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Drei Löwen

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 205

 

Drei Löwen.

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1927 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 36.

 

1. Kapitel.

Die Erzieherin.

Die Posaune, das berüchtigte Berliner Montags-Skandalblättchen, brachte am Montag, dem 22. August, folgende Notiz:

Mord Florence Singer. Nun haben sich unsere Prophezeiungen also wirklich bewahrheitet. Der Mörder der Kommerzienrätin Singer, der ehemalige Dompteur Justus Rumak-Kamur und seine Helfershelfer haben den „berühmten“ Harst abermals an der Nase herumgeführt. Der vorgestern nacht Verhaftete ist lediglich ein Doppelgänger Rumaks, und Johann von Ramin und der Kaschemmenwirt Moses sind im Verhör mit zynischer Offenheit aufgetreten und haben erklärt, Rumak habe durch seinen neuen Trick, auf den Herr Harald Harst glatt hereingefallen ist, nur weitere 24 Stunden Vorsprung gewinnen wollen.

Wir fragen unsere Kriminalpolizei, die doch wahrlich keinen Grund hat, mit so phantastisch-eigenwilligen Köpfen wie Harst zusammenzuarbeiten, wie lange sie noch die selbstherrliche Art dieses Mannes dulden will, der aus reinem Sensationshunger ihr dauernd ins Handwerk pfuscht. Zugegeben, daß Herrn Harald Harst einige Zufallserfolge beschert waren, zugegeben, daß er ohne jeden klingenden Lohn seine Intelligenz Ratsuchenden zur Verfügung stellt … Aber derartig aufgebauschter Dilettantismus, wie ihn dieser Herr schon wiederholt in krassester Form der Öffentlichkeit gezeigt hat, stellt derselben Öffentlichkeit auch die Pflicht, endlich dafür zu sorgen, daß Herr Harst sein „Genie“ lediglich bei verloren gegangenen Regenschirmen oder bei entlaufenen Hunden und Katzen arbeiten läßt und bei so ernsten Dingen wie ein Mord und eine Kindesentführung es sind, vollkommen ausgeschaltet wird.

Wir wiederholen, was wir schon einmal vor zwei Tagen an dieser Stelle behaupteten: Hätte Harst unserer anerkannt tüchtigen Kriminalpolizei rechtzeitig von den von ihm aufgefundenen Spuren des flüchtigen Rumak Mitteilung gemacht, so säße jetzt der echte Rumak hinter Schloß und Riegel.

Vielleicht wäre auch die Frage zu prüfen, ob hier nicht strafrechtlich Begünstigung vorliegt.

Die Posaune schmetterte diese Verunglimpfung in die Welt hinaus, und eine Menge anderer Zeitungen stießen in dasselbe Horn.

Noch nie habe ich meinen Freund so verstimmt, bedrückt und geradezu verbittert gesehen wie damals.

Er war an sich selbst irre geworden. Der Leser kennt ja aus dem vorigen Band die Vorfälle, die diesen Pressefeldzug gegen Harst veranlaßt hatten. Justus Rumak hatte sich schließlich doch als die überragende Intelligenz erwiesen. Er war einer der wenigen Verbrecher, die all jene geistigen und körperlichen Eigenschaften in sich vereinen, die in ihrer Gesamtheit so selten zu finden sind.

Nach jenen „Posaunentönen“ vom Montag hatte Harald sich überhaupt nicht mehr aus dem Hause gerührt. Jeden Besucher lehnte er ab. Bechert kam, um im Namen unserer Freunde von der Kriminalpolizei tröstend zu erklären, daß die Posaune zu einer Berichtigung ihrer unverschämten Auswürfe[1] gezwungen werden würde. Harald ließ sich nicht sehen. Und noch andere kamen und wollten gleichfalls ihrer Freundschaft und Bewunderung erneut Ausdruck verleihen. Auch diese wies Harald ab. Ich allein empfing sie. Stöße von Briefen flatterten uns ins Haus. Harst las nicht einen. Am Mittwoch, dem 24., erschienen nacheinander drei Klienten, unter denen sich Graf Lantyga befand, der Vater jener unglücklichen Tochter, die tot in einem elenden Absteigequartier aufgefunden wurde. Die Polizei hat nach drei Monaten auch diesen Mord aufgeklärt. Harald lehnte die Annahme der Ermittlungen rundweg ab, ließ keinen Hilfesuchenden vor, saß den ganzen Tag oben in unserem kleinen Laboratorium und experimentierte mit indischen Giften.

Mit einem Wort: Es war einfach zum Verzweifeln!!

Und so kam denn jener Donnerstag heran (25. August), der allen Berlinern noch lange im Gedächtnis bleiben wird, jener Regentag, an dem Berlin schwamm und im Vorort Zehlendorf in den Straßen Paddelboote kreuzten.

Ein trauriger Tag …

Als wir beim Mittagessen saßen und die Regentropfen gegen die Fenster der Veranda trommelten, erklärte Harald seiner Mutter und mir, er habe bereits gestern einen Güteragenten beauftragt, für ihn ein größeres Gut zu besorgen, – er wolle Berlin verlassen und Agrarier werden … „Ich habe all diese Tage, in denen die Kriminalpolizei Rumaks Fährte[2] zu finden hoffte, darüber nachgegrübelt, wie ich diesen Mann doch noch zur Strecke bringen könnte. Ich bin mit meiner Weisheit zu Ende. Und nach dieser Niederlage ziehe ich mich eben vom … Geschäft zurück.“

Das war mittags.

Abends neun Uhr trommelte der Regen noch immer gegen die Scheiben. Harald lag in seinem Arbeitszimmer auf dem Diwan und hatte sich zur Abwechslung die türkische Wasserpfeife angezündet, rauchte und hielt mir einen langen Vortrag über die Wirkungen des indischen Pflanzengiftes Kasma, das aus der Kasma-Wurzel gewonnen wird …

„… Meine Tierexperimente, lieber Alter, sind zum Glück von keinem Mitglied des Vereins gegen die Vivisektion beobachtet worden. Ich bin wahrhaftig ein Tierfreund, aber – alles hat seine Grenzen! Hätte wohl Professor Ehrlich jemals das Salvarsan entdeckt, wenn er nicht Hunderte von Mäusen und Kaninchen geopfert haben würde?! Auch meine Tierversuche sind für die exakte Wissenschaft von Bedeutung, und wenn ich erst Gutsbesitzer bin, werde ich über das Kasma eine Broschüre schreiben. Ich hoffe, daß … –, hallo, was bedeutet denn das?! Hörtest du …? zwei Schüsse draußen auf der Straße … Und jetzt trommelt jemand gar mit Fäusten gegen unsere Haustür … schreit um Hilfe … Lauf’, öffne … der arme Teufel scheint in Not zu sein …“

Ich eilte in den Flur …

Regentriefend stolperte ein blasser junger Mensch ins Zimmer – im Gummimantel und Öltuchmütze, sank in einen Sessel und stöhnte:

„Diesmal hätten sie mich beinahe erwischt!!“

Eine merkwürdig helle Stimme war’s.

Über seine linke Wange lief eine blutende Furche hin: Streifschuß!

Harst saß auf dem Diwan und sagte höflich:

„Mein Fräulein, Sie sollten den Kokaingenuß unbedingt einstellen, denn Sie befinden sich bereits im vorletzten Stadium der verderblichen Wirkungen dieses Narkotikums. Ihre Lippen, Hände und Knie zittern, Ihre Haut bildet unter den Augen gelbliche Säcke, obwohl Sie erst zwanzig Jahre alt sein können, und Ihr stierer Blick ist nicht lediglich auf den soeben draußen überstandenen Schreck zurückzuführen.“

Mein Fräulein …

Ja, es war ein Mädchen in Männertracht, und wie sehr Harald auch mit der ernsten Warnung vor dem Kokain recht gehabt, zeigte nun ein krampfartiger Anfall von Schüttelfrost, der die Fremde aus dem Sessel auf den Teppich gleiten ließ.

Zu meinem Erstaunen lief Harald hinaus und nach oben, wo ich ihn im Laboratorium hin und her gehen hörte. Dann kam er hastig zurück, half mir das blonde junge Weib auf den Diwan legen, entblößte ihr die Brust und … machte eine Einspritzung, nachdem er die Haut mit Jod betupft hatte.

Im Nu ließen die Gliederzuckungen nach.

„Kasma, mein Alter,“ sagte Harald stolz. „Wenn ich als Detektiv nichts mehr tauge, so werde ich vielleicht als Chemiker etwas leisten …“ –

Fünf Minuten drauf erzählte Anna Weber uns ihre schlichte Geschichte.

Sie war Waise, hatte das Lehrerexamen gemacht, konnte jedoch auf die Anstellung nicht warten und hatte sich um eine Stellung als Erzieherin beworben.

„… In der Gartenlaube fand ich vor einem Monat das betreffende Inserat. Eine Witwe suchte für ihr Töchterchen eine Lehrerin. Ich schrieb der Dame, die in Mecklenburg am Wandinger See eine Villa besitzt. (Ich bemerke hier gleich, daß ich die Örtlichkeit aus naheliegenden Gründen verlegt habe.) Am letzten Juli erhielt ich Antwort. Ich sollte die Stellung sofort antreten. Dem Briefe lag ein Fünfzigmarkschein als Reisegeld bei. Als ich am 1. August abends in dem Städtchen Wanding eintraf wurde ich von einem Diener im Auto abgeholt. Nach viertelstündiger Fahrt erreichten wir die hart am Seeufer gelegene schloßartige Villa. Unterwegs hatte mir der alte Diener bereits mitgeteilt, daß Frau Makur, seine Herrin, zurzeit noch verreist sei. – Ich fand in dem alten weitläufigen Gebäude, das einst Sommerresidenz eines Herzogs gewesen, zwei reizende Zimmer für mich bereit. Da ich eine sehr naturfreudige Seele bin, gefiel es mir zunächst in der Villa trotz der Einsamkeit sehr gut. Anwesend waren dort außer mir nur noch der Diener Karl, der Chauffeur Hubert und die Köchin Marie. Zu dem Hause gehörte noch ein riesiger Naturpark mit einem Wildgarten, in dem einige fünfzig Stück Rehe und Dammhirsche gehalten wurden. Außerdem war meine neue Dienstherrin noch Besitzerin der Insel im Wandinger See, die der Villa in achtzig Meter Entfernung gegenüber liegt und dicht bewaldet ist.

Am dritten Tage wollte ich mit dem Segelboot, das unten am Ufer neben einer Motorjacht und zwei Ruderbooten am Stege vertäut liegt, die Insel besuchen. Aber der alte Diener Karl erklärte mir, das sei streng verboten. Gründe gab er nicht an. Ich stellte aber mit Hilfe meines Fernglases fest, daß sich rund um die große Insel mit ihren Buchen- und Eichenbeständen und dem dicken Schilfgürtel ein grüngestrichenes Eisengitter von mindestens fünf Meter Höhe hinzog.

Am vierten Tage wollte ich in dem Städtchen Wanding einige Einkäufe machen. Obwohl ich nun Begleitung ablehnte, kam der alte Diener doch mit mir mit, und da wurde mir’s plötzlich klar, daß ich dauernd beaufsichtigt wurde.

Ich bin nun gerade keine ängstliche Natur, Herr Harst. Meine Kindheit verlebte ich auf dem väterlichen Gut. Nachher verarmten meine beiden Eltern. Ich kann schießen, schwimmen, rudern, segeln und vieles andere. Und diese meine Selbständigkeit ließ mich denn auch damals in Wanding einen sehr einfachen Kniff anwenden, um den Aufpasser Karl loszuwerden. So konnte ich mich denn in einem Wäschegeschäft bei einem alten Fräulein nach der einsamen Villa, der Insel und Frau Makur erkundigen. Was die Inhaberin des Ladens mir mitteilte, genügte vollauf, meine Stellung unverzüglich wieder aufzugeben. – Herr Harst, ich will Ihnen das Gehörte Punkt für Punkt aufzählen …“

„Warten Sie bitte … Ich möchte mir ein paar Notizen machen …“

Und mein alter Harald, der plötzlich wie ausgewechselt war, begann zu stenographieren …

 

2. Kapitel.

Die Punkte.

Anna Weber berichtete:

Erstens:

Frau Josephine Makur hat Villa und Insel vor vier Monaten gekauft. Aber noch kein Wandinger Einwohner hat die Dame oder ihr Töchterlein zu Gesicht bekommen. Sichtbar wurden und werden stets nur der Diener, der Chauffeur und die Köchin.

Zweitens:

Die Insel war früher nicht eingezäunt. Erst Frau Makur ließ den Zaun errichten und ließ durch die Zeitungen Warnungen veröffentlichen, daß das Betreten der Insel fernerhin verboten und mit Lebensgefahr verknüpft sei.

Drittens:

Der Fischereipächter des Sees hat mehrfach nachts beim Auslegen von Aalschnüren in der Nähe der Insel aus den Eichen- und Buchenhainen dumpfes Brüllen gehört, einmal auch im Mondschein auf einer Lichtung ein riesiges gelbes Tier gesehen, das er für einen Löwen hielt.

Viertens:

Rechtsanwalt Doktor Mendel aus Wanding, ein eifriger Segler, der früher stets sein Zelt auf der Insel aufschlug, hat eines Nachts das Gitter überklettert und ist bewaffnet in das Dickicht vorgedrungen. Er fand in der Mitte der Insel auf einer Lichtung ein neues großes Gebäude aus Feldsteinen mit Zinkblech und vergitterten kleinen Fenstern und einer eisernen Tür. Dem Geruch nach, der in der Nähe des Gebäudes herrschte, müssen dort Raubtiere gehalten werden. Mendel hat die Polizei veranlaßt, sich einzumischen. Der Diener Karl führte zwei Beamte bereitwilligst auf die Insel und zeigte ihnen, daß das neue Haus lediglich Silberfüchse enthielte, deren Zucht Frau Makur aus Liebhaberei treibe.

Fünftens:

Vor mir hat Frau Makur bereits vier andere Erzieherinnen engagiert gehabt, von denen jedoch keine länger als eine Woche es in der einsamen Villa aushielt. Und keine meiner Vorgängerinnen hat Frau Makur und das Kind zu Gesicht bekommen. Die Dame war immer verreist.

So, Herr Harst, das sind meine fünf Punkte.

