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Der Mann mit den Mäusen

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 204

 

Der Mann mit den Mäusen.

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1927 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 36.

 

1. Kapitel.

Der Zeuge.

Die Standuhr hatte gerade elf geschlagen, und an diesem kühlen Augustabend gab unser Empfänger die Tanzmusik des Großsenders Langenberg besonders lautstark im Lärmtrichter wieder.

Harst hatte im Sessel am Kamin vor sich hin gedöst, und ich war gerade mit Ausschneiden beschäftigt und klebte die uns wichtig erscheinenden Zeitungsnachrichten in die verschiedenen Sammelmappen ein.

Der dunkle Ton des Uhrschlagwerks vermischte sich mit den heiteren Klängen eines Walzers zu angenehmen Akkorden, da läutete es draußen im Flur.

Ich schaute Harst verwundert an: „Sollte …?!“

„Geh öffnen … Der späte Gast läutet abermals …“

Ich ging. Ich schaltete das Licht im Flur ein und hob die Klappe von dem kleinen Fenster. Die Sperrkette ließ ich noch vorgelegt. Wir müssen eben vorsichtig sein, zumal in der verflossenen Woche ein Abenteuer erledigt worden war, bei dem wir es offenbar mit Gegnern zu tun gehabt hatten, deren Mittel jeder Art unerschöpflich waren.

Draußen Mondlicht …

Ich sah auf der Treppe zur Haustür einen kleinen buckligen Kerl mit grauem Bart und einem schwarzen Schlapphut stehen, unter dem linken Arm einen Kasten von doppelter Größe einer Zigarettenkiste etwa.

„Sie wünschen?“ Ich hatte auch das kleine Fenster zurückgeschoben.

„Gott sei Dank!“ rief der Graubart, dessen Anzug recht abgerissen war. „Gott sei Dank, – lassen Sie mich bitte schnell ein, Herr Harst … Ich muß Ihnen etwas mitteilen, das keinen Aufschub verträgt … Ich war soeben Zeuge eines Mordes … hier in der Blücherstraße.“

Nun, – wenn der Alte nicht gerade den schwarzen Kasten bei sich gehabt hätte (ähnliche Vorfälle haben mich mißtrauisch gemacht), würde ich sofort geöffnet haben.

„Was enthält Ihr Kasten da?“ fragte ich.

„Weiße dressierte Mäuse!“

Und im Nu hatte er den Vorderteil hochgeklappt. Ich erkannte einen Käfig und in diesem ein paar helle, hin und her huschende Flecken.

Ich öffnete. Der Mann war fraglos einer jener Bettler, die nachts durch die kleinen Kneipen ziehen und die Gäste auf diese oder jene Weise anschnorren.

Harst war in die Tür getreten und musterte den Alten.

„Ein Mord?“ fragte er gespannt.

Der Bucklige drehte sich um. Seinen Schlapphut, der von Fettflecken glänzte, hatte er abgenommen. Das Licht aus Haralds Arbeitszimmer traf voll auf sein verwildertes Gesicht. In diesem mageren, faltigen, ungesund – kittgrauen Gesicht war so manches in dieser scharfen unbarmherzigen Beleuchtung beachtenswert. Zunächst die hohe kluge Stirn, deren oberen Abschluß das leicht gelockte frei zurückgestrichene grauweiße Haupthaar bildete. Dann unter dieser Stirn in tiefen Höhlen unter buschigen dicken Brauen ein Paar blitzende dunkle Augen von merkwürdigem Ausdruck. Verbitterung, Melancholie, finsterer Trotz, Feindseligkeit gegen Welt und Schicksal, kühle Berechnung und zielbewußte Tatkraft: das verrieten diese Augen unfehlbar, wenn man noch die Mundpartie und die schmale Nase mit ihrer kühnen Krümmung zur Beurteilung hinzuzog.

Alles in allem in seiner Art jedenfalls ein Charakterkopf. Nichts Sympathisches, nichts Unsympathisches: der Kopf eines Mannes, dem das Leben hart zugesetzt hatte und der nun dem Grabe entgegenschlich mit der ungeheuren Empörung eines Menschen, der vielleicht zu Großem bestimmt gewesen und hinter einem Zaun enden würde. So schätzte ich ihn ein, und ganz unrichtig war diese Vermutung nicht, wie sich später herausstellte.

Er hatte sich also nach Harald umgewandt, betrachtete ihn still, verbeugte sich und sagte mit einer von Bier und Schnaps zerstörten Stimme:

„Das sind Sie also, Herr Harst …! Ich … freue mich …!“

Sein Atem, sein ganzer Körper strömte den faden häßlichen Geruch tiefster Verkommenheit aus.

Seine Kleidung waren in der Tat nur Lumpen. Ein Blick auf seine Hosen und Schuhe entsetzte mich, und dies um so mehr, als sowohl die fast graziös-nachlässige Verbeugung als auch seine Ausdrucksweise einen Zugehörigen der gebildeten Stände verrieten.

Dann besann er sich wohl auf Haralds Frage und fügte hinzu: „Es muß ein Mord gewesen sein, Herr Harst …!“

„Bitte treten Sie näher … So, nehmen Sie dort im Sessel Platz. Zigarre gefällig, Herr …“

„Justus Rumak …, Rumak, Herr Harst … Wenn ich bitten darf … Verbindlichsten Dank … Feuer habe ich selbst …“ Und er zog bei Gott ein elegantes goldenes Feuerzeug hervor, nachdem er mit seinem eigenen zierlichen Taschenmesser umständlich und mit einer gewissen freudigen Sachkunde der Zigarre die Spitze abgeschnitten hatte.

Seinen Kasten und seinen Hut hatte er auf einen Stuhl gelegt.

Ich sah seine schmutzigen krallenartigen Finger mit den dicken Gichtknoten, und tiefes Mitgefühl erfaßte mich. Ich ahnte hier eine jener Daseinstragödien, wie sie in der Weltstadt vielfach sich unbemerkt, unbeachtet abspielen.

Er rauchte drei lange Züge schweigend und mit dem verständnisvollen Behagen eines Mannes, der ein gutes Kraut wohl zu schätzen weiß.

„Eine tadellose Brasil,“ sagte er dann und lächelte wehmütig.

Sein Blick glitt durch das Zimmer, ein Blick, der schönheitsdurstig und voller Sachkunde die einzelnen Gegenstände dieses Raumes, der einem exotischen Museum gleicht, prüfte und bewertete.

„Also bei Harald Harst …!“ meinte er leiser wie im Selbstgespräch. „Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, jemals hier weilen zu dürfen. Ich wünschte nur, eine weniger blutige Ursache hätte mich hierher geführt …“

Harst lehnte in seinem Kaminsessel und beobachtete den Mann mit unverhohlenem Interesse. Es erging ihm wie mir. Justus Rumak mußte Teilnahme erwecken.

Nach kurzer Pause erklärte der Alte dann weit gesammelter und energischer: „Um Ihnen, meine Herren, wenigstens anzudeuten, mit wem Sie es zu tun haben: Ich war vor zehn Jahren noch ein gesuchter Artist. Dann verunglückte ich. Daher auch meine Rückgratverkrümmung. Dann ging’s mit mir bergab. Heute ziehe ich durch die Kneipen und führe den Gästen meine dressierten weißen Mäuse vor. Seit Jahren schlage ich mich auf diese Art durch – das heißt, ich will nicht lügen, meine Herren, denn Sie dürften mit den Steuerbehörden kaum in Verbindung stehen …“ – er lächelte fein – „das heißt: ich verdiene ganz gut bei diesem Geschäft, an guten Tagen bis vierzig Mark. Allerdings leisten meine Tiere auch etwas.“ Er schaute nach dem schwarzen Kasten, in dessen Klappdeckel verschiedene kleine Türchen mit blanken Messinggelenken eingefügt waren.

Er pfiff ein paar Takte, rief: „Leo, einen Zukunftsbrief für eine Dame!“ und sofort hob sich eins der Türchen und eine weiße Maus mit einem kleinen Brief im Maule erschien und setzte sich oben auf den Deckel auf die Hinterpfötchen.

„Zurück, Leo …!!“ – und das Mäuschen hob mit den Krallen das Türchen und schlüpfte wieder in das Dunkel zurück.

„Sehr gut,“ lobte Harald.

„Acht kleine Künstler habe ich, Herr Harst,“ meinte Rumak bitter lächelnd. „Am besten gehen die Damenbriefe, Stück für Stück zehn Pfennige, und dann auch die Tüten mit Drops für Kinder … – Aber um meine Personalien erst einmal zu erledigen, denn Sie müssen doch wissen, mit wem Sie es zu tun haben: Ich bin Junggeselle, fünfzig Jahre alt und …“

„Erst fünfzig!“

„Ja, Herr Harst, leider … Ich werde bei meiner zähen Natur dieses elende Dasein wohl noch ein paar Jahrzehnte ertragen müssen. Ich wohne nicht weit von Ihnen – in der Berliner Straße in Wilmersdorf, Nummer 71, – – es ist das jenes kleine uralte Häuschen inmitten der modernen Mietspaläste, das dem bockbeinigen Schneidermeister Theodor Schulz gehört, der aus reiner Niedertracht sein Grundstück nicht veräußert und seine elende Bude dort als Schandfleck für die ganze Straße stehen läßt. Immerhin, der Mann hat Charakter. Dort hause ich in der einen Giebelstube, auch bereits fünf Jahre. Mir kommt’s wie eine Ewigkeit vor. – Heute abend klapperte ich hier die Blücherstraße ab. Ich war bis gegen halb zehn draußen in der Hasenheide in den Gartentheatern und wollte nur noch ein paar Kneipen vor dem Schlafengehen mitnehmen. Als ich hier das Restaurant Patzenhofer verließ, lockte mich die stille Mondnacht noch weiter gen Schmargendorf hinauf. Etwa zwanzig Meter vor Ihrem Hause, Herr Harst, kam mir von Halensee her ein Auto langsam entgegen. Es war ein großer eleganter Wagen, innen beleuchtet. Ich war gerade drüben an den Bauzaun getreten und hatte meinen Kasten niedergesetzt. In dem Wagen saß eine Dame, die sich vorgebeugt hatte und mit dem Chauffeur sprach. Die andere Seite der Straße lag im Schatten. Mich deckten die Leitern des Baugerüsts und ein paar Ziegelhaufen. Als das Auto genau in einer Höhe mit mir war, so daß ich durch die Türfenster hindurchsehen konnte, sprang ein Mann auf der mir zugekehrten Seite auf das Trittbrett und stieß der Dame durch das offene Türfenster drei- oder viermal ein Messer in den Leib. Die Dame schrie gellend auf und fiel vornüber. Der Mörder war im Nu wieder verschwunden. Er hatte ein Rad in einer Haustür stehen gehabt, schwang sich hinauf und jagte davon. Der Chauffeur war offenbar vor Schreck genauso gelähmt wie ich, bremste erst und fuhr dann weiter. Da ich wußte, daß Sie hier wohnen, Herr Harst, eilte ich über die Straße und erlaubte mir nun, Ihnen mein Erlebnis mitzuteilen. Von dem Täter sah ich nicht viel. Er trug eine große graue Schlappmütze und eine Gesichtslarve, wie sie in vielen Papiergeschäften zu haben sind, eine greuliche Larve, die wahrscheinlich den Chauffeur genauso entsetzte, wie die Tote selbst, – kein Wunder, denn auch ich war minutenlang derart verstört, daß ich mich nicht vom Fleck rühren konnte.“

Harald deutete auf das linke Fenster, dessen einer Flügel offen stand. Der zugezogene Vorhang bewegte sich hin und her.

„Ich hörte sowohl das Auto wie den Schrei,“ sagte er.

„Stimmt,“ erklärte ich lebhaft. „Auch ich hörte beides … Aber ich gab nicht weiter darauf acht.“

Harst erhob sich und ging zum Schreibtisch, nahm den Telephonhörer von der Gabel. „Der Chauffeur wird zur nächsten Unfallstelle gefahren sein. Ich werde anrufen …“

Er bekam sofort Verbindung.

„Hier Harald Harst … Ist bei Ihnen vielleicht soeben eine Dame mit Stichverletzungen eingeliefert worden? – Ja? – – Tot? – Wer? … Die Kommerzienrätin Florentine Singer? – So, Sie haben die Kriminalpolizei bereits benachrichtigt … Gut, danke …“

Er legte den Hörer wieder auf die Stützen … Hob ihn abermals ab und rief das Präsidium an …

„Hier Harst … Ah, Sie selbst, Doktor … Guten Abend … Sie haben doch soeben die Meldung von der Ermordung der Kommerzienrätin Singer erhalten. Bei mir hat sich nun ein zweiter Augenzeuge gemeldet, der sich noch bei mir befindet. Die Tat ist also immerhin von zwei Menschen beobachtet worden, dem Chauffeur und dem früheren Artisten Justus Rumak … – Gewiß, Rumak bleibt bei mir. Seine Bekundungen dürften die des Chauffeurs wesentlich ergänzen … – Schön, ich erwarte Sie denn also, Doktor … Wiedersehen …“

 

2. Kapitel.

… Geborene Florence von Digny.

Harst setzte sich wieder.

Rumak schaute ihn fragend an. „Meinen Sie, daß … daß ich vielleicht auf eine … Belohnung zu rechnen habe, Herr Harst? – Halten Sie mich nicht für geldgierig … Ich bin keiner von jenen Bettlern, die nach außen hin den Eindruck größten Elends zu erwecken suchen und die aus Geiz hungern und darben und doch tausende besitzen. Ich war einmal Dompteur. Der Name des Löwenbändigers Justus Kamur – mein umgekehrter Name – war weltberühmt. Ich spare jetzt … Ich möchte wieder empor, möchte von neuem ein Stern am Varietéhimmel[1] werden. Ich habe mir einen Illusionsakt ausgeklügelt, der unbedingt Erfolg haben wird. Aber dazu gehören mindestens zehntausend Mark … noch – – noch zehntausend!“

„Kamur!“ nickte Harald. „Ich wußte es … Ich habe Sie 1913, glaube ich, im Zirkus Busch gesehen. Charakteristische Gesichter vergesse ich nie … – Wenn ich Ihnen nun das fehlende Geld leihen würde, Herr Rumak …? Ich tue es gern … Ein Mann wie Sie, weiß, was er will und was er kann …“

Doch der ehemalige Dompteur schüttelte den Kopf. „So hochherzig Ihr Angebot auch ist, Herr Harst: Ich will aus eigener Kraft empor! Sollte Kommerzienrat Singer mir eine Belohnung zusichern, falls ich den Mörder entdecke, so werde ich den Mann finden! Ich … verstehe alles, Herr Harst. Ich kann alles – auch Ihnen so etwas ins Handwerk pfuschen … Ich bin durch die ganze Welt gereist, spreche acht Sprachen. Reisen und Verkehr mit allen Volksschichten weitet und schärft den Blick. Und als Dompteur muß man ohnedies ein guter Beobachter sein. Löwen sind wie die Weiber – unberechenbar. Auch meine Mäuse haben ihre Tücken und Nicken. – Nein – kein Darlehn, – – verdienen, was man erhält, etwas leisten – – und dann wieder empor …!“

Er sprang auf …

In diesem Moment war er nicht mehr der zerlumpte Schnorrer …

„Meine Rückgratverkrümmung, die durch Bisse meines Lieblingslöwen Caesar entstanden ist, kann durch eine Operation ausgeglichen werden … Auch dafür muß das Geld beschafft werden … Ich will wieder hoch – – will ganz oben stehen wie einst …!“

Er reckte die Arme vor, als ob er mit aller Kraft nach etwas Unsichtbarem griffe.

