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Das Känguruh der Miß Dolling

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 107:

 

Das Känguruh der Miß Dolling.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Für 50 000 Pfund Juwelen.

Es war Ende Januar 1923. Wir, Harald Harst und ich, kamen aus dem westlichsten Winkel von Neu-Süd-Wales, Australien. Was wir in der australischen Wildnis erlebt hatten, weiß der Leser: Suche nach zwei Säcken Gold und zwei Verschollenen, – Sandsturm, Insel im Bullobaki-See – und so weiter.

Nach vierzehn Tagen Unkultur nun wieder im Eisenbahnzuge nach Sydney, erster Klasse, – Speisewagen, schneeweiß gekleidete Kellner, eisgekühlte Getränke, eine Speisekarte, auf der die Delikatessen aller Weltteile prangten.

Und im Speisewagen, hinter dem Städtchen Pottamoorca, begann das neue Abenteuer, als der Zug durch die Beec-Wüste raste.

Es hatte sich ein älterer Herr an unseren Tisch gesetzt. Man sah ihm den Großzüchter sofort an. Wir kamen ins Gespräch. So nebenbei nannte er seinen Namen: Chester Dolling, Besitzer der Farm New-London.

Ein etwas poltriger Mann war’s, dieser Dolling. Und offenbar übelster Laune. Er wollte seinem Herzen Luft machen, platzte mit einem Male heraus:

„Denken Sie, – fahre ich da vor zwei Tagen zu meinem Freunde Greeborn, um mir dessen neue Bewässerungsanlagen anzusehen. Und gestern abend schickt mir meine Tochter eine Depesche, daß bei uns eingebrochen und unser ganzer Schmuck geraubt ist.“ Er schaute dabei auf seine kostbaren Ringe, deren Steine ein Vermögen wert waren. „Meine Frau liebte Diamanten, und Helen hat dieselbe Leidenschaft. Da habe ich denn so mit der Zeit eine Menge Pretiosen zusammengekauft. Schätze den ganzen Kram auf fünfzigtausend Pfund Sterling.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es mir. Denn – für fünfzigtausend Pfund Schmuck … Dieser Dolling mußte reich sein – enorm reich!

„Und all das Zeug hat man mir nun gemaust,“ brummte der Schafgroßzüchter ärgerlich. „Möchte nur wissen, wer der Spitzbube ist?! Meine Farm liegt ja dort im Norden so weltabgeschieden, daß selten ein Fremder hinkommt. Und meine Leute?! Nein, von denen stiehlt keiner. Jedenfalls eine ganz verd… Geschichte, meine Herren. Habe sofort von Greeborn aus an den Detektiv Goddlepy nach Melbourne telegraphiert. Wird ein Heidengeld kosten, der Goddlepy. Wissen Sie, meine Herren, das ist so ein ganz gerissener Bruder. Kann was, aber läßt sich’s auch bezahlen.“

Harald meinte nun, indem er mit dem Strohhalm die Eisstückchen im Glase rührte:

„Ich las, daß der deutsche Detektiv Harald Harst in Australien sein soll. Wenn Sie Harst beauftragen würden, den Dieb zu suchen, Mr. Dolling …“

„Harst?! Ah, bah – –! Harst?! Viel Reklame, nichts dahinter, meine Herren!“ Er zuckte die Achseln. „Hab’s auch in den Zeitungen gelesen, daß er hier ist. Hat sich in Sydney ziemlich blamiert.“

Die in englischer Sprache geführte Unterhaltung ging weiter. Harald flocht ein, daß wir deutsche Kaufleute seien, die größere Lieferungsabschlüsse in Schafwolle tätigen wollten.

Da wurde Dolling lebhafter.

„Vielleicht können wir ein Geschäft miteinander machen, Mr. Harten,“ erklärte er. „Begleiten Sie mich doch nach meiner Farm. Seien Sie meine Gäste. Auf der Station Goßfield erwartet mich mein Auto.“

„Mr. Harten“ nahm die Einladung mit Dank an. Chester Dolling war sehr froh darüber. Sein hageres, braunes Gesicht strahlte förmlich. Er war ein sehr dürrer, langer Herr mit grauem Scheitel. Die hellen Augen blickten jetzt für meinen Geschmack allzu listig. Es schien, als ob der Großzüchter insgeheim hoffte, uns gehörig übers Ohr hauen zu können – uns, die biederen, dummen Deutschen.

Abends gegen sieben hielt der Zug in Goßfield. Wir stiegen aus. Das große Reiseauto Dollings war zur Stelle. Aber – wer nicht zur Stelle war, das war der Kollege aus Melbourne, Mr. Goddlepy. Dolling fluchte. Diese Großzüchter, die da weitab von allen sogenannten Segnungen der Kultur in der Einöde der australischen Steppe hausen, tragen nur eine sehr dünne Schicht Kulturlack mit sich herum.

Die nächtliche sechsstündige Eilfahrt bis New-London brachte nichts Erwähnenswertes. Australische Landschaftsbilder kannten wir schon. Ich habe bereits im vorigen Band versucht, dem Leser ein Bild Inneraustraliens kurz zu entwerfen.

Gegen ein Uhr morgens dann die Überraschung: New-London unter uns in einem weiten blühenden Tale – im Mondlicht –, dazu der grelle Schein unzähliger elektrischer Bogenlampen, die von hohen Masten herab die stattlichen Baulichkeiten und das prächtige, schloßartige Wohnhaus strahlend beleuchteten.

„Meine Farm!“ sagte Dolling stolz. Das war alles, was er äußerte.

Der Weg, der bis dahin an den Gleisen einer Schmalspurbahn entlanggeführt hatte (die Bahn gehörte größtenteils ebenfalls unserem Gastgeber), bog jetzt durch einen weiten lichten Park und eine Allee auf das Hauptgebäude ab.

Vor der Freitreppe standen drei Diener und abseits eine schlanke junge Dame mit blondem Haar in weißem Kleide.

„Holla, Kind, hierher!“ rief Dolling heiter. „Ich bringe Gäste mit … – Du gestattest: Mr. Harten, Mr. Schratt, zwei deutsche Kaufleute …“

Helen Dolling neigte kaum merklich den Kopf. Ihre Art, wie sie uns begrüßte, verriet ganz die Dame von Welt, verriet aber auch einen eisigen Hochmut.

Im Speisesaale des Schlosses New-London wartete unser eine reichgedeckte Tafel. Der Zuschnitt dieses Haushaltes war wahrhaft fürstlich. Was wir bisher von Viehfarmen hier kennen gelernt hatten, konnte auch nicht im geringsten einen Vergleich mit New-London aushalten. Das waren alles gleichsam Großbauern-Gehöfte gewesen. Dies war der Besitz eines reichen Majoratsherrn, an deutschen Verhältnissen gemessen.

Bei Tisch ließ Dolling sich von seiner Tochter Einzelheiten über den Diebstahl erzählen.

Und – da gab es für uns die zweite Überraschung: Die Juwelen hatten in einem modernen Panzerschrank im Arbeitszimmer des Großzüchters gelegen. Den Tresorschlüssel hatte Dolling bei sich gehabt. Der Duplikatschlüssel lag im Schließfach der Bank der nächsten Stadt. Die Diebe hatten den Tresor offenbar mit allermodernsten Mitteln erbrochen und dann völlig ausgeräumt. Sie waren durch das Fenster – eine Scheibe war eingedrückt worden – eingestiegen, ohne von dem Nachtwächter bemerkt zu werden.

Auch Dolling war sprachlos.

„Mr. Woop (das war der Polizeimeister der nächsten Polizeistation, den Helen sofort herbeigerufen hatte) meint also, es kämen als Täter nur gewerbsmäßige Einbrecher in Betracht?“ fragte er seine Tochter nochmals und immer wieder den Kopf schüttelnd. „Zum Teufel, wie haben denn diese Banditen den Weg hier nach New-London gefunden?! Sind denn Fremde in der Nähe hier beobachtet worden?! Die Schufte können doch nicht durch die Luft geflogen sein!“

„Mr. Woop hat Nachforschungen angestellt, Pa. Kein einziges fremdes Gesicht hat man beobachtet.“ – Helens langsame, müde Sprechweise und die schönen, plastischen Bewegungen ihrer tadellos geformten Hände wirkten geradezu beruhigend.

Nachher wollte Dolling sich den Schrank ansehen. „Kommen Sie mit, meine Herren, wenn es Ihnen Spaß macht,“ meinte er und fügte ingrimmig hinzu: „Übrigens ein netter Spaß!! Für fünfzigtausend Pfund Juwelen und dazu elftausend Pfund Bargeld!! Diese Schufte!!“

Harst erwiderte: „Ja, wir können uns schließlich auch mal ansehen, wie solche Einbrecher arbeiten.“ Und er setzte umständlich seine Zigarette in Brand, so daß Dolling schon ganz ungeduldig wurde.

Das Arbeitszimmer lag ebenfalls im ersten Stock nach Osten zu, hatte zwei Fenster und war hochmodern eingerichtet. Die elektrische Krone mit ihren acht Glühbirnen ließ jede Einzelheit der Beschädigungen des Stahlschrankes erkennen, der halb in die Seitenwand eingemauert war.

Harald spielte weiter den Gleichgültigen, betrachtete die Bilder an den Wänden, hörte kaum hin, als Helen erklärte, Mr. Woop hätte behauptet, hier sei ein Sauerstoffgebläse verwendet worden.

Ich sah dies auf den ersten Blick. Der Tresor war ohne Zweifel kein erstklassiges Fabrikat. Wie hätten die Diebe sonst in wenigen Stunden derartige Verwüstungen an den Schlössern der Tür anrichten können?! Von solchen Dingen verstand ich etwas.

Chester Dolling fluchte und wetterte.

„Wenn nur Goddlepy erst da wäre!“ wiederholte er immer wieder. „Diese Kerle müssen gefaßt werden, und wenn Goddlepy sie bis Irland verfolgen sollte! Da stammen wir nämlich her, Mr. Harten,“ wandte er sich an Harald. „Wir sind nicht etwa Engländer! Gott bewahre! Ich hasse die Engländer! Auch meine selige Frau war Irländerin, und Helen ist in Dublin sieben Jahre in einem ersten Pensionat gewesen. War für mich verdammt schwer, sie so sieben endlose Jahre nicht wiederzusehen.“

Harst deutete auf ein Bild an der Wand.

„Ihre Gattin, Mr. Dolling?“

„Ja, meine gute Marry …“ Er sprach leiser. „Das beste Weib, das je einem Manne geholfen hat vorwärtszukommen. Wir haben hier mal ganz klein angefangen, Mr. Harten …“

Frau Dolling, hager wie ihr Gatte, saß auf dem Bilde in einem Sessel und hatte die Hände im Schoße gefaltet. Das Bild war eine künstlerisch ausgeführte photographische Vergrößerung. –

Dann wollte Dolling uns nach oben in den zweiten Stock in unsere Fremdenzimmer geleiten. Harst spielte plötzlich den Verlegenen.

„Entschuldigen Sie schon, Mr. Dolling,“ meinte er. „Es ist aber eine Schwäche von mir, daß ich nie im zweiten Stock und nur in einem nach Sonnenaufgang zu gelegenen Zimmer schlafen kann. Wenn Sie die Liebenswürdigkeit hätten, für uns nebenan in dem kleinen Zimmer, das kaum benutzt zu werden scheint, Betten aufstellen zu lassen, wären wir Ihnen sehr dankbar. Ich bin einmal bei einem Hotelbrand im zweiten Stock fast erstickt, und seitdem …“

„Aber gern, gern!“ rief Dolling. „Helen, ordne bitte das Nötige an. Wir setzen uns derweil drüben in die Bibliothek.“

Eine halbe Stunde später konnten wir das kleine Zimmer beziehen. Es war völlig ummöbliert worden. Wir sagten Dolling und Tochter gute Nacht und zogen uns zurück.

 

2. Kapitel.

Das Känguruh.

Dieses Zimmer hatte eine Tapetentür nach Dollings Arbeitszimmer hin. Die Tür war jetzt durch einen großen Kleiderschrank verstellt worden.

Harald verriegelte die Flurtür und überzeugte sich, ob die Vorhänge des einzigen Fensters auch völlig dicht schlossen.

Dann winkte er mich neben sich auf das kleine Rohrsofa. Er hatte eine seiner geliebten Mirakulum im Mundwinkel, und um diesen Mund lag ein feines Lächeln.

„Wie gefällt Dir Helen?“ fragte er leise als Einleitung.

„Helen?!“ Ich stutzte.

„Ja, Helen. – Und wie gefällt Dir ihre Mutter?“

Wenn Harst derartig merkwürdige Fragen stellt, tut man gut, die Phantasie spielen zu lassen, um – vielleicht – dahinterzukommen, wo er eigentlich hinaus will.