Nachdem ich damals mit dem Diener, einem freundlichen alten Manne, an dem ebensowenig wie an dem Chauffeur und der Köchin etwas auszusetzen war, nach der Villa zurückgekehrt und mit mir über mein ferneres Verhalten in dieser unheimlichen und geheimnisvollen Umgebung ins Reine gekommen war, ruderte ich noch in derselben Nacht in aller Stille zu der Insel herüber. Bewaffnet mit zwei Repetierpistolen, die ich heimlich dem Waffenschranke der Frau Makur entnommen hatte, kletterte ich über das Gitter. Meine Acetylenlaterne leuchtete grell durch das Unterholz, und schließlich kam ich auch bis an die Lichtung, wo ich wie gebannt vor dem Neubau stehen blieb, denn – – in dem Gebäude spielte ein Orchester einen Marsch, eine Kinderstimme schrie in gellenden Tönen und eine Menge Menschen klatschten plötzlich wie toll Beifall.

Ich war vor Staunen wie gelähmt.

Mit einem Male packte mich jemand von hinten am Arm.

Es war der Chauffeur Hubert, ein noch junger Mensch von athletischer Gestalt.

„Sind Sie verrückt!“ fauchte er mich an. „Kommen Sie – – schnell!! Und wehe Ihnen, wenn Sie es wagen, jemandem von alledem etwas zu erzählen!“

Dann mußte ich mit ihm ins Boot zurück.

Morgens gab der Diener Karl mir zweihundert Mark im Auftrage Frau Makurs und erklärte, die Dame verzichte auf meine Dienste. Ich eigne mich für die Stellung nicht. Es liege aber in meinem eigenen Interesse, die verflossene Nacht zu vergessen.

Ich reiste also ab, fand durch Vermittlung meines Vetters Heinz Wester hier in Berlin eine neue Stellung und … gewöhnte mir das Kokainschnupfen an, da jene Nacht in meinen Träumen fortdauernd eine so erregende Rolle spielte, daß ich mit den Nerven immer mehr herunterkam.

Letztens nun habe ich Heinz, mit dem ich heimlich verlobt bin, endlich die Geschehnisse jener Nacht mitgeteilt, und daraufhin war er heute vormittag hier bei Ihnen, wurde jedoch abgewiesen. Ihre Köchin erklärte, daß Sie keine Aufträge mehr übernehmen wollten. Da hat denn Heinz die Idee gehabt, Sie, Herr Harst, gleichsam zu zwingen mich anzuhören. Wir inszenierten die kleine Komödie mit den Schüssen draußen – entschuldigen Sie schon, Herr Harst, – und dieses Blut hier an meiner Wange ist nur Schminke.“

Sie lächelte spitzbübisch …

Harst lachte …

„Da Sie nun mal bei mir eingedrungen sind, Fräulein Weber, und da Ihre Abenteuer in Wanding in der Tat ganz interessant sind, will ich mich der Sache annehmen, zumal Sie mir offenbar, ohne es zu ahnen, einen großen Dienst erwiesen haben …“

Er sprang auf.

„Kennen Sie den Fall Rumak?“

„Wer kennt ihn nicht! Die Zeitungen sollten sich schämen, derart mit Ihnen umzuspringen, Herr Harst. Ich habe Vertrauen zu Ihnen.“

„Das freut mich. Ich zu Ihnen übrigens auch.“ Sein Gesicht hatte Farbe bekommen. Seine Augen strahlten. „Also der Fall Rumak … Rumak … Rum – ak!! Rum – ak!! Oder[3] Ru – ma – k!! Oder Ma … kur!! Genau dieselben Buchstaben. Begreifen Sie?!“

„Herrgott, – – der flüchtige Rumak – – und das Kind – – und die Löwen – – und er war Dompteur!“

Harst nickte. „Er ist es wieder! Er hat dort in Wanding seinen Schlupfwinkel! – Fräulein Weber, kein Wort davon zu irgend jemand, auch nicht zu Ihrem Verlobten! Vorsicht!! Schraut und ich fahren noch heute nach Wanding. Um elf geht ein Nachtzug nach Rostock. Entschuldigen Sie uns … Wir haben Eile! Und nehmen Sie kein Kokain mehr. Sie werden diese Nacht traumlos schlafen und morgens frisch erwachen … Auf Wiedersehen … Grüßen Sie Heinz Wester. Er ist ein kluger Kopf.“

Anna Weber verabschiedete sich.

Um elf Uhr saß im Zuge nach Rostock ein älteres Ehepaar, das in Wanding Erholung suchen wollte. – –

Ich habe dem Leser die Vorgeschichte zu den „Drei Löwen“ in gedrängtester Kürze berichtet.

Jetzt will ich wieder etwas mehr ins einzelne gehen, denn kaum ein Kriminalfall bietet so zahllose eigenartige und einzigartige Momente wie dieser.

Das ältere Ehepaar, Herr Bürovorsteher Hermann Hiller und Frau, hatte in dem Häuschen unten am See, in dem auch der Junggeselle Rechtsanwalt Doktor Fritz Mendel bei der Kapitänswitwe Urbach wohnte, zwei nette billige Zimmer gefunden, dazu eine Veranda, die nach dem Obstgarten hinausging, und der erstreckte sich bis zum blanken Seespiegel mit seinen kleinen Anlegebrücken und Booten und Jachten und Motorknatterern. Hillers hatten lange suchen müssen, bevor sie dieses Sommerheim entdeckten, das in allem ihren vielfachen Wünschen und altväterlichen Neigungen entsprach. Daß bei der endgültigen Wahl die Person Mendels den Ausschlag gegeben, ahnte die dicke Frau Kapitän Urbach freilich nicht. Sie war ja überhaupt über die Ereignisse im Städtchen wenig unterrichtet und wußte vieles nicht, was andere sich in Kaffeekränzchens an allerlei Klatsch zuraunten, denn sie war schwerhörig und trug stets eine Ohrtrompete an einer Schnur um den Hals, – wie ein Nachtwächter sein Signalhorn.

Noch an demselben Tage lernten Hillers abends den Herrn Rechtsanwalt kennen, einen schlanken sonngebräunten Mann mit einem überaus energischen Gesicht und sehr sicherem Auftreten.

Es war so gegen acht Uhr, und Hillers genossen auf der Gartenbank am Seeufer unten den prächtigen Sonnenuntergang, als Mendel erschien, sich vorstellte und gleichfalls Platz nahm. Das Gespräch bewegte sich zunächst tastend um Nichtigkeiten, bis Herr Hiller mit einem Male in die Ferne über den See deutete, wo aus dem rosig angehauchten Wasser ein dunkelgrüner Fleck herauswuchs, und dazu sagte:

„Wir dürfen wohl auf Ihre Verschwiegenheit rechnen. Wir sind der Insel wegen hier. Mein Name ist Harald Harst, und dies hier ist mein Freund Max Schraut, der nicht zum ersten Male in einer Frauenrolle sich versucht.“

Diese Eröffnung wirkte auf den Rechtsanwalt derart, daß ich mich darüber recht sehr wunderte. Er starrte Harst erst eine Weile sprachlos an, sprang dann empor und rief seltsam erregt:

„Ist das wahr?! Sie … der Detektiv Harst?! Wirklich?!“

Harald nickte. „Es ist wahr … Aber – Detektiv?! Nein, diese Bezeichnung lehne ich hartnäckig ab. Meine Neigung für besondere Vorfälle gibt niemandem ein Recht, mich mit der großen Schar der Privatdetektive in einen Topf zu werfen. – Setzen Sie sich doch wieder, Herr Rechtsanwalt …“

Mendel musterte uns aus scharfen, harten Augen und meinte wenig freundlich: „Sind Sie tatsächlich der Insel wegen hier nach Wanding gekommen, Herr Harst?! Dann hätten Sie sich die Reise sparen können. Wer auch immer Sie auf die Villa, die Frau Josephine Makur und die Silberfuchs-Inselfarm aufmerksam gemacht hat: die Leute dort sind harmlos! Ich selbst habe ja seinerzeit ähnlichen Argwohn gehegt wie Sie und gedacht, es gäbe dort weiß Gott was auszuspionieren. Ein Irrtum!“ Er lächelte jetzt nachsichtig. „Frau Makur hat einige Eigentümlichkeiten, gewiß … Aber – ich würde mir zum zweiten Male bei dieser Sache die Finger nicht verbrennen – ich nicht! Ich hatte die Polizei mobil gemacht, und jetzt lachen mich die guten Wandinger aus, weil ich dem Geschwätz des Fischers Wert beigelegt und Löwen dort vermutet hatte, wo nur Silberfüchse hausen …“

Er rieb ein Zündholz an und setzte seine erloschene Zigarre wieder in Brand.

Harst entgegnete nach kurzer Pause: „Der Irrtum liegt auf Ihrer Seite, Herr Rechtsanwalt. Ich für meine Person glaube an die Löwen. – Haben Sie in den Zeitungen von dem Fall Justus Rumak gelesen?“

„Natürlich …“, – und Mendel lehnte sich uns gegenüber an einen Birnbaum und fügte hinzu: „Löwen …! Nun gut … Rumak war Dompteur. Hoffen Sie etwa Rumak auf der Insel zu finden?“

„Ich hoffe, daß Frau Makur genau so wenig eine Frau ist wie Schraut und daß Frau Makurs Töchterchen sich als Junge entpuppt – als das entführte Adoptivkind des Kommerzienrats Singer.“

Mendel lachte heiter. Seine Unfreundlichkeit war wie weggewischt. „Verehrter Herr Harst, da sind Sie grimmig auf dem Holzwege! Frau Makur kann nicht ein verkleideter Mann sein – ausgeschlossen. Das muß ich am allerbesten wissen, denn ich bin der einzige Mensch hier aus der Umgegend, der die Dame gesehen und gesprochen hat und zwar genau am vorigen Sonnabend um elf Uhr vormittags, als ich mit meinem Kleinauto von einem Termin aus Güstrow kam und dabei den Weg, der an der äußersten Parkecke vorüberführt, benutzte. Die Dame stand allein mitten auf dem Wege, winkte mir bereits von weitem zu, ich hielt und sie sprach mich an, indem sie etwa sagte, ich solle doch dafür sorgen, daß die törichten Gerüchte hier in Wanding verstummten, es sei doch wirklich kein Verbrechen, wenn sie aus Liebhaberei Silberfüchse züchte. – Frau Makur ist groß, schlank, hat rotblondes reiches Haar, dürfte etwa dreißig Jahre zählen und besitzt eine so weiche melodische Stimme, wie sie selbst der beste Damenimitator nicht nachäffen könnte. Jedenfalls gebe ich Ihnen die Versicherung, daß diese Dame nicht das geringste mit Rumak zu tun hat, denn – ich kenne auch ihre Vergangenheit, ihren früheren Wohnsitz und manches andere, was ich unter der Hand schon früher feststellen ließ. Wenn ich vorhin, als Sie sich mir zu erkennen gaben, recht peinlich überrascht war, so lag dies lediglich daran, weil ich fürchtete, Frau Makur könnte etwa auf den Gedanken kommen, daß ich Sie trotz meines Versprechens, den Wandingern hier die Klatschader kräftig abzubinden, hierher gerufen habe. So liegen die Dinge, Herr Harst. Nichts für ungut also, wenn ich Sie bitte, die Frau nicht weiter zu behelligen. Sie hat weiß Gott Schweres zu tragen. Ihr Mann starb im Irrenhaus, und ihr Kind ist schwachsinnig. Dies ahnt hier niemand, und das müßige Gerede über den häufigen Wechsel der Erzieherinnen würde sofort verstummen, wenn die Banausen in Wanding wüßten, daß Frau Makur die Gouvernanten immer erst durch den Diener Karl auf Herz und Nieren prüfen läßt, bevor sie ihnen ihr unglückliches Kind anvertraut. Bisher hat ihr auch nicht eine dieser Anwärterinnen genügt. Alle erwiesen sich als unzuverlässig. Das hat sie mir selbst gesagt. Ich bemitleide diese arme Mutter, die offenbar mit wahrer Affenliebe an ihrem Töchterchen hängt.“

Und ich dachte, wie es wohl zugegangen sein mochte, daß ein Mann wie dieser, ein vollendeter Weltmann, sich in diesem Nest niedergelassen hatte.

Harst seufzte. „Herr Rechtsanwalt, – also wieder eine Niete! Traurig für mich. Der Name Makur hat mich verleitet, die Buchstaben umzustellen und Rumak zu vermuten! Eine der Erzieherinnen war in Berlin bei mir, und – – leider ließ ich mich verleiten, ihren Übertreibungen Gehör zu schenken. Nun, an sich schadet das insofern nichts, als mir die Sommerfrische hier recht gut tun wird. Meine Nerven sind durch Rumak böse in Unordnung geraten. Ich werde mir also eine Angelkarte besorgen und angeln, aber nicht nach Frau Makur. Seien Sie ohne Sorge, die bleibt unbehelligt. – Wo bekommt man hier die Angelkarten?“

Da Mendel sich gleichfalls als eifriger Jünger St. Petri, des Angler-Schutzpatrons, entpuppte, lenkte die Unterhaltung in ein reines Fischfahrwasser ein, und Schleppangel, Grundangel, Anködern, Würmer, Teig, Hechte, Barsche und Schleie lösten den Fall Rumak gründlich ab.

Um zehn gingen wir zu Bett. Harst war sehr verstimmt und sehr schweigsam. Aber ich traute dem Frieden nicht, und daran tat ich nur recht.

Um Mitternacht nämlich …

 

3. Kapitel.

Das große Zimmer.

Ja, es war genau Mitternacht, denn ich hatte meine Uhr auf das Nachttischchen gelegt, und sie hat ein Leuchtzifferblatt, das im Dunkeln gelbgrün wie das Auge eines einäugigen Tigers leuchtet, dem zwei dunkle Grashalme über dieses eine Auge gequetscht sind, ein kurzes und ein langes, und die sind bei meiner Uhr die Zeiger. Sie deckten sich und standen da, wo die zwölf sich befindet. Also Mitternacht. Und Harald hatte mich gerüttelt, und so war ich wach geworden und sehr schlaftrunken, denn zunächst begriff ich gar nicht, was er eigentlich wollte und weshalb er einen müden, halbwegs ehrlichen Christenmenschen zu so unangebrachter Stunde aus den Armen des lieblichen Gottes Morpheus herausriß. Dann begriff ich aber doch … Ganz leise anziehen sollte ich mich – im Dunkeln, und ich sollte die Frau Bürovorsteher Hiller auf dem Stuhl neben dem Bett liegen lassen und das andere Kostüm aus dem Koffer nehmen – als Stromer erster Güte.