Dann aber verzog sich sein harter Mund zu einem wehmütigen Lächeln … „Vielleicht bleibt meine Varieté-Illusion … Illusion!!“ Und mit einem Achselzucken, das wohl seiner schnell wieder verflüchteten Begeisterung gelten sollte, setzte er sich und meinte: „Ich bin nur gespannt, was der Chauffeur aussagen wird … Und dann noch eins: Weshalb fuhr das Auto so langsam? Es machte auf mich den Eindruck, als ob die Kommerzienrätin hier in der Blücherstraße eine Verabredung hatte. Vielleicht hat der Täter die Dame hierher gelockt gehabt … Kann man wissen, was so reiche Damen im geheimen treiben?! Sie war sehr schön, die arme Frau … Vielleicht zu schön. Schönheit kann auch zum Fluch werden. Das ist ja eine sehr alltägliche Weisheit, aber in diesem Falle …“ – er stockte, schien den Faden seiner Ausführungen verloren zu haben und strich sich mit den schmierigen Fingern nachdenklich über die Stirn – „in diesem Falle, wo es sich um …“

Er schwieg wieder. Es hatte draußen geläutet.

Es war Doktor Hans Reimann, der bekannte Kriminalkommissar, in Begleitung eines jüngeren Mannes in Chauffeurtracht und eines älteren dicken Herrn mit auffällig jugendlicher Kleidung.

Die drei nahmen gleichfalls Platz, nachdem Reimann die Vorstellung kurz erledigt hatte. Der Chauffeur Karl Günter war ein Durchschnittsmensch ohne jede Besonderheit. Der Kommerzienrat Herbert Singer dagegen erschien mir als wertvolles Studienobjekt. Sein blasses schwammiges verstörtes Gesicht und der Ausdruck eines unbegreiflichen Entsetzens in seinen Augen, dazu die zitternden Hände und die unsichere Stimme bewiesen deutlich, wie furchtbar ihn dieser jähe Tod seiner Gattin getroffen hatte.

Justus Rumak hatte sich bescheiden auf einen Stuhl am Fenster zurückgezogen. Der Chauffeur saß im Schreibsessel, Reimann in der Sofaecke.

Singer betupfte sich immer wieder die schweißfeuchte Stirn, während der Kommissar den Dompteur seine Beobachtungen erzählen ließ und sich Notizen machte.

„Das, was Sie gesehen haben, Herr Rumak“ meinte er dann, „stimmt im großen und ganzen mit den Angaben des Chauffeurs überein. Nur hat dieser den Radfahrer – besser den auf dem Rade fliehenden Mörder nicht mehr bemerkt, weil dieser nach Halensee zu flüchtete. – Die Frau Kommerzienrätin,“ wandte er sich dann an Harst, „war heute im Trianon-Theater, verließ es jedoch bereits vor Schluß der Vorstellung, bestieg ihr Auto und ließ sich bis zum Henriettenplatz in Halensee fahren, obwohl sie Kurfürstendamm, Ecke Waitzstraße wohnt. Auf dem Henriettenplatz gab sie dem Chauffeur die Weisung, nach Schmargendorf zu fahren und zwar die Blücherstraße hinab ganz langsam. Hier in der Blücherstraße öffnete sie dann die Klappe und rief dem Chauffeur zu, in die Berliner Straße einzubiegen und nochmals nachher die Blücherstraße langsam hinab. In demselben Augenblick schwang sich der Mörder auf das Trittbrett und versetzte ihr vier Messerstiche, von denen einer seitlich das Herz traf. – Der Herr Kommerzienrat war daheim und ist auf telephonischen Anruf sofort zur Unfallstelle geeilt. Von dem Täter wissen wir also nur, daß er eine häßliche Papiermaske trug, ein Rad bereit hielt und …“ – Reimann blickte Singer prüfend an – „… und ohne Zweifel sein Opfer nach dieser Stelle, wo der Mord dann geschah, bestellt hatte.“

„Unmöglich!“ stöhnte der Kommerzienrat. „Meine Frau hat nie, nie auch nur die geringsten Geheimnisse vor mir gehabt. Wie sollte sie wohl irgend jemandem auch Anlaß gegeben haben, ihr nach dem Leben zu trachten?! Ich stehe hier vor einem vollkommenen Rätsel.“

Harst hüstelte … „Verzeihen Sie schon, Herr Kommerzienrat … Doktor Reimann hat jedoch durchaus recht. Die ganzen Umstände deuten zweifellos darauf hin, daß Ihre Gattin in diese Straße bestellt worden war. Eine intelligente Frau kann sehr wohl vor ihrem Manne vieles verbergen, besonders wenn dieser Gatte wie Sie durch Geschäfte dauernd in Anspruch genommen ist.“

Singer errötete vor Unwillen. „Herr Harst,“ erklärte er gereizt, „meine Frau ist über jeden Verdacht erhaben – jeden. Sie war Französin, ist in dem Ursulinerinnen-Kloster in Xantes erzogen worden und war, als ich sie 1920 in Paris bei einer Bekannten kennenlernte, Gesellschafterin bei der Gräfin Orbignac. Im Dezember 1920 heirateten wir, nachdem ich nach ihrem Vorleben die genauesten Erkundigungen eingezogen hatte. Florence von Digny war seit fünf Jahren Waise. Und – bei Gott! – ich habe es nie bereut, sie zur Lebensgefährtin trotz des Altersunterschiedes von fünfzehn Jahren erwählt zu haben. Unsere Ehe war sehr glücklich. Kinder sind uns freilich versagt worden, dafür haben wir aber einen jetzt zehn Jahre alten Knaben als eigen angenommen. Meine Frau war vollkommen Deutsche geworden. Schon als ich sie kennenlernte, beherrschte sie unsere Sprache fehlerfrei, und in der Berliner Gesellschaft, Herr Harst, hat Florentine stets eine führende Rolle gespielt. Nie – nie habe ich auch nur das Allergeringste bemerkt, was mich irgendwie hätte etwa argwöhnisch machen können. Bei all ihrer Schönheit war Florence bescheiden und dabei von jener zwanglosen Liebenswürdigkeit, die stets alle Herzen für sich einnimmt. Ihr ernstes Wesen, eine gewisse Schwermut auch sind auf den Tod ihrer Eltern zurückzuführen. Ihr Vater starb als General den Tod auf den Schlachtfeldern der Champagne. Niemals werde ich dulden, daß jemand die untadelige Ehrenhaftigkeit meiner Frau …“

Harst hob die Hand. „Entschuldigen Sie, Herr Kommerzienrat … Wenn Sie nicht dulden wollen, daß hier Leute vom Fach Vermutungen aufstellen, heißt das nichts anderes als uns die Hände zu binden, die wir den Täter finden möchten! Soll dieser Mord unaufgeklärt bleiben?!“

„Nein – das nicht, das nicht …“ wehrte Singer verlegen ab. „Mißverstehen Sie mich nicht! Denn, der dieses tragische Ende meiner Gattin …“

Jetzt war’s Justus Rumak, der ihn hastig unterbrach … „Herr Kommerzienrat, ich … ich möchte mithelfen, diesen Kriminalfall aufzuklären …!“

Singer starrte den Alten geistesabwesend an. Erst allmählich gewann er mehr Interesse für dieses verwüstete und doch noch immer von innerem Feuer belebte Gesicht, dem er bisher keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Rumak äußerte sich jetzt dem Kommerzienrat gegenüber in ähnlicher Weise wie vorhin, als wir noch mit ihm allein gewesen waren, betonte seine Vielseitigkeit und sprach von seinen Zukunftshoffnungen, ohne freilich irgendwie zu erwähnen, daß sein Mäusezirkus immerhin einen ganz netten Verdienst abwürfe.

Kommissar Doktor Reimann lächelte nachsichtig zu diesen Ideen eines Gescheiterten. Singer sagte kühl, daß er ihm gern zehntausend Mark für die Entdeckung des Täters zahlen werde. „Nur haben Sie eine Konkurrenz, die denn doch weit erfahrener ist als Sie, Herr Rumak: Harst und Schraut!“

„Das ist keine Konkurrenz,“ beeilte sich der Alte zu erwidern. „Herr Harst legt keinen Wert auf Geld und wird mir wohl gestatten, mit ihm und seinem Freunde gemeinsam zu arbeiten.“

Harald nickte. „Gern, sehr gern …!“

Singer schaute den Dompteur jetzt grübelnd an. „Ich … muß Sie schon mal gesehen haben,“ sagte er langsam, indem er offenbar in seiner Erinnerung nach den näheren Umständen dieses Zusammentreffens mit Rumak suchte. „Ich habe doch ein so gutes Gedächtnis … Ah – richtig, Sie kamen im Schwedischen Pavillon in Wannsee an unseren Tisch …“

Rumak senkte den Kopf und murmelte beschämt: „Ich zeigte dort meine dressierten Mäuse … Es war vor drei Tagen. Aber das feine Publikum dort hat für unsereinen nichts übrig. Da ist mir der kleine Mann in der Hasenheide und in den Kneipen doch lieber …“

Reimann hatte sich erhoben. „Wir müssen uns verabschieden, lieber Harst … – Sie, Herr Rumak, kommen dann wohl morgen vormittag um zehn zu mir aufs Präsidium. Ihre Zeugenaussage muß zu Protokoll genommen werden.“ Er trat ans Fenster und rief in die stille Mondnacht hinaus: „Haben Sie etwas gefunden, Soschinski?“

Draußen hatten derweil an dem Tatorte ein paar Kriminalbeamte die Straße abgesucht, und von draußen kam eine tiefe Baßstimme zurück: „Nichts, Herr Kommissar!“

Reimann, Singer und der Chauffeur verließen uns. Ich wunderte mich, daß Rumak sich ihnen nicht anschloß. Das hatte seine guten Gründe. Als wir nun wieder mit ihm allein waren, als Harald schweigend eine Flasche Rotwein entkorkt hatte, sagte der zerlumpte Bändiger unvermittelt:

„Ich habe etwas verschwiegen, Herr Harst.“

„Das ahnte ich,“ – und Harald füllte die dünnen feinen Gläser. „Sie haben auf der Straße etwas gefunden, das der Täter verlor, nehme ich an …“

„Ja … die … Larve! Hier ist sie …“ Und er knöpfte seinen schäbigen grünlich und speckig schimmernden uralten Gehrock auf. „Hier … der Mörder warf sie weg … Trotz meiner Verstörtheit sah ich etwas durch die Luft flattern … Bitte …“

Harst nahm die Papplarve, die mit einem Gummiband zu befestigen war, und betrachtete sie eingehend. Es war das Gesicht eines Chinesen mit einem schwarzen Hängeschnurrbart aus Wolle, in grellen Farben, abscheulich, abschreckend, fast teuflisch im Ausdruck. Kein Wunder, daß der Chauffeur sich über dieses gräßliche Gesicht unter der Schlappmütze entsetzt hatte.

Rumak, der jetzt neben mir am Sofatische saß, sagte zögernd: „Riechen Sie mal hinein, Herr Harst. Ich habe eine sehr feine Nase … Die Larve riecht nach Veilchen … Die Person, die sie trug, also der Mörder, muß Veilchenparfüm lieben …“

Harald schwieg, hielt die Larve dicht vor das Gesicht und meinte dann: „Parma-Veilchen[2] … Und hier oben am Rande in einen Riß eingeklemmt zwei blonde lange Frauenhaare …“

Rumak nickte eifrig. „Sehen Sie, auch ich habe infolge des Veilchenduftes gleich an eine Frau als Täterin gedacht …“

„Hm, lieber Herr Rumak, man soll sich vor voreiligen Schlüssen hüten … Wenn Sie jetzt Detektiv spielen wollen, merken Sie sich eins: das Augenfällige täuscht oft. Wichtiger sind Kleinigkeiten. – Trinken wir erst mal … Auf gedeihliche Zusammenarbeit, Herr Rumak … Hier ist auch eine neue Zigarre …“

Er holte, nachdem er dem Dompteur zugetrunken hatte, vom Schreibtisch das Vergrößerungsglas …

„Ein sehr vorsichtiger Mörder …! Er hat Zwirnhandschuhe getragen … Man sieht’s ganz deutlich … Der Betreffende hat vor Aufregung stark geschwitzt … Ich will doch einmal hinauf in mein Laboratorium gehen und diese Abdrücke kenntlicher machen. Bleiben Sie nur noch hier, Herr Rumak, und entwerfen Sie zusammen mit Schraut einen Schlachtplan …“

Er verließ das Zimmer.

Das Laboratorium liegt über Haralds Arbeitszimmer. Ich hörte dort oben zunächst auch Schritte, die aber sehr bald wieder verstummten. Und doch kehrte Harald erst nach einer Viertelstunde zurück.

Inzwischen hatte Justus Rumak mir seinen „Angriffsplan“ entwickelt, der nicht übel erdacht war. Er meinte, daß eine Frau hier sicherlich in Frage käme und daß es wohl angebracht sei, das Privatleben des Kommerzienrats genauer zu durchforschen. „Der Mann ist eitel und ein Genießer – bei all seiner anerkannten Tüchtigkeit. Eitle Männer sind einem Abenteuer nie abgeneigt. Ich besinne mich jetzt, daß damals in Wannsee im Schwedischen Pavillon auf der Weinterrasse am Tische Singers noch zwei Familien saßen, darunter eine blonde Dame von überraschendem Temperament und übergroßer Nervosität. Sie hätten nur beobachten sollen, Herr Schraut, wie diese Frau geradezu darauf brannte, daß mein Leo ihr ebenfalls einen seiner Prophetenbriefe präsentierte. Bei der war mein Vorrat aufgebraucht. Die Kommerzienrätin, glaube ich, hatte den letzten erhalten. Ich will diese Dame gewiß nicht verdächtigen, aber – – sie war so auffallend lebhaft, daß es mir nicht entgehen konnte. Ob sie … nach Parma-Veilchen roch und riecht, werde ich feststellen.“

„Sie gehen scharf ins Zeug,“ lächelte ich genau so nachsichtig wie vorhin Kommissar Reimann. Rumaks Geldgier, die als treibende Kraft hinter diesen fundamentlosen Kombinationen stand und die immerhin zu verstehen war, verführte den einstigen Löwenbezwinger denn doch zu reichlich locker gefügten Gedankenketten.

Dann trat Harst wieder ein und zeigte uns die Abdrücke der Zwirnhandschuhe am Larvenrand, die er nach dem bekannten Verfahren dunkel gefärbt hatte.

Nachdem Rumak nun seinen Angriffsplan vor Harst in derselben sachlichen Art wiederholt und wir auch die Flasche Rotwein bezwungen hatten, meinte Harald, wir beide könnten Rumak eigentlich noch ein Stück begleiten. Die Nacht sei so wunderschön …

Wunderschön … – ja, – er führte irgend etwas im Schilde!

 

3. Kapitel.

Die Stöckelschuhchen.

Vor unserem Hause schwenkte er nach links ab, also nach Halensee zu. Wir kamen bereits nach etwa zweihundert Schritten in jenen Teil der Blücherstraße, der durch die hohen, schäbigen Zäune der Holz- und Kohlenhandlungen wenig einladend wirkt. Zwischen diesen Lagerplätzen gibt es noch überall freie Stellen, Schutthaufen, Unkrautwildnisse, ein paar Bäume und einzelne Lauben mit netten Gärtchen, die als Oasen in dieser Gegend zu betrachten sind.

Rumak, seinen Käfig unter dem linken Arm, ging zwischen uns.