Er nahm die Mirakulum aus dem Munde und betrachtete sie, blies in die glimmende Spitze und fügte bedächtig hinzu:

„Dolling hat eine sehr breite und sehr kurzfingerige Hand. Seine Frau hat ebensolche Hände. Der Photograph hätte diese unschönen Hände nicht gerade im Schoße placieren sollen, mein Alter.“

„Hm – und …?!“ – Ich war mächtig gespannt, was folgen würde.

„Na – und Helen Dollings Hände sind schmal und lang, sehr lang, sehr aristokratisch.“

Ich verstand noch immer nicht. Harald schaute mich an.

„Der Tresor ist doch nur scheinbar erbrochen, lieber Alter,“ flüsterte er nach kurzer Pause. „Man hat ihn erst aufgeschlossen und dann die Schlösser demoliert. Mr. Woops Polizeiaugen genügen wohl für das Auffinden von Fährten und dergleichen. Nicht hierfür. Auch die Fensterscheibe mit den Resten der Splitter und des Teers, mit dem der zum Eindrücken benutzte Lappen beschmiert war, redet ihre besondere Sprache. Das Fenster war offen, als die Scheibe eingedrückt wurde.“

Ich legte meine Zigarre auf die Aschenschale. Sie schmeckte mir nicht mehr.

„Du meinst, daß … daß Helen Dolling mit beteiligt ist?“ fragte ich unsicher.

„Ich meine noch anderes. – Komm’, rücken wir den Schrank von der Wand, damit die Tapetentür frei wird.“

Er stand auf, wechselte rasch die Schuhe. In weichen Morgenschuhen drangen wir so in Dollings Arbeitszimmer ein.

Wir waren im Dunkeln, waren dicht an dem einen Fenster, blickten hinaus auf den weiten Grasplatz, der weiterhin durch Bäume eingefaßt war.

Der Mond, als gelbe Scheibe über den Baumkronen schwebend, gestattete uns nach dem Wächter Ausschau zu halten.

Minutenlang warteten wir so. Der Mann sollte bei seinem Rundgang erst vorüberkommen, bevor wir hier an unsere Arbeit gingen.

Er kam angeschlurft. Es war ein Mischling, ein kräftiger Bursche, am Gürtel das Revolverfutteral, um den Hals an einer Schnur ein Signalhorn aus Messing. Hinter ihm her schlich ein riesiger Hund, eine Art Wolfshund.

Der Wächter verschwand nach rechts. Aber – der Hund blieb stehen.

Da hatte Harald auch schon lautlos den einen Fensterflügel geöffnet. Da hörten wir Stimmen. Der Wächter war von jemandem angehalten worden.

Ja – Stimmen, und die eine war ohne Zweifel Helens Stimme …!

Jetzt verschwand auch der Hund um die Hausecke. Dafür tauchte eine schlanke Frauengestalt auf – im Seidenmantel, die Kapuze über den Kopf gezogen.

Helen – – Helen Dolling …!!

Sie schritt sehr schnell den Weg hinab, der den Rasenplatz durchquerte.

Das Fenster lag etwa fünf Meter über dem Boden. Aber – die Hauswand war mit den derben Ranken des australischen Efeus bedeckt, und für zwei Leute von unserer Eigenart genügte das.

Wir folgten Helen. Es war das nicht ganz ungefährlich. Es hätte zu leicht geschehen können, daß wir unsere Rollen als harmlose Aufkäufer von harmloser Schafwolle hätten aufgeben müssen.

Wir hatten Glück. Helen durcheilte den Park nach Osten zu, kam über die Brücke des kleinen Baches, klomm die Talwand empor und gelangte schließlich an eine Drahtumzäunung.

Hier machte sie halt. Wir lagen acht Schritt hinter ihr in einem Busche.

Sie pfiff auf besondere Art.

Und – da hüpfte aus der milchigen Dämmerung der australischen Mondnacht in grotesken Sprüngen ein in der Umzäunung befindliches Känguruh herbei, – ein Riesenkänguruh, das völlig zahm war.

Helen faßte durch die eng gespannten Drähte und streichelte dem Tiere den Kopf. Dann bückte sie sich. Was sie jetzt tat, konnten wir nicht sehen.

Sie richtete sich wieder auf …

„Gute Nacht, Liddy,“ rief sie leise.

Das Känguruh saß auf den Hinterbeinen, schaute ihr sehnsüchtig nach.

Helen kam dicht an unserem Versteck vorüber. Der Mond schien ihr voll ins Gesicht.

Wie seltsam verwandelt dieses Antlitz war!! Ein hohnvolles Lächeln lag über den feinen Zügen. Der herbe Mund erschien grausam und brutal.

Plötzlich blieb sie mit dem Rücken nach uns hin unweit des steilen Pfades stehen, der im Zickzack an der Talböschung hinablief.

So plötzlich hatte sie haltgemacht, daß irgend etwas sie erschreckt haben mußte.

Ihre ganze Haltung drückte jetzt gespannteste Aufmerksamkeit aus. Sie schob den Kopf immer mehr wie lauschend vor.

Und – da vernahmen auch wir in der Ferne ein taktmäßiges Rattern.

Der sanfte Wind wehte von Süden herüber. Und nach Süden zu ging die Kleinbahnstrecke und die Zugangsstraße nach New-London …!

„Ein Auto!“ hauchte Harald. „Vielleicht der Kollege Goddlepy aus Melbourne … Charles Goddlepy, übrigens eine kleine Berühmtheit[1]. – Nein – doch kein Auto. Ein Motorrad … – Ah …!!“

Und dieses „Ah!!“ hatte seine Berechtigung. Helen lief – Helen lief am Talrande nach Süden zu, – lief, daß wir kaum folgen konnten …

Gelangte auf die Straße, bog in den Busch ab, eilte weiter.

Und wir atemlos, schwitzend hinterdrein. Bei etwa zwanzig Grad Wärme ist solch ein Dauerlauf kein Vergnügen.

Das Geräusch des Motorrades kam näher. Längst hatten wir die Farmgebäude hinter uns. Rechts war die Bahnstrecke mit den blinkenden Schienen, links Skrupps – die berüchtigten endlosen Skrupps, das australische Dickicht.

Dann der Radler, in Windeseile herbeischießend …

Dann Helen, ihm in den Weg tretend …

„Hallo, Master, einen Augenblick!“

Der Mann sprang ab. Er war klein und trug Schutzbrille, hatte einen Rucksack auf dem Rücken.

Helen sprach mit ihm. Sie war erregt. Sie faltete sogar einmal wie bittend die Hände.

Dann reichte sie dem Manne etwas, – einen dicken Brief scheinbar. Und der Motorradler machte kehrt, sauste davon – gen Süden.

Helen Dolling lachte mit einem Male halblaut auf. Es war ein merkwürdiges Lachen: ironisch, triumphierend, und auch wieder glücklich – wie befreit von großer Sorge.

Langsam wandte sie sich dann wieder den Farmgebäuden zu, benutzte die Straße, kam uns aus den Augen.

Harst lehnte sinnend am Rande des Weges an einem Grasbaum, dessen Krone nur einen schopfartigen Blattschmuck trägt. Und sinnend meinte er:

„Wenn es wirklich Charles Goddlepy war, dann … dann hat sie ihn bestochen, dann ist er … käuflich! Dolling sagte ja, daß Goddlepy recht geldgierig ist. Ich denke, wir überzeugen uns am besten, ob der Melbourner Kollege tatsächlich kehrt gemacht hat. Vielleicht schätze ich ihn doch zu schlecht ein.“

In kurzem Trab eilten wir weiter nach Süden. Der Nachtwind hatte den feinen Staub der Straße hie und da aufgewirbelt und eine dünne Mehlschicht über die alten Spuren von Wagen und Fußgängern gestreut. So konnte man gelegentlich die Radspur des Motorrades deutlich erkennen, und so fand Harald denn auch nach kaum zehn Minuten eine Stelle, wo diese Rückfährte des kleinen Radlers vom Wege abbog und auf einem Schuppen zulief, der zum Einstellen von Lokomotiven der Kleinbahn gebraucht wurde. Dicht daneben war ein artesischer Brunnen zu erkennen.

Wir waren jetzt vorsichtiger. Harald kroch voran. Plötzlich spürten wir den Rauch einer Tabakpfeife. Der Knasterduft kam aus der offenen breiten Flügeltür des Schuppens.

Dann blitzte drinnen ein schwacher Lichtschein auf. Es war eine winzige Laterne, bei deren Schimmer der Fremde jetzt, auf einer Kiste sitzend, gemütlich seine Mahlzeit einnahm. Wir konnten ihn von draußen genau beobachten. Er hatte ein bartloses, mageres Gesicht, sehr wenig Haare und eine dicke Nase. Sein Rad lehnte an der Wellblechwand des Schuppens.

Während des Essens zog er den Brief hervor, den Helen ihm gegeben. Es war ein Umschlag. Der Inhalt bestand aus … Banknoten.

Nachher setzte der Mann seine Pfeife wieder in Brand und schien tief in Gedanken versunken. – Wir wollten unseren Lauscherposten schon verlassen und den Rückweg antreten, als der Fremde Vorbereitungen zum Aufbruch traf.

Er schob jetzt sein Rad ins Freie, überquerte die Schienen und betrat einen Waldstreifen, der sich nach Westen zu in die Grassteppe hineinzog.

Abermals eine Viertelstunde drauf wußten wir, daß der Mann – und es war ohne Zweifel der Kollege aus Melbourne – in einer steinigen Schlucht sich einen Lagerplatz ausgewählt und dort ein dünnes Zelt aus Gummistoff errichtet hatte.

Wir eilten jetzt schleunigst nach New-London zurück. Der neue Tag zog bereits herauf, als wir mit äußerster Vorsicht durch den Park schlichen und an den dicken Ranken in das Arbeitszimmer Chester Dollings hineinkletterten. Der Wächter war gerade an der Westecke des Hauses.

Und doch: kaum hatten wir den Fensterflügel geschlossen, als uns das Anschlagen des Hundes warnte.

Wir blickten durch die Gardinen hinaus. Der Hund hatte unsere Fährten gefunden, und der Wächter schien unschlüssig, was er jetzt bei dem seltsamen Gebaren des Tieres tun sollte.

Dann jagte der Hund den Parkweg entlang – nach dorthin, woher wir gekommen. Der Wächter lief hinterdrein.

„Nun werde ich Dir die anderen Bilder zeigen,“ sagte Harald und knipste die Taschenlampe an. „Bitte – das ist Frau Marry Dolling. Und diese vier Bilder sind Kinderaufnahmen Helens. Auf diesem hier mag sie etwa anderthalb Jahre alt gewesen sein. Heute dürfte sie zwanzig sein. Schau Dir das Bild recht genau an. Findest Du in diesen Zügen da auch nur die geringste Ähnlichkeit mit denen Helens?! Ich nicht!! – Die Hände gaben mir gleich zu denken. Dann sah ich diese Bilder und die Beweise, daß der Tresor mit einem Schlüssel geöffnet worden und daß die Scheibe von innen und bei offenem Fenster eingedrückt ist. – Bitte – zwei Schritt nach links. Dies ist also das Fenster, mein Alter. Nun – hier die Gardine. Bemerkst Du die schwachen Teerflocken an dem Stoff?! Wenn jemand von außen die Scheibe mit einem teerbeschmierten Lappen eingedrückt hätte, könnten hier an der Gardine niemals solche …“

Er schwieg …

Er schaltete die Lampe aus …

Und – zog mich rasch hinter den großen Diplomatenschreibtisch, der zwischen den Fenstern etwa einen Meter von der Wand abstand …

Wir kauerten nebeneinander …

Und – ich hörte, daß ein Schlüssel im Schloß der Flurtür dieses Zimmers langsam umgedreht wurde …

 

3. Kapitel.

Die alte Sannah.

Jemand trat ein …

Röcke rauschten …

Die Tür wurde sacht zugedrückt, von innen verriegelt …

Dann leuchtete der grelle Lichtschein einer Karbidlaterne auf, die bisher wohl von einem Tuche verdeckt gewesen.

Der Lichtschein wandte sich nach links, wo die Bilder hingen.

Harald richtete sich etwas auf. Und ich wagte dasselbe.

Da stand mit dem Rücken nach uns hin Helen Dolling in einem losen, dunkelblau-seidenen Morgenrock. Ihr blondes Haar schimmerte hell. Sie stand und … starrte auf das Bild ihrer Mutter …

Schluchzte plötzlich … weinte …

Die Laterne in ihrer Hand zitterte …

Worte formten die Lippen – rasch hervorgestoßene unverständliche Worte …

Und ebenso plötzlich … verließ sie dann wieder das Zimmer …

Still, lautlos entfernte sie sich …

Wir waren allein …

Harst erhob sich im Dunkeln.

