titel macht alles, sagt man. So hat unlängst eine amerikanische Filmfabrik ein Preisausschreiben für zugkräftige Filmtitel veröffentlicht, und nach den besten Titeln sollen dann die Stücke geschrieben werden. So unglaublich das klingt, – es ist Tatsache.

Nun – den Vorwurf einer ähnlichen Effekthascherei wird der Leser mir nicht machen können, wenn er erst dieses unser Abenteuer ganz kennt. –

Ich überspringe jetzt einen Zeitraum von einer Woche. – Wir hatten in Suez Kabinenplätze auf einem nach London bestimmten Passagierdampfer genommen, der nur Aden anlief, also fast ohne Aufenthalt die Fahrt erledigte. Von Bombay reisten wir mit der zentralindischen Bahn bis Sehar, einem Städtchen westlich der Residenz des indischen Vasallenstaates Bhopal. Hier in Sehar nehme ich dann den Faden der Erzählung wieder auf.

Wir waren dort abends gegen zehn Uhr eingetroffen, ließen unsere Koffer auf dem Bahnhof, nahmen nur eine große Handtasche mit und begaben uns zu Fuß nach dem Hause des Polizeimeisters, der, wie Harald schon in Bombay erfahren hatte, ein verabschiedeter Major der indischen Kolonialarmee namens Sampson war.

Mr. Sampson, ein etwas poltriger alter Herr mit weißem Schnurrbart, empfing uns mit größter Liebenswürdigkeit. Ihm war der Name Harald Harst nicht fremd, und er betonte wiederholt, daß es ihm eine Ehre sei, uns als Gäste bei sich zu sehen.

Nachdem wir schnell einen Imbiß eingenommen hatten, gingen wir in Sampsons Arbeitszimmer hinüber und nahmen an einem runden Tische in einer behaglichen Ecke Platz. Harst hatte den Major sofort nach der ersten Begrüßung gebeten, vor der Dienerschaft so zu tun, als wären wir beide Engländer und alte Bekannte Sampsons. Nähere Erklärungen wollte Harald erst später abgeben.

„Wir können hier doch nicht belauscht werden,“ sagte er nun leise. „Das, was uns nach Sehar geführt hat, spielt nämlich ein wenig auf politisches Gebiet über, und mit der Begum von Bhopal soll in manchen Dingen nicht zu spaßen sein.“ (Der Vasallenstaat Bhopal wird von mohammedanischen Fürstinnen regiert, die den Titel „Begum“, die Erhabene, führen.)

Der Major machte ein ganz entsetztes Gesicht. „Um Himmels willen, Mr. Harst, – nur nicht Politik!“ flüsterte er. „Ich befinde mich ja als Polizeimeister hier in der unangenehmen Zwitterstellung, von der Begum das Gehalt zu beziehen, aber jedem Wink des englischen Residenten in Bhopal gehorchen zu müssen.“ (Die abhängigen Staaten in Britisch-Indien werden von sogenannten Residenten dauernd beaufsichtigt.)

Harst winkte ihm beruhigend zu. „Keine Sorge, Mr. Sampson. Ich werde sehr vorsichtig sein. Deshalb ist es auch am besten, wir unterhalten uns auch weiter nur flüsternd. – Vor sechs Jahren war Lord Percy Pimberton in Bhopal Resident, wie ich in Suez in Erfahrung gebracht habe.“

„Allerdings,“ nickte der Major.

„Lord Pimberton ist tot, ist ermordet worden,“ fuhr Harald fort und schilderte dann ganz kurz unsere Erlebnisse in Schloß Medsur. „Ich habe nun in Suez von dem dortigen englischen Hafenkommandanten, der Lord Percy genauer kannte, weiter gehört, daß er während seines Aufenthaltes hier in Bhopal mit einem Minister der Begum sehr ernsthafte Differenzen gehabt haben soll.“

„Ganz recht,“ meinte der Major eifrig. „Er ließ den Minister Dscham Dauli verhaften und erzwang dessen Absetzung. Ein halbes Jahr darauf verließ er Bhopal, weil er das Klima nicht vertrug.“

„Ja, er kehrte nach London zurück, lernte hier die bildschöne Operettensängerin Lydia Morgan kennen, heiratete sie, zog mit ihr in die Einsamkeit nach Schloß Medsur und wurde dort vor etwa fünf Monaten von seinem Bruder Allan ermordet, der auf sehr raffinierte Art in Suez als Polizeigefangener eine Selbstentleibung vortäuschte, drei Beamte bestochen hat und entfloh. – Hiermit komme ich zum Hauptpunkt unserer Besprechung.“ Er faßte in die Brusttasche seines Sportjacketts, holte seine Brieftasche hervor und entnahm ihr jenes Stück Seide, das er damals in dem Tale gefunden, wo in der Ferne uns das Koptenkloster entgegengewinkt hatte. – Er reichte Sampson den Seidenfetzen und erklärte:

„Sie sind ja selbst Fachmann in diesen Dingen, Mr. Sampson. Wollen Sie sich nun mal diese etwas eigenartige schriftliche Mitteilung ansehen. – Auch Dir, mein Alter,“ wandte er sich an mich, „empfehle ich diesen Fetzen Stoff zu eingehendster Beachtung.“

Ich rückte mit meinem Korbsessel ganz dicht an den des Majors heran. Sampson hatte das Stück Seide auf den Tisch gelegt und hielt es glatt gespannt. In dem mittelsten grünen Streifen war mit Bleistift ein Kreuz gezeichnet. Nun, es ist besser, ich gebe diese Zeichnung mit allen Einzelheiten hier wieder. Das ist klarer als eine Beschreibung mit Worten.