„Eine düstere Umgebung,“ meinte er, an seiner Zigarre saugend. „Zu einem Spaziergang wenig geeignet, finde ich … Aber Sie werden ja wohl wissen, weshalb Sie gerade diese Richtung eingeschlagen haben, Herr Harst, die ich … ebenfalls gewählt hätte, wenn ich allein gewesen wäre, denn, halte ich an meiner Theorie fest, daß eine verkleidete Frau den Mord beging, so schließe ich weiter, daß diese Frau nicht nur die Pappmaske, sondern auch später alles andere Verräterische fortgetan haben wird, also das Rad, den Männeranzug, die Mütze, und daß sie hierzu gerade eine dieser unbebauten Flächen gewählt haben dürfte. Hier links haben wir schon so einen Platz. Hier hätte ich mit dem Suchen begonnen. Ich hätte gesucht, Herr Harst …“

„Ich zweifele nicht daran, und ich bewundere offen gesagt Ihr logisches Denken, lieber Rumak. Unsere Gedanken sind in der Tat dieselben gewesen. – Sehen wir uns dort genauer um.“

Wir fanden nichts. Aber dieser freie Platz wurde nach Westen zu von einem Gärtchen begrenzt, in dem eine hell gestrichene Holzlaube mit freundlichen Fenstern stand. Der Zaun aus Stacheldraht war kein Hindernis. Wir kletterten hinüber. Hinter dem Häuschen stand im blauen Mondschein ein neues leichtes Fahrrad. Daneben lagen ein Sportanzug, eine Mütze und ein Paar braune Halbschuhe – alles ganz neu, wie uns unsere Taschenlampen zeigten.

„Also doch!“ triumphierte Justus Rumak ganz glücklich. „Dieser Fund bringt uns einen gehörigen Schritt weiter. Es muß doch ein leichtes sein herauszubekommen, wo diese Sachen gekauft sind und wer der Käufer war … Hier: der Anzug stammt aus dem Geschäft Neumann, die Schuhe sind von Tack und die Mütze – nein, die hat kein Firmenschildchen, schade …“

Er hatte seinen Kasten niedergesetzt. Er war ganz Feuer und Flamme für seine Tätigkeit als Detektiv.

Harald stand dabei und sagte in seiner überlegen-kühlen Art: „Die Jacke riecht stark nach Parma-Veilchen … Wenn nur Gelegenheitsverbrecher nicht immer wieder so töricht sein würden und ihre Pläne zu fein vorbereiten, diese eine Gelegenheit eben. Sie schießen meist weit über das Ziel hinaus. – Sehen wir uns nach Spuren um. Hier der Weg ist abends frisch geharkt worden … Vorsicht, Rumak … Keine Fährten zerstören … Aha, hier ist eine doppelte Fährte neben der Radspur … Nein, eine fünffache sogar. Sehr vielsagend … Der Mörder betrat den Garten durch die Pforte, trug das Rad und hatte zierliche Damenschuhe mit sehr hohen Absätzen an. Hinter der Laube kleidete er sich um …“

„Sie – – sie, die Mörderin!!“ verbesserte Rumak.

„Ja, natürlich, die Mörderin … Sie zog die Schuhchen aus und die neuen Männerhalbschuhe an … In dieser Verkleidung trug sie das Rad wieder auf die Straße … Hier die zweite Art der Fährten. Dann beging sie den Mord, kehrte hierher zurück, warf die Männersachen ab: dritte Fährte! Und in ihren Damenschuhchen eilte sie als Dame wieder auf die Straße – hier, vierte Fährte! Nun aber kommt das Merkwürdige … Sehen Sie, Rumak, hier ist noch eine Männerspur, die gleichfalls zur Pforte läuft. Ein schmaler Fuß, ein kurzer Schritt, ein Absatz mit Gummi beschlagen: Nummer fünf! – Wie erklären Sie sich diese fünfte Fährte?“

Rumak kniete nieder … „Geben Sie mir mal Ihre Lampe, Herr Harst …“

Er benahm sich wie ein geübter Spurensucher …

„Allerdings merkwürdig,“ erklärte er, das Gesicht über dem Boden.

Harald schaute mich an. Es war ein eigentümlicher Blick. Und dieser Blick glitt dann … zu seinen eigenen Schnürschuhen hinab, und er lächelte.

Da wußte ich, daß er vorhin, als er angeblich nur oben im Laboratorium tätig gewesen, diese Laube bereits besucht und daß er längst gesehen hatte, was anscheinend Rumak gefunden.

Ich nickte ihm zu. Er hob die Hand und legte den Zeigefinger auf die Lippen: ich sollte schweigen!

Dabei sah er plötzlich so ernst aus, daß in demselben Moment ein ungewisser Verdacht gegen Justus Rumak in mir aufstieg – nein, kein Verdacht, nur Mißtrauen!

Denn, konnte es möglich sein, daß dieser elende, jämmerliche Bettler, der jetzt wieder so hochfliegenden Plänen nachjagte, mit diesem Morde etwas zu tun haben könnte?!

Rumak stand auf. „Diese eine Spur bleibt mir unerklärlich,“ meinte er sinnend.

Ich beobachtete ihn jetzt schärfer. Sein Mund war verkniffen, die strahlenden lebendigen Augen waren ganz klein.

Langsam hob er den Blick zu Harsts Gesicht. Harst hatte eine Zigarette im Mundwinkel und zuckte leicht die Achseln …

„Nehmen wir an, daß diese Spur von dem Laubenbesitzer herrührt, lieber Rumak. Das dürfte zutreffen.“

„Nein! Jetzt muß ich Ihr Lehrer sein, Herr Harst. Ich habe zwei Jahre im australischen Busch gelebt, und es dürfte Ihnen bekannt sein, daß die dortige farbige Polizei im Fährtenlesen Hervorragendes leistet. Diese Männerspur läuft über die anderen Fährten hinweg, ist also zuletzt entstanden. Es ist jemand kurz nach der Mörderin hier gewesen.“

Er hatte die Taschenlampe noch in der Hand, und wie absichtslos ließ er nun den Lichtkegel über Harsts Beine gleiten und blickte nach unten.

Harald lachte gutmütig. „Allerhand Achtung, Sie sind wirklich ein schlauer Bursche, Rumak! Gut denn: ich war hier, vorhin, als meine Arbeit im Laboratorium schnell beendet war. Ich wollte Sie nur auf die Probe stellen, und Sie haben diese Probe glänzend bestanden. Bleiben Sie jetzt mit Schraut hier zurück. Ich will ans Präsidium telephonieren. Doktor Reimann muß sofort von unserem Fund Nachricht erhalten.“

Er ging nicht den Weg entlang, sondern kletterte wieder über den Zaun.

Da rief Rumak ihm nach: „Ich komme mit. Herr Schraut braucht mich hier ja kaum.“

„Sie wollen wohl noch mehr in dieser Nacht unternehmen – he?!“ Harald winkte. „Gut – wer rastet, der rostet …! Nur zu!!“

So blieb ich denn allein … Setzte mich auf die Bank vor der Laube und genoß den nächtlichen Frieden dieser grünen Umgebung. Vor mir dufteten hohe Krauseminzstauden so kräftig, daß dieser Geruch fast den urwüchsigen des leicht feuchten Erdreichs übertrumpfte. Der Laubenbesitzer hatte sein „Rittergut“ abends gesprengt. In den Gräsern und Büschen blinkten Tröpfchen. Links von mir wuchsen auf einem Komposthaufen Kürbisse mit riesigen Blättern und langen Ranken. Ein Igel kam vorsichtig aus dem Gebüsch hervor, schnupperte am Boden, tat einen kurzen Satz und hatte wirklich einen Frosch erwischt. Ich hörte, wie seine Zähne das Rückgrat der Beute zermalmten …

Mord im Tierreich …

Und der andere Mord, Frau Florence Singer, geborene von Digny?! Was hatte Justus Rumak damit zu tun?! Er der Mörder?! Ausgeschlossen! Diese Spuren dort auf dem geharkten Wege redeten eine zu klare Sprache. – Helfer vielleicht? Etwa als Spion zu uns geschickt? – Nein, auch das wollte mir nicht recht in den Kopf …

Meine Augen hingen starr an der Stachelkugel dort vor mir am Boden. Der Igel fraß in aller Gemütsruhe den Frosch auf … Die Krauseminze[3] duftete, und irgendwo auf einem der Bauhöfe heulte ein Hund den Mond an.

Was hatte Rumak mit diesem Verbrechen zu schaffen?! Weshalb hatte sich sein Gesicht so merklich verändert, nachdem er die fünfte Fährte betrachtet hatte, weshalb hatte er so heimlich Haralds schmale Schuhe beleuchtet, und warum hatte Harst anfänglich dem Dompteur verschweigen wollen, daß er schon einmal hier gewesen war?!

Justus Rumak, spann ich meine Gedanken nach anderer Richtung aus, ist zweifellos ein ebenso energischer wie schlauer Mensch. Hätte er uns wirklich hierher führen wollen, etwa um jeden Argwohn unsrerseits, er könnte mit dem Mörder im Bunde stehen und uns nur aushorchen wollen, zu zerstreuen, so würde er einen noch gröberen Fehler als den, Haralds Stiefel zu beleuchten, begangen haben, denn wie er selbst schon geäußert hatte: der Käufer all dieser neuen Sachen, Rad, Anzug, Mütze, Stiefel konnte von der Kriminalpolizei unschwer ermittelt werden, weil sich der Riesenapparat der Polizei gerade für solche Arbeit besonders eignet!

Nein, – wo ich auch den Hebel ansetzte, die Frage einer Teilnahme Rumaks an diesem Verbrechen aus dem Dunkel ungewisser Vermutungen zum Lichte von folgerichtigen Tatsachen emporzurücken, der Hebel glitt ab! Es bot sich ihm kein fester Halt.

Mein stachliger Nachbar wanderte weiter. Ich wünschte ihm glückliche Jagd. Ich liebe Igel. Ich habe selbst einmal einen zahmen besessen. Es sind possierliche zutrauliche Tiere.

Dann tauchte auf der Straße auch schon Harald auf, schwang sich über den Zaun und kam näher, wickelte dabei aus einer Zeitung ein Paar Damenschuhe aus …

„Von meiner Mutter,“ erklärte er. „Die Absätze sind zwar nicht ganz so hoch wie die der Dame, der Mörderin … Aber für mein Experiment werden sie dennoch genügen.“

„Experiment?!“ fragte ich kopfschüttelnd.

„Ja … Betrachte dir einmal die Frauenspuren auf dem Wege recht genau … Dir wird auffallen, daß die Hacken sich außerordentlich tief in den Boden eingedrückt haben … Normalerweise könnte eine solche Spur nie entstehen.“

„Du magst recht haben … Die Absätze haben geradezu Löcher verursacht.“

„Gib acht …!“ sagte er nun. „Rumak ist nicht in der Nähe, also kann ich mich getrost als Handgänger versuchen …“

Er nahm zu meinem Erstaunen je einen der Schuhe in die rechte und linke Hand, Sohlen nach außen gekehrt, und mit der ihm eigenen Gewandtheit stand er im nächsten Moment auf den Händen vor mir und ging so am Rande des Mittelweges bis zur Pforte, indem er also die Schuhe mit Sohle und Hacken auf den Boden drückte.

Und – siehe da! – auf diese Weise zauberte er genau dieselben Spuren hervor mit den tiefen Löchern der Absätze, da er die Handballen innen in den Schuhen auf die Stelle stützte, wo der Hacken sich befand.

Dann kehrte er in gewöhnlicher Gangart wieder zu mir zurück. Seine Augen leuchteten.

„Fein, wie?! Ja, der Rumak ist ein raffinierter Bursche! So hat er es fertig gebracht, mit seinen eigenen zerrissenen plumpen Stiefeln den Boden nicht zu berühren! Nur hätte er …“ – und er zeigte mir die Spitzen seiner Mittelfinger, die voller Erde waren – „seine Finger säubern sollen, bevor er zu uns kam, und weiter hätte er auch die Kratzer in der Erde neben den Frauenspuren, die eben von seinen Fingern herrührten, unbedingt auslöschen müssen.“

Ich war noch zu benommen von dem soeben Geschauten, um irgend etwas erwidern zu können.

Raffiniert?! Nein – selbst dieser Ausdruck genügte nicht für die infernalische Schlauheit dieses Mörders!

Harald packte die Schuhe wieder ein. „Sie haben ihre Schuldigkeit getan … Du verstehst doch alles genügend, mein Alter? Sieh’ mal, wenn er sich die Damenschuhchen unter die Füße gebunden hätte, denn anziehen konnte er sie ja nicht, würde eine sehr unklare Fährte entstanden sein, außerdem hätten sich auch die Riemen oder der Bindfaden zugleich mit dem Sohlenabdruck in der Erde abgezeichnet …“

„Ich verstehe …! Nur die Hauptsache nicht: Weshalb ermordete Rumak die Kommerzienrätin?“

„Natürlich kannte er sie von früher her … – Lassen wir das aber jetzt und beschäftigen wir uns mit dem, was die Stunde verlangt …“

„Und das wäre?“

„Suchen wir das eine, was Rumak von seinen Einkäufen für diese Nacht ebenfalls wegtun mußte.“

„Das verstehe ich nun wieder nicht, Harald … Was meinst du?“

„Das Wichtigste, das belastendste Beweisstück gegen ihn: die Damenschuhchen mit den hohen Absätzen! Er wird sie den ganzen Umständen nach hier in dem Gärtchen entweder vergraben oder mit Steinen beschwert dort in die Jauchetonne geworfen haben. Da er mit diesen Schuhchen als Handgänger wie ich vorhin die Laube verlassen hat, muß er auf seinen zerrissenen Stiefeln also über den Zaun hierher noch einmal zurückgekehrt sein. Daß er diese gefährlichen Stöckelschuhchen etwa anderswo verborgen hat, glaube ich nicht. Hier deckten ihn die Büsche und Bäume. Auf den Schuttplätzen konnte er beobachtet werden. – Suchen wir also nach einer Fährte seiner Bettlerschuhe.

Es ist doch nicht so einfach, bei der Erledigung eines Kriminalfalles an alles zu denken. Das sah ich jetzt wieder ein.

 

4. Kapitel.

Der Knabe.

Da der Garten kaum dreißig Meter im Geviert groß war, brauchten wir uns nicht allzu sehr anzustrengen. An der Rückseite fanden wir an einer schadhaften Stelle des Zaunes neben einem Gurkenbeet eine schlecht ausgelöschte Fährte, die bis in die Mitte eines großen Erdbeerbeetes, das längst abgeerntet war, führte – zweifellos Rumaks Spur!

Dort, wo die Fährte aufhörte, waren ein paar Erdbeerstauden ausgehoben worden. Obwohl Rumak Blätter abgerissen und über die aufgewühlte Erde gestreut hatte, war die frische Arbeit des Grabens doch zu erkennen.

Harald kniete nieder, packte die vier Stauden und hob sie heraus, kratzte mit der Hand die lockere Erde weg und stieß so auf ein helles kleines Brett. Er faßte unter den Rand und wollte es herausheben. Ich hatte mich neugierig vorgebeugt und hielt die eingeschaltete Taschenlampe ganz tief. Wir beide ahnten nicht, daß wir Justus Rumak gewaltig unterschätzt hatten. Wir hatten uns durch den Mann mit den Mäusen in eine – oder besser auf eine Falle locken lassen, die in ihrer Art wohl das Feinstausgeklügelste war, das jemals gegen uns ins Werk gesetzt worden ist.

Harald zog an dem Brett mit aller Kraft. Dieses Brett war nichts anderes als die Auslösevorrichtung, die eine zweiflügelige Falltür aus Brettern, über der die harmlosen Erdbeeren eine Deckschicht bildeten, jählings nach unten klappen ließ.

So plötzlich wich der Boden unter uns, daß es unmöglich war, sich etwa durch einen Sprung noch in Sicherheit zu bringen.

Ich kollerte auf Harst, und gleichzeitig sausten wir in die Tiefe …

Wir fielen weich, sehr weich. Dem Geruch nach war Heu die Unterlage. Es roch bereits faulig, mußte also schon längere Zeit hier liegen.

Hier?!