„Gehen wir schlafen, mein Alter,“ sagte er gähnend. „Der nahende Tag muß uns frisch finden.“

Wir rückten den Kleiderschrank wieder vor die Tapetentür. Dann aber pflanzte ich mich dicht vor Harald auf, der soeben seine Nachttischlampe eingeschaltet hatte.

„Harald – nur eine Frage …,“ bat ich.

„Hm – frage!“ Er machte ein sehr mißmutiges Gesicht.

„Helen Dolling ist gar nicht Helen Dolling?“ flüsterte ich.

Er hob die Schultern. „Ich nahm an, daß nach siebenjähriger Abwesenheit eine … Betrügerin hierher gekommen – ja, das nahm ich an. Aber die Szene vor dem Bilde Frau Marrys soeben hat alles umgestoßen. Es ist wahrscheinlich eine … Unglückliche, die ins Vaterhaus zurückkam.“

Ich überlegte. Sagte: „Also steht Helen jetzt unter dem Einfluß irgendeines Schurken, der sie auch dazu zwang, ihm bei der Ausräumung des Stahlschrankes behilflich zu sein …“

„Wahrscheinlich …! – Das Känguruh, mein Alter, – das Känguruh wird uns Klarheit geben …“

Ich war ehrlich verblüfft …

„Wie – das Känguruh …?! Ich …“

„… ich bin jetzt stumm. Gute Nacht!“

Und dabei blieb’s. So konnte ich mir denn vor dem Einschlafen noch gründlich den Kopf zerbrechen, was das Riesenbeuteltier mit alledem zu schaffen hatte. Das Kopfzerbrechen war im übrigen zwecklos. Ich schlief ein.

Und im Traume sah ich Mr. Charles Goddlepy auf dem Känguruh, das statt der Beine Motorräder hatte, wie wahnsinnig durch die Steppe sausen. –

Um acht Uhr frühstückten wir mit den beiden Dollings auf der Terrasse an der Vorderseite des Schlosses. Helen war wieder ganz große Dame. Dolling fluchte über Goddlepy …

„Nicht mal abtelegraphiert hat der Mensch! Unerhört! Ich werde nochmals depeschieren und ihm das Reisegeld schicken – dem alten Gauner!“

Jetzt bediente uns eine uralte Australnegerin, ein geradezu abschreckend häßliches dürres Weib, die hier jedoch eine Art Vertrauensstellung innezuhaben schien. Sie wurde Sannah genannt, und Helen behandelte sie außerordentlich freundlich, während die Alte mit ihrem mürrischen, faltenzerrissenen Gesicht sogar dem Hausherrn gegenüber von einer unbegreiflichen Unliebenswürdigkeit war.

Als Sannah dann verschwand, meinte Dolling etwas verlegen:

„Sie ist nicht ganz richtig im Kopf, Mr. Harten. Sie wäre kurz nach Helens Heimkehr beinahe bei einem Buschfeuer ums Leben gekommen. Seitdem hat sie ihre schlechten Tage. Aber – treu ist sie, treu wie Gold. Sie hat meine Frau auf dem Krankenbett gepflegt und ist nun schon zwanzig Jahre bei uns.“

Harald wandte sich nach einer Weile an Helen mit der Frage, wann sie denn aus Dublin nach Australien zurückgekehrt sei.

„Vor einem halben Jahr, Mr. Harten,“ erwiderte sie, indem sie unsere Teetassen aufs neue füllte.

Dann kam Harst auf die hier so gefürchteten Buschfeuer zu sprechen. Dolling erzählte uns mancherlei Schauergeschichten darüber. Nach anhaltender Dürre sollten oft meilenlange Skrupps mehrere Tage brennen. Löschversuche wurden nie unternommen. Im Gegenteil, man war zufrieden, wenn das dichte Unterholz einmal beseitigt wurde. –

Kaum war das Frühstück beendet, als Dolling uns auch schon nach seinen Lagerschuppen führte, um uns seine Wollvorräte zu zeigen. Seine maschinellen Einrichtungen zur Reinigung, Sortierung und zum Packen der Schafwolle waren mustergültig zu nennen. So nebenbei erwähnte er, daß er gegen 500 000 Stück Schafe besitze, außerdem einige Tausend Rinder und gegen zweihundert Pferde.

Als wir mit ihm in dem größten Lagerschuppen allein waren, sagte Harald unvermittelt:

„Mr. Dolling, wenn Sie uns durch Handschlag versprechen, gegen jedermann zu schweigen, will ich Ihnen etwas sehr Wichtiges mitteilen.“

Der Großzüchter blickte Harald überrascht an. Dann lächelte er mißvergnügt. „Ich ahne schon, um was es sich handelt,“ meinte er. „Aus unserem Geschäft wird nichts. Sie beide sind alles andere als Wollaufkäufer, meine Herren.“

„Erst Ihre Hand, Mr. Dolling … – So – und zu niemandem ein Wort, in ihrem Interesse! Ich bin der deutsche Detektiv Harald Harst, und dies hier ist mein lieber Freund und steter Begleiter Max Schraut.“

Das hatte Dolling doch nicht erwartet.

„Verdammt – Mr. Harst!“ entfuhr es ihm. „Und im Zuge habe ich über Sie eine so abfällige Bemerkung gemacht …! Na – nichts für ungut! Sie sind mir sehr angenehme, werte Gäste …“ – Er drückte uns die Hand. Der Geschäftsmann war vor dem Gentleman zurückgetreten.

Dann fragte er leise: „Wie denken Sie denn nun über den Diebstahl, Mr. Harst?“

„Ich bin den Tätern auf der Spur. Das muß Ihnen genügen – vorläufig. Lassen Sie sich aber ja nichts anmerken, Mr. Dolling. Wir bleiben hier die harmlosen Kaufleute, auch Miß Helen gegenüber.“

Der Schafzüchter schlug Harald derb auf die Schulter und kniff das eine Auge zu. „Sie unterschätzen Helen, Mr. Harst,“ lachte er. „Helen sagte mir heute morgen, daß sie … Ihnen beiden nicht recht traue. Echte Wollaufkäufer hätten weit mehr über geschäftliche Dinge gesprochen.“

Haralds Stirn bekam Falten. „Hm – trotzdem, wahren Sie unser Geheimnis unbedingt, Mr. Dolling. Reden Sie Ihrer Tochter diesen Verdacht aus. Erklären Sie, der Kauf sei so gut wie perfekt.“

„Gut, gut … Wie Sie wünschen, Mr. …“

„… Harten – Harten! Nicht Harst! – So, und jetzt möchte ich mit Schraut einen Spazierritt unternehmen …“ –

Um zehn Uhr trabten wir nach Norden zu das Tal entlang. Es war eine Lust, so vorzügliche Pferde unter sich zu haben. Und eine noch größere Lust war’s, nachher über die flache Savanne im Galopp dahinzufegen. Das machte frisch und gelenkig. Das feuerte den Geist an.

Aber – aus dem Spazierritt wurde sehr bald etwas anderes – etwas ganz anderes.

Harald bog plötzlich in einem Walde nach Westen ab.

„Ich möchte Helens Känguruh einen Besuch abstatten,“ sagte er ohne besondere Betonung, obwohl er doch in der Nacht geäußert hatte, das Känguruh würde … „Klarheit geben“.

Ich war froh, daß er überhaupt dieses Thema berührte.

„Du hältst also an Deiner Annahme fest, daß Helen unter dem Einfluß eines Schurken steht?“ meinte ich, den Braunen näher an seinen hochbeinigen Fuchs herandrängend.

„Ja, mein Alter. Ich muß es. Bilder trügen. Gesichter verändern sich, und Eltern mit breiten Händen können recht gut Kinder mit aristokratischen Fingern haben, obwohl das nicht häufig vorkommt. – Helen dürfte sich in Dublin in irgendeinen Abenteurer verliebt …“

Der Satz wurde nicht zu Ende geführt.

Harald riß seinen Fuchs zurück …

„Vorsicht!“ rief er leise. „Da – da reitet Helen Dolling …!“

Wir waren an den Rand des Waldes gelangt. Vor uns lag eine sandige Schlucht, weiterhin die Grassteppe mit eingestreuten Skrupp-Beständen, weidenden Schafherden und vereinzelten Hütten der schwarzen Viehhüter.

Unser Beobachtungsplatz war sehr hoch gelegen. Wie ein Panorama breitete sich das Gesamtbild der Gegend nach Süden zu vor uns aus.

Helen Dolling, auf einem schlanken Falben im Herrensattel, trabte auf uns zu. Sie konnte uns unmöglich bemerkt haben. Sie trug quer über dem Sattel eine leichte Winchesterdamenbüchse, die wir schon morgens im Waffenschranke der Vorhalle von Schloß New-London gesehen hatten.

Dann – schwenkte sie mit einem Male scharf nach Osten ab, beschrieb fast einen Kreis und galoppierte nach Süden davon.

„Ihr nach!“ meinte Harald. „Wenn wir Glück haben, lüften wir schon heute das traurige Geheimnis!“

In der buschreichen Steppe war es nicht schwer, Helen auf den Fersen zu bleiben, zumal die frische Fährte es uns ermöglichte, dem jungen Mädchen zuweilen einen größeren Vorsprung zu lassen.

Sehr bald merkten wir, daß Helen ebenfalls auf die Hürde ihres zahmen Riesenbeuteltieres zuhielt.

Je mehr wir uns der Hürde näherten, desto vorsichtiger wurden wir. Dann nach vielleicht zehn Minuten vor uns ein paar gellende Trillerpfiffe, einer silbernen Pfeife entlockt – derselben Pfeife, die Helen an einer Seidenschnur im Gürtel stets bei sich hatte, so auch gestern nacht, als wir sie kennenlernten. Da war ihr die kleine silberne Pfeife einmal aus dem Gürtel geglitten, und hastig hatte sie dieselbe an ihren Platz zurückgebracht. –

Harald sprang ab. – „Warte!“ befahl er. „Ich werde Helen beschleichen.“

Er eilte davon.

Ich gehorchte diesmal jedoch nicht. Ich war viel zu gespannt darauf, was es mit dem zahmen Riesenkänguruh auf sich haben mochte. Ich band die Pferde an den Ast eines Eukalyptusbaumes und folgte Haralds Spuren durch die hier recht dichten Büsche.

Dann erblickte ich ihn – am Boden kauernd, mit dem Fernglas vor den Augen – durch die Zweige lugend …

War neben ihm, bückte mich …

Und schweigend reichte er mir das Glas …

Helen stand dicht vor dem Drahtzaun. Ihren Falben bemerkte ich nicht. Das Känguruh hockte ebenfalls dicht an dem Zaune. Und zwei Schritt rechts stand Sannah, die Schwarze, schien wütend auf Helen einzureden, hob des öfteren drohend die Fäuste, kreischte in maßlosem Zorn, daß einzelne Töne trotz der Entfernung bis zu uns drangen.

Diese Szene spielte sich an der Ostseite der Hürde ab, während wir Helen in der Nacht an der Westseite beobachtet hatten.

Dann – dann geschah etwas noch Merkwürdigeres …

 

4. Kapitel.

Der rote Gürtel.

Helen hatte der geifernden Alten bisher halb den Rücken zugekehrt. Jetzt fuhr sie plötzlich herum. Und im selben Moment war die Negerin mit affenartiger Gewandtheit an dem nächsten Pfahle der Drahtumzäunung hochgeklettert, sprang von oben in die Hürde hinab und lief auf das Känguruh zu.

Neben Helen lehnte an den Drähten die Winchesterbüchse. Helen griff danach, hatte die Waffe schon im Anschlag …

Sannah kniete jetzt vor dem Känguruh, hielt es an dem einen Vorderlauf mit der Linken fest und …

Da riß das Tier sich los, tat einen Satz zur Seite und traf mit dem dicken Stemmschwanz die Negerin gerade vor die Stirn.

Sannah schrie auf, taumelte und sank zu Boden, blieb regungslos liegen … –

All das ereignete sich so blitzschnell, daß ich Mühe hatte, die einzelnen Vorgänge zu verfolgen.

Ich sah, wie das Känguruh nun in langen Sprüngen einem Gebüsch inmitten der großen Hürde zustrebte, sah weiter, daß Helen ihren Falben holte, sich in den Sattel schwang und im Galopp nach Osten zu davonsprengte.

Sannah saß bereits wieder aufrecht da, als wir schleunigst zu unseren Pferden zurückliefen und der Reiterin nachsetzten.