 

 

„Als ich diese Zeichnung bemerkte,“ fuhr Harald fort, „mußte ich mein Hirn gehörig anstrengen, bevor ich wußte, was mir Lady Lydia damit hatte klarmachen wollen. Zum Glück kenne ich ja Zentralindien sehr genau. So konnte ich denn zunächst herausfinden, daß mit Bo nur Bombay, mit Bho nur die Residenz Bhopal des gleichnamigen Vasallenstaates und mit Bhi die Stadt Bhilsa gemeint sein konnten, während der wagerechte Strich nur die Bahnlinie darstellen sollte. Die beiden Pfeilspitzen auf diesem Strich deuteten auf Bhopal hin, ebenso die dritte des unteren Teiles des schrägen Querstrichs. Mithin sollte meine Aufmerksamkeit auf Bhopal gelenkt werden. – Was ich aus dem

Dsch/am
D/auli

herauslesen sollte, blieb mir fürs erste verborgen. Dafür hatte ich aber die fünf Worte Lind, Lyd, esclaves, non, ici in einer Weise enträtselt, die mir sofort als die einzig mögliche und richtige erschien. – Lady Lydia hat, als sie diese Zeichnung anfertigte, sich sehr beeilt. Das erkennt man an der Undeutlichkeit der Buchstaben. Sie hat den Bleistift wiederholt mit der Zunge angefeuchtet, denn Seide nimmt Bleistiftschrift schlecht an. Sie wollte außerdem aber auch eine Mitteilung für mich zurücklassen, die ein Unberufener nicht entziffern sollte. Sie hat dazu den richtigen Weg gewählt, besonders dadurch, daß sie die wichtigsten Worte in französischer Sprache unter die Zeichnung setzte. Englisch wird im Orient weit häufiger auch von Eingeborenen verstanden als französisch. – „Lind Lyd“ konnte nur heißen Linden und Lydia. „Esclaves“ heißt Sklaven, „non ici“ nicht hier. Die drei Pfeilspitzen aber wiesen nach Bhopal hin. Und das Ganze sollte mithin besagen:

Die Linden und ich, Lady Lydia, sollen als Sklavinnen nach Bhopal verkauft werden (oder „sind schon verkauft“) und befinden uns nicht mehr hier.

Diese Deutung, Mr. Sampson, war ja insofern nicht so sehr phantastisch, als ich bereits argwöhnte, Lord Allan könnte aus Suez entwichen sein, und weil ich wußte, daß er Indien über ein Jahr bereist hatte. Konnte er da nicht hier in Bhopal Beziehungen zu Leuten angeknüpft haben, die für europäische Sklavinnen hohe Preise bezahlen, konnte er Lady Lydia nicht aus Rache an den Harem irgendeines mohammedanischen Großen dieses Landes verschachert haben? – Als ich hieran dachte, glaubte ich nun auch für die Worte Dscham Dauli eine Erklärung gefunden zu haben, ebenso für das kleine Kreuz unter diesen Worten. Es konnte, sagte ich mir, dies Dscham Dauli der Name des Käufers und das Kreuz dessen Haus in oder bei Bhopal sein. Jedenfalls mußte dieses Haus im nördlichen Teile der Stadt oder im Norden liegen. In Suez erfuhr ich dann, daß der Minister der Begum, den Lord Percy gestürzt hatte, Dscham Dauli hieß. Von dem Moment an zweifelte ich auch nicht eine Sekunde länger, auf der richtigen Fährte zu sein. Ich behaupte also: Rosa Linden ist von dem Beduinenscheich an einen Angehörigen des Koptenklosters verkauft worden, der dann auch Lady Lydia auf Betreiben Lord Allans in seine Gewalt brachte und beide Frauen hier nach Bhopal an den Harem Dscham Daulis weiterverschachert hat. Der ehemalige Minister soll ja enorm reich sein und sogar eine eigene Jacht besitzen, ebenso nur im eigenen Salonwagen reisen. Mit dieser Jacht können die Frauen bis an die Küste Vorderindiens gebracht und dann in dem Salonwagen weiter hierher verschleppt worden sein. Bei alledem sprechen noch fraglos Umstände mit, die sich meiner Kenntnis vorläufig entziehen. Es muß da meines Erachtens zwischen Dscham Dauli und Lord Allan Pimberton Beziehungen geben, die recht fragwürdiger Art sind.“

Harald schwieg. – Der Major schüttelte den Kopf und meinte:

„Mr. Harst, ich fürchte, Sie werden die beiden Frauen nicht mehr retten können, falls sie sich wirklich schon im Dscham Daulis Palast als Haremsdamen befinden. Dscham Dauli ist nicht mehr Minister. Aber – Sie kennen ja die Macht des Geldes! An ihn wagt sich niemand heran, niemand! Der Nachfolger Lord Percy Pimbertons, der Resident Sir Douglas Holgrave, riskierte es und – kam auf einer – Tigerjagd ums Leben – hm ja, – Sie verstehen! Hier in Indien gibt es eben andere Möglichkeiten, Leute umzubringen, als drüben im alten Europa. Ich rate Ihnen dringend, sich mit dieser Sache nicht die Finger zu verbrennen. Ihre Kombinationen mögen stimmen. Besser ist jedoch, Sie bilden sich ein, sie stimmen nicht, und reisen wieder ab.“

Harald lächelte und blies ein paar tadellose Rauchringe.