Wo?! – Ja, wir fielen weich … Aber ehe wir uns noch aufgerappelt, schlug ein Holzdeckel dröhnend über uns zu, und dann wurden, das hörte ich genau, ein paar Riegel zugeschoben.

Durch Umhertasten überzeugten wir uns rasch, daß wir in einer großen Kiste lagen, die innen mit Zinkblech benagelt war und deren Deckel, Wände und Boden überall noch mit scharfen Spitzen versehen waren, die uns zwangen, uns völlig ruhig zu verhalten. Jede hastige Bewegung wurde durch einen schmerzhaften Stich bestraft.

Wir verhielten uns zunächst still und lauschten. Nichts rührte sich. Nur unser muffiges Heulager knisterte und rauschte. Die Heuschicht war so hoch, daß sie uns vor den Eisenspitzen der Bodenbretter schützte.

Dann flüsterte Harald: „Du siehst, daß Rumak den Mord bis ins kleinste seit langem vorbereitet hat. Er tötete Frau Florence Singer absichtlich in unserer Straße, um nachher sofort uns unschädlich machen zu können, wie jetzt geschehen. Er fürchtete uns, deshalb traf er all diese umständlichen Zurüstungen. Er wollte in jedem Falle sicher gehen. Er berechnete jeden Schachzug. Er wußte, daß ich ihn durchschauen würde, daß ich die Stöckelschuhchen suchen würde, bevor noch die Polizei hier eintraf. Nun hat er uns wirklich kalt gestellt, und ich muß zugestehen, daß er klüger war als ich, vielleicht überhaupt mir überlegen in jeder Beziehung. Ich fürchte sehr, daß wir diesmal nicht so billigen Kaufes davonkommen werden, denn Rumak wird uns unserem Schicksal überlassen und entfliehen, nachdem er auch den Rest seines Planes verwirklicht hat. Wenn du ihn, als Singer bei uns weilte, so scharf beobachtet hättest wie ich, würdest du manches bemerkt haben, denn, mag er auch ein tadelloser Komödiant sein: Sein Mienenspiel hat er nicht genügend in der Gewalt. Als Singer zum Beispiel von dem Knaben sprach, den er adoptiert hatte, flammten Rumaks Augen in unauslöschlichem Haß und in wilder Schadenfreude auf. Singer liebt den Knaben, und Rumak wird Singer noch schwerer treffen. Glaube mir, er wird das Kind verschwinden lassen.“

Meine Taschenlampe war mir bei dem Sturz entfallen. Wir lagen also im Dunkeln in unserem Käfig. Es wäre besser gewesen, wenn Harald seine Taschenlampe hier sofort eingeschaltet hätte. Dann würde er wohl die Klappe über unseren Köpfen bemerkt haben.

Eine Klappe …

Und jedes Wort hatte Rumak mit angehört, so leise Harst auch geflüstert hatte.

Eine Stimme über uns …

Deutlich, leise …

Rumaks zerstörtes, brüchiges Organ …

„Wie gut, daß ich die beiden Mäuse in diesen Käfig gesperrt habe, die überallhin den Weg zu finden wissen, selbst in die tiefsten Geheimnisse! – Meine Herren, es tut mir leid um Sie … Aber jeder ist sich selbst der Nächste. Der Knabe ist bereits verschwunden. Und damit Sie nicht etwa mit Hilfe Ihrer Pistolen sich befreien, muß ich Sie jetzt betäuben, es sei denn, daß Sie mir Ihre Schußwaffen freiwillig aushändigen. Ihre Messer können Sie behalten. So wird es Ihnen wohl gelingen, in mühsamer Arbeit die Kiste zu öffnen. Töten will ich Sie nicht. Ich bin kein feiger Mörder. Florence hatte ihr Schicksal verdient. Wenn Sie Ihre Pistolen durch die Klappe herauswerfen, erspare ich Ihnen die Chloroformnarkose. Im übrigen – rufen Sie nicht um Hilfe, denn über meiner Falltür liegt ein halber Meter Erde, und droben ist alles wieder so hergerichtet, daß kein Polizeiauge diesen Keller eines Bauerngehöfts aus Berlins vergangenen Tagen findet. Das Laubengrundstück gehört mir. Vieles gehört mir, was Sie nicht ahnen. Der Wunsch nach Rache hat mich erfinderisch gemacht – – und gefühllos. – Bitte um Ihre Waffen! Und keine Heimtücke, meine Herren! Chloroform tötet auch.“

Rumak sprach’s ohne jede Erregung, ohne jede Ironie.

Und Harst erwiderte nur:

„Gut denn, Sie sollen die Pistolen haben … Aber wir werden uns befreien, Rumak, und dann hüten Sie sich! Wir werden Sie finden!“

„Niemals!“

„Warten Sie ab!“

Wir schleuderten unsere Clement hinaus. Weshalb die Folgen eines Chloroformrausches oder gar noch Ärgeres heraufbeschwören?!

Die Klappe fiel zu. Riegel schnarrten mit metallischem Klang, und Harsts Taschenlampe blitzte auf.

Wir sahen …

Wir sahen das Zinkblech, durch das starke Hufnägel von außen hindurchgetrieben waren. Das waren die Eisenspitzen.

„Messer heraus!“ meinte Harald. „Beginnen wir!“

Unsere Taschenmesser mit den feststehenden großen Klingen bewältigten selbst das Zinkblech. Wir arbeiteten abwechselnd. Nachdem erst einmal ein Stück Blech entfernt war, begann die Bohrarbeit. Die Nägel behinderten uns. Aber das Bewußtsein, daß wir nach Stunden den Kasten verlassen könnten, trieb uns trotz der an den Innenflächen der Hände rasch entstehenden Blasen zu hartnäckigstem Bohren und Sägen an.

Rumak meldete sich nicht mehr.

In den Pausen, wenn wir uns ausruhten, sprachen wir über den Mord. Harald betonte, daß er zuerst dadurch gegen Rumak mißtrauisch geworden sei, daß dieser zunächst bei uns so hoffnungslos über seine Zukunft gesprochen hatte, dann aber nachher, als er durch das Telephongespräch erfahren, daß Florence Singer tot sei, in ganz anderer Weise sich geäußert hatte … „Besinne dich, mein Alter: Zuerst war von dem kostspieligen Illusionsakt und von dem Wunsch, wieder eine der Größen am Varietéhimmel zu werden, keine Rede. Später dann war Rumak wie ausgewechselt. – Und zweitens: seine erdbeschmutzten Krallen! Und drittens: der verfängliche Umstand, daß der auf dem Rade flüchtende Mörder die Pappmaske weggeworfen haben sollte und die Fingerspuren an der Maske und die beiden eingeklemmten langen blonden Frauenhaare!! Das war zuviel der Schlauheit! Welche Frau, die eine solche Maske vor das Gesicht drückt, wird ausgerechnet zwei so lange Haare sich durch den Riß im Oberrand der Maske ausreißen?! Außerdem hatte Rumak so schwammige Haut an den Händen, daß der Schluß, er leide an feuchten Händen, sehr nahe lag. Daher hat er auch Zwirnhandschuhe getragen, die er nachher wegwarf. – So kam eins zum andern, und den Ausschlag gaben dann die Löcher im Erdreich … von den Absätzen! – – Arbeiten wir weiter. Morgens sind wir frei.“

Meine Uhr zeigte fünf Minuten nach sechs als Harald sich als erster durch das Loch hindurchzwängte.

Wir standen nun in einem kühlen, feuchten und halb verschütteten, dennoch recht geräumigen Keller. Die Taschenlampe zeigte uns an der einen Seite ein aus Brettern zusammengeschlagenes armseliges Lager, daneben einen ebensolchen Tisch und Schemel, einen Spirituskocher, Tiegel und Kannen, Konservenbüchsen und anderes. Rumak hatte hier also auch genächtigt. Außerdem war der Keller aber auch seine Werkstatt gewesen. Wir fanden Bretter, Balken, Latten, Handwerkszeug, Nägel, Draht, Scharniere.

Rund um unsere Kiste aber erhoben sich die Pfosten, die die Falltür oben stützten.

Und dann der Ausgang … Ein zehn Meter langer, mit Brettern verkleideter Gang, der unter einer leeren, halb in die Erde eingegrabenen großen Tonne endete. Der Boden der Tonne ließ sich herabklappen und war zum Schein mit welkem Laub, ausgerissenem Unkraut und Flaschenscherben bedeckt.

Wir kletterten hinaus, standen oben in einer Ecke des Gärtchens. Es regnete sacht. Der Himmel war gleichmäßig bewölkt.

Harst ging bis zum Erdbeerbeet. Dort, wo das Brett in der Erde gelegen hatte, lag jetzt ein großer Haufen Dünger. –

 

5. Kapitel.

Das Bild.

Wir wanderten heim. Um sieben Uhr brachte uns die dicke Mathilde das Frühstück in Haralds Arbeitszimmer. Um halb acht kam Doktor Reimann, den Harald telephonisch verständigt hatte.

Der Kommissar hörte wortlos zu, schüttelte nur zuweilen den Kopf und sagte einmal grimmig: „Solch’ ein Halunke!“

Dann aber fragte er ein wenig gereizt: „Ich begreife nur nicht, bester Harst, weshalb Sie den Kerl entwischen ließen, wo Sie doch bereits genügend Beweise gegen ihn gesammelt hatten?!“

Harald erwiderte gelassen: „Genügend Beweise?! Wenn ich Ihnen diese Beweise aufgezählt hätte, lieber Reimann, ohne Ihnen die Stöckelschuhchen vorlegen zu können, würden Sie sicherlich gesagt haben: „Fadenscheinige Indizien!!“

„Hm – vielleicht …!“

„Nein, nicht vielleicht …! Zur Überführung Rumaks genügte all das nicht, auch nicht die Tatsache, daß er in Wannsee im Schwedischen Pavillon Frau Florence Singer durch seine Maus Leo Botschaft gab, wo er sie erwarten würde …“

Reimann beugte sich vor. „Sie meinen wirklich, daß Rumak seine Mäuse zu diesem Zweck benutzt hat?!“

„Bestimmt! Ich behaupte, daß er Frau Florence auf diese Weise häufiger geängstigt hat, indem er ihr so ganz unauffällig durch die Mäusebriefchen eine Botschaft zukommen ließ … Er kannte sie sehr genau. Mehr noch: ich nehme an, der Knabe, den Singer adoptiert hat, ist sein und Florences Kind.“

Reimann sprang auf.

„Ich werde Singer anrufen … Wenn Rumak Ihnen mitteilte, der Knabe sei bereits entführt, so … so mußte Singer davon doch bereits Kenntnis haben. Bisher hat er uns nichts gemeldet …“

„Dann fahren wir besser gleich zu ihm. Wahrscheinlich denkt er, das Kind schläft noch. Vorwärts also … Singer tut mir von Herzen leid, aber – – der Knabe ist weg, davon bin ich überzeugt. Rumak wird auch diesen Streich genügend vorbereitet gehabt haben …“

„Den – – Sie hätten verhindern können,“ platzte der Kommissar ärgerlich heraus. „Nehmen Sie es mir schon nicht übel, Harst, aber Ihre Arbeitsmethode als Liebhaberdetektiv kann uns Leute vom Beruf manchmal wirklich in Harnisch bringen! Wenn Sie diese Entführung vorausahnten, hätten Sie den Kerl doch am Kragen packen und …“

„Gestatten Sie: das Kind, wette ich, war schon entführt, bevor der Mord verübt wurde. Ich kann Ihnen auch ziemlich genau voraussagen, was wir bei Singer finden werden … Der Knabe wird in einem Zimmer schlafen, nebenan seine Bonne. Diese wird schwer betäubt im Bett liegen, und das eine Fenster des Zimmers des Kindes wird offen sein. Nur durch das Fenster kann der Knabe weggeschafft worden sein. Kinder von zehn Jahren werden um neun spätestens ins Bett gesteckt, und die Bonne wird ebenfalls früh schlafen gegangen sein. So hatte Rumak noch vor dem Morde genügend Zeit, das Kind verschwinden zu lassen!“

„Hm – also zwischen neun und zehn Uhr abends?!“ sagte Kommissar Reimann ironisch. „In einem großen Mietspalast?! Einen Knaben wegschaffen, der doch nicht gutwillig mitgeht?!“

„Fahren wir!“ war Haralds ganze Antwort.

Die Stimmung im Auto war ziemlich ungemütlich. Reimann wollte einlenken und sprach etwas von „Nicht so gemeint haben …“ – Harst nickte ihm nur zu … „Übelnehmen gibt’s nicht. Ich behalte ja doch recht.“

Wir stiegen dann die Marmortreppen zur zweiten Etage empor. Das Haus gehörte dem Kommerzienrat, wie Reimann flüsternd berichtete. Vierzehn Zimmer enthielt das zweite Stockwerk. An der eichenen Flurtür hing über dem Namensschild Singers ein Täfelchen: „Beileidsbesuche dankend verbeten!“

Ein älteres Stubenmädchen öffnete. Sie sah verweint aus. Der Herr Kommerzienrat frühstücke gerade … Sie würde uns melden.

Wir saßen in einem feudalen Herrenzimmer, Singer trat hastig ein. Er war über Nacht zum Greise geworden.

„Haben Sie den Mörder, meine Herren?“ rief er, ohne uns irgendwie zu begrüßen.

Doktor Reimann, dieser vollendete Weltmann, dabei einer der Besten all der Guten vom Alexanderplatz (wo das Polizeipräsidium steht), entgegnete gedämpft: „Wir kennen ihn, Herr Kommerzienrat. Es ist der frühere Dompteur Justus Rumak, der gestern nacht den harmlosen Zeugen spielte. Nicht Zeuge, sondern Täter war er. Soeben habe ich telephonisch alles Nötige zu seiner Ergreifung angeordnet.“

Singer starrte den Kommissar ganz verständnislos an: „Wie, – – der Mann mit den Mäusen, dieser … Bettler, dieser elende … Bucklige?! Aber – – das ist ja einfach unmöglich! Was sollte Rumak wohl veranlaßt haben …“

„Das wissen wir noch nicht genau,“ fiel Harst jetzt dem völlig Zusammengebrochenen ins Wort. „Wollen Sie sich nicht aber besser setzen, Herr Kommerzienrat? Man sieht es Ihnen an, daß Sie am Rande Ihrer Kräfte sind. Wir möchten Ihnen auch gern jede neue Aufregung ersparen …“

Singer hatte mit leisem Ächzen wie ein Schwerkranker im Schreibsessel Platz genommen.

Ein seltsamer Blick traf Harst aus den matten Augen des Großindustriellen …

„Neue Aufregungen …?“ griff er den einen Ausdruck mißtrauisch heraus. „Wollen Sie noch immer behaupten, daß Florence etwa zu diesem früheren Zirkusmenschen Beziehungen unterhalten hat?!“

„Ich möchte jetzt von etwas anderem sprechen,“ wich Harst, dem diese Unterredung sichtlich schwere Pein bereitete, einer direkten Antwort aus. „Haben Sie … Ihr Kind heute schon gesehen, Herr Kommerzienrat?“

Singer schüttelte geistesabwesend den Kopf.

„Harry schläft noch …“

„Der Junge hat eine Erzieherin, nicht wahr?“

„Ja … – Was soll das alles?! Gedenken Sie etwa den Knaben auszuhorchen?“

„Keineswegs. – Kamen Sie oder Ihre Gattin auf den Gedanken, ein Kind als eigen anzunehmen …“

„Ich … ich glaube, Florence war’s, die – – ja, richtig, sie wies mich auf eine Zeitungsannonce hin, daß in Karlsruhe ein Knabe diskreter Herkunft in gute Hände zu vergeben sei.“

„Und Ihre Gattin liebte das Kind?“

„Ob sie es liebte!! Sie holte es persönlich aus Karlsruhe, und ….“

Seine Stimme schwankte. Er wandte sich ab und drückte die Hand vor die Augen.

