Harald Harst
Aus meinem Leben
Band: 203
Erzählt von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1927 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 36.
Der eingeschriebene Brief, den der Postbote am 3. August bei der ersten Bestellung meinem Freunde aushändigte, kam aus Danzig von einem Baumeister Aloysius[1] Tucholski.
„Danzig, den 1. August 192…
Hundegasse Nr. 10.
Sehr geehrter Herr Harst,
Sie gestatten, daß ich Ihnen vortrage eine geschäftliche Angelegenheit, die, wie mir scheint, geeignet sein könnte für eine kriminelle Untersuchung von jener Art, wie Sie es belieben …“
Als Harst, im Klubsessel halb liegend, so weit vorgelesen hatte, schaute er von dem mit Maschine geschriebenen Briefbogen auf und sagte:
„Herr Aloysius Tucholski ist Pole. Der Stil verräts.“
Dann las er weiter:
„Ich vertraue auf Ihre Diskretion, sehr geehrter Herr Harst, denn mir als dem Inhaber einer polnischen Baufirma könnten entstehen aus einer Verbreitung dieser meiner Anfrage viele Schwierigkeiten und Benachteiligungen.
Im April dieses Jahres kam zu mir eine reiche amerikanische Witwe, Frau Henny Garlan, und legte mir vor die Baupläne für eine Villa, die sie wollte errichtet haben auf einem Grundstück nördlich von dem Fischerorte Adlershorst an der Danziger Bucht oben auf der Steilküste.
Sie verlangte, daß würde gebaut genau nach den Zeichnungen und müßte fertig sein die Villa am 31. Juli.
Ich übernahm den Auftrag, erhielt große Anzahlung und habe gemacht ein gutes Geschäft. Gestern habe ich die Villa nebst Garten schlüsselfertig Frau Henny Garlan übergeben und erhalten die Restzahlung.
Was ich Ihnen habe gesagt bisher über dieses Geschäft, hat nichts, was Sie könnte interessieren. Aber es kommt noch. Nämlich die Baupläne, Herr Harst.
Stellen Sie sich vor eine zweistöckige Villa mit neun Zimmern und allem Komfort – allem! Aber stellen Sie sich auch vor, daß ist eingebaut worden in diese Villa fast überall Doppelwände mit achtzig Zentimetern Abstand, mit kleinen Türöffnungen, vor die Wandschränke gesetzt wurden, und mit eisernen Treppen in diesen Gängen von Stockwerk zu Stockwerk.
Denken Sie weiter, daß die reiche Dame hat von mir verlangt Verwendung von Arbeitern aus Warschau und Bezahlung der Leute dafür, daß sie nicht reden sollten über die Doppelwände und so weiter.
Ich habe alles nach dem Wunsch der Dame getan, denn sie hat so gut bezahlt, daß die Villa ihr gekostet hat beinahe eine Viertelmillion Gulden.
Gestern sind abgereist die Handwerker nach Warschau zurück, und alle haben gedrückt Frau Garlan dankbar die Hand. So viel Geld hat sie noch verteilt, was doch ist sehr auffällig.
Und gestern mittag zwölf Uhr habe ich also die Dame, die bis dahin hat gewohnt im Kurhaus in Adlershorst, in die Villa geführt und ihr die Schlüssel übergeben. Und da hat sie mir wörtlich gesagt – sie spricht gut deutsch:
‚Herr Tucholski, ich bin sehr zufrieden. Leider muß ich jetzt aber nach Chikago zurückreisen und kann nur einen Wächter in der Villa zurücklassen. Bitte beschaffen Sie noch heute (also am 31. Juli) bis zum Abend für die Pförtner-Wohnung im Erdgeschoß einfache Möbel, Bettwäsche und alles Nötige.‘
Sie hat noch mehr gesagt, aber das brauche ich hier nicht wiederholen, denn es wird genügen, wenn ich Ihnen, Herr Harst, mitteile, daß ich die zwei Stuben und die Küche bis zum Abend möbliert und alles herbeigeschafft hatte, was die Dame hatte befohlen.
In der Villa traf ich, als ich eintraf mit dem Möbelauto, einen alten Mann in einer Art Livree, der mir gab einen Brief von Frau Garlan als Beweis, daß er der Pförtner und Wächter sei – namens James Morrisson, früherer Dampfersteward, Amerikaner.
Dieser Morrisson ist ein sehr schweigsamer mürrischer Mann mit scharfen, drohenden Augen, und als die Möbel aufgestellt wurden, kommandierte er die Leute wie ein grober Feldwebel, gab nachher aber gutes Trinkgeld.
Als das Lastauto mit den Leuten war weggefahren und als ich mit meinem Auto fuhr nach Danzig, fiel mir ein, daß ich hatte liegen lassen in der Pförtnerwohnung meinen teuren Spazierstock.
Ich fuhr zurück, und ich ging bis zum Garten das letzte Stück zu Fuß. Und wie ich – war schon dunkel geworden – an die Gartenpforte kam, war Licht in der Pförtnerstube rechts und ich sah zwei Leute dort: den Morrisson und Frau Garlan, die doch angeblich war nachmittags schon abgereist nach Berlin.
Da habe ich (gekehrt) kehrt gemacht und bin gefahren ohne Stock nach Hause und habe mir alles, was die Dame und die Villa betrifft, immer wieder überlegt. Und so kam ich zu dem Beschluß zu schreiben an Sie, weil ich noch habe folgendes zu bemerken, was mir erscheint sonderbar:
1[2]. Frau Garlan ist nie gegangen ohne Hut und Schleier und nie ohne Brille und hat nie gehoben den Schleier. Ich weiß also nicht, wie sie recht aussieht.
2. Frau Garlan hat gekauft ein gedecktes großes Motorboot, mit dem sie ist nachts oft in der Danziger Bucht herumgefahren.
3. Sie hat nie bekommen Briefe, aber sie hat fast jeden Abend gespielt im Zoppoter Kasino, verloren, gewonnen, – wie es sich traf.
4. Sie hat gemacht keine Bekanntschaften und sich am Tage wenig gezeigt. Auch zu mir ist sie immer gekommen abends.
5. Ihr Mann ist Millionär gewesen in Chikago und bei einer Segelregatta vor zwei Jahren ertrunken.
6. Die Danziger Privatbank hat ihr eingeräumt einen Kredit von einer Million Gulden. –
Sehr geehrter Herr Harst, wenn ich auch nur bin ein Architekt und Geschäftsmann und von kriminellen Dingen wenig verstehe und nicht kann beurteilen, ob mit der Dame und der Villa und dem groben Pförtner Morrisson ist ein Geheimnis im Gange, so denke ich doch, Sie könnten nun als Mann, der besondere Vorfälle besser weiß zu bewerten, mit Ihrem Spürsinn herauszufinden, ob Frau Garlan mit diesem merkwürdigen Hause irgendwie Absichten hat, die nicht guter Natur sind.
Ich selbst habe an der Angelegenheit keinerlei Interesse. Ich will mir keine Kosten machen und überlasse alles Weitere Ihnen.
Im Vertrauen auf Ihre Diskretion zeichne ich
hochachtungsvoll
A. Tucholski,
in Firma Aloysius Tucholski u. Komp.
P. S. Mein Kompagnon ist meine Schwester. Ich bin unverheiratet. Auch meine Schwester meint, mit der Dame sei nicht alles richtig.“
So lautete der Brief.
Harald legte ihn mit einem Achselzucken auf den Tisch.
„Nichts für uns,“ sagte er gleichgültig und nahm den Briefumschlag nochmals zur Hand. Es war ein sogenannter „gefütterter[3]“ Umschlag, und Haralds Sorgfalt in allen Dingen ließ ihn auch jetzt prüfen, ob vielleicht zwischen dem braunen Seidenpapier und dem dicken Büttenpapier noch etwas steckte.
„Aha!“ – und er zog eine kleine Photographie hervor, eine Liebhaberaufnahme, unbeschnitten, sehr scharf …
Ich hatte mich über seine Schulter gebeugt …
„Die Villa …!!“
Die Aufnahme war offenbar vom Strande aus dicht am Seeufer gemacht worden. Man sah ein wenig Dünenland, dahinter einen ziemlich steilen lehmig-sandigen Abhang von vielleicht acht Meter Höhe und oben hinter Büschen und Bäumen halb verborgen die Villa der Frau Henny Garlan.
Wie ein kleines, zierliches, romantisches Schlößchen wirkte das in einem ansprechenden Mischstil erbaute Haus. Der nach dem Meere hinausgehende Altan und dahinter eine achteckige Glasveranda, von Säulen flankiert, gaben dem schmucken Gebäude etwas Würdevoll-Behagliches. In der Mitte ragte ein Turm hervor, von dessen offenem hohen Ausguck eine Antenne schräg nach unten lief.
„Ganz hübsch,“ meinte Harald und drehte das unaufgezogene Bildchen um.
Auf der Rückseite war mit spitzem Bleistift mit einer ziemlich charakterlosen kleinen Schrift folgendes vermerkt:
Die Villa. – Ich hoffe, Sie werden das Bild finden, Herr Harst. Deshalb habe ich auch das Wichtigste (der Brief könnte ja immerhin in unrechte Hände geraten) noch aufgespart. Ich bin auf Anraten meiner Schwester in der Nacht nochmals in Adlershorst gewesen und habe beobachtet die Villa. Ich sah von der See aus Lichtsignale, die vom Turme aus beantwortet wurden. Genau um ein Uhr morgens verließen dann Frau Garlan und James Morrisson die Villa und kehrten nach einer halben Stunde mit einem langen sargähnlichen Kasten zurück. Da es zu regnen begann, mußte ich meine Beobachtung einstellen. –
Tucholski.
Harald hatte auch für diese Mitteilung nur ein Achselzucken.
Ich war über seine Interessenlosigkeit erstaunt.
„Willst du der Sache wirklich nicht weiter nachgehen?“ fragte ich. „Ich denke, Tucholskis Bericht enthält so allerlei, was vielversprechend ist.“
Er schaute zu mir empor und lächelte. „Du läßt dich doch noch sehr leicht aufs Glatteis führen, mein Alter … Diese Villa dürfte für uns ein recht angenehmer Zeitvertrieb werden. Natürlich fahren wir hin – über Swinemünde mit dem Dampfer. Die kleine Seereise wird uns fraglos sehr bekömmlich sein, und in Adlershorst dürfte das Kurhaus übermorgen zwei neue Gäste beherbergen. Packe die Koffer und lege Maske vier zurecht. Der D-Zug nach Swinemünde geht etwa um fünf Uhr nachmittags vom Stettiner Bahnhof ab und hat Anschluß an den Dampfer. Ich möchte mir die Sache jetzt in Ruhe überlegen, denn es kann sehr viel dahinter stecken. Ohne triftigen Grund wirft niemand so viel Geld für eine Villa heraus, die nachher unbewohnt bleibt – scheinbar. Vielleicht hat Frau Henny Garlan Beziehungen zu … – aber nein, diese Vermutung hängt doch noch sehr in der Luft …“
Er nahm eine Zigarette, streckte die Beine noch mehr aus und schloß die Augen.
Ich verschwand in unserem Ankleidezimmer. Maske vier waren zwei ältere bescheidene Herren mit einem Schuß ins Spießbürgerliche, zwei harmlose Beamte auf billigem Urlaub.
Der Herr Ober im Adlershorster Kurhaus in seinem speckigen Frack hielt den beiden Gästen beim Frühstück einen langen Vortrag über die Sehenswürdigkeiten des kleinen Badeortes …
„… und dann jenseits des Vorgebirges, meine Herren, das kleine Schloß der reichen Amerikanerin Frau Henny Garlan … Eine Laune der Millionärin, nichts weiter … Nur ein Pförtner wohnt dort … Das Schloß ist unmöbliert, aber einfach entzückend …“
„Bringen Sie mir noch ein weiches Ei und einen Kognak,“ sagte da Herr Hermann Harrich ziemlich kurz.
Der Ober erschrak, warf einen empörten Blick auf den brummigen Gast und verduftete.
Harrich-Harst grinste und nickte seinem Kollegen Manfred Schrick gemütlich zu. „Die Adlershorster haben noch keinerlei Verdacht geschöpft, mein Alter … Nach dem Frühstück nehmen wir unterhalb der Villa am Strande ein Freibad. Da die See seit drei Tagen völlig ruhig ist, müßten im Sande noch Spuren zu finden sein, falls dort wirklich Boote gelandet sind, die allen Grund haben, sich nur nachts sehen zu lassen …“
Dies war die erste Bemerkung Haralds über den Fall Garlan seit jener Stunde, da er mich in unserem Berliner Heim zum Kofferpacken kommandiert hatte.
„Boote?“ fragte ich. „Denkst du etwa an Schmuggler?“
„Ja. Die Villa erhebt sich dicht vor der Grenze des polnischen Gebiets, und die Doppelwände können recht gut Verstecke für Pascherwaren[4] sein. – Es ist das natürlich nur eine vorläufige Vermutung von mir. Wahrscheinlich wird sie falsch sein. Aber zunächst finde ich keine bessere Erklärung für die Tatsachen, die Herr Tucholski uns berichtet hat.“
Wir saßen vor dem Kurhause in der Sonne. Alles hier war so friedlich-gemütlich. Ich hätte gewünscht, wir wären hier lediglich zur Erholung abgestiegen. Fischerboote rechts am kleinen Bächlein hauchten kräftigen Teerdunst aus, und graziöse Möwen[5] glitten durch den Sonnenglast wie weiße Rosenfalter …
„Und – die Sargkiste?!“ warf ich zweifelnd ein, denn Haralds Theorie „Schmuggel“ genügte mir nicht.
„Sargkiste?! – Es wird ein kleines Boot gewesen sein …! Was sonst?! Solch’ ein modernes Zinkboot, leicht, mit Luftkästen … – Was soll es sonst gewesen sein?! Wenn Tucholski der Garlan und dem Morrisson bis zur nahen Chaussee gefolgt wäre, hätte er wohl auch den Wagen gesehen, der das Boot gebracht hat. – Der fade Ober kommt …“
Der Ober kam, mit Ei, Kognak und der Miene eines beleidigten Großfürsten. „Ob man das Schlößchen wohl besichtigen darf?“ fragte Herr Harrich.
„Jawohl … gewiß, Herr Verwaltungsoberinspektor[6] … Gewiß … der Pförtner Morrisson verlangt nur ein Trinkgeld … Der Herr Regierungsrat Jakobsohn und der Herr Ministerialdirektor Veitel, beide aus Berlin, waren von der Aussicht vom Turme geradezu entzückt … Bitte, Herr Verwaltungsoberinspektor, – – darf ich das Ei gleich köpfen …?“
„Köpfen Sie sich selbst!“ brummte Herr Harrich, der hier den Unliebenswürdigen zu spielen beliebte.
Worauf der „Ober“ wieder „Großfürst“ wurde und sich, Kopf im Nacken, jeder Zoll beleidigte Würde, abermals entfernte.