Meine Augen gewöhnten sich schnell an die scheinbare Finsternis. Es war gar nicht so finster im Schlafzimmer, denn draußen auf der Straße brannte eine Gaslaterne und spendete ein wenig Helligkeit durch die geblümten Vorhänge.

Also anziehen …

Gut. Ich hatte es ja geahnt. Anna Webers fünf Punkte waren durch Mendels glänzende Verteidigungsrede für die rotblonde Frau Makur keineswegs entkräftet.

Von dem Ehepaar Hiller war äußerlich keine Spur mehr übrig geblieben, als wir um halb eins lautlos wie gewiegte Ausbrecher zum Verandafenster uns hinausschwangen und wie Schatten durch den Garten zum See huschten.

Ein Boot war bald losgekettet. Und still und leise trieb Harald es nun von dannen. Ich saß am Steuer. Der Himmel war leicht bedeckt, und Mond und Sterne hielten sich wohlweislich verborgen. Sie hätten uns nur gestört.

Die Nacht war kühl, und über dem Wasser schwebten einzelne willkommene Nebelstreifen.

„Ich ahnte es …“ begann ich vorsichtig die Unterhaltung.

„Gar nichts ahnst du!“ erwiderte Harald erfrischend grob. – Damit war die Unterhaltung beendet.

Ich kneipte also in Ruhe Natur. Im Schilf waren allerlei Wasservögel recht lebendig, hoch über uns flogen unsichtbar mit ihren bekannten geisterhaften Schreien Wildgänse dahin.

So näherten wir uns dem großen dunklen Fleck, der Insel.

Harst da: „Es ist natürlich an dem Gitter eine Alarmvorrichtung vorhanden. Die müssen wir zunächst totmachen.“

Wir finden in dem Röhrichtgürtel einen Durchschlupf, landeten und zogen das Boot zwischen Weidengestrüpp. Dicht vor uns erkannten wir undeutlich das hohe Gitter. Wir verhielten uns minutenlang vollkommen still. Dann erst kroch Harald vorwärts und betastete das Gitter.

Nach einer Weile drehte er sich um. „Erledigt …! Hier die unterste Querstange federt. Benutzt man sie als Stützpunkt für die Füße, und das wird jeder tun, so wird der Stromkreis geschlossen. Sehr schlau, die Sache … Wir brauchen also nur die Querstange zu meiden. Klettere mir auf die Schultern.“

Bald waren wir drüben, lauschten wieder, in der Linken die Taschenlampe, in der Rechten die entsicherte Clement. Um uns, über uns rauschte Busch und Baum. Und in mir war das nervöse Prickeln, das wohl jeder empfunden hätte, der hier mit der Möglichkeit rechnen mußte, von einem Löwen angesprungen zu werden. Aber Löwenaugen haben ein Gutes: sie leuchten im Dunkeln, und dunkel war es hier wie im Sack!

Der Vormarsch begann. Ich kann dem Leser hier leider mit spannenden Zwischenfällen nicht dienen. Wir gelangten unangefochten bis zur Lichtung vor das Feldsteinhaus, einem viereckigen schmucklosen Bau, ganz so, wie Fräulein Weber ihn uns beschrieben hatte.

Harald kroch wieder voran bis zur eisernen Tür. Wir rochen Raubtierdunst, aber weder Musik noch Schreien noch Händeklatschen drang an unser Ohr.

Harst nahm den Patentdietrich, stellte ihn ein und … leise sprang[4] die Tür nach außen.

Der Käfiggestank wurde kräftiger. Unsere Taschenlampen blitzten auf.

Das Haus war wie eine Scheune gebaut, einstöckig, nur ein einziger großer Raum. An den Wänden waren Zwinger errichtet, in denen außer zwei Pärchen von Silberfüchsen noch sechs gezähmte Füchse, ein Dachs und – – eine Menge Kaninchen stier in das grelle Licht starrten.

Die nähere Durchsuchung des Hauses förderte nichts Neues zutage. Von Löwen keine Spur …

Nachdem wir etwa eine Stunde in dem üblen Duft zugebracht hatten, traten wir den Rückweg an, denn bei Nacht war hier auf der Insel nichts auszurichten. Möglich, daß im Dickicht irgendwo noch ein Haus stand. Bei dieser Finsternis konnten wir nicht danach suchen.

Wir erreichten das Gitter, fanden unser Boot und ruderten nach Norden davon. Harald sagte nur: „Ja, er ist schlau …! Wir werden nun das ehemalige Schloß uns ansehen.“

Auch diese Expedition blieb ergebnislos, lieber Leser. Wir konnten von einer Buche aus in zwei erleuchtete Fenster hineinsehen. Sie standen weit offen. In einem elegant eingerichteten Damensalon saß da eine rotblonde Frau am Schreibtisch und schrieb eifrig, lehnte sich zuweilen zurück, nahm einen Schluck Tee (die Teemaschine stand dicht dabei auf einem Teewagen), rauchte, schrieb weiter …

Mendel hatte nicht zuviel gesagt: diese Frau Josephine Makur war niemals Justus Rumak!

Harald bewies trotzdem hier auf dem dicken Buchenast eine mir unbegreifliche Geduld. Die Mücken richteten uns übel zu, außerdem ist ein Buchenast kein Klubsessel, selbst wenn man so gut naturgepolstert ist wie ich. Weshalb hockten wir hier noch?!

Die Frau im Zimmer schrieb … schrieb. Nach einer endlosen Zeit erschien dann in unserem Gesichtsfeld ein grauhaariger Mann in Dienerlivree, verbeugte sich vor der Dame, sprach etwas zu ihr und wartete, bis sie ihre Schreiberei zusammengepackt, weggeschlossen, ihm zugenickt und das Zimmer verlassen hatte. Er drehte die Schreibtischlampe aus, schaltete auch die elektrische Krone aus …

Dunkelheit.

Jetzt war kein einziges Fenster mehr hell.

Ich focht mit den Händen nach den Mücken, rutschte hin und her …

„Harald!“

„Was denn?“

„Weshalb sitzen wir hier noch?“

„Leiser! Schau’ hinab!“

Die Buche stand sieben Meter vor der Ostecke des schloßähnlichen Bauwerks. Die Wege unten waren mit hellem Muschelkies[5] bestreut. Gerade unter uns sah ich drei Tiergestalten, und jetzt … knurrte eine dieser riesigen Doggen mit hochgerecktem Kopf in nicht mißzuverstehender Weise.

„Klettere doch hinab!“ flüsterte Harald ironisch. „Bitte … Nur zu!!“

Ich fand diese Bemerkung ebenso unangebracht wie überflüssig.

Die Hunde knurrten lauter. Der eine heulte kurz auf. Wir waren gefangen, konnten unmöglich den Baum verlassen.

Harald raunte mir zu: „Sehr schlau, das alles … Ich kenne die Fortsetzung. Die Hunde werden immer lebhafter, werden jemand herbeilocken, und man wird uns Stromer energisch auffordern, herabzukommen … Dann werden wir Frau Makur kennenlernen, und uns wird nichts anderes übrig bleiben als Farbe zu bekennen und als Harst und Schraut vorzustellen, worauf Frau Makur uns als Beweis, daß wir … auf dem Holzwege sind, ihr Kind zeigen wird … – So kommt alles ganz bestimmt. – Und dann werden wir uns höflich verabschieden und entschuldigen, und morgen wird ganz Wanding wissen, wer das Ehepaar Hiller ist, und wir werden mit erheblich langer Nase gen Berlin zurückdampfen. So … soll es sein.“

Unten heulten die Bestien jetzt im Chor …

„So … soll es sein, mein Alter … Aber ich werde den Herrschaften einen kleinen Strich durch die feine Rechnung machen und werde ein paar Etagen höher klettern … Du auch … Und jener Ast da reicht bis zum Balkon des zweiten Stocks, und daß ich auf dem Balkon im Sprunge lande, ist genau so gewiß wie die Fragwürdigkeit des Herrn Doktor Mendel, der, damit du es endlich begreifst, uns an der Nase herumführen will, der mit den Leuten hier im Schloß in Verbindung steht und alles zu unserem festlichen Empfang herrichten ließ. Wenn die Zeitungen mich auch für einen Idiot erklären: mit Mendel nehme ich es noch alle Tage auf! – Also höher empor, mein Alter …!“

Die Doggen tobten jetzt. Es war ausgeschlossen, Geräusche bei diesem Emporklimmen zu vermeiden. Einmal brach unter meinem Fuß ein trockener Ast ab … Die Bestien vollführten einen Höllenlärm …

Dann wagte Harald den Sprung …

Dann fing er mich auf, zerrte mich über das Balkongitter, drückte die Türscheibe ein und öffnete …

Gerade da von unten her eine drohende Männerstimme …

Aber die Worte selbst verstanden wir nicht mehr. Wir waren bereits im Zimmer, Harsts Lampe zeigte uns ein völlig leeres Gemach mit verblichenen Seidentapeten und eine offene Flügeltür zu einem Nebenraum …

Wir hinein …

Prallen zurück …

Das große lange Zimmer gleicht einer Kapelle …

 

4. Kapitel.

Frau Makur.

Zwischen hohen Blattpflanzen in mächtigen Kübeln eine Art Altar, ein silbernes Kruzifix, silberne Leuchter mit dicken brennenden Kerzen …

Und vor dem Altar ein offener Sarg. In dem Sarge ein blondes Mädchen, – eine Leiche, zwischen den wächsernen Fingern ein paar weiße Lilien …

Wir stehen und schauen, und ich fühle, wie in mir jenes Gefühl sich regt, das wohl jeden angesichts eines toten Kindes überkommt.

Die kleine Leiche dort in dem weißseidenen Kleidchen unter der weißen Altardecke mit den weißen Lilien, den Zeichen der Unschuld, wirkt so rührend-ergreifend, daß ich mich für uns beide schäme, weil wir den Frieden dieses Trauerhauses gestört haben.

Zu Füßen des Sarges liegen ein paar Kränze. Einer davon, nur aus Lorbeer mit einem Busch weißer Rosen, hat eine breite lange schwarze Schleife. Die Goldbuchstaben auf dem einen Ende der auf dem Parkettboden glatt ausgebreiteten Schleife kann ich bequem von meinem Platze aus lesen …

Meiner kleinen Else
vom alten Karl.

Harald rührt sich, geht auf Fußspitzen zum Sarge, betrachtet das zarte Totengesicht, beleuchtet den Sarg, die Kränze und zieht mich dann in den Nebenraum zurück – zurück auf den Balkon.

Harst ruft hinab:

„Hallo, – – sind Sie noch da?“

Keine Antwort …

Wenigstens nicht von unten …

Hinter uns eine weiche Frauenstimme, – und gleichzeitig umspielt uns helles Laternenlicht.

„Fürchten Sie nichts! Sie sollen ohne Ungelegenheiten davonkommen, wenn Sie auch als Einbrecher Strafe verdient hätten …“

Hinter uns …

Hinter uns in der Balkontür steht Frau Josephine Makur, genau so, wie wir sie am Schreibtisch vorhin gesehen haben: in schwarzer fließender Seide, an den Ärmeln und am Rocksaum breite Kreppstreifen.

Neben ihr der Graubart Karl und ein stämmiger jüngerer Mensch, offenbar der Chauffeur Hubert.

Wir beide spielen heute hier eine geradezu klägliche Rolle. Wir haben uns durch den ins Ungemessene aufgebauschten Klatsch, den Fräulein Anna Weber bis nach Berlin in unser Heim transportiert hat, zu einem Einbruch in ein Trauerhaus verleiten lassen. Wir stehen hier einer Frau gegenüber, die mehr Trauriges erlebt haben mag als wir oder sonst ein Uneingeweihter ahnen konnte.

Jedenfalls: ich komme mir in meinem Strolchkostüm mit dem fuchsigen Bart und dem verschminkten Gesicht einfach kläglich vor.

Frau Makur tritt zurück und gibt den Weg in das leere Zimmer frei. „Karl, führen Sie die Leute auf die Straße und geben Sie jedem fünf Mark und ein paar belegte Brote mit,“ befiehlt sie mild und nachsichtig.

Harald verbeugt sich wie ein Clown im Zirkus. „Scheenen Dank auch, meine Dame … Aber – – kennten wir Ihnen nich mal allein für’n Momang sprechen? Ick gloobe, wir hätten Ihnen wat Wichtiges mitzuteilen …“

„Mir?! Ich wüßte nicht, was …, – doch gut … Karl und Hubert, geht in den Flur … – So, treten Sie hier ein …“

Sie schließt langsam die Flügeltüren nach dem Nebenraum und entzieht uns so den Anblick der kleinen Toten.

„Gnädige Frau,“ beginnt Harald und verneigt sich, „wir sind Ihnen eine Erklärung schuldig …“

Dieser jähe Wechsel in seinem Benehmen und in seiner Sprechweise ruft auf dem blassen reizvollen Gesicht der Frau Makur einen Ausdruck ungläubigen Staunens hervor.

„Wer sind Sie?!“ fragt sie zögernd.

„Harald Harst und Max Schraut, zwei Berliner, die in den letzten Wochen leider zu viel in den Zeitungen genannt wurden … Man nennt uns Liebhaberdetektive, gnädige Frau.“

„Ich weiß …“ – Sie schüttelt leicht den Kopf. „Ich begreife nur nicht, meine Herren, was Sie hier wollen … hier bei mir, einer Frau, die …“

„Verzeihung, – eine Verkettung von Irrtümern …! Die letzte der von Ihnen engagierten Erzieherinnen kam zu uns, berichtete uns Wandinger Stadtklatsch. Ich ließ mich leider täuschen, legte auch leider dann hier in Wanding den warnenden Worten des Herrn Rechtsanwalts Mendel zu wenig Wert bei, gnädige Frau. Wir können Sie nur um Entschuldigung bitten und Ihnen gleichzeitig unser Beileid aussprechen. Ich bin noch nie derart irregeführt worden wie in diesem Falle, und Schraut und ich würden sofort wieder abreisen, wenn wir nicht fürchten müßten, dadurch den Verdacht bei den Wandinger Lästerzungen wachzurufen, wir seien kein harmloses Ehepaar Hiller, sondern verkappte Spürer gewesen, die es auf Sie, gnädige Frau, abgesehen hatten. Ich bitte Sie daher auch, gegenüber Ihrer Dienerschaft unser Inkognito wahren zu wollen. Nochmals – entschuldigen Sie unseren Fehlgriff und beauftragen Sie den Diener, uns lediglich bis auf die Straße zu geleiten. Wir sind im Boot hierher gekommen und wir wollen auf dieselbe Weise zurückkehren.“

Frau Josephine Makur lächelte schmerzlich.