Reimann und ich saßen wie auf Nadeln. Wenn Harst doch nur endlich zum Ziel kommen wollte! Weshalb dieses halbe Verhör?!

„Herr Kommerzienrat!“ sagte Harald sanft mahnend. „Seien Sie Mann …! Es geht um das Kind … Wir fürchten, daß Rumak ein Recht auf diesen Knaben hat und ihn daher für sich beansprucht.“

Das war sehr vorsichtig, sehr schonend ausgedrückt. Und doch fuhr Singer herum, schnellte hoch, taumelte wie ein Trunkener …

Reimann sprang zu. Wir legten den Kommerzienrat auf den Diwan. Er weinte wie ein Kind, lallte unverständliche Worte und Sätze vor sich hin und bekam dann von einem schnell hinzugerufenen Arzt ein starkes Beruhigungsmittel. Da sein ganzer Zustand auf einen völligen Nervenzusammenbruch hindeutete, wurde er noch am selben Vormittag in ein Sanatorium überführt. Für unsere ferneren Ermittlungen schied seine Person völlig aus.

Inzwischen hatten wir die von innen verschlossene Tür des Kinderzimmers mit einer Schlüsselzange geöffnet. Des Knaben Bett war leer. Im Nebenzimmer lag die Erzieherin in tiefer Betäubung im Bett.

Die Kinderstube hatte einen nach dem Hofgarten hinausgehenden Balkon. Die Balkontüren waren nur angelehnt. Der wilde Wein in den Balkonkästen war an einer Stelle vielfach geknickt und niedergedrückt. Die obere Eisenstange des Balkongitters wieder zeigte deutliche Scheuerstellen von einem Strick.

Die untere Etage, die zwei Wohnungen enthielt, war zur Hälfte leer. Gerade die Wohnung unter dem Balkon wurde für neue Mieter völlig instand gesetzt. Der Portier erklärte Harald, daß heute früh sieben Uhr ein älterer Arbeiter die Rollen der herabgerissenen alten Leinentapeten mit einem Handwagen weggeschafft habe. Ein Anruf bei dem Tapezierermeister, der die Arbeiten übernommen hatte, ergab, daß dieser niemanden geschickt habe, die Rollen abholen zu lassen. Die Beschreibung des Portiers von dem älteren Manne mit dem Handwagen paßte genau auf Justus Rumak.

Der Knabe war fraglos betäubt und in einer der Rollen entführt worden. Die Erzieherin konnte überhaupt nichts angeben. Sie war im Schlaf chloroformiert worden.

Florence Singer war tot. Ihr Kind verschwunden. – Ihr Kind, – denn auf dem Spieltische des Kleinen hatte Rumak eine Kabinettphotographie zurückgelassen, die ihn und Florence mit einem Säugling im Arm darstellte.

Nur gut, daß der Kommerzienrat von alledem erst erfuhr, als seine Nerven bereits widerstandsfähiger geworden.

Für uns begann nun die Jagd nach dem Mann mit den Mäusen.

 

 

Die große Illusion.

 

1. Kapitel.

Die Erleuchtung.

Wenn ich zum Schluß des ersten Teiles mich der gedrängtesten Kürze befleißigt habe, was den Tatbestand der Entführung Harry Singers anbetrifft, so mag der Leser dieserhalb nicht enttäuscht sein. Ich halte es nicht für meine Aufgabe, hier Nebensächliches unnötig breitzutreten. Den Nervenzusammenbruch Singers mußte ich notwendig eingehender begründen, denn das Ausscheiden seiner Person war für die Polizei und uns ein schwerer Schlag. Es fehlten infolgedessen (die Ärzte verboten jede Befragung des Kranken) jegliche Angaben internerer Art über Florence von Digny, und die Nachforschungen nach deren Vergangenheit wurden dadurch in peinlichster Art verzögert, was in diesem Falle doppelt schwer ins Gewicht fiel, weil die gesamte Berliner Presse diesmal einmütig meinen armen Freund Harst mit offenen und versteckten Vorwürfen überhäufte, die darin gipfelten, daß er eben aus reinem Sensationshunger Justus Rumak habe laufen lassen, – damit er noch weiter Gelegenheit fände, mit diesem gefährlichen Großwild sich in dem „von ihm so sehr geliebten Kampfe um die höhere Intelligenz“ zu messen. –

Es war drei Tage nach den zuletzt geschilderten Ereignissen. Am frühen Morgen. Halb sieben Uhr.

Ich erwachte über dem Plätschern eines Wolkenbruches draußen. Es waren ja gerade jene trostlosen Tage im Monat August, wo Berlin mit Regenmengen bedacht wurde, die selbst in diesem verregneten Sommer 1927 eine Seltenheit waren.

Ich erwachte in meinem Bett in meinem halbdunklen Zimmer. Vor meinem Bett stand Harald in Hausjoppe und Morgenschuhen, noch stoppelbärtig, den Scheitel in Unordnung, blaß – so blaß, daß sein Gesicht geradezu unirdisch wirkte.

Er schaltete die Nachttischlampe ein und setzte sich auf den Bettrand. Der süßliche Duft seiner Spezialmarke Mirakulum haftete seinen Kleidern so stark an, daß ich empört und besorgt rief:

„Du bist abermals die Nacht aufgeblieben!“

„Zum Glück!“ Er sah mich an, und aus seinen Augen traf mich das Leuchten endlicher Erlösung von harter Pein. „Zum Glück, mein Alter!! Ich habe stundenlang am Bechstein gesessen und Wagner gespielt. Ich mußte mir die Seele von dem Zeitungsunrat befreien. Und ich habe immer wieder darüber nachgegrübelt, wohin Rumak, der doch nur drei Stunden Vorsprung hatte, in dieser kurzen Zeit so spurlos verschwinden konnte. Ich habe mein Hirn gefoltert, daß es das Letzte hergab. Ich habe immer wieder jede noch so geringfügige Einzelheit dieses Falles nachgeprüft, um einen Angriffspunkt zu finden. Als ich gerade den Brautmarsch aus Lohengrin mir um die Ohren brausen hörte und diese wundervolle deutsche Musik meinen Geist bis zur Ekstase anfeuerte, da …“ – er holte tief Atem – „da kam mir die Erleuchtung – – endlich, endlich! Nun werde ich den Zeitungsschreibern das Maul stopfen. Nicht mit Erklärungen, weshalb ich Rumak nicht festnahm. Nein, das würden sie ja doch nicht begreifen wollen. Sie brauchten Sensation für die Leser in diesem gräßlichen trostlosen Wetter. Da war ich ihnen ein gefundenes Fressen. Jetzt werden sie zu Kreuze kriechen …!“

Er lachte lautlos in sich hinein …

„Ach, Max Schraut, man bleibt doch immer noch ein Pfuscher. Man ist zu flüchtig, zu wenig sorgfältig!“

„Das sagst du von dir?! Noch besser!!“

„Das sage ich mit Recht. Rumak lacht uns aus … Besinne dich, daß er von seiner Idee sprach, von dem … großen Illusionsakt für die Varietébühne. Als Zauberkünstler also wollte er wieder auf den Brettern, die für den Artist noch mehr die Welt bedeuten als für die Schauspieler, erscheinen. Er ist ein Zauberkünstler, weiß Gott …! Er hat mich behext, dumm gemacht, getäuscht, hat uns eine Falle gestellt gehabt, in die wir glatt hineinfielen, hat dann …, – aber nein, ich rede wie ein ekstatischer Derwisch und muß doch der nüchterne Denker bleiben. – Also höre weiter … Um sechs Uhr kam mir die Erleuchtung. Um fünf Minuten nach sechs kam eine Depesche aus Frankfurt am Main von Professor Doktor Selig, dem berühmten Chirurgen.“

„Selig?!“ Ich setzte mich aufrecht. „Wie bist du denn mit dem in Verbindung getreten?“

„Telephonisch … vorgestern … ohne dein Wissen. Ich habe nämlich bei allen medizinischen Autoritäten, die für die Behebung von Rückgratverkrümmungen in Betracht kamen, angefragt, ob einer von ihnen vielleicht einen Herrn in den letzten Jahren operiert hat, der durch schwere Rückenverletzungen bucklig geworden.“

„Ah – – Rumak!“

„Natürlich. – Selig war nicht daheim, als ich anfragte. Seine Gattin notierte meine Fragen und versprach strengste Diskretion. Vorhin kam die Depesche – dringend. Ich werde sie dir vorlesen.

15. Mai d. J. einen Herrn Johann Ramin aus Hamburg operiert, etwa fünfzig Jahre alt, schwere Narben im Rücken, angeblich von Sturz in Steingeröll, aber offenbar durch Raubtierkrallen hervorgerufen. Patient geheilt entlassen. Spätere Anfrage an seine Adresse in Hamburg, ob Heilung von Bestand, als unbestellbar an mich zurück. – Diskretion. Selig.“

„Himmel, – Rumak hat also gar keinen Buckel mehr!“ rief ich verblüfft.

„Nein – nur einen künstlichen hatte er und – eine Dummheit hat er gemacht, als er uns von seiner Absicht sich operieren zu lassen sprach. Nun haben wir also für den Steckbrief eine Korrektur: ohne Buckel, nicht mit Buckel!“

„Ist das alles?“ fragte ich enttäuscht.

„Aber Schraut!! Brautmarsch, Erleuchtung!! Eine Depesche ist doch keine Erleuchtung, nur eine wertvolle Ergänzung!“

„Und die Erleuchtung? Foltere mich nicht!!“

„Nein, nein, keine Sorge …! Der große Illusionist hat sich mit uns, als er den Arbeiter des Tapezierermeisters spielte, einen zweiten niedlichen Scherz erlaubt.“

„Er … benutzte den Handwagen gar nicht zum Wegschaffen des Knaben?“

„Keine Rede! Wir sind eben auch darauf glatt hereingefallen. Und hätten doch schon an jenem Morgen, als wir den Balkon vor dem Kinderzimmer besichtigten, auf das einzig Richtige kommen müssen.“

„Und das ist?“

„Eine Veränderung unseres Berufs und unserer Wohnung.“

Er lächelte vergnügt …

„Nicht wahr, das verstehst du nun wieder nicht … – Ich habe um sechs Uhr fünfzehn den Bruder des Kommerzienrats Singer, den Arzt Doktor Singer, angerufen. Das Personal bei dem Kommerzienrat wird noch heute wechseln. Doktor Singer wird den Diener und den Chauffeur nach großem Krach hinauswerfen. Später werden die Leute anständig entschädigt und wieder eingestellt. Doktor Singer wird weiter für seinen im Sanatorium Grunewald befindlichen Bruder zwei „Neue“ einstellen …“

„Uns!!“

„Allerdings. Um sechs Uhr nachmittags rücke ich dort an, um sieben du als Chauffeur.“

„Sehr gut. – Also ist natürlich die Erzieherin mit Rumak im Bunde gewesen, und wir werden die hagere Spinatwachtel beobachten, bis sie sich irgendwie verrät.“

„Bravo – glänzend! Du bist gut in Form, mein Alter. Also die Spinatwachtel wird uns unbedingt auf die rechte Spur bringen. Und nun der Schlachtplan, der entsprechend unseres Gegners überragenden Fähigkeiten unbedingt ein Extrakt von Vorsicht und Gerissenheit sein muß.“

Ich schaute ihn mißtrauisch an. Sein Lob für meine schnelle Auffassungsgabe hatte mir etwas ironisch gefärbt geklungen. „Gestatte mal, führst du mich etwa wieder mal auf den Leim?!“ meinte ich und stellte rasch den Glockenschirm der Nachtlampe hoch, so daß der volle Schein sein Gesicht traf. Und da war’s mir, als ob über seine blassen übernächtigten Züge ein Wetterleuchten hinlief – – feiner Spott! Hatte ich mich geirrt?! Er sagte ja bereits mit seiner liebenswürdigsten Schnoddrigkeit:

„Du bist ein Esel, mein Alter! – Also der Schlachtplan. Wir begeben uns einzeln schon nachmittags gegen drei auf Umwegen zu Freund Bechert, wo wir uns entsprechend kostümieren …“

„Du fürchtest Spione, obwohl wir doch nichts davon bisher gemerkt haben?!“

„Es haben seit vorgestern auffallend viel Bettler bei uns angeläutet und geschnorrt. Gestern waren es acht, vorgestern sieben. Das sind Rekordziffern.“

„Es waren aber stets andere Kerle und Weiber,“ meinte ich achselzuckend. „Ich habe mir die Herrschaften genau angesehen.“

„Glaube ich. Ich auch. Kannst du wissen, ob der Mann mit den Mäusen nicht mit irgendeiner Bettlerorganisation in Verbindung steht?!“

„Nun gut, – also zu Bechert … Und weiter?“

„Ich werde Bechert nachher verständigen. Er besorgt die nötigen Papiere. Und nun die Hauptsache … Ich werde mich jetzt schlafen legen. Verdient habe ich mir ein paar Stunden Ruhe wahrhaftig. Du aber wirst achtgeben, was von Bettlern heute vormittag erscheint. Schnorrt einer um Essen, so bringe ihn in die Küche und sage dort wie von ungefähr zu Mathilde, daß wir abends neun Uhr verreisen, sie soll ein paar Koteletts abbraten. Dann verschwinde aus der Küche und folge nachher diesem Bettler. Aber vorsichtig. Vergiß nie, daß Justus Rumak mit allen Salben gesalbt und mit allen Wässerchen gewaschen ist, daß er … bisher Sieger geblieben und daß ich mich vor der Öffentlichkeit zu rehabilitieren habe. – Gute Nacht.“

Ich war wieder allein. Gähnte kräftig und war … von dem soeben Gehörten wenig befriedigt. Ich wurde den Argwohn nicht los, daß Harald nach seiner beliebten Methode mir doch wieder die Hauptsache verschwiegen hatte.

Um acht frühstückte ich mit Haralds Mutter auf der Veranda. Die alte gütige Dame hatte ernste Sorgenfalten auf der Stirn und seufzte immer wieder: „Ach, diese Zeitungen!! Lieber Schraut, Sie sollten nur die heutige Tagespost lesen!! Abermals wird mein armer Junge dort durch die Zähne gezogen – – und wie!! Die halbe Nacht hat er am Klavier gespielt. Ich hörte es bis oben … Er reibt sich auf vor innerem Ärger.“

„Oh, das wird nun anders werden,“ tröstete ich. „Harald hat einen Angriffspunkt gefunden. Jetzt geht es Herrn Justus Rumak endgültig an den Kragen.“

Da trat auch schon die von mir genau instruierte Mathilde ein.

„Herr Schraut, ein Bettler …,“ meldete sie. „Ein alter Herr … Wie’n Professor sieht er aus … Und jämmerlich tat er wie einer, der schon aufs letzte Loch pfeift. In der Küche sitzt er … Suppe wärme ich ihm …“

Gleich darauf ging ich in die Küche und tat sehr erstaunt, einen Fremden dort vorzufinden. Es war ein endlos langer Mensch, eingezwängt in einen schäbigen Bratenrock, mit grau-weißem ungepflegten Bart, Nickelkneifer mit Schnur und Künstlertolle – ein intelligentes Gesicht, nur die Nase verdächtig rot und die Augen ebenso verdächtig wässerig.

Ich beachtete ihn nicht weiter. „Mathilde, ehe ich’s vergesse, Harald und ich verreisen abends neun Uhr nach Hamburg. Braten Sie ein paar Koteletts ab und besorgen Sie Pumpernickel …“

Dann eilte ich in unser Ankleidezimmer. In kurzem hatte ich mich in einen bärtigen Spießbürger verwandelt, hatte aber drei verschiedene farbene Jacketts übereinander gezogen und mir zwei Schlappmützen, die eine hell, die andere dunkel, eingesteckt.