„Wenn die Herren Jakobsohn und Veitel schon dort gewesen sind,“ meinte Harald, „so werden Harrich und Schrick nicht weiter auffallen, zumal wir ja nicht zu fürchten brauchen, daß jener Morrisson oder Frau Garlan mit Spionen rechnen. Tucholski ahnt nicht einmal, daß sein Brief so prompt gewirkt hat. – Hallo …“ – seine Stimme änderte sich – „dort naht von der Badeanstalt her ein Mann, der vielleicht der Pförtner sein könnte. Schau’ dich nicht um … Er kommt hierher … Grauer Bart, sonngebräunt, Hakennase, sehnig, klein, starke O-Beine, wiegender Gang, stechende dunkle Augen und eine dunkle Livreejacke nebst Mütze: er ist’s[7] …! – Jetzt kannst du dich umdrehen … Er verschwindet im Hinterhaus … Warte mal, ich will hinter ihm her … Sicher ist sicher … Vielleicht erfahre ich etwas Neues …“
…Weg war der Herr Verwaltungsoberinspektor Harrich.
Und ich, Herr Schrick, – ich genoß Natur. Was ging mich hier das Schlößchen der Garlan an, wo ich so unendlich viel Schönes genießen konnte …
Junge Mädels im Badeanzug, wehende bunte Bademäntel umgehängt, schritten kichernd vorüber …
Herren in ähnlicher Aufmachung wirkten weniger nixenhaft …
Aber die Sonne strahlte, das Meer brandete sacht und die fernen Dampfer mit langer Rauchfahne schwammen wie im Äther, so vollkommen verschmolzen Meer und Himmel am Horizont zu eins.
Jeden Fußbreit Boden kannte ich hier in Adlershorst. Bin ja ein Danziger Kind, bin im nahen Zoppot als Schüler gewandelt … Jeden Fußbreit Boden …! Freilich – unendlich viel hatte sich hier verändert. Die kleinen Fischerhäuschen von einst hatten sich scheu hinter den nüchternen Neubauten verkrochen. Aber die Stangen, an denen die Netze trocknen, die plumpen geteerten Boote mit den braunen Segeln, das Bächlein und die Abhänge und die Kiefern und Erlen und Birken: Doch ein Stück Heimat!
Da kam Harst zurück …
Setzt sich mir gegenüber … Sagt: „Telephoniert hat er … Zu nahe durfte ich nicht heran … Aber ich verstand doch „Heute nacht ein Uhr“ … – Wir werden das Schlößchen also erst nachts besichtigen, auf unsere Art, mein Alter, ohne Trinkgeld zu geben … Hunde sind ja nicht da …“
„Also – – einbrechen!“
„Pfui – – wie das klingt, Herr Kollege!“ Er lächelte und köpfte das Ei, nicht den Ober … Er aß und redete mit einem Male von Finnland … Ausgerechnet Finnland …
„… Vernünftige Leute, die Finnländer … Tatsache. Nur einen Spleen haben sie: Blaukreuzler[8]! Alkoholgegner! Alkoholverbot – sehr streng. Deshalb wird dort an der Küste auch genau so viel Alkohol geschmuggelt wie in Amerika.“
„Ah – du meinst?!“
„Kann sein, kann sein … Ich wette, die Garlan ist niemals Millionärin … Nun, wir werden ja sehen … Wir werden bald heraushaben, wer in Danzig Fernsprecher Nummer 128 hat … Sobald Herr Morrisson wieder gegangen. – – Ober …!!“
Der „Großfürst“ kam, verbeugte sich steif.
„Ober, bringen Sie mir mal das Fernsprechverzeichnis …“
„Sehr wohl, mein Herr …“
Ich blickte Herrn James Morrisson nach, denn der watschelte bereits von dannen. Der Mann hatte ausgesprochenen Seemannstyp.
Das Verzeichnis verriet uns, daß 128 der Anschluß des Pensionats Krüger am Hauptbahnhof war.
Harst klappte den Band zu. „Die Garlan wohnt dort. Natürlich die Garlan … Wir sind also bereits einen Schritt weiter, wir wissen zweierlei … Erstens: In der kommenden Nacht um ein Uhr wird Frau Garlan offenbar ihren Vertrauten Morrisson wieder besuchen, und zweitens: Henny Garlan wohnt bei Krüger, Hauptbahnhof. – Jetzt wollen wir spazieren gehen … Am Strande entlang – bis zum Schlößchen … Dort werden wir ein kleines Bad nehmen …“
Und so geschah’s …
Wir sahen die Villa dort oben, und wir gaben dem Ober recht: Sie war praktisch, romantisch, – eine Zierde für das Küstenbild …
Leider aber war der Strand von Spaziergängern derart mit Fußspuren durchpflügt worden, daß selbst dicht am Wasser nichts von Eindrücken eines Bootes zu erkennen war.
Und dann hinein in die Flut …
Das Wasser war kühl … Aber es erfrischte. Und da neben uns noch ein paar Damen mit Kindern ihre Sachen im Dünensande abgelegt hatten, brauchten wir nicht zu fürchten etwa bestohlen zu werden … Wir schwammen ziemlich weit hinaus … Und als wir umkehrten, glänzten die Fenster der Villa oben am Steilrande wie silberne Spiegel, und Herr James Morrisson saß vor der Terrasse im Liegestuhl und rauchte kurze Pfeife.
Wir schwammen … Das Wasser war so überraschend klar. Wenn man mit offenen Augen tauchte und nach oben schaute, schien eine grüne Glasdecke über einem ausgespannt zu sein.
Große Quallen trieben dicht unter der Oberfläche wie seltsame, halb durchsichtige Glasgebilde dahin. Der Herbst meldete sich mit diesen Quallen. Noch einen Monat, und jeder Sturm warf hunderte von Quallen auf den Sand, wo sie dann später im Sonnenschein jämmerlich zusammenschrumpfen und schließlich nur runde leicht rosige Flecke übrigbleiben. Hieran erinnerte ich mich, als wir beide wie zwei ausgelassene Knaben uns in der kühlen klaren Flut tummelten.
Wir dachten in diesem glücklichen Spiel im prickelnden salzigen Naß kaum noch an Frau Henny Garlan …
Ich jedenfalls nicht.
Waren vom Strande noch etwa achtzig Meter entfernt, als Harst, dieser glänzende Taucher, vor mir sich aus dem Wasser schnellte und dann Kopf voran abermals tauchte …
Ich kannte seine Scherze. Ich ahnte, daß er mich jetzt von unten wie ein Hai attackieren würde und mein Bein packen und mich hinabziehen …
Er sollte sich irren. Ich tauchte ebenfalls mit offenen Augen nieder …
Sah da schräg unter mir ein langes helles Etwas: Harst!
Und sah unter dem hellen, verzerrten Körper ein Dunkles, Rundes …
Da wurde mir die Luft knapp, und ich schoß empor …
Prustend erschien auch Haralds Kopf … Lachend spritzte er mir mit der Hand eine Ladung Wasser ins Gesicht … Aber ich erhielt Hilfe … Zwei Nixen mit Badekappen … Eine fidele Schlacht erhob sich … Noch mehr vergnügtes Volk mengte sich ein, – Kinder, ein dicker Herr, zwei junge Leute … Und wir tollten und tobten und kamen schließlich ganz außer Atem ans Ufer, warfen uns in den heißen Sand und ließen uns schmoren, richtig schmoren … Es war herrlich … Und die Frühstücksbrötchen und die Zigarre schmeckten großartig. Ich pfiff auf die Villa Garlan und alles, was mit unserem Reisezweck zusammenhing. Ich war wieder jung geworden und ich war … in der Heimat!
Da sagt Harst, indem er seine Zigarette im Mundwinkel wippen läßt:
„Sahst du die Boje unter Wasser?“
Jählings überfiel mich wieder das abscheuliche Grau des Alltags. – Nein, ich will nicht ungerecht sein … Von einem Grau des Alltags kann man bei unserem Beruf (freiem Beruf) kaum sprechen. Aber – trotzdem: Es war die Zerstörung jungenhaften Genießens eines herrlichen Sommertages an der See! Durch diese eine Bemerkung …
Boje!!
Ja – das runde dunkle Ding in der Tiefe …
„Ich sah sie,“ erwiderte ich, und wurde wieder Max Schraut …
„Und ich befühlte sie und stellte fest, daß sie verankert war, daß isolierter dicker Draht zum Strande läuft …“
Ich blickte Harald an „Du … meinst?“
„Ja – daß die Boje mit der Villa zusammenhängt und daß der daumendicke Draht unterirdisch bis zu Frau Garlans Zauberschlößchen führen dürfte …“
Ich blickte Harst noch immer an …
„Hast du etwa mit dem Vorhandensein dieser Boje gerechnet?“
„Ja!“
„Und – weshalb?!“
Da schob er in der Sandkaule[9], wo wir und neben uns unsere Kleider lagen, seine Sachen beiseite und … schwieg.
Im Sande dort blitzte es …
Glasscherben, Scherben von Flaschen …
Es war gerade die tiefste Stelle der Sandburg, die wohl von Kindern unlängst hergestellt worden sein mochte.
„Sehr schlau,“ erklärte Harst nun. „Dort, wo das Kabel durch die Dünen läuft, also im Sande eingebettet ist, hat man Glasscherben darüber geschüttet, damit niemand an der Stelle noch tiefer wühle … – Wenn’s nur Scherben von einer Flasche gewesen wären, würden sie mir nicht aufgefallen sein. Aber diese mannigfachen Scherben geben zu denken. Außerdem rief aber auch eins der Kinder dort hinter uns beim Buddeln vorhin ganz empört, daß dort Glas liege … Und – es ist das genau in der Richtung auf die Villa. Daher tauchte ich so oft, daher … sitzt oben Herr Morrisson und verflucht uns alle, die wir hier baden – verflucht uns aus Angst, daß jemand etwas entdecken könnte …“
Ich war still und bescheiden, und ehrlich genug mir zu sagen, daß Haralds nimmermüde Phantasie wieder mal aus Kleinigkeiten ein Großes zusammengedichtet hatte.
Die Villa Garlan war in der Tat ein merkwürdiges Gebäude.
Nachmittags fuhren wir nach Danzig. Wir wollten einen Bekannten, der im Pensionat Krüger abgestiegen war, besuchen. Dieser Bekannte existierte nur in unserer Phantasie.
Die Pension war erstklassig. Ein Zöfchen von überraschender Bescheidenheit fragte nach unseren Wünschen und bedauerte unendlich, – ein Herr Maier mit ai aus Berlin wohne bestimmt nicht im Pensionat. – Harst erklärte bieder, Maier würde dann erst morgen eintreffen. Er kenne Maiers Eigentümlichkeiten, und deshalb möchte er sich gleich ein Zimmer für ihn ansehen und eine Anzahlung leisten. – Das Wort Anzahlung verfehlt nie seine Wirkung. Das Zöfchen holte die Gnädige, Frau Helene Krüger, eine gemütliche Dame mit jenem trotz aller Freundlichkeit unverkennbaren Polizeiblick der Pensionsinhaberinnen.
Wir schienen ihr mit unserer altmodischen subalternen Höflichkeit zu gefallen. „Maier“ war Hauptperson. Wir besichtigten die Zimmer. Und Harst hatte in zehn Minuten aus der arglosen Dame herausgelockt, daß die beiden Prunkgemächer seit Mai von einer jungen Amerikanerin bewohnt würden: Miß Harriet Gordon aus Newyork.
Harriet Gordon – – Henny Garlan!! Dieselben Anfangsbuchstaben: der Wäsche wegen! – Es mußte stimmen.
„Maier“ sollte also in Nr. 5 neben dem Salon der Miß untergebracht werden, und Harst bezahlte für fünf Tage voraus.
Während wir noch im gemeinsamen Gesellschaftszimmer auf die Quittung über den Betrag von dreißig Mark warteten, trat eine schlanke junge Dame ein und setzte sich, ohne uns zu beachten, an den Schreibtisch, wo sie mit einem Füllfederhalter ein Telegrammformular hastig ausfüllte, die nasse Schrift auf der Schreibunterlage trocknete und wieder hinausging.
Wir wußten wenig von dem Äußeren der stets verschleiert gewesenen Frau Garlan, waren aber doch überzeugt, diese junge, äußerst sicher auftretende und fraglos recht hübsche Blondine müsse die Gordon-Garlan gewesen sein.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen als, ich Harald einen langen Blick zuwarf, und auf die Löschblattunterlage auf der Schreibtischplatte deutete.
Harst schüttelte den Kopf und machte dazu ein ganz merkwürdiges Gesicht.
Gleich darauf erschien Frau Krüger, nachdem im Flur ein paar erregte Worte gewechselt worden waren.
Harald lächelte sanft, nahm die Quittung in Empfang und meinte verschmitzt:
„War’s Fräulein Gordon, die Sie soeben am Schlüsselloch ertappten?“
Frau Krüger starrte Harst verwundert an.
„Haben Sie’s auch gesehen?“ stieß sie hervor.
„Nein, nur vermutet. Fräulein Gordon schrieb hier eine Depesche, und da sie sehr mißtrauisch zu sein scheint, nahm ich an, sie würde durch das Schlüsselloch sich überzeugen wollen, ob wir die Löschblattunterlage uns ansehen würden.“
Frau Helene Krüger blieb der Mund offen …
„Mißtrauisch, – – ja, woher wissen Sie denn das, Herr Harrich?“ konnte sie erst nach einer geraumen Weile fragen.
„Lieber Gott, – als wir Maiers zukünftiges Zimmer besichtigten, horchte die Miß doch auch an der Verbindungstür …“
Jetzt ging Frau Krüger endlich ein Licht auf. „Herr Harrich, Sie … Sie scheinen auffallend viel zu bemerken, was anderen entgeht! – Hat die Gordon wirklich gehorcht?“
„Auch ja … Sie hat sogar die Verbindungstür, die seitlich nach Nr. 5 hin durch eine Portiere verdeckt ist, geöffnet gehabt. Ich habe vorzügliche Ohren …“
„Wer … sind Sie? Sie sind doch im ganzen Leben kein gewöhnlicher Beamter?!“
„Nicht wahr, es stimmt … Die Gordon ist sehr mißtrauisch?“
„Herr Harrich – – wer sind Sie?!“
„Verehrteste Frau Krüger, Sie scheinen mich zu überschätzen. Ich habe sehr viel Kriminalromane gelesen und mir sozusagen eine geringe Detektivbegabung angelernt. Das kann jeder, wenn er nicht gerade auf den Kopf gefallen ist. Sie werden doch zugeben, daß meine Vermutung, die Gordon sei mißtrauischer Natur, durch die leise geöffnete Verbindungstür notwendig herbeigeführt werden mußte und daß die zweite Szene hier, Telegramm und Schlüssellochspionage, genauso einfache Folgerungen gewesen sind.“ Und er schmunzelte selbstgefällig und fügte mit stark betontem Gefühl für den Wert der eigenen Persönlichkeit hinzu: „Wenn Sie mir über die Gordon noch einiges mitteilen wollten, könnte ich Ihnen vielleicht noch mehr Beweise für meine bescheidene Begabung liefern. Es macht nämlich auf mich ganz den Eindruck, als ob zum Beispiel die häufigen Telephongespräche der Gordon und deren etwas ungeregeltes Leben – sie ist selten daheim, glaube ich, und verreist des öfteren auf kurze Zeit – schon längst den Verdacht in Ihnen erregt hätte, die Amerikanerin könnte doch nicht lediglich zu Studienzwecken sich hier in Danzig aufhalten.“
Frau Krüger saß jetzt wie versteinert da.