„Mr. Sampson, die Jacht Dscham Daulis ankerte an demselben Tage in Suez, als Lord Allan dort aus dem Gefängnis entwich,“ sagte er dann langsam. „Und vorgestern traf dieselbe Jacht im Hafen von Bombay ein. Dort stand schon der Salonwagen Dscham Daulis bereit. Und unter dem Gepäck des Exministers, das von der Jacht in den Salonwagen geschafft wurde, befanden sich zwei Riesenkoffer, in denen man sehr gut Frauen unterbringen konnte. Dscham Dauli ist dann mit diesem Salonwagen gestern abend in Bhopal eingetroffen. – Sie sehen, Mr. Sampson, ich gehe allen Dingen auf den Grund. Mir bleibt so leicht nichts verborgen. Was ich mir vornehme, führe ich auch aus. – Ich bin nun hier zu Ihnen gekommen, um mich in aller Heimlichkeit ein wenig verwandeln zu können. Sie haben unsere Koffer ja bereits vom Bahnhof holen lassen. Wir werden uns jetzt auf unser Fremdenzimmer zurückziehen. Wenn wir morgen früh nicht mehr da sind, sagen Sie nur Ihren Dienern, wir hätten einen Jagdausflug vor.“

„Her mit Ihrer Hand,“ rief erfreut der Major. „Ich werde Ihnen helfen! Meinetwegen kann der verdammte Dscham Dauli nachher eine seiner bekannten Teufeleien ersinnen, die –“

„Ah – er ist deshalb also berüchtigt –,“ fiel Harald ihm ins Wort.

„Und ob. Er hält in seinem Palast etwa zweihundert Diener, die jedem seiner Winke gehorchen. Außerdem besitzt er mehrere Plantagen, und seine Arbeiter dort gehen gleichfalls für ihn durchs Feuer. Sein Palast im Norden der Stadt ist uralt. Sie kennen ja diese alten indischen Paläste. Wenn die Mauern reden könnten, würden sie nette Schauergeschichten erzählen. – Sie wollen also mit Ihrem Freunde Schraut in einer Verkleidung nach Bhopal. Und dann –?“

„Was würden Sie tun, Mr. Sampson?“

„Ich – ich?! Ich – würde schleunigst wieder umkehren.“

„Ganz recht. Das werde ich auch, wenn ich – die beiden Frauen befreit und Lord Allans Verhaftung ermöglicht habe.“

„Um Himmels willen, – gedenken Sie etwa in den Palast Dscham Daulis einzudringen? Ich warne Sie! Sie kommen bestimmt nicht wieder lebend heraus!“

„Abwarten, Mr. Sampson. – Doch, jetzt wollen wir mit der Maskerade beginnen. Sie könnten mit in unser Zimmer kommen. Ich möchte Sie noch allerlei fragen. Mit dem Morgenzuge um 4 Uhr will ich weiter nach Bhopal.“

 

Viertes Kapitel.

Wir waren in Bhopal, als indische Kaufleute verkleidet, in einem kleinen Hotel am Bahnhof abgestiegen, das einem Franzosen gehörte. Unsere Masken, bis ins kleinste sorgfältig durchgeführt, schützten uns genügend. Um uns durch unsere mangelhaften Sprachkenntnisse nicht zu verraten, hatten wir uns als in Kalkutta daheim ausgegeben, da dort ein ganz anderer Dialekt gesprochen wird. Monsieur Plicart, der Hotelbesitzer, hielt uns fraglos für „echt“.

Am ersten Tage schon hatten wir mit unserer Arbeit begonnen. Es lag Harald daran, festzustellen, ob die beiden großen Koffer aus dem Salonwagen Dscham Daulis auch wirklich nach dessen Palast geschafft worden waren. Dies sollte ich erledigen. Er selbst wollte versuchen, sich mit einem der Diener des Exministers anzufreunden.

Erst am Abend sahen wir uns wieder. Ich hatte mir die kleine Residenz inzwischen gründlich angeschaut, war eigentlich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und daher todmüde. Aber – Erfolge hatte ich leider nicht aufzuweisen. Lediglich das eine konnte ich Harald mitteilen, daß das Gepäck Dscham Daulis auf einem Tafelwagen vom Bahnhof abgefahren worden war und daß dieser Wagen zum Palaste des Exministers gehörte.

Wir saßen nebeneinander auf dem Rohrsofa in unserem großen Fremdenzimmer. Auf dem Tische vor uns brannte eine elektrische Stehlampe. Ich hatte gleich bei der Begrüßung gemerkt, daß Harald sehr abgespannt zu sein schien. Er saß auch jetzt in sich zusammengesunken da und hatte die Augen halb geschlossen.