„Grüßen Sie Rechtsanwalt Mendel von mir, bitte … Er ist einer der wenigen Männer hier, die das Herz auf dem rechten Fleck haben. – Gute Nacht, meine Herren …“

Sie neigte ein wenig den Kopf, öffnete die Tür nach dem Flur … „Karl, bringen Sie die Leute auf die Straße – – sofort – – ohne Geschenk!“

So verließen wir die Villa. Vor uns schritt der alte Karl mit einer Laterne. Hinter uns schritten die drei gelben Doggen, dumpf knurrend.

Dann schlug die Gartenpforte zu und wir wanderten in die neblige Finsternis hinaus. Es mochte jetzt zwei Uhr morgens sein. Der Herbst meldete sich. Es war kalt und die grauen Dunststreifen über dem See hatten sich über die Ufer ausgedehnt und füllten auch Äcker, Felder, Wiesen und Wälder in den düsteren Schleier entschwindender Sommerpracht.

Harald bog rechts zum Seeufer ab.

Er mit seinem untrüglichen Ortssinn fand in kurzem unser Boot. Wir banden es los, stiegen ein und glitten in die noch dichteren Nebelmassen hinein. Harst tat ein paar lautlose Ruderschläge und zog die Riemen wieder ein, beugte sich vor und flüsterte: „Wir werden wahrscheinlich niemals mehr Berlin wiedersehen, mein Alter. Wir werden hier auf dem See abgetan werden. Trotzdem bietet uns der Wasserweg immerhin eine geringe Möglichkeit zum Entkommen, und auch der Nebel ist kein zu verachtender Verbündeter. Nimm hier auch meine Clement und feuere, sobald ein Fahrzeug auftaucht. Spare keine Patronen. Ich sage dir, daß wir hier in der schlimmsten Falle stecken, die jemals für uns vorbereitet wurde.“

Welchen Eindruck diese ernsten, eindringlichen Sätze auf mich machten, kann sich jeder unschwer aus eigener Phantasie vorstellen. Ich stürzte aus allen Himmeln, war so verwirrt und benommen, daß ich nur fragen konnte: „Aber … aber was ist denn eigentlich los?!“

„Das ist los, was ich prophezeite, nur in etwas veränderter Form,“ flüsterte er noch leiser und schien dauernd zu horchen. „Mendel hat Frau Makur auf unseren Besuch vorbereitet gehabt, und die kleine Tote war das traurige Paradestück der fein durchdachten Komödie. Da – nimm die Pistole …! Und ich rate dir: Sperre deine Augen und Ohren auf, wenn du nicht von heute ab die Aale im Wandinger See füttern willst.“

Er ruderte wieder …

Um uns die grauen kalten feuchten Schleier wie feine Gewebe, die ständig vor uns sich öffneten und sich hinter uns wieder schlossen.

Ich fand meine Kaltblütigkeit zurück. Harsts Sorge war ja fraglos übertrieben. Wenn man uns hier auflauerte, auflauern wollte, hier in diesem Nebelmeer, – wie wollte man uns finden?! Unmöglich!

Harald ruderte ganz langsam, fast geräuschlos.

Dann zog er plötzlich nach etwa fünf Minuten die Riemen ein …

„Sie sind hinter uns …“ raunte er hastig … „Sie wollen uns bis in die Mitte des Sees gelangen lassen … Leise über Bord – – ganz leise … Wir müssen schwimmen … Zieh’ alles Überflüssige aus. Die Clement stecke unter die Mütze … Schnell …“

Er ruderte weiter. Ich warf Schuhe, Jacke, Hosen ab …

Dann ruderte ich, und Harst entledigte sich seiner Sachen … Sagte gedämpft: „Noch ist Harald Harst noch ein wenig auf der Höhe, ihr Schufte! Ich werde euch mit euren eigenen Waffen schlagen …“

Wir glitten ins Wasser …

Unser Boot trieb weiter. Harst hatte ihm noch einen vorsichtigen Stoß versetzt.

 

5. Kapitel

Die Verbindung.

Wir schwammen …

Harald voran. Wir sind Dauerschwimmer, und der stille nächtliche See konnte uns nur gefährlich werden, wenn wir ins Kraut gerieten. Dann waren wir verloren.

Harst schlug die Richtung ein, aus der wir gekommen. Ich sah von ihm nichts als eine graue Kugel – seinen Kopf. Ich wunderte mich aber, daß er den linken Arm so wenig benutzte und ihn meist schräg nach unten unter Wasser hielt.

Es dauerte nur wenige Minuten, als er mit einem Male sich umdrehte und mir ein Zeichen gab.

Ich starrte geradeaus. Da schwamm etwas auf dem Wasser: ein Boot!

Da saßen drei Männer in dem niederen Boot, dessen Bug und Heck sich schnabelartig emporwölbte: ein Kanu!

Harald arbeitete sich ohne jeden Laut im Bogen von hinten an den Feind heran. Wir waren schließlich so dicht am Heck, daß ich den Rand jederzeit hätte fassen können.

Die drei flüsterten miteinander. Zu verstehen war jedoch nichts.

Wieder gab Harst mir ein Zeichen. Ich verstand … Ich sollte mich am Heck festklammern. Er selbst wollte sich weiter vorwagen. Da ich jedoch fürchtete, daß diese Belastung des Kanus durch meinen Körper die drei aufmerksam machen könnte, verzichtete ich auf diesen Versuch, mich leichter über Wasser zu halten, und tat nur hin und wieder eine mäßige Schwimmbewegung, die mich lediglich vor dem Untersinken bewahren sollte.

Die drei im Kanu schwiegen jetzt.

Dann hörte ich den mittleren erregt sagen – und diesmal hörte ich das meiste, konnte mir das Fehlende ergänzen:

„Ob sie etwa die Schnur bemerkt haben?! Sie rudern nicht mehr … Die Schnur hängt ganz schlaff …“

Jetzt begriff ich alles.

Die Schurken hatten, als wir in Frau Makurs Besitzung weilten, an unser Boot irgendwo außen (sicherlich an einer Krampe des Steuers!) eine Schnur festgebunden, und diese Schnur hatte ihnen trotz des Nebels als ständige Verbindung mit uns gedient. Wir hätten ihnen also gar nicht entschlüpfen können. Harald hatte diesen Trick jedoch durchschaut, und jetzt waren die Rollen vertauscht: Wir waren die Verfolger, und die drei die Verfolgten!

Der, der soeben von dieser Schnur gesprochen hatte, war unfehlbar Herr Rechtsanwalt Doktor Fritz Mendel gewesen. Die Stimme war unverkennbar.

Der Vorderste im Boot antwortete:

„Das ist ausgeschlossen!? Wie sollten Sie es bemerkt haben …?! Hängt die Schnur wirklich ganz schlaff?“

„Ja …“

„Ziehe mal vorsichtig!“ Und der, der den Rechtsanwalt Mendel duzte, war der alte Karl, der Diener.

„Da – überzeuge dich selbst …!“

Die Gestalten bewegten sich. Auch der Mann, der zunächst am Heck saß, meldete sich nun …

Und – – diese Stimme klang wie Posaunen für mein entsetztes Ohr …

Frau Makur in Männertracht, – – Frau Makur, die sanfte Dame in Schwarz!

„Der ganze Plan war Unsinn! Wir hätten sie auf der Insel schon verschwinden lassen sollen!“

Eine nette trauernde Mutter!! Ein nettes Mordgesindel! – Wer waren diese Banditen! Mit Justus Rumak hatten sie nichts zu schaffen. Rumak mochte seine frühere Geliebte ermordet haben, gewiß. Aber in dieser Weise wäre er nie gegen uns vorgegangen!

Harsts Kopf erschien neben mir …

Ein Wink …

Das hieß: Fort von hier!

So schwamm ich denn wieder hinter ihm drein. Wir konnten ja auch mit dem, was wir erlauscht hatten, zufrieden sein.

Nach zehn Minuten wateten wir aufs Trockene. Wir hatten genau die Parkfront der Villa erreicht, und vor uns hob sich der Vorgarten vom Ufer in zwei langen Terrassen bis zum Hause hin.

Der Nebel hatte auch hier alles in seine grauen Schleier gehüllt. Jetzt, wo der Morgen nahte, war die Kühle noch empfindlicher geworden. Ich fror wie ein Schneider. Aber Harst stand am Fuße der ersten Zementtreppe neben einer großen Marmorfigur eines flüchtenden Hirsches unbeweglich und lauschte in das graue Nichts hinein …

Die Hunde!!

Wenn sie uns witterten, wenn sie noch frei im Garten umherstrichen, konnte es uns übel ergehen!

„Harald – – die Hunde!“ raunte ich …

„Mit denen würden wir schon fertig werden! Aber die Löwen …!!“

Ich glaubte mich verhört zu haben.

„Löwen?!“

„Leise!! Die Bestien können freilich auch hinten irgendwo im Parke stecken! – Hörtest du denn nicht, daß dieser Lump von Rechtsanwalt in dem Kanu sagte, es sei ein wahres Glück, daß man noch rechtzeitig die Löwen von der Insel habe wegschaffen können – – die drei Löwen! – Und gegen solche Bestien würden unsere Clement wenig anrichten, zumal sie uns bei dieser dicken Luft ganz plötzlich anspringen können … Man sieht ja die Hand vor Augen nicht! Trotzdem müssen wir in das Haus hinein, koste es, was es wolle. Aber – – wie?! Wie?!“

Er schwieg …

Von mir hatte er auf dieses „Wie“ keine Antwort zu erwarten.

Ich hielt meine entsicherte Clement umklammert, und mir war gar nicht mehr kalt …

Löwen …!! Sollte Justus Rumak hier doch seinen Schlupfwinkel haben, sollte etwa der famose Verein der Menschenfreunde hier in der Provinz eine Zweigstelle besitzen und Mendel, die Makur und die anderen, der Diener, der Chauffeur und die Köchin mit zu diesem „wohltätigen“ Klub gehören?!

Löwen …!!

Und da – – blindes Huhn – – Korn – –, da kam mir ein Gedanke …

„Harald, sie müssen für den Transport der Bestien doch eine Kiste gehabt haben, und sie werden die drei Löwen sicherlich einzeln hierher gebracht haben … Ob diese hier im Park jetzt frei umherstreifen, bezweifle ich … Dennoch könnten wir …“

Nacht der Überraschungen …

Nacht der Sensationen …

Wir standen dicht neben dem riesigen Marmorhirsch …

Von dessen Rücken jetzt die Unterbrechung. Eine leise klare fremde Stimme:

„Meine Herren, hier Heinz Wester, der Vetter Anni Webers … Ich liege hier oben auf dem Hirsch … Die Löwen sind tatsächlich frei … Die Hunde eingesperrt. Aber ich hoffe zuversichtlich, daß die drei Bestien inzwischen meine großen Brocken präparierten besten rohen Rindfleisches verspeist haben. Die Viecher waren vor zehn Minuten unten am Wasser bei dem Badehäuschen. Das Schlafmittel wird ihnen sicherlich zu ein paar ungefährlichen Stunden leichten Schlummers verhelfen. – Warten Sie, ich klettere herab …“

Im Nebel war von Heinz Wester nicht viel zu erkennen … Ein bartloser schlanker Mann im Sportanzug …

Leise lachend schüttelte er uns die Hände …

„Etwas unerwartet, diese Bekanntschaft, meine Herren … Aber sollte ich als Annis Verlobter Ihnen hier die Arbeit allein überlassen?! – Gehen wir also … Sie wollen doch in die Villa hinein, Herr Harst … Ich weiß hier besser Bescheid wie Sie. Anni hatte mir so manches mitgeteilt, was ungeheuer wertvoll ist … Kommen Sie … Leise …!!“

Ein famoser Kerl schien dieser Heinz zu sein. Und – er hatte nicht zu viel versprochen. Er geleitete uns zu einem gemauerten Pavillon, einer Nachahmung einer kleinen chinesischen Pagode, schob den Bastteppich in dem kleinen Innenraum zurück und zeigte uns beim Scheine seiner halb abgeblendeten Taschenlampe in den verwitterten Eichendielen die Umrisse einer Klapptür und einen eisernen verrosteten Ring, hob die Tür empor und stieg in das Loch hinein, in dem eine schmale Steintreppe in die Tiefe führte.

Kaum vier Minuten später befanden wir uns, durch eine Geheimtür in der Wandtäfelung eingedrungen, in dem vornehmen Damensalon der Frau Makur, wo sie vor anderthalb Stunden etwa am Schreibtisch so emsig geschrieben hatte.

Heinz Wester hatte hier seine Taschenlampe nur für Sekunden aufblitzen lassen.

Harst deutete auf einen Diwan, der frei im Zimmer stand. Daneben war ein großer japanischer Wandschirm aufgestellt, der ein offenes Büchergestell halb verdeckte.

„Schraut und ich unter den Diwan, Sie hinter den Wandschirm …“

Wir beide sollten niemals unter jenen Diwan kriechen …

Wir hatten uns zu fest darauf verlassen, daß wir unbemerkt geblieben seien.

Urplötzlich ein Knacken, eine grelle, blendende Lichtfülle …

Und von hinten ein Hieb über meinen Schädel, daß ich wie ein Mehlsack nach vorn auf den Teppich schlug …

Der eine Hieb hatte genügt. Ich war augenblicklich bewußtlos geworden …

Aber als der Kronleuchter aufgeflammt war, hatte ich doch noch etwas gesehen, bevor ich den furchtbaren Schlag über den Kopf empfing:

Uns gegenüber hatte sich der Türvorhang einer breiten Tür, die in einen Nebenraum führte, gehoben, und dort hatte Frau Josephine Makur gestanden, – – neben ihr die zottigen dicken Häupter dreier prächtiger dunkler Kaplöwen[6].

 

 

Moderne Verbrecher.

 

1. Kapitel.

Die Dachluke.