„Herr … Herr Harrich, – – ja, können Sie denn Gedanken lesen?“ rief sie fast verstört. „Ich begreife nicht, wie Sie als Fremder mit Einzelheiten über Miß Gordon derart …“
Harald unterbrach sie. „Also stimmt auch das: viel Telephongespräche und unregelmäßiges Leben! – Und sonst noch? Etwa … mangelnde Korrespondenz, also keine Briefe … Und keinen Verkehr …“
Die Krüger erhob sich jäh. „Herr Harrich, Sie … Sie werden mir unheimlich …! Bitte, sagen Sie mir, wer Sie sind … Sie müssen Detektiv sein, und die Gordon ist, was ich längst ahnte, eine Hochstaplerin!“
Harst drückte die erregte Dame wieder in den Sessel zurück. „Sie können schweigen, hoffe ich … Ich würde Sie auch dringend davor warnen, uns zu verraten. – Offenes Spiel also. Ich bin nicht Detektiv, bin nur ein Mann, der aus Liebhaberei sich mit der Lösung dunkler Probleme beschäftigt. Mein Name ist Harald Harst …“
„Harst?!“
„Leiser bitte …! – Im übrigen dürfen mein Freund Schraut und ich nicht länger hier verweilen, um die Gordon nicht wirklich mißtrauisch zu machen. Morgen wird Herr Maier einziehen – hier mein Freund, natürlich in anderer Aufmachung. Lassen Sie sich jedenfalls der Gordon gegenüber nichts anmerken, Frau Krüger. Ob sie eine Verbrecherin ist, weiß ich noch nicht. Schraut wird morgen Zeit genug haben, Sie unauffällig einzuweihen. – Auf Wiedersehen …“
Er drückte Frau Krüger die Hand, und gleich darauf standen wir wieder draußen im prächtigsten Sonnenschein …
Es war jetzt sechs Uhr nachmittags. Der Vorortzug nach Zoppot war überfüllt. In unserem Abteil zweiter Klasse waren selbst die Stehplätze vollständig vergeben. Zuletzt hatte sich noch ein Herr in das Abteil gedrängt, der mit unauffälliger Eleganz gekleidet war und ein Monokel trug. Seine schlanke Figur, sein blasses, müdes Gesicht, seine zarten und doch nervigen Hände und jenes unnennbare Etwas, das wahre Vornehmheit atmet, ließen mich ihn stärker beachten als die übrigen Fahrgäste. Er stand am Fenster, und wenn ich mich zurücklehnte, sah ich sein scharfes Profil und die linke Hand, in der er eine zusammengefaltete Zeitung hielt. Er las, und nichts verriet, daß er seiner Umgebung auch nur die geringste Beachtung schenkte. Er hatte jene Art, über die Menschen hinwegzusehen, die man so häufig bei Zugehörigen wirklich erster Gesellschaftsschichten und bei den meisten gebildeten Engländern und Amerikanern findet.
In Zoppot stieg er als erster aus. Wir so ziemlich als letzte. Als wir dann nachher oben auf der Spitze des Seesteges auf das Motorboot nach Adlershorst warteten, sagte Harst zu mir:
„Er liest wieder!“
Es genügte mir. Ein Blick, – da sah ich ihn auf einer der Bänke sitzen.
Das Motorboot kam.
Er las weiter … Er kümmerte sich um nichts. Aber als wir vorn im Boot Platz genommen hatten, kam er langsam die Treppe hinab und sprach mit dem Motorbootführer – gelangweilt, blasiert, von oben herab …
Ging über die Planke, setzte sich hinten unter das Sonnensegel und las …
Harst lachte ironisch: „Ungeschickt …!!“
Und ich meinte: „Spion?!“
„Ja … Es ist der dritte im Bunde … vorläufig. Es werden wohl noch mehrere sein. Das Garlan-Schlößchen verwandelt sich in ein Wespennest. Wir wollen fortan nicht mehr so fest darauf bauen, daß wir in Adlershorst sicher sind. Die Gordon muß irgendwie gegen Maiers Freunde stark argwöhnisch geworden sein … – Warten wir ab …“
In Adlershorst benahmen wir uns ganz so, als ob der Vornehme gar nicht existierte. Gingen ins Kurhaus auf unsere Zimmer und bestellten uns Räucherflundern, Rührei und Käse und Radieschen.
Der Großfürst-Ober bediente uns mit eisiger Zurückhaltung. Gegen acht Uhr bummelten wir am Strande entlang, setzten uns in den Sand und besprachen das Ergebnis des Nachmittags. Harst war damit sehr zufrieden, erteilte mir schon jetzt allerlei Verhaltungsmaßregeln für meine Maier-Rolle und erklärte auch, daß er den Gedanken aufgegeben habe, nachts das Schlößchen zu besuchen. – „Es genügt, wenn wir uns auf die Lauer legen – – auf See! Komm’, mieten wir ein Ruderboot. Um neun ist’s dunkel, und um halb elf wird der Mond auftauchen.“
Der Fischer, dem Harald die Bootsfahrt vorher mit drei Gulden bezahlte, meinte überglücklich, wir könnten so lange draußen bleiben wie wir wollten, wir möchten nur nachher das Boot ordentlich festmachen und die Ruder mit ins Kurhaus nehmen.
So fuhren wir denn, ich am Steuer, gemächlich gen Zoppot, wo die Lichterreihen des Steges und die erleuchteten Fenster der Strandvillen aus der Abenddämmerung freundlich herüberwinkten.
Es wurde dunkler und dunkler.
Der Mond tauchte aus den Dunstmassen des Horizonts auf und zeigte uns sein gemütliches glänzendes rundes Gesicht.
Harst ließ das Boot treiben. Die sanfte Dünung schaukelte es träge hin und her. Ich rauchte, und Harald erzählte mir eine launige Geschichte aus seiner Assessorzeit von einem schlauen Darlehnsschwindler, den er schließlich doch überführt hatte. Ich wurde müde und gähnte. Die Zeit schlich. Um halb eins waren wir mit unserem Boot gegenüber der Garlan-Villa etwa zweihundert Meter vom Strande ab. Vater Mond hatte sich hinter drohendem Regengewölk versteckt, und ein hohler Wind kräuselte langsam die Wasser der Danziger Bucht und trieb plätschernde Wellen gegen unser leichtes Fahrzeug.
Die Boje war bisher in der Wassertiefe unsichtbar geblieben. Die elektrische Lampe auf ihrer Spitze leuchtete[10] nicht – noch nicht …
Es wurde eins.
Und als ich nach der Uhr sah und die Leuchtzeichen mir verrieten, daß die Stunde gekommen, in der sich irgend etwas ereignen würde, da sagte Harst plötzlich:
„Eine Leuchtqualle!!“
Und da … glühte die Lampe vor uns in der unruhigen Flut wie ein geheimnisvolles großes Tiefseetier mit einem runden Zyklopenauge. –
Zehn Minuten drauf trieben von unserem Boot nur noch Trümmer auf den vom Gewittersturm aufgetürmten Wogen …
Ich bin überzeugt, daß ein großer Teil der Leser auch den Jules Verne’schen Zukunftsroman „Zwanzigtausend Meilen unterm Meer“ gelesen hat. Diese phantasievolle Schilderung eines U-Bootes, wie Verne sie liefert, ist jetzt freilich durch die Wirklichkeit längst überholt. U-Boote bedeuten für uns Kinder des jetzigen Zeitalters nichts Besonderes mehr.
Vielleicht wird dieser oder jener meiner Leser bereits aus diesen einleitenden Sätzen für das 4. Kapitel die richtige Folgerung gezogen haben: Weshalb unser Ruderboot in Trümmer ging!
– Das Zyklopenauge glühte …
Harst zog die Ruder ein und ließ das Boot wieder treiben, beugte sich vor und sagte zu mir: „Was meinst du zu dieser Unterseelaterne, die von der Villa aus eingeschaltet wird?“
„Hm – Signal natürlich!“
„Natürlich! – Für wen aber?“
„Für das Fahrzeug, das[11] die Lichtsignale, die vom Turme aus gegeben wurden, beantwortet hat.“
„Gut. – Was für ein Fahrzeug?“
„Wie soll man das so ohne weiteres bestimmen können?!“
„So?! Doch wohl …! – Dieses Licht dort zwei Meter unter der Oberfläche dürfte kaum auf vierzig Meter zu erkennen sein. Wir sind davon etwa zwanzig Meter jetzt entfernt. Ein gewöhnliches Schiff müßte also ziemlich dicht an die Küste heran, wenn es die elektrische Lampe sehen wollte. Anders wäre es mit einem U-Boot. Dieses würde den Lichtschein, wenn es unter Wasser fährt, als hellen Fleck schon auf weit größere …, – ah, die Lampe erlischt …! da – – sie leuchtet wieder auf, erlischt von neuem … Lichttelegraphie … Und wie rasch man die Zeichen gibt. Ich kann nicht folgen … Schweige jetzt … Und halte das Boot so im Kurs, daß ich die Laterne nicht aus den Augen verliere …“
Ich ergriff eins der Ruder … Ich saß hinten am Steuer und es gelang mir auch trotz des rasch anwachsenden Windes, das Boot in derselben Richtung langsam vorwärts zu drücken, wobei ich mir Mühe gab, gleichfalls die Morsezeichen mitzulesen. Aber Harst hatte ganz recht: die Zeichen folgten einander zu schnell …
Lang, lang, kurz, kurz, kurz … Pause … kurz, lang … Pause … – und so fort … –
Wenn wir geahnt hätten, was uns bevorstand, würden wir mehr auf unserer Hut gewesen sein.
So aber nahmen wir diesen nächtlichen Unterwasserspuk lediglich als angenehme Zerstreuung hin. Es war eben mal etwas anderes …
Die Signale dauerten schier endlos.
Harst rief mir zu, ich solle jetzt nach rückwärts beobachten, ob das U-Boot Antwort gäbe.
Ich tat’s … Einige Spritzer kamen über Bord. Der Wind wurde immer lebhafter, und der düstere Regenhimmel breitete sich wie eine pechschwarze Glocke über uns aus.
Wieder verstrichen Minuten. Dann rief Harst mir „Achtung!“ zu. Fast im selben Augenblick sah ich in vielleicht hundert Meter Entfernung hinter uns in den Wogen drei matte Lichtblitze, die wie Geisterhände nach vorn griffen: ein Scheinwerfer!
Harald hatte die Ruder genommen …
„Wir müssen an Land,“ meinte er. „Vielleicht galten die Signale gar uns, die wir heute …“
Dieser Satz blieb in alle Ewigkeit unvollendet, denn dicht vor uns schoß plötzlich ein dunkles Etwas aus den Wogen, unser Boot erhielt von unten einen argen Stoß, die Planken zersplitterten und wir beide flogen in die brodelnde Flut.
Das dunkle Etwas war der Turm des U-Bootes … Die Turmluke klappte hoch, und drei Mann mit Bootshaken fischten uns im Umsehen aus den Wellen heraus, zogen uns empor und packten als ersten mich und stießen meine Wenigkeit genau so rücksichtslos, wie sie den Bootshaken in meine Jacke gebohrt hatten, in den Turm hinab, wo mich weitere unsichtbare Fäuste in Empfang nahmen, mir die Hände auf dem Rücken fesselten, eine Decke über mein triefendes Haupt warfen und mich vorwärtsführten – halb trugen – all das so flink, daß ich gar nicht recht zur Besinnung kam.
Ich landete in einer engen, niederen Kammer auf einer Matratze, schlug mit dem Kopf gegen die Wand und lag halb betäubt da, bis ein zweiter menschlicher Körper mir auf den Bauch rollte und eine Tür krachend zufiel.
„Harald – du?!“ fragte ich halb benommen.
„Ich!!“ Und er suchte sich eine bessere Sitzgelegenheit, gab meinen Bauch frei und fügte hinzu: „Eine nette Bescherung! Damit habe ich leider zu spät gerechnet. Der Herr mit dem blassen Gesicht hat uns also doch richtig eintaxiert. Nun können wir hier den Fall Henny Garlan theoretisch erörtern, denn aus einem U-Boot zu entfliehen und praktisch diesen Herrschaften auf den Pelz zu rücken, dürfte unmöglich sein.“
Nachdem ich dann durch einige energische Kopfbewegungen und durch ein paar tiefe Bücklinge meine Decke losgeworden war, erklärte ich mit einigem Unbehagen:
„Was werden die Kerle wohl mit uns anfangen?! Uns freigeben?! Kaum! Fürchtest du eine längere Gefangenschaft?“
Es war stockdunkel um uns her, und ich fror bereits in meinen nassen Sachen derart, daß mir die Zähne im Munde klapperten.
Harst erwiderte nur: „Rücken an Rücken … Wir müssen die Stricke uns aufknoten … Wir haben noch alles in den Taschen, und diese Piraten sollen merken, daß sie es nicht mit zwei harmlosen Leuten zu tun haben … Schnell! Hier ist jede Minute kostbar!“ –
Wir hatten die Hände frei. Haralds Taschenlampe blitzte auf. Der Lichtkegel zeigte uns eine enge Kammer mit eisernen Wänden und eiserner Tür.
Sie war bis auf eine Bettmatratze, eine große Blechkanne mit Trinkwasser, drei Brote und ein paar zusammengerollte Wolldecken sowie eine kleine Petroleumlaterne leer. Über der Tür (diese und die Wände hatten einen dunkelgrauen Ölfarbenanstrich, der vielfach zerkratzt war) gab es in einem Kreise angeordnet zehn fingerdicke Luftlöcher.
Das war alles.
Harst legte die Taschenlampe auf die Matratze und rieb sein Feuerzeug an. Es funktionierte noch. Als die Petroleumlaterne brannte, schaltete er die Lampe aus und begann sich wortlos zu entkleiden, indem er nur auf die Wolldecken deutete. Ich folgte seinem Beispiel.
Wir breiteten unsere nassen Sachen so gut es ging zum Trocknen aus. Wir hatten sie vorher ausgewunden, und als wir nun in die warmen Decken gehüllt da saßen, sagte Harald wieder: „Es war hier alles zu unserem Empfang bereit. Kein sehr komfortabler Kerker, nein, – immerhin Wasser und Brot!“
Die Petroleumlaterne stank. Harst schraubte die Flamme kleiner. Wir hockten im Halbdunkel, hatten uns unsere Clementpistolen in den Schoß gelegt und … schnitten das erste Brot an. Es war ein großes Weizenbrot und noch recht frisch. Das Wasser in der Blechkanne war leicht mit Zitronensaft angesäuert.