„Tröste Dich,“ sagte er leise. „Dafür habe ich desto mehr Glück gehabt. Der Kutscher des Gepäckwagens ist ein verheirateter Hindu und wohnt nicht im Palast, sondern hier in der Stadt. Ich war auch am Bahnhof. Und dort erfuhr ich den Namen und die Wohnung des Kutschers, der ein älterer Mann ist und Achmed ben Sirdar heißt. Sein Häuschen liegt neben einer Teestube, die einem Chinesen gehört. In diesem Teehause habe ich vier Stunden lang in einer Koje der geheimen Opiumhöhle zugebracht – scheinbar auch im Opiumrausch wie dieser Achmed ben Sirdar. Mir ist noch jetzt ganz übel von dem süßlichen Dunst in dem niedrigen Kellerraum. Der alte Hindu lag in der Nebenkoje. Als er erwachte, haben wir uns so etwas angefreundet. Opiumraucher betrachten sich als Brüder. Das gemeinsame Laster bringt sie einander schnell näher. Heute um elf Uhr wollen wir uns wieder dort im Teehause treffen. Sirdar möchte mir ein paar antike Goldarbeiten verkaufen. Lege Dich deshalb am besten nieder und schlafe noch eine Stunde, bevor wir zu dem mageren Herrn Tschi Long gehen und mit Sirdar Geschäfte machen.“

„Du hoffst also, durch den Kutscher etwas zu erreichen?“ fragte ich.

„Ja – sehr sogar. Der alte Halunke ist offenbar einer der Intimen des Exministers. Er prahlte damit, daß er bereits 20 Jahre im Dienste des mächtigen Dscham Dauli stehe. Und Geld muß er auch haben. Sein Häuschen ist recht sauber und schmuck. – So, nun ruhe Dich aber noch eine Weile aus, mein Alter. Ich habe noch meine Jacke zu flicken. Die Rückennaht ist aufgetrennt. Bei Dir übrigens auch, wie ich vorhin bemerkte. Ziehe sie also aus –“

Ich tat es, wollte mir den Schaden ansehen. Harald riß mir die Jacke aber aus der Hand und meinte:

„Vertrödle doch nicht unnötig Zeit –!“

Mir erschien dies Benehmen etwas seltsam. Ich war aber wirklich hundemüde und legte mich auf mein Bett. Harald hantierte am Tisch mit Nadel und Zwirn herum. Wir trugen als indische Kaufleute gelbliche Leinenanzüge von europäischem Schnitt, dazu bastseidene Hemden mit weichem Kragen.

Dann schlummerte ich ein. Um halb elf weckte Harald mich. Wir nahmen wie immer unsere Taschenlampen und Repetierpistolen mit. Harst riet mir, die Pistole mit einem Stück Leinenband um das Knie zu befestigen. Er krempelte sein weites Beinkleid auf und zeigte mir, daß auch ihm die kleine Clement-Pistole vorn am Schienbein des rechten Fußes hing.

Ich schaute ihn mißtrauisch an. „Harald, Du – Du verbirgst mir etwas!“ flüsterte ich. „Noch nie bist Du so vorsichtig gewesen, und –“

„Noch nie hatten wir es mit einem Dscham Dauli zu tun!“ unterbrach er mich. „Mach’ fix! Ich hoffe, daß noch in dieser Nacht die Entscheidung fällt –“

In der Vorhalle des Hotels trafen wir mit Monsieur Plicart, dem Besitzer, zusammen.

„Ah, wohl das Nachtleben Bhopals studieren, he?!“ grinste er. „Empfehle das Teehaus des Chinesen Tschi Long. Es liegt dicht am Flusse. Jeder kennt es hier –!“ Er zwinkerte mit den Augen. Und Harald zwinkerte gleichfalls. „War schon da, Mr. Plicart,“ sagte er auf englisch.

Wir schritten die Bahnhofstraße entlang, dem Eingeborenenviertel zu. Nach etwa hundert Schritt trat ein baumlanger, schmieriger Inder an uns heran, flüsterte: „Lord Scheldon –!“

„Lord Scheldon,“ wiederholte Harald.

Und der Inder darauf: „Sie sind da –“

Wir gingen weiter. Ich war so ziemlich sprachlos. Was bedeutete das nun wieder? – Lord Scheldon? Den Namen hatte ich doch letztens gehört? – – Ah, richtig, Sampson hatte ihn genannt. Lord Scheldon war der jetzige englische Resident in Bhopal, also der eigentliche Machthaber hier.

„Du, was sollte das soeben?“ fragte ich Harald.

„Es war einer der Treiber, die das Wild einkreisen helfen –“

Ich überlegte. „Dann – dann hast Du Dich mit dem Residenten in Verbindung gesetzt, und –“

„Ganz recht. Das habe ich. – Eine wundervolle Nacht übrigens. Wenn es hier in den Gassen nur nicht so stinken würde –“ Er wich also weiteren Fragen aus.

Nach fünf Minuten kamen wir auf einen freien Platz. Rechter Hand war ein Haus völlig erleuchtet. Aus der breiten, offenen Tür klang Musik heraus.