So erwartete ich den würdigen Herrn Bettler draußen auf der Straße.

Ich ahnte nicht, daß Haralds Auftrag mir die Bekanntschaft mit einer Organisation vermitteln sollte, von der ein Durchschnittssterblicher kaum etwas wissen dürfte.

 

2. Kapitel.

Der Verein der Menschenfreunde.

Der hagere alte Herr erschien im Vorgarten, wischte sich den Mund mit dem Handrücken, machte der in der Tür stehenden Mathilde noch eine tiefe Verbeugung und wandte sich dann dem Fehrbelliner Platz zu. Er ging sehr langsam, mit müden schleppenden Schritten, blieb oft stehen, trocknete den Schweiß von der Stirn …

Es hatte aufgehört zu regnen. Schwere Gewitterluft ließ auch mich manchen Tropfen Schweiß vergießen.

Meine drei Jacketts, die ich je nach Bedarf in einem Hausflur rasch hatte wechseln wollen, um mein Äußeres umzumodeln, erwiesen sich als überflüssig. Der Verfolgte drehte sich nicht ein einziges Mal um. Er betrat ein paar Häuser, kam nach geraumer Zeit wieder heraus, schritt weiter.

Inzwischen war mir aber sein überreichlicher Stirnschweiß doch aufgefallen. Ich argwöhnte, daß er in seinem bunten Taschentuch einen Spiegel verborgen haben könnte. Daher wechselte ich die Jacken, zog auch eine der Mützen über den Kopf und setzte eine Hornbrille mit dunklem Rand auf.

Noch zweimal gebrauchte ich dieselbe Vorsichtsmaßregel und hielt mich in weiter Entfernung.

So kamen wir nach gut einer Stunde nach Charlottenburg in die Krumme Straße, wo es noch so viele alte Gebäude mit traurig verwahrlosten Fronten gibt. Hier betupfte mein Wild sich wiederum die Stirn, und jetzt hatte er Pech: die Sonne schien für kurze Zeit, und so sah ich denn in dem Taschentuche wirklich einen Spiegel aufblitzen.

Der Alte betrat nun ein Kellerlokal. Als ich nach ein paar Minuten ebenfalls vorüberging, bemerkte ich an dem Kellereingang einen Glockengriff und darüber ein Schild mit der Aufschrift:

Verein der Menschenfreunde.
E. V.
Sprechst.: 9–12, 2–7.

Seltsam!! Verein der Menschenfreunde?! Und hier in dieser Spelunke, deren Kellertür mit Bier- und Liköranpreisungen so dicht benagelt war, daß die Blechschilder die Fensterscheiben fast völlig verdeckten.

Das mußte ja ein merkwürdiger Verein sein …

Ich schlüpfte in einen Hausflur. Im Nu war ich abermals verändert, zog das schäbigste Jackett an, stopfte Kragen und Schlips in die Tasche und band mir mein vorher durch den Staub gezogenes Taschentuch um den Hals. Wenn man in derlei Künsten Übung hat, geht auch das Schminken sehr schnell. Ich war nun ein Pennbruder mit Säufernase vom Typ: erste Stufe der Verkommenheit.

Die beiden anderen Jacken nahm ich über den Arm. In dieser Aufmachung wagte ich mich getrost zu den Menschenfreunden hinab.

Die Steintreppe, sechs Stufen, war mit Zigarettenstummeln und weggeworfenen Straßenbahnfahrscheinen anheimelnd dekoriert. Als ich die Kellertür öffnete, prallte ich zurück. Dickster Zigarettenqualm und Gestank von Bier, Schnaps und Verwahrlosung.

Meine Augen erblickten wie durch wallenden Nebel das vorbildliche Innere einer armseligen Kaschemme …

Ich ging bis zum Büfett, hinter dem ein polnischer Jude im Kaftan lehnte – ein runzliges ehrwürdiges Prophetengesicht mit langem weißen Bart, tadelloses Modell für jeden Maler.

Der Greis beugte sich über den Tisch …

Ein Paar nadelscharfe blinkende Mausäuglein musterten mich.

„Willst verkaufen?“ fragte er und deutete auf meine beiden Jacken.

„Will!“ nickte ich …

Er riß mir die Jacketts förmlich aus der Hand, beschaute sie sachkundig …

„Eene Mark oder ne Liste,“ entschied er.

An der Mark lag mir nichts. Aber auf die Liste war ich gespannt.

„Ne Liste,“ brummte ich. „Und nen Schnaps drauf …“

„Gut, gut – hier hast’n …“ Er füllte ein Schnapsglas, kramte dann in einer Schublade und gab mir einen Bogen Schreibmaschinenpapier, auf dem etwa hundert Adressen getippt waren.

Ich begriff nun. Die Liste war ein Verzeichnis von Leuten, bei denen man mit Erfolg betteln konnte.

„Wenn ’de hast noch zwei Mark,“ erklärte der Prophet, „so kriegst de ne bessere Liste …“

Ich grinste …

„Hab’ zwee Mark, versauf’ sie lieber … – Noch ’n Schnaps und zehn Zigarettens …“

Ich hatte mich schnell in meine Rolle eingelebt.

Die Tische ringsum waren sämtlich besetzt. Unauffällig suchte ich in dem Qualm nach meinem „Professor“. Es ging hier sehr ruhig zu. Die Leute flüsterten nur – und was für Leute! Männer, Weiber, junge Burschen, Dirnen – alle hüteten sich, auch nur ein lautes Wort zu reden. Alle gehörten sie zu jenen Kreaturen, die dem lieben Herrgott den Tag wegstehlen, die durch Betteln übergenug zusammenkratzen, um abends dann vielleicht in besserer Kluft die Kavaliere dritten Grades zu spielen. Ich kannte diese Sorte.

Und dort in der Ecke saß auch mein Professor gerade neben dem Fernsprechapparat, um den ein Vorhang gespannt war. Er saß allein, trank Grog und trommelte mit den Spinnenfingern nervös auf die Tischplatte.

Ich ließ mir zwei Klopse, ein Stück Brot und ein Helles geben und schlurfte zu ihm, setzte mich ohne weiteres und … fraß, schmatzte, trank, rauchte …

Der Professor hatte mir zunächst nur einen flüchtigen Blick geschenkt.

Ich mußte mich mit ihm unbedingt anbiedern. So holte ich denn, nachdem ich mich scheinbar scheu umgesehen hatte, mein Portemonnaie hervor, bedeckte es mit der Hand und raunte meinem Tischgenossen zu:

„Ob Polente hier is?“

„Nein, Kollege, jetzt nicht …“

Seine wässerigen Augen hingen an meiner Hand.

„Gefunden?“ fragte er …

Ich kniff die Augen zu … „Und ob, und ob! Muß mal sehn, wat in det Ding drin steckt …“

Er beugte sich zu mir … „Kollege, du hast Glück gehabt … Wie ist’s mit einer Runde?“

Ich klimperte mit den Münzen. „Mensch, so ville Zaster hab’ ick lange nich … gefunden … Det sein hier an die vierzig Märker – ooch Papierchens … Jut – nen Grog sollst de haben, und fressen kannst de, was de willst …“

Er rief sofort den Kaftan herbei, bestellte, winkte noch zwei Leute heran, die – – ich beide bereits kannte! Gestern hatten sie bei uns gebettelt … Ihre pfiffigen Gaunervisagen waren zu charakteristisch.

So saßen wir denn zu vieren da und … soffen … soffen …

Ein wahres Glück, daß ich auch vormittags einen gehörigen Stiefel vertrage.

Das Gespräch drehte sich im Kaschemmenjargon (nur der Professor blieb bei seiner vornehmen Ausdrucksweise) um’s „Jeschäft“, um’s Betteln, um Gelegenheitsdiebstähle und die Polente (Polizei).

Ich war diesen drei Stammgästen ein Fremder, und natürlich fragten sie auch, woher ich käme …

„Aus Hamburg,“ log ich … „Der Emil hat mir hierher jewiesen …“ Emil ist stets zutreffend.

Die drei blieben arglos. Nun, ich hatte ja auch schon vor helleren Köpfen Komödie gespielt!

Dann schrillte das Telephon.

Der Professor erhob sich …

Ich konnte jedes Wort verstehen, das er in die Muschel flüsterte.

„… Ja, hier Nimar … Ni … mar … Gewiß, erste Meldung heute … Beide sind zu Hause. Der H schläft noch, der Sch frühstückte. Er bestellte der Köchin, daß sie für eine Reise nach Hamburg heute abend neun Uhr Koteletts und Pumpernickel bereithalten solle …“

Ich wagte kaum zu atmen …

Wenn nur jetzt die Kerle neben mir nicht wieder zu reden beginnen würden!

„… Nein – niemand hinter mir … Bestimmt nicht … – Gut, verstanden … – Lehrter Bahnhof? Wer? – – Also Wurst und Kümmel … Sie sind hier … Noch einer? – – Das wird schwer sein. Sie sind alle unterwegs. Aber hier ist noch ein Neuer aus Hamburg, ein brauchbarer Mensch … Der vielleicht? – Gut – gut … Ich rufe Moses …“

Und er winkte den Kaftan heran, der ihm den Hörer abnahm.

Der Professor setzte sich wieder und starrte mich grübelnd an. Der Kaftan hatte das Gespräch schnell beendet und warf nun Nimar einen Fünfmarkschein zu. Offenbar war dies die Bezahlung für dessen Meldung über unsere Reise. –

Ich bin mit den Gepflogenheiten der Gesunkenen und Enterbten seit Jahren vertraut, ich kenne und kannte Verbrecherklubs mit den sonderbarsten Statuten …

Was ich hier erlebte, war mir völlig neu.

Der Kaftan stand neben mir …

„Willst de treten ein in ’n Verein der Menschenfreunde, du?“ fragte er in derselben hochmütig-verächtlichen Art, die er mir gegenüber schon vorhin angewandt hatte.

Meine drei „Kollegen“, Nimar, Wurst und Kümmel, nickten mir aufmunternd zu.

„Ne, ick will nich,“ knurrte ich. „Det kost’ Jeld und is Nepp!“

„Mensch, bist du een Jrünling!“ mischte sich Herr Kümmel ein, dessen Totenkopf auch nicht ein einziges Haar mehr aufwies. „Mensch, nich jeder kommt in ’n Vaein rin … Wenn dir der Schriftführer Nimar nich ’m Vorsitzenden empfohlen getan hätte, wärst de nie …“

„Schweig!“ befahl der Kaftan grob.

„Wat heeßt Vorsitzender,“ meinte ich schnoddrig. „Wer is denn hier Vorsitzender, der Obernepper?! Wir Hambörger sein nich auf ’n Kopp jefallen … Mit eirem Verein kennt ihr mir … wat husten …“

Der Professor raunte dem Kaftan zu … „Wir brauchen ihn …! Er muß!“ – Das galt mir.

Der greise Jude neigte sich zu mir herab. „Es kost’ nix – gar nix … Nur gehorchen tun muß du … Die Listen kriegst de alle umsonst, und verdienen tust de besser als wie bei’s Grabschen …“

„Na – denn man los …! Wenn’s keen Nepp is …!“ erklärte ich feixend.

Der Kaftan zog mich vom Stuhl hoch. „Geh’ mit’n Nimar mit, du …“

In einem Hinterstübchen, in dem es nach Katzen stank, bekam ich die gedruckten Vereinsstatuten vorgelegt. Der Professor gab die nötigen Erläuterungen, und Wurst und Kümmel grinsten dazu diabolisch.

Zweck des Vereins: Fürsorge für alle Armen und Bedrängten, für entlassene Strafgefangenen und gesunkene Mädchen …

Das las sich alles sehr hübsch. Nur fiel mir eins auf: als Vorsitzender war angegeben Kaufmann Johann Nimar!

„Ick denke, du bist der Schriftführer?“ fragte ich kopfschüttelnd.

Nimar, der Professor, schob mir einen Bogen Papier hin … „Da, unterschreibe erst …“

Ich unterschrieb. Es war die Beitrittserklärung. Ich unterschrieb mit „Martin Schramm, Mechaniker“.

Der Professor reichte mir die Hand. „So, und nun verpflichte ich dich durch Handschlag zum Schweigen und unbedingtem Gehorsam. Man wird nie etwas von dir verlangen, was dich mit den Gesetzen in Konflikt bringen könnte. Deine Dienste werden gut bezahlt werden.“

„Ick bin keen Schwerarbeiter,“ murrte ich.

„Von Arbeiten ist keine Rede,“ beruhigte mich Nimar hastig. „Ich habe heute in zwei Stunden fünf Mark durch Spazierengehen verdient …“

„Nu, det läßt man sich jefallen,“ lobte ich mit Nachdruck.

„Gut denn … Höre jetzt mal zu, Kollege Schramm. Ich bin nur dem Namen nach Vorsitzender. Unser wahres Oberhaupt ist uns unbekannt.“

„Ach nee!! Det is mal komisch!“ warf ich ein.

„Unterbrich mich nicht … – Unser Vorsitzender ist auch der Gründer des Vereins. Wir kennen diesen Herrn nicht, der unser Wohltäter ist. Vor zwei Jahren hat er durch Moses Blumenreich, den alten Juden draußen, den Verein ins Leben gerufen.“

„Det is mich allens schnuppe …“

„Der Herr hat nun heute für dich und Wurst und Kümmel einen besonderen Auftrag. Ich werde euch abends um sieben in meiner Wohnung anständig kostümieren, und um halb neun werdet ihr nach Hamburg fahren …“

„Wat?! Da komm’ ick ja jerade her!“ protestierte ich.

„Halt’s Maul, Mensch,“ mahnte Kümmel, das Leichengesicht. „Det is ja man bloß wieder so ’n kleene Spazierfahrt von wejen Beobachtung von Leite, die naturjemäß unsre Gegner sind. Nicht wahr, Nimar, det jeht doch noch immer um die beeden Blücherstraßer.“

Nimar nickte. „Ja … Ihr kennt sie, Kümmel und Wurst. Ihr werdet den Kollegen Schramm näher instruieren.“ Er hüstelte … „Nur über die Blücherstraßer … Namen haben die ja nicht. – Finde dich um sieben also bei mir ein, Schramm … Hier schreibe ich dir die Adresse auf … Waitzstraße 1, Gartenhaus links, drei Treppen bei Johann Nimar … So … und nun seid ihr bis dahin frei …“ –

So wurde ich Mitglied des Vereins der Menschenfreunde …

Um elf Uhr schlurfte ich wieder, jetzt mit heißem Alkoholkopf und den Magen voller Bier, Schnaps und Eisbein und Klopsen, durch die Straßen gen Schmargendorf.

 

3. Kapitel.

Waitzstr. 1.

Daß ich diesen Weg unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln zurücklegte, war selbstverständlich. Wußte ich, ob man mir doch nicht mißtraute?!

Aber zunächst merkte ich nichts. Von der Wilmersdorfer Straße bog ich dann – es war ja keine Zeitvergeudung, – in die Waitzstraße ein. Ich wollte mir doch mal Nummer eins zunächst von außen anschauen.

Und als ich nun, auf der anderen Seite der Straße stehend, das gelbbraun gestrichene Gebäude mit gewisser Neugierde betrachtete, gab mir ein jäh aufzuckender Gedanke einen förmlichen Ruck …

Himmel, – hier Nummer eins, – das grenzte ja an Kurfürstendamm Nr. 246, wo in der zweiten Etage der Kommerzienrat Singer wohnte …!! Und auch die Hinterhäuser mußten aneinander stoßen!

War das wirklich nur ein Zufall, daß der „Professor“ hier in Nummer eins so dicht neben Singer hauste?!