Bevor ich hier zum zweiten Teil übergehe, möchte ich dem Leser vorhalten, daß das, was sich in den folgenden Seiten weiter abspinnt, durchaus nichts Ungewöhnliches ist. Ich erinnere an folgendes: Vor drei Jahren wurde in Berlin-Halensee in der Nestorstraße der Gentlemaneinbrecher[7] Robert H. in seiner luxuriösen Wohnung verhaftet. Er hatte ein vollständiges Doppelleben geführt, hatte eine zweite Wohnung als Produktenhändler in der Auguststraße und bereitete der Polizei monatelang die größten Schwierigkeiten, ehe seine Person einwandfrei als der gesuchte Dieb festgestellt werden konnte. – Das Oberhaupt der internationalen D-Zug-Diebesbande Charles Rofelle wohnte in Genf in einer Villa. Sein gesamtes Personal waren seine Helfershelfer. Rofelle trat gleichzeitig in drei Rollen auf, darunter als Kartenlegerin Madame Rouvier, die in Genf großen Zulauf hatte. Er besaß drei Autos und hatte vier geheime Radiostationen eingerichtet. Seine Bande zählte fünfzehn Köpfe. Seine Verhaftung und Entlarvung erfolgte durch einen Zufall. – – Diese beiden Beispiele mögen genügen. Weshalb ich sie hier anführe, ist leicht zu erraten.

Und nun zurück zu uns beiden, die wir im Damensalon der Villa Makur hinterrücks niedergeschlagen worden waren. Hätten wir nicht unsere dicken Sportmützen aufgehabt, wären die Hiebe vielleicht auf der Stelle tödlich[8] gewesen.

Wie lange Zeit verstrichen war, bis ich wieder erwachte, konnte ich zunächst nicht feststellen. Ich kam allmählich zu mir, aber die wütenden Kopfschmerzen und ein Gefühl der Lähmung in allen Gliedern ließen mich zunächst auf jede Bewegung und auf jeden Versuch, über die Art unseres Kerkers Klarheit zu gewinnen, verzichten. Harst lag neben mir auf einer Schicht Heu, die mit Decken belegt war. Schräg über mir baumelte ein trübes Flämmchen, eine kleine Petroleumlaterne.

Ich fiel in einen unruhigen Schlummer, aus dem ich dann jählings hochfuhr, weil das dumpfe Brüllen eines Löwen meine wirren Traumbilder in die schreckhafte Wirklichkeit überleitete.

Ich sah folgendes …

Gerade vor mir war eine kleine Tür. Sie stand offen. In der Tür bemerkte ich Harst in Unterhosen, Hemd, Strümpfen. Durch die Türöffnung fiel gedämpftes Tageslicht herein. Dicht vor der Tür zogen sich dunkle Striche senkrecht herab: ein Eisengitter, und hinter diesem Gitter strichen aufgeregt drei braungelbe Bestien umher – die drei Löwen der Frau Makur! –

Das Leben schafft doch stets weit phantastischere Geschichten als die ausschweifende Phantasie der Unterhaltungsschriftsteller.

Dieser Gedanke ging mir blitzschnell durch den Kopf, als neben mir eine Stimme sagte:

„Herr Schraut, ich kenne unseren Kerker bereits ganz genau. Falls ich Ihnen mit Erklärungen dienen kann, bitte … ich tue es gern.“

Ich wandte überrascht den Kopf.

Neben mir saß auf dem Heubett, beschienen von dem Laternchen und dem einfallenden Tageslicht, ein mir völlig fremder jüngerer Mann mit unmodernem blondem Spitzbart, gekleidet in einen dunklen Anzug. Sein Gummikragen schimmerte blank und bläulich, und die Eisenkrawatte war ein Muster von Ungeschmack.

„Wer sind Sie?“ fragte ich diesen biederen Zeitgenossen und Leidensgefährten.

„Herr Schraut, Sie werden staunen … Ich bin der echte Wester, Studienassessor Heinz Wester, Verlobter Anna Webers und Erfinder jener Idee, die meiner Braut bei Herrn Harst Zutritt verschaffte. Herr Harst ist im übrigen bereits genau informiert – pardon, eingeweiht. Ich war Ihnen beiden von Berlin aus gefolgt, wurde kurz nach meiner Ankunft auf dem Wege nach der Villa Makur überfallen, chloroformiert und hierher geschafft. Dann wurden auch Sie beide hier eingeliefert. Meine Bemühungen, Sie ins Bewußtsein zurückzurufen, blieben ohne Erfolg. Aber mit der Zeit kamen Sie von selbst wieder zu sich. Herr Harst hatte vorhin die Liebenswürdigkeit mir zu berichten, wie jener Mensch, der sich ebenfalls Wester nannte, Sie in die Falle gelockt hat. Die Schurken, in deren Gewalt wir uns befinden, sind von teuflischer Schlauheit und Roheit. Unser Kerker ist ein Raum aus Feldsteinen und Zement hinter einem großen Löwenkäfig, in dem sich drei Kaplöwen befinden. Die Vorderseite des Zwingers ist durch dichtestes Dornen- und Brombeergestrüpp verdeckt. Das Essen wird uns von oben durch eine kleine Öffnung in einem Korbe einmal am Tage hinabgelassen. Jeder Befreiungsversuch unsererseits, so drohte der Kerl, der uns bewacht, wird damit beantwortet werden, daß die Gittertür des Zwingers, vor der Herr Harst dort steht, geöffnet wird und so die Raubtiere zu uns Zutritt hätten, und uns auffressen könnten. Ich bin, was ich zur näheren Beleuchtung meiner bescheidenen Persönlichkeit gleich erwähnen will, durchaus nicht feige und auch keineswegs, obwohl Jugendbildner, in den Dingen des täglichen Lebens derart unerfahren, daß ich für Sie beide, zu denen ich wie zu Halbgöttern aufschaue, hinderlich werden könnte …“

Herr Studienassessor Heinz Wester hätte ohne Zweifel in derselben Art noch weiter geredet, wenn Harald jetzt nicht die Holztür zugedrückt haben würde und zu uns gekommen wäre.

Er setzte sich rechts neben den mit verblüffender Geschwindigkeit blabbernden Wester, der mit einem ungeheuren Wortschwall nach allem Möglichen fragte, und fiel ihm gutmütig-ironisch ins Wort:

„Stopp, Herr Wester! Das müssen Sie sich unbedingt abgewöhnen. Schraut und ich werden sonst seekrank. Wir sind beide sehr schweigsame Naturen, und wir schätzen die Tat und nicht das Wort. Sie eignen sich fraglos zum Parlamentarier oder gar Minister.“

Heinz Wester lächelte harmlos-vergnügt. „Mein Vater war ebenfalls Oberlehrer und zwar Altsprachler. Das entschuldigt alles, zumal er das berühmte Werk über Homer herausgegeben hat, in dem er mit erstaunlichem Fleiße …“

„Homer ist längst tot … Wir leben. Wir leben noch … noch. Und nun – ein ander Lied. Wie spät haben wir es?“

„Meine Uhr zeigt genau zwei und eine halbe Minute nach halb eins mittags. Sie geht sehr genau, obwohl ihre Größe an einen Einkauf aus einem Drei-Mark-Bazar erinnert, was jedoch nicht zutrifft, vielmehr habe ich sie geerbt und zwar …“

„Stecken Sie Ihren Wecker nur wieder ein, Verehrtester … Also halb eins … Sie sind bereits rund vierzehn Stunden länger hier als wir. Wann erhalten wir Essen?“

„Um drei Uhr nachmittags und um acht Uhr abends. Das Menü ist nicht gerade reichhaltig, im Gegenteil könnte man fast von Gefängniskost sprechen. Immerhin genügen auch diese …“

„Reichen Sie mir mal bitte den Wasserkrug herüber …“

„Der ist leider leer, Herr Harst. Ich habe das Wasser für die Kompressen benutzt, die ich Ihnen beiden in der Erwartung zuteil werden ließ, daß die blutigen geschwollenen Stellen auf Ihren Köpfen durch eine solche einfache Behandlung vielleicht günstig …“

„Haben Sie noch etwas Eßbares da? Ich habe Hunger …“

„Gewiß. Dort in der Kiste, die hier in unserem Kerker das einzige Mobiliar bildet, abgesehen von der Laterne dort oben und von jenem Blecheimer mit Deckel dort in der Ecke, dessen Zweck leider schon durch den Geruch offensichtlich ist, – in der Kiste habe ich noch vier Schnitten Butterbrot, einen gebratenen Barsch und zwei Äpfel … Wenn ich Ihnen …“

„Geben Sie her!“ –

Harald aß. Ich auch. Und Wester redete. Was er redete, war Blech. Er stellte Mutmaßungen darüber an, wann und wie man uns wieder freilassen würde.

„Eitle Hoffnungen!“ sagte Harald gedämpft. „Diese Banditen dürften froh sein, daß Sie uns sicher haben.“

Wester lachte heiter. „Aber Herr Harst, Sie erzählten mir doch, daß Sie bei der Kapitänswitwe als Ehepaar Hiller abgestiegen sind. Die Witwe wird Ihr Verschwinden melden, und die Berliner Polizei wird auf Veranlassung Ihrer Frau Mutter, die Ihr Reiseziel kannte, hier nach Ihnen suchen. Außerdem wird meine Anni, sobald sie von mir keine Nachricht erhält, ebenfalls dafür sorgen, daß …“

„Mein lieber Herr Studienassessor, zu meinem Bedauern muß ich Ihnen auf Grund meiner Erfahrungen mitteilen, daß ich überzeugt bin, daß die Kapitänswitwe genau so wie der Rechtsanwalt Mendel mit zu der Bande der Frau Makur gehört. Die Witwe wird erklären, das Ehepaar Hiller sei abends abgereist. Und was Ihre Braut betrifft, so dürfte auch sie uns kaum helfen können, denn sie wird sicherlich genau wie wir in eine Falle gelockt worden sein, damit sie nichts ausplaudern kann. Die Leute, die unsere Gegner sind, gehören zu den modernen Verbrechern ganz großen Stiles, und ihre Pläne werden sie weder durch Schraut und mich noch sonst durch jemand stören lassen. Unterschätzen Sie also das Gefährliche unserer Lage nicht. Ich sehe die Dinge sehr ernst an, und ich könnte Ihnen als Beweis für die unerhörte Skrupellosigkeit dieser Leute, deren Arbeitsgebiet mir noch fremd ist, einen traurigen Beweis nennen, die kleine aufgebahrte Leiche in der Villa, das tote Kind!“

Ich starrte Harald an. Wester tat dasselbe. Wir beide hatten die letzten Sätze nicht verstanden.

„Sehen Sie, Herr Wester, die Sache liegt so,“ fuhr Harald noch leiser fort. „Es handelt sich hier ohne Frage um eine weitverzweigte Verbrecherorganisation. Mir fällt da gerade ein, daß in den letzten Sommern die Ostseebäder das Arbeitsgebiet einer Diebesbande waren, die bisher unentdeckt geblieben. Außerdem sind im Winter gerade hier in Mecklenburg reiche Gutsbesitzer und sonstige Eigentümer von erheblichen Werten schwer bestohlen worden. Vielleicht kommt all das auf das Konto der Frau Makur.“

„Fabelhaft!“ rief Wester … „Sie werden da wohl auf der richtigen Fährte sein, Herr Harst! Ich bin ja in all diesen Dingen ein krasser Grünspecht, aber …“

„Diese Bande „Makur und Genossen“ mußten jederzeit damit rechnen, daß eines Tages doch jemand Verdacht schöpfen könnte – wie jetzt auch geschehen. Damit nun jeder unliebsame Besuch in der Villa – Kriminalpolizei oder dergleichen – von vornherein seelisch zugunsten der Frau Makur beeinflußt würde, hielten diese Schurken ein armes halbirres Kind sowie Kränze und dergleichen in Bereitschaft …“

Ich packte Haralds Arm … „Wie, du meinst, daß …“

„Ich meine, daß das kranke Mädchen unseretwegen starb. Unseretwegen wurde oben das saalartige Zimmer als Trauerkapelle hergerichtet und …“

„Unmöglich!“ rief ich …

Und Wester sekundierte mir mit einem ebenso zweifelnden: „Das klingt nicht nur phantastisch-grauenhaft, sondern …“

„… ist Tatsache,“ sagte Harst kalt. „Meine Augen sehen mehr als die anderer Leute … Das ist Übungssache. So fiel mir bei der rührenden Aufbahrung droben in dem Saal sofort auf, daß die Kränze zwar frisch waren, daß aber die schwarze Atlasschleife mit des Dieners Karl Widmung für die kleine Tote unbedingt schon lange vorher bedruckt worden war. Die Goldbuchstaben, der Golddruck hatte an Glanz verloren, das Gold war chemisch verändert und verfärbt. Eine Kleinigkeit – gewiß! Aber so vielsagend, daß ich danach mein ferneres Verhalten einrichtete. Ich rettete Schraut und mir das Leben auf dem See, weil ich eben die satanische Schlauheit dieser Leute richtig eingeschätzt hatte. Und doch habe ich einen Fehler begangen …“

Wester stierte Harald sprachlos an und flüsterte hastig: „Welchen Fehler?! – Oh – wie anders zeigen Sie mir jetzt diese Dinge und Menschen, als ich bisher mit meiner schlichten Auffassung des Daseins und seiner Komplikationen …“

„Mein Fehler bestand darin,“ fuhr Harst fort, „daß ich Frau Makur gegenüber zu eilfertig eine scheinbare völlige Sinnesänderung betonte. Ich tat so, als ob nun jedes Mißtrauen in mir zerstreut sei. Und das war falsch. Die Frau durchschaute mich. Die kleine Tote, deren plötzliches Ableben noch aufzuklären sein dürfte, sollte lediglich den Gaunern den einen Vorteil sichern, daß ich Frau Makur als unverdächtig ansehen müßte. – Ich könnte hierüber noch einen langen Vortrag halten, fühle mich jedoch dazu noch zu angegriffen. Jedenfalls: Hätte ich bei der Aussprache mit Frau Makur betont, daß der Diener Karl, der Ihrer Braut nicht von den Fersen wich, mir nicht ganz einwandfrei erschiene, – hätte ich weiter die Entlassung der Vorgängerinnen Ihrer Braut und die Begleitumstände dieser Entlassungen als zumindest eigentümlich hingestellt, wäre ich also im ganzen nicht sofort vollkommen „umgefallen“, so würde dieses raffinierte Weib, hinter deren angenehmen Zügen sich das mordgierige Antlitz einer Tigerin verbirgt, fraglos befriedigt gewesen. So aber war sie die Klügere, las meine geheimsten Gedanken mir von der Stirn ab und … wollte Schraut und mich als Aalfutter im Wandinger See verwenden. Ein Wunder, daß wir noch leben …! Vielleicht haben die Herrschaften nachträglich doch Angst vor ihrer eigenen Tollkühnheit bekommen. Nun – wir leben, und wir …“

Ja – – wir drei schnellten von unserem Heulager hoch …

Durch die Holztür hindurch, die uns von dem Löwenzwinger trennte, war ein schriller Schrei erklungen …

Ein Schrei aus Kindesmund …

Harst flog förmlich zur Tür …

Sie hatte einen einfachen Drücker … Er riß sie auf …

Das Tageslicht blendete uns …

Und dann sahen wir mitten in dem großen Zwinger, dessen Vorderseite einen Halbkreis ohne Dach bildete, von der Decke des rückwärtigen Teiles an einem Tau einen blonden Knaben herabhängen …

„Der kleine Singer!“ flüsterte Harst verstört …

Er … verstört …!! Er!!