Nachdem wir schweigend gespeist hatten, löschte Harald die Laterne aus und sagte, ich solle jetzt schlafen. Er würde die erste Wache übernehmen.
Ich war hundemüde, streckte mich lang, legte den Arm unter den Kopf und schloß die Augen.
Nicht das geringste Geräusch drang an mein Ohr. Die Maschinen standen still. Das U-Boot mußte treiben oder vor Anker liegen.
Ich überdachte die letzten Geschehnisse.
Wir hatten den Monokel-Herrn in Adlershorst nicht mehr gesehen. Aber sein müdes, vornehmes Gesicht hatte ich nicht vergessen. Er, Morrisson und die Garlan-Gordon waren die drei der offenbar recht zahlreichen Bande, die mit der Villa irgendeinen bestimmten Zweck verfolgten. – Welchen aber?! Schmuggler?! Nein, ich glaubte nicht an solch harmlose Erklärung. Wozu also dann die Doppelwände?! Wozu die durch Wandschränke verdeckten Geheimtüren?!
Daß diese Leute Großes, Gefährliches planten, erschien mir gewiß. Sie hatten in ihr uns noch unbekanntes Unternehmen ein ganz nettes Kapital hineingesteckt. Die Villa war teuer, ein U-Boot kostet einen Batzen Geld, und somit konnte es hier unmöglich um Lappalien gehen.
Ich schlief über diesen Gedanken schließlich ein. Ich habe nie über schlechten Schlaf zu klagen gehabt, und hier lag trotz unserer Gefangenschaft vorläufig kein Grund zur Beunruhigung vor.
Als Harald mich weckte, war es sieben Uhr morgens. Unsere Uhren gingen noch.
„Nichts geschehen, mein Alter,“ erklärte Harst. „Seit drei Uhr arbeiten die Maschinen. Gute Nacht …“
Im Nu war er eingeschlafen.
Und ich saß da mit zwei Pistolen im Schoß und starrte in die Dunkelheit hinein.
Zuweilen hörte ich draußen im Schiffsgang Schritte.
Immer, wenn ich sie hörte, erwartete ich, daß jemand die Tür öffnen würde.
Es kam niemand.
Ich aß, trank …
Ich hatte Sehnsucht nach einem bestimmten kleinen Gelaß, wohin sich jeder mal notgedrungen zurückzieht. Unser Kerker enthielt nichts für derartige Zwecke.
Ich hatte die Laterne angezündet. Ich fühlte meine Sehnsucht stärker werden. Hin und wieder schielte ich zu den Luftlöchern über der Tür empor.
Und als ich es jetzt wiederum tat, baumelte dort etwas Weißes …
Ein Zettel an einem Zwirnfaden, zu einem Röllchen zusammengebunden. Ich erhob mich, löste den Zettel vom Faden, setzte mich und las.
Tintenstift, lateinische Buchstaben … deutsch:
„Nach einer Stunde sind Sie frei, wenn Sie ehrenwörtlich versprechen, die Villa Garlan aus Ihrem Gedächtnis zu streichen. Weigern Sie sich, so werden Sie ein volles Jahr verschwinden. – Sind Sie einverstanden, so binden Sie den Zettel wieder eng zusammengerollt an den Faden. Wir wissen, daß Harst und Schraut nicht wortbrüchig werden.“
Ich weckte Harald.
Er las, lachte …
Nahm seinen Bleistift, benutzte seine nasse Brieftasche als Schreibunterlage und schrieb auf die Rückseite des Papiers:
„Wir weigern uns nicht. Wir werden die Villa aus unserem Gedächtnis streichen und nach Berlin zurückkehren. Die Villa ist uns ein Jahr Gefangenschaft nicht wert. – Harst. Schraut.“
Ich war sehr einverstanden mit alledem. Meine Sehnsucht nach einem entlegenen Plätzchen am Strande war größer als die Neugier auf Henny Garlans dunkle Machenschaften. –
Eine Stunde drauf betraten vier maskierte Matrosen unsere Zelle, verbanden uns die Augen und führten uns nach oben an Deck und in ein Boot, das nach kurzer Fahrt landete.
Wir standen im Sonnenschein da …
Nahmen die Tücher ab …
Sahen gerade noch den Turm des U-Bootes verschwinden.
Nach zwei Stunden erreichten wir das Fischerdorf Hela auf der äußersten Spitze der Halbinsel gleichen Namens, die sich als schmale Landzunge wie schützend vor die Danziger Bucht ausspannt.
Man hatte uns auf die Halbinsel ausgebootet gehabt. Abends waren wir wieder in Adlershorst, wo wir dem Großfürst-Ober ein nettes Märchen erzählten … Und morgens fuhren wir heim gen Berlin. Das Abenteuer Garlan war aus …
Wirklich aus?!
Daheim …! Berlin empfing uns mit Regengüssen. Haralds Mutter und die alte brave dicke Mathilde empfingen uns mit Brathühnchen und frisch gebackenem Kuchen. –
Harst hatte kein Wort mehr über die Garlan-Gordon geäußert. Fing ich davon an, sagte er streng: „Bitte – unser Ehrenwort!“
So saßen wir denn nun abends am Ankunftstage in Haralds traulichem Arbeitszimmer und lasen Zeitungen, rauchten und lauschten den Klängen unseres Lautsprechers …
Walzerabend …
Mit einem Male aber wurde Harsts Benehmen sehr merkwürdig.
Der Ansager hatte gerade verkündet, daß nun der Walzer aus der Operette „Die Geisha“ von Sidney Jones folge.
Und da erklärte Harst mit Nachdruck:
„So heißt er, mein Alter, genau so …!“
„Wer?“
„Der Blasse, Vornehme …“
Ich war baff.
„Der Monokel-Gent?“ rief ich. „Woher weißt du den Namen?“
„Weil Sidney Jones, unser Sidney Jones, ein berühmter Sportler ist. Ich wußte schon in Danzig im Abteil zweiter, daß der Herr am Fenster im Frühjahr in Nizza den ersten Preis im internationalen Tennisturnier gewonnen hat. Wenn du dir das Juliheft vom Illustrierten Sport heraussuchen willst, so wirst du darin eine sehr scharfe Gruppenaufnahme jener Tennisspieler finden und auch ein pikantes-romantisches Histörchen aus jenen Tagen. Vielleicht liest du mir’s zur Auffrischung meines Gedächtnisses vor …“
„Dein Gedächtnis auffrischen?! Das hast du doch wahrlich nicht nötig …“ Und ich erhob mich und holte das Heft, setzte mich wieder und fragte: „Der Tennisspieler Sidney Jones muß dir ja überaus interessant gewesen sein, daß du dir sein Gesicht so genau eingeprägt hast …“
„Lies vor!“ erwiderte Harald nur.
Zunächst betrachtete ich mir die Gruppenaufnahme. Sidney Jones war auf den ersten Blick zu erkennen. Als ich nun auch die Gesichter der vier auf dem Bilde mit anwesenden Damen genauer anschaute, stutzte ich …
Neben Sidney Jones stand eine junge Dame im Sportdreß, unverkennbar Miß Gordon aus dem Pensionat Krüger in Danzig!
Harst hüstelte … „Also hast du sie herausgefunden … Nun lies mal die Namen unter dem Bilde …“
Da stand unter Sidney Jones schlanker Figur:
Kapitän S. Jones.
Und unter seiner Nachbarin:
Miß Harriet Gardener.
„Nun hat sie schon drei Namen!“ rief ich …
„Lies vor! Das Histörchen steht unter dem Bilde …“
„Hier in Nizza, wo der Klatsch genau so lebendig wie anderswo ist, vielleicht sogar noch ärger und gefährlicher, raunt man sich zu, daß Kapitän Sidney Jones, bis vor kurzem Kommandant eines Zerstörers der Vereinigten Staaten, in engsten Beziehungen zu der Herzogin Jeanne d’Avricoult gestanden haben soll, die als Abenteurerin und Geheimagentin des …… geheimen Nachrichtendienstes vor acht Tagen aus Nizza fluchtartig verschwinden mußte. Anderseits behauptet Frau Fama, daß Kapitän Jones mit der Millionärin Harriet Gardener verlobt ist und daß Miß Gardener ihrerseits die Behörden auf das gemeingefährliche Treiben der b…… Agentin und Herzogin aufmerksam gemacht haben soll. Tatsache ist, daß Miß Gardener einen Stab von Detektiven unterhält, die blindlings ihren Befehlen gehorchten, aber seit dem Verschwinden der Herzogin gleichfalls … unsichtbar geworden sind. Wollte man hieraus leichtfertig Schlüsse ziehen, so könnte man vermuten, daß die Amerikanerin ihre Nebenbuhlerin durch ihre Leibgarde hat kaltstellen lassen. Geredet wird hier über diese Angelegenheit ungeheuer viel, zumal das heimliche Brautpaar durch seine Turniersiege und dadurch, daß es vor der Welt noch immer im besten Einvernehmen lebt, vielen redseligen Leuten immer neue Rätsel aufgibt. – Nizza – Klatsch!! Nur deshalb bemerkenswert, weil die hiesige Polizei entschieden leugnet, sich mit der Herzogin irgendwie befaßt zu haben.“
Ich legte das Heft weg.
Der Lautsprecher übermittelte uns jetzt den Walzer aus dem „Obersteiger …“
Und Harst sagte aus der Tiefe seines Klubsessels am Kamin heraus mit nachdrücklicher Bedächtigkeit: „Wenn ich dir nun noch mitteile, daß Kapitän Sidney Jones aus der Marine mit einfachem Abschied entfernt worden ist, weil gegen ihn der Verdacht aufgetaucht war, Einzelheiten über neue U-Boote an jene ausländische Macht verkauft zu haben, für die Jeanne d’Avricoult tätig ist, dann … ja, dann müßtest du eigentlich bereits ahnen, was in der Garlan-Villa vielleicht vorgeht oder vorgehen wird … Zumal Sidney Jones seine Schuldlosigkeit vor dem Kriegsgericht nachdrücklichst beteuert hat, ohne doch den Verdacht des Landesverrats zerstören zu können …“
Ich überlegte …
Und sagte dann mit aller Bestimmtheit:
„Miß Harriet Gardener sucht die Schuldlosigkeit ihres Verlobten, der sich in Nizza nur aus Berechnung der Herzogin genähert, gewaltsam zu beweisen, indem sie ihre angebliche Nebenbuhlerin hat verschwinden lassen und sie zwingen will, den wahren Landesverräter zu nennen. Die Herzogin dürfte nach der Villa geschafft worden sein, und Kapitän Jones und die Gardener wünschten nicht, daß wir uns in diese höchst persönlichen Dinge einmischen …“
Harald nickte und wippte mit der rechten Fußspitze im Walzertakt … „Genau dasselbe nehme ich an, mein Alter, obwohl mir Verschiedenes, was wir wissen, nicht recht in diese Theorie hineinpaßt. So zum Beispiel das U-Boot, der Bau der Villa, – – alles viel zu umständlich, wenn das Brautpaar Jones’ Schuldlosigkeit wirklich durch Zwangsmittel beweisen wollte. – Übrigens findest du in demselben Heft noch einige Personalnotizen über Harriet Gardener … Gib mal her … So, danke … Hier sind sie schon …
Miß Harriet Gardener, einziges Kind des Chikagoer Multimillionärs James Gardener und seiner gleichfalls bereits verstorbenen Gattin Henny, geborenen Garlan-Gordon, aus dem alten englischen Geschlecht der Garlan-Gordons von Bovery-Castle, – – und so weiter …
Nun hast du auch eine Erklärung für die drei Namen unserer Heldin. – Ja, mein Alter, wir wissen fraglos schon eine ganze Menge, aber was wir wissen, ergibt keinen rechten Reim. Außerdem – ja – außerdem dürfen wir auch nicht … reimen, denn wir haben unser Wort verpfändet. Hiermit wollen wir also auch den Fall Garlan endgültig zu Grabe tragen, falls eben nicht Umstände eintreten, die uns zwingen, nicht gerade der Villa, aber ähnlichen Dingen unsere vielfach sehr unerwünschte geistige Regsamkeit zu schenken … – reiche mir den Zigarettenkasten … Aha … das Walzerkonzert ist aus. In drei Minuten werden wir die neuesten Tagesnachrichten hören …“
Wir hörten sie nicht.
Es hatte an der Eingangstür geläutet. Ich war hinausgegangen …
Eine Depesche …
Harst reißt sie auf. Überfliegt sie …
Sagt …
„Schalte den Lautsprecher aus … Die Depesche ist von Fräulein Wladislawa[12] Tucholski aus Danzig …
Harald Harst, Berlin-Schmargendorf,
Blücherstraße 10.
Bruder seit vorgestern abend verschwunden. Hatte Brief an Sie geschrieben mit Einlage. Bin sehr besorgt, da Bruder mit Villa sich beschäftigt hatte. – Kommen Sie. Bezahle alles. – Drahtantwort …
Tucholski, Danzig,
Hundegasse 10.“
Harst hatte vorgelesen – zuckte die Achseln …
„Schlimme Sache für uns …! Wenn Fräulein Wladislawa nur nicht die Villa erwähnt hätte …!! Uns sind die Hände gebunden. Mein Wort breche ich nicht. Natürlich ist Tucholski, als er nachts die Villa umschlich, abgefaßt worden und leistet nun vielleicht der Herzogin Gesellschaft … Wir müssen der Wladislawa also abwinken – hilft nichts!“
Mir wollte das nicht recht in den Kopf. „Im Grunde handelt es sich jetzt doch um einen neuen Fall,“ suchte ich Haralds Meinung umzustoßen, denn – ehrlich! – die Villa lockte mich.
„Wortklauber!!“ Und er steckte sich eine neue Zigarette an und winkte mir zu, den Apparat wieder einzuschalten.
Ich legte den kleinen Hebel herum, und im selben Moment ertönte die Stimme des Ansagers aus dem Trichter:
„… Diese Katastrophe umso rätselhafter, als die von den beiden Bergungsdampfern mit Hilfe von Tauchern gehobenen Teile des U-Bootes nur vermuten lassen, daß es sich um ein Fahrzeug bisher unbekannter Konstruktion gehandelt hat, dessen Nationalität offenbar streng geheim gehalten werden sollte. Die drei in der Danziger Bucht heute mittag aufgefischten Leichen in Matrosentracht gestatteten gleichfalls keinerlei Folgerungen auf die Nationalität der Toten. Die ganze Angelegenheit erscheint derart geheimnisvoll, daß sowohl die Danziger Behörden als auch die Kommandantur des polnischen neuen Kriegshafens Gdingen nördlich von Adlershorst eine eingehende Untersuchung eingeleitet haben. Man nimmt an, daß es sich vielleicht um ein russisches U-Boot handelt, das die Befestigungen bei Gdingen auskundschaften sollte. Hiergegen spricht wiederum der Gesichtsschnitt der drei Leichen, der die Toten unzweifelhaft als Nichtslawen erkennen läßt …“
Und da – – läutete es abermals an der Flurtür.