Als wir über eine Lichtung kamen und einen Blick zurückwarfen, stand die Negerin an den Drähten des Zaunes und schaute regungslos mit gesenktem Kopf auf die Erde hinab, als ob es dort etwas gäbe, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Die Jagd ging weiter und weiter – über eine kahle, sandige Ebene – durch dürre Eukalyptuswälder – schließlich hinein in ein unübersehbares Buschwerk fahlen, trockenen Gesträuches – hinein in einen Skrupp, den Chester Dolling morgens erwähnt und als den ausgedehntesten in seiner Nachbarschaft bezeichnet hatte. Je tiefer wir in dieses über mannshohe Unterholz eindrangen, desto mehr verlor das Gestrüpp das Aussehen lebender Pflanzen, desto wasserarmer schien der sandige Boden zu werden, desto klarer wurde es uns, daß diese Skrupps, einmal in Brand geraten, wirklich bis zu den Wurzeln vernichtet werden mußten.

Ringsum herrschte das Schweigen armseligster Einsamkeit. Wenn hin und wieder ein Windstoß über die Büsche hinstrich, klang es nur wie ein schwaches Säuseln. – So ritten wir, bald im Trab, bald im Galopp, wohl eine Stunde lang auf Helens Fährte weiter und weiter – ahnungslos, was uns bevorstand …

Bis eine Lichtung sich vor uns auftat, kaum fünfzig Meter im Durchmesser, eine steinige Lichtung mit einem zerklüfteten Felshügel in der Mitte.

Hier war’s, wo wir Helens Spur auf dem harten Boden verloren, wo wir abstiegen und zu suchen begannen, wo diese Suche uns wohl eine volle Viertelstunde aufhielt, so daß die, denen an … unserem Tode gelegen, ihr scheußliches Attentat bequem vorbereiten konnten.

Das nahende Unheil wurden wir zuerst durch die Unruhe unserer Pferde gewahr, die wir am Zügel mit uns führten. Sie drängten immer weiter nach Westen, zerrten an den Zügeln, schnoben laut und wollten sich mit aller Gewalt losreißen.

Harald hatte das seltsame Benehmen der Tiere eine Weile beobachtet, hatte mir dann einen Blick zugeworfen, dessen Bedeutung ich nicht recht begriff.

„Reiten wir zurück,“ meinte er scheinbar gleichmütig. „Die Sache ist hier nicht ganz geheuer, mein Alter …“

Und – im selben Moment spürte auch ich den … Brandgeruch, den der Wind uns von Osten her zuwehte.

Harst saß schon im Sattel, gab seinem Fuchs leicht die Sporen …

Im Galopp nun auf Helens Fährte zurück …

Im Galopp keine tausend Meter …

Dann – ein Stutzen – ein Ruck an den Zügeln …

Die zitternden Gäule standen …

Und vor uns – – vor uns nichts als ein breiter roter Feuergürtel, der durch die Büsche schimmerte …

Dazu ein unheilvolles Knattern und Prasseln, Zischen und Fauchen …

Und ganze Schwärme von Vögeln – Papageien, Krähen, Wildtauben – zogen kreischend nach Osten, dem Winde entgegen …

„Seitwärts durchbrechen!“ brüllte Harald mit heiserer Stimme …

Und jagte nach Süden zu …

Entlang an dem Feuergürtel …

Aber die rote Lohe versperrte uns auch hier den Weg.

Hitzewellen führte der Wind mit sich – Hitzewellen, daß uns das Atmen schwer wurde …

Nirgends mehr ein Durchschlupf – auch nach Norden die Glut – der rote, lohende Strick der brennenden Skrupps, mit dem man uns beseitigen wollte …

Dicke, gelbe, stinkende Rauchmassen ließen uns kaum mehr die steinige Lichtung finden.

Das war unsere letzte Zuflucht, diese kleine Blöße mit den zerklüfteten schwarzen Felsen.

Hier – – erwarteten wir das Ende – den Tod …

Hier rissen sich die Pferde los, rasten wie toll in das Glutmeer hinein …

Arme Kreaturen! Welch qualvolles Sterben war euch beschieden! Ihre[2] verkohlten Reste fanden wir später, als – – als alles vorüber.

Zwischen den Felsen in einem Loche lagen wir nun, die Gesichter dicht an das Gestein gedrückt, eingehüllt in dünne, gelbe Schwaden, – keuchend, hustend, eiskalten Schweiß auf der Stirn …

Eiskalten Schweiß, während um uns her ein Backofen seine Hitzestrahlen steigerte – steigerte, während das Prasseln und Knattern immer näher kam, von allen Seiten …

Helen – Helen Dolling hatte uns in diese Falle gelockt. Sie allein. Sie hatte Verbündete, eben die Diebe der Juwelen. Und erkannt hatte sie uns – als Feinde! Daher sollten wir sterben …

Die Sinne drohten mir zu schwinden …

Meine Hand tastete nach der des Freundes …

Hand in Hand mit ihm wollte ich sterben.

Und da – da tauchte aus den gelben Wölkchen wie eine Spukgestalt das dürre alte Negerweib auf …

Sie stolperte über Harsts Beine …

Schrie: „Massa, – Massa, Sannah folgen!“

Ihre Krallenpfote riß mich hoch …

Mit einer Kraft, die ich dem Weibe nie zugetraut hätte, warf sie einen Haufen Steine, der an einer Felswand aufgeschichtet war, auseinander und legte so ein Loch frei, in das ein Mensch tief gebückt gerade hineinschlüpfen konnte …

Ein Loch – den Zugang zu einer jener Höhlen, an denen die felsigen Teile Australiens so reich sind.

Das Loch verstopften wir dann wieder, benutzten dazu auch unsere Jacken und Westen …

 

5. Kapitel.

Bill, der Gefangene.

Während über uns das Verderben hinzog und das Skruppfeld zu grauer Asche verbrannte, saß die alte Sannah auf einem Stein in der kühlen Höhle und stierte geistesabwesend vor sich hin. Auf keine Frage antwortete sie. Und Harald versuchte wirklich alles, unsere schwarze Retterin ihrem trüben Stumpfsinn zu entreißen. Schließlich gab er es auf, führte mich abseits, deutete auf eine natürliche Steinbank und sagte: „Setzen wir uns, mein Alter. Wir werden hier wohl ein paar Tage fasten müssen.“ – Er schaltete die Taschenlampe aus, um die Batterie zu schonen.

Dann bot er mir eine seiner Mirakulum an, drückte sie mir in die Hand und ließ das Flämmchen seines Feuerzeugs aufleuchten. – Wir rauchten. Das Flämmchen erlosch. Ringsum tiefste Dunkelheit. Sechs Schritt rechts von uns hockte Sannah. Wir sahen sie nicht. Wir hörten sie nur. Sie murmelte ohne Pause unverständliche Worte vor sich hin, und vorhin hatten die welken Lippen sich nicht geregt. Dieses Murmeln klang unheimlich, war ebenso schreckhaft wie der Gedanke, eine Halbirre als Gesellschafterin in dieser Lage bei sich zu haben. Kaum war dies flüchtig durch mein Hirn gegangen und hatte in meiner Seele ein leises Unbehagen zurückgelassen, als Harald mir zuflüsterte:

„Sie spielt nur die nicht völlig Zurechnungsfähige. Bedenke, daß sie uns gefolgt sein muß, daß sie also gefürchtet hat, wir könnten hier in eine Falle gelockt werden.“

Ich wollte erklären, daß ich ihm recht geben müßte. Ich wollte …! Aber – Sannahs Gemurmel war verstummt. Unwillkürlich lauschte ich nach der Stelle hin, wo sie sich befand.

Und dann – dann – riß uns jemand die Zigaretten aus den Fingern …

Funken sprühten am Boden auf. Und der im plumpen Lederschuh steckende Fuß der Alten zertrat den glimmenden Tabak. Sannahs schnatternde Stimme entschuldigte dieses Tun:

„Massa Harten, nicht rauchen! Nicht rauchen! Sannahs Ohren haben gehört, daß noch andere Leute hier unten. – Höhle gehen sehr tief in Erde und sehr weit, haben anderen Ausgang – in dem Buschwerk der Hürde von Missus Helens Känguruh.“

Harst sprang auf. Die Taschenlampe wurde eingeschaltet. Wir horchten. Die Stimmen kamen näher. Der Lichtkegel erlosch. Harald zog Sannah und mich hinter einen Felsvorsprung. Dann – das leise Knacken einer zurückgeschobenen Pistolensicherung. Ich faßte gleichfalls in die Schlüsseltasche. Die Clement schmiegte sich mir in die Hand. Der Sicherungsflügel glitt zurück.

Noch näher die Stimmen … – Männerstimmen warens’s, die ohne Scheu erklangen, ohne Furcht vor Lauschern.

„Wo soll man hier die Steine suchen – verdammter Unsinn!“ fluchte der eine. „Wenn das Mädel sie versteckt hat, mag Bill sie zwingen, den Ort anzugeben! Teufel nochmal, es kann doch nicht schwer sein, dieser Helen die Zunge zu lösen!“

Die beiden Kerle machten dicht vor uns halt. Sie waren gut gekleidet, trugen Touristenanzüge und hatten bartlose schmale Gesichter. Ihre großen Karbidlaternen warfen grelle Lichtbündel ringsum. – Dann … bückte sich der eine, rief:

„He – Edward, – hier – – zwei zertretene Zigaretten! Verdammt, Junge, – da, rieche …! Hier war jemand! Die Zigaretten …“

Weiter kam er nicht. Harald war vorwärtsgesprungen, schlug blitzschnell zweimal mit dem Metallkolben der Clement zu. Die Kerle brachen zusammen. – Wir fesselten sie mit Streifen ihrer Jacken, stopften ihnen Knebel in den Mund, ließen sie liegen.

Sannah führte uns. Die Karbidlaternen leuchteten, die endlose Höhle sah drei rasch vorwärtsstrebende Gestalten. Nach einer Stunde gab die Negerin uns zu verstehen, daß wir uns dem anderen Eingang näherten. Wir hörten auch gleichzeitig das Schnauben von Pferden, spürten Zigarrenrauch, schlichen im Dunkeln weiter …

Bogen um eine Ecke, vernahmen gleichzeitig einen gellenden Schrei, dem ein Hohngelächter folgte.

Jagten vorwärts, erkannten Helen beim Lichte einer Laterne gefesselt auf einem Schemel sitzen, sahen einen Mann weiter nach vorn ein Pferd durch den engen Felsspalt ins Freie führen …

Helen erkannte uns. „Ihm nach, Mr. Harst, – – ihm nach!“ rief sie überlaut. „Er will das Känguruh …“

Mehr verstand ich nicht. Harald hatte bereits die beiden gesattelten Gäule bei den Zügeln gepackt. Wir eilten hinaus. Wir griffen noch rasch nach den neben dem Eingang lehnenden Büchsen …

Schwangen uns draußen im Busch in den Sattel, setzten hinter dem Manne drein, gelangten in den buschigen Teil der großen Hürde …

Vor uns der Reiter – neben ihm das Känguruh …

Und beide in wahnsinniger Hast dahinstürmend, bis – bis Harald die Büchse hob …

Auf den Schuß hin überschlug sich das Känguruh …

Und – auf den zweiten Schuß zeichnete des Mannes Pferd mit einem wilden Satz zur Seite …

Der Reiter glitt aus dem Sattel. Haralds Zuruf trieb ihm die Arme hoch. Im Nu hatten wir auch ihn gebunden. Dann trat Harst an das tote Känguruh heran. Es war ein weibliches Tier, hatte wie alle diese merkwürdigen Geschöpfe am Unterteil des Bauches eine Hauttasche. Harald griff hinein, zog … einen länglichen Beutel hervor: Mr. Dollings Juwelen!

Sagte zu unserem Gefangenen, der mit einem rätselhaften Lächeln uns anschaute:

„Bill, das Spiel ist aus! Alles weitere wird sich im Schloß New-London klären …!“

Und – hiermit beginnt der zweite Teil unseres Abenteuers, das ich „Bill Jones’ letzter Trick“ betitelt habe.

 

 

Bill Jones’ letzter Trick.

 

1. Kapitel.

Dolling benimmt sich seltsam.

Es war gut, daß ich mir diesen Bill recht genau anschaute, als wir ihn nun nach dem Buschwerk und dem Höhleneingang führten.

Es war insofern gut, weil dieses Bill rätselvolles Lächeln eine besondere Bedeutung hatte, die uns beiden leider erst zu spät klar wurde.

Bill machte durchaus den Eindruck eines tadellosen Gentleman. Sein Sportanzug umschloß eine sehnige, schlanke Gestalt. Sein Gesicht war regelmäßig, hatte energische Züge und ein Paar vergnügte, fast übermütige dunkle Augen. Alles in allem war dieser Mann ganz dazu geschaffen, Eindruck auf Frauen zu machen.