„Das Häuschen links davon ist das des Kutschers,“ meinte Harald. „Der Kerl hat es also sehr bequem, sich einen Opiumrausch zu holen.“

Vor dem Teehause hockten mehrere Bettler, für Indien selbst nachts ein durchaus gewöhnlicher Anblick. Einer davon kroch auf allen Vieren zu uns heran, reckte uns die eine Hand entgegen –

„Lord Scheldon,“ flüsterte er. – Und dann wiederholte sich genau dasselbe wie vorhin. Genau dieselben Worte fielen.

Wir betraten das Teehaus. Es war ein einziger großer Raum, durch niedrige Holzwände in kleinere Zellen abgeteilt, die zumeist vorn Vorhänge hatten.

Nur wenige Tische standen frei da. An einem dieser Tische saß ein Hindu mit langem, grauen Bart und pockennarbigem Gesicht. Harst steuerte auf den Tisch zu. – Es war der Kutscher Achmed ben Sirdar. Er stand sofort auf, sagte leise: „Nicht hier, – unten!“ nahm ein in Leinwand gehülltes Paket vom Tisch und ging uns voran am Schanktisch vorüber durch eine niedrige Tür auf den Hof, wandte sich einem halb verfallenen Stalle zu, in dem eine durch Gerümpel verdeckte Falltür dann den Zugang zu einer Holztreppe freigab. Gleich darauf standen wir in der Opiumhöhle, einem fensterlosen Kellerraum, wo mir schon nach den ersten Atemzügen beinahe schwindelig wurde.

Achmed ging in eine Art Alkoven, wo eine einzige Holzpritsche, mit Kissen bedeckt, stand. Eine stinkende Öllampe spendete hier spärliches Licht. Wir drei hatten kaum auf der Pritsche Platz genommen, als Achmed das Paket öffnete. Es enthielt sechs wunderschöne, kleine antike Vasen, offenbar aus reinem Golde. Harst begann zu handeln. Achmed beherrschte das Englische leidlich. Er forderte einen ganz unerhörten Preis. Als Harald die Hälfte bot, sprang er wie ein Verrückter auf und tanzte vor uns umher.

„Nur 1000 Pfund Sterling – nur 1000 Pfund!“ geiferte er. „Was denkst Du Dir, he?! Das ist reines Gold und –“

Da traf mein Ohr wie ein Hauch ein hastig geflüstertes Wort Haralds:

„Achtung –!“

Ich hatte schon vorher geahnt, daß es mit diesem Alkoven etwas Besonderes auf sich haben müsse. Ich fühlte, wie mir das Herz zu jagen begann. Meine Augen verfolgten jede Bewegung des alten, ausgemergelten Schuftes.

Da – wieder hüpfte er scheinbar vor Wut in die Höhe, streckte den rechten Arm aus, ergriff oben an der Decke etwas wie einen Glockengriff –

Ich wollte hochschnellen und ihm an die Kehle.

Harst riß mich zurück –

In demselben Moment kippte die Pritsche nach hinten um, und wir rutschten samt den Kissen ab, sausten abwärts, fielen übereinander –

Eine höhnische Stimme sagte in tadellosem Englisch:

„Ah – welch’ erfreuliches Wiedersehen, meine Herren! Bitte, bleiben Sie ruhig liegen, oder wir drücken ab –“

Wir lagen auf dem feuchten Sandboden eines tieferen Kellergeschosses. Drei Männer standen dicht vor uns. Zwei hatten brennende Laternen in der Linken; alle drei aber in der Rechten Revolver.

„Mr. Schraut, stehen Sie jetzt zunächst auf!“ befahl Lord Allan Pimberton, denn er war es, freilich äußerlich sehr verändert.

Der Mann, der mir nun die Hände mit Riemen auf dem Rücken fesselte, war Dscham Dauli, der Exminister der Begum von Bhopal. Alles in allem war er eine imposante Erscheinung, mit langem, glänzend schwarzem Bart, einer messerscharfen Nase und ein Paar hochmütig-stechenden Augen. Der dritte Mann von hellerer Gesichtsfarbe war ein Greis mit grauem, kurz gehaltenem Vollbart. Alle drei trugen indische Tracht, ein mantelartiges, faltiges Gewand aus bräunlichem Wollstoff und Sandalen, dazu Turbane.

Jetzt kam die Reihe an Harst. Er ließ sich ebenfalls ruhig fesseln. Dann durchsuchte Dscham Dauli unsere Taschen und nahm uns die Taschenlaternen, die Messer und die Brieftaschen ab. Die Clement-Pistolen fand er nicht.

„Ah – so sehr sicher fühlten Sie sich!“ spöttelte Lord Allan wieder. „Nun, Pistolen hätten Ihnen auch nichts genützt. Wir hatten alles genügend zu Ihrem Empfang vorbereitet. Als Sie, Mr. Harst, heute Achmed hier ausfragten, wo er denn die beiden großen Koffer hingefahren hätte, genügte ihm das. Wir rechneten mit Ihrem Erscheinen, und unsere Vertrauten waren gewarnt. Der Handel mit den Goldsachen war nur ein kluger Trick von Achmed, Sie herzulocken.“

Harst stand mit gesenktem Kopf da und schwieg.