Ich öffnete …
Vor mir stand eine Dame im Lodenmantel, Ledermütze, totenbleich, völlig erschöpft:
Harriet Gardener!
Der Leser muß mir schon gestatten, auch einmal bei der Wahl der Titel ironisch zu werden.
Friede auf Erden – – Ironie!!
Seeabrüstungskonferenz zerplatzte … Frankreich unterhält eine Armee, die seine Finanzen ruiniert. England baut Kriegsschiffe – – ohne Ende! Polen rüstet mit Hilfe Frankreichs. Rußland rüstet, hat die stärkste Armee der Welt. Japans Flottenbauplan paßt sich dem seines Pazifik-Rivalen Amerika an. In China schneidet man sich zu tausenden die Hälse ab, weil … fremdes Geld arbeitet. Aber – in Genf blasen Friedensschalmeien …
Komödie alles – – Affentheater!! – –
Harst führte Miß Gardener zart zum Sessel, schenkte ihr ein Glas Madeira ein, war ganz liebevolle, liebenswürdige Fürsorge.
Unser später Gast sagte dann mit stillem Seufzer:
„Das Schicksal war stärker, Herr Harst. Nun bin ich zu Ihnen gekommen, nachdem wir Sie … weggeschickt hatten …“
Sie nahm die dargebotene Zigarette und blickte Harald unsicher – flehend an …
„Helfen Sie mir!“
Ich reichte ihr Feuer. Ich konnte ihr Gesicht nun aus nächster Nähe in aller Ruhe betrachten. Sie war schön, reizvoll, pikant. Und sie hatte um den Mund die unverkennbaren Linien einer willensstarken Natur, dazu klare offene Augen. Sie gefiel mir.
„Helfen Sie mir, Herr Harst!“ wiederholte sie noch eindringlicher.
„Kapitän Jones ist mit dem U-Boot verunglückt, nicht wahr?“ fragte Harald gedämpft, indem er seinen Sessel etwas drehte, so daß er Miß Gardener gerade vor sich hatte.
„Ah – Sie wissen schon?“
„Einiges … Nur Bruchstücke, Miß Gardener. Ihr Verlobter hat …“
„Mein heimlich Verlobter,“ verbesserte sie … „Sidney wollte nicht, daß ich vor der Öffentlichkeit seine Braut würde. Erst wollte er seinen Namen von der Schmach befreien, die …“
„… ich kenne, Miß Gardener. Halten wir uns nicht mit Unnötigem auf. Erzählen Sie ohne jeden Rückhalt. Wer mich aufsucht, muß ehrlich sein.“
Sie blickte zu Boden …
„Das … kann ich nicht, Herr Harst … Ich darf Ihnen nicht alles anvertrauen. Hier stehen politische Dinge mit auf dem Spiel, die …“
„Pardon, – – dann muß ich leider von vornherein jede Hilfe ablehnen. Ich will mit Politik nichts zu tun haben, nichts … Ich bin Privatmann, der aus reiner Neigung für absonderliche Geschehnisse sich gern selbst auf gefährliche Abenteuer einläßt. Haben diese jedoch auch nur im geringsten politische Färbung, so verliert selbst das außergewöhnlichste Problem seinen Reiz für mich.“
Miß Gardener beugte sich vor und streckte wie beschwörend die Hand nach Harald aus …
„Herr Harst, hören Sie mich erst an … Entscheiden Sie sich nachher. Ich verspreche Ihnen nicht zu viel: das, was Sie aufklären sollen, ist vielleicht das dunkelste Geschehnis der letzten Jahre, ist ein Abenteuerroman … ohne Schluß. Der Schluß fehlt noch. – Darf ich sprechen?“
„Es ist wirklich zwecklos …!“
„Auch wenn es um ein Dutzend Menschenleben geht?! Ein Dutzend Leute, Herr Harst, die jetzt vielleicht von einer weiblichen Bestie gefoltert werden!“
„Sie gebrauchen starke Ausdrücke … – Ist diese Bestie die Herzogin d’Avricoult?“
„Ja …! Und mehr als Bestie! Es gibt keine Bezeichnung, die abgrundtiefe Verworfenheit dieses Weibes zu erschöpfen …! Es …“
„Erzählen Sie, Miß Gardener …“ Und er lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück und begann zu rauchen.
„Ich danke Ihnen, Herr Harst. Nun weiß ich, daß Sie mich nicht ungetröstet wegschicken werden. – Ich will mich ganz kurz fassen. Im Januar dieses Jahres lernte ich Sidney Jones in Newyork auf einem Balle kennen. Wir verliebten uns ineinander, und eine Woche drauf hatte er bereits mein Ja-Wort, obwohl mir inzwischen mehrere anonyme Briefe zugeschickt worden waren, die mich vor Sidney warnten, der ein Verhältnis mit einer französischen Aristokratin haben sollte. Sidney hatte dies rundweg geleugnet, aber auch zugegeben, daß die Herzogin von d’Avricoult, Witwe und sehr reich, sich ihm geradezu aufgedrängt habe. – Wir verlobten uns in meiner Loge in der Metropolitan-Oper. Sidney küßte mich während des dritten Aktes von Puccinis Boheme des öfteren, und – am Schlusse des Aktes erschienen Detektive der Staatspolizei und verhafteten ihn. Vor dem Kriegsgericht konnte er die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, durch Vermittlung der Herzogin militärische Geheimnisse an eine fremde Macht verkauft zu haben, nicht entkräften. Anderseits reichte das Belastungsmaterial zu einer Verurteilung nicht aus. So mußte er denn als einer jener Unglücklichen, denen ein Freispruch „aus Mangel an Beweisen“ die ganze Zukunft zerstört, aus der Marine ausscheiden. – Sidney und ich waren uns darüber einig, daß die Herzogin aus Eifersucht den Verdacht in raffiniertester Weise auf ihn gelenkt hatte. Wir wollten nun um jeden Preis die Herzogin zwingen, ihren wahren Mitschuldigen, der nur Marineoffizier sein konnte, zu nennen. Ich ließ mir von der Detektei Pinkerton[13] vierzehn intelligente Leute nachweisen, die ich in meine Dienste nahm. Daß Jeanne d’Avricoult Geheimagentin im Dienste …“
„Bitte – keine nähere Bezeichnung des Landes, für das diese Frau tätig war,“ fiel Harst ihr rasch ins Wort.
„Wie Sie wünschen … – Also sie war Geheimagentin. Ihre reichen Geldmittel stammten aus den Kassen jenes Landes, das den Militarismus scheinbar verflucht und doch …“
„Genug …! – Weiter …“
„Einer meiner Detektive, der alte Morrisson, ein außerordentlich heller Kopf, entwarf nun den Plan, wie wir die d’Avricoult in unsere Gewalt bringen könnten. Ich fuhr nach Europa und ließ unweit von Adlershorst …“
„Gut, das weiß ich alles durch den Baumeister Tucholski.“
Miß Gardener murmelte ein „Wortbrüchiger Lump“ und fuhr wieder wie bisher sehr sachlich fort: „Dann kann ich mich noch kürzer fassen, Herr Harst. Ich verließ Danzig für drei Wochen. Sowohl Sidney wie ich hatten schon vordem zum Turnier in Nizza gemeldet. Dort fand sich auch die Herzogin ein, die wohl meines Verlobten wechselnden Aufenthalt, nicht aber den meinen durch ihre Unteragenten hatte beständig feststellen lassen. Sidney näherte sich ihr wieder, vollkommen harmlos tuend. Dann verließ ich Nizza wieder – in aller Heimlichkeit. Drei Tage drauf verschwand Jeanne d’Avricoult. Sie wurde nachts von meinen Leuten an die Küste und in ein U-Boot gebracht, das eigens zum Alkoholschmuggel erbaut worden war und für das ich gern eine Million geopfert hatte. Sidney übernahm später das Kommando des Bootes, nachdem Morrissons Versuche, unsere Gefangene zur Preisgabe des Namens des wahren Landesverräters zu veranlassen, mißglückt waren, womit wir freilich gerechnet hatten. Das U-Boot schaffte dann die Herzogin schließlich nach Adlershorst in meine Villa. Dies geschah in der Nacht, nachdem ich die Villa als fertig übernommen hatte. Drei Tage drauf wurde Morrisson, der den Pförtner spielte, auf Sie beide aufmerksam. Ihr Bad am Strande vor der Villa, besonders Ihr häufiges Tauchen, hatten den gewitzten Detektiv argwöhnisch gemacht. Er telefonierte mir seine Beobachtungen nach Danzig, worauf ich in der Pension Krüger, wie Sie wissen, unter anderem Namen Quartier bezogen hatte. Sidney war gerade an dem Tage mit mir zusammen gewesen, und nach der vielsagenden Szene bei der Krüger heftete er sich an Ihre Fersen …“
„Und wir wurden nachts abgefangen und morgens auf Ehrenwort wieder frei gelassen … Weiter!“ Harald war geradezu nervös … Die Sache schien ihn überaus zu interessieren.
„Gestern nacht nun,“ erklärte Miß Harriet mit fliegender Erregung, „traf einer meiner Leute den Tucholski dicht vor der Villa in dem kleinen Wäldchen, vermutete in ihm einen neuen Spion, schlug ihn nieder und trug ihn ins Haus, wo Morrisson sofort in dem Bewußtlosen den Baumeister wiedererkannte. Da er ohne mich und Sidney nichts unternehmen wollte, gedachte er Tucholski, der sehr bald wieder erwachen mußte, zunächst in einen der geheimen Räume einzusperren. Hierbei nun stellte er gegen halb zwei Uhr morgens fest, daß die Herzogin entflohen war. Morrisson stand vor einem Rätsel. Das Kellergemach, in dem unsere Gefangene in durchaus bequemer Art untergebracht war, hatte nur ein Oberlichtfenster und eine eiserne Tür. Beide wiesen keinerlei Beschädigungen auf. Morrisson war geradezu entsetzt, denn die Folgen der Flucht der Herzogin waren für uns alle gar nicht auszudenken. Morgens rief er mich an. Sidney war wieder im U-Boot, – zu welchem Zweck, möchte ich hier unerörtert lassen. Und um zehn Uhr vormittags verbreitete dann der Danziger Sender mit der ersten Bekanntgabe der Tagesnachrichten die neue Schreckenskunde: Ein U-Boot war unweit des Zoppoter Seesteges morgens sechs Uhr durch eine Explosion zerstört worden. Diese Explosion fand bei schwerem Regen statt, warf jedoch eine so hohe Wassersäule auf und verursachte eine so starke Detonation, daß sofort eine Anzahl Boote und ein Dampfer die Unfallstelle aufsuchten, wo jedoch lediglich drei Tote nachher und einige Trümmer geborgen wurden …“
Miß Gardener hatte diese letzten Sätze nur noch mit verzweifelter Energie, ihre Tränen zu unterdrücken, hervorstoßen können. Jetzt brach sie in ein wildes Schluchzen aus, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte so bitterlich, daß Harald rasch aufstand und zu ihr trat …
„Miß Gardener, Sie müssen unbedingt Ihren Schmerz bekämpfen und uns sofort angeben, was Sie von unserer Hilfe erhoffen. Sie fürchten, Kapitän Jones könnte mit dem U-Boot umgekommen sein. – Bitte, sprechen Sie …!“
Sie nahm sich zusammen. Sie war keins jener Mädchen von einst, die lediglich in einer stumpfen Unwirklichkeit dahinlebten. Sie war eine Tochter dieses unseres Jahrhunderts, war voller Energie, Selbstbeherrschung und Zielbewußtsein.
„Herr Harst,“ sagte sie, die nassen Wangen trocknend, „mir ist es ein Rätsel, wie das U-Boot hat verunglücken können. Es hatte keine Sprengstoffe an Bord, und Minen oder dergleichen – –, nein, das gibt es in der Danziger Bucht nicht. Also – woher diese Explosion?! Woher?!“
Harald setzte sich wieder.
„Hm – und ein anderes U-Boot, ein Torpedo?!“ meinte er mit einem besonderen Blick auf Harriets verweintes Gesicht. „Ich nehme an, daß Kapitän Jones, um seinem Vaterlande einen Dienst zu erweisen, mit dem U-Boot … Spionage treibt. Die fremde Macht, gegen die er seine geheimen Absichten gerichtet hat, ist ihm vielleicht längst auf der Spur und hat ihn nun für alle Zeit unschädlich machen wollen, vielleicht …“
Miß Gardener nickte nur …
Ihre Augen schwammen schon wieder in Tränen.
Dann erklärte sie seufzend: „Wenn Sidney tot ist, hat das Leben keinen Wert mehr für mich … Aber ich hoffe, daß er lebt …“
Harald sagte voller Teilnahme: „Man darf die Hoffnung nie aufgeben – nie!! Und gerade der Umstand, daß die Herzogin den Kapitän liebte und daß sie in der Nacht, die der Katastrophe vorausging, entflohen ist, scheint mir eher auf einen Unfall besonderer Art hinzudeuten. Jedenfalls möchte ich Sie in dieser bösen Lage nicht im Stiche lassen, Miß Gardener. Das Politische scheidet für mich aus. Ich will festzustellen suchen, wie die Explosion sich ereignete und ob Sidney Jones wirklich tot ist. – Hören Sie nun meine Vorschläge, Miß … – Halt, zunächst noch ein paar Fragen … Erstens: Was ist mit Tucholski geschehen?“
„Er ist heute abend, während ich mit einem Flugzeug nach Berlin reiste – zu Ihnen! – von Morrisson freigelassen worden, hat fünfzigtausend Gulden Schmerzens- und Schweigegeld erhalten und wird nichts verraten. Er ist ein … käuflicher Lump!“
„Ist Morrisson in der Villa geblieben?“
„Nein … Er hält sich in Danzig auf. Wir mußten ja damit rechnen, daß die Herzogin gegen uns Anzeige wegen Freiheitsberaubung erstattete. Morrisson und meine beiden anderen Leute – die übrigen befanden sich als Besatzung auf dem U-Boot – sind als Seeleute verkleidet vorläufig in Sicherheit. Die Villa steht leer.“
„Sehr gut …! Sie wird Bewohner erhalten. – Schraut, telephoniere an den Flughafen Tempelhofer Feld und bestelle für zwei holländische Kaufleute für ein Uhr morgens ein Flugzeug nach Danzig. – Sie, Miß Gardener, vermieten Ihre Villa bis auf weiteres an dieselben Holländer durch schriftlichen Vertrag, den sie natürlich mit Henny Garlan unterzeichnen. – Wer hat die Schlüssel zur Villa?“
„Der Kurhausbesitzer in Adlershorst. Er kennt meine Handschrift, da ich dort ja Monate gewohnt habe, gleichzeitig freilich auch in Danzig bei Frau Krüger.“
„Dann setzen Sie sich bitte an den Schreibtisch … Schreiben Sie, was ich Ihnen diktiere … – Schraut telephoniert bereits … Sie bleiben dann hier bei mir als Gast meiner Mutter zurück. Hier sucht Sie niemand …“ –
So bestimmte Harst … Kurz, bündig …
Am anderen Tage mittags zwölf Uhr …
Der Großfürst-Ober des Kurhauses Adlershorst bediente den Holländer van Deimen und dessen kleine dicke Gattin, ahnte nichts, daß dieses Ehepaar dieselben Herrschaften waren, über die er sich vor drei Tagen so gründlich geärgert hatte.