Während wir, den Gefangenen zwischen uns, den Büschen zuschritten, fragte Harst ihn:

„Sie wissen, wer ich bin, nicht wahr?“

„Allerdings, Mr. Harst. Ich weiß es,“ erwiderte er höflich. Er hatte eine recht angenehme Stimme.

Dabei blieb das rätselvolle Lächeln wie festgefroren um seine Lippen.

„Und Sie wissen auch, was Ihnen und Ihren Genossen bevorsteht?“ fügte Harald schärferen Tones hinzu. „Dieser Mordversuch auf uns dürfte Sie für Lebenszeit ins Zuchthaus bringen.“ Und Harald deutete nach Osten zu, wo die Rauchmassen des brennenden Skrupps wie schwarze Gewitterwolken am Himmel hingen.

„Mordversuch, Mr. Harst?“ meinte Bill erstaunt. „Glauben Sie etwa, daß wir das Buschholz in Brand gesteckt haben?!“

„Sparen Sie sich alle Ausflüchte,“ sagte Harald achselzuckend. „Miß Helen wird nun wohl alles eingestehen.“

„So?! Ich wüßte nicht, was und wie sie das tun sollte, Mr. Harst.“ Das klang derart zuversichtlich, daß Harald den Verbrecher prüfend von der Seite musterte. Der schwieg jedoch. – Wir hatten das Buschwerk erreicht, gelangten auch bald an die steinige Vertiefung, an deren Südseite sich die Felsspalte, der Höhleneingang, öffnete.

Wir drangen in den recht steil abwärtsführenden Schlund ein, der sich bereits nach wenigen Metern stark verbreiterte. Vor uns brannte noch auf dem rohen Holztisch die Laterne. Neben dem Tische auf dem Schemel hatte die gefesselte Helen gesessen.

Hatte …

Helen – war nicht mehr da.

Und – seltsam! – Auf Harsts wiederholte Rufe meldete sich auch die alte Sannah nicht.

Nur unsere beiden Laternen, die wir Bills Freunden abgenommen hatten, standen noch dort, wo wir sie niedergesetzt hatten – neben der Stelle, wo die Pferde angebunden gewesen waren.

„Ich sagte Ihnen ja, Mr. Harst, daß Helen nichts bezeugen könnte,“ meinte Bill jetzt mit überlegenem Spott. „Ich würde Ihnen auch raten, sofort dasselbe zu tun, wozu Sie mich soeben draußen gezwungen haben: die Arme hochzuheben! Andernfalls würden Sie und Ihr Freund niedergeschossen werden. – Bitte, halbrechts sehen Sie hinter unserem primitiven Kleiderschrank – wir hausen hier bereits viele Wochen, Mr. Harst – den Vierten von uns mit der Büchse im Anschlag nur auf meinen Befehl zum Abdrücken warten …“

Die eisige Ruhe dieses Schuftes hatte ihren guten Grund. Da stand wirklich ein Mensch, zielte auf uns, rief jetzt seinerseits:

„Hände hoch!! – Wird’s bald!“

Ich zögerte.

„Gehorche!“ meinte Harald da und streckte die Arme empor.

Bill lächelte mich an. „Mr. Schraut, nehmen Sie mir bitte die Fesseln ab.“

Ich hätte den Kerl niederboxen mögen. Aber – was blieb mir anderes übrig als die Knoten der beiden Taschentücher zu lösen, die wir ihm um die Handgelenke geschlungen hatten.

Dann holte er dünne Hanfleinen herbei und … fesselte erst mich, nachher auch Harald.

Wir standen jetzt wehrlos inmitten dieses Teiles der Höhle, der notdürftig als Wohngemach ausgestattet war.

„Fred, beeile Dich und sieh nach Edward und Robb,“ befahl Bill seinem Gefährten. „Oder – halt, – laß es bleiben. Wir tun klüger, sofort zu verschwinden. Die Schüsse in der Hürde können gehört worden sein, und der tote Gaul und das tote Känguruh dürften uns dann nur zu rasch ein paar schwarze Spürnasen an die Fersen heften. – Hierher, Fred, hilf mir, diese beiden Gentlemen auch zu knebeln und dann sorgfältig … aufzubewahren.“ – –

Fünf Minuten drauf waren wir allein …

Allein in trüber Dämmerung … Ein ganz schwacher Schimmer des Tageslichts drang durch den Höhleneingang bis zu der mit teuflischer Bosheit ersonnenen Pyramide hin, auf der wir, wehrlos und unfähig uns bemerkbar zu machen, um unser Leben … balancierten …

Richtig balancierten …!

Denn diese aus dem rohen Holztisch, den Schemeln und zwei Kisten hergestellte Pyramide war so aufgebaut worden, daß wir, ganz oben auf einer Kiste sitzend, den Turm ins Wanken brachten, wenn wir auch nur eine hastige Bewegung machten.

An sich hätte ja der Zusammenbruch dieses Gebildes uns kaum viel geschadet. Wir wären mit ein paar blauen Flecken davongekommen. Aber – und das war ja eben das Satanische dieser unserer Aufbewahrung! – aber – um unsere Hälse lagen Hanfschlingen, die oben an der Höhlendecke an ein paar Steinzacken befestigt waren.

Verloren wir also das Gleichgewicht, so drohte uns ein erbärmliches Ende: wir mußten in den Schlingen ersticken! –

Mir lief der Schweiß in Strömen von der Stirn. Beizend fanden die salzigen Tropfen ihren Weg bis in die Augen. Ich mußte sie schließen. Sie brannten mir bald wie Feuer.

Dabei war irgendeine Verständigung zwischen Harald und mir völlig unmöglich. Die Knebel, die man uns in den Mund geschoben hatte, waren im Genick sorgfältig festgebunden.

Ich rührte mich nicht. Ich überließ es Haralds überlegener Gewandtheit, uns in Balance zu halten.

Der scheußliche Turm schwankte zuweilen recht bedenklich. Woran das lag, konnte ich nicht feststellen. Mir schien es jedoch, als ob Harst bereits an unserer Rettung irgendwie arbeitete.

In der Höhle herrschte Totenstille. Daher vernahm ich auch immer deutlicher neben mir ein Geräusch, als ob jemand mit aller Kraft etwas zu zerkauen sucht: Harald wollte den Knebel loswerden!! –

So vergingen endlose – endlose Minuten …

Dann … von draußen her Stimmen …

Wahrhaftig: Stimmen!!

Das war kein anderer als Chester Dolling, der da soeben rief:

„Es ist ausgeschlossen, daß einem Fremden die Höhle bekannt sein kann, Mr. Goddlepy. Kehren wir um …“

Und dann des Melbourner Kollegen helleres Organ:

„Aber die Spuren hier – – diese frischen Spuren!“

Jetzt riß ich doch die Lider auf …

Wir saßen mit dem Gesicht nach dem Eingang hin.

Ich sah zwei Gestalten in dem Felsengang erscheinen, sah, daß Dolling den kleinen Goddlepy energisch zurückdrängte und wütend rief: „Verdammt, ich habe einen Widerwillen gegen diese Grotte! Warten Sie …!!“

Dann brüllte er in das Dunkel hinein:

„He – ist dort jemand?!“

Oh – es war schon jemand da!! Sogar zwei Menschen, die bereits mit einem Fuß über dem Grabe schwebten, – zwei, die sich nicht melden konnten, die auch vom Höhleneingang her nicht zu bemerken waren …

Ich wurde unruhig …

Ich machte den Versuch, wenigstens irgendeinen Laut aus dem verstopften Munde hervorzustoßen …

Und – – fühlte mit einem Male, daß die Pyramide nach hinten schwankte, fühlte, daß Harald durch eine hastige Körperbewegung das Unheil abwenden wollte, daß … diese Bewegung schlecht berechnet gewesen und … der ganze Bau nach vorwärts ins Rutschen kam …

Hörte das Poltern der herabfallenden Schemel, glitt abwärts …

Ein Ruck am Halse … ein siedend heißes Rieseln über den Leib … ein Donnern und Tosen in den Ohren, als ob mir das Trommelfell platzen sollte …

Dann … dann ein fast wohliges Empfinden, jenes selbe Empfinden, das Ertrinkende haben, bevor völlige Bewußtlosigkeit eintritt.

Und dann – nichts mehr …

Nichts …

Bis wie aus endlosen Fernen eine Stimme in mein Ohr drang – Haralds Stimme:

„Holla – er atmet schon! Er mit seinem größeren Körpergewicht war schlechter daran als ich. Die Schlinge hat sich fester zugezogen, und die Blutstauung …“

Mehr verstand ich nicht.

Doch zehn Minuten drauf saß ich schon aufrecht im dürren Grase im Schatten des Buschwerks unweit des Höhleneingangs.

Harald stütze mich …

„Alterchen, das war ein ziemliches Risiko, nicht wahr?!“ meinte er frohgemut. „Aber, was blieb mir anderes übrig?! Ich mußte doch irgendwie Mr. Dolling beweisen, daß tatsächlich jemand in der Grotte weilte.“

Die letzten Sätze sprach er in ganz anderem Tone, der mich sofort aufhorchen ließ. Meine Blicke wanderten zu dem Großzüchter hin, der vor uns an einen jungen Grasbaum lehnte. Und neben Chester Dolling wieder stand ein Mann, der mit dem Kollegen Goddlepy auch nicht die allergeringste Ähnlichkeit hatte: ein grauhaariger, bärtiger Alter, sonnverbrannt, in die Tracht der australischen Farmaufseher gekleidet …

Dollings finsteres Gesicht hatte jetzt einen geradezu lauernden Ausdruck, als er hastig erklärte: „Ich … ich habe nun mal einen Widerwillen gegen die Höhle, Mr. Harten. Deshalb wollte ich sie nicht betreten.“

Harald erhob sich aus seiner knienden Stellung. Er merkte, daß ich keine Stütze mehr brauchte.

„Wenn Sie die Grotte meiden wollten, Mr. Dolling, – nun gut!“ sagte er scharf und fast unfreundlich. „Weshalb ließen Sie jedoch Mr. Goddlepy nicht hinein? – Würden Sie mir nicht diese Frage einmal beantworten wollen?!“

Goddlepy nickte. „Ja – antworten Sie,“ sagte auch er recht strengen Tones. „Ihr Benehmen war ja überhaupt reichlich merkwürdig, Mr. Dolling.“

Dolling schoß das Blut in die Wangen.

„Ha – sind Sie etwa hier meine Richter?!“ rief er gereizt. „Ich habe es nicht nötig, Ihnen irgendwelche Erklärungen abzugeben – durchaus nicht nötig! Sie werden sich schon mit dem begnügen müssen, was nun einmal die Wahrheit ist: ich … ich verabscheue diese Grotte!“

Er atmete rasch und keuchend, fügte hinzu: „Ich denke auch, daß es jetzt weit wichtiger ist, von Ihnen, Mr. Harst – Mr. Harten wollte ich sagen – zu erfahren, was in aller Welt sich hier abgespielt hat?! Denn danach werde ich meine Maßnahmen treffen, falls solche nötig sein sollten.“

Haralds graue Augen ruhten noch immer fest auf Dollings hagerem Antlitz.

„Ihre Tochter und Sannah sind von den Einbrechern, die in der Höhle schon längere Zeit hausten, entführt worden,“ meinte Harst nun sehr ernst …

Ich beobachtete den Schafzüchter …

Er schrak zusammen, er erblaßte …

„Ah – – Helen – – Helen – – entführt!!“ stammelte er. „Das – das ist nicht möglich! Das ist …“

Er schwieg …

Zwei schwarze Viehhirten waren plötzlich auf der kleinen Lichtung erschienen …

„Massa Dolling, hier eine Brief …!“ brüllte der eine atemlos. „Eine Brief von eine Massa, der mit Missus Helen und drei andere Massas geritten sein durch den noch glühenden Skrupp wie die Teufel … Haben Pferde gestohlen aus unsere Hürde, Massa, haben Punower erschossen, der ihnen wollte …“

Dolling standen dicke Schweißperlen auf der Stirn. Dolling war jetzt nur noch Vater – ein von Angst und Sorge um sein einziges Kind gepeinigter Vater …

Unterbrach den Schwarzen: „Besorgt Reitpferde hierher – Proviant, Wasserschläuche! Ich will …“

„Halt!“ meinte Harald da. „Was zur Befreiung Miß Helens getan werden muß, soll nicht übereilt werden, Mr. Dolling! Das wäre ein großer Fehler. Ob wir eine Stunde später oder früher zur Verfolgung aufbrechen, darauf kommt es nicht an.“

Goddlepy pflichtete Harald eifrig bei. So kam’s denn, daß Dolling erst einmal in Ruhe den Brief lesen mußte, den der eine der Verbrecher den schwarzen Hirten im Vorbeigaloppieren zugeworfen hatte.