Zufall?! – – Ich kam ins Grübeln … Nein, von einem Zufall konnte keine Rede sein! Dieser ganze Verein der Menschenfreunde, der erst zwei Jahre existierte, war meiner felsenfesten Überzeugung nach lediglich eine Organisation von Spionen, die unwissentlich im Dienste Justus Rumaks standen. Er war der unbekannte Vorsitzende, das Oberhaupt, der Wohltäter. Er hatte diese Bettlergarde zu uns geschickt. Er ließ sich telephonisch melden, was seine Kreaturen erkundet hatten.

Doch – halt! – ein Denkfehler! Er konnte sich kaum telephonisch melden lassen, nein, – er rief immer von anderen Stellen die Kaschemme des Propheten an, – das war das Richtige! Er rief an – vielleicht alle zwei Stunden … So konnte er nie abgefaßt werden, mochte in der Kellerkneipe auch die Polente noch so scharf auf der Lauer liegen!

Und wie ich so, in Gedanken versunken, auf dem Bürgersteig gerade vor einer Haustür stehe, packt mich plötzlich jemand von hinten und reißt mich wie ein Bündel in den Hausflur hinein …

Oho – so leicht lasse ich mir denn doch nicht in aller Eile ein paar Zoll kalt Eisen in die Rippen schieben … Wenn der Kerl das wollte, – – er kannte Max Schraut nicht …!

Während ich noch wie ein Gummiball oder so ähnlich rückwärtsschwebte, werfe ich mich herum und schlage mit der Faust zu …

Aber der abgerissene Halunke, mein Gegner, war flinker … Packte mein Handgelenk …

„Narr!!“ zischte er …

Ich war glücklich auf meinen Beinen gelandet, glotzte den schwarzbärtigen Kerl, der wie ein Italiener oder Spanier aussah, entgeistert an …

„Harald, du?!“

Er lachte – sein lautloses, vergnügtes Lachen …

„Entschuldige schon, mein Alter … Aber du mußtest wirklich etwas fix von der Straße verschwinden, sonst hätte dich der Professor bemerkt …!“

Dann wandte er sich der Haustür zu, die von selbst wieder zugeschlagen war, öffnete sie ein wenig und lugte hindurch.

„Schon in Nr. eins eingetreten,“ meinte er. „Sehr merkwürdig das …!! – Gehen wir … Du wirst mir ja wohl allerhand zu erzählen haben …“

Wir verließen den Hausflur.

„Wie kommst du denn hierher?!“ fragte ich. „Ich denke, du liegst im Bett!“

„Wie du siehst – nein! Ich konnte nicht schlafen, und als du kaum weg warst, berichtete mir Mathilde von dem würdigen Nickelkneifer-Herrn – auch von der Richtung, die er eingeschlagen. In aller Fixigkeit warf ich mich ins Kostüm und erhaschte euch beide gerade noch auf dem Fehrbelliner Platz. Auch in der Kaschemme war ich. Feines Lokal das. Gefällt mir ausgezeichnet. Nette Leute alles … Zwei von deinen Tischfreunden kenne ich von Ansehen … Ehemalige Mitglieder der Gilde Karl Schemkes sind’s, des Einbrechers ohne gleichen. – Erzähle …“

Er hörte still zu. Zuweilen nur warf er ein zufriedenes „Vortrefflich!“ ein …

Wir gingen die Westfälische Straße hinab. Es begann zu tröpfeln. Ich war mit meinem Bericht fertig. Harald sagte nur: „Das hast du gut gemacht. Du mußt deine Rolle als Schramm mit den beiden Jacketts und dem gefundenen Portemonnaie glänzend gespielt haben, sonst würde dieser Nimar dir nicht solches Vertrauen entgegengebracht …,“ schwieg, blieb stehen, wiederholte langsam:

„Dieser Nimar … Nimar …! Ja … Ni – mar … Von hinten sieht der Kerl eigentlich dem Manne verdammt ähnlich, der sich bei Selig operieren ließ. Und Johann heißt er ebenfalls mit Vornamen …

Nimar – – von hinten: Ramin!! Ramin!!“

Und „Ramin!“ rief ich. „Harald, das ist ein weiterer Beweis, daß der famose Verein lediglich für Justus Rumak arbeitet!“

„Oh, rege dich nicht auf … Eines solchen Beweises bedurfte es gar nicht mehr … Was du soeben an Beweisen anführtest, genügte selbst einem modernen Staatsanwalt, die ja nicht mehr so bissig und verbissen in ihre Ideen sind wie einst.“ Er schob seinen Arm in den meinen. Es regnete immer stärker. Aber – was scherte uns das – uns, die wir endlich dem Feinde auf der Spur waren. – „Ein Tag des Erfolges, mein Alter!“ sagte Harald strahlend. „Vielleicht blühen uns noch Lorbeeren, von deren Ausmaß wir noch gar nichts ahnen! – Nimar, – ob der Kerl verkleidet war? Du sahst ihn ja aus nächster Nähe …“

„Nein, bestimmt nicht!“

„Rumak in einer Maske kann es ja auch nicht gewesen sein. Der Professor ist gut anderthalb Kopf größer … – Natürlich mußt du dich um sieben bei Nimar einfinden, damit die Kerle nicht Verdacht schöpfen. Deinen Dienst bei Singer trittst du dann eben später an.“

Er hatte immer bedächtiger gesprochen … immer langsamer …

„Ja … später … an … – Beeilen wir uns … Es gießt … Wir wollen einzeln durch den Gemüsegarten in unser Haus schlüpfen … Ich werde vorangehen … Ich habe die längeren Beine …“ –

Als ich bis auf die Haut durchnäßt Haralds Arbeitszimmer betrat, saß er schon in der Hausjoppe im Klubsessel und hatte vor sich auf dem Rauchtischchen eine Flasche Rotwein stehen, hatte die Mirakulum zwischen den Lippen und meinte, mir heiter zublinzelnd:

„Dieser Rumak ist ein wahres Labsal! Doch endlich mal ein Verbrecher, der kein Stümper und großzügig ist …! – Setz’ dich … Trinke … Du kannst dich nachher umziehen … Wir müssen unseren Schlachtplan ändern … Wir werden nach Hamburg fahren, das heißt: Bechert muß uns zwei Leute schicken, die uns in der Größe und Dicke entsprechen … Die begeben sich verkleidet zum Lehrter Bahnhof …“

Was er mir noch weiter entwickelte, hatte meinen ungeteilten Beifall. – –

Es war fünf Minuten vor sieben. Ich stieg im linken Seitenflügel von Waitzstr. 1 die drei Treppen empor.

Der Professor öffnete mir selbst die Tür. Oh – hier sah er weit manierlicher aus als bei Moses in der Krummen Straße. Ein vornehmer, sauberer Herr mit Brille; nichts mehr vom Bettler hatte er an sich …

„Tritt näher, Kollege Schramm … Ja, miserables Wetter … Armer Kerl, ganz naß geregnet …“

Er führte mich in ein kleines, bescheiden mit altem Hausrat möbliertes Zimmer … Fragte, ob er mir eine Erfrischung reichen dürfe.

„Nee, dank’ scheen … Aber ’n Schnaps, wenn’s du eenen hast …“

„Gern … Bitte … Nein, ich trinke nicht mit.“ Er war hier wirklich ein ganz anderer. Seine abgeklärte Ruhe imponierte mir fast. – Ich schaute mich in dem Zimmer mit der harmlosen Neugier des schlichten Mannes genauer um. An den Wänden hingen sehr viele Familienbilder in breiten, schadhaften Goldrahmen. Die Gesichter der männlichen Mitglieder dieser Ahnengalerie wiesen alle dieselben markanten Züge auf.

Nimar sagte träumerisch: „Ja, Schramm, ich bin tief gesunken, ich, der letzte derer von Ramin … So heiße ich nämlich in Wahrheit: von Ramin, Johann Oskar Gilbert von Ramin … Und auf diesen meinen Schultern, Schramm, lagen einst die silbernen Achselstücke eines flotten Leutnants … Das ist lange, lange her …“

„Imponiert mich nich …,“ brummte ich flegelhaft.

Ramin stützte den Kopf in die Hand …

Seine schwimmenden Augen ruhten auf dem fadenscheinigen Teppich … „Nun heiße ich Nimar und bin Bettler und – noch Schlimmeres …!“ Er schien meine grobe Zwischenbemerkung gar nicht gehört zu haben. „Acht Jahre Zuchthaus, Schramm …! Und wenn er nicht gewesen wäre, würde ich wohl längst irgendwo verreckt sein …“

„Er?! Wer?! – Mensch, werd’ man bloß nich weich wie ’n Seifenlappen! – Wer – – er?“

„Der Wohltäter, Schramm, das Oberhaupt, unser Vorsitzender.“

„Ich denke, den kennst de jar nich?“

Er war derart in trübe Erinnerungen versunken, daß er nicht auf ein paar Geräusche achtete, die durch die Verbindungstür nach der Nebenstube verschwommen hindurchdrangen: Knarren von Dielen, Schritte scheinbar …!

Ich wurde mißtrauisch.

„Du, is da wer nebenan?“ fragte ich und steckte die Rechte in die Jackentasche, wo die Neunschüssige auf Beschäftigung wartete, falls es eben nötig sein sollte.

„Nur Wurst und Kümmel, Schramm … Sie kostümieren sich …“

„Ach so …“

Da ging auch schon die Tür auf …

Ich starrte hin …

Da stand ein schlanker Mann mit blondem Bärtchen und frischem Gesicht in Dienerlivree …

Mein Herzschlag setzte aus …

Es war … Harst … Harst!!

Hände auf dem Rücken … Im Munde einen Knebel …

Hinter ihm zwei Gaunervisagen, satanisch feixend: Wurst und Kümmel!

Ich war derart überrascht, daß ich die Hand aus der Tasche zog und aufsprang …

„Harald?! Wie …“

„Lieber Schramm, setz’ dich wieder!“ mahnte Ramin höflich und zeigte mir warnend eine lange klobige Luftpistole, die er wohl unter seinem Schlafrock verborgen gehabt hatte. „Setz’ dich, Schramm … Ihr habt auch diese Partie verloren. Nun werden wir wohl stärkere Mittel anwenden müssen … – Bindet ihn!“

Seine Kollegen vom Vormittag hatten entschieden Übung darin. Auch einen Knebel bekam ich. Dann schickte Ramin seine Gehilfen weg, nachdem er jedem einen Zehnmarkschein „im Namen des Wohltäters“ gegeben hatte.

Die Flurtür draußen klappte ins Schloß.

„Setzen Sie sich dort auf das Sofa nebeneinander, meine Herren,“ befahl Ramin uns beiden. „Wir haben einiges zu besprechen. – Bitte …“

Seine Luftpistole winkte zart.

Wir setzten uns.

 

4. Kapitel.

Die höhere Intelligenz.

Auch Ramin nahm Platz. In seinem ganzen Wesen kam jetzt eine gewisse Melancholie zu klarem Ausdruck. Seine Augen glitten über uns hin, als ob er bedauerte, durch die Umstände zu diesem seiner innersten Seelenverfassung widersprechenden Vorgehen gegen uns gezwungen worden zu sein.

„Erledigen wir die Sache in Kürze, meine Herren,“ begann er, indem seine Stimme sich seinen bedrückten Mienen anpaßte. „Ich bin hier nur Vertreter eines anderen, eines Mannes, den Sie kennen und der jetzt als Meuchelmörder verfolgt wird. Justus Rumak ist ein Mörder, wenigstens nach den papiernen Gesetzen des Staates. Aber weder er noch ich noch ein dritter Mann, der ebenfalls in alle Einzelheiten dieser Tragödie eingeweiht ist, können auch nur im geringsten die Bezeichnung „Mord“ für einen berechtigten Vergeltungsakt als folgerichtig anerkennen. Die Frau, die im Auto den Tod fand, hatte diesen Tod vielfach verdient. Es war während des Krieges, als der Dompteur Kamur-Rumak hier in Berlin die Französin Florence de Digny, die als Spionin für Frankreich tätig war, zufällig wiedererkannte, nachdem er ihr schon vor vier Jahren in Paris begegnet war. Er verliebte sich in sie, er, ein reifer, welterfahrener Mann, der bis dahin nur seinen vierbeinigen Schülern sein Herz geschenkt hatte. Es entging ihm nicht, daß Florence bereits heimlich beobachtet wurde. Er[4], der als geborener Tscheche kein Interesse daran hatte, für Deutschland zu wirken, rettete Florence vor dem fast unabwendbaren Schicksal, als Spionin erschossen zu werden. Ob sie sich ihm dann aus Dankbarkeit hingab, ob sie ihn zunächst wirklich liebte, wird wohl ein ewiges Rätsel bleiben. Ein Kind entsprang dem freien Bande zweier heißer Herzen, und Justus Rumak war der glücklichste Mann auf Erden. Sobald der Krieg beendet, wollte er Florence heiraten. Da lernte sie einen Mexikaner kennen, der in der Skala als Jongleur auftrat. Sehr bald hinterging sie mit diesem leichtfertigen Menschen ihren Lebensretter, der für sie seine eigene Freiheit und mehr noch gewagt hatte. Und sie und jener Ramon Esparro führten dann schließlich einen wahrhaft teuflischen Anschlag gegen den bereits mißtrauisch gewordenen Dompteur aus, indem sie dessen Löwen kurz vor der Vorstellung halb vergiftete Fleischstücke reichten. Die Schmerzen machten die Bestien[5] während des Dressuraktes rasend, Rumak wurde von seinen Löwen angefallen und so entsetzlich zugerichtet, daß er wochenlang ohne Besinnung im Krankenhaus lag. Als die Genesung bei ihm dann schließlich doch eintrat und sein Interesse für die Umwelt wiedererwachte, stellte er fest, daß Florence und das Kind verschwunden waren und daß die Französin sogar seine gesamten Ersparnisse mitgenommen hatte. Als Krüppel und bettelarm verließ er das Lazarett, ein körperlich und seelisch gebrochener Mann. Aber eins gab ihm die Spannkraft zurück: der Wunsch nach Vergeltung! – Er wurde … Bettler, wurde der Mann mit den Mäusen … Er darbte, hungerte. Was seine Mäuse ihm einbrachten, verwandte er zur Bezahlung von Privatdetektiven, die nach Florence forschen mußten. Jahre gingen dahin. Da endlich erfuhr er, was aus Florence geworden, daß sie hier in Berlin in Luxus und Üppigkeit als Gattin Singers lebte. – Rumak ließ sich Zeit. Florence sollte sterben, und der Knabe sollte wieder sein werden. Aber er überstürzte nichts. Um eine Anzahl Leute an der Hand zu haben, die ihm als Beobachter treu ergeben waren, gründete er den Verein der Menschenfreunde. Der Jude Moses aus der Krummen Straße, den Rumak von Prag her kannte, und ich, den er vor dem völligen Untergang gerettet, wurden seine Vertrauten. Zunächst hat Rumak seine frühere Geliebte nur durch Briefchen und auf andere Weise in ständiger Angst erhalten. Sie ahnte nicht, daß er noch lebte, daß er in Berlin weilte und wohnte. Sie erkannte in dem buckligen Bettler den Vater ihres Kindes nicht wieder. Dann ließ Rumak seine Rückgratverkrümmung auf operativem Wege beseitigen und begann mit den letzten Vorbereitungen zu dem Hauptschlag gegen Florence. Er mietete unter anderem Namen die halbe Etage über Singers Wohnung. Ich spielte seinen Diener, während ich auch hier in der Waitzstraße als Nimar hauste. Seine Wohnung und hier die meine verbanden wir durch einen Mauerdurchbruch und zwei geheime Türen. Er kaufte das Laubengrundstück und richtete sich dort unter der Erde das Ihnen bekannte Versteck für den Fall der Not her.“

Ramin schwieg, seufzte tief auf und fuhr leiser fort: „Meine und Moses’ Bitten, von einer Tötung Florences abzusehen, hatten bei Rumak keinerlei Erfolg. Er lachte uns aus. Er betonte immer wieder, daß man in ihm niemals den Mörder und den Entführer des Knaben vermute. Nur vor Ihrer Einmischung, Herr Harst, fürchtete er sich, wenn er auch stets hervorhob, auch Sie täuschen zu können. Seine Vorbereitungen waren daher gleichsam auf Ihre Person zugeschnitten. – Der Mord geschah. Rumak kam zu Ihnen. Aber Sie durchschauten sein Spiel, selbst seinen Trick mit den Stöckelschuhen. So ließ er Sie beide denn in der Versenkung unter dem Erdbeerbeet verschwinden. Er rechnete auch damit, daß Sie schließlich herausfinden würden, daß der Knabe vom Balkon nicht in die untere leere Wohnung, sondern in die obere, zu dem harmlosen Rentner Magnus Raßmussen, geschafft worden war. Ihr Haus, Sie beide standen unter ständiger Bewachung. Ihr Telephon war angezapft worden. So kam’s denn, daß Rumak rechtzeitig erfuhr, daß Sie, Herr Harst, bei Professor Selig wegen der Operation angefragt hatten. So kam’s, daß wir ebenso rechtzeitig Kenntnis davon erhielten, weshalb der Diener und der Chauffeur Singers entlassen werden und wer an deren Stelle treten sollte. Rumaks überlegene Intelligenz hatte gesiegt und siegte weiter.“

Harald nickte mehrfach. Er gab zu, geschlagen worden zu sein.