„Sie ahnen wohl schon, daß Ihre Stunden gezählt sind, Mr. Harst,“ meinte Allan auflachend. „Ja – auch ein so berühmter Mann wie Sie macht mal Dummheiten! Bevor Sie beide aber den Schlammgrund der Betowa, in einen Sack eingenäht und mit Steinen beschwert, kennenlernen, wollen wir Ihnen noch die kleine Freude machen, Lady Lydia und ihre Landsmännin Rosa Linden wiederzusehen –“

Man führte uns jetzt durch einen Gang und über eine kurze Treppe in einen anderen, ganz wohnlich ausgestatteten Kellerraum. An der Decke hing eine große Petroleumlampe. Der Raum hatte im ganzen vier Türen. Drei davon waren sehr schmal und niedrig und lagen nebeneinander an der einen Schmalseite. Sie hatten oben vergitterte kleine Schiebefenster und machten den Eindruck von Zellentüren, da sie außen schwere Riegel und Schlösser besaßen.

An der einen Längswand stand ein Diwan, davor ein langer Tisch, um den sechs Rohrsessel gruppiert waren. Harald und ich mußten uns in zwei dieser Sessel an die eine Schmalseite des Tisches setzen, die Gesichter nach den Zellentüren hin.

Der Greis mit dem kurzen grauen Vollbart – seine Züge hatten einen ganz besonderen Schnitt – schloß dann zwei der Zellentüren auf, öffnete sie, rief befehlend:

„Kommen Sie heraus!“ – Sein Englisch war gleichfalls tadellos.

Und dann – dann erschien zuerst Lady Lydia Pimberton, leichenblaß, schwankend vor Schwäche. Der Greis deutete auf einen der Sessel uns gegenüber.

Lady Lydia streifte uns nur mit einem flüchtigen Blick. Sie erkannte uns nicht. Sie sank in den Sessel; der Kopf fiel ihr matt auf die Brust.

Jetzt tauchte auch Rosa Linden aus dem finsteren Loche auf. Ihr hatte dieses Abenteuer weit weniger geschadet. Sie war noch recht frisch, und dies bekam denn auch der graubärtige Alte sofort zu spüren. Wie eine Katze schoß sie auf ihn los, kreischte: „Schuft, Du hast den Scheich bestochen, daß er mich Dir überließ! Sklavenhändler, Mädchenhändler, Du –“

Während dieser lebhaften Szene hatte Harald mir zuflüstern können:

„Die Naht auf dem Rücken! Aber behutsam!“

 

Fünftes Kapitel.

Lord Allan und Dscham Dauli hatten auf dem Diwan Platz genommen. Ihre Revolver legten sie vor sich auf den Tisch. Der Graubart stand daneben.

„Lady Lydia und Miß Linden,“ begann Allan mit ironischer Höflichkeit, „Sie gestatten, daß ich Ihnen hier in Freiheit dressiert vorführe – erstens den Meister-Detektiv des Weltalls, Mr. Harald Harst, – zweitens dessen Privatsekretär und Freund Max Schraut –“

Lady Lydia schnellte hoch und rief:

„Oh – Sie – Sie! Und – und ich hatte doch auf Ihre Hilfe –“

Allan lachte schallend dazwischen.

„Hilfe, Hilfe?! Nein, teuerste Lady, von dieser Seite haben Sie keine Hilfe mehr zu erwarten! So wahr Sie und Rosa Linden morgen nach dem Harem Dscham Daulis geschafft werden, so wahr werden Harst und Schraut noch in dieser Nacht im Flusse ersäuft! Das ist meine Rache, Lady Lydia, weil Sie erstens meinen Bruder Percy mir seinerzeit vorzogen und dann durch den verfluchten Köter mich des Mordes an Percy überführen halfen.“

„Auch Sie, Miß Linden, sollten sich freuen, Ihren Verfolger los zu werden,“ fuhr Allan fort. „Sie haben doch ein paar Menschenleben auf dem Gewissen, und da ist es auch für Sie besser, diese beiden Schnüffler verschwinden für immer.“

Rosa Linden regte sich nicht, behielt die Augen halb geschlossen.

„So, nach dieser scherzhaften Wiedersehensszene zur Sache!“ fügte Lord Allan nach kurzer Pause hinzu. „Bevor Sie beide, Mr. Harst und Mr. Schraut, diese Sessel mit dem weit weicheren Schlammgrunde der Betowa vertauschen, möchten wir gern erfahren, wie Sie so schnell herausgefunden haben, wohin wir Lady Lydia entführt hatten.“ – Er blickte Harald fragend an.

Ich gebe zu, daß ich Harald diesmal einfach nicht verstand. Weshalb hatte er nur den Kutscher Achmed so auffällig ausgefragt? Weshalb hatte er mir dies verschwiegen? Und – was nützten uns jetzt unsere Pistolen, die in unseren Hosenbeinen steckten?! Nichts – gar nichts! Genau so wenig konnten uns die Leute des Residenten helfen, die draußen postiert waren. Selbst wenn dieses Haus durchsucht werden sollte: man würde uns doch nicht finden!

„Dort vor Ihnen liegt meine Brieftasche, Allan Pimberton,“ sagte Harald sehr ruhig und beugte den Oberkörper etwas vor. „Öffnen Sie sie. Sie werden darin ein Stück Seide aus Myladys Mantel finden mit einer Zeichnung darauf. Diese Zeichnung, in aller Eile angefertigt, ist in ihrer Art ein Meisterstück. – Mylady, ich kann Ihnen nur meine Anerkennung deswegen aussprechen.“ Er verbeugte sich nach Lady Lydia hin so tief und respektvoll, daß der Rohrsessel leise knarrte.