 

2. Kapitel.

Die Schrift in der Asche.

Der Brief war auf zwei aus einem Notizbuch herausgerissene Seiten gekritzelt und mit Bleistift geschrieben. Der Umschlag war ein altes blaugraues Geschäftskuvert, von dem die bereits abgestempelte Marke entfernt und die erste Anschrift wegradiert war. Nun stand dort Chester Dollings Adresse, ebenfalls mit Bleistift.

Dolling wollte den zugeklebten Umschlag aufreißen. Harst bat jedoch, er möge das Kuvert sauber aufschneiden. Dann erst zog der Züchter die beiden Blätter heraus.

Und – las … las und verfärbte sich, stierte auf die Zeilen, als ob Satanas ihm daraus entgegengrinste.

Keuchend stieß er dann hervor: „Ich … ich muß einen Augenblick … allein sein, meine Herren. Entschuldigen Sie mich bitte. Ich will nur …“

Da hatte Harald ihm schon die Hand auf die Schulter gelegt. Und in einem Tone, der ebenso warm wie doch auch wieder energisch klang, sagte er rasch:

„Mr. Dolling, mit der Höhle da ist irgendein Geheimnis verknüpft. Und auf dieses Geheimnis, behaupte ich, hat Bill Jones, der Anführer dieser Verbrecher, irgendwie in dem Briefe angespielt. Weshalb wollen Sie nicht offen uns gegenüber sein?! Ich und …“

Dolling war zurückgesprungen.

Dolling hatte im Nu die beiden Blätter in den Mund gestopft, hatte uns den Rücken zugekehrt, lief nun wie gehetzt durch die Büsche davon.

Der kleine Kollege Goddlepy und ich waren so starr vor Überraschung, daß wir lediglich Harst anschauten, was der nun wohl tun würde.

Und Harald …, – Harald bückte sich, hob den zur Erde gefallenen Briefumschlag auf und sagte dann zu den ebenso verblüfften schwarzen Schafhirten:

„Boys, geht Eurem Herrn nach! Er wird Befehle für Euch haben!“

Wir drei „Leute vom Fach“ waren jetzt unter uns. Der Melbourner Kollege schüttelte heftig den Kopf und meinte:

„Teufel noch mal, Mr. Harst, dieser Dolling hat ein ebenso schlechtes Gewissen wie sein Töchterlein, die mir in der verflossenen Nacht …“

„… Geld gab, damit ich mich hier nicht einmischte,“ ergänzte Harald lächelnd. „Wir haben Miß Helen und Sie beobachtet, und Sie brauchen uns daher nur noch zu erklären, was Sie hierher …“

Goddlepy rief schon: „Oh – zu erklären ist da nicht allzu viel, bester Mr. Harst. Als Miß Helen mich so inständig bat, nach Melbourne zurückzukehren, weil ich ihr sonst namenlosen Kummer bereiten würde, da war ich sofort entschlossen, in der Maske eines stellenlosen Farmaufsehers New-London zu besuchen. Ich langte auf Dollings feudalem Herrensitz vor zwei Stunden an. Schüsse lockten uns dann hierher. Wir fanden das tote Lieblingskänguruh Miß Helens und das erschossene, gesattelte Pferd, fanden allerlei Fährten und …“

„Danke, Mr. Goddlepy. – Ich schlage vor, wir untersuchen jetzt erst einmal gründlich die Höhle bis zu ihrem anderen Eingang. Die schwarzen Schafhirten erwähnten nur, daß Helen von den Verbrechern entführt sei. Sannah erwähnten sie nicht. Ich fürchte, daß die Schufte die alte Negerin für alle Zeit stumm gemacht haben. Beeilen wir uns.“ –

Wir nahmen Laternen aus dem Wohnraum der Höhle. Es waren noch vier Stück vorhanden. Wir traten so bei genügender Beleuchtung die hastige Wanderung durch die ausgedehnte Grotte an.

Harald ging voran. Er wollte feststellen, ob nicht etwa einer der Banditen abgebogen sei, ob es hier nicht Nebenhöhlen gäbe, die vielleicht dasjenige bargen, was zu Chester Dollings Geheimnis in engster Beziehung stand.

Doch – die undeutlichen Spuren liefen ohne jede Abzweigung bis zum zweiten Eingang, bis zu jener Felsanhäufung, in der durch die stinkenden Schwaden die alte Negerin den Weg bis zu uns gefunden hatte.

Und hier – hier, wo die greise Schwarze uns vor dem Flammentode gerettet hatte, wo die Felsen mit heißer Asche handhoch bedeckt waren, wo der glühende Atem der in der Ferne weiterlohenden Skrupps uns drohend entgegenschlug, hier – – lag Sannah mit einem Messerstich im Herzen zwischen den Steinen …

„Bestien!“ murmelte Harst …

Und Goddlepy rief: „So wahr ich schon acht Mördern zum Galgen verholfen habe: diese Schufte sollen ebenfalls baumeln, und wenn ich …“

Er stutzte …

Er sah, daß Harald den graublauen Briefumschlag aus der Tasche gezogen hatte und die Rückseite schräg gegen die Sonne hielt.

„He – was haben Sie, Mr. Harst?“ fragte er gespannt.

„Oh – nichts Besonderes. Bill Jones hat den Umschlag beim Schreiben des Briefes als Unterlage benutzt, und ich kann, da sich die Schrift durchgedrückt hat, folgendes entziffern:

Mr. Dolling!

Mein Name ist Bill Jones. Ich hatte mich schon in Dublin an Ihr Töchterlein herangemacht und mich mit ihr heimlich verlobt. Helen meinte, daß Sie die Engländer jedoch derart haßten, daß wenig Aussicht bestände, Ihre Einwilligung zu einer Heirat zu erhalten. Ich bin daher vor zwei Monaten nach Australien gekommen, um Helen wiederzusehen und Sie, Mr. Dolling, etwas zur Ader zu lassen. Helen hatte mal den Schlüssel zum Tresor bei sich, als wir uns trafen. Da nahm ich denn insgeheim einen tadellosen Wachsabdruck und …“

„Hier fehlt ein Stück,“ warf Harald ein. „Der Schluß des Briefes lautet:

Sie werden also die verlangte Summe nach drei Tagen nachts in der Höhle an jener Stelle niederlegen. Andernfalls wird Helen New-London nicht wiedersehen. Wie Sie die drei Schnüffelnasen wegschicken, ist Ihre Sache. – Bill Jones.“

Der kleine Kollege Goddlepy hatte die wenig schöne Angewohnheit, den Mund stets halb offen zu behalten und so seine schräg nach vorn stehenden mächtigen Vorderzähne allzeit zu entblößen.

Dieser Mund war jetzt, als Harald nun den durchgedrückten Brief (der natürlich englisch geschrieben war) vorlas, immer weiter aufgegangen, – sozusagen ruckweise. So sehr interessierte der Inhalt den Melbourner „Schnüffler“.

Goddlepy wirkte mit dieser von Natur schon recht ansehnlichen Mundöffnung jetzt derart komisch, daß ich trotz der düsteren Umgebung und trotz der Nähe der armen toten Sannah kaum ernst bleiben konnte. Rasch wandte ich den Kopf zur Seite, um das übermächtig heraufziehende Feixen zu verbergen. –

Kleinigkeiten sind’s, die Großes ins Rollen bringen. So auch hier. Mein Blick fiel nun auf die Leiche der Negerin, und im Moment hatte ich Goddlepys seltsames Clownsgesicht vergessen, starrte dafür wie gebannt auf die glatte graue Aschenfläche, die sich neben der Toten meterweit hinzog – wie eine Schiefertafel …

Ich hörte kaum hin, daß Goddlepy jetzt freudig rief:

„Dann brauchen wir die Schurken ja gar nicht mehr zu verfolgen, Mr. Harst! Sie wollen doch von Dolling offenbar noch Geld erpressen, und …“

So weit verstand ich, was der Kollege als billige Weisheit heraustrompetete …

Dann – tat ich fast mechanisch drei – vier Schritte vorwärts …

Und – – bückte mich – bückte mich immer tiefer …

War innerlich sehr stolz darauf, daß ich hier etwas entdeckt hatte, das Harald entgangen war.

Denn – in der Oberfläche der glatten Aschenschicht dicht neben der Negerin waren verschiedene Striche, Bogen, Häkchen zu erkennen.

Man sah sie nur, wenn man in einem bestimmten Abstand und in einem bestimmten Winkel diese graue Tenne betrachtete.

Striche, Bogen, Häkchen: plumpe lateinische Buchstaben waren’s, ohne Zweifel von Sannah mit dem Zeigefinger in die Oberfläche der Aschendecke hineingemalt …

Ohne Zweifel …!!

Und – daher wichtig, daher … – –

Ja – hinter mir jetzt leider Haralds Stimme, kühl, gleichmütig, für mich ein eisiger Wasserguß auf meinen Entdeckerstolz:

„Mit den vier Wortfragmenten wird sich schwer etwas anfangen lassen, mein Alter …“

Ich fuhr hoch, drehte mich um …

Goddlepys Unterkiefer reckte sich vor Staunen wieder abwärts …

„He – was soll das?“ meinte er dann mißtrauisch. Er glaubte, Harst hätte ihm aus dem Briefinhalt einiges verschwiegen.

„Nur die in die Asche eingezeichneten Worte stehen hier zur Erörterung,“ erklärte Harald und nickte dem Melbourner zu. „Bitte – versuchen Sie die Buchstaben nur zu entziffern. Sie werden auch nichts anderes herausbringen als ich, nämlich:

Mass zweit Missu ha,

was doch keinerlei Sinn ergibt.“

Goddlepys Spürsinn war angefacht worden. Mit einem Satz schnellte er sich neben die Tote …

„Wahrhaftig, Mr. Schraut, das kann nur Sannah noch …“

Er ließ sich nicht Zeit, das Begonnene zu beenden. Er buchstabierte ganz laut:

„M…a…ss… – Mass…! – Das soll ohne Frage Massa heißen!“

„Glänzend!“ lobte Harald. „Weiter …!“ – Die Ironie entging dem kleinen Kollegen.

„Hm – dann kommt …z…w…ei…t – zweit. Vielleicht bedeutet das „zweiter“, und Missu als Abkürzung von Missus, Frau, Fräulein, wird vielleicht …“

„Hm – so viele … „Vielleicht“, Goddlepy!“ warf Harst ein. „Da werden wir nicht klüger. Ich denke, wir kehren besser durch die Höhle nach New-London zurück. Hier gibt es im Augenblick doch nichts für uns zu tun.“

Ich hatte das deutliche Empfinden, daß Harald für die vier Worte bereits eine einleuchtende Erklärung gefunden hatte, daß er uns diese Erklärung aber absichtlich verschwieg.

Ich schaute ihn forschend an. Goddlepy stand noch tief gebückt da.

Und – Harst blickte auch mich an …

Seine Augen waren groß und strahlend. Sein Gesicht war wie übergossen von der frohen Genugtuung, nunmehr den Rätseln dieser Tage dicht auf der Spur zu sein … –

Geräusche aus dem nahen Höhleneingang, dem Felsloche, ließen mich eine schnelle Wendung machen.

Chester Dolling, der Großzüchter, erschien …

 

3. Kapitel.

Schritte über mir.

Harald benahm sich recht merkwürdig.

„Schweigen Sie!“ raunte er Goddlepy zu, ging um die Tote im Bogen herum, stapfte durch die Aschenfläche und zerstörte so das Wenige, was von Sannahs letzten Aufzeichnungen überhaupt sichtbar gewesen.

Dolling trat verlegen näher. Er hatte sich inzwischen wohl überlegt, daß er uns dreien gegenüber sein Verhalten von vorhin irgendwie rechtfertigen müßte. Und er begann denn auch sofort:

„Mr. Harst, Sie dürfen es mir nicht verargen, daß ich Ihnen den Brief jenes Schurken auf diese etwas eigentümliche Weise entzog. Meiner Tochter Leben steht auf dem Spiel. Ich bitte Sie daher auch, nicht weiter nach dem Inhalt jenes Schreibens zu forschen und überhaupt diese Angelegenheit ruhen zu lassen.“

Sein Blick war dabei unverwandt auf die Leiche der Negerin gerichtet.

Nach kurzer Pause fügte er hastiger hinzu:

„Fanden Sie Sannah noch lebend vor?“

Diese Frage war äußerst verdächtig. Sie klang nicht anders, als befürchtete er, die Alte könnte uns noch irgendwelche Mitteilungen gemacht haben, die ihm recht peinlich gewesen wären.

Harald erwiderte denn auch doppelsinnig:

„Was Sannah noch auf dem Herzen hatte, war unverständlich.“

„Ah – sie lebte also wirklich noch?“ rief Dolling erschrocken.