Und ich und Wester, leichenblaß …

Wir mit den Augen jede Bewegung der drei Bestien verfolgend, die sich in einem Winkel zusammengedrängt hatten … –

Heinz Wester wurde ohnmächtig, als der Knabe jetzt nochmals in Todesangst gellend aufkreischte.

Ich fing ihn auf, den armen Wester …

Und gleichzeitig wurde das Kind mit einem Ruck durch die Dachluke emporgezogen …

Die Luke schlug zu …

 

2. Kapitel.

Wo sind wir?

… Schlug zu …

Und der größte der drei Kaplöwen, der bereits zum Sprunge sich geduckt hatte, führte diesen Sprung zwar aus, traf mit den Pranken[9] aber nur die leere Luft, landete dann so dicht vor uns und den trennenden Gitterstäben, daß Harst und ich zurückprallten, – ich mit Heinz Wester in den Armen …

Ich legte den Bewußtlosen auf das gemeinsame Lager.

Harst drückte die Holztür zu, kam zu mir.

Sagte leise:

„Es war der kleine Singer … Oder besser der kleine Rumak, denn es ist ja Rumaks und Florences Kind! Florence ist tot, ermordet. Rumak flüchtig. Und nun haben wir hier unter Umständen, die jedem englischen Sensationsroman entnommen sein könnten, eine Spur Justus Rumaks gefunden: seinen Sohn, den er entführt hat!“

„Siegfried Alfred Richard Singer …“ murmelte ich, noch immer völlig benommen.

Wester rührte sich.

Als er dann wieder vollkommen bei Bewußtsein, war seine erste Frage:

„Habe ich … habe ich nur geträumt?!“

Sie war durchaus berechtigt, diese Frage, denn selbst mir kam das soeben Geschaute wie ein Fiebergebilde vor.

Harst lehnte an der Mauer, schaute zu der Laterne empor …

Schwieg …

Hatte die Augenlider zusammengekniffen und die Stirn gekraust.

Ich raunte Wester zu: „Stören Sie ihn nicht! – Sie haben nicht geträumt. Diese Schurken martern das Kind. Weshalb – ich weiß es nicht!“

Harald senkte den Kopf …

Er hatte meine Worte vernommen und antwortete sinnend:

„Vielleicht hat Justus Rumak seine einstige Geliebte Florence de Digny, die ihm nachher nach dem Leben trachtete, so unmenschlich gehaßt, daß sein Haß sich auch auf das Kind erstreckt – sein Kind! Es wäre dies nicht der erste derartige Fall von unerhörter Rachgier. Vielleicht ist er derjenige, der den Knaben peinigen läßt. Vielleicht ist die Sippe Makur und Genossen wirklich eine Zweigstelle jenes Vereins der Menschenfreunde … Obwohl …“ – und diesen Satz führte er nicht zu Ende, hob wieder den Kopf und stierte zur Laterne empor, während Wester meinen Arm an sich preßte, als ob er inmitten all dieses Grauenvollen und Unheimlichen bei mir Schutz suchen wollte.

Minuten verstrichen.

Kein Laut ringsum. Nur das Heu unseres Lagers knisterte und rauschte leicht, da Heinz Wester behutsam näher an mich heranrückte.

Unser Kerker war erfüllt von dem Gestank des nahen Zwingers, und ein wachsendes Gefühl der Übelkeit zeigte mir, daß der Anblick des Knaben an dem Tau und des emporschnellenden Löwen für mein noch immer leicht erschüttertes Hirn doch zu kräftige Nervenkost gewesen.

Rasch nahm ich einen der Äpfel, biß hinein. Der säuerliche Saft des Gravensteiner Apfels[10] tat mir gut.

Harald regte sich noch immer nicht.

Meine Übelkeit schwand, und indem ich mir die kalten Schweißperlen des Schwächeanfalls von der Stirn wischte, flüsterte ich Wester ins Ohr:

„Wenn Harst recht mit seiner Vermutung hätte und Rumak aus Haß sein Kind foltert, dann – sollen auch wir für unsere Einmischung in seine Angelegenheiten dadurch bestraft werden, daß wir hier die wehrlosen und machtlosen Zeugen spielen müssen, wie man ein unschuldiges Kind in geradezu satanischer Weise peinigt! Nie in meinem Leben werde ich den Gesichtsausdruck des kleinen blonden Jungen vergessen, als er mit der Tauschlinge unter den Armen von dem Käfigdach herabhing und die drei Bestien zu ihm emporschielten, als ob sie …“

„Nein, das stimmt nicht!“ erklang da Haralds Stimme ganz laut.

Er nickte uns zu …

„Das stimmt nicht, was ich da soeben mir zurechtgelegt hatte … Rumak ist nicht der Peiniger …“

„Dann ist’s wohl auch nicht der Knabe, der kleine Singer?“ fragte Wester scheu.

„Der ist’s – leider! Wir haben ja Bilder von ihm gesehen … Und wenn …“

„Still!“ warnte ich hastig.

Über unseren Köpfen Geräusche …

Die Laterne pendelte hin und her. Die Klappe oben war geöffnet worden.

Oben …

Unser Kerker war etwa sechs Meter hoch.

Ein Körbchen schwebte herab – unser Mittagessen: drei kalte Kotelettes, ein Pappteller voll Kartoffelsalat und eine Kanne Trinkwasser. – Weder Glas, Messer noch Gabel …

Nur das Essen und die Kanne entnahm Wester dem Körbchen, das an der Schnur sofort wieder emporgezogen wurde.

Da rief Harst:

„Hallo – Sie da oben, einen Augenblick noch …“

Aber die Klappe fiel zu. Die Laterne pendelte, hing bald still.

Unsere erste Mahlzeit in dem Kerker der Frau Makur … – Ach, diese Mahlzeit erinnerte mich lebhaft an ähnliche Erlebnisse in Indien. Dort hatte man uns in einem alten Bergwerk eingesperrt, dort schwebte auch ein Korb mit Lebensmitteln zu uns herab, dort erschien es genau so ausgeschlossen wie hier, dem finsteren Verließ jemals zu entfliehen. Und doch waren wir entflohen – – damals in Indien …

Hier aber?!

Harald meinte, wir könnten diese Frage, ob Flucht möglich sei, überhaupt noch nicht erörtern. Wir wissen ja noch nicht einmal mit aller Bestimmtheit, wo wir uns befinden.

„Natürlich doch auf der Insel im Wandinger See, Herr Harst!“

„So?! Woraus schließen Sie das, lieber Wester?“

„Nun – wo sonst?! Drei Löwen erwähnte der falsche Wester, drei Löwen sahen Sie und Herr Schraut neben diesem Weibe in der Tür stehen, als Sie niedergeschlagen wurden … Und hier nebenan sind diese drei Löwen!“

Harald lachte in seiner lautlosen Art. „Mein bester Herr Studienassessor, die drei Löwen der Frau Makur sind niemals diese Löwen hier nebenan!“

„Nanu?!“ platzte ich zweifelnd heraus.

„Nein, mein Alter … Du kannst es mir schon glauben, daß es Löwenköpfe aus Pappe gibt, die man großen gelben Doggen überstülpen kann … Auf Varietébühnen sieht man solche Tiermaskeraden oft genug. Die Löwen der Frau Makur waren keine Löwen. Das hatte ich doch noch erkannt, bevor mir die Sinne schwanden. Und daß man uns drei auf der Insel einkerkern wird, nein, – – ausgeschlossen! Niemals auf dieser Insel, die doch den Wandingern schon soviel Stoff zu allerhand abenteuerlichen Mutmaßungen geliefert hat! So dumm sind diese Leute nicht, die Makur und Genossen … Wir befinden uns bestimmt anderswo. Und ich glaube, wir befinden uns dort, wo Schraut und ich längst gern hingelangen wollten: in Justus Rumaks Schlupfwinkel! Wir sind ja viele Stunden bewußtlos gewesen. Ein Auto kann Sie, Wester, und uns weit fortgeschafft haben.“

„Ich wage nicht zu widersprechen,“ meinte der Studienassessor seufzend. „Im Gegenteil: Ich gebe zu, daß Ihre Beweise mir derart stichhaltig …“

„Mir genügen sie …“ nickte Harald. „Wir sind nicht auf der Insel. Weiß Gott, wo wir sind.“

„Hm …?!“ mischte ich mich ein. „Bedenke, Harald, die Insel kann außer dem Neubau für die Silberfüchse im Dickicht doch noch ein zweites Gebäude …“

„Nein!! Ein Kind, das so gellend vor Angst schreit, wie der blonde Junge, ist weit zu hören. Und auch das Gebrüll der Löwen ist auf eine Meile im Umkreis in stillen Nächten zu vernehmen. Wir sind sicherlich in eine ganz öde Gegend mit einem Auto gebracht worden, vielleicht in das sogenannte Parchiger Bruch, das sich östlich des Badeortes Stüritz hart am Meer meilenweit nach Süden und Osten erstreckt und heute noch Eigentum des ehemaligen Großherzogs ist, der es als Wildschonrevier unberührt läßt. Keines Menschen Fuß hat diese morastige Wildnis jemals durchquert. Nur an den Rändern dieses meilenweiten Bruches suchen Dorfkinder im Herbst die prächtigsten Brombeeren in ungeheuren Mengen. Ich kenne dieses Bruch, da ich mal als Junge und später als Student mit meiner Mutter in den Ferien in Stüritz war. Da nun drüben jenseits des Zwingers eine Unmenge Brombeersträucher stehen mit fruchtschweren Ranken, da ich ferner vor nicht allzu langer Zeit gelesen habe, daß der Großherzog einen Teil des Schonreviers an einen reichen Jagdliebhaber verkauft hat, vermute ich in diesem Käufer den ehemaligen Dompteur Rumak … Ich vermute noch mehr, will aber hierüber zunächst noch schweigen und erst mehr Beweise für die Richtigkeit meiner Annahme sammeln … – So, ich bin satt. Das Essen war nicht schlecht. Jetzt werde ich schlafen, und euch rate ich dasselbe.“

 

3. Kapitel.

Eine Botschaft.

Beneidenswerter Harald! – Schlafen?! – Ja, er konnte es. Er war in wenigen Minuten eingeschlummert. Seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge bewiesen, daß dieser Schlaf ihm auch die erhoffte Erquickung brachte.

Heinz Wester und ich hatten uns freilich gleichfalls lang ausgestreckt, und ich für meine Person gab mir die redlichste Mühe, schleunigst in das Land der Träume hinüberzugleiten. Im allgemeinen leide ich wahrhaftig nicht an Schlaflosigkeit. Aber der Herr Studienassessor, der links neben mir lag, warf sich häufig hin und her und bewegte dauernd Arme und Beine, als ob er an Zuckungen litte.

„Zum Teufel, was haben Sie denn?!“ grobste ich ihn schließlich an.

„Flöhe!“ meinte er kleinlaut. „Meine Körperausdünstung ist wohl daran schuld … Wenn ein Floh in weitem Umkreise sich von mir befindet, springt er mich sicher an. Sie wittern mich, die Bestien … Ich habe mindestens acht in den Unterhosen. Ich werde lieber mit meinem Lager drüben in die Ecke gehen.“

„Sehr guter Gedanke! Tun Sie es! Ich habe nur Unterhosen an, aber dafür sind sie auch flohfrei.“

Er erhob sich leise, raffte das Heu zusammen, nahm seine beiden Wolldecken und wanderte aus.

Ich schlief ein.

Wie lange ich geschlafen hatte, war mir zunächst vollkommen unbekannt, als eine kühle weiche Hand mich wachrüttelte.

Ich blickte zu dem trübe brennenden Laternchen nach oben. Es war dem Erlöschen nahe. Ich blickte um mich, und dicht vor mir war ein heller Fleck, ein Gesicht, der Herr Studienassessor.

„Herr Schraut, Herr Schraut!!“ flüsterte er.