Van[14] Deimen ließ dann den Kurhausbesitzer an den Tisch bitten, legte ihm den Mietvertrag vor, erklärte, er wolle auch mal Zoppot und das Kasino gründlich kennenlernen … Monte Carlo sei ihm bereits zu langweilig. Frau Garlan habe er zufällig in Berlin in einem Weinrestaurant kennengelernt, und die Villa sei so recht etwas nach seinem Geschmack, er werde gleich morgen ein paar Zimmer möblieren und auch ein paar Diener und einen Koch engagieren.
So erhielten wir anstandslos die Schlüssel ausgehändigt, gaben großfürstliche Trinkgelder, ließen unsere Koffer nach der Villa schaffen, bezahlten die Träger mit Hundertguldenscheinen – ganz so, als ob das Geld bei uns keine Rolle spielte.
Und – waren um vier Uhr nachmittags allein in dem leeren Hause, in den beiden Stuben, wo Morrisson gewohnt hatte.
Allein …?!
Harald war vorsichtig.
„Durchsuchen wir erst einmal die ganze Villa, mein Alter,“ sagte er leise. „Miß Gardener hat uns ja die Zeichnungen mitgegeben, damit wir die geheimen Räume finden, die Morrisson durch kleine bauliche Veränderungen hergestellt hat.“
So begannen wir denn den Rundgang …
Auf Strümpfen – lautlos, wie ich betonen muß, – – und die Pistolen schußbereit.
Meine Damenrolle war mir nichts Neues. Ich hatte in unserem reich bewegten Dasein schon allerlei Frauentypen verkörpert. Allerdings – die Röcke hinderten mich, und am liebsten hätte ich sie abgelegt. Harst wollte nicht …
„Du bleibst Frau van Deimen!“
Der Rundgang führte uns durch alle Räume bis in den Turm, dann erst durch einen der geheimen Gänge hinab in den Kerker der Herzogin Jeanne d’Avricoult.
Vor der Eisentür zwei Riegel und ein festes Schloß. In dem halbdunklen Gemach billige neue Möbel, – nichts fehlte zu bescheidener Behaglichkeit.
Auf dem Tische vor dem kleinen Sofa stand eine Karbidlampe. Harst zündete sie an. Dann sah er sich die Tür und das Oberlichtfenster sehr genau an.
Nun – wenn ein so gerissener Bursche wie James Morrisson keinerlei Spuren eines gewaltsamen Entweichens der Gefangenen entdeckt hatte, war kaum damit zu rechnen, daß dies einem Harst doch noch gelingen würde.
Er fand denn auch nichts.
„Rätselhaft – in der Tat!“ meinte er nachher achselzuckend und setzte sich auf einen der beiden Rohrstühle. „Man könnte auf den Gedanken kommen, daß einer der Leute der Gardener sich durch die Herzogin hat bestechen lassen. Aber Miß Harriet versicherte so bestimmt, die Leute seien unbedingt zuverlässig! Also – streichen wir diesen Verdacht, zumal es noch eine bessere Erklärung gibt.“
„Welche?“
„Tucholski!“
„Tucholski?! Wie das?! Er wird sich doch kaum hier in die Villa hineingewagt haben, außerdem wurde er auch in derselben Nacht draußen überrascht und …“
Harst erhob sich.
„Lassen wir das jetzt … Warten wir die Nacht ab …“
„Du meinst, daß …“
„Ich meine, daß die Spione der Jeanne fraglos bereits wissen, wer nun hier haust: ein Ehepaar! – Ob sie in uns Harst und Schraut vermuten, bezweifle ich. Sie werden uns für zwei von Harriet Gardeners Söldnern halten, die hier die Holländer spielen. – Gehen wir in die Pförtnerwohnung und schlafen wir Vorrat.“
Wir tatens … bis acht Uhr. Dann bummelten wir nach Adlershorst, aßen im Kurhaus großfürstlich zu Abend und gaben großfürstliche Trinkgelder und gingen scheinbar zu Bett …
Immer damit rechnend, daß wir genau beobachtet würden.
Nachdem wir eine halbe Stunde im Dunkeln dagelegen hatten, kleideten wir uns im Dunkeln leise wieder an und … begaben uns zu meinem nicht geringen Erstaunen lautlos wie die Katzen und immer wieder horchend in den Kerker der Herzogin hinab. Da die Nacht völlig windstill war, herrschte sowohl im Hause als auch draußen eine schier bedrückende Ruhe.
Als wir die Zelle betreten hatten, leuchtete Harald den mit einem kleinen Teppich belegten Boden ab und winkte mir dann zu, unter das Sofa zu kriechen, flüsterte: „Du tust nichts, mag kommen, was da will …“
„Und du?“
„Ich habe oben zu tun …“
„Und ich – soll nichts tun?!“
„Nur wenn man dich angreift! Ziele aber nicht auf edlere Teile … Ein Schulterschuß ist am besten … Wiedersehen … Und – – leise!!“
Ich schaltete meine Taschenlampe erst aus, nachdem ich meine Knochen unter dem Sofa mühsam, aber weich untergebracht hatte, denn ich hatte mir aus dem Bett der Frau Herzogin eine wollene Decke entliehen und diese auf den Fliesenboden ausgebreitet. Ich legte eben keinen Wert darauf, mir etwa Rheumatismus auf den kalten Steinen zu holen.
Was ich ausgerechnet hier in diesem Verließ sollte, war mir gänzlich unklar. Wollte Harst mich etwa nur los sein, weil er „oben“ irgend etwas Gefährliches plante?! Zuzutrauen war ihm das schon.
Aber – einen Trost in meiner Zelleneinsamkeit hatte ich doch: Ich brauchte nicht lange zu warten!!
Nein, es mochten kaum zehn Minuten verstrichen sein, als sich etwas höchst Merkwürdiges zutrug.
Ich lag im Dunkeln unter dem Sofa, und ich lag trotz der Wolldecke recht unbequem.
Mit einem Male hörte ich ein Geräusch. Da um mich her die lautloseste Stille herrschte, konnte ich unschwer feststellen, daß dieses merkwürdige Knarren (es klang wie das brummende Quietschen zweier unter starkem Druck sich reibender Hölzer) von unten heraufklang.
Von unten?!
Unter dem Fliesenboden dieses Kellers konnte sich nur eine Betonschicht und dann der lehmige Sand des Abhangs befinden, auf dessen Höhe die Villa stand.
Das Knarren wiederholte sich.
Ich faßte in die Tasche meines Damensportrockes und holte die Clementpistole hervor. Als ich gerade die Sicherung zurückschob, vernahm ich eine andere Art Geräusch: ein leises metallisches Kreischen – auch von unten.
Eine Weile still …
Dann dicht vor mir – scheinbar dicht vor mir – ein Schurren, Rauschen, als ob ein Teppich über den Boden geschleift wird.
Und dann – – aus der Tiefe ein blendender Lichtstrahl, der in Kegelform das Oberlichtfenster traf, sofort zur Seite schwenkte und rundum lief …
Die Zelle wurde abgeleuchtet.
Und der, der es tat, stand mit dem halben Oberkörper über dem Rande einer Falltür im Fliesenboden.
Zum Glück hatte man jedoch den Teppich so zur Seite geschoben, daß er sich vor dem Sofa hoch aufgebauscht hatte. Auf diese Weise war ich dem mißtrauisch spähenden Blick des Mannes in der Falltür entgangen.
Dieser Mann hatte eine dunkle Sportmütze auf, hatte einen schwarzen, dünnen Bürstenschnurrbart und ein sehr mageres Gesicht mit unruhigen schwarzen Rattenaugen.
Jetzt schwang er sich vollends in die Zelle hinein, beugte sich herab, griff mit den Affenarmen in die Falltür hinein und half einem jungen Menschen, der eine Art Radleranzug trug, nach oben. –
Wie die Herzogin Jeanne d’Avricoult entflohen war, wußte ich nun.
Wer waren aber diese beiden Männer?!
Nun – ich will mich hier keineswegs herausstreichen. Durchaus nicht. Die Überlegungen, die ich blitzartig anstellte, ergaben sich eigentlich von selbst.
Herr Aloysius Tucholski hatte die Villa gebaut. Er war ein käuflicher Lump. Er hatte ohne Zweifel in die Villa noch mancherlei hineingebaut, was Harriet Gardener nicht ahnte, so auch diese Falltür und einen dazu gehörigen Gang, der Gott weiß wo münden mochte. Durch diesen Gang hatte er in die Villa eindringen wollen und hatte zu seinem Erstaunen das Kellergelaß bewohnt gefunden, war mit der Gefangenen dann schnell handelseinig geworden und hatte ihr später zur Flucht verholfen. – So mußte es sein …
Den hageren Kerl hielt ich für Tucholski, den schlanken jungen Burschen mit dem überraschend vornehmen, rassigen Gesicht für die Herzogin.
Es stimmte auch.
Denn der Hagere flüsterte jetzt:
„Die eiserne Tür ist nur angelehnt. Sie sind auch hier unten gewesen, die beiden Holländer, haben aber nichts entdeckt …“ Er meckerte triumphierend. „Die anderen können folgen, Frau Herzogin …“
Sein Deutsch klang hart und gebrochen.
Der junge Bursche winkte in das Loch hinab, und im Nu schwangen sich drei weitere Gestalten empor, deren Äußeres mir wenig sympathisch war. Es waren drei Chinesen.
Welche Rolle gerade die chinesischen Hilfstruppen der neuen russischen Machthaber zuzeiten der blutigsten Entwicklungsabschnitte des Bolschewismus gespielt haben, ist wohl allgemein bekannt. Wo es galt, Massenschlächtereien zu veranstalten, da wirkten Chinesen mit. Der Chinese wird ungemein leicht zur kaltblütigsten Bestie. Das Gefühl des Mitleids der Menschlichkeit ist diesen Schlitzaugen vollkommen fremd. Wo ihr Haß gegen die Europäer sich ungehindert austoben kann, sind sie die willfährigsten Henker.
Drei von diesen Höllensöhnen in einer dunkelbraunen Leinenuniform standen jetzt in demütiger Haltung vor der Herzogin.
„Ihr kennt die Räume … Die beiden Berliner schlafen … Ihr kennt die geheime Tür zur Pförtnerwohnung. Arbeitet lautlos – nur Messer!“
Die drei streiften die Schnürschuhe ab, nahmen die blanken langen Klingen ihrer Messer zwischen die Zähne und schlichen davon – – wie unheimliche Spukgestalten. –
Ich hielt mich genau an Haralds Befehle. Ich rührte mich nicht, wartete ab.
Die Herzogin setzte sich auf einen Stuhl. Tucholski lehnte an der Sofaecke. Ich sah von den beiden jetzt nur die Beine.
Tucholski räusperte sich … Meinte dann kriecherisch …
„Frau Herzogin gestatten wohl eine gut gemeinte Einwendung … Halten Sie es wirklich für möglich, daß zwei Ihrer Leute imstande sind, hier das Ehepaar van Deimen so getreulich zu spielen, daß niemand den Wechsel der Personen merkt?“
Die Herzogin lachte. „Lappalie!! Harst und Schraut sind von uns heute achtmal heimlich vor dem Kurhause Adlershorst photographiert worden, außerdem ist jede Einzelheit ihrer Kleidung notiert. Morgen mittag werden die Ersatzleute zur Stelle sein.“
„Sehr gut, sehr gut …! Aber immerhin gibt es noch drei Personen, die den hiesigen Aufenthalt der beiden Berliner kennen dürften: Miß Gardener, Harsts Mutter und vielleicht auch die Köchin Mathilde. Und bevor nicht diese drei für alle Fälle gleichfalls …“
„Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Herr Tucholski. Wo so viel auf dem Spiel steht wie hier, sind ein paar Menschenleben nichts – gar nichts! – Haben Sie sonst noch Bedenken?“ Das klang sehr ironisch.
Tucholski meckerte denn auch sehr devot …
„Durchaus nicht – durchaus nicht!“
Schweigen …
Ich hörte, wie die Herzogin sich eine Zigarette anzündete.
Schweigen … –
Was mochte nun oben in der Pförtnerwohnung vorgehen?!
Lag Harst dort auf der Lauer? Würde er allein mit den drei Gelben fertig werden?!
Jedenfalls: Er hatte vorausgeahnt, was ich hier in der Kellerzelle erleben würde, er hatte gewußt, wie Jeanne d’Avricoult entflohen war, er hatte daher auch fraglos jetzt dort oben seine Vorbereitungen getroffen. –
Da kehrten die drei Höllensöhne auch schon zurück. Der eine meldete in miserablem Englisch:
„Sind tot, die beiden … Schliefen fest … Sicher tot … Jeder drei Stiche …“
Ich glaubte mich verhört zu haben.
Log der Kerl?!
Wir sollten tot sein?!
Da sagte die Herzogin gleichgültig:
„Die Leichen werden nachher versenkt. Halt, jetzt den anderen …“
Der andere?! – Wer?!
Im Augenblick war es mir gleichgültig. Mich bewegte lediglich die Frage, wen die gelben Mörder erstochen haben könnten. Und – wenn nicht: wie hatte Harst es fertig gebracht, diese drei Banditen zu einer so frechen Lüge zu zwingen?! Hatten sie sich etwa selbst vom Tode dadurch frei gekauft, daß sie ihre Herrin beschwindeln mußten?! – Möglich war das schon. Harald hatte noch ganz andere Dinge zu Wege gebracht.
Inzwischen waren die drei nach unten zu durch die Falltür verschwunden. Tucholski und die Herzogin waren wieder allein.
Merkwürdig: damals kam mir auch nicht einen Moment zum Bewußtsein, daß ich selbst in höchster Lebensgefahr schwebte. Wurde ich entdeckt, so war’s doch sehr fraglich, ob meine Clement alle fünf Gegner so rasch kampfunfähig machen könnte, daß ich von ihnen nichts mehr zu fürchten hatte.
Vielleicht war’s bei mir die geistige Anspannung, dieses fortwährende Grübeln über die eine Frage, was sich in der Pförtnerwohnung zugetragen haben mochte …
Vielleicht auch der Gedanke, daß Harald in der Nähe und daß meine Lage daher selbst im ungünstigstem Falle keineswegs bedrohlich war … –
Die Herzogin und Tucholski verharrten regungslos auf ihren Plätzen. Ein paarmal räusperte der Pole sich, als ob er irgend etwas äußern wollte. Doch die beißende Ironie der Jeanne d’Avricoult mochte in seiner Erinnerung noch zu frisch sein. Er blieb stumm.