Lord Allan griff nach der Brieftasche und fauchte gleichzeitig Harald wütend an: „Wie dürfen Sie es wagen, mich lediglich mit Allan Pimberton anzusprechen?!“

Wieder verneigte Harst sich; wieder knarrte der Sessel. „Entschuldigen Sie, Mylord,“ erklärte Harald dazu.

Allan und Dscham Dauli besichtigten den Seidenfetzen.

„Ah – also auf die Weise!“ meinte Pimberton und lachte kurz auf. „Na – dieses Seidenstück hat leider auch nichts geholfen, Lady Lydia!“

„Gestatten Sie eine Frage, Mylord,“ sagte Harald jetzt mit überhöflicher neuer Verbeugung. „Ich habe Ihnen soeben über diesen Punkt Aufschluß gegeben. Würden Sie mir jetzt vielleicht erklären, wie Sie Dscham Dauli kennen gelernt haben? – Ich bin in allem ein sehr gründlicher Mensch, und ich würde ungern sterben, wenn ich nicht vorher über alle Einzelheiten dieser Entführung genau unterrichtet wäre.“

Allan Pimberton machte ein recht verdutztes Gesicht. Er fühlte sehr wohl heraus, welch’ überlegene Ironie durch Harsts Sätze hindurchklang. Ihm schien es unbegreiflich, daß ein Mensch in dieser Lage noch den Mut zu derartigen Bemerkungen fand.

„Meinen Sie das im Ernst?“ fragte er unsicher.

„Allerdings, Mylord. – Gewiß, das meiste über diesen Ihren Rachefeldzug gegen die Frau, die Ihre Liebe zurückwies, kann ich mir selbst zusammenreimen. Wollen Sie mir daher vielleicht nur einige Fragen gestatten? – Ich nehme Ihr Schweigen als Zustimmung. – Also: Lord Percy und Lady Lydia hatten an das verborgene Koptenkloster monatlich einen Tribut zu zahlen. Sie, Mylord, werden einmal dem Abgesandten dieses Klosters nachgeschlichen sein und lernten das Geheimnis des Zugangs zu dem fruchtbaren Tale auf diese Weise gleichfalls kennen. Und – jener Mann da“ – er machte mit dem Kopf eine Bewegung nach dem graubärtigen Alten hin – „ist ebenfalls ein Koptenmönch. Sein Gesichtsschnitt verrät das. Vielleicht ist dieser Mann derselbe, den Sie, Mylord, nach Ihrem Entweichen aus dem Gefängnis in Suez in Gemeinschaft mit Dscham Dauli auflauerten, da Sie wußten, daß es gerade der Tag war, wo der Tribut abgeholt wurde.“

„Allerhand Achtung!“ meinte Allan Pimberton. „Bisher haben Sie gut geraten. Nun sind Sie mit Ihrer Weisheit aber wohl in die Sackgasse geraten –“

„Durchaus nicht, Mylord, durchaus nicht.“ Eine neue Verbeugung; neues Knarren des Rohrsessels. – Jetzt merkte ich: diese Verbeugungen Haralds hatten einen bestimmten Zweck. – Vielleicht versuchte er, die Riemen zu lockern, die seine Handgelenke auf dem Rücken umschnürten; vielleicht sollte der Sessel knarren, um ein anderes Geräusch zu übertönen!

Aber – ich hatte ja selbst bereits wiederholt meine Hände gedreht und die Schlingen zu lockern gesucht. Die Riemen waren aber so brutal festgezogen, daß sie tief in die Haut eingeschnitten. Jede Bewegung verursachte Schmerzen. – Nein – es war ausgeschlossen, diese Fesseln loszuwerden! – Trotzdem: irgend etwas führte Harald im Schilde – aber was – was?

„Ja – Sie beide lauerten dem Abgesandten des Klosters auf und wußten ihn dahin zu bringen, daß er mit Ihnen gemeinsame Sache machte,“ fuhr Harst fort. „Die Lady wurde dann mit Hilfe der Winde in das verborgene Tal geschafft und hier dicht am Ende des Felsenganges nur so lange belassen, bis der Kopte Rosa Linden gleichfalls herbeigeholt hatte. Diese Zeit benutzte die Lady dazu, die Zeichnung anzufertigen.“

Ich schaute zu Lady Lydia hinüber. Sie nickte eifrig.

„Dann wurden die beiden Frauen weggebracht – an die Küste des Golfes von Suez, wo Dscham Daulis Jacht an einer bestimmten Stelle wartete. – So – jetzt bin ich wirklich etwas in der Sackgasse. Ich vermute, daß Dscham Dauli seit langem die Absicht gehabt hat, sich an Lord Percy, der ihn um Amt und Würden brachte, zu rächen. Ich vermute dies und bringe mit diesen Racheplänen das Erscheinen seiner Jacht in Zusammenhang.“

Da meldete sich der Exminister. „Lord Allan war mir bereits seit vier Monaten persönlich bekannt,“ sagte er in fließendem Englisch. „Ich erfuhr von Lord Percys Verschwinden. Dieses kam mir sehr ungelegen, da es meine Rache störte. Ich traf mit Allan in Suez damals zusammen. Wir wurden Freunde. Er versprach mir, die Lady für meinen Harem mir in die Hände zu spielen. Wir verabredeten, daß ich vier Monate später wieder in Suez mich einfinden sollte. Ich kam gerade zur rechten Zeit, um Allans Flucht fördern zu können.“

„Danke,“ sagte Harald kalt. „Selten haben zwei größere Schurken sich zusammengetan als Sie beide. – Nicht wahr – hier sollte nun auch der Kopte den Kaufpreis für Lady Lydia und Rosa Linden erhalten?“

„Ja – ja!“ lachte Allan Pimberton heiser vor Wut. „Wo nehmen Sie – Sie Lump nur die Frechheit her –“

„Gestatten Sie, Mylord,“ fiel Haralds ihm ins Wort und verneigte sich wieder. „Es ist das von mir keine Frechheit. Wir haben eben nur die Rollen vertauscht –“

In demselben Moment fuhren seine Arme nach vorn; ein Griff, und die beiden Revolver auf dem Tisch waren in seinen Händen –

„Sitzen Sie still – oder –!“ rief er jetzt drohend. „Ich schieße nie vorbei –!“

Die drei Verbrecher waren so sprachlos, daß sie kein Glied rührten.

„Schraut!!“ rief Harald wieder. „Unten in der etwas aufgetrennten Rückennaht Deiner Jacke steckt in einem Täschchen ein offenes Federmesser. Es wird Dir schnell wie mir gelingen, die Riemen zu durchschneiden.“

Lady Lydia war aufgesprungen. Auf dem Sitz von Harsts Sessel lag dessen Federmesser. Sie durchschnitt meine Riemen. Ich zog mir das rechte Hosenbein hoch, hatte gleich darauf meine neunschüssige Pistole in der Hand.

„Danke, Mylady,“ meinte Harald, ohne die drei Schurken aus den Augen zu lassen. „Nehmen Sie bitte Schrauts Pistole.“

Ich bückte mich, nachdem ich Lady Lydia die Waffe gereicht hatte, und holte Harsts Pistole hervor.

„So,“ erklärte Harald. „Nun ist die Schlacht für uns gewonnen. Ihnen beiden, Allan Pimberton und Dscham Dauli, möchte ich nur noch mitteilen, daß ich den Kutscher Achmed absichtlich „so ungeschickt“ ausgefragt habe. Er sollte merken, wer ich war, – eben ein Spion! Es sollte uns eine Falle gestellt werden, denn ich sah voraus, daß Sie beide würden den Triumpf auskosten wollen, uns als Ihre Gefangenen verhöhnen zu können. Ich rechnete weiter damit, daß ich auf diese Weise auch das Versteck der entführten Frauen kennen lernen würde.“

Er legte den einen Revolver auf den Tisch zurück. Es genügte ja, wenn er nur den anderen in der Rechten behielt.

„Ich habe mich mit Lord Scheldon in Verbindung gesetzt,“ sagte er nun. „Das Teehaus und auch das Häuschen Achmeds sind von Militär in Zivilkleidern umstellt. Ein Entrinnen für Sie gibt –“

Er tat plötzlich einen Satz –

Er kam zu spät –

Rosa Linden hatte sich plötzlich vorgeschnellt, den Revolver vom Tische aufgerafft –

Zweimal drückte sie auf den Kopten ab –

Der Mensch fiel nach vorn, lag regungslos –

„Herr Harst,“ rief sie, „der Elende hat –“

Sie drückte zu früh ab. Die letzten Worte verschlang der Knall des dritten Schusses, den sie gegen die eigene Stirn abgefeuert hatte.

Ich fing die Umsinkende auf – Sie war tot – Schläfenschuß –

Gleich darauf hatte Harst die Leute Lord Scheldons herbeigeholt. Die beiden Verbrecher wurden gefesselt nach der englischen Residentur gebracht –

Beide, Lord Allan und Dscham Dauli, vergifteten sich wenige Tage später. Auf Haralds Veranlassung wurden die Leichen jedoch sehr genau untersucht, ob wirklich auch der Tod eingetreten war. Den Ellora-Smaragd hatte Allan Pimberton bei sich getragen. Harst sorgte dafür, daß das Kleinod dem Ellora-Tempel zurückgegeben wurde, aus dem es vor vielen Jahren geraubt worden war. –

Bevor wir dann unsere Absicht, das geheime Koptenkloster im Sinai-Gebirge zu besuchen, verwirklichen konnten, hatten wir in Indien noch zwei Probleme zu erledigen, von denen das interessanteste war –

 

Die Gespenster-Rikscha,

 

über die ich nun im folgenden Bande dem Leser recht Seltsames zu berichten habe.

 

 

Anmerkungen:

  1. Unstandesgemäße Eheschließung.
  2. In der Vorlage steht: „Ach“.
  3. „Kopten-Kloster(s)“ / „Koptenkloster(s)“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Bandübergreifend und einheitlich auf „Koptenkloster(s)“ geändert.
  4. In der Vorlage steht: „Langen“.
  5. In der Vorlage steht: „Mrs.“.