„Ja doch, was gibt’s?! Haben Sie noch mehr Flöhe angelockt?“

„Scherzen Sie nicht … Es ist ein Mann im Löwenkäfig … – Ich konnte nicht einschlafen. Ich saß da und überlegte mir, was Herr Harst über unseren Aufenthaltsort geäußert hat. Die Flöhe ließen mir keine Ruhe. Es war schrecklich. Ich wimmele von Flöhen!“

„Dann bitte ich Sie inständigst, mehr Distanz zu halten … – Weiter …“

„Ich kratzte mich dauernd. Endlich hatte ich einen Floh erwischt …“

„Herr im Himmel, das ist doch ganz gleichgültig. – Weiter!“

„Sie irren, Herr Schraut … Denn der zerquetschte Floh roch so eigentümlich – so wie Ameisenspiritus … Ich glaube fast, es handelt sich gar nicht um Flöhe, sondern um …“

„Barmherziger!! Bringen Sie mich nicht zur Verzweiflung! – Was ist’s mit dem Manne im Käfige?“

„Sofort, sofort … Es vergingen vier Stunden namenloser Pein … Jetzt ist’s sieben Uhr abends. Vor etwa einer Viertelstunde hörte ich durch die geschlossene Holztür hindurch in dem Zwinger eine energische Stimme, deren Klang mein Ohr freilich ganz gedämpft erreichte. Dann vernahm ich auch andere dumpfe Laute. Ich wurde neugierig, außerdem war’s ja auch eine wohltätige Ablenkung. Ich schlich zur Tür, öffnete sie sacht und konnte einen Blick in den großen Zwinger werfen. Ein Mann in einem braunen Schnürrock aus Sammet, braunen Pumphosen, hohen Lackstiefeln und einem kühnen, wenn auch faltigen Gesicht ließ gerade den einen Löwen durch einen mit Papier beklebten Reifen springen. Ich hätte gern noch länger zugeschaut, denn trotz meiner Friedfertigkeit liebe ich aufregende Szenen, und ein Feigling bin ich auch nicht, wie ich schon mehrfach …“

„… Also Sie konnten nicht weiter zuschauen. Weshalb nicht?“

„Weil sich dort oben die Klappe in der Decke gehoben hatte und jemand mir halblaut zurief, die Holztür sofort wieder zu schließen, sonst würde ich eine Klamotte an den Schädel kriegen, – ja, so ungebildet drückte sich der Kerl aus. Da man nun doch unter Klamotte einen größeren Stein versteht, und da ich meinerseits mich nicht der Gefahr aussetzen mochte, eine Klamotte …“

„Also Sie schlossen die Tür. – Was dann?“

„Dann? Nichts mehr … Ich überlegte mir, wen von Ihnen beiden ich wecken sollte, sobald der rohe Mensch da oben sich entfernt hätte. Ich kam zu dem Entschluß, nicht Herrn Harst, sondern …“

„Schon gut, schon gut … – Ich werde dafür sorgen, daß Sie nicht den Titel Studienrat, sondern Umstandsrat erhalten.“

„Gestatten Sie: das Wichtigste habe ich ja noch zu erzählen.“

„Menschenskind, eben sagten Sie doch, Sie hätten nichts weiter erlebt!!“

„Das habe ich nicht gesagt. Sie fragten „Was dann?“ – Diese Frage konnte sich meines Erachtens nur auf den Mann im Käfig beziehen. Mein eigenes ferneres Erleben steht aber mit dem Bändiger in keinem Zusammenhang. Also hören Sie …“

„Herr im Himmel – ich höre ja!! Rascher!!“

„Wie Sie wünschen … Ich wartete, ob die Klappe sich oben wieder schließen würde. Dieses Schließen verursacht gewisse mir bereits bekannte Geräusche. Ich vernahm diese Geräusche. Die kleine Laterne brannte immer trüber … Sie sehen ja selbst, Herr Schraut, daß hier unten fast völlige Finsternis herrscht. Und wie ich mir so überlegte, wem von Ihnen beiden ich den Zwischenfall mit dem Mann im Käfig zuerst erzählen sollte, denn Sie beide zu wecken hielt ich für überflüssig, und wie ich so vor mich hin auf den Steinboden unseres Kerkers starre, der doch aus Ziegelsteinen mit Zement in den Fugen besteht, da gewahrte ich etwas sehr Absonderliches … Wenn Sie die geringe Mühe nicht scheuen und sich von Ihrem Lager erheben wollen, Herr Schraut, so werden Sie zweifellos dasselbe bemerken.“

Ich stand auf. Meine Augen, an das Dunkel gewöhnt, hingen an der freien Stelle des Steinbodens inmitten der Zelle und vermittelten mir den Eindruck, als ob ich die Figur eines großen Sternes mit sieben Zacken und einem Kreis im Mittelstück in schwachem Leuchten erkannte.

Je länger ich auf die Ziegelsteine blickte, desto deutlicher erschien mir die matt leuchtende Figur.

Jedenfalls war diese Beobachtung ernst und wichtig genug, auch Harald sofort zu wecken.

„Herr Wester, das muß Harst unbedingt sehen!“ erklärte ich, drehte mich um, bückte mich, und …

„Harst ist schon wach,“ meinte der, den ich dem süßen Schlummer entreißen wollte, halb scherzend.

Ja – – er saß aufrecht da, und sein Oberhemd (es war ein blau und weiß gestreiftes), das durch das Bad im See erheblich an Faltenfreiheit eingebüßt hatte, zeigte mir auch die Stelle an, wo ich seinen Kopf in dieser unzureichenden Beleuchtung zu suchen hatte. Dieser Kopf war weit vorgereckt in Richtung der Mitte des Raumes.

Dann flüsterte mein alter, unverwüstlicher Harald weiter: „Bitte, schaut mal wieder hin!“

Wester und ich schauten hin.

Der Stern war verschwunden. Und das war sehr merkwürdig und wirkte geradezu unheimlich.

„Ein okkultes Phänomen!“ meinte der Studienassessor ganz heiser. Offenbar war er Spiritist, Okkultist oder dergleichen und glaubte an Lichterscheinungen aus dem Jenseits.

„Blech!“ sagte Harald schroff.

„Was sonst?!“ fragte Wester beleidigt.

„Warten Sie nur ab, Verehrtester.“

„Worauf warten?!“

„Es wird, nehme ich an, sofort eine neue Lichterscheinung sich zeigen … Diese sollte uns nur aufmerksam machen …“

Wir warteten.

Draußen im Zwinger gähnte eine der königlichen Katzen … Das laute „U – ah“ … „U – ah“ erinnerte uns eindringlichst an die unangenehmen Nachbarn.

Wir warteten nicht umsonst.

Ganz allmählich zeichnete sich wieder auf dem Ziegelboden, der in der Finsternis wie ein schwarzer Abgrund zu unseren Füßen gähnte, ein Kreis von etwa anderthalb Meter Durchmesser ab.

Dieses Aufleuchten trat so langsam ein, daß es den Eindruck machte, als ob wir drei hier tatsächlich in finsterer Nacht am Rande einer Schlucht ständen … Ein einzelner Stern schimmerte über uns: die nur noch flackernde Laterne … Und in den Tiefen des Schlundes, scheinbar in endloser Entfernung, wurde ein kreisförmiges Feuer angezündet, das immer heller und kräftiger auflohte und von dem wir doch nur einen verschwommenen Schimmer gewahrten.

Ein Kreis …

Aber diese breite Kreislinie, in deren Mitte das Dunkel lastete, – dieser schillernde Ring erhielt einen Inhalt, – – auch ganz allmählich:

den Buchstaben I!

Als das I genau zu erkennen war, rief Wester erregt, aber gedämpft:

„Eine Laterna magica!! – Wir müssen also auch die Lichtbahn sehen, die aus der Linse der Laterna magica sicherlich oben von der Decke herabfällt!“

„Geben Sie sich keine Mühe,“ wies Harald diese Vermutung unseres Gefährten zurück. „Es ist keine Laterna magica, und von einer Lichtbahn bemerke ich nichts!“

Das stimmte. Ich bemerkte auch nichts. Desto rätselhafter war der matte leuchtende Kreis mit dem matt leuchtenden I.

Aber das I und der Kreis erloschen jäh, waren wie weggewischt.

Wester drängte sich nahe an mich heran.

„Finden Sie dafür eine Erklärung?“ raunte er mir zu.

„Nein.“

Und da – kam der Kreis abermals …

Aber nicht genau an derselben Stelle …

„Nun wird der Inhalt des Kreises ein C sein,“ meinte Harald.

„Verzeihung,“ korrigierte unser Studienassessor eilfertig. „Sie meinen eine Zehe, denn nur im Volksmund sagt man „der Zeh“. Es ist dies eine der vielen sprachlichen Nachlässigkeiten, die …“

Er schwieg von selbst.

Keine Zehe, sondern der lateinische Buchstabe C war in dem Kreise sichtbar geworden …

Blieb etwa drei Minuten sichtbar, verschwand …

„Nun kommt ein H,“ erklärte Harald. „Und das Ganze heißt dann „Ich“. – Die Sache ist sehr einfach. Justus Rumak wird hier genau unter unserem Kerker in einem ähnlichen Gelaß gefangen gehalten …“

Jetzt erschien ein W in dem Kreise …

„Verblüffend!“ sagte Wester. „Nur hätte ich zu bedenken zu geben, daß …“

Harald sprach weiter, und unser Rohrstock-Assessor verstummte. „… gefangen gehalten. Der Boden unseres Kerkers ist gleichzeitig die Decke des unteren Kerkers und besteht aus Glasziegeln, wie man sie ja vielfach verwendet, wo es darauf ankommt, – – ah … ein E …! Das Wort dürfte „werde“ heißen, wenn es fertig ist. – Diese Glasziegel bettet man in Eisenrahmen ein, und … –, ah, ein R …“

Harsts Vermutung traf zu. Justus Rumak telegraphierte auf diese schlaue Weise mit Hilfe einer elektrischen Taschenlampe, deren Linse er (wie Harald uns dies nachher auseinandersetzte) durch Papierschablonen teilweise abblendete, folgendes:

„Ich werde hier gefangen gehalten. Dringen Sie um Mitternacht in den Löwenkäfig ein. Ich werde dort sein. Seien Sie überaus vorsichtig. – Justus Rumak.“

 

4. Kapitel.

Was Harald kombinierte …

Die seltsame Lichttelegraphie war verstummt.

Harald zog uns auf das Lager. „Setzen wir uns … So … – Rumak unterschätzt diese Bande. Wir und somit auch die Lichtzeichen sind fraglos beobachtet worden. Es wird sich sehr bald herausstellen, was die Leute nun unternehmen werden, um uns jede weitere Verbindung mit Rumak zu unterbinden. – Jetzt aber können Sie, lieber Wester, einmal beweisen, ob sie logisch zu denken verstehen. Was geht aus Rumaks Botschaft ungesagt hervor?“

Unser Studienassessor überlegte. „Lachen Sie mich nicht aus, wenn mein in solchen Dingen ungeübter Verstand grob vorbeihaut,“ sagte er dann bedächtig. „Rumak muß, da ich ihn im Zwinger sah, einen Verbindungsweg mit dem Käfig zur Verfügung haben, ohne jedoch dadurch eine Möglichkeit zur Flucht zu erhalten. Er muß ferner wissen, wer hier oben über ihm eingekerkert ist: Sie beide! Er muß weiter, obwohl er ein Mörder ist, einen sehr schwerwiegenden Grund haben, mit Ihnen in direkten Meinungsaustausch treten zu wollen, und dieser Grund dürfte sein Kind sein, das nicht von ihm, sondern der Makur-Bande gepeinigt wird. Seine Sorge um seinen Sohn ist größer als seine Furcht vor Strafe. Er erhofft von Ihnen beiden Rettung aus einer Lage, die für ihn eine entsetzliche Pein darstellt, weil er sein Kind vor diesen Schurken nicht schützen kann, – das wäre alles, Herr Harst.“

„Meine Anerkennung, lieber Wester! Ich hätte es nicht besser machen können. – Und nun hört bitte genau hin. Falls diese Banditen so tun, als ob sie die Lichtzeichen nicht bemerkt hätten, falls sie also scheinbar gar nichts unternehmen, werden wir, wenn unser Abendessen uns verabfolgt wird, nur so tun, als ob wir essen und trinken. Wir werden eben Komödie spielen, – denn dem Essen dürfte dann ein Schlafmittel beigemischt sein, das uns wehrlos machen soll, damit wir anderswohin geschafft werden können. Gebt genau auf das acht, was ich tue. Sollten meine Kombinationen zutreffen, so werden wir die Schurken überlisten können. Wir werden uns schlafend stellen und dann, sobald sie hier unten erscheinen, über sie herfallen. Natürlich gibt es von unserer Seite keinen Pardon. Als Waffen haben wir nur den Wasserkrug und den Deckel des Blecheimers drüben zur Verfügung …“

„Und meine Sportschuhe, Herr Harst!! – Verlassen Sie sich darauf. Ich werde im Handgemenge meinen Mann stehen …!“

„Das glaube ich Ihnen gern …“

Ich, Max Schraut, wollte doch endlich auch zu Worte kommen.

„Harald …!“

„Du wünschest?“

„Weshalb peinigen diese Halunken den Knaben, und weshalb tun sie es so, daß Rumak dies zwar mitansehen muß, es aber nicht verhindern kann?!“

Das Laternchen war tot. Um uns her schwärzeste Finsternis …

Eine solche Unterhaltung im Dunkeln über ein Thema, das an den Nerven zerrt und den Geist ungewollt aufpeitscht, wirkt doppelt erregend.

Und wenn dann von einer Seite, hier von mir, eine Frage gestellt wird, die eine Fülle von Rätseln umfaßt und doch mit ein paar Worten beantwortet werden könnte, wenn dann zwei Menschen, Wester und ich, mit angehaltenem Atem auf diese Antwort warten und jählings eine die Gedanken vollkommen ablenkende Unterbrechung erfolgt, die in sich abermals neues Nervenpulver bedeutet, – – dann wird man begreifen, mit welch’ nervösem Ruck unsere Köpfe hochschnellten, als über uns in der Finsternis die Geräusche der sich öffnenden Klappe laut wurden und eine andere, brennende Laterne nun an einer Schnur wie eine langsame Sternschnuppe am pechschwarzen Nachthimmel herabschwebte und ihr ein Korb folgte: unser Abendbrot!

Die Entscheidung war da. Jetzt sollte es sich herausstellen, ob Harald richtig vermutet hatte!

Jetzt schoß mir flüchtig die ferne Möglichkeit durch den Kopf, daß das Essen nicht nur ein Schlafmittel, sondern Gift enthalten könnte und daß wir vielleicht, selbst wenn wir nur zum Schein die Speisen genossen, doch schon den Wirkungen des Giftes erliegen könnten.

Meine Sorge war überflüssig. Wester entnahm dem Korbe drei Gefäße und einen Krug und stellte die mittags geleerten hinein. Das Abendessen bestand aus Goulasch, Preißelbeerenkompott, Kartoffeln und lauwarmem Kaffee. Da die Laterne oben bis zu uns hinab nur spärliche Strahlen spendete, da ferner sowohl Harald wie ich in derartigem Komödienspiel wie dem Vortäuschen einer mit Appetit genossenen Mahlzeit einiges leisten und unser Studienassessor auch jetzt ein gelehriger Schüler war, ging der schlichte Betrug ohne Störung vorüber. Wir konnten sicher sein, daß die Spione droben sich zufrieden schmunzelnd die Hände reiben würden: die Preißelbeeren waren sehr stark gesüßt gewesen und hatten es „in sich“ gehabt!

Unser halblautes eifriges Gespräch nach der Mahlzeit verstummte allmählich. Harald gähnte, ich gähnte und Wester erst recht. Es mochte kurz nach zehn sein, als auf dem Heulager drei pustende und schnarchende Gestalten ruhten. Auch im Schnarchen sind wir Virtuosen. Und dies war der zweite [Teil][11] des Gaukelspiels.

Der dritte würde weniger friedlich ausfallen, dachte ich, als ich, zwischen Harst und Wester gebettet, zu der Laterne emporblinzelte.

Wann würden die Schurken nun erscheinen und uns wegschaffen wollen?! Wie würde der zu erwartende Kampf, der dritte Teil, ausfallen?!