Ich aber wußte nun, daß er mich tatsächlich wieder einmal hinter’s Licht geführt hatte, als er vorgab, die Erzieherin des Knaben solle beobachtet werden.

Ramin sprach weiter: „Als Sie, Herr Schraut, mich heute vormittag verfolgten und so in die Kaschemme gelangten und dort als Schramm recht anerkennenswert auftraten, spielten Sie nicht mit uns, sondern wir mit Ihnen. Wir wollten Sie beide in unsere Gewalt bekommen – ebenfalls Rumaks Idee! Der Plan glückte. Herr Harst trat seinen neuen Dienst bei Singer an und beeilte sich, als er hörte, Herr Raßmussen oben sei mit seinem Diener verreist, in die scheinbar leere Wohnung einzudringen, wobei er unschwer überwältigt und dann hierher geschafft wurde. – Während ich Ihnen beiden dies alles hier mitteile, ist mancherlei außerhalb dieser vier Wände geschehen. Erstens: Rumak und der Knabe befinden sich unterwegs ins Ausland. Zweitens: der Verein der Menschenfreunde ist aufgelöst worden. Drittens: Moses ist gleichfalls in Sicherheit gebracht worden. Ich selbst verschwinde noch in dieser Nacht für immer aus Deutschland. Rumak und wir anderen hinterlassen auch nicht die geringste Fährte. Dafür ist längst gesorgt. Und diesmal werden Sie, Herr Harst, uns nicht finden. Geben Sie sich keine Mühe. Es wäre zwecklos. Sie haben in meinem Freunde Justus einen Gegner, der Ihnen tatsächlich weit überlegen ist. In unserer neuen Heimat ist alles für unseren Empfang schon vor Monaten vorbereitet. Wir sind dort keine Fremden mehr, deren plötzliches Auftauchen Verdacht erregen könnte. – Ich habe Ihnen beiden nun zum Schluß nur noch mitzuteilen, daß ich Sie mit Chloroform betäuben muß, damit Sie erst morgen früh erwachen. Zwölf Stunden Vorsprung genügen uns vollauf. Dann läßt Justus sich Ihnen noch höflichst empfehlen und Sie bitten, seine Angelegenheit ruhen zu lassen, damit Sie sich nicht neuen Blamagen aussetzen. Er fürchtet Sie jetzt nicht mehr, Herr Harst. Er achtet Sie, aber – – er bleibt die überlegene Intelligenz.“

Ramin hob langsam das klobige Ding, das ich bisher für eine Luftpistole gehalten hatte.

Er zielte auf meinen Kopf, drückte ab, und ein feiner Strahl Chloroform traf mein Gesicht … –

Als wir auf dem Sofa nach vielen Stunden erwachten, schimmerte durch das Fenster das trübe Licht eines Regentages herein.

Es war acht Uhr morgens.

Um neun Uhr waren wir beiden Besiegten wieder daheim in der Blücherstraße und legten uns sofort zu Bett. Wir fühlten uns krank, gedemütigt, bedrückt. Die Zeitungen würden Harst weiter durch die Zähne ziehen, und … die überlegene Intelligenz, Justus Rumak, würde niemals in seinem neuen Schlupfwinkel aufgestöbert werden.

Es war einfach zum Verrücktwerden …

Trotzdem schlief ich wie ein Toter bis acht Uhr abends.

 

5. Kapitel.

Fleischfabrikat und Gewürz.

Bis acht Uhr abends … – Um halb zehn saßen der stumme Harald Harst und der bekniffene Max Schraut am kalten Kamin im milden Licht der Ständerlampe und rauchten und lasen und lauschten dem Geräusch des rieselnden Regens.

Vor einer Stunde hatte Harald wahrheitsgemäß unseren letzten Fehlschlag dem Kommissar Doktor Reimann telephonisch mit allen Einzelheiten mitgeteilt.

Reimann war am Fernsprecher grob geworden, und Harald hatte die bitteren Pillen wortlos geschluckt. Nun arbeitete der Riesenapparat der Kriminalpolizei und reckte seine tausend unsichtbare Arme nach allen Richtungen hin nach den Flüchtigen aus.

Harst lag mit geschlossenen Augen im Sessel. Soeben hatte er die Zeitung weggelegt. Er rührte sich nicht. Nur seine Lippen hielten die glimmende Zigarette, und aus seinem rechten Mundwinkel drang in kurzen Stößen der Rauch heraus wie aus dem Ventil eines überhitzten Kessels.

Fünf Minuten verstrichen. Er hatte eine neue Zigarette genommen. Ich döste vor mich hin …

„Schraut!“

Ich fuhr zusammen.

„Schraut,“ sagte er und setzte sich kerzengrade und schaute mich blinzelnd an, „ich habe eine Spur gefunden … – Glaubst du daran, daß der famose Verein wirklich aufgelöst ist?! Glaubst du daran, daß Rumak ins Ausland geflüchtet ist?! Glaubst du daran, daß er uns nicht mehr überwachen lassen wird? Heute nicht – noch nicht, vielleicht auch morgen noch nicht … Aber seine Spione werden wieder auftauchen … Er … traut seiner überlegenen Intelligenz doch nicht so recht. – Wir aber werden noch in dieser Nacht die Jagd von neuem beginnen. Ich wette: Rumak und seine Vertrauten stecken noch hier in Berlin! Komm’, das Fleischfabrikat und das Gewürz müssen uns ans Ziel führen.“

Ich glaubte mich verhört zu haben. „Fleischfabrikat – – Gewürz?! Das verstehe ich nicht …“

„Aber ich! – Vorwärts …! Nun wollen wir Rumak mal beweisen, wer … die höhere Intelligenz ist, wer imstande ist, sich so zu maskieren, daß selbst des Teufels Großmutter in uns nicht Harst und Schraut erkennen würde!“

Und dann sprach er im Ankleidezimmer nur noch das Allernötigste. – Um halb zwölf schlichen zwei Gestalten durch unseren Gemüsegarten dem nahen Feldwege zu, während in Haralds Arbeitszimmer der Lautsprecher die Tanzmusik weiter herausschmetterte, daß die Klänge sicherlich bis zur Blücherstraße zu hören waren. Wir waren eben daheim und trösteten uns durch Radio.

Wir …

Wir fuhren mit der Straßenbahn nach Charlottenburg. –

An der Ecke der Krummen Straße standen kurz vor Mitternacht zwei ältere, scheußlich geschminkte und mit fadenscheiniger Uneleganz gekleidete Dirnen mit ihren aufgespannten Regenschirmen und benahmen sich derart auffällig, daß plötzlich zwei Männer in Gummimänteln an sie herantraten, sich als Kriminalbeamte auswiesen und die nach Fusel stinkenden Weiber mit sich zur nächsten Wache nahmen.

Gerade vor der Kaschemme des Vereins der Menschenfreunde riß die größere der Dirnen sich los, stieß den Beamten zurück und floh in das Kellerlokal, das offenbar in anderen Besitz übergegangen, aber bis auf den letzten Platz gefüllt war: alles Gelichter schlimmster Art, das sofort gegen die beiden Beamten (denn auch die andere Dirne war in den Keller entwichen) eine drohende Haltung einnahm.

Die Szene näher zu schildern, erübrigt sich. Kaschemmenbilder sieht man in so vielen Filmen, daß jede Kleinmalerei hier Raumvergeudung wäre.

In der Pestluft der Kaschemme, in diesem echten Londoner Nebel von Tabaksqualm hatten die beiden nach Schnaps und Patschuli stinkenden halb betrunkenen Weiber sich hinter dem Schanktisch verkrochen, während das gesamte Gesindel um die Beamten eine johlende, drohende Mauer von vertierten Menschenleibern bildete. – Der neue Lokalinhaber (oder Vertreter des geflüchteten Moses), ein dicker kleiner Glatzkopf mit hellen Schellfischaugen, schien jedoch keine Lust zu haben, wegen dieser „Straßendirnen“ es mit der Polizei zu verderben. Er bückte sich und flüsterte grob: „Schert euch zum Teufel! Raus mit euch!!“

Da raunte ihm die lange Hagere hastig zu: „Wurst, Kümmel!! Hilf uns!!“

Der Glatzkopf zögerte …

Das Publikum brüllte, johlte …

Wiederum raunte die Hagere: „Wurst, Kümmel, – – vastehste!!“

Und jetzt nickte der Dicke.

Hier hinter dem Schanktisch war die kleine Falltür, die in den Keller dieses Kellerlokals führte, in ein zementiertes kleines Gelaß, wo die Bierfässer unter Eis standen.

Der Dicke schob mit dem Fuß einen niederen Riegel zurück, die Tür klappte nach unten, und Harst rutschte als erster die kleine Treppe hinab, ich hinterdrein, freilich nicht ohne noch die Worte des Dicken trotz des ungeheuren Lärms verstanden zu haben: „Das leere Faß!!“

Über uns schloß sich die Klappe wieder. Harst holte aus seinem Handtäschchen den kleinen Leuchtstab hervor. Ich flüsterte, was der Dicke geflüstert: „Das leere Faß!“, und als wir dieses nun beiseite schoben, zeigte sich auf dem Zementboden ein nasser Ring wie ein Abdruck vom Faßrande. In dem Ringe leuchteten Bierlachen …

Der nasse Ring war jedoch ein runder Ölstrich und hatte nur die Aufgabe, die Umrisse einer auch hier befindlichen Falltür zu verdecken. Harst suchte nach der Vorrichtung, die dieses runde Stück des Bodens herabklappen ließ. Da war in der Mauer ein harmloser verrosteter Haken. Aber der Haken hatte einen Haken … Als Harst kräftig darauf drückte, senkte sich das Zementstück.

Wir standen gleich darauf in einem engen, niederen Gang, der durch starke ungehobelte Bretter abgesteift war. Der Gang endete in einem verwahrlosten Gewächshaus des Gartens des Nebengrundstücks der Kaschemme, – ein uraltes Häuschen, ein Idyll inmitten des Steinmeeres der Weltstadt …

Schöne hohe Linden, Kastanien, Obstbäume zeigte uns außerdem noch das bleiche, rasch wieder von Wolken verdeckte Mondlicht.

Wir blieben im Eingang des Gewächshauses stehen. – „Es ist anders gekommen, als ich dachte,“ meinte Harald. „Ich wollte lediglich die Spur von Wurst und Kümmel zunächst „ausmachen“, und Wurst und Kümmel sollten uns auf die wertvollere Fährte verhelfen. Jetzt aber, – – bitte – sieh’!!“ Er zeigte auf das erleuchtete Hinterfenster des Häuschens. Auf dem hellen Vorhang war der Schatten eines Mannes sichtbar, der anscheinend vor einem Spiegeltisch saß … und sich einen falschen Bart vorklebte.

Das Profil dieses Mannes war unverkennbar das des Herrn Johann von Ramin.

Wir schlichen durch den Garten, am Häuschen vorüber, schwangen uns über den Zaun, waren in der Krummen Straße.

Wir liefen … bis zum kleinen Café an der Ecke – hinein – ans Telephon …

Harst bestellte von der Revierwache alle verfügbaren Beamten nach dem Häuschen. Es wurde in aller Stille umstellt. In aller Stille drangen wir durch ein Seitenfenster ein.

In dem erleuchteten Hinterzimmer fanden wir Moses, Ramin und einen blonden Herrn mit Brille: Justus Rumak!

„Gewonnen!“ sagte Rumak achselzuckend. „Ich gratuliere, Herr Harst. Nur meinen Jungen werden Sie vermissen … Den habe ich anderswo in Sicherheit gebracht.“

Rumak streckte die Hände aus und ließ sich Handschellen anlegen. Ramin und Moses waren in ihrer neuen Aufmachung kaum wiederzuerkennen. Auch sie ergaben sich mit Würde in ihr Schicksal. – –

Der Leser könnte nun vielleicht denken, daß der Abschluß dieser Geschichte des Mannes mit den Mäusen ein wenig unbefriedigt sei.

Bitte abwarten! –

Als wir nach dieser Nacht vormittags zehn Uhr beim Frühstück saßen, kam Doktor Reimann ganz unvermutet zu uns. Er war in heller Aufregung. „Harst,“ rief er atemlos, „vorhin beim Verhör Ramins hat dieser plötzlich erklärt, er habe mir im Auftrage Justus Rumaks zu bestellen, daß der verhaftete Rumak gar nicht Rumak sei. Wir sollten die Frage nur nachprüfen. – Ich war wie vor den Kopf geschlagen, ließ „Rumak“ vorführen, und – – der Kerl hatte einen völlig glatten Rücken, keinerlei Narben – nichts!! Er gab zu, Emil Winter zu heißen und wegen seiner Ähnlichkeit mit Rumak für die Summe von fünftausend Mark, die er gut versteckt habe, „Rumak“ gespielt zu haben. – Ramin aber erklärte mir dann weiter, Justus Rumak habe damit gerechnet, daß Sie in der Kaschemme auftauchen würden … Er habe nur eben weitere vierundzwanzig Stunden Vorsprung gewinnen wollen, und Ramin und Moses hätten sich aus Dankbarkeit freiwillig geopfert.“ –

So war das Ende dieses Abenteuers. Die überlegene Intelligenz war doch Rumak. Die Welt hat weder von ihm noch von seinem Jungen je wieder etwas gehört.

Die Welt …

Wir auch nicht?! – Ja, wir haben etwas von ihm gehört … Und wenn ich nun auch für die Öffentlichkeit im nächsten Band den Schleier lüfte, wie wir Justus Rumak fanden, so geschieht dies nicht etwa deshalb, weil ich Haralds Ruf als Genie wiederherstellen möchte, sondern weil die Art, wie Harst diesen Gegner zur Strecke brachte, in Wirklichkeit ein genialer Erfolg war. Der Leser kann sich in „Drei Löwen“ selbst davon überzeugen.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Variete…“. – Entweder „Varieté“ mit Accent aigu (é) oder aber „Varietee“ mit Doppel-e (ee), falls die entsprechende Drucktype im Bleisatz nicht vorhanden ist (alte Druckerregel). Im weiteren Textverlauf kommt aber auch „Café“ mit Accent aigu vor. Daher vier Vorkommen mit „Variete…“ auf „Varieté…“ geändert.
  2. „Parma-Veilchen“ / „Parmaveilchen“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Parma-Veilchen“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „Brauseminze“.
  4. In der Vorlage steht: „Ihm“.
  5. In der Vorlage steht: „Bestie“.