Harst blieb sekundenlang stumm.

„Sie war tot, Mr. Dolling,“ sagte er dann. „Sie hatte dort in die Aschenschicht ein paar verstümmelte Worte hineingemalt, die wir nicht entziffern konnten.“

Der Schafzüchter atmete sichtlich erleichtert auf.

„So … so … – Es wird ja auch nichts von Bedeutung gewesen sein,“ meinte er. „Wenn die Herren nun mit mir den Rückweg antreten wollen … Ich werde vorangehen.“

Das war für uns ein Wink, der hieß: Laßt jetzt die Finger fernerhin von diesen Dingen weg!

Und Harald nickte denn auch: „Ja, gehen wir. Ich … habe Hunger.“ –

Schweigend passierten wir die ausgedehnte Grotte.

Erst als wir die Hürde des Lieblingskänguruhs Helen Dollings erreicht hatten, als wir an den Kadavern des großen Beuteltieres und des toten Reitpferdes vorüberkamen, blieb Chester Dolling plötzlich stehen.

„Weshalb haben Sie eigentlich das Känguruh erschossen, Mr. Harst?“ fragte er. „War das denn unbedingt nötig? Helen wird sehr unglücklich sein. Sie liebte das zahme Tier über alles. Sie hat es …“

Harald unterbrach ihn.

„Darüber sprechen wir später.“ Das klang recht gleichgültig. „Ich bin ziemlich erschöpft. Die letzten Stunden haben denn doch Anforderungen an unsere Nerven gestellt, die man besser auf mehrere Tage verteilt.“

Er schritt weiter der Umzäunung zu. –

Als wir das feudale Wohngebäude erreicht hatten, war ich recht erstaunt, daß Dolling im Speisesaale die Tafel wie gewöhnlich hatte decken lassen. Helens Entführung schien ihm also nicht sehr nahe zu gehen.

Oder – – rechnete er so bestimmt damit, daß er sein einziges Kind wohlbehalten wiedersehen würde?! War er bereits fest entschlossen, Helen aus der Gewalt der Verbrecher loszukaufen?!

Noch seltsamer zeigte er sich bei Tisch.

Schwersten französischen Burgunder setzte er uns vor, trank selbst am meisten, erwähnte die Vorgänge des Tages mit keiner Silbe mehr und … lohnte nachher den kleinen Melbourner Kollegen aufs großartigste ab, überreichte ihm einen Scheck über eine fünfstellige Zahl und … gab ihm zu verstehen, daß er auf Goddlepys weitere Anwesenheit hier keinerlei Gewicht lege.

Goddlepy war nicht empfindlich. Der Scheck machte alles gut. Nachmittags gegen fünf Uhr holte er sein Motorrad aus dem Kleinbahnschuppen und verabschiedete sich.

Dolling ließ uns drei bis dahin nicht eine Sekunde allein. So konnte Goddlepy denn auch Harst und mir nur bei guter Gelegenheit zuflüstern:

„Nachts zwölf Uhr – bei dem Schuppen!“

Er wollte uns also noch sprechen. Und das war ihm nicht zu verargen.

Knatternd sauste er nun die Straße gen Süden davon, entschwand unseren Blicken …

Und gähnend meinte Harald zu Chester Dolling:

„Schraut und ich wollen uns jetzt eine Stunde niederlegen. Sie entschuldigen uns, Mr. Dolling.“

„Aber gewiß, gewiß … Nur – nur habe ich Sie beide umquartiert, meine Herren. Ich brauche den Raum neben meinem Arbeitszimmer, da ich …“ – er zögerte, überlegte – „da ich mein Privatbureau vergrößern muß.“

Lächerlich faule Ausrede das!! Bureau vergrößern!! – Ich war wütend, daß Dolling uns so gering eintaxierte! Hoffte er, wir würden den Schwindel nicht durchschauen?!

Da fuhr er schon fort: „Leider muß ich Ihnen einzelne Zimmer anweisen, die getrennt im zweiten Stock liegen. Es ließ sich wirklich nicht anders einrichten.“

„Oh – das macht nichts!“ gähnte Harald lächelnd. „Ich schlafe auch lieber allein.“

Dolling führte uns nach oben.

Allerdings – unsere Zimmer waren sogar durch die ganze Länge des Hauses getrennt! Das meine lag im rechten Seitenflügel! Und dasjenige Haralds nach Norden zu im linken Seitenflügel!

Dafür waren die Räume aber auch sehr behaglich. Harst lobte all diese Kulturbequemlichkeiten, lobte die prächtigen Betten, die praktischen Gummibadewannen und die schöne Aussicht.

Und doch: seine Liebenswürdigkeit gegenüber Chester Dolling, diesem alles in allem recht fragwürdigen Herrn, war äußerst verfänglich. Es war ein Zuviel dabei – ein Übermaß von gut gespielter Harmlosigkeit!

Dolling merkte nichts. Er taute jetzt geradezu auf, wurde außerordentlich gesprächig und beinahe vergnügt. Er glaubte wohl, uns mit diesem Quartierwechsel ganz nach Wunsch „eingewickelt“ zu haben.

Dann verabschiedete er sich von Harald und geleitete mich wieder in mein Zimmer hinüber. Auch das schien mir Absicht zu sein. Er wollte nicht, daß wir allein miteinander blieben und noch unsere Ansichten über dies und jenes austauschen könnten.

Ich hatte eigentlich erwartet, daß Harst sehr bald, nach dem Dolling mich verlassen, bei mir erscheinen würde. Ich legte mich daher auch an das eine Fenster in den bequemen Korbsessel und[3] zündete mir eine Zigarre an. – In dem großen Gebäude herrschte Totenstille. Es wurde ja überhaupt von so wenigen Menschen bewohnt, daß diese sich in all den Räumen völlig verloren.

Ich saß regungslos da und ließ nun die Ereignisse der letzten Stunden langsam nochmals vor meinem inneren Auge aufleben. Immer klarer wurde mir so, daß Harald und ich im Mittelpunkt von Geheimnissen ständen, die für Chester Dolling zum mindesten recht unangenehm werden mußten, falls sie aufgedeckt würden. Sein Widerwillen gegen die Höhle, die Flucht mit dem Briefe, den er sich in den Mund gestopft hatte, seine Angst, daß Sannah noch irgend etwas ausgeplaudert haben könnte, – all das sprach nur zu sehr gegen ihn!

Da – mit einem Male wurde der Faden meiner die ganzen Vorgänge prüfenden Gedanken lockerer und lockerer.

Meine Aufmerksamkeit war allmählich, zunächst mir selbst noch halb unbewußt, durch ein gleichmäßiges leises Geräusch abgelenkt worden …

Es war ein dumpfes Tappen – etwa wie die Schritte eines ruhelos hin und her wandernden Menschen, der ohne Unterbrechung auf weichen Schuhen in einem Zimmer auf und ab geht.

Ich begann zu lauschen …

Es war schwer festzustellen, woher diese Geräusche kamen. Bald schien es mir, daß sie aus einem Nebenraume herüberklängen, bald wieder machte es den Eindruck, daß sie über mir entständen.

Dieses leise Tappen ferner Schritte – falls es eben wirklich Schritte waren! – regte meine ohnedies lebhafter noch als sonst arbeitende Phantasie derart an, daß ich schließlich nur noch darüber nachgrübelte, welcher Art diese Geräusche sein könnten.

Ich lauschte noch angestrengter.

Dann – ja, das war das Knarren einer Diele über meinem Zimmer gewesen! Ein Knarren, das mit dem dumpfen langsamen Tapp – Tapp – Tapp – zusammenhing …

Über mir – –!! Über mir – –!!

Aber – dort war doch nur der Bodenraum. Dort war nicht einmal die Dienerschaft untergebracht. Das wußte ich genau.

Und doch: dort ging ein Mensch hin und her – ohne Pause, gleichmäßig, ruhelos … –

Wieder knarrte die Diele …

Ich schaute zu der weißgetünchten Decke empor.

Wer in aller Welt konnte da oben hausen – da oben in der Glut unter dem Schieferdach?!

Wer – – wer?

Dann – ein jäher Verdacht trieb mich aus dem Sessel hoch …

Wenn – wenn Dolling dort vielleicht irgend jemand gefangen oder verborgen hielt?! Gerade hier über dem Seitenflügel würden ja fraglos nur Bodenräume liegen, die selten oder nie benutzt wurden!

Und diese Vermutung war’s, die mich nun veranlaßte, Harald sofort aufzusuchen. –

Um nicht vom Flur durch das Schlüsselloch etwa beobachtet zu werden, hatte ich den vor dem Bett stehenden Wandschirm so zur Seite gerückt, daß er die Tür und auch meinen Fensterplatz verdeckte.

Ich erhob mich. Eine halbe Stunde mochte es jetzt her sein, daß Dolling mir angenehme Ruhe gewünscht hatte und davongegangen war. – Leise schritt ich zur Tür. Ich hatte sie nicht verriegelt. Ich streckte gerade die Hand nach dem Drücker aus, als sie plötzlich geöffnet wurde …

Harald stand vor mir, – – legte rasch den Finger auf die Lippen und schlüpfte zu mir herein, drückte die Tür ins Schloß und flüsterte:

„Dolling hat bis vor kurzem im Hauptflur aufgepaßt, ob wir einer den andern besuchen würden.“

Ich nickte nur. Und – – deutete nach oben, zur Zimmerdecke …

Harald wurde aufmerksam, horchte …

„Schritte!“ meinte er leise.

„Ja – seit einer halben Stunde ohne Unterlaß. Vielleicht – – ein Gefangener Dollings!“ – Und ich kam mir in diesem Moment äußerst geistvoll vor …

 

4. Kapitel.

Die zweite Missus.

Harst schaute mich kopfschüttelnd an. „Schwerer logischer Fehler, mein Alter!! Dolling würde Dich doch niemals unter diesem Gefangenen einquartiert haben, hätte doch mit der Möglichkeit gerechnet, daß Du den ruhelosen Wanderer hören könntest!“

Ein Lächeln umspielte seinen Mund.

„Trotz Deiner verfehlten Kombination ist mir dieses Tapp-Tapp da oben äußerst wertvoll,“ fügte er hinzu. „Es ist der Beweis, daß ich mir Sannahs Ascheninschrift richtig erklärt habe. Das heißt nichts anderes, als: dort über diesem Zimmer haust tatsächlich ein Gefangener! Aber – kein Gefangener Dollings. Nein – ein freiwilliger Gefangener hält sich dort verborgen.“

„Ah – und wer?“ fragte ich begierig.

„Das – wirst Du sehen – – in der kommenden Nacht …! – Ich will sofort in mein Zimmer zurück. Ich wollte Dich nur warnen, nichts zu trinken, was Dolling uns etwa um sieben Uhr, wo wir doch geweckt zu werden wünschten, als Erfrischung durch einen der schwarzen Diener schickt. Ich nehme bestimmt an, daß er es tun wird. Es hängt das mit Bill Jones’ tadellos ersonnenem Trick zusammen, den Dolling seinerseits noch unterstützen möchte.“

Zum ersten Male sprach Harald in diesem Moment von … Bill Jones’ Trick. Zum ersten Male – und für mich völlig überraschend.

„Trick – Trick?!“ meinte ich verständnislos.

„Ja – der Briefumschlag, mein Alter, – der Umschlag mit der durchgedrückten Schrift …! – Aber, – genug jetzt davon … Ich muß in mein Zimmer zurück. Schickt Dolling Dir also ein eisgekühltes Getränk, dann gieße es heimlich in den Toiletteneimer, lege Dich wieder auf das Bett und spiele den abermals fest Eingeschlafenen.“

Ich verstand …

„Ah – ein Schlafmittel …!“ flüsterte ich. „Und – wozu das alles?! Wozu?!“

„Des – – Tricks wegen – –! Auf Wiedersehen, – wahrscheinlich in der Nacht gegen elf!“

Er verschwand. – –

Und alles kam so, wie er es vorausgesagt hatte – – alles …

Um sieben Uhr erschien ein Diener mit einem Teebrett, darauf stand ein Glas … Eislimonade.

Ohne Zweifel hätte ich das kühle Getränk mit Behagen geschlürft, wenn ich eben nicht vorher gewarnt worden wäre.

Eine halbe Stunde drauf, als ich scheinbar im festesten Schlafe dalag, schlich … Chester Dolling herein, nachdem er mehrmals kräftig geklopft hatte. Dann hörte ich ihn mit sich selber sprechen …

„Oh – das genügt bis morgen früh …! Und – alles ist vorüber …! – Mein Gott, mein Gott – weshalb nur diese Prüfungen?!“ Das klang wie der Verzweiflungsschrei einer gemarterten Seele. „Habe ich denn nicht schon damals genug zu tragen gehabt?! Mußte all das wieder aufleben?!“

Er stand noch eine Weile neben meinem Bett. Dann entfernte er sich. Die Tür fiel ins Schloß.

Aber – Dolling hatte vorher den Schlüssel von innen abgezogen, schloß nun von außen ab, schloß mich ein und nahm den Schlüssel mit.

Ich setzte mich aufrecht. Der Wandschirm stand noch genau so wie vorhin. Ich konnte durch das Schlüsselloch nicht beobachtet werden. – Und ich saß da und grübelte und grübelte. Ich tat dies mit vollem Recht. Dollings leises Selbstgespräch war für mich wie ein Faustschlag gewesen, der eine Reihe geordneter Dominosteine in Verwirrung bringt. Denn: das, was er da soeben vor sich hingeredet hatte, war ja tatsächlich wie ein qualvoller Seufzer eines schwer bedrückten Herzens gewesen. Und ich – ich hatte den Großzüchter jetzt nach Haralds letzten Andeutungen im Verdacht gehabt, womöglich selbst ein … Verbrecher zu sein, der mit Bill Jones im Bunde stände! Denn zu dieser Annahme paßte ja am besten die Tatsache, daß Dolling die Höhle nicht hatte betreten wollen, daß er sogar den kleinen Goddlepy so energisch von dem Höhleneingang weggedrängt hatte, als ob er wüßte, daß wir beide dort auf der schwankenden Pyramide als Todeskandidaten säßen!

Und nun – nun hatte ich von Chester Dolling wieder einen ganz anderen Eindruck gewonnen! Nun bemitleidete ich ihn fast. Er konnte kein verworfener, schlechter Mensch sein! –

Meine Gedanken wandten sich dann meiner augenblicklichen Lage zu, denn – weiter noch über Bill Jones’ Trick nachzusinnen und über all die dunklen Punkte dieser Geschehnisse, war ja zwecklos. Nur eines Harald Harst glänzende Geistesgaben konnten sich aus alledem einen Vers machen, nicht die meinen.

Ich war eingeschlossen. Das wollte nicht viel besagen. Ein Patentdietrich lag in meinem Koffer.

Aber – sollte ich hier im Zimmer warten, bis Harald käme?! Sollte ich ihm nicht lieber schleunigst mitteilen, was ich nunmehr von Dolling hielt?!

Ich entschloß mich zu warten – bis neun Uhr. Dann wurde es dunkel. Dann …

Ah – da abermals über mir die Schritte, die bisher verstummt gewesen …

Und – – abermals gleichzeitig an der Tür leise Geräusche. Es kam jemand. Ich warf mich auf das Bett, nahm die vorige Stellung wieder ein. – Die Tür ging leise auf, wurde von innen wieder verschlossen.

Nun – Schritte über mir – – und Schritte hier im Zimmer. Ein Korbsessel knarrte unter dem Gewicht eines Menschen, der sich hineinsetzte. Dann – – nach einer Weile spürte ich Zigarettenrauch! Das war Haralds Mirakulum – unverkennbar an dem süßlichen Geruch. Ich blinzelte durch die Augenwimpern … Ich sah Harst gemütlich am Tische sitzen …

„Du kannst getrost aufstehen, mein Alter,“ sagte er ziemlich laut. „Dolling glaubt, uns bis zum Morgen eingeschläfert zu haben. – Hm – da geht ja der Gefangene schon wieder auf und ab. Ich denke, wir sehen zu, daß wir jetzt schon seine Bekanntschaft machen …“ –

Zehn Minuten drauf standen wir vor der Tür eines Bodenverschlages, der über meinem Zimmer lag. Die feste Bretterwand des Verschlages hatte man offenbar von innen mit Decken behängt, um den Schall zu dämpfen. Das Vorlegeschloß war ein gutes Patentschloß. Harald brauchte fünf Minuten, bevor er es geöffnet hatte. – In dem Verschlage herrschte Totenstille. Als nun die Tür aufging, sahen wir im rötlichen Abendlicht, das durch ein großes schräges Dachfenster hereinfiel, ein behaglich ausgestattetes Stübchen, sahen, daß die Wände mit hellgrauen Decken förmlich gepolstert waren und daß – – sich niemand hier befand. Aber in der heißen Luft schwebte ein zarter Parfümgeruch, und der Waschtisch wies eine ganze Batterie Fläschchen, Büchsen und andere Dinge auf, wie sie nur eine Dame benutzt.

Zu meiner namenlosen Überraschung sagte Harald dann mit erhobener Stimme: „Miß Dolling, bitte, verlassen Sie Ihr Versteck. Wir sind die beiden Deutschen, von denen Sannah Ihnen doch fraglos erzählt hat.“

Da – ging die Schranktür auf … – Ein junges, blondes Weib, gekleidet in einen ganz leichten weißen Morgenrock, stieg etwas verlegen aus dem Schranke heraus, – ein junges Mädchen, dessen Gesicht noch die großen, abgeblaßten Narben vieler Brandwunden erkennen ließ.

 

5. Kapitel.

Helen ... Jones.

Selbst auf die Gefahr hin, daß der geneigte Leser und die schöne Leserin mir grollen, weil ich hier nun die nächsten Stunden überspringe und meine Schilderung erst mit der Mitternachtstunde wieder beginne und somit vorläufig verschweige, wer diese Miß Dolling nun eigentlich sein mag, die Harald aus dem Schranke hervorzauberte, – selbst auf diese Gefahr hin zeige ich Ihnen, verehrteste Verehrer Harald Harstscher Abenteuer, jetzt Chester Dolling, der in seinem Arbeitszimmer vor dem großen Schreibtisch zusammengesunken dasitzt und bei weit geöffnetem linken Fenster des öfteren in die Nacht nach draußen hin aufhorcht, ganz so, als ob er auf jemand wartete.

Wir drei aber, Helen Dolling mit den Brandnarben, Harst und ich, waren bereits eine Stunde lang nebenan in dem kleinen Raume versteckt, den der Leser schon kennt. Wir hatten in die Tapetentür drei Löcher gebohrt und konnten Chester Dolling daher mühelos im Auge behalten. – Harald hatte weder mir noch der jungen Dame, die genau so hieß wie die andere blonde Tochter Dollings, auch nur im geringsten angedeutet, was sich in dieser Nacht ereignen würde.

Als ich jetzt merkte, daß Dolling jemand erwartete, als er nun sogar aus einem Geheimfach seines Schreibtisches ein dickes Bündel Banknoten herausnahm, da kam auch mir die Erleuchtung: Bill Jones würde hier heute erscheinen und sich das Lösegeld für die andere Helen abholen! Und – dieser Bill Jones hatte, um Harst zu täuschen, den durchgedrückten Brief künstlich hergestellt, damit wir ihm nach drei Tagen – – in der Höhle auflauern sollten – natürlich umsonst! – Ich hatte den Trick jetzt durchschaut. Und – der Trick war nicht schlecht, keineswegs! Ein anderer wäre auch wohl darauf hineingefallen. Harst nicht.

Und dennoch: was half mir diese Schlauheit?! Nur allzu viel blieb noch genau so rätselvoll wie bisher. –

Dolling erhob sich, trat an das offene Fenster. Und im selben Moment öffnete Harald die Tapetentür – nur daumenbreit.

„Die Haustür ist nur angelehnt,“ rief der Züchter leise hinaus. „Harst und Schraut habe ich Ihrem Wunsche gemäß betäubt. Mein Ehrenwort, daß ich nicht lüge.“

Und drei Minuten später betraten Helen, die Helen mit den schlanken Fingern, und der schlanke, stattliche Bill Jones das Zimmer.

Dolling hatte schon vorher das Fenster geschlossen, die Vorhänge zugezogen und noch die elektrische Krone eingeschaltet.

Die befreite Helen sank ihrem Vater mit einem Jubelruf an die Brust. Jones stand, in der Rechten eine Repetierpistole, gleichgültig an der Tür.

„Her mit dem Gelde, Mr. Dolling,“ sagte er nun schroff. „Ah – da liegen die Lappen ja schon bereit. Übrigens – wie wär’s, wollen Sie mir die Juwelen nicht abkaufen?! Für 50 000 Pfund sollen Sie sie haben!“

Dolling hatte ihm das Paket Banknoten schon gereicht. Mit der Linken zog Jones nun den Beutel mit den Edelsteinen aus der Tasche. „Da sind sie, Mr. Dolling. – Wie wär’s mit dem Handel?!“

Der Großzüchter zauderte. Dann aber … öffnete er abermals das Geheimfach seines Schreibtisches, entnahm ihm eine Blechkassette und schlug deren Deckel hoch.

Ein höhnisches doppeltes Auflachen Helens und Bills ließ ihn herumfahren.

Jones hatte die Pistole erhoben …

„Nun wissen wir ja endlich, wo Sie die Hauptmenge Ihres Geldes verbergen!“ meinte er ironisch. „Ja, ja, Mr. Chester Dolling, es ist ganz einträglich, wenn man wie ich eine Schwester hat, die im Alter von zwei Jahren heimlich an Kindesstatt von reichen Leuten angenommen wird, in diesem Falle von Ihnen, Mr. Dolling, ohne Wissen Ihrer Gattin, nachdem Ihre eigene kleine Helen im Buschfeuer so furchtbar zugerichtet worden war, daß Sie sie für tot in der Höhle liegen ließen und dem Himmel dankbar waren, weil gerade ein Zug Digger (Goldgräber) vorbeikam, bei dem Sie Ersatz für die kleine Tote fanden, dazu noch einen Ersatz, der der echten Helen völlig glich und Ihrer schwachsinnigen Frau ruhig als glücklich Gerettete zugeführt werden konnte! – Ja – da staunen Sie, daß ich meine Schwester mir als Verbündete gewonnen habe, nicht wahr?! Diese Schwester ist eine echte Jones! Ist mein Blut, hat es so fein verstanden, Sannah das Geheimnis zu entlocken, daß Ihr Kind deshalb nachher aus der Höhle verschwunden war, weil ein Trupp Australneger es mitnahm! – Doch – was schwatzen wir! Her mit dem Kasten, Chester Dolling! Her damit! Und – die Juwelen behalten wir natürlich auch! Wenn Sie nicht gehorchen, könnte es passieren, daß meine Pistole sich meldet! Also –!!“

Die beiden Verbrecher, dieses würdige Geschwisterpaar, standen mit dem Rücken nach der Flurtür hin. Und diese Tür hatte sich lautlos geöffnet. Der kleine Goddlepy erschien, wollte jetzt zuspringen, wollte Jones die Waffe aus der Hand schlagen, kam mit der Fußspitze unter den Teppich, stolperte, fiel halb auf Jones’ Schwester …

Jones selbst war mit einem Satz rasch ausgewichen, legte auf Goddlepy an, der durch Helen dem Großzüchter gerade vor die Füße gestoßen worden war …

„Ah – der eine Schnüffler!“ lachte Jones. „Fahr’ zur Hölle, Spion …! Genau so wie …“

Harald – – Harald feuerte eine Sekunde früher. So geschah es, daß Jones’ Kugel in die Dielen fuhr … – –

Ich habe nicht mehr viel zu berichten. Bill Jones’ Brieftrick war wirklich sein letzter Trick gewesen. Jones war tot. Seine Schwester sitzt noch heute im Zuchthaus in Melbourne. Die echte Helen, die von Harald bereits als Dollings echte Tochter an der Handform erkannt worden war, als sie damals nachts das Bild ihrer Mutter betrachtete, war von Sannah erst vor kurzem in das Schloß New-London eingeschmuggelt worden, nachdem die treue Alte gemerkt hatte, daß Helen mit den Verbrechern im Bunde stand. – Zum Schluß noch eins: Harald erschoß das Känguruh, weil er längst ahnte, daß die Beuteltasche des Tieres von Helen und Jones als Versteck für gegenseitige Zettelnachrichten benutzt wurde und weil er die Beuteltasche eines lebenden Känguruhs nicht gefahrlos hätte auf ihren Inhalt abfühlen können. Er hatte denn auch außer den Juwelen dort noch einen Zettel gefunden. Und dieser Zettel soll den nächsten Harstband einleiten.

 

Nächster Band:

Die Motorjacht ohne Namen.

 

 

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Kabels Kriminalbücher. Band 1:

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Kabels Kriminalbücher. Band 2:

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Kabels Kriminalbücher. Band 9:

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Kabels Kriminalbücher. Band 10:

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Kabels Kriminal-Bücher

Das Atlantikgespenst

Mink Tschuan

Thomas Bruck, der Sträfling

Die rote Rose

Die Schildkröte

Die grüne Schlange

Das Teekästchen

Die Todgeweihten

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Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Brühmtheit“.
  2. In der Vorlage steht: „Eure“.
  3. In der Vorlage steht: „nd“.