Totenstille … – In dieser Stille, die dann eintrat, wenn wir drei einmal zufällig mit unseren rasselnden Atemzügen aufhörten, vernahm ich durch die Holztür hindurch das ruhelose Hin und Her der drei Löwen in dem Zwinger und ihr gelegentliches dumpfes Jaulen. Die Bestien schienen durch irgend etwas außergewöhnlich erregt zu sein, denn bisher hatten sie sich verhältnismäßig still verhalten.

Die Zeit verrann …

Ich dachte an Rumaks Botschaft. Um Mitternacht erwartete er uns. Hoffentlich waren wir bis dahin frei und Herren der Situation.

Ich zog vorsichtig an Westers Jackenzipfel. – „Wie spät?“

Man hatte ihm die Taschenuhr belassen, und er hatte auf Haralds Rat das Glas entfernt, damit er die Zeit durch den Stand der Zeiger abfühlen könnte.

„Halb zwölf,“ flüsterte er nach einer Weile zurück.

Und als der Satz beendet, erhob sich draußen im Käfig mit einem Schlage ein entsetzlicher Lärm …

Eine Männerstimme brüllte … Zwei dumpfe, nicht näher zu bezeichnende laute Töne, etwa wie das Kreischen eines Huhnes, das geschlachtet wird, übertönten die deutlichen Anzeichen eines Kampfes …

Dann wieder Stille … Bis Harst gedämpft vor sich hinmurmelte:

„Rumak ist nicht mehr!“

Mir waren die eisigen Schweißperlen auf die Stirn getreten.

Die Unruhe im Zwinger vorhin, – – ein Verdacht kam mir … Ich erinnerte mich an die große Tragödie im Leben des berühmten Dompteurs, an den teuflischen Anschlag, den Florence de Digny, seine Geliebte, gegen ihn vorbereitet gehabt hatte, indem sie die damaligen Löwen des berühmten Justus Kamur durch leichte schmerzhafte Giftdosen bis zur Tollwütigkeit vor der Vorstellung aufgestachelt hatte, so daß sie ihren Herrn tatsächlich halb zerfleischten … Daran dachte ich jetzt … Und – – deshalb hatte Rumak die Kommerzienrätin Florence Singer ermordet: Vergeltung, Rache!

Nun hatte auch ihn das Geschick ereilt. Nun war er denselben Tod gestorben, den so viele Dompteure finden: im Käfig unter den Pranken und Krallen ihrer vierbeinigen Schüler!

Wester schnarchte jetzt nicht, sondern stöhnte … Es waren Töne, die ein Mensch ausstößt, der am liebsten vor Entsetzen aufschreien möchte und es nicht darf.

Gleich darauf rumorte oben die Klappe …

Ein Tau glitt herab …

Bis zum Glasspiegelboden …

Zwei Männer rutschten in die Tiefe …

Der eine trug eine Karbidlaterne vor der Brust.

Es war die stämmige Athletenfigur des „Chauffeurs“ Hubert. Der zweite aber war der Herr Rechtsanwalt Doktor Fritz Mendel aus Wanding.

 

5. Kapitel.

Des Spieles Ende.

Hubert beleuchtete uns … Stieß mit dem Fuße nach Harst … „Da liegt er, der berühmte Schnüffler!! Die Dosis Veronal[12] wird den Kerlen hoffentlich ins Jenseits verhelfen!“ Er lachte roh.

Mendel fragte hastig. „Wie – du hast mehr Veronal hineingetan, als ich bestimmt hatte?“

„Ja – fünfmal soviel! Im übrigen hast du gar nichts zu bestimmen! Diese Störenfriede lägen längst im Moor, wenn du nicht so ’n verdammter Waschlappen wärest. Pack’ zu …! Erst den Harst!“

„Hubert, – – du … du … bist …“

„Halts Maul …! – Hier kommandiere ich … Nur ich als Vertreter von ihr! – Los – – pack’ mit an … Und mach’ nicht wieder so viel zwecklose Redereien wie vorhin Rumaks wegen! Tote schweigen. Und diese beiden Berliner muß man doppelt und dreifach totschlagen …“

Er zerrte Harald an den Füßen nach der Mitte des Raumes hin, band ihm das Tau um die Brust und rief nach oben:

„Los denn, Karl, – – empor mit ihm! Fix!! Die Winde wird’s schon schaffen …“

Das Kreischen der Drehrollen einer Winde ertönte, und Harst, der in der Schlinge schlaff wie eine Leiche hing, schwebte aufwärts …

Verschwand … –

Ein wahres Glück, daß wir mit dem Überfall auf Mendel und Hubert gewartet hatten. Der alte Karl befand sich also noch oben. Nun, Harald würde mit ihm schon fertig werden.

Die Sensation wurde zur halben Posse. Unser Assessor benahm sich abermals tadellos. Nach einer Weile kam das Tau wieder herab, und Wester wurde emporgehißt. Da ich nichts tat, blieb auch er Veronal-Leiche. Dann war die Reihe an mir. „Karl“ zog mich hinauf, es war jedoch nicht Karl, sondern Harald, und Karl lag hier oben bewußtlos neben der Luke in dem halbdunklen großen Zimmer, in dem eine Karbidlampe brannte.

Ich brauche wohl kaum mehr zu erwähnen, daß wir dann Herrn Hubert und Herrn Mendel einen warmen Empfang bereiteten, als sie nacheinander emporklommen und nicht ahnten, daß das Veronal und alles andere im Heu lagen!

Nun waren wir die Herren der Situation, nun hatten wir Waffen, Laternen, durchsuchten das einsame Gebäude, das sich tatsächlich auf einer Anhöhe inmitten eines weiten Bruches, einer wahren Wildnis von Wasser, Sumpf, Bäumen und Gestrüpp wie eine heidnische Feste aus alten Tagen erhob. – Wir sahen durch die Gitterstäbe des Zwingers die zerfetzten Überreste Rumaks … Wir fanden niemand in dem unheimlichen Hause mehr vor. Im Nebengebäude entdeckten wir zwei Kähne, ganz flach: Moorkähne – mit Stoßstangen und Rudern.

Wir kehrten zu Wester zurück, der inzwischen die drei gefesselten und geknebelten Schurken bewacht hatte. Harst nahm Mendel den Knebel ab. – „Sie scheinen noch am ehesten gutem Einfluß zugänglich zu sein,“ sagte er. „Gehört dieses Haus Rumak?“

„Ja. Es war sein Schlupfwinkel.“

„Und Sie und Ihre Genossen waren wohl Mitglieder des Vereins der Menschenfreunde und erhielten so von diesem einsamen Besitz Rumaks im ehemaligen Jagdschonrevier Kenntnis?“

„Ja …“

„Wo ist Rumaks Sohn?“

Da schnellte sich der gefesselte Hubert, der bisher still an der Wand gehockt hatte, nach vorn und schaute Mendel so drohend an, daß dieser jäh seine bereitwilligen Angaben bereute und rief: „Es war alles gelogen … Ich weiß von nichts.“

Kein Wort war dann mehr aus ihm herauszulocken.

Als der Morgen graute, waren die drei Gefangenen in unserem Kerker, wo sie unmöglich ausbrechen konnten. Heinz Wester blieb bei ihnen als Wache zurück. Er sträubte sich in keiner Weise, hier vielleicht tagelang den Wächter und den Löwenwärter zu spielen. Er hatte drei Repetierpistolen zu seiner Verfügung, und als wir mit einem der Kähne davonstakten, winkte er uns noch lange vergnügt nach.

Hut ab vor diesem Jugendbildner. Er war doch kein Umstandsrat. – –

Abends halb neun langten wir beide in Berlin an. Harald hatte mir mit keiner Silbe verraten, was diese Hetzjagd gen Berlin bedeutete. Vom Stettiner Bahnhof fuhren wir im Auto nach der Villenkolonie Grunewald, wo sich der durch die Ermordung seiner Frau völlig zusammengebrochene Kommerzienrat Singer in einem Sanatorium aufhielt.

Um halb zehn standen wir dem blassen, stillen Manne in seinem Wohnsalon gegenüber.

„Sie, meine Herren …?! Was bringen Sie?!“ meinte er zaghaft.

Harst schaute ihn prüfend an. „Nicht wahr, Sie haben heute einen Brief erhalten? – Leugnen Sie nicht! Einen Brief von Rumak! – Rumak ist tot. Schurken, die ihn und das Kind gefangen hielten, zwangen ihn, indem sie den Knaben peinigten, zu einem erpresserischen Schreiben an Sie. Dann töteten sie ihn. – Wieviel verlangten die Schufte durch Rumak für die Auslieferung des Kindes? – Bitte, keine Ausflüchte …!!“

„Ich … ich … gab der Überbringerin des Briefes mein Ehrenwort, Herr Harst …“

„Ah – – also der Frau Makur … Eine rotblonde Dame … Wann war sie hier?“

„Vor zwei Stunden …“

„Und – wieviel?“

„Ich bedauere, Herr Harst … Mein Wort halte ich …“

„Danke, auf Wiedersehen.“

Am folgenden Vormittag fuhr Singer in die Stadt zur Deutschen Bank und hob dort eine runde Million ab. Aber er betrat nicht allein das Bankgebäude. Als er das Päckchen Tausender auf der Straße einer verschleierten Dame unauffällig übergeben hatte, wurde diese Dame ebenso unauffällig, nachdem sie Singer zu einem geschlossenen Auto geführt hatte, in dem ein schlafender blonder Junge saß, von Kriminalbeamten weiter verfolgt.

Abends saß die ganze Verbrecherbande hinter Schloß und Riegel. Singer hatte seinen Adoptivsohn und seine Million zurück, und die Polizei hatte den glänzendsten Fang getan, der ihr je mit Harsts Hilfe geglückt war.

Die Villa am Wandinger See war das größte Geheimversteck für Diebesgut, das jemals ausgehoben wurde. Die Bande hatte aus insgesamt achtzehn Personen bestanden, hatte nicht nur Einbrüche, sondern auch alle möglichen anderen Geschäfte getätigt.

Frau Makur war weder Witwe noch hieß sie Makur. Sie war eine berüchtigte Taschendiebin und Hochstaplerin und die Seele des Ganzen gewesen. Das schwachsinnige Mädchen hatte sie als eigen angenommen, und die Ermordung dieses armen Wesens durch Gift brachte sie selbst auf den Richtblock.

Wollte ich hier im einzelnen schildern, wie diese modernste aller Verbrecherorganisationen gearbeitet hatte, welcher Hilfsmittel sie sich bedient und welcher Leute aus allen Ständen sie sich dienstbar gemacht hatte, so würde ich den anderen Herrschaften mit gleichen Neigungen ein lehrreiches Kolleg halten.

Nein – ich bringe zum Schluß noch einige versöhnliche, erfreuliche Tatsachen.

Unser wackerer Studienassessor hat natürlich sehr bald seine geliebte fesche und kluge Braut geheiratet, der Schule den Rücken gekehrt und bei der Kriminalpolizei einer südlichen Großstadt eine ihm weit mehr zusagende Anstellung gefunden. Er hatte wohl von jeher das Zeug zu einem Manne der Tat, ahnte dies jedoch selbst nicht.

Die drei Löwen, die Justus Rumak in aller Stille nach seinem Schlupfwinkel hatte schaffen lassen, um dort wieder Dresseur spielen zu können, befinden sich jetzt im Amsterdamer Zoologischen Garten. In Amsterdam lebt auch unter anderem Namen ein Mann, von dem ich vorhin gesagt habe, daß wir ihn zerfetzt vorfanden. Auch Fetzen lassen sich zusammenflicken.

„Ich bin nicht dazu da,“ hatte Harald zu mir vor dem Zwinger gesagt, „um den Rächer seiner Ehre der Polizei zu überantworten …“

Nur wir und Heinz Wester wissen, wer dieser Krüppel ist und wo er in Wahrheit in der Verborgenheit als ein Reuiger und Dankbarer haust. Von ihm erhielten wir jenen Brief, den ich als Einleitung zu dem Höllentor von Adagaru benutzen will. – –

Draußen in unserem Garten reißt der Herbststurm die welken Blätter von den Bäumen … Ich habe bis in die Nacht hinein bei offenen Fenstern geschrieben. Ich werde nun zu Bett gehen. Die Zeitungen haben auf meinen Freund Harst nicht mehr Steine geworfen. Daß er den Erpresserbrief an Singer so richtig vorausgeahnt hat, das hat die Herren Tintenfische wieder besänftigt. – Gute Nacht.

 

 

Verlagswerbung:

Ein Stündchen

der Ablenkung, Entspannung und Erholung nach des Tages ewig gleicher Fronarbeit sollen die Harstbändchen bringen ‒ nicht mehr. Der aufmerksame Leser wird trotz der Anspruchlosigkeit dieser Erzählungen dennoch auch Belehrung und Anregung darin finden. Die lebenswahre Schilderung von Land und Leuten, die scharfumrissene Gestaltung der Charaktere und die gesunde Spannung der eigenartigen Stoffe sind uns aus den verschiedensten Kreisen der Leser immer wieder bestätigt worden. Seit acht Jahren haben Harsts Abenteuer-Erzählungen nur Freude und Unterhaltung gebracht. Schon dies sowie die vielen günstigen Beurteilungen selbst aus literarischen anspruchsvollen Kreisen beweisen, daß jeder Harstfreund mit Recht die Bändchen seinen Bekannten empfehlen kann. ‒ Jede Buch- und Schreibwaren-Handlung hält die Harst-Erzählungen zum Preise von 0,20 Rm. am Lager. Wo sie nicht zu haben sein sollten, bestelle man sie beim

Verlag moderner Lektüre

G. m. b. H.

Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Auwürfe“.
  2. In der Vorlage steht: „Fähre“.
  3. In der Vorlage steht: „oder“.
  4. In der Vorlage steht: „spang“.
  5. In der Vorlage steht: „Muscheskies“.
  6. Ausgestorbene Unterart des Afrikanischen Löwen. Sie auch Wikipedia: Kaplöwe.
  7. In der Vorlage steht: „Gentlemeneinbrecher“.
  8. In der Vorlage steht: „tötlich“.
  9. In der Vorlage steht: „Planken“.
  10. Alte Kultursorte (seit mindestens 1669). Siehe auch Wikipedia: Gravensteiner Apfel.
  11. Fehlendes Wort „Teil“ ergänzt.
  12. Gemeint ist das Schlafmittel Barbital, das unter dem Markennamen Veronal auf den Markt kam.