Auf dem kleinen Tische stand eine Karbidlampe. Ihr Schein fiel grell auf die im Schoße verschlungenen Hände der Herzogin und auf Tucholskis Beinkleider und Stiefel.
Die Herzogin löste jetzt die zwanglos ineinander gelegten Hände und schob die rechte in die Seitentasche ihrer Sportjacke. Tucholski konnte nicht beobachten, was ich sah. Die Tasche bauschte sich, und ich bemerkte in dem Stoff die Umrisse einer zur Faust geballten Hand und einer kleinen Pistole. Die Hand hielt diese Pistole umspannt.
Sollte ich etwa entdeckt worden sein?! Wollte die herzogliche Agentin mir etwa unvermutet ein paar Kugeln unter das Sofa senden?!
Ich paßte genau auf, belauerte jede ihrer Bewegungen. Ich würde eben schneller sein …!!
Aber nichts geschah … Nur die kleine Frauenhand blieb vorhand in der Tasche verborgen, und allmählich kam mir eine Vermutung, die diesem Weibe wahrlich keine Unehre antat.
Ich gab für Tucholskis Leben keinen Pfifferling mehr! Mir erschien es gewiß, daß diese Mörderin ihn für alle Zeiten stumm machen würde und daß dies vielleicht sehr bald eintreten würde. Ich hatte ja bereits genügend Beweise, daß Harriet Gardener nicht übertrieben hatte: Jeanne d’Avricoult war eine Tigerin, eine Bestie schlimmster Art! –
Dann Geräusche unterhalb der Falltür …
Einer der Gelben schwingt sich empor …
Und da zog die Herzogin ihre Waffe …
Der Arm hob sich, nahm die Richtung auf den armen Schuft von Polen.
„Herr Tucholski …“ (ich wünschte, ich könnte den Klang dieser Sätze hier wiedergeben!!), „Sie haben mir einen großen Dienst geleistet und ich habe Sie anständig bezahlt. Wir sind quitt. Käufliche Subjekte Ihrer Art darf ich auf meinen etwas wirren Lebenspfaden fernerhin nicht dulden. – Binde ihn, Ischila!“
Der Befehl galt dem Chinesen.
Vom Schranke her, wo Aloys Tucholski lehnte, kam ein Ächzen …
Dann kreischte der Feigling: „Ich schwöre Ihnen bei der heiligen Jung…“
Und verstummte …
Sah dasselbe wie ich …
Aus der Falltür wurde der Körper eines gefesselten, ziemlich dicken Weibes emporgehoben …
„Frana!!“ brüllte Tucholski da …
„Glaubten Sie, daß ich Ihre Schwester und Vertraute schonen würde?!“ lachte die d’Avricoult. „Nein, nicht einer von denen, die überflüssige Mitwisser sind, wird je ausplaudern können, was die Villa Garlan in den verflossenen Nächten sah!“
Frana Tucholski (Frana, Abkürzung für Franziska) hatte einen Knebel im Munde. Ihr Gesicht konnte ich nur Sekunden betrachten. Es war schwammig, bleich und vor Angst verzerrt.
Die Herzogin zielte noch immer auf Tucholski. Jetzt waren die drei Höllensöhne wieder beieinander, und im Nu lag Aloys Tucholski neben seiner Schwester auf den Dielen. Er schien halbtot vor Angst zu sein, denn er rührte sich nicht und stieß nur winselnde Laute aus, die durch den Knebel stark gedämpft wurden.
Wenn ich bisher erstaunlich ruhig und kaltblütig geblieben, so wurde das nun mit einem Schlage anders.
Konnte ich dulden, daß die Geschwister hier etwa ohne weiteres abgeschlachtet würden?!
Wo blieb Harst?! Weshalb ließ er mich allein diese schwere Verantwortung für zwei Menschenleben tragen?! War er etwa verhindert sich einzumischen?! Was hinderte ihn? Was war derweil oben in der Villa vorgegangen?
Ich hörte die Galoppschläge meines Herzens. Ich fühlte sie bis an den Hals hinauf. Ich überlegte … Und kam zu dem Entschluß, mich trotz allem an Haralds Weisung zu halten: Abzuwarten!
Da – – die drei Höllensöhne kletterten abermals nach unten …
Abermals waren die Geschwister Tucholski, die Herzogin und ich allein in dem stillen Kellergemach. Aloys’ Winseln war verstummt. Jeanne d’Avricoult saß mit dem Rücken nach der halb offenen eisernen Tür hin. Mit einem Male glitt ein Mann lautlos wie ein Gespenst hinter die ahnungslose Geheimagentin. Eine Faust, deren Hieb einen Gummiknüttel ersetzt, brachte die Schläfenhaare der Herzogin in Unordnung …
Die Herzogin lag bewußtlos auf dem Sofa …
„Schnell, Schraut …!!“
Und ich war schnell …
Im Nu – es waren kaum zwei Minuten – hatte Harald die Jacke der Agentin an, die Mütze auf dem Kopf, – – hatten wir das Weib unter das Sofa geschoben und den Teppich noch höher gebauscht.
Harst fand in der linken Jackentasche einen langen grünen Schleier, schlang ihn um Kopf und Gesicht, schraubte die Karbidlampe niedriger.
Da war auch der erste der Chinesen schon im Rahmen der Falltür. Ich konnte gerade noch durch die Eisentür in den Gang draußen schlüpfen, wo ich stehen blieb.
Aus dem Dunkel heraus sah ich, daß die drei Höllensöhne jetzt … den gefesselten und geknebelten Kapitän Sidney Jones emporhoben und neben die Tucholskis legten.
Sidney Jones – – er lebte!! – Ich freute mich für die tapfere Harriet Gardener …
Und auf dem Stuhl saß wie vorhin die Herzogin …
Nur mit dem grünen Schleier … Und – nur die Herzogin war’s nicht mehr. Aber das konnten die Gelbgesichter bei der schwachen Beleuchtung nicht bemerken.
Was würde sich nun ereignen?! Was bezweckte Harst mit dieser flüchtigen Maskerade.
Die Herzogin wirkte gebieterisch und ganz unzweideutig …
Tucholski sollte nach oben getragen werden.
Zwei der Schlitzäugigen packten zu.
Nun mußte ich schleunigst den Weg freigeben. Ich eilte davon. Ich fand die Geheimtür, war bald oben im Flur und verbarg mich in der Vorhalle hinter einem Schranke. Die Tür zur Pförtnerwohnung lag mir gerade gegenüber und stand offen. Ich schaltete meine Taschenlampe, deren Linse ich mit der Hand verdeckt hatte, wieder aus.
Ich wartete.
Gleich darauf erschienen auch die beiden Gelben mit Tucholski. Sie trugen ihn in die Pförtnerbehausung. Einer hatte eine kleine Laterne vor der Brust festgeknöpft.
Sie waren kaum in der ersten Stube mit ihrer Last verschwunden, als in der Vorhalle zwei neue Gestalten lautlos erschienen: Harst und Jones!
Daß Harald den einen Chinesen unten im Kellerkerker niedergeschlagen hatte und daß nun die beiden anderen an die Reihe kommen sollten, war selbstverständlich.
Wir waren drei gegen zwei.
Und der Erfolg war still und befriedigend: auch die beiden letzten Gegner waren überwältigt!
Tucholski wurde von den Stricken und dem Knebel befreit. Ihn und Jones schickte Harst sofort in den Keller zurück. Sie sollten zuerst Jeanne d’Avricoult nach oben bringen, dann den Chinesen und Franziska Tucholski.
Wir standen im Wohnzimmer der Pförtnerbehausung. Die Verbindungstür nach dem Schlafzimmer war angelehnt.
Vor uns lagen gefesselt und geknebelt die beiden Gelben und starrten uns mit stumpfsinniger Gelassenheit an.
Wir waren allein mit ihnen – – und den Toten dort hinter der Tür.
Zwei Toten …
Es mußte so sein. Ich hatte Harald nichts gefragt. Aber ich hatte auf dem Sofa hier blutige Spritzer gesehen. Die elektrische Beleuchtung zeigte mir auch auf dem Fußboden vor dem Sofa eine größere dunkle Lache.
Ich wollte in die Schlafstube hinein.
„Bleib’!“ meinte Harst. „Nachher!!“
Ich drehte mich um …
„Wer ist hier ermordet worden?“ fragte ich beklommen.
Harald erwiderte nur: „ Ich konnte es nicht mehr verhindern … Drei Parteien – damit hatte ich nicht gerechnet!“
Dann kamen Tucholski und Kapitän Jones mit der Herzogin …
Im Wohngemach der Pförtnerwohnung gab es jetzt vier Gefangene und fünf andere, die mit diesen Gefangenen abzurechnen hatten.
Die Gefangenen saßen nebeneinander auf Stühlen. Die Herzogin war wieder bei Bewußtsein. Harst nahm ihr den Knebel ab. Meinte:
„Sie werden mich erkennen, Frau d’Avricoult. Ich bin Harst … und nicht tot.“
„Leider nicht,“ sagte die Agentin achselzuckend. „Oder – – noch nicht!! Sterben werden Sie bestimmt, Herr Harst. Wer mit mir anbindet, ist verloren.“
„Hierüber könnte man streiten,“ erklärte Harald durchaus höflich. „Sie haben ja in der Tat allerlei Hilfsmittel zur Verfügung, die manchen schrecken könnten: ein ganzes U-Boot mit einer Ihnen blindlings ergebenen Besatzung. Dieses U-Boot hat das andere, in dem Kapitän Jones sich befand, torpediert. Jones und noch sechs Leute wurden gerettet, wie er mir bereits mitteilte. – Doch – der Reihe nach …! Zuerst eine Frage: Ihre drei Henker, Frau d’Avricoult, haben doch hier oben Harst und Schraut erstochen – dort auf dem Sofa … Da – und da … Blutspuren. Aber wir leben. Ihre Mordgesellen scheinen sich also geirrt zu haben, wie Sie zugeben müssen. Sind Sie nicht neugierig, die Toten zu sehen?“
Das leidenschaftliche, rassige Gesicht der Herzogin veränderte sich jäh.
Ihre Blicke streiften die drei Gesellen mit banger Frage.
Harst öffnete die Tür zur Schlafstube und schaltete auch dort das Licht ein.
Ich sah auf jedem der Betten einen Mann in Matrosentracht liegen. Die Gesichter waren mit Handtüchern bedeckt.
„Frau d’Avricoult,“ sagte Harald und lehnte sich an die Türfüllung, „Sie haben in Ihrem Leben zwei große Leidenschaften gehabt – – Lieben, zwei Lieben … Die eine Liebe war Ihr einziger jüngerer Bruder, Jean Emile Gaston Herzog von d’Avricoult. Die zweite Liebe war anderer Art: Kapitän Sidney Jones! Als dieser Sie verschmähte, rächten Sie sich und stürzten ihn ins Unglück.“
Jeanne war sehr bleich geworden.
„Weshalb sprechen Sie von meinem Bruder?“ stieß sie hervor.
„Ihr Bruder war Ihr bester Gehilfe … Ihr Bruder war halb Dichterling, halb Verbrecher. Zu ihm gehörte untrennbar seine Geliebte Rosa Mertinac, eine Tschechin. Die Polizei so manchen Landes hegte den Wunsch, Jean und Rosa einmal abzufassen. Es gab keine gefährlicheren Hoteldiebe …“
„Gab?! Gab?!“ schrie die Herzogin und schnellte hoch.
„Ja – gab! – Sie hatten offenbar Ihren Bruder und die Mertinac für diese Nacht hierher bestellt. Nachdem ich Schraut unten in Ihrer früheren Zelle zurückgelassen hatte, beobachtete ich hier oben zwei Leute, die äußerst gewandt durch ein Fenster einstiegen und sich dann im Dunkeln auf das Sofa dort setzten …“
Jeanne d’Avricoult, der nur die Hände auf dem Rücken gefesselt waren, stürzte in die Schlafstube, beugte sich über das eine Bett und riß mit den Zähnen das Handtuch von dem Gesicht des einen Toten …
„Jean …!!“ – – und sie taumelte zurück …
„Ja – Ihr Bruder, – – mit falschem Bart … Auch Rosa Mertinac ist verkleidet gewesen. Sie können Ihren Mordgesellen also keinen Vorwurf aus dieser Personenverwechslung machen …“
Die Herzogin war in die Knie gesunken …
Rutschte auf den Knien zum Bett zurück, küßte die bleiche Stirn des Toten und weinte.
Tucholski, seine Schwester und auch Sidney Jones waren blaß, stumm …
Eine geraume Weile gab Jeanne d’Avricoult sich ihrem Schmerze rückhaltlos hin.
Dann erhob sie sich …
Die Veränderung in ihrem ganzen Wesen war ohne jeden Übergang, die noch tränennassen Augen ruhten mit einem nicht wiederzugebenden Ausdruck des Hasses auf Harald.
„Das – – sollen Sie büßen …!!“ sagte sie eisig. „Sie … und die anderen!! Versuchen Sie doch einmal die Villa zu verlassen!! Warten Sie hier noch eine Stunde, und meine Leute werden …“
„Verzeihung – – ein Irrtum, Jeanne d’Avricoult,“ unterbrach Harald sie. „Ein Irrtum, den ich … veranlaßt habe. Gewiß, das U-Boot landete außer Ihnen und dem gefangenen Kapitän Jones noch zwölf Leute, die die Villa umzingelt hielten. Ich sah diese Hilfstruppen … Und dank meiner geringen Fähigkeit, jede Rolle zu spielen und jede Stimme im Flüsterton nachzuahmen, schickte ich die zwölf vorhin zum Strande und zum Boote hinab. Wenn Sie sich überzeugen wollen … bitte … Ein Blick durch das Fenster … Der Mond scheint … – Also mit diesen zwölf Mann ist es nichts … Mehr noch: Sie werden jetzt auch die übrigen Gefangenen herausgeben müssen.“
„Niemals!“ Sie lachte schrill … „Niemals!! Gut – mag man mich hier vor Gericht stellen: James Morrisson und die fünf anderen werden sterben und …“
„Gericht …?! Vor Gericht stellen?! Nein – auch ein Irrtum! Ich mische mich nicht in politische Dinge ein. Ich wünsche nur, daß die sechs freigegeben werden und daß Sie mir die Beweise für die Schuldlosigkeit Kapitän Jones ausliefern, also den wahren Landesverräter nennen und – – dann verschwinden!! Mehr will ich nicht!“
Die Herzogin verzog voller Hohn ihr vor Haß entstelltes Gesicht.
„Oh – – Sie wünschen, Herr Harst …!! Schau’ an, … Sie wünschen!! Sehr höflich, ganz Gentleman[15]. Nur – – Ihr Wunsch wird mir nie Befehl sein, nie! Die Gefangenen befinden sich in meinem U-Boot, und …“
„… und dieses liegt neben der Leuchtboje der Villa Garlan unweit der Küste – – ganz recht. Sie kennen diese Leuchtboje, aber – – Sie kennen doch nicht alle Geheimnisse dieses merkwürdigen Zauberschlosses, Frau Herzogin. Vielleicht erklärt Ihnen Kapitän Jones, weshalb man die Leuchtboje dort verankert hat, – nicht nur zum Signalisieren, denke ich … Ich habe da nämlich in dem Balkonzimmer unter dem Fensterbrett zehn elektrische Druckknöpfe entdeckt, und auf der Unterseite des aufklappbaren Fensterbrettes eine Zeichnung … Ich glaube, es handelt sich um eine sogenannte Minensperre … Ich will darauf nicht weiter eingehen, denn auch das ist … hohe Politik, Friedensschalmeien sind’s, die nur ein wenig laut dröhnen und die peinliche Eigenart haben, jedes Schiff zu versenken, das irgendwie diese Villa bedrohen könnte …“
„So sprengen Sie das U-Boot doch in die Luft!!“ höhnte die Agentin mit gehässiger Überlegenheit. „Bitte – – dann fliegen auch Morrisson und die fünf anderen mit in die Ewigkeit!“
Harst schaute starr auf das bedeckte Antlitz des toten Herzogs Jean d’Avricoult[16].
Sagte:
„Ich pflege meine Schachzüge sehr sorgfältig zu berechnen … Als ich, nachdem Ihre drei Mordbuben hier die Falschen niedergestochen und auf die Betten geworfen hatten, diese Stube betrat, atmete Ihr Bruder Jean noch. Ich verband ihn. Er ist jetzt nur bewußtlos, kann vielleicht am Leben erhalten werden, wenn sofort ärztliche Hilfe ihm zuteil wird.“
„Ist – – das wahr …?“
Und wieder riß sie das Handtuch von dem Gesicht des Bruders, beugte sich ganz tief über ihn …
„Er – – atmet!!“
„Ja – – er atmet, Frau Herzogin. – Befindet sich in dem U-Boot ein Arzt?“
„Ja! – – Oh – – ich flehe Sie an, – – haben Sie Erbarmen! Ich will alles tun, was Sie wünschen … Ich will …“
„Wer verkaufte Ihnen die amerikanischen Geheimpapiere?“
„Der Kapitänleutnant Roger Champell!“
„Beweise?“
„Hier …!“
Sie riß ihre Weste auf … Sie trug auf der Brust eine kleine Ledertasche …
„Hier – – Champells Briefe … Der Lump hat zwei Millionen erhalten … Hier seine Quittung …“
„Es genügt. – Und jetzt werden Sie mir angeben, wie Sie mit Ihrem U-Boot Signale tauschen wollten … Durch die Leuchtboje – durch gewöhnliche Morsezeichen?“
„Ja …“
„Dann wird Kapitän Jones also an Ihrer Stelle signalisieren, daß die Gefangenen an Land gebracht werden sollen … Die zwölf Leute gehen an Bord, und dann dürfen Sie ebenfalls dorthin – mit Ihrem Bruder und der toten Rosa Mertinac … – Bitte, Kapitän …!!“
Sidney Jones eilte davon …
Ich stellte mich ans Fenster … Harst hatte das Licht im Schlafzimmer ausgeschaltet.
Ich sah den mondhellen Strand, ein Boot, ein Häuflein Menschen …
Und sah nun in den Tiefen des Wassers die Riesenqualle aufleuchten …
Die Lampe der Boje …
Aufleuchten, erlöschen … aufleuchten, erlöschen …
Hinter mir betete die Herzogin am Bett ihres Bruders um dessen Leben …
Die Riesenqualle leuchtete, erlosch …
Die Herzogin betete …
Dann … etwas rechts von der Boje drei Antwortblitze …
Das U-Boot hatte verstanden, tauchte auf … Ein Boot kam … Brachte sechs Mann und vier Ruderer … –
Harst hatte Jeanne d’Avricoult die Hände freigemacht und sie auf die Terrasse geführt … Damit sie von unten gesehen wurde …
Alles ging nach Wunsch. James Morrisson und die fünf waren bei uns, und dann verließen vier Lebende und ein Schwerverletzter und eine Tote das Zauberschloß, stiegen zum Strande hinab: Jeanne, drei Chinesen, Jean und Rosa!
Als der stille Trupp sich mit den Leuten unten am Gestade bei den beiden Booten vereint hatte, schaltete Harst auch im Wohnzimmer das Licht aus und wir alle begaben uns in das Balkonzimmer, von wo wir den Gegner nicht nur beobachten, sondern auch jede Teufelei mit dem Lösen einer der Sperrminen beantworten konnten.
Die Boote stießen vom Lande ab. Das U-Boot hatte sich dem Ufer bis auf hundert Meter genähert …
Die Geschwister Tucholski und wir beide standen an dem rechten der beiden Fenster, Kapitän Sidney Jones und James Morrisson an dem linken, und das war dasjenige, unter dessen weißlackierten Fensterbrett sich die gefährlichen Schaltknöpfe befanden. Die fünf übrigen Überlebenden des versenkten U-Bootes, über dessen nähere Bestimmung ich mir noch immer im unklaren war, hielten sich mehr im Hintergrunde des dunklen Zimmers und hatten vorhin bei der kurzen Wiedersehensszene mit Jones jeder einen festen Händedruck ausgetauscht, genau wie auch aus ihrem sonstigen Verhalten hervorging, daß sie sich mit dem Kapitän durchaus gleichberechtigt fühlten. Deshalb waren auch in mir gelinde Zweifel aufgestiegen, ob es sich bei Morrisson und diesen Männern, deren Äußeres mehr auf militärische Dienstzeit als auf längere Tätigkeit als Detektive schließen ließ, wirklich um Angestellte der Newyorker Weltdetektei handelte.
Unwillkürlich beobachtete ich nun auch unsere Nachbarn am anderen Fenster weit schärfer. Morrisson und Jones flüsterten andauernd miteinander, und es schien so, als ob der alte Morrisson, der nur auf einen weniger scharfen Beobachter den Eindruck eines gebrechlichen Menschen machte, den Kapitän zu irgend etwas zu bestimmen suchte, was dieser nicht recht billigen konnte.
Wenn mein Blick dann wieder zum mondhellen Strande hinabglitt, wenn mein naturfreudiges Auge sich an den Schönheiten der schillernden Silberbahn des Lichtes des vollen Nachtgestirns auf den sanft bewegten Wogen begeisterte, vergaß ich wohl für ein paar Sekunden die noch immer reichlich seltsamen Nebenumstände des Falles Garlan und glaubte in dieser neuen schönen idyllischen Villa lediglich als harmloser Gast zu weilen …
Denn bezaubernd schön war dieser blitzsaubere, gefällige Bau mit seinem Fernblick über die Danziger Bucht …
Nach Norden konnte man wie helle Pünktchen die vielen Lichter des noch unfertigen polnischen Kriegshafens Gdingen deutlich erkennen. Rechter Hand die strahlenden Lampenreihen des Zoppoter Steges – weiterhin die erleuchteten Strandvillen der kleineren Badeorte Glettkau, Brüsen und des Hafens Neufahrwasser mit dem blinkenden Leuchtturm.
Nur wer eine so klare Mondnacht wie diese einmal inmitten der Danziger Bucht verlebt hat, kann begreifen, daß ich wieder wie so oft mehr kleiner Poet als Mann der Tat wurde und war.
Da – – meine Augen schweiften verträumt wieder zu Morrisson und Jones zurück. Seltsam – ich sah dort drei Gestalten … Einer der fünf Leute schien sich zu ihnen gesellt zu haben.
Noch seltsamer –: dieser Mann, von dem ich im einfallenden Mondschein nur eine überschlanke Gestalt im dunklen Anzug erkannte, drängte jetzt den alten Morrisson und den Kapitän vom Fenster zurück …
Ich vernahm gleichzeitig Teile eines erregt hervorgestoßenen Satzes in englischer Sprache …
„… nicht vergessen, daß ich nichts versprochen habe …“
Mehr hörte ich nicht …
Auch Harst hatte den Kopf gewandt …
Und mischte sich doch nicht ein, als der schlanke Mann nun das Fensterbrett hochklappte …
Ich ahnte das Kommende. Ich glaubte, daß Harald vielleicht in diesem Moment die Sachlage nicht so klar überschaute wie ich. Ich wollte zuspringen, den Schlanken vom Fenster fortreißen …
Denn unter dem Fensterbrett in der Mauer leuchtete es in grünlichen Zahlen – grünlich-gelb erstrahlte jede Nummer der einzelnen Kontakte: Leuchtfarbe!
Harsts Flüstern erreichte mein Ohr, während seine Hand mich festhielt: „Politik! Geht uns nichts an!!“
Eine andere Hand glitt drüben über die Zahl eins hin, verdunkelte sie …
„Harriet!!“ rief Kapitän Jones halb entsetzt.
Da war’s schon geschehen …
Ich blickte hinab auf die See, auf das U-Boot, das bereits zu tauchen begonnen hatte. Nur der Turmdeckel schwamm noch als dunkle Scheibe auf den Silberwellen …
Dann schien die Faust eines Meeresgiganten das U-Boot sowie eine ungeheure Fontäne aus den Tiefen emporzutreiben …
Ein schäumender, im Mondlicht an den Rändern silbern glänzender Wasserberg schwoll im Sturm empor … Ein dumpfer Knall machte die Villa erbeben, ließ die Fensterscheiben klirren.
Mit weiten Augen starrte ich auf die gigantische Fontäne, auf die Trümmer dessen, was einst ein U-Boot gewesen, auf die zurücksinkenden Wassermassen und die brandenden Wogen, die fast haushoch nun infolge der Explosion gegen den Strand einstürmten, sich ebenso schnell aber wieder beruhigten.
Wir alle – vielleicht mit drei Ausnahmen – befanden uns noch minutenlang im Bann der furchtbaren Katastrophe.
Drei Ausnahmen … Der alte Morrisson hatte das Zimmer verlassen. Jones hatte eine Taschenlampe eingeschaltet, und deren Lichtkegel zeigte uns nun am Fenster Harriet Gardener bleiches, schönes Gesicht mit einem Ausdruck finsterer Entschlossenheit.
Harriet Gardener!! Also sie war der schlanke Mann …! Sie war aus Berlin hierher geeilt, sie hatte es in der Stille unseres Berliner Heims nicht ausgehalten und war hier im verhängnisvollsten Augenblick erschienen – am verhängnisvollen Fenster. Neben ihr, den Arm leicht um ihre Schultern gelegt, Kapitän Sidney Jones …
Und – – seine Hand war’s nun, die ruhig auch die anderen Kontakte schloß, so daß draußen auf See Mine um Mine ihre Kraft an den Wassern der Bucht erprobte, bis auch die letzte der Riesenfontänen in sich zusammensank. Dann ein Neues: in der Ferne gerade gegenüber der Villa weit in See ein paar grelle Lichtblitze …: Signale!
Und als Kapitän Jones sie gesehen – – wie wir, nur mit wissenden Augen, drehte er sich langsam uns und den Geschwistern Tucholski zu.
„Herr Tucholski, Sie werden genau wie Ihre Schwester und Herr Harst und dessen Freund schweigen! Ich werde Ihnen später einen Scheck zukommen lassen, mit dessen Höhe Sie zufrieden sein dürften. Ändern Sie Ihren Wohnsitz und auch Ihren Namen, rate ich Ihnen. – Für uns schlägt jetzt die Trennungsstunde. Begeben Sie sich nach Danzig zurück, genau wie das holländische Ehepaar van Deimen von hier verschwinden wird. Nach einer halben Stunde existiert die Villa Garlan nicht mehr.“
Er sagte es ohne jede Erregung, deutete auf die Tür: „Gehen Sie!“
Die Tucholskis drückten sich stumm hinaus. Der Tod war ihnen in dieser Nacht so nahe gewesen, daß sie wohl für alle Zeit aus diesem Erlebnis eine ernste Lehre zogen.
Dann reichten Jones und Harriet uns beiden stumm die Hand. Ein fester Händedruck, ein leises „Ich danke Ihnen!“ von Harriets Lippen, – – ein letzter flüchtiger Blick zum Fenster hinaus … Und ich sah in voller Fahrt ein dunkles Fahrzeug mit zwei niederen dicken Schloten auf den Strand zuhalten.
Wir holten unsere beiden Koffer, schleppten sie in den Garten, schulterten sie und wanderten durch die helle Nacht am Rande des Steilhangs gen Adlershorst. Dort, wo die Lehmklippe Adlershorst mit dichtem Baum- und Strauchbestand vor den Häusern des kleinen Ortes sich hochreckt, machten wir halt, schauten zurück …
Menschen, klein wie Puppen, eilten zum Ufer hinab, stiegen in ein bereits gelandetes Boot … Ein Motorkutter war’s … Mit sanftem Knattern löste er sich aus der Brandung und schoß davon – dem großen Fahrzeug zu …
Gleich darauf schien ein gewaltiger Erdrutsch die Anhöhe, auf der das kleine Zauberschloß seine feinen Umrisse gegen den Nachthimmel zeichnete, für alle Zeit zu vernichten – – und mit ihr auch die Villa Garlan! Wir hörten bis zu uns hin das dumpfe Krachen und Splittern und Dröhnen … In Sekunden war die Stelle leer, wo soeben noch der zierliche Bau gestanden hatte. An jener Stelle gähnte eine Schlucht, – – und unten in den Dünen lag ein Berg von Erde, Mauerresten, Bäumen, Sträuchern – – wie nach einem starken Erdbeben … – –
Als wir am Abend dieses selben Tages in Berlin in Haralds Arbeitszimmer vor dem schwarzen Trichter saßen, meldete die Danziger Welle unter den letzten Nachrichten den „riesigen Erdrutsch bei Adlershorst und die geheimnisvollen Explosionen in der Bucht“. – Viel mehr war darüber auch in den Zeitungen nicht zu lesen.
Erdrutsch?! Möglich!! – Möglich!, sage ich …
Vieles ist möglich … – Wenn die breite Öffentlichkeit ahnte, wie es hinter den Kulissen des Friedenstheaters der Großmächte ausschaut, würde jeder meiner Leser sich unschwer die Einzelheiten des Falles Garlan auch hinsichtlich der politisch-militärischen Momente richtig ergänzen können. – Ich selbst hatte keinen Grund mehr, diese hier geschilderten Vorgänge zu verschweigen, nachdem ein englisches Weltblatt die Hauptpunkte des Falles Garlan durch sein Heer von Reporter-Detektiven ziemlich lückenlos hat auskundschaften lassen – zu Propagandazwecken für neue Rüstungen! Was jene Zeitung darüber schrieb, las sich wie ein Abenteuerroman. Was ich hier geschrieben habe, ist immerhin gründlicher und richtiger. Die wahren Namen der Beteiligten hat auch jenes Blatt nicht ermitteln können, – und wir auch nicht, denn selbst „Harriet Gardener“ stimmte nicht, wie ich genau weiß. Eines stimmt aber: an demselben Abend auch, als die Danziger Welle den Erdrutsch verkündete, erschien bei uns der Mann mit den Mäusen … davon das nächste Mal … – –
Anmerkungen: