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Nachbar Dr. Tod

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Nachbar Dr. Tod

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 28 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1930 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Der Roman des Sträflings.

Abseits vom Alltag laufen die Pfade der Einsamen, der freiwilligen Flüchtlinge vor dem Moloch Leben, oder die der Ausgestoßenen, der Vagabunden, Abenteurer und nach Freiheit unendlicher Fernen ewig Dürstender.

Vielleicht gehöre ich, der einst die Behaglichkeit eines geordneten Berufslebens zu schätzen wußte, zu keiner dieser Arten der Wanderer abseits vom Alltag, vielleicht habe ich dem Geschick dafür zu danken, daß es mich abdrängte von der breiten, glatten Straße jener Unzähligen, die nie den unbeschreiblichen Reiz eines planlosen Auskostens aller Schönheiten der unbekannten, selten besuchten Einöden, Wildnisse und zauberhaft bunten Tropenwälder kennen lernen.

Wie der Sturm und die Strömungen der Weltmeere ein von den Ankern gerissenes Schiff ohne Kapitän und Besatzung in zielloser Kreuzfahrt dahinführen von Nord gen Süd, von Ost gen West, – wie ein gütiges Geschick dieses steuerlose Fahrzeug immer wieder an Klippen, Riffen, Felsgestaden und drohenden, verderblichen Hindernissen ohne Schaden dahingleiten läßt, ähnlich hat mich der Wind des Lebens und die heiße Liebe zur Natur, die meine Seele wie Brandungsrauschen durchdringt, durch ein Meer von Einsamkeit, Schönheit und Abenteuern jahrelang dahingetrieben.

Weggenossen, Freunde, Gefährten wurden mir beschert, – Schiffe, die nachts sich begegnen, die still sich grüßen und wieder entschwinden im Dunkel der Zukunft, – alles schenkten mir die Pfade abseits vom Alltag: Liebe, Freude, Schmerz, Gefahren, köstliche Stunden des Kampfes um das eigene Dasein, und das von Verfolgten, Bedrückten …

Von einer Felswand, über die ein Fluß donnernd und tosend in einen Hexenkessel von schäumenden Wogen sich ergoß, durfte ich, den seltsame Zufälle an die Westküste Mittelamerikas verschlugen, einen Unglücklichen bergen, der mir zunächst, obwohl dankbar und vertrauensvoll, doch sein Innerstes herben Sinnes verschloß.

Vinzent[1] Kumanogoto nannte er sich, ein Farbiger war er, ein Indianer. Geheimnisse umwehten ihn wie dunkle Schleier, die nur zuweilen sich etwas lüfteten. Nach dem Hafenort Corosal waren wir mit meinen beiden Maultieren geritten, Kumanogoto schwärmte von den Wäldern Südyucatans[2] und verstand es allgemach, in mein Herz die Sehnsucht zu pflanzen nach diesen tropischen, grünen Mauern, die jedem Vordringen grimmig tausend Hindernisse in den Weg legten und doch nie geschaute Wunder von Schönheit verhießen.

Ganz allmählich erwarb ich mir des rotbraunen, vielgewandten, vielerfahrenen und erstaunlich gebildeten braunen Mannes Freundschaft. Die Stunde kam, da er mir erklärte, was er einst gewesen: Ein mexikanischer Arzt! Und dann … Sträfling!

Ich fragte nicht, was er begangen, was ihn hinter Kerkermauern geführt hatte. Ich kannte ihn jetzt: Er war kein Verbrecher.

Und so ritten wir denn von Corosal gut ausgerüstet gen Südwest, scheinbar planlos, ziellos …

Bis die andere Stunde kam, in der Vinzent Kumanogoto mir seine Seele ganz und in der freudigen Gewißheit öffnete, bei mir volles Verständnis … und Hilfe zu finden.

Ein neuer Pfad abseits vom Alltagswege zeigte sich mir in unklaren Linien.

Ich wählte ihn, diesen Pfad, den mein brauner Gefährte mir andeutete.

Ich habe es nicht bereut, wie ich heute, nachdem auch dieses Abenteuer verklungen, in diesen Blättern ehrlich als Randbemerkung nachholen kann. – –

Die Karbidlaterne hing an der Mittelstütze des leichten Öltuchzeltes, und da der Türvorhang nicht ganz dicht den Lichtschein von der nächtlichen Außenwelt abschloß, wurden die surrenden Gäste zuweilen recht zudringlich.

Nachtfalter von Handgröße beehrten uns beide mit ihrem Besuch, aber weder diese zum Teil wunderbar bunt gezeichneten Schmetterlinge noch die dickköpfigen Motten wurden von uns irgendwie belästigt. Freund Vinzent war ein Tierfreund, und seine Hand streichelte sinnend und versonnen die Flügelränder eines solchen Prachtexemplares, das sich auf sein Knie niedergelassen hatte und diese Liebkosung geduldig hinnahm.

Unsere Gedanken waren von anderen Dingen in Anspruch genommen.

Doktor Kumanogoto, nun seit vielen Tagen mein treuer, rätselvoller Gefährte, berichtete von der Tragik seines reichbewegten Lebens, und das Rauschen der undurchdringlichen Urwälder ringsum bildete die zarte Begleitmusik seiner vorsichtig gewählten Worte.

Kumanogoto war ein Karibe, ein Indianer, war ein Arzt, war ein vielseitig gebildeter Mann und ein Weiser, einer jener Weisen, die das Dasein von der hohen Warte bitterer, überreich aufgespeicherten Erfahrungen zu betrachten pflegen.

„… Meines Volkes Geschicke Ihnen hier im einzelnen wiederzugeben, würde zu weit führen“, sagte er nach längerer Pause und blickte aus dunklen Augen träumerisch ins Leere. „Vielleicht findet sich ein andermal Gelegenheit dazu. Jedenfalls: Meine Eltern lebten in Merida, der Hauptstadt der zu Mexiko gehörigen Provinz Yucatan. Als die Eisenbahn bis Merida weitergeführt worden war, nahm die Stadt und der Norden Yucatans einen ungeheuren Aufschwung. Mein Vater verdiente als Kaufmann durch den Handel mit den Maya-Indianern, deren Kunstfertigkeit berühmt ist, sehr viel Geld und schickte mich daher nach Mexiko in die Schule und später auf die Universität. Mit achtundzwanzig Jahren war ich Arzt, mit dreißig besaß ich im neuen Villenviertel von Merida ein eigenes Heim, eine mir teure Gattin und ein Söhnchen, das zu meiner Freude die helle Hautfarbe und das lichte Haar meiner Lebensgefährtin geerbt hatte. Mein Sohn wuchs heran, aber das wilde Blut meiner Ahnen meldete sich nur allzu frühzeitig bei ihm, und eines Tages begleitete er, damals sechzehn Jahre, meinen noch immer außerordentlich rüstigen Vater weit gen Süden in abgelegene Gegenden, wo nach unsicheren Gerüchten in den Bergen nahe der Grenze von Guatemala Edelsteine gefunden sein sollten.“

Vinzent blinzelte in den Lichtschein der Laterne, seine Stimme klang plötzlich seltsam rauh.

„… Beide kehrten nicht zurück, Abelsen … – das sind nun vier Jahre her. Beide verschlang die unerforschte Wildnis.“

Er lachte leise, und dieses Lachen schnitt mir ins Herz.

„Seltsam genug, Abelsen: Vielleicht liegen Kultur, Zivilisation und unbekanntes Gebiet nirgends so dicht beieinander wie hier in den Staaten Mittelamerikas. Modernste Prachtbauten, – – und tausend Meter weiter die Wildnis mit all ihrer Schönheit, all ihren Tücken und Gefahren. Wir haben es ja in den letzten Tagen selbst erlebt, als wir von dem Hafenort Corosal an der Südostküste Yucatans gen Südwest ritten. Zwei Stunden genügten, uns in die unberührten Urwälder zu bringen, wo der Puma und der Jaguar durch die Dickichte schleichen und das Faultier wie ein unwirkliches Wesen an den lianenumsponnenen Ästen hängt. – Yucatan ist mexikanische Provinz, ein Staat, ist trotzdem zur Hälfte unerforscht. Und dort, wo unser Ziel liegt, mag vielleicht nur eines einzigen Europäers Fuß den jungfräulichen Waldboden entweiht haben, – – der Fuß meines Todfeindes, des Zerstörers meiner Existenz, des größten Schurken, den je Europa ausspie und nach Mexiko verschlug: Allan Tott, – – er selbst nannte sich mit frechem Witz Nachbar Tod, denn er war mein Nachbar in Merida, und sein Haus hatte einen Turm, auf dem Allan Totts Riesenfernrohr stand.“

Vinzent Kumanogoto atmete keuchend und vertrieb den Nachtfalter von seinem Knie mit heftiger Handbewegung.

„… Ich habe nie den Haß gekannt, Abelsen. Allan Tott hasse ich. Mein Weib war schön geblieben, mein Sohn zählte vierzehn Jahre, – – da begann das Unheil. Dieser Engländer, der mit Witz und Geist und glänzender äußerer Erscheinung brillierte, war Gott und Teufel in eins, war belesen, gewandt, reich, – – und trotzdem ein Lump. Man sagte, er habe in London durch dunkle Börsenmanöver unzählige Leute an den Bettelstab gebracht, – man sagte noch weit mehr, aber Gewisses erfuhr niemand, denn Allan Tott war zu schlau gewesen, sich derart bloßzustellen, daß die harte Hand der englischen Justiz ihn fassen konnte. Als er uns zuerst besuchte, empfand ich sofort einen geheimen Widerwillen gegen ihn, und als ich ihn besuchte, zeigte er mir in seinem Studierzimmer ein Skelett mit einem übergestreiften Arztmantel: „Mein liebster Gefährte, Doktor Tod“, erklärte er scherzend, aber in seinen grauen Augen lag dabei ein Ausdruck geheimer Drohung.“

„Drohung?“, fragte ich beklommen. „Weshalb Drohung?“

Vinzent stützte das starke Kinn in die Linke, und die Falten in seinem braunen Gesicht vertieften sich.

„Drohung, Abelsen … Meine Frau war eine der schönsten, zierlichsten, temperamentvollsten Mexikanerinnen, dazu reich, klug und feurig, – ihre Eltern hatten mit ihr England besucht, und dort war Allan Tott ihr eifriger Bewerber gewesen. Sie wies ihn ab, kehrte heim und wählte mich, den dunkelhäutigen jungen Arzt. – Begreifen Sie bereits, Abelsen?! Brauche ich noch viel zu erläutern? Tott gehörte zu jenen Charakteren, die nie vergessen. Er hatte durch Juanita eine Niederlage erlitten, er traf Juanita nach achtzehn Jahren in Mexiko wieder und die Vergangenheit lebte in ihm auf, er als gereifter Schurke brachte es zu Wege, was dem stürmischen Liebhaber von einst versagt gewesen, – er stahl mir mein Weib, und genau ein halbes Jahr nach dem Verschwinden meines Vaters und meines Sohnes Juan … habe … ich … ihn – und … sie … erschossen …“

Vinzent Kumanogotos Kopf sank nach vorn.

„… Erschossen, Abelsen, – mit dem Recht des betrogenen Gatten, mit dem Wahnwitz des Narren, der da glaubt, ein Recht auf Selbstjustiz zu besitzen. In Totts Arbeitszimmer war es, – dort überraschte ich die beiden, – – und in der Ecke stand das grinsende Skelett, Nachbar Doktor Tod, und höhnte über meine Verzweiflung und über meine sinnlosen Flüche, die bereits draußen auf der Straße endeten, wo eine Polizeipatrouille mich aufgriff …“

Er murmelte nur noch. Seine Lippen bewegten sich kaum. Aber gerade dieses dumpfe Flüstern, in dem die Reue und der Schmerz und die Qual dieser Erinnerungen mitschwangen wie tiefe ferne Orgeltöne, trieben mir ein Frösteln über den Leib.

Was Vinzent Kumanogoto flüchtig über Allan Totts Charakter angedeutet hatte, war mir, dem so buntfarbige Menschenseelen den Lebenspfad gekreuzt haben, vollauf genügend, ein plastisches Bild dieses Engländers zu gewinnen. Ich kannte Schurken solchen Ausmaßes, ich kannte die abgrundtiefe Gemeinheit der gehässigen Rachgier und die nie ermüdende Niedertracht verletzter Eitelkeit. Allan Tott hatte die Mexikanerin umworben, – vielleicht zu ungeschickt, zu offenkundig als Mitgiftjäger, und was dem stürmischen Draufgänger von einst nicht gelungen, das erreichte die kalte Berechnung der gereiften Jahre.

Sein Opfer saß hier vor mir, – zusammengekauert, vernichtet, und im Grunde war jedes weitere Wort zwischen uns überflüssig. Ich konnte mir alles, was der blutigen Szene unüberlegter Rachgier gefolgt war, unschwer aus eigenem zusammenreimen. Nur ein unklarer Punkt blieb: Vinzent hatte vorhin geäußert, daß Allan Tott noch lebe. Und soeben hatte er erklärt, diesen Mann niedergeschossen zu haben. – Wie stimmte das zusammen?!

Er selbst gab die Antwort.

„Abelsen, es ist niemals irgendwie restlos enthüllt worden, auf welche Weise Allan Tott in der kurzen Zeit zwischen meiner vorläufigen Festnahme und der Durchsuchung seiner Villa verschwinden konnte. In dem Studierzimmer fand die Polizei lediglich Juanitas Leiche und Blutspuren neben dem Schreibtisch. Dort hatte Allan Tott vor meiner Waffe Deckung nehmen wollen. Zusammen mit ihm – und das ist das Seltsamste – war auch das Skelett und sein englischer Diener Winston Charb verschwunden. Nie wieder hat man etwas von den beiden gehört, wenigstens die Öffentlichkeit vernahm nichts davon. Ich selbst …, – aber das ist ein neuer Abschnitt meines traurigen Lebensweges, der mit der Entlassung aus dem Gefängnis begann. Drei Jahre war ich Sträfling, die Richter und die Geschworenen hatten Verständnis für die Gemütsverfassung eines betrogenen Gatten, der siebzehn Jahre lang in stillem Glück als vielgesuchter Arzt und als angesehener Bürger Meridas harmlos und vertrauensvoll seine Tage verbracht hatte. Ich weiß, Abelsen, auch Ihnen hat das Geschick die harte Prüfung des Zuchthauses auferlegt, Sie entflohen, Sie sind ein Heimatloser geworden, und haben trotzdem den Frieden der Seele wiedergefunden. In diesem Punkte unterscheiden wir uns grundsätzlich. Ich versuchte nie zu fliehen, ich nahm die Strafe als notwendige Sühne und Läuterung hin, und wenn trotzdem in diesen drei Jahren der Kerkerhaft meine Wünsche in die Ferne schweiften, so geschah es nur, weil ich – hierin gleichen wir einander – mich nie damit zufriedengeben wollte, daß Allan Tott und Winston Charb und das bewußte Skelett sich in Luft aufgelöst haben sollten. Sie verstehen mich: Ich war besessen von dem fanatischen Drang, dieses Geheimnis zu klären, und kaum aus dem Gefängnis entlassen, begann ich auch, für Merida immerhin ein Verfehmter, diesen dunklen Dingen nachzuspüren. Das war etwa um die Zeit, als Slomans Jacht Missouri in Truxillo erschien, also jene Expedition, die die Schätze des letzten Flibustiers Pierre Lacombe aus dem Höllenpfuhl bergen wollte. Ich hatte mich nach Truxillo gewandt, da mir ungewisse Nachricht zugeflogen war, Allan Tott weile in dieser Hafenstadt von Honduras.“

Er hob den Kopf. Sein braunes Gesicht hatte den Ausdruck der Verzweiflung verloren, und seine Augen hafteten starr in den meinen, als er flüsternd weitersprach.

„… Zugeflogen, Abelsen … Und das ist wörtlich zu nehmen. Es war am Abend meiner Entlassung aus dem Gefängnis, ich kam gerade von meinem Anwalt, der mein Hab und Gut veräußert und mir einige tausend Dollar ausgezahlt hatte. In der stillen Straße, die von Parkanlagen umgeben war, flog ein langer Pfeil mir vor die Füße. Ich hob ihn auf. An der Spitze war ein Ledersäckchen befestigt, das zwölf ungeschliffene Smaragde und einen Zettel enthielt …“

Ich horchte auf.

Vinzent mochte mir anmerken, wie ich dieses Abenteuer einschätzte.

„Nicht wahr“, sagte er mit feiner Ironie, „mein Roman gleitet jetzt in die Niederungen übler Kolportage hinab … Aber es ist Wahrheit, und das Leben schreibt nun einmal so garstige Schauermärchen, mein lieber Abelsen. Werfen Sie einen Blick in die Sensationsnachrichten der Presse, und Sie finden dort jeden Tag Dinge, die man in einem gedruckten Buch belächeln würde. – Es war so: Der Pfeil flog mir zu, unter einer Laterne las ich den Zettel. – Und was stand darauf? Sie raten es nie …“

Ein hartes Lächeln huschte über sein intelligentes Gesicht.

„… Nie raten Sie es … Dort stand in schlechtem Englisch, kindlich gekritzelt:

„Gut verbergen, Zettel verschlucken, Tott ist in Truxillo.“

Das war alles …“

Vinzent Kumanogoto setzte sich straffer aufrecht. Seine mittelgroße, ebenmäßige Gestalt, die in dem neuen Sportanzug unweigerlich vornehm wirkte, neigte sich mir zu.

„Abelsen, – erraten Sie, was dann kam?! Ich war allein, ich war wie benommen von dieser geheimnisvollen Botschaft, aber eine innere Stimme warnte mich … Ich barg den Beutel unter dem Hut, schob den Zettel hinter das Hutband, – all das tat ich im finstern Schatten eines Baumes. Als ich mich dann zum Bahnhof begeben wollte, wurde ich plötzlich von zwei Strolchen überfallen … Daß ich noch lebe, danke ich einem Polizisten, aber meine Brieftasche wurde mir geraubt, und der Schädelhieb schmerzte noch tagelang. Ich fuhr nach Truxillo, ich suchte dort Allan Tott, ich lernte Sloman kennen, und in meiner traurigen Einsamkeit und Verlassenheit wurde ich Steward auf seiner Jacht. An seinen Schandtaten hatte ich keinen Anteil, er war ein Lügner und Heuchler, – – das Ende kennen Sie: Die Dynamitexplosion am Höllenpfad beförderte auch mich, der ich mich von diesen Menschen lossagen wollte, in das schäumende Becken. Sie retteten mich, – – und damit ist meine Geschichte vorläufig zu Ende.“

Seine fragenden Augen heischten irgend eine Gegenäußerung.

Ich sprach.

„Doktor, besitzen Sie den Zettel noch?“

„Ja …“

Er war ein wenig erstaunt.

„… Hier ist er, Abelsen, hier in dem Gurt zusammen mit echten, kostbaren Smaragden … Denn die Steine sind Smaragde, rein, klar, von größtem Wert … Bitte …“

Ich habe mich nie mit Dingen abgegeben, die etwa das Gebiet der Detektivarbeit streifen. Hier war aus meinem abenteuerlichen Hirn jäh ein Verdacht entsprungen, der, falls er sich bestätigte, vieles klären konnte.

Ich nahm den Zettel, legte ihn in einen unserer Teller, goß etwas Wasser darüber und wartete eine Weile, schritt ins Freie, wo unsere angepflockten Maultiere grasten, und fing durch einen Steinwurf eine der auf dieser Waldlichtung so zahlreichen Beutelratten, trug das betäubte Tier ins Zelt und öffnete ihm mit der Messerklinge das verkrampfte Maul und goß die Flüssigkeit aus dem Teller hinein.

Die Beutelratte verendete unter Zuckungen in wenigen Sekunden.

Doktor Vinzents Augen waren wie glühende Kohlen.

„Gift?!“

„Ja – Gift – für Sie! – Der Pfeil kam von Allan Tott, und die Smaragde sollten Sie nur in Sicherheit wiegen, damit Sie den Zettel zerkauten und verschluckten – das vergiftete Papier! Nun wissen Sie es.“

„Nun weiß ich es“, nickte er … „Nun weiß ich auch, daß Allan Tott meinen Vater und meinen Sohn verschwinden ließ …“ Seine Stimme war ein heiseres Keuchen. „Die Gerüchte von den Edelsteinfunden hatten etwas auf sich, das ahnte ich wohl. Aber daß …“

Er schwieg.

Ich hatte im Nu die Laterne gelöscht, hatte Vinzent Kumanogoto zu Boden gedrückt. Das warnende Schnaufen der Maultiere ertönte rechtzeitig.

Kugeln fegten durch die Zeltwände …

Die stille Waldlichtung hallte wieder von dem Peitschenschlag der Schüsse. In unsere dicken Packtaschen rasselten gierige Bleiplomben[3] hinein … Bis ich mit dem Messer die Rückwand des Zeltes aufschlitzte, mich ins Freie schob und im Mondlicht fünf Kugeln in das Gestrüpp sandte.

Wie Schatten sprengten zwei Reiter nach Südwest davon, verschwanden …

– Das war unsere erste Begegnung mit Nachbar Doktor Tod.

 

2. Kapitel.

Die Frau ohne Namen.

Kamerad Vinzent hat die zweite Nachtwache übernommen. Er geht draußen auf und ab, ich habe ihm genaue Verhaltungsmaßregeln erteilt, unser Zelt steht jetzt auf einem Hügel, der dünn bewaldet ist, und die Bäume bieten genügend Schutz.

Vinzent ist nicht mein Bruder Kamo, ist nicht jener in der kanadischen Wildnis aufgewachsene Halbindianer Taskamore, der nun dort im Süden in seinem Steingrabe neben dem Höllenpfuhl den Schlaf der Ewigkeit schläft.

Vinzent ist Städter, Mann der Halbkultur eines Landes, das auf eine wildbewegte Geschichte zurückblickt: Yucatan!

Der Name besagt dem Durchschnittssterblichen gar nichts.

Yucatan?!

Vielleicht hat dieser oder jener einmal in den Zeitungen gelesen, daß man mit Flugzeugen versuchte, die südlichen, unerforschten Teile der Halbinsel zu erkunden.

Vielleicht nicht einmal das.

Yucatan?!

… Halbinsel in Rechteckgestalt zwischen dem Golf von Campeche und dem Golf von Honduras. 175 000 Quadratkilometer groß. Im Süden in die Republik Guatemala übergehend, wo eine nie vermessene, nie genau festgelegte Grenze schnurgerade von Ost nach West verläuft, – schnurgerade, weil kein Mensch jene Wälder durchdringen kann.

Yucatan?!

Mexikanisches Gebiet … Ein Zipfel nur englische Kolonie, Britisch-Honduras genannt. Im Norden und an der Küste Eisenbahnen, Städte, – eine Scheinkultur!

Im Süden: Terra inkognita!

Es ist so.

Im Norden wasserarmer Boden, viele Höhlen, Bitterseen, unterirdische Flüsse, Tümpel, Sümpfe, trotzdem der einzige zivilisierte Landstrich. Gestrüpp, Buschwerk, wenige Wälder, und doch uralte Kulturstätten der Mayas, die heute in verwilderten Gruppen in Einöden hausen oder in den Städten Frondienste leisten. Als 1506 Diaz de Solis, auch einer der großen spanischen Abenteurer, die Halbinsel betrat, stand das Maya-Reich[4] in voller Blüte[5]. Wundervolle Bauten beweisen noch heute die hohe Kultur dieses fleißigen Volkes, dem es infolge der Invasion europäischer Beglücker genau so erging wie den Azteken in Mexiko: Goldgier schuf Blutbäder, 1541 wurde die Hauptstadt Mani des letzten Maya-Königs erobert, der Niedergang begann, die Indianer verarmten, wurden Sklaven der weißen Unterdrücker, – – Europa hatte abermals ein Denkmal der Schande sich gesetzt!

– Und all das ging mir in wirren Bildern durch den Sinn, während ich noch im Zelte lag und die Gedanken über Vergangenheit und Gegenwart hemmungslos sich vermengten.

Die Gegenwart war die Wildnis und Vinzents Lebenstragödie.

Ein Weib, Juanita, und Smaragde …

Edelsteine und Frauen gehören zusammen, raunen die Dichter in wohlgefeilten Sätzen.

Smaragde?!

Grün, giftig grün, funkelnd-grün …

Vinzents Vater und einziges Kind waren ausgezogen, das Tal der grünen Steine zu finden, und waren nicht zurückgekehrt, waren verschollen in den unendlichen Wäldern im Süden.

Und wir?!

Wir suchten Allan Tott.

Fanden Allan Tott.

Hier …! Auf unserer Fährte. Seine Visitenkarte hatte er zurückgelassen: Zehn Löcher im Zelt! Nachbar Doktor Tod hatte uns mit der Knochenhand drohend zugewinkt. Ich lasse mich durch falsche Winke nicht stören … Wir finden dich, Allan Tott! Pferde hattet ihr … Spuren werden wir lesen, und …

„Abelsen!!“

Vinzent hat die Zeltbahn gelüftet.

„Abelsen!!“

Im Nu bin ich draußen.

„Was gibt es?!“

Mildes Mondlicht liegt über der Waldblöße. Unser Hügel ist eine Insel zwischen Gestrüpp und Gräsern und grellbunten Blumenfeldern. Die knorrigen Stämme der immergrünen Eichen und die glatten Säulen der Kautschukbäume werfen lange Schattenstreifen. Der Mond steht tief. Ein paar giftige Wolfsmilchstämme, die hier baumartig auftreten, erfüllen die Luft mit dem widerlich süßen Duft ihrer Blüten. Drüben am Urwaldrande lärmt eine Herde breitnasiger Affen, die ein Puma aus ihrem altgewohnten Schlafplatz, der Krone eines Mahagonibaumes, aufgescheucht hat.

„Was gibt es?!“

Doktor Kumanogoto hält meinen Arm umklammert und deutet mit der anderen Hand auf einen dunklen Fleck mitten in einem prächtigen Orchideenfelde.

„Ein Mensch!“, flüstert er rauh. „Ein Feind!“

Ich blicke genauer hin.

Vinzent Kumanogoto ist Kind der Halbkultur Meridas. Ist kein Waldläufer, kein Pfadfinder, kein Abenteurer.

Noch ist er es nicht. – Er war Arzt, glücklicher Gatte, glücklicher Vater, dann Sträfling, Steward, und – – jetzt?! Gefährte eines Abenteurers, ein Lernender, ein eifriger Schüler, der noch vorhin zu mir gesagt hat: „Vergessen Sie nicht, Abelsen, daß ich Karibe bin, Indianer, daß der Doktortitel nur äußerer Behang ohne Wert, daß Sie nur in mir die Instinkte meiner Ahnen zu wecken brauchen!“

Ich werde sie wecken. Und hier bietet sich abermals Gelegenheit dazu.

Der Eichenstamm schützt uns, wir befinden uns im Schatten, – der Mann da drüben in den Orchideen verfügt über keine Deckung.

„Strengen Sie Ihre Augen an, Goto!“, flüstere ich eindringlich. „Was sehen Sie?!“

Der Name Vinzent gefällt mir nicht, und Kumanogoto ist mir zu lang. Es soll bei Goto bleiben. Einen Bruder Kamo besaß ich. Nun möchte ich mir einen Gefährten Goto erziehen.

„Was sehen Sie?!“

Die kleine, gedrungene Gestalt des ehemaligen Arztes beugt sich etwas vor.

„Nicht doch!!“, warne ich. „Stets in Deckung bleiben!“

Er schiebt sich enger an den Stamm, seine Hand nestelt am Gürtel, und das in Truxillo gekaufte Fernglas blinkt mit seinen Linsen im Halbdunkel und wird langsam gehoben.

Ein Griff, – – und eine ernste Mahnung, gleichfalls nur geflüstert: „Falsch, Goto, grundfalsch! Einzelne Streifen Mondlicht fallen durch die Zweige, die Linsen leuchten, und ehe Sie sich es bewußt werden, haben Sie eine Kugel im Schädel! Hinknien, und …“

Mein gutgemeintes Kolleg über Urwaldkniffe wird durch eine melodische Stimme gestört. Klar und friedlich dringt aus dem Orchideenteppich der Anruf zu uns:

„Hallo, – – keine Gefahr!! Gut Freund!“

Englische Worte …

Eine Frau.

Und doch traue ich dem Frieden nicht recht. Meine geübten Augen hatten schon vorhin erkannt, daß der dunkle Fleck im Orchideenfelde einen Riß hatte. Zwei Menschen liegen dort. Die ganzen Umstände sind nicht dazu angetan, selbst den lockendsten Sirenentönen irgendwie friedliche Absichten zuzumuten.

„Ein Weib!“, raunte Doktor Goto erleichtert.

„Und ein Mann!“, ergänzte ich bissig. „Weiber, die sich hier in den Urwäldern umhertreiben, dürften anrüchig sein. Kennen Sie Allan Totts Gesellschaft?! – Nein! Sie kennen nur seinen Diener Winston Charb und seinen Knochenmann im Arztkittel. Mißtrauen ist allzeit besser als Vertrauensseligkeit.“

Und wenig freundlich klingt meine Antwort zu den beiden hinüber: „Kommt näher, aber ohne Waffen! Vorhin gingen hier ein paar Büchsen los und bereiteten allerlei Unfug. Wir wünschen keine Wiederholung!“

„Wir auch nicht!“, meldete die Frau. „Wer sind Sie?“

Etwas naiv, diese Frage, – meine Erwiderung fällt auch dementsprechend aus.

„Wenn Sie sich nicht sofort beide erheben und die Arme hochrecken, dürfte die gegenseitige Vorstellung für alle Zeit verhindert werden. Also bitte! Sie haben hier keine Grünlinge vor sich!“

Doktor Goto fällt mir in den Arm, als ich die Büchse schußfertig mache. „Sie wollen doch nicht etwa …?! Bedenken Sie, – – eine Frau, der Stimme und Aussprache nach sogar eine Dame! Ich bitte Sie!!“

Er hätte sich diese Kavaliermahnung sparen können.

Drüben richten sich zwei Gestalten auf, und die eine, schlank und geschmeidig, naht mit erhobenen Händen, bleibt am Fuße des Hügels stehen und sagt ohne jede Gereiztheit:

„Ich begreife Ihre Vorsicht durchaus. Aber mein Führer und ich sind wirklich durchaus harmlose Wildnisbummler … Die Schüsse lockten uns hierher.“

Die Frau steht keine zehn Meter entfernt im vollen Mondlicht. Unter dem breitrandigen, dunkel gefärbten Panama, dessen Krempe vorn hochgeschlagen ist, erblicke ich zu meinem Erstaunen ein schmales, von hellem Blondhaar umrahmtes Gesicht von pikanter Eigenart. Eine kühne, messerscharfe Nase liegt über einem kleinen, üppigen Munde und einer energisch gebauten Kinnpartie. Die Augen sind tief umschattet, die Augenbrauen gewölbt und dicht, und was von der Stirn sichtbar, deutet gleichfalls auf einen sehr tatkräftigen Charakter hin.

Die Frau trägt Sportanzug wie wir, Wickelgamaschen, Ledergurt, zwei Pistolen. Über dem Rücken hängt eine kurze Büchse, wahrscheinlich System Winchester.

Immer noch ist in mir das berechtigte Mißtrauen wach.

„Doktor, beobachten Sie die Lichtung nach Osten zu“, flüstere ich hastig. „Geben Sie besonders auf Marrys Benehmen acht. Marry hat mehr Verstand als ein Zirkuspudel.“

Wer Marry ist?!

Mein Maultier, meine „Mula“, meine Maultierstute mit den weißen Ohrenspitzen. Am Höllenpfad war es, als ich Marry vor den Zähnen des Jaguars bewahrte. Marry war herrenlos. Ihr neuer Herr hat ihren Wert schnell erkannt. Eine Schönheit ist dieser Eselbastard gewiß nicht, der Schädel ist viel zu groß, die Ohren sind noch größer, aber einen schneidigen, sanften Galopp liefert Marry wie der edelste Renner.

Wir lieben uns. –

Doktor Goto verschwindet von meiner Seite und ich antworte der Frau mit der landläufigen Frage:

„Wer sind Sie, Miß?“

„Wildnisbummlerin“, erwidert die melodische Stimme belustigt. „Forscherin, Nichtstuerin, Millionärin, die das Treiben in den Kulturzentren satt hat, – – also Abenteurerin vielleicht, in jedem Falle für Sie und Ihren Gefährten ganz ungefährlich und harmlos, es sei denn, daß Sie irgendwie zu denen gehören, die im trüben fischen und der Justiz eilends den Rücken kehrten, – – was ich jedoch nicht annehme, soweit ich die Dinge beurteilen kann. Sollten Sie auf meinen Namen Wert legen, nennen Sie mich meinetwegen Miß Ghost (Geist, Gespenst), – – das paßt leidlich zu mir. Also Heliante Ghost, Mister, wenn es beliebt …“

Die Frau hatte eine eigentümliche Art, mich mit einer gewissen ironischen Überlegenheit abzutun. Ich fühlte, daß sie daran gewöhnt war, anderen ihren Willen aufzuzwingen. Die Spielerei mit dem Ausdruck Ghost – also etwa Miß Gespenst – war hier entschieden stark abwegig.

Ich diente ihr mit gleicher Münze.

„Miß Ghost, – mein Name ist Diabolo, und mein Gefährte heißt dementsprechend …“

„Doktor Kumanogoto“, vollendete sie ihrerseits mit erhobener Stimme. „Es ist doch so, Mister? Leider hatten wir nicht genügend Zeit, in dem Hafennest Ihre Bekanntschaft zu machen …“

Mein Schweigen verriet zu viel. Ich war mehr als überrascht, daß diese eigenartige Dame Doktor Vinzents Namen kannte. Anderseits verstärkte dies nur meinen Argwohn.

„… Also sind Sie beide wirklich Doktor Kumanogoto und Abelsen, – – freut mich“, erklärte Heliante Ghost und ließ die emporgereckten Arme sinken. „All meine Zweifel sind getilgt. Mister Abelsen, ich biete Ihnen ein ehrliches Bündnis an. Sie beide wollen offenbar das unerforschte Yucatan besuchen, ich will dasselbe, halten wir also treu zusammen, es wird Sie nicht gereuen …“

Ihr Ton hatte sich gänzlich geändert.

Es gibt Menschen, deren Stimme dem fahrenden Ritter und Seelenkenner alles besagt.

Heliante Ghost besaß eine Stimme, die ihr Herz wiederspiegelte.

Mochte auch noch so vieles ungeklärt sein, was ihre Person betraf: Ich vertraute ihr, und als sie dann im Mondlicht dicht vor mir stand, als sie mich prüfend musterte und mir schließlich freimütig die Hand hinreichte, lagen unsere Finger eine Weile fest ineinander.

„Also so sieht Abelsen aus!“, sagte sie sehr ernst. „So …!! In Truxillo und Merida hatten die „Weltblätter“ aus Ihnen einen fabelhaften Berserker gemacht, – – was diese Journalisten doch so alles zusammenschmieren!!“

Unsere Hände lösten sich, und Heliante Ghost rief ihren Führer herbei.

„Turf, die Sache ist in Ordnung … Treten Sie näher. Es sind der Doktor und Abelsen, und wir können froh sein, nun zu vieren gen Süden vorzudringen …“

Eine neue Überraschung: Ich hatte mir Mr. Turf so etwa als eine Art fragwürdigen Ehrenmanns aus Truxillo vorgestellt.

Fred Turf war ein sehniger, wortkarger Engländer von vorbildlicher Gemessenheit. Groß, hager, kühl-vornehmes Gesicht, sehr gewandt, sehr erfahren.

Nur …

Nur – ihm schien es wenig zu behagen, daß Miß Ghost auf unsere Bekanntschaft so großen Wert legte.

Mr. Turf begrüßte mich mit dem knappen Satz:

„Freut mich, Mr. Abelsen … hoffentlich eine Freude ohne Enttäuschungen.“

Das war grob-ehrlich.

„Enttäuschungen können nur von Ihrer Seite kommen“, meinte ich kühl. „Wo haben Sie Ihre Pferde und Gepäck?“

Mr. Turf stelzte wortlos davon. Heliante Ghost, die Frau ohne Namen, sagte leicht verärgert:

„Man muß seine Eigentümlichkeiten mit in Kauf nehmen … Er ist ein Gentleman, und er hat mir lange Zeit bereits in selbstloser Freundschaft gedient.“

Eine halbe Stunde später keilte meine spröde Marry mit den Hinterbeinen aus und versetzte Mr. Turfs elendem Klepper einen gehörigen Hieb. Mit den beiden Gäulen unserer neuen Gefährten war kein Staat zu machen. Mr. Turf hatte sich mit den Viechern gründlich anschmieren lassen.

Es war vier Uhr morgens, als Miß Ghost sich in ihr Zelt zurückzog und ich wieder die Wache übernahm.

Ich ging zu Marry hinüber, streichelte ihr die Schnauze und meinte leise:

„Marry, wenn du reden könntest, würdest du sicherlich dasselbe behaupten, wie ich: Diese blonde Miß und dieser blonde Fred sind ebenfalls hinter Allan Tott her, obwohl sie es ableugnen!“

Marry rieb ihren Kopf an meiner Schulter und wedelte zustimmend mit den Riesenohren.

Dann kam die Morgendämmerung, und die Waldlichtung enthüllte mir ganz allmählich all ihre mannigfachen Schönheiten.

Ich liebe die Wildnis …

Und diese Morgenstunde in dieser farbenfrohen, duftfrohen und tierbelebten Umgebung machte mir das Herz frei und leicht. Ich freute mich auf die unbekannten Gebiete im Süden, auf das sagenhafte Tal der Smaragde und auf die Abrechnung mit Allan Tott.

Das große Abenteuer winkte, und meine Gefährten waren ganz von der Art, in dieses Abenteuer noch mehr Geheimnisvolles hineinzutragen.

Die ersten Sonnenstrahlen glitten über die Orchideenbeete … Die Affen lärmten, die Beutelratten flitzten hin und her, und mit elegantem Schwung schoß ein farbenprächtiger Quesal[6], der Wappenvogel Guatemalas, über die Waldblöße hinweg …

 

3. Kapitel.

Die Tutul-Kakteen.

Ich beobachtete still das Leben und Treiben ringsum und zog daraus meine Schlüsse auf unsere Sicherheit. Es war immerhin damit zu rechnen, daß Allan Tott und sein mir noch unbekannter Genosse sich nicht damit zufrieden geben würden, uns lediglich durch den nächtlichen mißglückten Überfall gewarnt zu haben. So, wie ich den Engländer Tott nach Doktor Vinzents Schilderung beurteilen mußte, handelte es sich um einen Verbrecher ganz großen Stils, um einen jener Vampyre der Menschheit, deren gemeingefährliches Treiben menschlicher Gesetze höhnisch spottet und sich mit einer undurchsichtigen Nebelwand umgibt. Vieles, was Goto nur angedeutet hatte, ließ sich zu erschreckenden Einzelheiten ausspinnen. Da war das Gerippe mit dem Arztmantel, – und schon dies allein feuerte die Phantasie zu tollsten Vermutungen an. Daß Vinzent in jener Schreckensnacht lediglich geglaubt hatte, auch Tott durch seine Schüsse niedergestreckt zu haben, und daß Tott schlauerweise sich zu Boden geworfen und unverletzt davongekommen war, daß schließlich er und Winston Charb mit dem irgendwie bedeutsamen Skelett schleunigst irgendwie entflohen waren, – all das bedurfte keines Beweises mehr. Nur eine Frage blieb ungelöst: Weshalb nahmen die beiden das Gerippe mit sich?! Welchen Wert besaß dieses für Allan Tott?!

Man hätte vielleicht denken können, daß das Skelett für den fragwürdigen Engländer ein pietätvolles Andenken darstellte. Etwa das eines geliebten Weibes.

Aber – paßte eine solche Vermutung zu einem solchen Menschen von Allan Totts unendlicher Niedertracht und Rachsucht?!

Niemals!

Mithin, – worin lag der Wert dieses Nachbar Dr. Tod?! Worin?!

Schon nachts hatte ich diesen rätselvollen Fragen nachgespürt.

Eine befriedigende Antwort?!

Niemand erteilte sie mir.

Und jetzt, wo der junge Tag mit all seiner leuchtenden Schönheit angebrochen war und die bunten Wunderbilder der Wildnis in ihrer freudigen Sprache zu mir redeten, entschwanden aus meinem Geiste allgemach die finsteren Schatten dieser ungelösten Fragen, und mich überkam jene köstliche Frische, die uns Welt und Dinge in freundlicheren Formen zeigt.

Ich wies das zwecklose Grübeln von mir und war nur noch Mann der Tat, Mann klaren Zielbewußtseins.

Ich nahm die Schönheiten der Waldlichtung trunkenen und doch kritischen Auges in mich auf und forschte nach Anzeichen der drohenden Nähe von heimtückischen Schützen.

Daß meine dickköpfige Marry sich so behaglich niedergetan hatte und gemütlich die Beine von sich streckte, war zweifellos ein gutes Zeichen. Daß rundum das Getier der Wildnis ebenso friedvoll den Morgen begrüßte, beruhigte mein Mißtrauen vollends.

Das große, dunkel gefärbte Eichhörnchen Yucatans ist ein sehr scheues, vorsichtiges Geschöpf. Und gerade diese flinken Burschen mit den Fächerschwänzen hatten heute scheinbar hier hochwichtiges Palaver und saßen zu Dutzenden auf den wippenden Ästen der vereinzelten Koniferen.

Nicht anders benahmen sich Affen und Vögel.

Unser Lagerplatz störte sie nicht.

Bis zum Waldrande waren es vom Fuße des Hügels immerhin zweihundert Meter.

Nein – in dem Wald verbarg sich niemand, der uns etwa mit feiger Kugel hätte gefährlich werden können.

Nochmals machte ich die Runde, nochmals überlegte ich mir, ob es ratsam sei, ganz allein die Fährten der beiden Gegner eine Strecke weit zu verfolgen.

Der Lebensimpuls, der Wunsch nach Betätigung gab den Ausschlag.

Ein leiser Hieb gegen Marrys leichten Schenkel genügte … Das Maultier sprang auf, schüttelte sich, ließ sich geduldig satteln, und im Schritt wandte ich mich gen Südwest. Nur dort zeigte die grüne Riesenmauer der Wildnis eine Lücke, nur dorthin konnten Tott und Winston sich gewandt haben, dort hatte ich sie auch zuletzt als flüchtige Schatten bemerkt.

Ihre Spuren waren selbst für ein unkundiges Auge deutlich erkennbar. Sie ritten Pferde mit abgenutzten Hufeisen, an manchen Stellen des weichen Bodens der Lichtung konnte man sogar an den Fährten nachweisen, daß der eine Gaul den Drehtritt hatte. Die Spur führte zu jener Lücke, und gerade hier hat Mutter Natur sich den Scherz geleistet, in den Urwald eine schmale Bahn sandigen, nur von Kakteen bewachsenen Bodens einzubetten wie einen vernachlässigten Feldweg.

Kaum fünf Meter breit war dieser Sandpfad, war aber vielfach gewunden und erinnerte mit seinen stachligen, fahlgrünen Gewächsen an das Innere Niederkaliforniens.

Auch dort war ich auf eilendem Pferde dahingestürmt, auch dort hatte mir das Geschick gebefreudig so manche wildbewegte Szene beschert.

Meine Marry beschnupperte plötzlich mit tief gesenktem Kopf die Doppelfährte.

Marry hatte Grund dazu.

Neben den Hufeindrücken des Gaules mit dem Drehtritt lagen im Sande dunkle Klümpchen.

Mithin waren meine Schüsse doch nicht fehlgegangen, und die Vermutung lag nahe, daß Winston Charb das schlechtere Pferd mit dem Drehtritt benutzte und daß er es war, der einen gründlichen Denkzettel erhalten.

Wenn das Blut am Bein entlang auf den Boden getropft war, mußte schon eine ganz gehörige Schramme vorhanden sein. Ich riet auf linken Schulterschuß.

Jedenfalls war es nun durchaus verständlich, daß die beiden Banditen, die den Doktor Kumanogoto so eifrig verfolgt hatten, vorläufig auf weitere Scherze bedenklicher Art verzichteten. Allan Tott mochte wohl Mühe genug gehabt haben, den Verwundeten im Sattel zu stützen, wie mir die Fährten keine hundert Meter weiter zeigten.

Hier waren die Gäule dicht nebeneinander im Schritt dahingegangen, und gerade hier öffnete sich ein sandiges Tal, das als Abschluß einen düsteren, felsigen Bergrücken hatte, vor dem es im Morgensonnenglanz wie Silber schimmerte.

Wasser … – ein kleiner See anscheinend.

Ich ließ Marry die Zügel locker, und Miß Marry, gänzlich ausgeruht und voll jungfräulichen Feuers, schnaubte beglückt und sprang zu flinkem Galopp an.

Der sandige Boden glitt unter uns zurück mit erfreulicher Eile, das Tal nahm uns auf, die Talränder zeigten düstere Nadelbäume, der See kam näher und näher, und schon der Gedanke an ein erfrischendes Bad lockte mich mit tausend Freuden.

Der See war ein Blender.

Bittersalzsee, – – die Ufer mit weißgrauen Salzkrusten besagten genug.

Doch anderes tröstet mich.

Da waren in der Rückwand des Tales, in den zumeist kahlen Felsenhügeln drei gewaltige Quellen, die als Gießbäche ihre Wassermengen in den See schickten. Da war als halbes Wunder in einer endlosen schroffen Steinwand ein mächtiges Felsentor, von Wasser umspült, vielleicht eine Grotte, – eine jener zahllosen Grotten, die im Norden Yucatans der Landschaft ihr besonderes Gepräge verleihen.

Der spärliche Baum- und Graswuchs rings um den See, zumeist von riesigen Kakteengebilden durchsetzt, versperrt in keiner Weise die Aussicht.

Urplötzlich stoppte Miß Marry, – – machte einen Satz zur Seite hinter ein Gestrüpp von Magnolien.

„Hallo, – – was soll es, Marry?!“

Ich hütete mich, diese Frage laut zu äußern.

Ich hatte die alte, treue Snidersbüchse schon entsichert.

Marry stand wie ein Baum: Nur ihre Ohren spielten.

Ich glitt aus dem Sattel. Ich wußte Bescheid. Ich kannte Marry. Wir sind bereits aufeinander eingespielt. Unsere Freundschaft begann mit einem toten Jaguar, und Marry besaß Dankbarkeit.

Der Bittersee leuchtete links von mir. Rechts war die sandige Talwand, oben die Wildnis. Und vor mir?!

Etwa Allan Tott?!

Nun, wenn er es war: Abelsen, Schüler eines Coy Cala am Gallegos[7], kennt alle Schliche, mein Lieber!!

Aber – es war unnötig, sich hier irgendwie zu bemühen.

Es wurde eine Überraschung, die tausend Fragen wachrief.

„Morgen, Mr. Abelsen … – Die Kerle sind den Fluß hinabgeschwommen.“

Die Stimme?!

Das war kein anderer, als Fred Turf, der wortkarge Steifleinene, der Freund Heliantes.

Freund?! – Über das Verhältnis zwischen der blonden Frau und diesem noch blonderen, waschechten Briten hatte ich mir so meine besonderen Gedanken gemacht. Sie und ihn umgab irgendein Geheimnis, das beide sorgsam hüteten. In der verflossenen Nacht war wenig Gelegenheit, dieses Dunkel irgendwie zu lichten. Heliante hatte sich sehr bald in ihr kleines Zelt zurückgezogen, und Fred Turf tat dasselbe, als seine Wache vorüber. Jetzt sah ich ihn zum ersten Male bei Tageslicht vor mir.

Ich bin, glaube ich, durch meine Wanderjahre ein leidlicher Menschenkenner geworden. Dieses hagere, kerngesunde Gesicht mit den grauen, stillen Augen enthielt zahllose Widersprüche, die sich kaum vereinigen ließen.

Es war das Gesicht eines ernsten, fast melancholischen Gelehrten, es war zugleich das eines kraftvollen, verschlossenen Mannes.

„Wie kommen Sie hierher?!“, meinte ich nach flüchtigem Händedruck.

Meine Frage war berechtigt. Turf hatte sich von unserem Hügellager so lautlos entfernt, daß nicht einmal meine übergroße Wachsamkeit es bemerkt hatte.

„Zu Fuß, – und in der Absicht, Ihnen die Arbeit des Spurensuchens abzunehmen“, erwiderte er gleichgültig. „Sie mögen mich ja bisher als Neuling der Wildnis eingeschätzt haben. Das trifft nicht ganz zu. Wenn wir die Erdenwinkel vergleichen wollen, die Sie und ich kennen, würde ich zweifellos besser dabei abschneiden. Meine Wege werden mir sozusagen vorgezeichnet – durch Leute, die nun einmal die Neigung besitzen, andere in Atem zu halten.“ Zum ersten Mal spielte da um seinen harten Mund ein Anflug eines fast zynischen Lächelns. Oder – irrte ich mich?! Enthielt dieses Lächeln doch andere Nüancen?!

Manfred Turf lehnte an einem verkrüppelten Wolfsmilchbaume, während er dieses in seiner einfachen Art erklärte. Im rechten Arm hing ihm die Winchesterbüchse, die linke Hand zerpflückte eine Blüte des giftigen Gewächses.

Ohne Übergang fügte er hinzu: „Sie sahen die Blutstropfen. Der Verwundete ist der Diener Charb. Schade, daß Ihre Kugel nicht eine Handbreit weiter rechts saß. Es ist angenehmer, für einen Schurken ein Erdloch zu buddeln, als ihm auf einem unterirdischen Flusse zu folgen. – Da, schauen Sie die Felswand und den Grotteneingang an …! Keine Grotte, – das Tor eines Flusses, und wo der wieder zu Tage tritt, bleibt vorläufig offene Frage. Ich war bereits in der Grotte, – dort liegt das Bambusfloß … Ich fand es hier. Allan Tott und Charb benutzten ein Zinkboot, und ihre Pferde wateten hinterdrein. – Wo bekamen die Kerle das Zinkboot her?! Sollte hier einst eine jener zahlreichen kleinen Expeditionen jämmerlich umgekommen sein, die hartnäckig den Süden Yucatans zu erforschen suchten?! Es scheint fast so …“

Er winkte mir, schritt voran, und gleich darauf standen wir vor dem östlichen Grottenrand.

In einer Sandmulde, von Kakteen umgeben, lagen hier Knochenreste, Kleiderfetzen, verrostete Kochgeschirre, zerbrochene Zeltstangen und vieles andere.

„Nun?!“, meinte Turf gedehnt. „Expedition oder nicht?!“

Sein derber Stiefel stieß gegen einen verbeulten Kasten.

„Bitte, – Filmkamera, Abelsen!! Und dort, – das sind allerlei Instrumente … Also doch wohl eine Expedition! Die Frage ist, wie fanden die Leute hier den Tod?! Durch Jaguare, durch Giftschlangen?!“

Etwas wie Spott färbte seine monotone Stimme.

Ich blickte ringsum. Ich sah, daß auch Teile menschlicher Gebeine umherlagen, und meine Augen glitten weiter zu den seltsamen Kakteen, – eine Art Kakteen, die mir fremd.

Manfred Turf nickte. „Ja – die taten es, Abelsen! – Bücherweisheit bleibt Schall und Rauch für den, der es nicht versteht, die trockene Gelehrsamkeit mit eigenen Gedanken zu umkränzen. Das beste Werk über Yucatan schrieb bisher der Franzose Charnay. Sein Buch „Die alten Städte der neuen Welt“ behandelt zwar in der Hauptsache die Maya-Ruinen im Norden, aber was Charnay in seinen Randbemerkungen über Flora und Fauna Yucatans bringt, ist für den aufmerksamen Leser eine unerschöpfliche Fundgrube seltsamster Dinge, und gerade für derartiges besitze ich ein gutes Gedächtnis. Meine Phantasie modelte mir Charnays trockene Sachlichkeit zu lebensvollen Bildern um, und so war ich denn im Geiste mit Zeuge jener von den Maya-Königen befohlenen Ausrottung der giftigen Tutul-Kaktee, die man heute nur noch ganz selten antrifft. Betrachten Sie einmal diese verschlungenen, grünen gurkenartigen Gebilde, die man mit erstarrten, verstümmelten Schlangen vergleichen könnte. Diese Schlangenäste, zum Teil armdick, besitzen ganz feine Haarstacheln. – Bitte, – nehmen Sie sich in acht, jagen Sie auch Ihre Marry weiter zurück … – So, – und nun werden Sie an jeder Stachelspitze ein winziges Tröpfchen bemerken – wie Milch. Das ist der „Tutul“, der eigentliche Tutul, – Charnay hat das Zeug mit „Teufelsschoß“ übersetzt. Den Maya-Sagen nach waren ihre Könige diesem „Teufelsschoße“ entsprungen, also Kinder des Teufels, – was nichts Entwürdigendes besagen sollte, denn die ganzen Maya-Gottheiten vereinigten in sich das gute und böse Prinzip, und da die Tutul-Kaktee von jeher so ungemein gefürchtet wurde, reihte man sie natürlich mit in den fragwürdigen Götterhimmel ein. Übrigens nannte sich auch der letzte Maya-König, den die Spanier bis aufs Hemd ausgeplündert hatten, Tutul Xiu. Was diese Giftkakteen betrifft, so behauptet Charnay, daß ein einziger dieser giftigen Stacheln bei jedem Menschen Tollwut erzeugt, worunter also eine tödliche Erkrankung mit Tobsuchtsanfällen zu verstehen sein dürfte. – Nicht wahr, ganz interessant?! Nun wollen wir Charnays Behauptungen nicht an uns selbst nachprüfen, sondern uns damit begnügen, daß tatsächlich ein Gesetz der Maya-Könige die Vernichtung dieser Kakteen anbefahl und daß tausende von Mayas nach jeder Regenzeit auf Tutul-Vernichtung auszogen. – Diese Expedition hier starb durch „Tutul“, behaupte ich. Und damit das Teufelszeug rund um diese Sandmulde herum kein Unheil anrichtet, wollen wir hier ein Feuer entfachen, dem die giftigen Stauden restlos zum Opfer verfallen. Helfen Sie mir, – Sie sehen, ich habe bereits Strauchwerk gesammelt, ich …“

Ein heiserer Schrei in allernächster Nähe ließ uns erschreckt emporfahren.

Ein Mensch brüllte in röchelnden Lauten, ein Mensch richtete sich keine fünfzehn Schritt von uns aus dem Giftdickicht empor und zeigte uns sein grauenvoll verschwollenes Gesicht.

Nichts Menschliches hatte dieses Gesicht mehr an sich …

Es war ein blauroter Fleischklumpen mit engen Sehschlitzen und Lippen wie Ziegeneuter.

Entsetzen packte mich … Ich fühlte, daß ich mich verfärbte, ich fühlte, daß mir das Blut aus dem Kopfe wich …

Manfred Turf hatte die starken Oberzähne so fest in die Lippe gepreßt, daß das Blut heraussprang. Auch er war grau wie Asche.

Der Unglückliche schwankte kraftlos hin und her … Ich sah, daß seine linke Schulter zerschossen, daß sein derber Leinenrock steif von getrocknetem Blut.

Es konnte nur Winston Charb sein.

Und dann suchte der Ärmste, dem aus den widerlich gequollenen Lippen der Schaum hervordrang, sich aus den Tutul-Kakteen herauszuarbeiten. Er fuchtelte mit den Armen umher, – – seine Hände waren nur noch monströse Fleischklumpen …

Wie eine Vision zog da durch mein vor Mitleid und Entsetzen fieberndes Hirn die Erinnerung an eine der abschreckendsten Erzählungen von Hans Heinz Ewers aus seinem Buche „Das Grauen“. Jene Erzählung, in der eine kleine Europäerin auf San Domingo zum ersten Male neben der Steinbrücke die mit Elephantiasis[8] und Aussatz behafteten Bettler wie Fabelwesen liegen sieht und darüber in kindliches Entzücken gerät.

So wirkte hier auch Winston Charb: Als Fabelwesen!! Das Gesicht um das Doppelte vergrößert, die Hände wie die eines Giganten, – – und dann … brach der Ärmste aufheulend wieder zusammen, rollte vorwärts, rollte in die sandige Mulde, stierte uns unter wilden Zuckungen aus engen Sehschlitzen flehend an und brüllte die ersten verständlichen Worte:

„Habt Erbarmen, – – tötet mich!!“

– So manches widerfuhr[9] mir in so mancher entlegenen Wildnis … Nie habe ich dem hilflosen Feinde das reinste der menschlichen Empfindungen verwehrt, das Mitleid.

Hier war mit solchem Mitleid allein nichts getan. Alles Mitgefühl bleibt selbstsüchtiger Selbstbetrug, wenn es sich nicht zu schneller Hilfeleistung wandelt.

Ich brauchte Manfred Turf nur flüchtig anzusehen: Wir verstanden uns!

Und in diesem Falle war ich es, der den einzigen Weg fand, die Qualen dieses Sterbenden zu lindern. Ich riß Marry die Satteldecke herab, und breitete sie auf dem Sande aus, wir schoben Winston Charb auf die Decke, packten deren Zipfel und liefen zum See hinab, wateten in das klare Wasser, ließen den Stöhnenden in die kühle Flut gleiten, tauchten auch seinen Kopf mehrmals ein und legten ihn zuletzt so, daß das Wasser ihn bis zum Kinn bespülte.

Ein langer, tiefer Seufzer bewies uns, wie gut ihm dieses Bad tat. Trotzdem wollte ich mich hiermit nicht allein zufrieden geben.

Vinzent Kumanogoto als Arzt konnte das entfliehende Leben doch vielleicht noch im Körper bannen mit seiner ärztlichen Kunst.

„Ich hole den Doktor“, erklärte ich kurz. „Wir führen eine kleine Reiseapotheke mit uns … Warten Sie hier, Turf … Marry soll zeigen, daß sie galoppieren kann.“

Miß Marry stand zwischen Gestrüpp, den dicken Schädel nach Norden gerichtet, ihre Riesenohren spielten, ihr Schwanz pendelte, und diese Äußerungen freudigster Stimmung konnten lediglich dem anderen Maultier gelten.

Es war so.

Mit hochbepackten Tieren kamen da Heliante Ghost und Vinzent aus dem sandigen Tale hervor, waren in wenigen Minuten bei uns, und in noch kürzerer Zeit hatte Doktor Goto dem Leidenden ein paar aufgelöste Tabletten eingeflößt, während hinter uns Heliante und Turf die dämonischen Tutul-Kakteen mit Feuer austilgten. In der windstillen Luft stieg der beizende Qualm der sterbenden Giftgewächse in schwarzen Säulen kerzengerade in die Höhe, breitete sich hoch droben aus und nahm die ungefähren Umrisse einer gewaltigen Palme an. Die Stauden knallten und prasselten, und auch ich beteiligte mich dann an diesem Vernichtungswerk, auch ich suchte die Umgebung nach frischen Schößlingen der eklen Pflanze ab, neue Qualmfäden schwebten empor, und diese Arbeit vollführten wir unbewußt mit einem Eifer, als ob wir dadurch den Schwerkranken retten könnten.

Daß tatsächlich in uns dreien, die wir hier wie einst das Maya-Volk dem Tutul zu Leibe gingen, die gleiche abergläubische Vorstellung lebte, erfuhr ich aus einer gelegentlichen Bemerkung Manfred Turfs, als ich mit einem Arm voll neuer Koniferenäste angelaufen kam.

„Abelsen“, rief er atemlos und warf das harzreiche Brennmaterial in die Glut, „sobald hier die letzte Tutul-Staude in Asche zerfällt, wird auch Charb in wohltuenden Schlummer verfallen …, – und genesen und reden“, fügte er noch eifriger hinzu. „Ich will, daß er spricht …! Für mich hängt sehr viel davon ab, sehr viel …!“

Ich kannte ihn kaum wieder.

Seine kühle Gemessenheit war wie weggewischt. Der ganze Mann schien mir völlig verwandelt. Dicht vor uns wanden sich die graugrünen, geringelten, verschlungenen Giftleiber der Tutuls inmitten der knatternden Flammen wie lebende Geschöpfe, platzten infolge der Hitze und verbreiteten einen Gestank, der an den Geruch der häßlichen Aaspflanzen der Tropen erinnerte.

Heliante Ghost, Frau ohne Namen, trat zu uns und strich das schweißfeuchte hellblonde Haar aus der Stirn.

„Der Doktor meint, wir werden ihn am Leben erhalten können“, sagte sie flüsternd und mit einer Erregung, die der Fred Turfs in allen Einzelheiten glich. „Und wenn er lebt, dann …“, – doch den Satz beendete sie nicht, tauschte nur mit Turf einen langen Blick aus und rührte mit einem Bambusstecken in der Glut herum.

So starben hier im Tale des unterirdischen Flusses die Teufelsgewächse.

Und abends – wir hatten die Zelte längst wieder errichtet – erklärte Freund Goto mit aller Zuversicht, daß Winston Charb gerettet sei.

Wir nahmen ihn mit in unser Zelt, wir lösten einander in der Nacht ab, die nassen Umschläge zu erneuern, und gegen Morgen, als ich die Wache hatte, ging die Schwellung der Hände und Füße so rasch zurück, daß mir dies beängstigend vorkam. Ich weckte Goto. Er fühlte Charb den Puls, schüttelte unzufrieden den Kopf, suchte die Kampferspritze hervor und gab dem still auf seinem Lager Ruhenden eine Injektion.

Sie half nur für kurze Zeit.

Wir merkten, daß es mit Charb zu Ende ging. Ein einziges Mal öffnete er noch den Mund, schaute Goto mit vollem Bewußtsein an und wollte sprechen.

Wollte …

Ein Röcheln wurde es nur …

Und dann hob sich Winston Charbs Brust zu einem allerletzten Atemzuge.

Er war tot.

Vinzent Goto streifte ihm das Hemd zurück und wies auf eine Schußwunde unterhalb der Rippen.

„Abelsen, das ist nicht Ihre Kugel! Die Kugel feuerte Allan Tott ab … Daran starb der arme Bursche …“

Im Zwielicht der Morgendämmerung schob sich Fred Turf in unser Zelt.

„Tot – etwa tot?!“, fragte er ebenso mitleidig wie enttäuscht. „Oh, das wird Heliante sehr schmerzlich berühren – sehr …“ Er machte eine Pause, zögerte, fügte schließlich hinzu:

„Haben Sie irgendwelche Papiere bei ihm gefunden? Sie werden ja durchgeweicht sein, aber vielleicht …“

Goto und ich schauten Turf so unwillig an, daß er mitten im Satz verstummte.

Er kniete noch in dem engen Zelteingang, aber seine Züge waren deutlich zu erkennen. Das Verschlossene, Melancholische darin trat wieder deutlicher hervor. Nach einigen Sekunden peinlichen Schweigens sagte er seltsam farblos:

„Der Tote hieß Winston Turf, nicht Winston Charb, und war mein jüngerer Bruder.“

Doktor Goto konnte eine Bewegung des Staunens nicht unterdrücken. „Ihr … Bruder, Turf?! Wirklich Ihr Bruder?! Dann hat dieser Teufel den Ärmsten irgendwie sich untertänig gemacht …“

Manfred Turf nickte nur.

Wir machten ihm Platz, verließen das Zelt. Er allein hielt Totenwache bei diesem Gescheiterten, er allein hätte uns so manche Aufklärung geben können.

Er – – schwieg.

Als die Sonne über den Ostrand der Talwälder hinweglugte und über den stillen Bittersee gleißende Silberbahn streute, begruben wir Winston Turf zwischen ein paar Koniferen.

Heliante Ghost stand still dabei und hatte in dem kühnen Gesicht einen Zug tiefsten Schmerzes und um den Mund die harten Falten eines grausamen Entschlusses.

Ich ahnte, wem das stumme Gelöbnis drohte, das diese Frau und ihr Gefährte hier über dem Grabe durch einen Händedruck besiegelten.

Allan Tott galt es!

Was mochte dieser Mensch wohl in England verbrochen haben, daß ihm dieses ungewöhnliche Paar so hartnäckig auf den Fersen geblieben?! Einigen Äußerungen Turfs hatte ich es entnommen, daß die beiden den halben Erdball nach Allan Tott abgesucht hatten.

Was hatte er verbrochen?!

Und – wer war Manfred Turf? Wer war Heliante Ghost?! –

… Vinzent und ich hatten das Paar rücksichtsvoll an dem frisch aufgeschütteten Hügel zurückgelassen. Wir wuschen am Seeufer unsere Handspaten sauber und sprachen ganz leise über all diese Fragen. Goto meinte schließlich, es hätte wenig Zweck, Dingen nachzuforschen, die uns im Grunde nichts angingen.

Ich pflichtete ihm bei …

Und doch?!

Irgend etwas sträubte sich in mir gegen die Zumutung, Heliante und Turf als wahre Kameraden anzuerkennen. Die Offenheit fehlte zwischen uns, und gerade hier, so abseits aller Kultur inmitten der Urwälder Yucatans, hätte ich mir Gefährten gewünscht, die auch uns restlos Vertrauen schenkten. Sie wußten alles über uns. Und wir?!

Nichts, – so gut wie nichts …! – Miß Ghost? Was sollte das?! Weshalb diese Geheimnistuerei mit einem Namen?!

Goto richtete sich auf, trocknete den Spaten mit Sand und Gras und sagte, als ob er meine Gedanken erraten hätte:

„Ob Heliante etwa … Manfred Turfs Schwägerin ist?! – Abelsen, sahen Sie vorhin die Tränen in ihren Augen? Sie drängte sie nur gewaltsam zurück … Möglich ist alles …“

Mein Blick flog über den stillen See hin.

Ein paar goldrote Schmetterlinge haschten einander über dem im Sonnenlicht gleißenden Spiegel.

„Schwägerin?!“, meinte ich zweifelnd. „Weshalb gerade das?! Weshalb sollte Winston Turf als Gatte einer so reizvollen, reichen Frau einem Verbrecher gefolgt sein und sie verlassen haben?!“

Goto erwiderte[10] nur: „Es war ein flüchtiger Einfall meinerseits … Ich jedenfalls hätte ein Weib wie Heliante auf Händen getragen … Sie ist ein guter Mensch, Abelsen, und …“

Ein Zuruf Fred Turfs beendete unser tastendes Gespräch.

Es galt nun, ein Floß derart herzustellen, daß wir damit dem unterirdischen Flusse folgen konnten.

Um die Mittagszeit waren alle Vorbereitungen beendet.

 

4. Kapitel.

Zwölf Stunden im Finstern.

… Was Abelsen ausziehen kann, hängt dort auf den Büschen zum Trocknen.

Im Adamskostüm sitze ich vor den durchnäßten Teilen meiner Habe und wundere mich, daß ich überhaupt noch lebe.

Und daß Miß Marry noch lebt.

Sie ist wie ich eine Katzennatur, diese Miß Marry …

Sie schläft.

Ganz lang liegt sie im Schatten des mächtigen Mahagonibaumes, alle viere von sich gestreckt, atmet ruhig und dankt vielleicht im Traum ihrem fürsorglichen Herrn, der sie so dicht mit Kampferbaumzweigen zum Schutz gegen die Fliegen bedeckt hat.

Ich wünschte, ich hätte nicht nur für mich und Marry nach dem grauenvollen Sturz in den feuchten Abgrund zu sorgen gehabt. Ich wünschte, die Gefährten wären ebenso glimpflich davongekommen wie wir beide. Die wenigen Hautschrammen und Quetschungen werden wir rasch vergessen. Nicht vergessen werden wir diesen entsetzlichen Abschluß einer Floßfahrt durch die Berge dort im Norden, – Floßfahrt im Finstern, bei spärlichem Harzfackellicht, – abenteuerlich, kühn, wagehalsig, voller Zuversicht begonnen, – – und das Ende?!

Das Ende?!

Marry und ich sind allein.

Um uns her sind Kerkermauern, die die Natur schuf.

Wir sind Gefangene der Wildnis.

Erst hier auf dieser kleinen Lichtung begreife ich so recht, weshalb in letzter Zeit, wie Turf erwähnte, immer aufs neue kühne Flieger den Versuch wagten, den Urwäldern Südyucatans ihre Geheimnisse zu entreißen. Erst hier lernte ich abermals das erkennen, was ich bereits auf La Terrosa in mich aufgenommen: Das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber einem Pflanzenreichtum, der vollkommene Mauern schafft, in die es kein Eindringen gibt!

Diese Waldblöße hier, im Norden begrenzt von einer grünen Steinwand, im übrigen aber umrahmt von einem farbenfrohen Gehege tropischer Waldriesen mit all ihren kleinen Trabanten wie Lianen, Unterholz, Dornen, Ranken, faulenden Baumstümpfen und eisenharten Bambusstauden, mißt kaum hundert Meter Durchmesser. Daß die Wildnis diese Lichtung nicht längst erstürmt und mit ihren grünen Truppen besetzt hat, ist lediglich dem Flusse zu danken, der dort aus dem Felsloch vor langer Zeit wohl seine Bittersalze hier ablagerte und dem Vordringen des Urwaldes dadurch Einhalt gebot.

Nur deshalb.

Und dann verschwand der Fluß in den unbekannten Schlünden der Erde, und zurück blieb ein mit Salzen übersättigter Boden, der fast kahl ist, – bis auf diesen Grasfleck unter dem vereinzelt stehenden Mahagonibaum.

Die Erde der Waldblöße ist grauweiß …

Salze …!

Die Erde ist giftig …

Salze …!

Und sie ist glatt wie eine gewalzte Tenne.

Glatt bis zu den bunten Mauern, bis zu dem steilen Abhang, über den die endlosen Ranken farbenfroher Klettergewächse herabhängen, dicht bei dicht … dicht bei dicht, Ranke an Ranke, oben grün, unten mit Blüten besät, um die viele Millionen von Bienen, großen Hummeln und Schmetterlingen tanzen und sich satt trinken an dem süßen Tropfen der Blumenkelche.

Eine unheimliche, lähmende Hitze lastet über der kleinen Salzsteppe. Es ist vier Uhr nachmittags, die schlimmste Zeit für das schlimme Land Yucatan. Seine heißen Tage sind berüchtigt, an seinen Küsten wütet das Gelbfieber, in seinen unerforschten Teilen dörrt die Sonne das Hirn im Schädel …

Das ist Yucatan.

Und das bescherte mir die Floßfahrt: Einsamkeit, Trauer um die Gefährten, von denen mir Freund Goto bereits so lieb geworden. Vor zwei Stunden spie uns der Rachen dort drüben aus.

Naß, zerschunden …

Miß Marry lahmte, Abelsen lahmte.

Aber wir lebten, lebten, und schleppten uns hier in den Schatten.

Splitternackt sitze ich vor meiner Habe. Miß Marry mag nur durch den Ballen, den sie auf dem Rücken trug und der so gut festgeschnürt war, den Sturz überstanden haben. Der Ballen fing die härtesten Stöße ab, – das sehe ich an meinem Kochgeschirr!

Wir leben.

Wir leben als Gefangene der Wildnis.

Vorhin habe ich einmal die Runde um die kleine Lichtung gemacht. Ich fand nirgends eine Möglichkeit, diesen Kerker zu verlassen. Selbst die Steinwände im Norden sind unerklimmbar.

Weshalb die Gedanken?!

Das alles sind spätere Sorgen, sind Kinder der Zukunft, Sorgenkinder! Wir leben ja. Und ich habe so ziemlich alles gerettet, was ich hier als Robinson auf dieser Salzinsel im Urwald brauchen könnte.

Ich …!!

Und die Gefährten?!

Auch nach ihnen habe ich Ausschau gehalten.

Bin hineingestiegen in das Felsenloch drüben und habe das Toben des stürzenden Flusses aus der Finsternis gehört – höre es bis hierher, – – und begreife noch immer nicht, wie Marry und ich so glücklich dem Unheil entrannen. – Niemand würde es begreifen, der jenes Herabsausen in die Tiefe miterlebte. Es war kein Sturz, – es war ein pfeilschnelles Hinabgleiten, dann ein dumpfes Aufschlagen, – ein paar Minuten halber Bewußtlosigkeit und schließlich ein eiliges Flüchten aus der Nähe des grollenden Flusses, der sich um zwei Opfer betrogen sah.

Splitternackt, – – Hitze, – – und trotzdem habe ich soeben die halb durchweichten Zigarren in der Sonne ausgebreitet und mir eine trockene mit dem stillen Behagen eines Genießers angezündet.

Ich lebe ja …

Und die Wildnis schreckt mich nicht. Sie war mir stets Freundin. Daß sie mich hier festzuhalten versucht, – – nur Geduld, jeder Kerker hat eine Tür, und vorläufig fühle ich mich hier durchaus daheim.

Nicht ein einziger Luftzug weht in diesen Kessel hinab. Nicht ein noch so winziger Hauch bringt Blätter und Gräser zum Wispern. Es wäre totenstill ringsum, wenn nicht die Heere der Insekten und drüben der Fluß ihre Töne zu farbloser Melodie vereinigten.

Ich lebe, – und die Zukunft?! – Gegenwart ist alles. Vergangenheit ist nur Hemmschuh neuer Kraftentfaltung, Zukunftssorgen sind nur dort angebracht, wo die Pflicht für Völker, Volksgemeinschaften und ihre Glieder, die Familie, den Blick in das Kommende zwingen und den Geist befruchten mit Vorbeugungsmaßregeln gegen Elend und Not.

Ich möchte doch noch einmal hinabsteigen in das Felsloch drüben und nochmals mich umtun nach den drei Freunden, die der stürzende Fluß mir raubte. Ich möchte zumindest feststellen, wie es eigentlich geschehen konnte, daß ich und Marry nach den zwölf Stunden auf den gurgelnden Wassern in den Eingeweiden der Erde gerettet wurden. Diese Rettung bleibt ja ein Wunder. Da war in der Finsternis des unterirdischen Wasserfalles irgend ein Hindernis, das uns auffing, gerade uns beide. Und wie ich diesem Rätsel jetzt tastend nachspüre, erwacht jäh die Erinnerung an die letzten Minuten der tollkühnen Floßfahrt durch die Höhlen und Stollen, in denen die Wasser rauschend gen Süden drängten. Wir hatten das Donnern des Katarakts rechtzeitig gehört, hatten auch an der zunehmenden Geschwindigkeit der Strömung gemerkt, daß dort vor uns das Unheil lauerte. Wir hatten das dahinschießende Floß zu bremsen versucht, – – die Strömung war stärker gewesen, die Felswände wie poliert, der Boden ohne jede Erhebung, nirgends fanden die Bambusstangen einen Halt, nirgends fanden die Hufe der Tiere, denen das Wasser stets nur bis zur halben Brusthöhe reichte, einen Riß, eine Zacke, – zwei Pferde, zwei Maultiere, hinten an dem Bambusfloß vertäut, wurden mitgerissen, wateten nicht mehr, waren wie wir Spielball der Launen eines bittersalzigen Gewässers der Tiefe.

Als das Floß urplötzlich sich nach vorn neigte, hatte ich gerade die Tiere losgeschnitten, befand mich also hinten auf den Bambushölzern.

Was dann folgte, waren für mich lediglich verwirrende Eindrücke …

Die Fackeln erloschen …

Die Tiere stießen in ihrer Todesangst schrille Schreie aus …

Ich hatte das Gefühl, als stürzte ich aus einem Flugzeug ins Leere, schließlich kam der harte Aufprall, minutenlange, halbe Bewußtlosigkeit, dann der jähe Lebensdrang, – – ich sah schräg über mir mattes Tageslicht, eine breite Öffnung, ich fühlte neben mir Marrys lebhaft arbeitende Beine, – mit dem Hinterteil lag sie noch im Wasser, ich half ihr, wir kletterten empor, rutschten zurück, kletterten von neuem, – – und hatten die Sonne über uns und um uns die farbigen Mauern der Wildnis.

So war es …

Und da es so gewesen, da nur ein Zufall uns beschirmt hatte, da ich hier auf der Urwaldinsel auch nicht eine einzige Fährte vorhin gefunden, mußte auch Allan Tott mit seinem Zinkboot und seinen beiden Pferden im Grauen der Tiefe zerschellt sein – auch er!

Und – er vor uns!

Mußte!! Es gab in diesem Punkte keine Zweifel, es gab nur traurige Gewißheit: Der unterirdische Fluß hatte den Schuldbeladenen und die Schuldlosen vernichtet!

Ich griff nach dem derben Leinenhemd, den Hosen … Die Sachen waren längst trocken.

Ich streifte sie über, und als ich nach dem breiten Strohhut langte, den nur die Kinnschnur mir erhalten hatte, als ich aufrecht stand und wie von ungefähr über die kahle Tenne blickte, vollzog sich ein Wunder:

Ich warf mich der Länge nach ins Gras, ich wollte nicht bemerkt werden, noch nicht, – ich starrte hinüber, rieb mir die Augen …

War ich eingeschlafen?!

Träumte ich nur?!

Ich war wach.

Genau an der Südwand der Urwaldmauer, wo ein Windbruch sechs geknickte Stämme wie eine Art Zaun eng vereinigt hatte, war dieser Zaun, fünf Meter breit und mindestens ebenso hoch, wie ein Gatter nach hinten aufgeschwungen worden, und in dieser Lücke stand eine schlanke Männergestalt in brauner Kutte und schwarzem Filzhut und schaute prüfend auf die Felsenöffnung, aus der ich und Marry emporgestiegen waren.

Es war ein sehr hochgewachsener Mann, dieser unbewaffnete Mönch, – bartlos, tief gebräunt, trotzdem zweifellos ein Europäer.

Seine Kutte war von einem blendend weißen Strick umgürtet, in den Strick war ein Rosenkranz geschlungen, an den Füßen trug der Mann breite, flache Ledersandalen, in der Linken einen Stecken, ein Bambusrohr.

Irgend etwas mußte wohl seinen Argwohn erregt haben. Er verharrte längere Zeit ohne jede Bewegung, dann ging er leichten, federnden Schrittes bis zur Mitte der kahlen Tenne, und hinter ihm schloß sich das Gatter der Wildnis genau so lautlos, wie es sich vorhin geöffnet hatte.

Nicht allein das unter so geheimnisvollen Umständen erfolgte Auftauchen des Mönchs, sondern auch seine ganze Erscheinung, insbesondere sein kühnes und doch unendlich gütiges Gesicht und der ernste Glanz der dunklen Augen verliehen ihm unbedingt etwas Hoheitsvolles, den Durchschnitt menschlicher Eigenart weit Überragendes.

Fred Turf hatte eine genaue Karte dieses Landstriches Südwest-Yucatans bei sich gehabt, ich hatte die Karte wiederholt in der Hand gehabt und wußte genau, daß im Umkreis endloser Meilen nur Maya-Indianer in kleinen Siedlungen hausten. – Wie kam dieser Pater hier in die Wildnis, wie lange mochte er hier bereits weilen, da nur er doch das praktische Gatter drüben so praktisch und so schlau angelegt haben konnte. Und – was lag hinter diesem Gatter?!

Ich wußte es nicht. Ich würde es wissen, denn plötzlich hatte sich der Mönch wieder in Bewegung gesetzt und kam auf mein Versteck zu. Seinen Augen waren meine Fußspuren nicht entgangen, meine derben Stiefel mit beschlagenen Absätzen hatten auf dem harten, salzgeschwängerten Boden doch Abdrücke hinterlassen, während seine Sandalen wohl kaum irgend eine Fährte hervorriefen.

Ich erhob mich. Gleichzeitig stieß auch Marry ein warnendes Schnauben aus, sprang empor, schüttelte sich die Kampferzweige vom Rücken und spielte mißtrauisch mit den überlangen Ohren.

Der Mönch winkte mir im Näherkommen freundlich zu, nachdem er mich einen Augenblick äußerst scharf gemustert hatte, und, erst drei Schritt vor mir Halt machend, sagte er schlicht und aufrichtig:

„Gott zum Gruß, Sennor … Ich freue mich, daß Sie dem Unheil entronnen sind …“ Er deutete dabei auf das Felsloch. „Ich fürchte, nicht viele hatten bisher das Glück, dem Wasserfall zu entgehen. Hat das ausgespannte Netz Sie aufgefangen?“

„Netz?! – Ich weiß nichts davon, Pater …“

„Pater Menardus“, ergänzte er ebenso freundlich. „Ich glaube doch, daß es das Netz gewesen ist, Sennor … Meine braunen Freunde drüben in der Siedlung haben das Netz auf mein Geheiß aus festen Stricken geknotet … Sie sind zweifellos mit Ihrem Maultier in das Netz geglitten, und es ist mir eine große Genugtuung zu erfahren und mit eigenen Augen zu sehen, daß meine Schutzvorrichtung sich bewährt hat. Ich dachte schon immer daran, daß eines Tages jemand versuchen würde, den unterirdischen Fluß zu erforschen. – Sie sind Forscher, Sennor?“

Ich deutete einladend auf eine natürliche Grasbank.

„Setzen wir uns, Pater Menardus. Ich habe Ihnen sehr viel [zu][11] berichten. Möglich, daß Sie mir über Fragen Auskunft geben können, die bisher …“

Zu meinem Erstaunen schüttelte er sofort so energisch den Kopf, daß ich den begonnenen Satz garnicht beendete.

„Auskunft?! Ich?! Nein Sennor, ich lebe hier seit zehn Jahren freiwillig in der Einsamkeit und suche das an den einst so schändlich behandelten Indianern gutzumachen, was in verflossenen Jahrhunderten an ihnen gesündigt wurde. Ich bin in diesen zehn Jahren nur ein einziges Mal einem Europäer begegnet, und das war vor einem Jahr weiter südlich. Was also sollten Sie von mir erfahren können?!“

Ich hatte längst festgestellt, daß Pater Menardus trotz seines frischen Gesichts die fünfzig längst überschritten haben mußte. Seine Stirn, seine Augenwinkel und seine Mundpartie zeigten zahllose feine Fältchen, das Haar an den Schläfen war silbern, und das feine, kluge Gesicht verriet in jeder Linie die Weisheit mannigfacher Lebenserfahrungen.

Er setzte sich, zog dabei seine vielfach geflickte Kutte vorsichtig empor und enthüllte so die derben Leinenbeinkleider und ein paar noch derbere Strümpfe.

Während er etwas zerstreut den Rosenkranz durch die Finger gleiten ließ, fragte er zartfühlend:

„Waren Sie allein, als Sie sich auf den Fluß und in die Tiefen der Berge hineinwagten? – Ich fürchte, Sie hatten Gefährten …“ Seine Hand streckte sich nach links, wo einer der Nackenschleier Heliante Ghosts über den Büschen hing.

„Eine Frau, Sennor? – – Die Ärmste!!“, fügte er leiser hinzu. –

Es gibt Menschen, die uns auf den ersten Blick so großes Vertrauen einflößen, zu denen wir uns so stark hingezogen fühlen, daß wir nicht zögern, ihnen unser Herz schrankenlos zu öffnen.

So erging es mir mit diesem Einsiedler.

Ich erzählte ihm alles, nannte ihm meinen Namen, weihte ihn kurz in meine Vergangenheit ein und berichtete zum Schluß von Winston Turfs schrecklichem Ende und von dem Verlust meiner drei Gefährten.

Er unterbrach mich gelegentlich mit einer Zwischenbemerkung, enthielt sich jedoch jeder überflüssigen Äußerung.

„Das alles ist sehr sonderbar“, erklärte er dann mit leichtem Kopfschütteln. „Das alles klingt so romantisch wie eine spannende Erzählung … Ein Roman ist es, der jedoch mein Herz weit mehr berührt, als Sie es ahnen. Ich wurde ja in Merida für den Missionsdienst vorbereitet, der Name Kumanogoto ist mir daher nicht fremd, ich kannte Doktor Vinzents Vater und den damaligen Studenten persönlich. Wie hart doch das Schicksal mit den Menschen umspringt, welche schweren Prüfungen gerade den Besten auferlegt werden! Betrachte ich dagegen meine Vergangenheit, so kann ich nicht laut genug die Güte Gottes preisen, der mir von Jugend an den Weg der Duldsamkeit, Bescheidenheit und des innerlichen Glücks vorgeschrieben hatte. Sie werden erstaunt sein, Mr. Abelsen (er sprach das Englische ebenso vollkommen wie das verdorbene Spanisch der meisten mittelamerikanischen Republiken), daß ich von Geburt Deutscher, Badenser, bin, aus einer sehr kinderreichen Familie entsprossen, frühzeitig in einem spanischen Kloster erzogen, frühzeitig in ferne Länder geschickt, – kein Missionar vielleicht, aber ein Mensch, der die Menschen liebt, der aus Liebe Gutes tun wollte, der schließlich mit Erlaubnis seiner Oberen hier in die Wildnis zog und sich mühselig das Vertrauen des kleinen Indianerstammes errang, der drüben nach Süden zu wohnt und dem ich alles bedeute: Häuptling, Arzt, Techniker, Kaufmann und Seelsorger! – Ein reiches Dasein liegt hinter mir, reich durch diese letzten zehn Jahre. Ich sehne mich nicht nach der Welt zurück, nach den Städten, Europäern, ich habe mir meine eigene Welt geschaffen, klein wohl, aber – – ein Paradies!“

Wie Sonnenschein lag es dabei über seinen tatkräftigen Zügen. Seine Augen strahlten mich an, seine Hand mit dem Rosenkranz berührte meine[12] Schulter und blieb dort ruhen.

„Abelsen, es sind nicht Maya-Indianer, zu denen ich jetzt in allerengster Verbundenheit gehöre, es sind seltsamerweise Kariben, die dort drüben, eine versprengte Schar, sich einst niederließen. – Kariben, – und Doktor Goto ist ebenfalls Karibe! In der Tat ein seltsames Zusammentreffen!“

Er schwieg, nahm die Hand von meiner Achsel und ließ die Perlen des Rosenkranzes abermals durch die Finger gleiten. Lange Zeit blieb er stumm und schien über irgend etwas angestrengt nachzudenken.

Er machte fast den Eindruck, als ob er gleichzeitig bete. Als ich ihn wiederholt heimlich von der Seite musterte, bemerkte ich, daß er die Augen geschlossen hielt und seine Züge eigentümlich erstarrt, versteinert erschienen. Dabei bewegten sich seine Lippen unaufhörlich, und mitunter gewann es den Anschein, als ob Pater Menardus im schweren inneren Kampf mit einem wichtigen Entschlusse ringe.

Bis er jäh den vornübergesunkenen Kopf emporhob, mich anblickte und erklärte:

„Wir werden es wagen! Und Gott wird mit uns sein, genau wie Gott mir zur Seite stand, als ich es unternahm, die so überaus fremdenfeindlichen und im Verborgenen lebenden Kariben, die sich selbst Galibi nennen, für mich zu gewinnen.“

„Und was wollen Sie wagen?“, fragte ich etwas unsicher.

„Den Abgrund zu untersuchen, in den der unterirdische Fluß hinabstürzt“, sagte er sehr bestimmt. „Seit langem vermute ich, daß es da mit diesem Stromlauf etwas Besonderes auf sich hat. Gewiß, wir spannten das schon erwähnte feste Netz aus Stricken dort quer durch den Wasserfall, um ein Unglück zu verhüten. Ich jedoch hatte noch einen Nebengedanken dabei, und dieser Gedanke betrifft vielleicht jenen Allan Tott …“

„Wie das?! Ich verstehe Sie nicht ganz, Pater Menardus?“

Er erhob sich. „Kommen Sie … Kommen Sie, – ich will Ihnen von drüben, von jener Felsterrasse aus etwas zeigen … Beeilen wir uns … Ich habe zwei Stunden Weges bis zum Galibi-Dorfe, und ich pflege mit der Ausführung eines Entschlusses nicht zu zaudern.“

Was ich bisher für unmöglich gehalten, bewies mir jetzt des Paters kraftvolle Gewandtheit. Er kletterte an den Lianen empor, ich folgte ihm, und auf diese Weise gelangten wir bis zur halben Höhe der Steilwand, die meine Wildnisinsel hier gen Norden gegen die Außenwelt absperrte.

Wir richteten den Blick nach Süden, und die bereits sinkende Sonne gab gerade die richtige Beleuchtung ab, in weiter Ferne halb rechts von uns jenseits eines Waldgürtels eine Reihe dunkler Hügel zu erkennen, die mit ihrem einseitigen Schmuck dunkler Koniferen überaus düster wirkten.

„Schauen Sie hin, Abelsen“, sagte der Pater mit starker Stimme, „das Gelände senkt sich von hier andauernd, und jene finsteren Bergwälder, vermute ich, sind der Ort, wo der unterirdische Fluß wieder zu Tage tritt. Am Westrande jener Hügel begegnete ich, wie ich bereits erwähnte, vor etwa einem Jahr einem Europäer, der nach Ihrer Beschreibung nur Allan Tott gewesen sein kann. Unser Zusammentreffen verlief übrigens wenig freundschaftlich, – der Mann damals bedrohte mich mit der Waffe und blieb den ganzen Tag über hinter mir, damit ich nicht etwa heimlich umkehre. Wenn das bewußte Tal der Smaragde irgendwo zu suchen ist, dann dort, – und wenn Ihre Gefährten etwa noch leben, dann leben sie dort … als Gefangene Allan Totts!“

Es waren sehr kühne Vermutungen und Behauptungen, die der Pater hier aufstellte. Und gerade ihre Kühnheit ließ mich erraten, daß Pater Menardus das starke Netz quer durch den Wasserfall auch mit aus dem Grunde befestigt hatte, um diesen unterirdischen Weg durch unpassierbare Strecken der Wildnis gänzlich zu versperren. – In jedem Falle wünschte ich, daß zwischen uns beiden Männern über diese Dinge volle Offenheit herrschte. Der Pater selbst überhob mich der Aufgabe, jede Unklarheit zu beseitigen, indem er nach kurzem Überlegen hinzufügte: „Nach alledem, was ich von Ihnen erfuhr, müssen Tott und Winston Charb-Turf das Smaragdtal[13] schon vor dem Aufbruch der kleinen Expedition entdeckt haben, die Doktor Gotos Vater ausrüstete, die von Doktor Gotos Sohn begleitet wurde und die dann spurlos verschwand. Auch hierbei hat Allan Tott bestimmt die Hände mit im Spiel gehabt, und – ich komme zum Hauptpunkt! – Allan Tott benutzte den unterirdischen Fluß, um die undurchdringlichen Urwaldstrecken zu überwinden! – Verlieren wir nicht unnötig Worte und Zeit! Werfen Sie nur noch einen Blick dort nach Südost, wo freundlichere Waldmassen sich endlos weit hinziehen. Dort, Abelsen, hausen die Galibi-Kariben, heut rund dreihundert Köpfe stark, – vor zehn Jahren waren es ihrer kaum hundertfünfzig, und auch die wären ausgestorben, wenn ich nicht allerlei Mißbräuchen Einhalt geboten hätte. Darüber reden wir später einmal. – Vorwärts jetzt, – hinab in die Lichtung! Kurz nach Dunkelwerden hoffe ich, mit ein paar auserlesenen Männern wieder zurück zu sein. Wir bringen alles Nötige herbei, insbesondere starke Taue, leichte Bambusleitern und Fackeln. Vielleicht gelingt es uns noch, Ihre Gefährten vor dem Schicksal zu bewahren, das für sie freilich noch das günstigste wäre: Der Gefangenschaft! – Glauben Sie mir, Tott lebt dort nicht allein in den düsteren Hügeln, ich argwöhne, daß er womöglich eine ganze Anzahl weißer Abenteurer gefährlichster Art für seine Zwecke angeworben hat. Mag er! Wir werden ihn ausräuchern. Die Galibi verfügen über dreißig junge Krieger, und wenn diese auch nur mit Bogen, Pfeilen, Wurfkeulen und Speeren ausgerüstet sind: Es ist eine Truppe, auf die unbedingt Verlaß ist!“

Wer den Pater Menardus in diesem Augenblick vor sich gesehen hätte, der hätte ihn zweifellos mit jenen streitbaren Dienern der Kirche des Altertums verglichen, die nicht nur Glaubenskämpfer, sondern auch sehr tapfere Streiter mit ehernen Waffen gewesen und deren letztes heroisches Überbleibsel jener Deutschritterorden war, der im Osten Deutschlands bis nach Kurland hinein sein Banner über trutzigen Burgen wehen ließ. –

Wir kletterten wieder an der Steilwand hinab. Ich begleitete den Pater bis zu dem versteckten Gatter, – dieses öffnete sich ganz von selbst, und dahinter im Baumschatten bemerkte ich ein paar mittelgroße, kräftige Gestalten: Galibi-Krieger!

Der Pater reichte mir die Hand.

„Auf Wiedersehen also! Und – unternehmen Sie nichts ohne mich, ich warne Sie! Seien Sie auch vorsichtig. Mir sagt eine untrügliche innere Stimme, daß Allan Tott vielleicht ein Verbrecher weit größeren Stils ist, als wir ahnen.“

Seine Augen schauten mich sehr ernst an.

„Vorsicht also! Wenn Tott, wie ich vermute, über eine Anzahl gleichartiger Burschen als Spießgesellen verfügt, können Sie hier …, – aber ich weiß ja, wen ich vor mir habe! – Auf Wiedersehen!“

Er schritt rasch durch die Baumlücke, das Urwaldtor schlug zu, und ich war allein.

Allein …

Und verharrte noch minutenlang am selben Platze. Fragte mich – und mit Recht: „Weshalb ließ Pater Menardus dieses Gatter anlegen?! – Ob er nicht doch etwas mehr über Allan Tott wußte, als er bisher zugegeben hatte?!“

Langsam kehrte ich zu meiner treuen Marry zurück.

„Wie wäre es, Marry“, sagte ich gut gelaunt, „wenn wir für alle Fälle das Felsloch dort drüben ein wenig verrammelten? Uns beiden tut der Schlaf not, und die Mäuse, die vielleicht aus jenem Loche schlüpfen könnten, würden uns, glaube ich, böse beißen! Sicher ist sicher!“

Eine Stunde Arbeit …

Der Erfolg war zufriedenstellend. Die Öffnung war dicht verbaut, und wer die Barrikade wegräumen wollte, würde ein paar Felsstücke ins Rollen bringen, deren Lärm mich unweigerlich wecken mußte.

Ein schneller Imbiß noch, dann hinein ins weiche Gras, – – im Nu schlief ich ein.

Pater Menardus spielte in meinen aufgeregten Träumen eine weit größere Rolle als Allan Tott – – oder Nachbar Doktor Tod!

 

5. Kapitel.

Miß Ghost lüftet etwas die Maske.

Ich erwachte …

Fuhr hoch … Blickte wild und verwirrt um mich, griff sofort nach der Büchse und duckte mich hinter einen Strauch.

Marrys warnendes Schnauben hatte mich geweckt, Marry stand mit weit vorgerecktem Kopfe da und starrte in die milchige Dämmerung der Tropennacht.

Die Mondsichel stand tief. Aber das Milliardenheer der fernen glitzernden Welten gab genügend Licht, – – mitten auf der grauen Salzlichtung funkelten ein paar grüne Punkte, und die dunkle, zusammengekauerte Gestalt konnte nur ein Jaguar sein.

Schießen?!

Nein!

Der Knall der Büchse ist zu verräterisch.

In solcher stillen, windlosen Nacht verfängt sich der Schall in den grünen Mauern und wird allzuweit in unsichere Fernen geworfen.

Ich hob einen Stein auf, warf, – – und der Jaguar machte schleunigst kehrt und schnellte drüben am Baume empor und verschwand.

Ein Blick auf die alte treue Armbanduhr.

Mitternacht …

Und Pater Menardus wollte gleich nach Dunkelwerden zurück sein, – das waren gut zwei Stunden Zeitunterschied, etwas sehr viel, dachte ich, etwas zu viel! – Und wollte für alle Fälle erst einmal die Barrikade revidieren …

Wollte …

Eine sehr melodische Stimme rief mich an …

„Hallo, Abelsen … – Ausgeschlafen?“

Die Stimme ließ all meine kargen Hoffnungen zu froher Gewißheit aufleben.

„Miß Heliante, – – Sie hier?! Sie?!“

Heliante Ghost saß am Fuße des Mahagonibaumes, in eine meiner Wolldecken gehüllt, so daß nur der blonde, nasse Kopf und unten ein nackter Fuß sichtbar wurden. All ihre Kleidungsstücke lagen rund um sie herum ausgebreitet.

„Ja – ich“, sagte sie in ihrer liebenswürdig-überlegenen Art. „Mit ihrer Barrikade können Sie wenig Staat machen – leider oder zum Glück, wie man es nimmt. Ich bin jedenfalls hindurchgeschlüpft, ohne daß die Mausefalle zufiel und die Steine herabpolterten. Ihre Vorsichtsmaßregeln, lieber Abelsen, hätten sich also im Ernstfalle kaum bewährt.“

Mein grenzenloses, freudiges Erstaunen über Heliantes Rettung wurde jetzt größtenteils wieder von anderen Gedanken zurückgedrängt. Ich hatte Miß Ghost kameradschaftlich die Hand hingestreckt, sie jedoch schüttelte mit dem gleichen überlegenen Lächeln den schönen Kopf und meinte ohne jede Prüderie: „Ich bedauere, mein Freund, – ich muß mit beiden Händen die Wolldecke zusammenhalten. – Setzten Sie sich doch … Weshalb haben Sie eigentlich das Felsloch verbarrikadiert?“

Unsere[14] gegenseitigen Erlebnisse waren schnell berichtet. Heliante war ähnlich wie ich weiter unten in dem Schlund des Wasserfalls auf einem mit dicken Moospolstern bedeckten Felsvorsprung aufgeprallt, hatte das Bewußtsein verloren und war in einen sicheren Winkel gerollt. Bemerkenswert erschienen ihre Äußerungen über die Art und Weise, wie sie dann aus dem Schlunde sich mühselig emporgearbeitet hatte. „… Es war stockdunkel um mich her, als ich erwachte. Alle Glieder schmerzten mich, ich fror in den durchnäßten Kleidern, hörte neben mir das Toben des Wasserfalles und sah sehr bald ein, daß jeder Hilferuf zwecklos sei. Mit äußerster Energie raffte ich mich auf, tastete im Finstern meine Umgebung ab und berührte plötzlich glattes Holz, eine Bambusleiter, kletterte die Sprossen hinan, zwängte mich durch eine Felsöffnung und erblickte schräg über mir den schwachen Lichtschein der Tropennacht in ungleich großen Flecken. Es waren die Löcher Ihrer Barrikade, Abelsen. Nach längerem Suchen fand ich eine zweite Leiter, die genau wie die erste in Eisenhaken hing, die in das Gestein hineingetrieben waren. Aber auch diese Leiter hing in einer Felsspalte, und lediglich meine körperliche Gewandtheit und der eiserne Wille brachten mich schließlich auf jenen höheren Felsvorsprung, der Ihnen und Marry zur Rettung ward.“ Nach kurzer Pause fügte sie in ihrer selbstsicheren Art hinzu: „Pater Menardus hat mithin durchaus recht, wenn er annimmt, Allan Tott benutze den unterirdischen Fluß als einzigen gangbaren Weg durch die Wildnis. Wir nahmen an, Tott hätte den Fluß zufällig als Fluchtweg gefunden – ein Irrtum also! Tott und der arme betörte Winston Turf, der so jämmerlich sterben mußte, haben bestimmt all die Jahre mit den östlichen Hafenorten Yucatans in Verbindung gestanden. Haben auch zweifellos in Corosal, wo Sie und Goto und auch Fred Turf und ich einige Tage weilten, ihre Vertrauensleute sitzen. Genau so wird des Paters Annahme zutreffen, daß Allan Tott Anführer einer mehrköpfigen Bande dunkelster Ehrenmänner ist, die vielleicht das Smaragdtal ausbeuten und dabei ungeheure Gewinne erzielen. Bedenken Sie: Tott ist kein Neuling in derlei Dingen, Tott hatte in London eine Gesellschaft gegründet, die nicht nur meinen Vater …“

Sie verstummte jäh, warf den Kopf ärgerlich zurück und fügte hinzu: „Ich schwatze zu viel … Wir reden, reden, und wir sollten handeln. Des Paters Ausbleiben beunruhigt mich genau so sehr wie Sie. Schauen Sie bitte einmal nach, ob meine Kleider trocken sind. In dieser warmen Nacht müßte es längst der Fall sein. Und dann reichen Sie mir einen Schluck Whisky, damit ich mich etwas aufpulvere, und entfernen sich nachher. Ich muß mit dem nassen Haar wie eine Vogelscheuche aussehen. Eitel bin ich wahrlich nicht, Abelsen, aber ein Mensch, der auf sein Äußeres nichts mehr gibt, hat sich selbst bereits zur Hälfte aufgegeben. Mir sind verliederte Gestalten ein Greuel. Jeder hat die Möglichkeit, seine äußere Erscheinung je nach den Umständen zu pflegen. Wer als Waldmensch umherläuft, ohne dazu gezwungen zu sein, zählt lediglich zu jener Boheme, die den schmierigen Kragen, den Haarwald oder die Bartstoppeln als Zeichen von geistiger Bedeutsamkeit bewertet. – Nicht wahr, das sind etwas abwegige Äußerungen in unserer Lage?! Oder nicht?“

Ich war aufgestanden und befühlte ihre Kleider.

„Durchaus nicht, Heliante, durchaus nicht“, erklärte ich aus ehrlicher Überzeugung heraus. „Auch ich werde mich nachher rasieren … Lachen Sie nicht! – Hier sind ihre Kleider, hier ist die Feldflasche … – Auf Wiedersehen …“

Ich verließ sie und trat vor die Büsche, äugte nach der Barrikade hinüber und griff nach Miß Marrys Zügel.

„Du wirst so freundlich sein, liebe Marry, und dort an der Felswand Wachtposten spielen. Komme nur … Heliante und ich müssen nachher das große Wildgatter drüben zu öffnen versuchen und uns so etwas nach Pater Menardus umtun. Sei brav, Marry … Und falls jemand seinen Schädel durch die Löcher der Barrikade steckt, keile mit den Hinterhufen aus. Dein Schlag ist sicher und kräftig, Marry, und sollte gar …, – aber komme nur, du bist ja eine kluge Kreatur … Dein erster Herr suchte nach den Schätzen eines Piraten, dein neuer Herr ist sehr zufrieden damit, daß sein Vorgänger dich so fein dressiert hat …“

Herr und Maultier wanderten die dreißig Schritt zum Felsloche. Meine Stimmung hatte sich durch Heliantes Auftauchen sehr gehoben, außerdem habe ich es mir auch im Laufe der Jahre abgewöhnt, irgend etwas allzu tragisch zu nehmen. Der Fatalismus der Anhänger Mohammeds hat schon sein Gutes.

Ich trieb einen Pflock lose in die Erde, band Marry ebenso locker fest und wandte mich um und überblickte die Waldblöße.

Der nächtliche Urwald zeigt in den Tropen überall dieselben Eigentümlichkeiten.

Und doch hatte ich derart dichte Wolken von schwirrenden Leuchtkäfern wie hier noch nie bemerkt. Gespenstisch fast wirkten die seltsamen, schimmernden, schwebenden Gebilde, – unzählige Tierchen mit leuchtenden Drüsen, – Gebilde, die ständig die Form wechselten, die zuweilen zu einer einzelnen Wolke sich im lichtlosen Schatten der Urwaldgrenze zusammenfügten, dann wieder sich trennten, – und überall diese ungezählten nächtlichen beflügelten Schwärmer, unbesorgt um ihr Leben trotz der nicht minder zahlreichen Fledermäuse aller Arten, darunter einige, die ich für fliegende Hunde gehalten hätte. Merkwürdig genug: Diese Leuchtkäfer werden von allen Insekten gemieden. Wahrscheinlich deshalb, weil die Leuchtorgane irgend einen Giftstoff enthalten.

Und zwischen den schimmernden Wolken dieser glücklichen Laternchen schwebten die unangenehmeren, dunklen Haufen der Stechmücken. Zuweilen machte es den Eindruck, als ob diese Mückenwolken lediglich der Schatten der hellen Wundergespenster seien.

Noch mehr fing mein naturfreudiger Blick ein.

Tiergestalten schlichen am Rande der grünen Wildnismauern dahin. Irgend eine Schlange – sie mochte vier Meter lang sein – hatte sich aus dem schützenden Dickicht allzuweit auf den salzigen harten Sandboden gewagt. Hinter ihr her schob sich ein zusammengeduckter kleiner Tierkörper mit buschiger Rute, – ein dunkel gefärbter Yucatan-Fuchs, nahm ich an.

Freund Goto hatte mir gelegentlich erzählt, daß Yucatan eine Spielart von Füchsen beherberge, die die richtigen Schlangenbeißer seien, wie in Indien das Ichneumon.

Der kleine Bursche schnellte durch die Luft, biß zu, – – alles spielte sich in Sekunden ab, – zerbiß dem Reptil das Genick und kroch rückwärts, die wie toll sich windende Schlange mit sich schleppend, – – und verschwand.

War kaum verschwunden, als genau an derselben Stelle, wo das Reptil soeben das Opfer des gewandten Angreifers geworden, der scheinbar glatte Erdboden sich hob und ein Gürteltier sich aus seinem tagsüber verschlossenen Bau hervorarbeitete, um mit seiner Familie – sechs Junge zählte ich – am Waldrande die nächtliche Nahrungssuche zu beginnen.

Alles Getier der Wildnis hält genau seine Tageseinteilung ein. Der Puma ist mehr für Sonnenlicht bei seinen Beutezügen, der Jaguar taucht selten vor elf Uhr abends auf, genau wie die kleinen Räuber, während die harmlosere Gesellschaft, als da sind Hasen, Eichhörnchen, Beutelratten und so weiter (auch Hirsche) mit der Dunkelheit ihre Schlupfwinkel aufsuchen. Eine Ausnahme macht nur das äußerst scheue Gürteltier und die zahllosen Spitzmäuse. Sie bevorzugen die Nacht zu ihren Beutezügen, Minnespielen und den häufig sehr weiten, scheinbar ziellosen Wanderungen. Eigentümlich berührt das Verhalten der Affen, die sämtlich zu der Familie der Breitnasen gehören. Zumeist haben sie ihren bestimmten Schlafplatz, einen einzelstehenden hohen Baum. Nach Dunkelwerden zieht sich die ganze Gesellschaft dorthin zurück, stellt ihre Wachtposten, stets alte Männchen, auf und verhält sich so lange still, bis sich nichts Verdächtiges zeigt. Wird die Herde jedoch durch einen Jaguar aufgescheucht, so kommt sie den Rest der Nacht nicht mehr zur Ruhe, ihr Kreischen und Schimpfen macht auch das übrige Getier rebellisch, und in der Nähe solch einer gereizten Gesellschaft ist es für den Reisenden mit dem Schlaf zu Ende.

Zum Glück gab es hier in der Nähe der kleinen Waldblöße nur wenige Affenfamilien. Sie können selbst dem vorsichtigsten Jäger, der ein bestimmtes Ziel im Auge hat, äußerst unangenehm werden, ihre Wachtposten sind außerordentlich mißtrauisch, und der Lärm einer solchen Affenbande verrät dann allzu rasch einem Gegner die Anwesenheit eines Fremden. –

Weshalb erschien Pater Menardus nicht?!

Mit einem Schlage war diese besorgte Frage wieder in den Vordergrund gerückt.

Nachdenklich musterte ich drüben die Stelle des Waldrandes, wo sich das Gatter befand. Gerade dorthin reichte weder der Glanz der Mondsichel noch das Flimmern der Sterne. Gerade dort tanzten die leuchtenden Wolken am lebhaftesten. Unruhe packte mich noch stärker als bisher. War es nicht durchaus möglich, daß Totts Bande den Pater und seine wenigen Begleiter während des Heimmarsches abgefangen hatte?! Der kühne Missionar hatte mir ja persönlich erzählt, daß er Allan Tott auf einem seiner Jagdausflüge begegnet war. Mithin mußte es von dem märchenhaften Smaragdtale, an dessen Vorhandensein nicht mehr zu zweifeln war, immerhin ungebahnte Pfade bis zum Dorfe der Galibi-Kariben geben.

… Ich wurde ungeduldig …

Wenn nur Heliante Ghost erst erschiene! Wir mußten doch irgend etwas unternehmen! Es war nur so unendlich schwierig, in unserer Lage den richtigen Entschluß zu fassen. Etwa in den Schlund des Wasserfalles hinabsteigen und den Lauf des unterirdischen Flusses weiter verfolgen?! Oder den Pater aufsuchen, das Dorf der Galibi?!

Endlich – endlich!! – Etwas schwerfällig und hinkend nahte meine blonde Kameradin. Ihren Hut hatte sie bei dem Sturz in die Tiefe eingebüßt, dafür hatte sie sich jetzt den Nackenschleier als Turban um den Kopf gewunden und vorn in den Falten sehr kokett eine große Blüte angebracht.

„Da bin ich, Abelsen … Etwas zerknittert und lahm, aber sonst wohlauf!“

Ihre schmale, leicht gekrümmte Nase, ihre großen Augen, das ganze pikante Gesicht, – – nein, das Bad hatte Heliantes Schönheit keinen Abbruch getan.

„Lachen Sie mich doch aus!“, meinte sie mit gutmütigem Spott auf meinen vielleicht allzu bewundernden Blick hin. „Eine rote Blüte im Schleier – –Fraueneitelkeit!!“ Sie wurde doch etwas verlegen. „Es ist ja auch sehr töricht von verheirateten Frauen, sich irgendwie zu vernachlässigen, und ich habe trotz …“

Sie schwieg.

Wieder da die unwillige Kopfbewegung.

„Ich schwatze zu viel! Gehen wir, zeigen Sie mir das Gatter …!“

Sie wandte sich rasch ab und eilte mir voraus[15].

Ich – – lächelte.

Zweierlei hatte sie mir nun doch schon verraten. Sie hatte ein wenig die Maske gelüftet. Tott hatte zweifellos ihren Vater pekuniär schwer geschädigt, und sie selbst war eine verheiratete Frau, kein Mädchen!

Ein flüchtiger Gedanke ging mir durch den Sinn: Etwa Allan Totts Gattin?!

Ich verwarf ihn … Ich besaß dafür keinerlei Beweise. Außerdem mußte der Altersunterschied zwischen Heliante und Tott, der doch mindestens fünfundvierzig Jahre alt sein mußte, recht erheblich sein, wenn auch meine schneidige und verschwiegene Miß nicht mehr ganz jung sein konnte. Ich schätzte auf Mitte der Zwanziger, und das war höflich geschätzt.

Als ich sie eingeholt hatte, war sie bereits wieder in ausgezeichneter Laune und empfing mich mit der Bemerkung, was nun eigentlich werden sollte, falls wir das Gatter nicht öffnen könnten.

„Abwarten“, erklärte ich. „Beschlafen, – nichts übereilen!“

„Ich habe bereits zu lange gewartet“, sagte sie da recht scharfen Tones, den ich jedoch nicht auf mich selbst beziehen konnte.

Und sie streckte die schmalen Hände aus, packte einen der zerknickten Stämme, die mit zu dem Gatter gehörten und rüttelte daran.

Sie besaß Kraft. In diesem fast überschlanken Leibe war ein Lebensimpuls verborgen, der diese Frau zu erstaunlichen Leistungen befähigte. Mit einer jener modernen Sportladys, die da glauben, durch Rekordleistungen auf Tournieren ihren Körper für jegliche Art von Anstrengungen vorbereitet zu haben, wäre ein Fred Turf niemals in die Wildnis gezogen. Das Abenteuer abseits vom Alltag verlangt denn doch etwas mehr als Sportfexerei, über die gerade Turf sich nicht genug lustig machen konnte. Hätte man eine solche „Berühmtheit“ auf unser Bambusfloß gesetzt, hätte man von ihr all das an blitzschnellen Entschlüssen und ebenso raschen Taten verlangt, wie von Heliante während der zwölf Stunden unter der Erde auf gurgelndem finsteren Wasser, – die Damen wären klägliche Versager geworden. Heliante versagte nie.

Gemeinsam packten wir dann zu.

Wir zogen, stießen, rüttelten: Das Gatter saß fest wie eingemauert.

Keuchend, außer Atem und bitter enttäuscht gaben wir diese Art Versuche, die versteckte Urwaldtür zu bezwingen, endlich auf.

Gewiß, ich habe ein langes Buschmesser mitgebracht, ich hätte ein paar der Lianenranken zerhauen können – ein paar …

Ich kannte die Härte dieser alten Schößlinge. Das Messer würde schartig und stumpf werden, und wir würden uns den Durchgang doch nicht erzwingen.

Heliante pflichtete mir bei.

„Mithin?!“, fügte sie dann aufmunternd hinzu. „Es ist zwei Uhr morgens … Mit dem Pater ist kaum noch zu rechnen … Probieren wir es mit dem Wasserfall, Abelsen!“

Das hieß, mich von meiner Marry trennen, mehr noch, das bedeutete für Marry den sicheren Tod. Das Maultier hier allein auf der Waldblöße, – – schon morgen würde ein Jaguar es zerrissen haben.

Wir schritten unserem mächtigen Mahagonibaum wieder zu. Ich teilte Heliante meine Bedenken mit, was Marry betraf.

Zu meiner Überraschung entgegnete sie prompt: „Aber Abelsen, sind Sie denn noch immer nicht dahinter gekommen, daß der Wasserfall ungefährlich ist?! Glauben Sie, Tott hätte die beiden Pferde mitgenommen, wenn er nicht schon vorher genau gewußt hätte, daß den Gäulen in den stürzenden Wassern nichts geschieht?! Er kennt doch den unterirdischen Fluß und all seine Besonderheiten! Weshalb würde er die beiden Pferde mit sich geführt haben, wenn er befürchten mußte, sie würden ihm in dem Wasserfall zerschellen?! – Ich denke mir Totts Vorgehen so: Er hat vor dem Fall sein Zinkboot gebremst, hat erst den einen Gaul hinabgleiten lassen, und der zerriß durch sein Gewicht das Netz, das der Pater doch erst kürzlich durch die stürzenden Wasser gespannt hat. Dann folgte das zweite Pferd, dann das Boot und Tott selbst.“

Ich gab mich geschlagen. Heliante hatte zweifellos das Richtige kombiniert.

„Wir werden also Marry uns voraus in die Tiefe schicken“, stimmte ich meiner Kameradin zu.

„Eine Tiefe, die wahrscheinlich sehr gering ist und mit einem Wasserbecken endet“, nickte Miß Ghost sehr selbstsicher. „Marry wird nichts zustoßen. Nur das Netz müssen wir entfernen. Es hindert den glatten Sturz, – nur das Netz dürfte Sie und Marry und mich auf die Felszacken befördert haben. Ich wiederhole auch, Abelsen: Ich bin überzeugt, daß Doktor Goto und Fred Turf noch leben! Turf ist nicht der Mann, der so leicht unterzukriegen wäre. Der hat bereits andere Stücklein ausgeführt.“

Ich blieb stehen.

„Heliante, wer ist Turf?“ fragte ich gerade heraus. „Wir wollen doch ehrlich sein, ganz ehrlich …! Wer ist dieser Engländer, der nur so gemessen tut, und in dem ein Vulkan explosiver Energie schlummert?“

Ihre Augen glitten über mein Gesicht hin und schweiften in die unbekannte Ferne.

„Ein früherer englischer Fliegerhauptmann“, sagte sie zaudernd. „Meine Bekanntschaft mit ihm liegt drei Jahre zurück, es war eine Zufallsbekanntschaft … Wir jagten demselben Wilde nach. In Mexiko-City wohnten wir in demselben Hotel, und eine ganz nebensächliche Bemerkung von mir führten zu einem Bündnis gegen …“

„… Allan Tott?“

„… gegen Nachbar Doktor Tod“, ergänzte sie heiser, und ihre Züge verloren vor innerer Erregung jede Spur von Farbe. „Nachbar Doktor Tod …!!“, fuhr sie noch gepreßter fort … „Es hat schon seine Richtigkeit damit, Abelsen! Wer in Totts Nähe kommt und seine Kreise stört oder gar reich und ausplünderungswürdig ist, der … ist verloren! Ein Beispiel der geradezu ungeheuerlichen Niedertracht dieses Menschen zeigt Ihnen Doktor Gotos Schicksal. Glauben Sie, daß Tott je auch nur einen einzigen Schritt tat, der nicht genau berechnet war?! Glauben Sie, das Fernrohr auf dem Turm seiner Villa in Merida war ein Zeichen für astronomische Neigungen?!“ Sie lachte hart auf. „Tott hat das Fernrohr zweifellos zu Signalen benutzt, – falls es überhaupt ein richtiges Fernrohr war! Zu Signalen mit seiner Bande, die er im Eingeborenenviertel versteckt hielt. Und … der Nachbar Doktor Tod, das Skelett?! Auch dieser Knochenmann, den Tott da mit einem Arztmantel behängt hatte, muß in dem Drama des Smaragdtales eine Rolle spielen. Welche, das weiß ich nicht. Sicherlich aber eine sehr bedeutsame! Wer schleppt ein Skelett mit sich, wenn es um eiligste Flucht geht wie damals, als Goto sein Weib erschoß und Tott und Winston Turf verschwanden?! – Mein Freund, seien Sie überzeugt: Ich kenne Tott! Und auch Manfred Turf kennt ihn! Uns hätte der Schurke nicht durch ein bekritzeltes Stück Papier vergiftet, wie es ihm bei Goto beinahe gelungen wäre! Wir kennen seine Methoden … Und deshalb, Abelsen: Doppelte und dreifache Vorsicht!! Tott weiß, was ihm bevorsteht, wenn er uns in die Finger gerät!“

Den letzten Satz sprach sie ganz langsam und gleichsam abgehackt. Tiefe Röte färbte dabei ihr Gesicht. Sie würgte die Worte hervor, als würde ihre Seele von Ekel und Haß geschüttelt.

… Und um uns her säuselte friedlich ein lauer Wind, rauschten die Büsche, wisperte der erschauernde Wipfel des Mahagonibaumes und brauste und zischte der Wasserfall in seinem unterirdischen Tunnel. Um uns her waren die leuchtenden Geister der Wolken der Glühwürmchen, war der scharfe Duft jener tropischen Blüten, die erst gegen Morgen ihre verschlossenen Kelche öffnen und dann gierig die Feuchtigkeit der Luft einsaugen, die um die Stunde vor der Dämmerung am größten ist.

Um uns her war noch etwas. Und das fühlten wir nur: Das Rätsel des großen Abenteuers, das sich in dem Ausdruck „Smaragdtal“ zusammenballte.

Wieder da Heliantes energische, trotzige Kopfbewegung.

„Treffen wir unsere Vorbereitungen, Abelsen! Wir haben die wasserdichten Zeltbahnen, wir müssen genügend Brennholz mitnehmen, wir müssen auch …“

Sie schwieg ganz von selbst. Sie erkannte rechtzeitig, daß sie sich hier um Dinge kümmerte, die ausschließlich mein Fach waren. Ich hatte sie in keiner Weise auf das gänzlich Verfehlte hingewiesen, das in dieser Verschiebung der Verantwortung für die Zukunft lag. Sie hatte sich etwas zu impulsiv vorgedrängt, und hatte mich belehren wollen. Möglich, daß Fred Turf sich diese Bevormundung bisher stillschweigend hatte gefallen lassen. Ich zweifelte daran. Turf war nicht der Mann, der selbst vor einer Heliante Ghost die Flagge strich.

„Verzeihen Sie, lieber Freund“, entschuldigte sie sich mit voller Offenheit, die mir an ihr so sehr gefiel. „Ich brauche Ihnen doch wahrlich keine guten Ratschläge zu geben … Sie werden weit besser als ich wissen, was uns not tut.“

„Ja – – ein Floß“, nickte ich. „Natürlich ein Floß … Oder wollen Sie den Fluß entlangwaten, Heliante?!“

Ihr melodisches Lachen wirkte geradezu ansteckend. „Abelsen, ich bin ein schrecklich eingebildetes Wesen, fürchte ich … der Fluch des Reichtums lastet auf mir. Wer Millionen als sichere Stütze besitzt, überschätzt nur zu leicht die Grenzen der eigenen Unzulänglichkeit.“ Das letzte sprach sie wieder sehr ernst und mit größter Bitterkeit.

Unwillkürlich fanden sich unsere Hände in festem Druck. Es war ein stillschweigendes Bündnis, auch ein Übereinkommen darüber, daß fernerhin mein Wille ausschlaggebend sein sollte.

Und wir hatten treue Bundesgenossenschaft wahrlich nötig. Was uns bevorstand, ahnten wir nicht. Vielleicht war es gut so, daß die Zukunft dicht verschleiert vor uns lag. Wir wären vielleicht sonst niemals das geworden, was wir jetzt sind: Die Nachbarn des Doktor Tod!

 

6. Kapitel.

Der falsche Arm.

Drei Tage sind dahingegangen. Drei Tage, die als Jahre zählen könnten.

Wir – sind angelangt.

Wanderer, die einem unbekannten Ziel entgegenstreben, begrüßen es mit Jubel und Genugtuung.

Wir?! – –

… Es ist Nacht … Kurz vor Mitternacht. Heliante schläft dort drinnen zwischen den Felsen, die ich zur Grotte ausgebaut habe – mit Lebensgefahr.

Marry, die treue Miß Marry, teilt unser kleines Heim. Auch sie hat sich auf den kahlen Boden niedergestreckt und atmet schwer – – wie Heliante.

Wir sind jetzt in Wahrheit Gefangene. Wir haben hoch über uns unerbittliche Wächter, die uns mit Kugeln beschenken, falls wir uns ins Freie wagen.

Ich wage es nur nachts.

Dann husche ich über die Felsterrassen des Steilhanges, sammele spärliche Gräser für Miß Marry und erlege mit Steinwürfen allerlei Getier.

Heute – die vierte Nacht. Da schreibe ich. Hole all das nach, was noch nachzuholen war. Der Bleistift fliegt über das Papier, die Fackel knistert, und der Qualm hüllt mich zuweilen vollkommen ein.

Schreibe …

Verblaßte Erinnerungen, die doch noch so blutfrisch sein müßten. Aber „der falsche Arm“ und seine unabsehbaren Folgen haben jene Eindrücke verwischt, die Vergangenheit scheint endlos entrückt, nur die allerjüngste Vergangenheit und die Gegenwart … ängstigen mich.

Es ist so: Ängstigen mich! Nicht um meinetwillen! Nur Heliantes wegen. Wir sind Anwärter des Todes, wir haben nun den Nachbar Dr. Tod wirklich zum Nachbar! Hohnlachend hat Allan Tott ihn uns droben vorgeführt: Den Knochenmann mit dem Arztkittel!

Es ist so …

Um uns her kahle Steinwände, unter uns der stille Bergsee, über uns nicht etwa der Himmel, sondern die Hölle: Allan Totts Bande!

Es ist so.

Wir sitzen fest. Es gibt kein Vorwärts, kein Zurück für uns. Dieser Weg abseits vom Alltag endete in dieser riesigen Mausefalle …

Wir … werden verhungern …

Wahrscheinlich.

Denn der Ekel vor dem zähen Fleisch der Beutelratten wird wachsen, und dann …?!

Hat es Zweck, für den kommenden Tag zu sorgen, hat es Zweck, sich selbst den Mut zu benehmen?!

Abwarten! – Wie sagte doch immer Freund Taskamore …: „Wir werden sehen!“ – Es war sein Leitspruch, und es war ein guter Spruch. Man muß sich dessen Inhalt nur genau klarmachen.

Wir werden sehen!

Darin liegt alles. Darin liegt Kampfeswille, Behutsamkeit, kein bramarbasierendes Siegergefühl, und doch die Hauptsache: Kein schwächliches Verzichten und Verzweifeln!

… Würde Freund Kamo diese letzten Zeilen lesen, möglich, daß er dann das eine zumindest dick wegstriche: „Wir … werden verhungern …“

– Nein, wir werden nicht verhungern!! Es wird Mittel und Wege geben, aus dieser Falle zu entschlüpfen, und ich werde diese Mittel finden und diese Wege entdecken.

Wir werden sehen!

Der Geist des Kleinmuts ist bereits wieder verpufft. Augenblicksstimmung war es – aus allzu großer Sorge um Heliante! Deshalb, nur deshalb!

Und deshalb: Fort mit allem, was den ehernen Willen lähmen könnte!

Hervor mit den lebensprühenden Erinnerungen allerjüngster Zeit! In ihnen war Kraft, Tatwille, Feuer des Blutes, beseeltes Hoffen, verzweifeltes Jagen, – alles war in jenen Stunden enthalten, als wir den Wasserfall besiegten.

Wir siegten. Ein knapper Sieg – trotzdem ein Sieg! Und daß daraus diese Niederlage wurde, tut nichts zur Sache. Wir leben ja, und wir sind mit heiler Haut in diesen Felsen in Sicherheit, und daß sich keiner der Burschen von dort droben zu uns hinabwagt: Sie haben ihre Denkzettel abbekommen, und zum zweiten Male werden sie uns den Nachbar Dr. Tod kaum zeigen! Meine Kugeln! Ihre Kugeln zerspritzten am Gestein oder fegten in den klaren Bergsee hinab, an dessen Rändern nur eine armselige Flora von Moospolstern und vereinzeltem Schilf sich gebildet hat. – –

Erinnerungen …

Da stehe ich am Rande der Lichtung, die mir den prächtigen Pater Menardus als Bekanntschaft bescherte, und schlage mit dem Buschmesser die Bambusstauden ab – ganz unten an der Wurzel, wo sie nicht so glashart sind.

Da schleppt Heliante die Floßhölzer zum Felsloche, an dem der Wasserfall rauscht.

Da flechten wir gemeinsam aus Lianen, die wie dünne Leinen sind, feste Taue, lange Taue, und über alledem kommt der sonnige Tag herauf, die Nacht entweicht, die Tierstimmen leben auf, die Hitze wird drückend, – – wir … arbeiten unverdrossen.

Heliante Ghost ist keine Sportlady.

Diese schnellen Hände haben Kraft und Geschick. Diese hohe Stirn birgt kluge Einfälle.

Sorgsamst wird alles vorbereitet.

Um zehn Uhr vormittags räumen wir die Barrikade von der Felsöffnung weg und mit drei Fackeln klettere ich in die Tiefe.

Der Sprühregen des stürzenden Flusses kämpft gegen die rote Lohe harzigen Holzes … Ich finde die sauber gearbeiteten Bambusleitern, ich finde die Eisenhaken, an denen sie hängen, und behutsam steige ich weiter in die unbekannte Tiefe …

Die Tiefe ist keine Tiefe, – Heliante behält recht, der ganze Schlund mißt kaum zwölf Meter, dann erblicke ich dicht unter mir den schäumenden, ruhelosen Spiegel eines großen Wasserbeckens. Ich kehre um, – wir knoten die erste Last der Floßhölzer zusammen, senken sie hinab, warten angstvoll, ob das Lianentau sich bewähren wird. Es hält. Die zweite Last folgt, die dritte, – dann unser Gepäck, und dann, damit Heliante sich ausruhe, zerschneide ich die Reste des zerrissenen Netzes des Pater Menardus. Auch das gelingt.

Wir holen Marry. Und wir zaudern. Es kommt uns grausam vor, das Tier hinabzustoßen in die Finsternis. Und doch dürfen wir nicht zaudern. Müssen die arme Marry sogar mit möglichster Kraft in den stürzenden Fluß befördern, damit sie nicht auf eine der Felszacken gerät und damit sie freie Bahn zum Absturz in das Becken hat. Dort unten wird sie sich schon selbst zu einer flachen Stelle hinarbeiten.

Marry schnaubt, drängt rückwärts, – der glatte, nasse Boden begünstigt unser Vorhaben, – ein Stoß, das Tier verschwindet, die fallenden Wasser reißen es mit hinab, und eilends klettern wir hinterdrein.

Die Fackeln zischen, die Bambussprossen sind feucht, und wir selbst tragen auf dem Rücken eingehüllt in Zeltbahnen mit das Kostbarste unserer Fracht: Die Fackeln, die Spender des Lichts, die Feinde der Finsternis!

Heliante habe ich angeseilt. Heliante klettert als erste in die Tiefe. Von Leiter zu Leiter, zwängt sich durch Felsnasen, durch schlüpfriges Gestein …

Gleitet aus …

Ich spüre den Ruck des Seiles, ich fühle, daß die Leitersprosse bricht, ich rutsche, und ich fühle das Hämmern des Blutes in Ohr und Schläfen, – – und beiße die Zähne zusammen, – und finde neuen Halt, stehe fest, sehe, daß Heliante unter mir die Leiter wieder gepackt hat …

Sekunden nur …

Sekunden qualvoller Ungewißheit …

Wären wir beide hinabgestürzt, nichts hätte uns retten können, wir wären unten in dem kleinen Becken mit unserer Rückenlast in die Tiefe gezogen worden.

Heliante hat sich bewährt. Nicht einmal die Fackel ließ sie fallen, und noch vorsichtiger klettert sie tiefer, schwingt sich zur Seite, steht auf dem Uferrand des Beckens und erwartet mich.

Auf der Oberfläche des unterirdischen Sees tanzen vier festgeseilte Bündel im unruhigen Wasser: Drei Bündel Bambus, ein Bündel Hab und Gut.

Ich stehe neben Heliante, und der Fackelschein spiegelt sich in dem silbernen Bande des Wasserfalles und läßt es rosig aufleuchten. Höher noch heben wir die knisternden, flammenden, tropfenden Fackeln …

Drüben, genau dem Wasserfall gegenüber, öffnet sich diese Höhle zu gezacktem Tor, und in diesem Felsentor steht ein hochbeiniges Geschöpf, schüttelt sich und blickt uns vorwurfsvoll an: Miß Marry!

Der ungewisse Lichtschein vergrößert ihre Gestalt, die Augen schillern wie Teller, und … Heliante lacht so froh, lacht und spottet der gierigen, gleitenden Wasser, denen wir glücklich entronnen sind.

Das Becken ist fast kreisrund. Nach Norden zu liegt der Wasserfall, im Süden der Abfluß, die [Reste von dem zerrissenen Netz im Westen und wir][16] befinden uns hier an der Ostseite, und hier knote ich eilends, bis zu den Hüften im Wasser, die vorbereiteten Floßhölzer aneinander.

Mühselige Arbeit … Aber Heliante hilft, und so scharf auch die Strömung gen Süden zieht, so sehr sie uns auch behindert: Das Floß ist fertig, ein schmales Gebilde aus vier Schichten Bambusstangen.

Heliante schwingt sich hinauf, ich folge, ich kappe das letzte Tau, und das Floß gleitet auf Marry zu, die bis zum Bauche im Wasser steht und schleunigst zur Seite weicht.

Ein Floß, – zwei Menschen, – ein kluges Maultier, das freiwillig seinem Herrn folgt, dessen Hände wie Feuer brennen … brennen von dem Festziehen der Lianenstricke, die unser Fahrzeug zusammenhalten.

Wir verschwinden in dem Tunnel, – sechs Meter breit, zuweilen wieder so eng und flach, daß wir gerade noch mit unserem Floß hindurchschlüpfen können.

Gerade noch …

Stunden vergehen …

Kleine Wasserfälle zwingen uns, das Floß zu verlassen, das Floß zu tragen.

Stunden abermals …

Wir gleiten durch weite Höhlen, deren Abgrenzungen das Licht der Fackeln nicht erkennen läßt. Wir gleiten ins Ungewisse hinein und – wissen doch, daß dies der einzige Weg zu Allan Tott ist.

Heliante sitzt auf dem Bündel, unserem Hab und Gut, ist eingenickt, der Kopf liegt auf ihrer Schulter, das Gesicht erscheint seltsam lebenswarm bei dieser Beleuchtung. Heliante Ghosts Kräfte versagten. Sie schläft so fest, daß nicht einmal die harten Stöße, die in den engeren Teilen des Flußkanals das Fahrzeug erschüttern, sie zu wecken vermögen.

Ihre müde Schönheit rührt mich.

Welche Schicksale lagen wohl hinter dieser Frau im Dunkel einer bitteren Vergangenheit?!

Ihre müde Schönheit verscheucht die eigene Müdigkeit.

Hinter uns her watet geduldig Miß Marry. Zuweilen verliere ich sie aus den Augen, sehr oft halte ich an, stemme die Bambusstange gegen das Gestein und warte und gönne der armen Kreatur eine Ruhepause.

Stunden vergehen.

Meine Hände sind flammende Glut, meine Muskeln ein einziger Schmerz. Fährmann spielen auf einem so brüchigen Floß, dazu auf die Fackeln achtgeben, sie ergänzen in ihren Haltern, – – es ist Energieprobe, ist ein Beispiel, daß der Wille alles vermag.

Der unterirdische Fluß strömt feuchte Kühle aus. Und die Kälte kriecht an den durchnäßten Beinen immer höher … Die Beine sind wie kaltes Blei, wie schweres Blei, – die Whiskyflasche hilft – – für kurze Zeit.

Aber Heliante schläft, und ich freue mich dessen.

Ihre müde Schönheit ist Ansporn und Trost und Hoffnung.

Stunden vergehen …

Bis abermals vor uns eine der großen Wassergrotten sich auftut, in denen die Strömung kaum zu spüren ist.

Hier spüre ich nichts mehr. Das Floß steht still, dreht sich planlos hin und her, und Miß Marry, nur bis zu den Schenkeln im Wasser, reibt ihre Schnauze an meiner Schulter, wedelt mit den Ohren und beugt sich über Heliante.

Miß Marrys Zunge ist für Zärtlichkeiten wenig geeignet, und Heliante fährt mit einem Schrei empor.

Der Schrei hallt in der Grotte wieder, weckt ein Echo …

Als ob Teufel höhnisch kichern.

Dann lacht die Frau, die meine Gefährtin wurde, so herzlich, daß die kichernden Teufel in das Lachen mit einstimmen …

Die Grotte hallt wieder von einem endlosen Gelächter.

Es war das letzte Lachen, das über Heliantes Lippen kam. Es war vorläufig das letzte Mal, daß Heliante den dicken Schädel Miß Marrys an sich drückte und beschämt sagte: „Meine Nerven gehen mit mir durch. Die verflossenen Stunden waren denn doch zu viel für mich.“ Sie legte mir die Hände leicht auf die Hüften, und ein warmer Schimmer glomm in ihren Augen auf. „Mein lieber Freund und Kamerad, Sie müssen ja zum Umsinken müde sein! Und ich – ich habe geschlafen. Also doch die Unzulänglichkeit der Frau, die so gerne gleiches wie ein Mann leisten möchte, was an sich schon ein Unding ist, da die Natur uns für andere Pflichten geschaffen hat.“

Ich drückte ihre Hände und beruhigte sie. „Heliante, ich habe bereits Schlimmeres durchgemacht. Körperliche Anstrengungen gelten mir nicht viel. Wenn nur Herz und Seele unberührt bleiben.“

Sie starrte entsetzt auf meine wunden Handflächen. „Mein Gott, – und so haben Sie die Stoßstangen benutzt und all das Übrige getan, was hier von Nöten war – so?! Sie Ärmster! Sie werden …“

„Ja – wir müssen weiter, Heliante … Die Strömung spüre ich nicht mehr. Greifen Sie mit zu. Die Grotte ist flach. Drüben muß der Flußtunnel sich fortsetzen … Nehmen Sie diese Stange, sie ist leichter … Und jetzt – – vorwärts!“

Meine freudige Zuversicht wirkte wohl ansteckend. Heliante reichte mir nochmals die Hände in scheuer Dankbarkeit, und die Weiterfahrt begann.

Vier Harzfackeln hatte ich in die Halter geklemmt. Wir brauchten Licht, die Grotte besaß eine so gewaltige Ausdehnung, daß ich mich, da jede Strömung fehlte, nur nach dem Taschenkompaß richten konnte. Pater Menardus hatte die fernen düsteren Berge im Südosten mir gezeigt, jedenfalls nicht direkt südlich, und da der unterirdische Fluß dauernd südliche Richtung beibehalten hatte, durfte ich annehmen, daß er diese Richtung auch weiterhin beibehalten würde.

Langsam schoben wir das Floß Meter um Meter vorwärts. Es war jetzt neun Uhr abends, an der Oberwelt würde jetzt sehr bald die Nacht hereinbrechen, und wenn wir Glück hatten, gelangten wir während der Dunkelheit ins Freie und hatten daher von Allan Tott weit weniger zu fürchten als im hellen Sonnenschein.

Heliante war prächtig ausgeruht, ihre Muskeln spielten, ihr geschmeidiger Körper bog sich bei der ungewohnten Arbeit in graziösen Windungen, und ihr frisches Geplauder verlieh auch mir wieder jene Spannkraft, die wir für den Rest der Fahrt unbedingt gebrauchten. Sehr lange konnte diese zweite Reise im Finstern kaum mehr dauern, wir mußten inzwischen weite Strecken zurückgelegt haben, und bei dem Gedanken, vielleicht sehr bald diese Unterwelt zu verlassen und all die dunklen Fragen klären zu können, geriet ich ungewollt in eine nervöse Überreiztheit, die mit dazu beitrug, daß ich allzu eilfertig … den falschen Arm wählte.

Wir näherten uns der südlichen Grottenwand. Sie war lang und steil, und hier spürten wir auch wieder die Strömung, hier war das stille Wasser, in dem die Fackeln sich glitzernd spiegelten, leicht gekräuselt und teilte sich schäumend an einem Felsblock, der mitten aus der Fahrrinne hervorragte.

Heliante rief unsicher: „Abelsen, – da, schauen Sie: Vor uns zwei Felsöffnungen, zwei Kanäle!“ Sie reckte sich auf die Fußspitzen, nahm eine der Fackeln, hielt sie ganz hoch, und während ich das Floß um das steinerne Hindernis schob, rief sie abermals: „Zwei Kanäle und zwei gleich starke Strömungen! Die Felslöcher liegen etwa fünfzig Meter auseinander. Wohin nun?! Wohin?!“

Eilfertiger, leichtfertiger ward nie eine Antwort erteilt.

„Natürlich wählen wir den Kanal nach Osten zu. Sie sehen ja auch, Heliante, daß der Tunnel weit breiter ist als der andere.“

Ich war übermüdet, überreizt.

Nur so war’s zu erklären, daß ich so garnicht auf das seltsame Benehmen Marrys acht gab, denn die Marry stapfte im flachen Wasser nach links auf die genau südliche Felsöffnung zu. Und erst als ich die eigenwillige Dame energisch anrief, bequemte sie sich zu einer Richtungsänderung und holte uns sehr bald ein.

Das Wasser in diesem Kanal wurde in kurzem derart flach, daß das Floß oft über den Grund schrammte. Nach einer halben Stunde waren nur noch Pfützen vorhanden, dann völlig kahler Boden.

Ich wurde stutzig. Eine innere Stimme sagte mir, daß wir zweifellos den falschen Kanalarm gewählt hatten. Mir fiel auch jetzt erst des Maultieres eigentümliches Benehmen ein. Der Instinkt hatte Miß Marry richtig geleitet, – mein Instinkt hatte versagt.

Heliante nahm die Sache nicht weiter tragisch. „Das bedeutet doch nur einen Zeitverlust von vielleicht zwei Stunden, mein Freund! Was tut es?! Gar nichts! Kehren wir um!“

Wir standen auf trockenem Geröll. Das Floß lag in einer Pfütze, Marry war ein Stück voraus geeilt und sog die Luft schnuppernd ein.

Jetzt, wo es zu spät war, richtete ich meine Aufmerksamkeit mißtrauisch auf das Benehmen des Tieres.

Heliante meinte plötzlich: „Erscheint es Ihnen hier nicht bedeutend wärmer? Mir ist es, als rieche ich die Oberwelt, die Tropenluft.“

Ich konnte nicht antworten.

Hinter uns, von dort, woher wir gekommen, ertönte ein scharfer Knall, dem ein starker Luftstoß folgte, – wir wurden fast umgeworfen. Dem Luftstoß wieder folgte das eindeutige Poltern stürzender Gesteinmassen und – – ein höllisches Gelächter, – – dann noch ein Knall, – – ein neuer Luftstoß …

Leichenblaß lehnte Heliante an der Felswand des Tunnels. Ihre Augen waren übergroß vor Grauen, ihre Lippen zuckten, und kaum vernehmbar kam ein Name über ihre sich sträubende Zunge:

„Das war – – er! Das war sein Gelächter!“

„Und das war …“, fügte ich fast grausam-ehrlich hinzu – „das waren Sprengschüsse, Heliante! Der Rückweg ist uns abgeschnitten. Ich wundere mich nur, daß die Schurken uns nicht niederknallten, wo sie uns doch ohne Zweifel erwartet und beobachtet hatten!“

Die Frau wandte mir ihr farbloses Gesicht zu.

„Abelsen, da kennen Sie Allan Tott noch nicht genügend! Lebend will er mich haben – – lebend, auch Sie!! Und vielleicht … fängt er uns wirklich.“

Sie erschauerte von neuem.

Nichts hätte mich so rasch wieder zum Herrn der Lage gemacht wie Heliantes Angst und Entsetzen. Nichts hätte mir so schnell die steinerne Ruhe kalten Zielbewußtseins wiedergeben können wie die grelle, flammende Wut, die gegen diesen Schurken in mir emporlohte.

Wortlos belud ich das kluge Maultier mit unserer Habe, wortlos deutete ich dorthin, wohin wir fliehen mußten. Wir ergriffen die Fackeln, wir wanderten noch fünf Minuten, und urplötzlich sahen wir den stillen, ovalen Bergsee vor uns.

Wir hatten unseren Freiluftkerker erreicht. Steile Berge begrüßten uns, Sternenhimmel und Mondsichel … Der See war wie von unten her festlich erleuchtet. Das Firmament schimmerte in seinen Tiefen wie tausend Lichtpünktchen. Aber drohend und düster und unheimlich erschien der langgestreckte Bergsee mit seinen steilen Felsenmauern.

Wir machten halt.

Marry nicht. Das Maultier trottete von selbst nach links, wo eine schmale Terrasse sich aufwärtszog und dort endete, wo wir nun hausen: Zwischen schützenden Riesensteinen, über die sich ein Vorsprung der Riesenwand wölbt. Ohne dieses gewaltige Dach hätte Nachbar Doktor Tod uns längst durch Steinhagel getötet.

Das war … der falsche Arm! Ein Pfad ins Ungewisse … Das liegt nun drei Tage hinter uns. Auch das andere: Die Kugeln der Wächter droben, der Anblick des Skeletts, das uns Allan Tott höhnisch zeigte und dazu hinabbrüllte mit einer Lungenkraft, die nur durch Haß, Gier und … vielleicht Furcht geboren ward …

Brüllte – – sein Ultimatum:

„Heliante, – her zu mir!! Oder ihr sterbt beide!! Ich werde Taue hinablassen, und …“

Heliante hatte sich mit einer verachtungsvollen Geste abgewandt und war zwischen unseren Felsen verschwunden. Das war ihre Antwort.

Und dann folgten die Schüsse, folgten meine Kugeln …

Verbissener Ingrimm verhalf mir zu guten Treffern. Der Rand der Steilwand droben wurde leer. Ich trat zu der Frau, deren schmerzlichstes Geheimnis ich nun kannte:

Heliante Ghost war Heliante Tott, war die Gattin eines Menschen, der längst reif für den Galgen.

Sie saß da, das Kinn in die Hände gestützt, und brütete vor sich hin. Ich sprach gleichgültige Dinge, um sie abzulenken.

„Ich danke Ihnen für Ihr Zartgefühl, Abelsen“, meinte sie mit müder Stimme. „Allan Tott war mein Gatte, ich ließ mich scheiden, als ich erfuhr, daß er ein Betrüger, Verbrecher und … ein Mörder, auch das wohl. Später werde ich Ihnen alles erzählen … später …“

 

7. Kapitel.

Die Stadt der Träume.

Abermals ist ein Tag verstrichen – ein Tag, der viel Neues, manches Schlechte, nur Märchenhaftes brachte. Heliantes trübe Stimmung hat sich gebessert, die Schützen droben sparen Patronen, und wir haben Stunden verlebt, deren reine Schönheit der Reinheit dieses Bergsees und der kühlen Luft seiner Randberge sich anpaßte.

Wir schonen unsere Lebensmittelvorräte, wir werden weder verhungern noch verdursten, die Regenwasserzisterne drüben auf der rissigen Terrasse enthält angenehm kühles Naß, und meine nächtlichen Streifzüge werden immer bessere Beute einbringen, je mehr ich unseren See und unsere Berge, unseren Kerker kennen lerne. Wir sind mutiger und zuversichtlicher geworden, wir ängstigen uns nicht wegen der seltsamen Bilder, die uns die durch eine Wolke beschattete Sonne bescherte.

Und das war so.

Mittags war es, wir saßen vor unserer Felsgrotte im Schutze von Steinplatten, die ich als „Sommerlaube“ hergerichtet hatte. Wir sprachen wenig, aber die große Szenerie vor uns zwang uns zu jenem beredten Schweigen, das oft von Gedanken schönster Art weit mehr beflügelt ist als eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen, denen trotz engsten schicksalhaften Verbundenseins gerade im Augenblick die Stimmung fehlt, die wie leise knisternde elektrische Funken von einem zum anderen überspringenden Gedanken irgendwie in Worte zu prägen.

Unter uns – etwa sechs Meter – lag der salzige See, ein Bittersee wie so viele in Yucatan. Seine schmalen Uferränder, spärlich bewachsen, waren nur von wenigen Vögeln belebt. Uns gegenüber stiegen am anderen Ufer die Felsmauern, hellgrau mit schwarzen und grünen, bemoosten Flächen, senkrecht aus dem klaren Wasser an und spiegelten deutlich wieder in der unbewegten, sonnengetränkten Flut. Über diese Granitmauern hinweg ragten in der Ferne die lichten, grünen Wälder einer freundlicheren Hügelkette, und über alledem spannte sich der Himmel aus wie ein gleißendes Gewölbe, erfüllt von Sonnenglanz und drückender Wärme.

Auf dem See schwammen einsam ein paar grellbunte Wildenten mit knallroten Schöpfen. Sie ruderten vom Südufer nach Norden, eine hinter der anderen, genau ausgerichtet, und der in den Lüften kreisende Seeadler war von ihnen längst erspäht worden. Als der geflügelte Räuber wie ein Wurfgeschoß mit angezogenen Fängen herabsauste, fand er die Wasserfläche leer, die Enten waren in der Tiefe verschwunden, und triefend und mit heiserem Schrei strich der genarrte Raubvogel wieder davon. Die Enten erschienen auf der Oberfläche, schüttelten sich, schlossen sich zur Reihe aneinander und ruderten wohlgemut weiter.

Da sagte Heliante aus ihren schweigenden Gedanken heraus:

„Überall Kampf, überall …! Selbst die gütige Mutter Natur hat es so eingerichtet, daß ein Geschöpf von dem anderen lebt oder von den Gaben der Pflanzen, – Vernichtungskrieg bleibt es in jedem Falle.“

„Auslese“, verbesserte ich. „Natürliche Auslese. Nur der Starke lebt, der Schwache fällt dem anderen zum Opfer. So ist es … So muß es sein. Menschengeschick spielt sich anders ab.“

Heliante berührte meinen Arm. „Dort – – sonderbar …, dort, wo gerade die Enten schwimmen!“

Ihre Stimme klang befangen und leicht beunruhigt.

Eine Wolke sperrte das Sonnenlicht ab, eine Wolke, die nur ein einzelner grauer Fleck im Äther war mit hellen, leuchtenden Rändern.

Schatten huschten über den klaren See, dessen silbernes Leuchten die Augen nicht mehr blendete.

Und nur deshalb gewahrten wir in den Tiefen des klaren Wassers seltsame Gebilde, – die Umrisse zu verschwommen, als daß man über die Natur dieser hohen düsteren Dinge sich Gewißheit verschaffen konnte.

Es waren vielleicht Mauern, Reste von Häusern, von großen Steinbauten, ich glaubte Straßen zu erkennen, Fensteröffnungen, Ruinen von Palästen, aber ich war zu unsicher in meinem Urteil und schwieg.

Die Frau mit dem kühnen, stillen Gesicht neben mir schwieg nicht.

„Abelsen, – – eine Stadt?“ Ihre Finger suchten meine Hand. Das große Wunder einer Ruinenstadt, die im Wasser begraben war, schien Heliantes Seele zu ängstigen.

„Wie schön …!“ fuhr sie fort. „Die Wolke wandert, und gerade diese Beleuchtung enthüllt uns die Geheimnisse der Tiefe. Es ist schön, – wie alles, das mit dem Alltäglichen nichts gemein hat.“

Nein, ich hatte sie doch richtig beurteilt.

Sie ängstigte sich nicht. Das Wunder nahm sie gefangen, und ihre heiße Hand suchte in meinen Fingern den körperlichen Beweis der Nähe eines verständnisvollen Freundes.

Es war eine Ruinenstadt.

Mochte wirklich die eigentümliche Beleuchtung daran schuld sein: Die Stadt schien emporzusteigen, die das Licht brechenden Wassermassen über der Stadt schienen geringer zu werden, immer mehr Einzelheiten tauchten auf, – es war so gewiß eine uralte Maya-Stadt, wie Heliante und ich hier leibhaftig im Schatten der Steinplatten saßen.

Dann stieß Heliante einen leisen Schrei aus.

„Abelsen, – – ein Mensch wandert dort unten … Da – sehen Sie ihn? Über den freien Platz vor dem hohen Gebäude schreitet er!“

Ich sah, und ich hielt den Atem an.

Es war dort in der Tiefe ein Wesen, das langsam, plumpen Schrittes sich bewegte und uns immer näher kam – hier zum Westufer hin, – – ein Mensch?!

Die Wolke gab die Sonne wieder frei.

Die günstige Beleuchtung schwand, die Konturen der Ruinen und des wandelnden Geschöpfes zerrannen zu wirren Linien, und dann gleißte die Oberfläche des Sees wieder wie vordem, und der seltsame Spuk versank.

Heliantes Augen hingen wie flehend an meinem nachdenklichen Gesicht.

„Abelsen, – – was bedeutete das?! Es waren doch Ruinen, und das schreitende Geschöpf glich einem Menschen und doch einem Fabelwesen.“

„In jedem Falle ein Geschöpf“, gab ich zögernd zu. „Ein Mensch?! Nein! Es dürfte vielleicht … ein Krokodil …“

Ich fühlte selbst, wie töricht diese Deutung war. Aber Heliantes Hand war eiskalt, und jede Freude über die versunkene Stadt war verschwunden und hatte bei ihr nur einer ungewissen Furcht das Feld geräumt.

„Ein Krokodil?!“

Und dann lachte sie melodisch …

Ihre Finger wurden wieder warm, und ihre Züge zeigen einen gewissen Übermut.

„Sie glauben, ich fürchte mich … Vielleicht fürchtete ich mich wirklich eine Minute lang. Jetzt ist die Zuversicht Siegerin geblieben. Ich hatte ja Sie als Beschützer, lieber Freund, und alle Fabelwesen der Tiefe würden vor Ihrer Büchse kaum standhalten … – Krokodil, – – ein Scherz doch nur … Es war ein Mensch. Er ging aufrecht, und seinen häßlichen Kopf mit seinen Glotzaugen sah ich vielleicht klarer als Sie. Ein Mensch?! – – So reden Sie doch, Abelsen!“

Mein Blick durchforschte den Himmel.

Der einzelnen Wolke folgte jetzt eine zweite. Ich berechnete ihren Lauf und hoffte, daß auch Sie die Sonne wieder absperren und uns das Wunder der Stadt der Träume bescheren würde.

Für mich waren die Ruinen „Stadt der Träume“, denn meine Phantasie bevölkerte die Straßen dort unten mit bunt geschmückten Kriegern einer indianischen Kulturepoche, die, zwar jünger als die altägyptische, doch vor dieser unendlich viel voraus hatte. Die Pyramiden der Nilherrscherdynastien, noch heute angestaunt, vertragen keinen Vergleich mit den architektonischen Künsten des Maya-Volkes, und wenn der Durchschnittsgebildete noch heute Altägypten als das klassische Kulturland betrachten, so ist dies lediglich darauf zurückzuführen, daß Ägypten den Vorzug besaß, der Zentralstelle europäischer Zivilisation, und das war das alte römische Reich, gleichsam benachbart zu liegen, während Mittelamerika und die Inka-Staaten Südamerikas für Europa erst durch Columbus als Ausbeutungsobjekte erschlossen wurden.

Vielleicht ist es nicht uninteressant, hier das in Kürze zu erwähnen, was Freund Goto mir gelegentlich über die heutigen mittelamerikanischen Republiken als genauer Sachkenner der Verhältnisse mitteilte. Diese sechs Staatswesen sind in Europa sehr wenig bekannt: Guatemala, Nicaragua, San Salvador, Panama, Honduras und Costa Rica. Als Musterstaat gilt das kleine San Salvador, wo Kaffeeplantagen, zumeist ist hier deutsches Kapital festgelegt, allgemeinen Wohlstand garantieren und die sonst als Krankheitserscheinung aller gemischt bevölkerten Republiken üblichen Revolutiönchen fehlen. Neben San Salvador wäre Costa Rica als Musterländchen zu nennen, während Panama, bekanntlich eine Schöpfung amerikanischen Großkapitals zur Sicherung des Panamakanals, das für diese „Staatsgründung“ verpulverte Geld kaum verlohnte. Englands Einfluß ist in letzter Zeit in all diesen Republiken, von denen Guatemala und Honduras noch in den Kinderschuhen der Zivilisation stecken, stark gewachsen, genau so jedoch das Nationalgefühl, das nicht einmal die oft versuchte Gründung eines mittelamerikanischen Staatenbundes zuließ. Was die Bevölkerung betrifft, sind Guatemala und Honduras stark verniggert, und dieser Rassenmischmasch wirkt sich in ungünstiger Art aus. Dem Mischling fehlt der Sinn für Aufbau und Ausbau, er ist geistig vielleicht lebendiger als der Indianer und der Nachkömmling der Spanier und der Neger, nebenher jedoch träge, ohne Tätigkeit und allzuleicht begeistert für unverstandene Neuerungen. Sehr klar zeigt sich dieser Nachteil der Mischrasse an den Beispielen San Salvadors und Costa Ricas. Diese beiden Staaten haben vorwiegend weiße Bevölkerung. – Trotzdem dürfte die bisher sehr starke wirtschaftliche Abhängigkeit dieser Republiken Mittelamerikas vom amerikanischen Großkapital immer mehr schwinden. Englands geschickte Vorstöße, New Yorks Einfluß zu verdrängen, haben bereits mancherlei Erfolge aufzuweisen, und sobald erst der geschlossene, nationale Wille dieser mit Bodenschätzen gesegneten Länder (die Bananenplantagen stellen allein fast Milliardenwerte dar) die Loslösung von fremden Finanzeinflüssen in die Wege leitet – Anfänge sind schon gemacht, – dürften gerade diese Staatsgefüge beträchtlichen Einfluß auf den Weltmarkt gewinnen. – Freund Goto als Mexikaner hat Mexiko nie mit zu Mittelamerika gerechnet, sein Vaterland war ihm bei der gewaltigen räumlichen Ausdehnung stets ein Land für sich, das mehr zu Nordamerika zu zählen sei. – –

Stadt der Träume …

Meine Phantasie griff noch weiter, noch prüfender in die Vergangenheit zurück. Gerade mich als Ingenieur beschäftigten bei dem Anblick der Ruinen auch rein technische Fragen. Eins war mir sofort klar geworden: diese Stadt hatte man nicht aus Sicherheitsgründen gerade an dieser Stelle inmitten der unzugänglichen Berge errichtet. Sie war Stadt und Festung zugleich gewesen. Aber – wie hatten ihre Bewohner mit der Außenwelt sich in Verbindung gesetzt, wie die Lebensmittelzufuhr geregelt, da es doch ausgeschlossen schien, daß ein solches Gemeinwesen etwa nur durch Lastenaufzüge vom Rande einer der umliegenden Höhen den Verkehr nach benachbarten Feldern und benachbarten Städten unterhalten hatte!

Und schließlich die Hauptfrage: War dieses Tal, das doch einst wasserfrei gewesen und das zahllosen Geschlechtern Wohnung geboten hatte, erst an demselben Tage überflutet worden, als jene Waldblöße, auf der mir der Pater Menardus begegnete, nicht mehr ein Flußbett darstellte, sondern der unterirdische Strom, dem wir nun bis hierher gefolgt waren, sich den neuen Kanal suchte und als Wasserfall hinabschoß in die Tunnel und Grotten, die wir vor kurzem durchquert hatten?!

Es mußte wohl so sein.

Damals blieb die andere Frage ungelöst: Die nach dem Verbindungsweg von hier zur Außenwelt!

Und gerade sie beschäftigte mich jetzt so eingehend, daß sogar Heliante meine völlige Geistesabwesenheit bemerkte und fast vorwurfsvoll sagte:

„Olaf, – – die Wolke, die zweite Wolke! Sofort wird sie sich vor die Sonne schieben … Also – – Achtung!“

Nur dies konnte meine Gedanken zurückleiten in die Gegenwart: Die zweite Wolke!! – Ich schaute schnell empor, ich dankte Heliante für ihre Aufmerksamkeit, denn es galt, die wenigen Minuten auszunutzen, die uns abermals einen Einblick in die Stadt der Träume gestatten würden.

Die Wolke segelte der Sonne entgegen. Noch war es Zeit. Eilends holte ich aus unserer Grotte unsere beiden Ferngläser. Miß Marry, für die nun ein besonderer Stall abgeteilt war, witterte mich und schnaubte laut. Arme Kreatur, – eingesperrt auf engem Raum, und doch nicht ungeduldig, stets zärtlich, so weit ein Maultier zärtlich sein kann. Ich klopfte ihr rasch noch den feisten Schenkel, und der letzte Schlag fiel etwas kräftiger aus – zur Strafe. Ich sah, daß Miß Marry mit den Vorderhufen all den feinen, trockenen Sand, den ich für sie als Lager so mühsam herbeigeschleppt hatte, restlos zur Seite gekratzt hatte – aus Langerweile vielleicht.

Heliante nahm das Fernglas, putzte es mit ihrem keineswegs mehr einwandfrei sauberen Tüchlein und rief gespannt:

„Olaf, – – der Schatten kommt!“

Die Wolke verdeckte die Sonne, und wiederum schien wie vorhin die im Wasser begrabene Ruinenstadt sich zu heben, mehr der Oberfläche zuzustreben. Immer deutlicher traten die Umrisse der Gebäude hervor, Straßen und Gassen öffneten sich wie Schlünde, und die Linsen des guten Glases brachten mir die versunkene Stadt, dieses Vineta von Yucatan, noch näher und zerstreuten die allerletzten Zweifel, die inzwischen bei mir wieder aufgetaucht waren und die mir den Glauben an eine Sehtäuschung aufzwingen wollten.

Die Stadt der Träume war vorhanden.

Doch – wo blieb der gespenstische Bewohner mit den Glotzaugen?!

Ich suchte die Plätze, Straßen und Gassen ab, richtete das Glas auf jene Stelle, wo das „Geschöpf“ vorhin zuletzt sichtbar gewesen.

Nichts …

Kein Mensch, der da unten wandelte.

Nichts!!

Heliante lehnte an meiner Schulter … Ich spürte, wie durch ihren Leib ein Zucken ging …

„Olaf – – dort!“

Ihre linke Hand wies in die Tiefe dicht zu unseren Füßen fast …

Und dort schritten drei Wesen dahin, eins hinter dem anderen, aufrecht schreitende Wesen …

Und … verschwanden …

In einem Hause, das dicht am Westabhang stand, dicht an unserer Seite, aber in der Tiefe, – ein Haus von Yucatan-Vineta.

Die Sonne wurde wieder frei.

Sonnenglanz flirrte über den See, die Stadt zerrann in silbernem Reflex, und wir beide schauten uns mit weiten, unsicheren Augen an, wir beiden lebenden Menschen, und unsere Augen fragten stumm:

„Welcher Art sind die Geschöpfe dort in der Tiefe?!“

Heliantes Wangen hatten die Farbe verloren. Auch ich empfand ein unbestimmtes, leichtes Grauen, das sich schwer in Worte kleiden läßt. Ich bin ein Mensch unserer modernen Zeit, ich war nie ein Gespensterseher und habe mich mit Okkultismus und verwandten Gebieten nur gerade so viel beschäftigt, um darüber gelegentlich mitreden zu können. Ich hatte die Welt von einem Ende zum anderen durchforscht: Nirgends war ich auf Übernatürliches gestoßen. Was der vierten Dimension anzugehören schien, hatte sich noch regelmäßig als sehr harmlos-weltlich zum Schlusse erklärt.

Dies hier?!

Menschen, die durch die Straßen einer ertrunkenen Stadt wandelten?! … Erinnerungen kamen mir – flüchtig wieder davonhuschend, an alte Sagen, an Schiffererzählungen, an Fischermärchen. Versunkene Inseln sollten mit großen Dörfern in der Nordsee auf dem Meeresgrunde samt ihren Bewohnern weiterleben … Die Glocken Vinetas wollte dieser oder jener gehört haben. Zweifellos sehr hübsche, vielleicht auch tiefgründige Märchen das alles. Aber hier?! Ich hatte mit eigenen Augen geschaut, was der kritische Verstand ohne klaren Beweis von sich gewiesen hätte.

Heliante sagte mit schwerer Zunge:

„Olaf, – – sind das nun ruhelose Seelen, die dort durch die Gassen geistern und doch mindestens sechs Meter Wasser über sich haben?!“

Ich blieb ihr die Antwort zunächst schuldig. Und als ich antworten wollte, ereignete sich anderes, das wichtiger war als die Geister des Bergsees und der versunkenen Stadt.

Ein Schuß knallte über uns.

Hoch über uns, wo am Steilrand Allan Totts Wachen lauerten. Der Knall klang dünn und kraftlos, aber Schuß folgte auf Schuß, und das Knattern verstummte erst nach geraumer Weile.

Ich hatte durch die feinen Spalten der geschichteten Steinplatten nach oben gelugt. Uns galten die Kugeln nicht. Wem sonst?!

Es wurde wieder still.

Heliante stand neben mir. Wir hatten nach unseren Büchsen gegriffen und rechneten mit einem Angriff. Es war immerhin möglich, daß Allan Tott ein paar seiner Leute an Tauen über den Steilhang zu uns hinabschickte. Ich bemerkte nichts Verdächtiges, trotzdem trieb mich die Unruhe in unsere Trümmergrotte, wo ich von dem selbstgefertigten Dache aus einen besseren Rundblick hatte. Ich hatte mir dort eine Schutzwand hergestellt, und kaum war ich dahinter angelangt, als die Gewehrschüsse abermals auflebten … Von den Schützen sah ich nichts, konnte auch nicht feststellen, wohin sie ihre bleiernen Grüße sandten.

Und wieder flaute die scheinbar unsinnige Schießerei ab und lebte nicht wieder auf.

Unser See und unser Tal waren leer und einsam wie bisher, die Wildenten flitzten im dünnen Schilf durch die Stengel und Blätter, führten ihre Jungtiere ins Freie, einzelne Beutelratten liefen von Felsloch zu Felsloch, der Adler droben zog noch immer seine Kreise …

Ein Bild des Friedens.

Bis Heliante mich rief …

„Olaf, – – Marry hat …“, – mehr verstand ich nicht.

„Olaf, kommen Sie … kommen Sie!!“

Es war nicht Angst, die ihre melodische Stimme mir fremd färbte. Es war, als ob Marry da in ihrem Stall irgend einen groben Unfug angerichtet hätte. Ich zwängte mich durch die Öffnung der Dachplatten, sprang hinab, eilte in den Stallverschlag.

Heliante deutete auf den Boden vor Miß Marrys selbstgebauter Krippe.

„Da, – – der Stein, Olaf … der Stein!“

Ich schob Marry bei Seite, bückte mich und erkannte an der Stelle, wo des Maultieres Hufe den Sand weggescharrt hatten, ein paar helle Striche, – Striche, die sich zu einem Viereck vereinten.

Heliante kniete und kratzte mit den Fingern aus tiefen Fugen die Reste des hellen Sandes heraus.

„Eine Steinplatte, Olaf …! Sauber eingefügt in den Felsboden der Terrasse …! Helfen Sie mir doch! Vielleicht …“

Ihr Eifer wirkte ansteckend. Ich half, und dann hoben wir die Platte mühsam empor. Sie maß anderthalb Meter im Geviert und wog sicherlich zwei bis drei Zentner, und lediglich mit Hilfe des langen starken Buschmessers als Hebel war es uns gelungen, sie etwas zu lüften.

Nun stand sie senkrecht an Miß Marrys Krippe gelehnt, und zu unseren Füßen zog sich ein Schacht fast senkrecht in die Tiefe hinab. An der einen Seite der Schachtwand bemerkte ich zwei Balken aus nie faulendem Eisenholz mit Handgriffen, und beide Balken waren seitlich durch andere abgestützt – wie Hebel, die in einer Führung hin und her geschoben werden können.

„Eine Fackel – schnell!!“

Jetzt war es nicht nur Eifer bei mir, jetzt war es verzehrende Ungewißheit, die geklärt werden wollte.

Heliante drückte mir die Fackel in die Hand. Ich lag lang auf dem Boden, leuchtete den Schacht sorgfältig ab und gewahrte an der Ostseite in der glatten Fläche tiefe Stufen und Steinzapfen als Halt für die Hände.

War dies etwa hier der Geheimweg der Talbewohner, war dies die Verbindung mit der Außenwelt?!

„Heliante, nehmen Sie die Fackel …“

Aber sie hielt mich zurück.

„Olaf, – nicht vorschnell handeln! Sie könnten abstürzen. Lassen Sie sich anseilen …“

„Ein guter Gedanke, Heliante, – bringen Sie mir auch meine Pistolen und die Laterne. Dieses Schachtes wegen dürfen wir schon ein wenig Karbid vergeuden.“

Feuereifer beseelte uns. Und die Flamme, die diesen Eifer nährte, war die Hoffnung, daß dort unten ein Stollen sich durch den Berg gen Westen ziehe und uns die Möglichkeit böte, unseren Kerker zu verlassen und mit Allan Tott abzurechnen und die Freunde zu befreien, die wir in seinen Händen als Gefangene glaubten.

Ich stieg hinab, die Laterne vor der Brust, Heliante hielt das Seil, und langsam und vorsichtig kletterte ich tiefer, neben mir die beiden Balken, um mich her kühle, feuchte Luft.

Neun Meter so …

Und dann die Enttäuschung: Meine Füße berühren Boden, der Schacht war nicht tiefer als neun Meter, vielleicht war es nur eine Zisterne, ein Brunnen …

Ich kniete auf dem Boden des Schachtes, leuchtete ihn ab, und – – stutzte.

Beide Balken gingen durch zwei Schlitze in dieser Bodenplatte hindurch! Es war nur eine Steinplatte, sauber eingefügt, aber unmöglich blieb es, sie zu lüften.

Nach einer Stunde gaben wir diese Versuche auf.

Heliante war überreizt und weinte fast. Mit einem gewissen Mißtrauen hatte ich bisher die beiden Handgriffe der Balken nicht angerührt. Daß es mächtige Hebel waren, bewiesen schon die Schlitze in der Bodenplatte des Schachtes. Meine Erfahrung warnte mich, diese Hebel irgendwie zu berühren. Es konnten heimtückische Einrichtungen sein, die vielleicht irgend eine Katastrophe heraufbeschworen. Aber Heliantes Schmerz über die Enttäuschung, daß der Schacht uns nichts nützen würde, verlockte mich geradezu zu einem Versuch, ob nicht etwa diese Hebel die Platte empordrücken und uns eine Fortsetzung des Weges in die Freiheit öffnen würden.

Ich betrachtete die dunklen Balken nochmals.

Dann legte ich die Hand um den Griff des einen, und wollte …

„Abelsen, – – hüten Sie sich, – – Vorsicht!!“

Eine Stimme hinter uns …

Wir fuhren hoch.

Vor uns stand Pater Menardus, und sein gütiges, kluges und doch so energisches Gesicht bewies, wie sehr er gefürchtet hatte, ich könnte die Balken irgendwie verschieben.

 

8. Kapitel.

Das Staatsgefängnis Tutul Xius.

Ich schreibe. Und die Nacht schreitet weiter vor. Die Karbidlaterne zischt leise, ihr totes kaltes Licht fällt auf die eng bekritzelten Seiten.

– Auch auf Heliante hat der stattliche Pater, der sein Leben jener unaufdringlichen Missionstätigkeit geweiht hat, die bessere Früchte zeitigt als die eines fanatischen Eiferers, einen starken Eindruck gemacht.

Sie wußte sofort, wen sie vor sich hatte, meine Schilderung der eigenartigen Persönlichkeit des Paters war ebenso warmherzig wie ausführlich gewesen.

Der Mönch mit den grauen Schläfen hatte uns kaum begrüßt, als er auch schon mit eindrucksvoller Gebärde auf die beiden Hebel aus Eisenholz wies. „Ich freue mich, daß ich gerade noch zur rechten Zeit kam, Sie von einer Unüberlegtheit zurückzuhalten, lieber Abelsen. Ein einziger Blick in den Schacht und auf die langen Hebel bewies mir, daß dieser Bergsee hier unzweifelhaft jener von namhaften Forschern längst gesuchte Ort ist, der in den alten Maya-Sagen und in ihren Inschriften eine etwas unklare Rolle spielt.“

Er beugte sich über den Schacht, bat um meine Laterne, nahm das Seil und ließ die Laterne in die Tiefe hinab. Aufmerksam betrachtete er die nun beleuchtete Bodenplatte, durch die die Hebel hindurch gingen, und erklärte dann:

„Falls Sie an diesem Bergsee etwas Besonderes entdeckt haben, teilen Sie es mir mit. Man wird freilich die unter Wasser gehaltene Stadt der Gefangenen in der Tiefe nur schwer wahrnehmen können. Die Sonne blendet zu sehr, und bei bewölktem Himmel ist das Licht nicht ausreichend …“

Sein stiller und doch scharfer Blick ruhte fragend auf meinem erstaunten Gesicht. Ich erzählte ihm kurz unsere Beobachtungen, und er nickte mehrmals wie zustimmend und meinte dann seinerseits:

„Sie erwähnen wandelnde Gestalten … Es können nur Lichtschatten gewesen sein, also Sehtäuschung. Glauben Sie mir, selbst die Mayas pflegen nicht als Geister leibhaftig im Wasser umherzugehen, obwohl dieses große, berühmte Kulturvolk uns Lebenden sehr viele Rätsel aufgibt.“

Er lächelte nachsichtig, aber Heliante verstand es mit eifrigen Worten, auch ihn zu der Überzeugung zu bringen, daß zumindest menschenähnliche Geschöpfe in dem See hausten. Er schüttelte immer wieder nachdenklich und sichtlich betroffen den Kopf, als ich Heliantes Äußerungen in allen Punkten unterstützte und fest dabei blieb, es seien Menschen gewesen.

Wir hatten uns derweil vorn in die Steinlaube gesetzt.

Pater Menardus schaute unverwandt auf den See. Aber nicht eine einzige Wolke erschien am Himmel, die uns die Möglichkeit verschafft hätte, dem so überaus sympathischen Missionar die Wunder des Seegrundes zu zeigen.

Der Pater begann von neuem zu sprechen.

„ … Sowohl uralte Maya-Sagen als auch Steininschriften berichten von einem Staatsgefängnis, das der letzte Maya-König Tutul Xiu irgendwo im Süden Yucatans an unzugänglicher Stelle hatte einrichten lassen. Dieses Gefängnis, oder genauer gesagt eine Strafkolonie, ist sogar durch einzelne Überlieferungen recht eingehend geschildert worden. – Ich selbst, meine Freunde, hörte davon etwa vor zwölf Jahren in Merida, als ich für den Missionsdienst vorbereitet wurde. Zu jener Zeit weilten ein paar Engländer in Merida, sehr reiche Herren, die mehr aus sportlichem als aus wissenschaftlichem Interesse gen Süden vordringen wollten. Der reichste von ihnen war ein gewisser Hoult[17], Sinclair Hoult, ein überaus liebenswürdiger und lebenslustiger Gentleman, – Gentleman im besten Sinne des Wortes.“

Pater Menardus bemerkte genau wie ich, daß Heliante sich jäh abgewandt hatte. In dieser hastigen Bewegung offenbarte sich nicht nur tiefer Schreck, sondern auch wohl eine Überraschung, die sie vor uns verbergen wollte.

Wir sahen nur noch ihr Halbprofil, aber die Blässe ihrer Züge verriet eine ungewöhnlich starke Gemütsbewegung.

Der Pater schwieg und schob zerstreut den Hut mehr aus dem Gesicht. Mein fragender Blick entging ihm, er musterte abermals Heliantes Züge und schien über irgend etwas nachzusinnen, das sich nur schwer in klaren Bildern in seine Erinnerung zurückzwingen ließ.

Plötzlich hoben sich seine starken Augenbrauen mit kurzem Zucken, und seine Miene verriet, daß er nun doch die verblaßten Bilder von einst zu neuem Leben geweckt hatte.

Seine braune, ausgearbeitete Hand, die trotzdem tadellos gepflegt war, so weit sich dies in der Wildnis ermöglichen ließ, legte sich mit väterlich-gütiger Zartheit auf Heliantes Schulter.

„Sie sind Sinclair Hoults Tochter“, sagte er leise. „Ist es nicht so?! Ihre Ähnlichkeit mit ihm ist überraschend.“

Heliante drehte den Kopf, ihre Augen schillerten feucht, und ihr Mund verzog sich vor bitterem Weh. „Es ist so, Pater Menardus … Und … damals begann das Unheil …“

Der Pater war ein hellhöriger Mann. Sein Beruf hatte ihm nicht nur eine tiefgründige Menschenkenntnis eingetragen, sondern auch jene seltene Fähigkeit, fernliegende Dinge zu einer geschlossenen Kette zu vereinigen.

„Also war Allan Tott damals mit unter den Expeditionsteilnehmern …“, sagte er nur halb im Tone einer vorsichtigen Frage.

„Er war mit dabei“, stieß Heliante leidenschaftlich hervor. „Kennen Sie den Ausgang jener Expedition, mein Vater?“

„Ja. Nur zwei von fünf Teilnehmern erreichten wieder Merida und verließen sehr bald die Stadt und das Land. In Merida erzählt man, sie hätten Schreckliches erlebt. Hoult, Ihr Vater, soll vollkommen verstört und gebrochen gewesen sein.“

Heliante schaute ihn groß an. „Er war verändert, sehr verändert, als er heimkehrte. Obwohl ich damals erst dreizehn Jahre zählte, bemerkte ich es, ich war ja sein einziges Kind, und zwischen uns herrschte eine so innige Zärtlichkeit, daß mir unmöglich seine plötzliche Verschlossenheit und Melancholie entgehen konnten.“

Sie senkte etwas den Kopf. Ihr Atem flog, und nach hartem, inneren Kampfe fügte sie gepreßt und fast zischend hinzu:

„Seit damals hatte Allan Tott uns in den Klauen, – wie ein tückisches, bösartiges Raubtier hat er meinen Vater zu Tode gequält und vorher doch noch erreicht, daß … ich ihn heiratete, weil …“

Die Stimme versagte ihr, sie erhob sich, wandte uns den Rücken und fügte überlaut und unter keuchenden Atemstößen hinzu:

„Ich heiratete ihn, weil mein Vater mich darum bat … Aber – – ich wurde nur dem Namen nach sein Weib. Der Mensch flößte mir ein furchtbares Grauen ein. Ich … flüchtete vor ihm auf den Landsitz meiner Freundin … in … der Hochzeitsnacht, und … drei Tage darauf … starb mein Vater … und hinterließ mir ein Vermögen von über drei Millionen Pfund Sterling …“

Ihre Worte tropften schwer wie unreiner dickflüssiger Saft über die verkrampften Lippen. Ich fühlte in jedem dieser Worte den grenzenlosen Haß, den sie gegen Allan Tott empfand. Sie tat mir unendlich leid, und ich grollte dem Pater fast, weil er es gewesen, der diese trüben, häßlichen Erinnerungen ans Tageslicht gezerrt hatte. Heliantes Schultern bebten, sie weinte, alles Melancholische war aus ihrer Stimme gewichen, der Aufruhr in ihrem Innern mußte ihre Kräfte völlig erschöpfen.

Ich mischte mich ein. „Heliante, – nichts mehr von alledem! Sie sollen sich nicht derart aufregen, – so gemeine Dinge soll man für immer begraben. Tott war ein Erpresser, ich ahne es, und Ihr Vater war sein Opfer – genau wie Sie! Setzen Sie sich wieder … Mag der Pater uns weiter berichten, was er über …“

„Nein, nein!“ Ihre Stimme war mit einem Male spröde, hart und ohne jedes Schwanken. „Die Stunde der Aussprache ist da, ich will nichts verhehlen, schon deshalb nicht, weil ich endlich wissen möchte, welche Schuld mein Vater auf sich geladen haben kann, von der Allan Tott Kenntnis hatte!“

Sie wandte sich uns wieder zu. Sie war ein berückendes Weib, noch bezaubernder jetzt, wo die Erregung ihre wahre Natur offenbarte und ihr Antlitz vor Leidenschaft sprühte. Es war die schrankenlose Leidenschaft jener Vollnaturen, die auch das Böseste als Offenbarung nicht fürchten und die zu ehrlich sind, vor unsauberen Dingen, in die sie mit hineingezogen sind, das Antlitz scheu und schüchtern zu verhüllen.

„… In jener Nacht, als ich vor diesem Tier von Mann mich bei Freunden verkroch, ist irgend etwas in mir zerbrochen. Ich hatte bis dahin von den Männern eine sehr hohe Meinung gehabt, mein einziger Schwarm, mein Ideal, war mein Vater gewesen, aber daß er mich diesem … Untier überantwortet hatte, das ich verabscheute, verwandelte meine schrankenlose Verehrung in angstvollste Zweifel und schließlich … in Abscheu. – Erst am Tage des Begräbnisses meines Vaters sah ich meinen Gatten wieder. In Begleitung und im Schutze meiner Rechtsanwälte wagte ich kaum Allan Tott gegenüberzutreten. Nach der Beerdigung wies er eine Urkunde vor, die nichts anderes besagte, als daß meines Vaters Millionen an ihn fallen sollten, wenn ich meine Pflichten als Gattin irgendwie verletzte. Tott trat außerordentlich sicher auf, er hatte mich ja völlig in der Hand, aber er hatte nicht mit der kühlen Klugheit meiner Anwälte gerechnet. Sie wiesen ihm nach, daß die Urkunde nicht nur gefälscht, sondern selbst, wenn echt, gegenstandslos sei, da ein gemeinsames Testament meiner Eltern vorlag – meine Mutter war früh verstorben – und der Hauptteil des Vermögens von meiner Mutter stammte. Mein Vater hatte allein für sich gar nichts mehr bestimmen können. Von diesem ersten Testament wußte Tott nichts, – seine gefälschte Waffe gegen mich war gegenstandslos geworden, er entfloh aus London, und bald darauf wurde von der in aller Stille arbeitenden Polizei festgestellt, daß mein Vater … vergiftet worden war. Ich sah mich plötzlich als Mittelpunkt einer Lawine von Sensationsartikeln, die mich erstickten, die mir jeden Frieden raubten, und – auch ich verließ London, irrte unstät von Land zu Land, suchte … Allan Tott! In Mexiko lernte ich Manfred Turf kennen … Alles ist mir bekannt geworden, welche Schuld mein Vater auf sich lud, und wie Allan Tott hieraus Vorteile zog – – als gemeiner Erpresser. Denn das ist er, – gemeiner Erpresser! Mein Vater hat, wie erwiesen, an ihn ungeheure Summen gezahlt. Außerdem kam auch noch an den Tag, daß Tott nichts weiter als ein Schieber und Schwindler mit den Allüren eines Gentleman und der gleißnerischen Fratze des ehrlichen Kaufmannes gewesen … – Genug davon …!“

Ihre scharfe Handbewegung kannte ich bereits. „Genug davon! Die weiten Reisen haben meine Seele wieder gereinigt, nur … der Haß ist geblieben gegen den, von dem ich nun durch Gerichtsurteil geschieden bin. Ich bin wieder Heliante Hoult, und mein einziger heißer Wunsch neben meinem Haß ist der, zu ergründen, was mein Vater hier in Yucatan Schlechtes beging. Ich weiß es nicht … Wissen Sie es, Pater Menardus?“

Der Pater blickte wie vorhin zum Seespiegel hinab. Er hatte das kräftige Kinn in die Hand gestützt, und durch die andere Hand ließ er langsam die Perlen des Rosenkranzes gleiten. Seine Lippen bewegten sich unmerklich, und seine Augen waren halb geschlossen.

„Ich … ahne es“, sagte er voll unendlicher Güte. „Wahrscheinlich dürfte Ihr Vater an dem Tode der drei Reisebegleiter von damals schuld sein – oder scheinbar schuld sein. Wir werden auch das ergründen, meine Tochter.“

Die Sonne stand jetzt mehr im Westen, wir hatten die einzelnen Wölkchen nicht gesehen, die von Westen heransegelten.

Mit einem Male wurde der See seines silbernen, schillernden Glanzes entkleidet, und in demselben Augenblick wiederholte sich das fesselnde Schauspiel, das meine Augen bereits zweimal geschaut hatten. Meine Märchenstadt, die doch nur eine versunkene Strafkolonie war, die in meiner Phantasie trotzdem etwas von dem kindisch-schönen Reiz eines märchenhaften Wunders beibehalten hatte, rückte der Oberfläche des stillen Bergsees näher und näher und enthüllte uns all ihre Jahrhunderte alten Bauten, Straßen und Plätze.

Der Pater starrte wie gebannt hinab. Heliante eilte in unser Felsenheim, holte die Ferngläser, drückte das eine in des Paters nervige Hand, die den Rosenkranz fest umschlossen hielt, und die Perlen des heiligen Symbols klirrten leise gegen die Linsen.

Der Pater erwachte, dankte mit freundlichem Kopfnicken und hob das Glas an die Augen. Ich suchte nach den wandelnden Geschöpfen der Tiefe, aber nirgends war auch nur eine einzige der glotzäugigen Gestalten zu bemerken, nirgends regte sich etwas, es sei denn, daß Schatten und Helle wechselten und lediglich Bewegung vortäuschten.

Ich war enttäuscht, ich hätte dem Pater Menardus so gern bewiesen, daß Heliante und ich sehr nüchterne, kritische Beobachter gewesen und daß alles, was wir behauptet, schon seine Richtigkeit hätte.

Das Wölkchen am Himmel gab die Sonne nur allzu früh wieder frei, allmählich versank die Stadt der Träume, und vor uns lagen nur wieder die schillernde, unbewegte Wasserfläche und die steilen Abhänge mit ihren farbigen Streifen und das ferne Grün der freundlichen bewaldeten Berge.

Der Pater nickte leicht. „Es ist die Strafkolonie, darüber besteht kein Zweifel mehr. Die Sagen berichten, König Tutul Xiu habe insbesondere solche Verbrecher hierher geschafft, die sich als Handwerker irgendwie ausgezeichnet hatten. Man behauptet sogar, der König habe durch die Gefangenen goldene Geräte herstellen lassen, und einer der Sträflinge sei es gewesen, der als erster die Kunst des Diamantenschleifens durch feinsten Diamantenstaub erfunden habe. Was daran wahr sein mag, läßt sich schwer beurteilen.“

Er hob den Blick zu uns empor, Heliante und ich standen dicht nebeneinander, und aus seinen klugen Augen brach ein Strahlen, das uns verwirrte.

„Aber anderes möchte ich hier sofort klären“, fügte er fast freudig hinzu. „Es betrifft die Schuld Ihres Vaters, Miß Hoult. Gewiß, es handelt sich nur um Vermutungen, die ich auf Grund der bisherigen Ereignisse hegen kann, – wahrscheinlich treffen sie jedoch zu. Ich denke, Ihr Vater und seine Begleiter werden damals vor zwölf Jahren diesen See erreicht und Tutul Xius Staatsgefängnis und“ – er machte eine kleine Pause – „auch die Maschinerie dort in dem Schacht entdeckt haben. Die drei Engländer, die von der Expedition nicht heimkehrten, dürften den Tod in dem Schacht gefunden haben. Ihr Vater, Miß Hoult, wird vielleicht zur Unzeit die Hebel bewegt und dadurch das Ende seiner drei Gefährten herbeigeführt haben – unwissentlich, behaupte ich, und doch muß Allan Tott ihm irgendwie die Überzeugung beigebracht haben, daß er, Ihr Vater, ein … Mörder sei. Es würde in jedem Falle ratsam sein, diese Felsgruppe hier, die uns nun vor Allan Totts Leuten schützt, ganz gründlich zu durchsuchen. Vielleicht finden wir irgend etwas, das meine Vermutungen bestätigt. In gewissen Sinne sind sie ja bereits dadurch bestätigt, daß Tott hier seinen Schlupfwinkel jenseits der Steilwand nach Westen zu eingerichtet hat. Er muß diese Örtlichkeit gekannt haben, und wenn wir nun auch Dr. Gotos Schicksal mit in unsere Erörterungen ziehen, könnte man zu noch weit folgenschwereren Schlüssen kommen. Wir würden uns jedoch mit alledem ins Uferlose verlieren, wollten wir auf lockerem Sand ein Gebäude der fragwürdigen Ereignisse errichten. Überlassen wir die endgültige Klärung getrost dem Willen dessen, ohne dessen Wunsch hier auf Erden kein Staubkorn aufflattert, erst recht kein Stein bewegt wird oder irgend ein Hebel, der etwa namenloses Unglück heraufbeschwören könnte. – Meine Tochter, seien Sie getrost: Was auch die Schuld Sinclair Hoults gewesen sein mag, – wir werden dieses Dunkel lüften. Genau so wie der Allmächtige mich hier rechtzeitig erscheinen ließ, Ihnen, lieber Abelsen, in den Arm zu fallen, genau so wird seine Weisheit und Güte und Gerechtigkeit jede Last von Ihrer Seele nehmen, auch die des Hasses.“

Er streckte Heliante beide Hände hin, und sie legte vertrauensvoll ihre Finger hinein und blickte diesem gereiften Streiter Gottes fast schwärmerisch-dankbar in das gebräunte, energische Gesicht.

„… Mein Kind, – es steht geschrieben: „Mein ist die Rache, spricht der Herr!“ Vergessen Sie das niemals. Vergessen Sie auch nicht, daß ich und meine zwölf Krieger, die noch dort in dem Kanal sich verborgen halten, nachdem Totts Leute uns durch Kugeln zurückscheuchten, wie durch ein höheres Wunder dazu bewogen wurden, den gesprengten Kanal wieder freizulegen und gerade diesen Weg zu wählen und Sie beide zu finden. Nun sind wir zur Stelle, sind Ihre Verbündeten, und sobald die Dunkelheit da ist, werden meine tapferen, zähen Galibi-Krieger hier erscheinen und … uns suchen helfen. Es sollte mich sehr wundern, wenn Ihr Vater nicht irgendwo Aufzeichnungen zurückgelassen hätte.“

Heliante lächelte plötzlich. Es war das unschuldvolle, dankbare Lächeln eines durch gütigen Zuspruch getrösteten Kindes. Und doch lag auch ein wenig verlegenes Zaudern darin, etwas Scheues, jedoch nicht die Scheu des schlechten Gewissens.

„Sie haben so offen und so herzlich zu mir gesprochen, Pater Menardus“, sagte sie mit dem alten melodischen Klang in ihrer festen Stimme. „Ich will nun auch meinerseits das Letzte bekennen: Es betrifft den Nachbar Dr. Tod, das Skelett!“

Ich war über diese Einleitungen zu ungeahnten Eröffnungen erstaunt. Der stattliche Mönch zeigte keinerlei Überraschung.

„Dieses Skelett war mir nicht fremd“, fuhr Heliante lebhafter und noch freieren Tones fort. „Es gehörte meinem Vater, er brachte es damals aus Yucatan nach London, hielt es aber stets in einer Kiste verschlossen. Ich bekam es erst zu Gesicht, als ich nach der stillen Hochzeitsfeier Allan Totts Haus betrat – voll Grauen und Angst! Mein Vater hatte es Tott … geschenkt, so behauptete dieser, als er es mir zeigte. Er zeigte es mir, und nie werde ich dieses teuflische Lachen vergessen, mit dem er erklärte: „Nun habe ich alles, was ich haben wollte, auch den Nachbar Dr. Tod, – du weißt wohl, daß die Kiste mit dem Knochenmann in deines Vaters Schlafzimmer zu Füßen des Bettes stand und daß …“, – da brach er mitten im Satze ab, als ob er fürchtete, allzuviel zu verraten. – Mehr kann ich nicht sagen, ich weiß nichts mehr, ich entfloh in der Nacht … Hier aber in Yucatan hörte ich abermals von diesem Nachbar Dr. Tod.“

Wir drei horchten plötzlich auf …

Nachbar Dr. Tod meldete sich. Schüsse knallten droben am Steilhang, dann folgte ein Poltern, Krachen … Irgend etwas war auf das Dach unserer Grotte gestürzt.

Die Schüsse verstummten, – ich stürzte in die Steinhütte, in dieses wunderliche Zufallsgebilde von Granitklötzen und Steinplatten, arbeitete mich zum Dache empor.

In der Deckung, die ich mir hier geschaffen hatte, lag unter einer umgekippten dünnen Felsplatte Manfred Turf. Seine verkrampften Hände hielten noch das dicke Tau, an dem er von oben herabgerutscht war als tollkühner Flüchtling, seine Hände waren noch bekleidet mit plumpen, dreifachen Lederhüllen, die er übergestreift hatte, um die Handflächen zu schonen.

Er war sehr glimpflich davongekommen. Nur ein Streifschuß, – die jetzige Bewußtlosigkeit war nur eine Folge des Aufpralles auf das Steindach. Die Schurken droben hatten das Tau zerschnitten, – das Tau, aus mehreren Stücken bestehend, lag wie eine endlose Schlange in allerlei Windungen draußen auf der Terrasse und schlängelte sich bis in Manfred Turfs Hände.

Als der Pater und ich den Verletzten in die Steinbehausung hinabgeschafft hatten, warf sich Heliante mit entsetztem Aufschrei über die reglose Gestalt und verriet so auch ihr letztes Geheimnis.

 

9. Kapitel.

Ein unsichtbarer Helfer.

Über alledem ist es Nacht geworden.

Dort hinter mir ruht Manfred Turf und atmet ruhig und gleichmäßig. Er hat den Sturz gut überstanden, und die geringen Quetschungen machen einem Manne seiner Art gar nichts aus.

Ich schreibe … Denn schlafen? – Ich warte.

Auf Pater Menardus, der seine Krieger holt.

Ich lasse den Bleistift ruhen und sauge nachdenklich an der erkalteten Zigarre.

Vieles weiß ich nun … Dieses Wissen bleibt Stückwerk. Auch Fred Turfs Bericht hat das Dunkel nicht geklärt.

Meine Gedanken umspielen unaufhörlich den See und die Stadt der Träume, die Märchenstadt Vineta Yucatans, in der Wesen wandeln, neun Meter Wasser über sich …

Wesen …

Menschen?!

Turf hat dazu den Mund verzogen, und da ist Heliante ein wenig böse geworden, und hat Fred zurechtgewiesen: Sie und Olaf seien doch keine Phantasten!

Und als sie „Olaf“ sagte, haben sich Turfs Augen mißtrauisch geweitet.

Jetzt – muß ich lächeln.

Die beiden lieben sich … und schweigen.

Turf ist eifersüchtig. Mag er. Ich habe nur dieses nachsichtige Lächeln des Verzichtens dafür, denn – hinterher hat Heliante immer nur „Abelsen“ gesagt und den „Olaf“ ausgeschaltet.

So sind die Frauen.

Ein Zündholz flammt auf, die Zigarre brennt, und mein Blick schweift in die nächtliche Ferne. Die Sterne flimmern am klaren Firmament, ein sanfter Wind streicht durch das Tal, es ist sehr heiß, aber an diese Temperatur habe ich mich längst gewöhnt. Im dünnen Schilf schnattert zuweilen eine Ente, der See kräuselt sich im Winde, und die Spiegelbilder der Sterne werden zu langen hellen Streifen verzerrt.

Die nächtliche Ruhe umgibt mich wie ein Zaubermantel. Die wenigen Geräusche, die hin und wieder aufleben, stören diese Feierlichkeit der Tropennacht in keiner Weise. Mein Herz weitet sich in stillem Genuß der abgeschiedenen Einsamkeit, in der so viele Rätsel vergraben sind: wie Edelsteine, wie Smaragde.

Eins wissen wir nun: Das Smaragdtal liegt drüben jenseits der dünnen Steilwand. Fred Turf betonte, wie schmal diese Felswand sei, zumeist nur vier Meter, schätzt er. Also trennt uns eine Naturmauer von Granit von dem rücksichtslosen, kugelspeienden Nachbar Dr. Tod, der für uns eins ist mit Allan Totts Bande.

Smaragdtal … Und ertränkte Stadt …

Beides beschäftigt mich, beides gehört für mich zusammen. Kannte König Tutul Xiu die Fundstelle der grünen Edelsteine? Ich sage: Ja! Und ich sage weiter: König Tutuls Staatsgefangene haben in der Stadt der Träume die ersten Smaragde geschliffen. – Als die raubsüchtigen Spanier das Maya-Volk ausplünderten und die Schiffe ungeheure Beute nach Spanien trugen, befanden sich darunter Tempelgeräte, die von Edelsteinen strotzten. Von diesen ist nichts mehr vorhanden, die Steine wurden herausgebrochen, das Gold eingeschmolzen. Wer heute die Reste des Maya-Volkes in den Städten als Arbeitskulis oder im Innern des Landes als verwilderte, anspruchslose, stumpfe Nachkommen einer einst so berühmten Nation zu beobachten Gelegenheit hat, wird es nie begreifen, daß noch vor rund sechshundert Jahren dieses Indianervolk unvergängliche Riesentempel und Paläste und Städte schuf, die selbst dem alles zernagenden Zahn der Zeit und der alles überwuchernden Wildnis trotzten. Eine namenlose Tragik liegt in dem Geschick der indianischen Völker. Wie wenig wird dies beachtet, wie gleichgültig ist die Geschichte mit grausamem Schritt über sie hinweggegangen. –

Auf der Terrasse Geräusche, huschende Schritte, – ein einzelner Schuß fällt, im Lichtkreis der Laterne erscheinen Gestalten, Pater Menardus mit seinen zwölf Getreuen ist angelangt, und zum ersten Male sehe ich aus nächster Nähe diese Galibi-Kariben: mittelgroße, straffe Gestalten ohne jeden negroiden Einschlag, alle mit dunklen, selbstgewebten Leinenhosen und kurzen Jacken bekleidet, alle mit breiten Basthüten von tiefgrüner Farbe, in deren roten Bändern ihre Tabakpfeifen und kleinere Werkzeuge stecken, – alle reichten sie mir die Hand, und die tiefdunklen, lebhaften und so eigentümlich hochmütigen Augen mustern mich flüchtig und wenden sich ab. Vielleicht besitzen nur die Somali Afrikas und einzelne Berberstämme Nordafrikas dieses untrügliche Kennzeichen wahrer Freiheit und unverfälschten Selbstbewußtseins: Die stolzen Mienen der Freien, den Stolz der freien Natur, in der sie leben.

Ohne viele Fragen verteilen sie sich mit ihren Wolldecken und kleinen Traglasten in geschützte Winkel, und schon Minuten nach ihrer Ankunft scheinen sie wieder verschwunden zu sein. Und doch stehen zwei von ihnen Wache, der Pater hatte alles vorher angeordnet, setzt sich nun erst einmal zu mir und horcht auf die tiefen Atemzüge der Schläfer in der Steinhütte und auf Miß Marrys gelegentliches Schnauben und Scharren.

Pater Menardus blickt auf die beschriebenen Blätter und sagt gelassenen Tones: „Wie ich, Abelsen! Auch ich habe in diesen zehn Jahren alles Wichtige bei meinen Galibi aufgezeichnet. Ist Ihnen beim Schreiben etwas Neues eingefallen? Haben Sie irgendwie herausgespürt, was die Hebel dort im schrägen Schacht bedeuten mögen?“

„Nein.“ Ich tue die Blätter in den flachen, wasserdichten Zinkkasten. „Wenn Sie nicht darüber Klarheit gewonnen haben, Pater Menardus, ich gewiß nicht. Turf konnte uns so wenig berichten. Seine Flucht verdankt er einem Zusammentreffen glücklicher Umstände, – er und Doktor Goto waren in einem Felsloche eingesperrt, er kennt nicht einmal die Zahl der Leute Allan Totts, er und Goto liefen diesen Banditen nach glücklicher Überwindung des unterirdischen Stromes blindlings in die Arme … Turf weiß nicht, ob Gotos Vater und Sohn noch leben …“

Meine Hand greift da eilig nach dem Fernglas. Drüben an den mondhellen Wänden jenseits des Sees bewegt sich etwas, und die scharfen Linsen zeigen mir einen Jaguar, der gemütlich fast bis zum Ufer hinabsteigt und dann wieder kehrt macht. Der See hat ihn enttäuscht, er hoffte hier wohl eine Tränke zu finden, – – langsam verschwindet er über den Steilhang.

Der Pater flüstert sichtlich betroffen: „Der Abhang besitzt also doch eine gangbare Stelle …!“

Ich bleibe stumm, in mir ist soeben ein fester Entschluß gereift. Wo ein Jaguar für seine Tatzen Halt findet, werde auch ich zur Höhe emporklimmen können.

Pater Menardus sagt tastend: „Sie wollen zu Tott hinüber, Abelsen?“ – Er hat meine Gedanken erraten, was nicht einmal allzu schwer gewesen sein kann. „Und – was versprechen Sie sich davon?“, fügt er gespannt hinzu.

„Sicherlich bei einigem Glück Gotos Befreiung“. Ich lächele unmerklich. Vielleicht glaubt der stattliche Pater, mein Plan sei allzu kühn.

Auch er schweigt. Mit einem Male wirft er die zerschlissene Kutte ab, und jetzt erst sehe ich, welch muskulöse Gestalt dieser Streiter Gottes dem Oberlicht des Mondes preisgibt.

Er trägt rauhe Hosen wie die Galibi, dazu ein ebenso rauhes Hemd, um die Hüften aber einen Gurt aus Schlangenhaut mit zwei Pistolen und einem langen Jagdmesser. Der ganze Mann ist mit einem Schlage verwandelt, nachdem das fromme schlichte Gewand zu Boden glitt.

„Brechen wir auf“, sagt er einfach.

Dieser Selbstverständlichkeit gegenüber erübrigt sich jeder Einwurf.

Der Pater spricht noch mit einer Wache, dann schleichen wir zum See hinunter, waten ins Wasser, halten uns im Schatten und erreichen den Schilfgürtel, der uns noch besser schützt. Wir bleiben am Rande des Schilfes, damit die Wasservögel nicht etwa zu lärmen beginnen. Wir schwimmen, und genau dort, wo der durstige Jaguar am Ufer stand, landen wir.

Eine äußerst mühselige, behutsame Kletterpartie beginnt, dann ein noch behutsameres Umrunden des Sees nach Norden zu zwischen zerbröckelten Felsmassen der Steilränder. Wir überschauen das Land, das hinter den Granitmauern liegt, unendliche Wipfelmeere unendlicher Wälder verlieren sich in der milchigen Ferne der Tropennacht.

So überschreiten wir auch die Stelle, wo tief unten der trockene Tunnel in den See mündet, jener falsche Arm, der nun doch für uns ein Glückslos wurde.

Der Pater ist ein Gefährte, wie ich ihn mir nicht besser wünschen kann. Man merkt es ihm an, daß die Wildnis seine Schule war, daß seine Sinne geschärft und seine Muskeln und Glieder ausdauernd und geschmeidig sind. Sein Gesichtsausdruck hat sich verändert, alles an ihm ist gespannteste Aufmerksamkeit, Sprungbereitschaft und Tatendrang. Er ist ein Streiter Gottes jener Art, wie die Kreuzzüge und die folgenden Jahrhunderte sie hervorbrachten.

Wir biegen nach Westen ein, immer halb kriechend, immer nur dann flüchtig dahintrabend, wenn Felsen uns decken.

Jetzt liegen unsere Bergterrasse und unser Steinhaus schräg rechts unter uns, links aber ein weites, bewaldetes Tal, durch das sich „unser“ Fluß schlängelt. Während jedoch die Bergwand nach Osten zu, zum See hin, steil abfällt, erblicken wir hier zahllose Vorsprünge, einige sanft geneigte Rinnen, Buschwerk, Gräser und dicke Dornenbehänge.

Zwischen den Bäumen schimmern fahle Lichtpünktchen: Lampen oder Laternen, die durch Zelluloidfenster von Zelten in die Finsternis glotzten.

Also das ist das Smaragdtal! Ein wundervoller Naturpark, – so ganz anders, als ich es mir ausgemalt hatte. Ich glaubte, dieses Tal würde düster und unheimlich sein. Nichts davon. Die kahlen, finsteren Berge beginnen erst wieder hinter diesem Paradiese, das ein Allan Tott zur Hölle gemacht hat.

Wir liegen zwischen Geröll und beobachten. Dieses Tal ist weit tiefer als unser Tal mit dem Bergsee, es ist ein Kessel, und offenbar sind die umliegenden Höhen mit Ausnahme dieser Westwand noch schroffer als drüben, wo die Stadt der Träume schlummert.

„Zwei Wachtposten dort vor uns“, flüstert der Pater. „Ein dritter in halber Höhe der Talwand.“

Ich habe die Kerle längst bemerkt. Sie rauchen, halten ihre Büchsen lässig im Arm. Und doch, – sie müssen verschwinden ohne jeden Laut, bevor noch ihr Finger den Abzug zum Warnungsschuß berührt. Der einzelne Posten, so hoffe ich, wird den Kerker des alten Sennor Kumanogoto und seines Enkels bewachen. Die Bodenverhältnisse zum Anschleichen sind wenig günstig, und da ich bei dieser Arbeit auf den Pater nicht zählen kann, da ihm ein so blutiges Handwerk nicht zugemutet werden darf, muß ich schon allein das Wagnis unternehmen.

Ich verständige den Pater mit wenigen Worten. Er nickt nur.

Alles kommt darauf an, daß die beiden Wachen hier oben nicht frühzeitig aufmerksam werden. Es ist bis zu ihnen wenig Deckung vorhanden, und ich schiebe mich Schritt für Schritt vorwärts, schleppe dabei noch eine dünne Steinplatte mit mir, die meine Gestalt verdeckt. Es ist sehr hell hier oben – zu hell …

Schritt für Schritt nähere ich mich den beiden lautlos wie ein geschmeidiger Puma, der seine Beute am liebsten durch einen kurzen Sprung überfällt. Schritt für Schritt, Meter um Meter, das blanke Messer zwischen den Zähnen.

Dicht am Abhang sitzen die beiden, spähen zuweilen hinab, sprechen miteinander, stopfen ihre Pfeifen und ahnen nichts von dem Verderben, das ihnen immer näher kommt.

Noch zehn Meter …

In mir ist etwas erwacht, das Muskeln, Nerven und Sinne unerhört anfeuert: Der Reiz der Gefahr berauscht mich, und das Abenteuer abseits vom Alltag schwillt an zu dröhnenden Akkorden, die mir wie ferne Klänge von einst nervenaufpeitschende Erinnerungen zutragen.

Da – der eine Posten äugt scharf zu mir herüber … Wenn er die um die Ränder der Steinplatte gekrallten Finger als hellere Flecke erkennt, ist das Spiel verloren. Ich ducke mich zusammen, rege mich nicht, drücke den Kopf auf den Boden und horche. An der Messerklinge rinnt der Speichel entlang, und die Kinnbackenmuskeln verziehen sich wie im Krampf.

Dann höre ich etwas …

Einen dumpfen Schlag – – noch einen, – ein dumpfes Poltern …

Nichts mehr …

Ich äuge um den Rand der Platte …

Wo sind die beiden? Die Stelle ist leer, am Boden glühen Pünktchen: glühender Pfeifentabak, – am Boden liegen zwei Büchsen …

Die Kerle selbst sind wie weggefegt, als hätte ein Sturmstoß sie in die Tiefe befördert.

Unerklärlich bleibt dieser jähe Sturz der beiden in unser Tal hinein. Ich bin mißtrauisch, ich rechne noch immer mit der Möglichkeit, daß die beiden Gefahr gewittert haben und irgendwie hinter den Felstrümmern lauern. Aber – ohne ihre Büchsen?! Und deutet nicht der verschüttete brennende Tabak auf einen plötzlichen verderblichen Angriff hin, der mich von den lästigen Aufpassern befreite?! Besagten nicht auch die Geräusche übergenug!

Ich weise die Gedanken fern hergeholter Zweifel von mir. Ich bin befreit von ihnen, – das „Wie“ mag später geklärt werden.

Und so krieche ich nach links, um Einblick in das Smaragdtal und Ausblick auf den dritten Posten zu gewinnen.

Stutze abermals … Dort neben dem von Dornen umrankten Felsen liegt ein Mann: Die Wache!

Liegt regungslos auf dem Rücken, die Beine halb an den Leib gezogen …

Tote sah ich so, die eine Kugel jäh gefällt hatte.

Minuten später knie ich neben dem bärtigen Mischling. Sein Kopf zeigt an der einen Seite eine frische, blutige Wunde, breit und zackig. Nur ein Stein kann sie hervorgerufen haben, ein mit größter Sicherheit und Kraft geschleuderter Stein. Ich blicke etwas auf, blicke rundum, sehe nichts.

Pater Menardus etwa? –

Die Zeit drängt. Der Posten wird gefesselt, geknebelt … Neben dem Felsen vor einem Grotteneingang eine Balkentür mit plumpen Riegeln … Ich öffne … Rufe in die Finsternis hinein …:

„Sennor Kumanogoto, – ein Freund Ihres Sohnes! Melden Sie sich …“

Drei Gestalten erscheinen, nicht allzu verwildert, nicht allzu zerlumpt: Ein Greis, dann Doktor Goto und ein jüngerer Mann … –

Ich habe erreicht, was mein Ziel gewesen. Eilends treten wir den Rückweg an, ohne viele Worte, stoßen auf den im Geröll verborgenen Pater und flüchten um den See, bis der Jaguarpfad uns zum Seeufer bringt. Neben mir schreitet Freund Goto, drückt meine Hand und stammelt nur zuweilen:

„Frei, – endlich frei! Und mein Vater und mein Sohn leben, Abelsen, – können Sie begreifen, was ich empfinde! Diese frische Nachtluft sprengt mir die Brust, – – ich danke Ihnen!“

Aber diesen Dank muß ich zurückweisen. Was tat ich denn, um Dank zu verdienen?! Ein Unbekannter hatte sich unser angenommen, und selbst der Pater scheint nichts bemerkt zu haben und hat nur die Achseln gezuckt und gemeint: „Ich sah die Wachtposten vom Rande des Abhangs verschwinden, – das war alles.“

Eng, allzu eng wird jetzt für die beträchtliche Zahl von Bewohnern das Steinhaus. Heliante und Turf überschütten mich mit Fragen, Doktor Goto berichtet dann für Vater und Sohn, die merkwürdig schweigsam sind. Der alte Sennor Goto, ein hagerer Mann mit verkniffenem, streng verschossenem Greisengesicht, scheint während der mehrjährigen Gefangenschaft das Sprechen verlernt zu haben, und sein Enkel sitzt stumm dabei, den Blick zu Boden gerichtet und um den Mund denselben harten Zug wie der Großvater. Selbst Freund Goto erweckt mit seinem ungewohnt fahrigen, sprunghaften Bericht den peinlichen Eindruck, als ob er hier das Hilfsmittel gegenseitiger Verständigung, die alles enthüllende Sprache, nur als Vorhang benützte, mehr zu verhüllen, als die Umstände es erlaubten.

So sitzen wir in dem engen Raum, der nur zum Schlafen dient, wie ein Kreis von Wildfremden, – wir fühlen die Unehrlichkeit, die uns umwittert, und die Gesichter werden verlegen und ungeduldig oder gar schwer gereizt. Manfred Turf, der Wortkarge, vermag sich schließlich nicht länger zu beherrschen.

Seine faltige Stirn, die drohenden Augen, die klaren, scharfen Augen künden diese Explosion an.

Er starrt Freund Goto an. „Das ist ein ganz verdammtes Herumgerede!“, fährt er auf. „Nun gut, wir wissen jetzt: Allan Tott hat Ihren Vater und Sohn seiner Bande in die Arme gehetzt, alles war Absicht, alles war gemeinste Intrige. Weshalb das?!“

Ein seltsam bannender, kühler Blick des alten Goto lähmt ihm die Zunge.

„Der Kosten der Expedition wegen“, sagt der Greis sehr verständlich. „Als Tott nach Merida kam, war er kein reicher Erpresser mehr. Und als ich durch ihn zu dem Entschluß kam, das Smaragdtal zu suchen, war er längst insgeheim mein Schuldner. Dieser nach außen hin so liebenswürdige Schurke spielte, wettete, hatte außerdem noch seine Helfershelfer zu bezahlen. Er hätte nie die Summen aufgebracht, die mich die Vorbereitungen gekostet haben. Wir waren im Ganzen acht, als wir Merida mit acht Reittieren und zehn Tragtieren verließen. Was den Tragtieren an Lasten zugemutet wurde, war in Geld umgewertet ein kleines Vermögen. Ich bedauere meine armen, braven Diener, sie starben für uns, wir haben bis zur letzten Patrone gekämpft … – Sind Sie zufrieden, Mister Turf?!“

„Nein!“ Die sehnige Gestalt des Engländers saß kerzengerade. „Nein …! Es bleibt ein Rest Unklarheit übrig.“

Der alte Goto lächelte plötzlich. Ein schreckliches Lächeln, aus dem ein felsenfester, drohender Entschluß sprach.

Seine mageren Hände ballten sich auf den hochgezogenen Knien zu Fäusten.

„Der Rest, – – warten Sie ab, Mr. Turf … Der Rest ist zumeist das Beste … – Und jetzt möchte ich schlafen …“

Wie als höhnische Antwort ertönte da von der Höhe der Steilwand ein wildes Geknatter. Die Flucht der drei Gefangenen war entdeckt worden, Allan Tott suchte seine unsinnige Wut in dem Lärm der Schüsse und der herabpolternden Steine zu ersticken.

Und diesmal wurde es ernst. Was da an Felsbrocken herabsauste, waren nicht mehr Zentnersteine, die von dem gewölbten Abhang über uns abprallten und wie Granaten in den See sausten. Das waren Felsklötze, die nur die Kraft eines Dutzend von Männern in die Tiefe gerollt haben konnten. Ein fast unheimliches Getöse erfüllte die Luft, die Felswände erzitterten unter dem Anprall der Geschosse, der See schäumte unter dem Hagel der Steinsplitter, der donnernde Stoß der Riesensteine weckte in den Bergen schallende, tobende Echos, und nicht genug damit: Tott hatte jetzt seinen Fehler erkannt, hatte Leute an das andere Ufer rund um den See geschickt, wieder andere bis zur Mündung des trockenen Kanals. Kugeln klatschten von allen Seiten gegen unser Steinhaus, und wenn einmal eine Ruhepause eintrat und einer von uns draußen Umschau hielt, lebte dieser Generalangriff sofort wieder auf.

Wir blieben nicht müßig. Wir hatten nur zwei Büchsen, und wir schonten die Munition. Wir hatten nur sechs Pistolen, – die Waffen der Galibi-Kariben rechneten nicht. Trotzdem verjagten wir die Kerle von der Kanalmündung, und als erst der Morgen graute, bekamen auch die Schützen drüben so manche bittere Pille aus meiner Snidersbüchse. Heliantes Winchestergewehr war zu leicht und für größere Entfernung nicht zu benützen.

Immerhin blieb unsere Lage kritisch.

So, wie Allan Tott jetzt seine Kerle verteilt hatte, durften wir nicht einmal die Steinlaube betreten. Der Weg zur Zisterne war uns verschlossen, das Trinkwasser würde uns fehlen, und die fünfzig Meter bis zur Zisterne bedeuteten sicheren Tod.

In der allgemeinen Aufregung blieben nur vier von uns wie gänzlich Unbeteiligte auf ihren Plätzen: Die drei Gotos und Pater Menardus! – Letzterer war es, der uns wiederholt zugerufen hatte, die Dinge nicht zu ernst zu nehmen. Er redete von „Mitteln, die sich finden lassen würden, Allan Tott zu verjagen“.

Fred Turf erwiderte schroff: „Ja – – Geschütze, das vielleicht! Schaffen Sie mir ein Schnellfeuergeschütz, und ich fege die Bande in alle Winde!“ Er lachte hart.

Der Pater erwiderte nichts.

Gegen Morgen stiegen Turf und ich auf das Dach unseres Grottenhauses und duckten uns hinter meine Deckung. Sofort pfiffen bleierne Vögel von allen Seiten, aber wir waren geborgen, wir sahen die Leichen der beiden Wächter auf der Terrasse liegen, und Turf meinte plötzlich in seinem schleppenden, fast blasierten Tone:

„Des Paters Arbeit! Weiß Gott, ein tüchtiger Mann! Ich schätze ihn. Nur daß er da mit den Gotos sich derart angebiedert hat, gefällt mir nicht.“

„Wie können Sie behaupten, daß der Pater“, – sein drohendes Zucken der Mundwinkel zwang mich zum Schweigen.

„Behaupten?! – Fragen Sie ihn selbst, Abelsen.“

Pater Menardus schlüpfte zwischen die Steinplatten. Er mußte unsere kurze Aussprache mit angehört haben.

Meine Augen begegneten den seinen.

In seinem Blick lag tiefer Ernst, tiefste Melancholie. Er senkte den Kopf, ließ den Rosenkranz durch die Finger gleiten und flüsterte bedrückt: „Gott wird mir auch die große Sünde verzeihen … Ich wollte nicht morden, aber ich bin ein sehr sicherer Steinwerfer, und meine Würfe fielen zu kräftig aus, – die beiden Leute kollerten über den Abhang …“

Turf reichte ihm die Hand. „Pater Menardus“, sagte er derb-herzlich, „wenn Gott keine anderen Sünder zu strafen hätte als Sie, wäre die Welt ein Paradies!“

Der kriegerische Mönch neigte noch demütiger den Kopf. Seine Lippen murmelten ein Gebet, und diese seine innere Zerknirschung war echt und wahrhaftig und ohne Übertreibung wie der ganze Mensch.

Auch unsere Hände fanden sich dann, die grellen Strahlen der Frühsonne warfen weiße Streifen in den kleinen Felsenunterstand, und einer dieser neugierigen Strahlen ließ das kleine Kreuz am Rosenkranze des Paters golden aufleuchten. Die kühlen Perlen berührten meine Haut, und ich empfand zum ersten Male seit langer Zeit wieder die heiligen Schauer jenes märchenhaften Glaubens meiner Kindertage, in denen Orgelspiel und Gesang und flackernde Kirchenkerzen für mich stets etwas unnennbar Schönes, Ergreifendes gewesen waren. Das grausame Leben hatte in mir vieles zerstört, vieles gewandelt, aber meine Liebe zur unberührten Natur und ihren Geschöpfen war doch, das fühlte ich jetzt, als ein starkes Überbleibsel aus jenen Jugendjahren zu bewerten. Der Händedruck des Paters und sein sanftes Flüstern, aus dem es mir wie ein Segen entgegenwehte, leitete diesen Tag mit froher Zuversicht ein.

 

10. Kapitel.

Ein Knochen von Nachbar Dr. Tod.

„Führte Sie eine bestimmte Absicht hier zu uns nach oben?“, fragte der weit nüchterner denkende Turf mit seiner etwas allzu farblosen Stimme.

Pater Menardus nickte. „Sennor Goto bat mich, den Himmel zu beobachten. Soeben hat Heliante ihm und seinem Sohn und Enkel von den Bewohnern der versunkenen Stadt erzählt. Ich soll achtgeben, bat er, ob nicht Gewölk heraufziehe. Er möchte die wandelnden Geschöpfe sehen.“

Diese Antwort des Paters klang eigentümlich zurückhaltend.

Fred Turf hatte feine Ohren.

„Geheimniskrämerei!“, meinte er schroff und lugte nach oben, wo Allan Tott auf eine Gelegenheit zu sicherem Schuß lauerte. Zwanzig Kerle hatte er bei sich, alles verzweifelte Halsabschneider, die sich in Europa nie wieder sehen lassen durften, alles gute Schützen und abgehärtete, stramme Gestalten, die als Gegner nicht zu unterschätzen waren.

„Leider – – Geheimniskrämerei“, sagte der Pater etwas unwillig. „Ich wünschte, ich wüßte alles … Der alte Goto gefällt mir nicht, sein Sohn und sein Enkel und er scheinen da irgend etwas zu planen, das mir verborgen bleibt. Ich habe versucht, ihn zum Reden zu bringen, es gelang mir nicht, und jetzt verdächtigen Sie mich, Mr. Turf, obwohl ich lediglich einiges vermute, das … sehr töricht sein kann. – Ist Ihnen bekannt“, änderte er unvermittelt das Thema, „daß die alten Mayas droben im Norden in ihren prächtigen Städten auch allerlei Wasserkünste geschaffen hatten? Die Fontäne ist durchaus keine Erfindung der Römer, und im Schleusenbau und auf ähnlichen Gebieten leisten die indianischen Kulturvölker Mittelamerikas genau so Hervorragendes wie in der Goldschmiedekunst, der Architektur und … der Anlage heimtückischer Verstecke ihrer Schätze. Kennen Sie das uralte Werk des Spaniers Diego Castello, das noch heute in der Staatsbibliothek von Madrid eingesehen werden kann? Castello war ein Mönch, und seine vielfachen Erfahrungen gerade hier im alten Maya-Reiche halfen jene zahllosen Inschriften entziffern, aus denen die modernen Forscher das Maya-Volk von damals sozusagen rekonstruiert haben …“

Turf klopfte ungeduldig seine kleine verräucherte Holzpfeife am Felsen aus, stopfte sie von neuem und warf dem Pater einen seiner nadelscharfen Blicke zu.

„Sie meinen, Pater Menardus, daß König Tutul Xiu diese Stadt der Sträflinge … ersaufen ließ, als es mit seiner Macht und Herrlichkeit zu Ende ging? – Darin stimme ich Ihnen zu: Er ließ sie ersaufen! – Weshalb aber?“

„Der … Steine wegen, nehme ich an …“

Turfs Züge wurden noch schärfer. „Mithin glauben Sie, daß es drüben, wo jetzt Nachbar Dr. Tod haust, überhaupt keine Fundstelle für Smaragde gibt?“

Der stattliche Streiter Gottes nickte abermals. „Ja, das ist meine Überzeugung. Der Name Smaragdtal für jenen grünen Kessel drüben dürfte unrichtig sein.“

„Und woher hatte Tott die Steine, die er Doktor Goto so heimtückisch in die Hände spielte?“

Pater Menardus schielte nach oben …

Und schwieg zunächst.

„Meine Ansicht hierüber möchte ich für mich behalten“, sagte er dann etwas unfreundlich. „Da – – sehen Sie nur, man läßt an einem Tau eine lange schmale Kiste herab … Ob Tott etwa Dynamit besitzt?!“

Turf und ich fuhren hoch. Ein eisiger Schreck machte mir das Atmen schwer. Tott war alles zuzutrauen, – Flucht vor einer solchen Höllenmaschine gab es nicht, draußen würden wir wie die Hasen abgeknallt werden.

„Herr Gott“, würgte auch Turf entsetzt hervor … „Der Schurke!! Wir werden …“

Ich hatte die Kiste erblickt. Sie war mindestens anderthalb Meter lang und glich fast einem flachen Sarg. Sehr bedächtig schwebte sie herab, pendelte leicht hin und her, und das Lianentau war fast schenkeldick und sehr nachlässig geflochten.

„Turf, – – das Skelett vielleicht!!“, keuchte ich … „Vielleicht … Vielleicht hat Tott seinen guten Grund dafür, sich von dem Nachbar Doktor Tod zu trennen, obwohl ich dem Frieden nicht traue. – Schnell, Turf, – alle Mann hinab in den Schacht … Auch Sie, Pater Menardus. Der Schacht wird uns schützen. Vorwärts doch, – – vorwärts!!“

Turf beeilte sich. Der Gedanke, daß Heliante mit bedroht sei, machte ihn noch flinker als sonst, und auch der Pater verschwand nach unten.

Ich holte ganz tief Luft … ganz tief. Meine jagenden Pulse beruhigten sich. Ich hob die Büchse. Falls die Kiste Dynamit enthielt und eine Zündvorrichtung, sollte das verteufelte Ding droben explodieren … Sie war erst etwa dreißig Meter herabgeglitten. Daß ich dabei wahrscheinlich ein rasches Ende finden würde, berührte mich nicht weiter. Nur Miß Marry tat mir leid, – – wenn das Felsenhaus zusammenbrach, mußte auch sie zerdrückt werden …

Unter mir wirre Stimmen …

Jemand rief nach mir. Es war Doktor Goto.

„Abelsen, nicht …“

Ich verstand nicht alles …

„Ich komme“, brüllte ich. „Beeilt euch doch! Hinab in den Schacht!!“

Die Geräusche und die Stimmen verstummten.

Wie eine eisige Hand strich es mir den Rücken hinab.

Tott hatte Dynamit zur Verfügung. Er hatte ja den trockenen Tunnel hinter uns sprengen lassen. Es war ein teuflischer Einfall von ihm, uns alle mit einem Schlage vernichten zu wollen. Aber sein Plan würde mißglücken, ich sah genau, daß, obwohl das Lianentau in der Mitte der Kiste als Schleife festgezogen war, die Kiste nicht gleichlastig schwebte, sondern die eine Hälfte bedeutend tiefer hing. Dorthin wollte ich die ersten Schüsse richten. Erfolgte eine Explosion, so konnte die Wirkung kaum derart vernichtend sein, daß das Steinhaus völlig zusammenbrach. Ich hier oben freilich, – das blieb eine ungewisse Frage. Und deshalb zogen vor meinem geistigen Auge auch, als ich die Waffe jetzt durch eine der Spalten schob, die Hauptbilder meines Lebens in jener rasenden Geschwindigkeit vorbei, wie dies nur in Momenten allerstärkster seelischer Spannung zu geschehen pflegt. Mein Abenteuerdasein der letzten Jahre und all das Wundervolle, das mir die Wildnis der verschiedensten Länder beschert hatte, stieg wie eine blendende Fata Morgana aus den Klüften der Vergangenheit hervor und zerrann schließlich und ward zu bitterer Gegenwart, die sich in dem Bilde einer herabsinkenden Kiste vereinigte, – – ich hatte den Zeigefinger am Abzug, und der Schuß rollte wie Donner durch die Berge, und die Kiste pendelte noch stärker als vorher.

Sonst geschah nichts.

Eine höhnende, mächtige Stimme kam von oben und spottete meinen Kugeln.

„Ich schicke Heliante den Nachbar Dr. Tod[18] als letztes Andenken …!! Fahrt hinab zur Hölle!!“

Allan Totts Begleitspruch war weder geistreich noch wirkungsvoll.

Wieder fuhr das Mündungsfeuer aus meiner Sniders, wieder nur eine stärkere Drehung der Kiste. Trotzdem feuerte ich ein drittes Mal.

Der Knall des Schusses ward übertönt von einem grauenvollen Getöse, – irgend etwas flog mir gegen die Stirn, ich vernahm als Letztes das Splittern und Krachen zusammenstürzenden Gesteins, und tiefe Ohnmacht zog mich hinab in ihre schwarzen Schlünde der stillen, düsteren Gleichgültigkeit. Da war jedoch noch etwas anderes, das gegen meine Bewußtlosigkeit fast gleichzeitig ankämpfte, eine prickelnde Frische, irgend ein salziger Trank, der meinen Mund füllte und mich rasch zum Husten zwang.

Ich erwachte.

Ich konnte nur Minuten ohne Besinnung gewesen sein, ich fand mich rasch zurecht in der neuen Umgebung: Ich lag dicht am Seeufer im Wasser schräg unterhalb unseres Steinhauses, – die Explosion hatte mich in den See geschleudert, mein Kopf ruhte zwischen ein paar Schilfstengeln, und der erste sorgende Blick meiner Augen suchte erneut unsere Felsengrotte.

Sie war unversehrt.

Weggefegt war lediglich mein Unterstand von Steinplatten auf dem Dache, – ich hörte Miß Marry erregt schnauben, sie hatte sich losgerissen, ihr dicker Kopf erschien im Eingang, und verwundert blinzelte sie in den hellen Sonnenschein, den sie nun seit Tagen vermißt hatte.

Eine große Freudigkeit überkam mich, ich wußte, daß die Gefährten gerettet waren, und das Glücksgefühl, Allan Totts Anschlag vereitelt zu haben, vertrieb die Schmerzen in der blutenden Stirn und gab meinen Gedanken eine straffe, den Umständen nach so dringend nötige Richtung. Ich durfte mich nicht bewegen, überall lauerten die Gegner, sie mußten mich für tot halten, und ich mußte achtgeben, daß sie nicht etwa unversehens zum Sturmangriff aus dem trockenen Tunnel im Norden hervorbrachen und das zunichte machten, was ich für die Gefährten getan hatte. Ich lag ganz still, das Bad tat mir wohl, die Schilfstengel deckten mein Gesicht, und aus halb geschlossenen Augen spähte ich rundum, so weit ich dies, regungslos bleibend, tun konnte.

Miß Marry trat zu ihrem Glück nicht vollends ins Freie. Nein, hinter ihr tauchten zwei wohlbekannte Gesichter auf, der Pater und Turf, packten sie beim Schwanze und zogen sie zurück. Sie sträubte sich, stemmte die Beine steif, bis Turf an ihr vorüberglitt und ihr einen Schlag auf die Schnauze versetzte. Da erst wich sie zurück und verschwand und machte behenden braunen Indianern Platz, auch Heliantes Antlitz erblickte ich für Sekunden, dann knatterten Schüsse aus dem Steinhause, und Allan Totts Bande droben am Abhang warf sich heulend zu Boden, kroch zurück und erkannte die Nutzlosigkeit dieser Sprengstoffverschwendung.

Die Schüsse verstummten, totenstill lagen der See und die steilen Berge, nur die Enten drüben schnatterten aufgeregt, und eine große Schar Kraniche strich mit sausenden Geräuschen eifriger Flügelschläge über das Tal hinweg nach Westen.

Die Gefahr eines Angriffs war beseitigt.

Ich tauchte den Kopf mehrmals ins Wasser, befühlte auch meine Stirn, und dabei geriet mir ein glattes Etwas in die Finger, das sich im Schilf verfangen hatte. Es war der Oberarmknochen eines Skeletts.

Starr betrachtete ich den gelbweißen Knochen, der noch die Messinghaken besaß, mit denen das Skelett einst anatomisch richtig zusammengefügt worden war.

Ein Teil des Nachbar Dr. Tod, ohne Zweifel. Ein Teil des Knochenmannes im Arztkittel, – also hatte Allan Tott das Skelett doch mit in die Höllenmaschine gepackt gehabt, um es gleichzeitig mit uns in Atome zu zerschmettern.

„Andenken für Heliante!“, hatte Tott gebrüllt.

Und ich hielt vielleicht den letzten Rest dieses „Andenkens“ in der Hand, – ein Zufall hatte den Oberarmknochen in das weiche Schilf geschleudert, ein Zufall mich gleichfalls hier in die salzige Flut befördert. – Schicksalsfügung?!

Wohl ja, falls dieser Gerippeteil eines unbekannten Toten irgend einen Wert besessen hätte. Weht dir die Vorsehung gerade zur rechten Zeit ein Staubkörnchen ins Auge, daß du stehenbleiben und es wegwischen mußt aus dem tränenden Fenster deines Kopfes, und bewahrt diese Verzögerung dich davor, daß du nicht von einem über die Bordschwelle rasenden Auto niedergerissen wirst, dann ist es Schicksalsfügung. Ursache und Wirkung reichen sich die Hand, du bleibst verschont, andere Spaziergänger hörst du schreien und jammern und siehst sie in Zuckungen unter dem Auto liegen, – dann fährt es dir wie ein Blitz durch den vor Mitleid um die anderen erhitzten Geist: Schicksalsfügung!! – Vielleicht bist du einer von denen, die ein solches Erlebnis in sich wach halten und davon zehren als von neuer, geistiger Kost. Vielleicht bist du einer der allzu vielen, die im Trott des Alltags, der Selbstsucht, der stumpfen, verbissenen Profitgier derartiges rasch vergessen – – als unbequem. Dann ist es schade, daß dieser Wink dir gegeben ward, in dich [zu][19] gehen und … zu glauben! – – So etwa hatte Pater Menardus einst zu mir gesprochen in jenen seltsamen Stunden, wo ihn, den Gottesstreiter, der heiße, selbstlose Wunsch überkam, in dürres Erdreich den Samen zu säen, der über alle Ewigkeiten hinaus Halme und Früchte trägt, und auch den dürren Boden zu lockern und zu kräftigen, damit nicht nur das Blendwerk dünner Halme hervorschieße. – Mir gegenüber waren diese Worte vielleicht verschwendet gewesen. Ohne Pharisäer zu sein und mich fälschlich zur Seifenblase, die nur schillert, aufzublähen: Ich liebe die Natur und ihre Geschöpfe, und meine Handlungen wurden nie angestachelt durch Eitelkeit, Genußsucht und jene Fülle minderwertiger Triebe, die von den großen Betrügern des Weltgeschehens mit Taschenspielerfertigkeit verwandelt werden zu fein maskierten Gedanken und Worten, vor denen die blinde Menge ehrfurchtsvoll in den Staub der eigenen Dummheit sinkt.

Der Knochen …! – Die Sonne glitzerte auf dem feuchten Gebilde aus Kalk und Phosphor und anderen Bestandteilen. Die Sonne bringt alles an den Tag, selbst die so sauber gekittete Bruchstelle, die da mitten durch den Röhrenknochen geht. Der Stoß der Explosion, die das Skelett in alle Winde zerstreute, hat die gekittete Stelle zum Klaffen gebracht, und als ich schärfer zufasse, habe ich zwei Teile der Röhre in der Hand und erblicke in dem einen Teil ein eng zusammengerolltes Stück Papier.

Es ist feucht geworden, aber es ist Pergamentpapier, und die Tinte ist unverwaschbar, – nicht ein Buchstabe ist verlaufen von dieser eigentümlich unausgeglichenen Schrift.

Mein Blick fällt auf einen Namen, noch bevor ich den Text gelesen:

Sinclair Hoult!

Dieser Name trifft mich wie ein schwerer Hieb und rüttelt mich vollends auf.

Sinclair Hoult, Heliantes bedauernswerter Vater, Opfer eines gemeinen Verbrechers, – – hier hat er seine Beichte verborgen …

Hier …

Im Oberarmknochen eines seiner Gefährten, die damals nicht wieder in Merida erschienen und die als verunglückt galten.

Meine Augen überfliegen die durch Gemütserregung krause Schrift. Die Schrift schon sagt, wie Sinclair Hoult gelitten hat.

Ich lese …

Und liege im Salzwasser des Bittersees, der die Stadt der Träume bedeckt.

Anderes packt an mein Herz.

Geheimnisse entschwundener Zeiten werden lebendig, und das Allerletzte offenbarte sich mir. Ich verstehe und übersehe nun alle Zusammenhänge dieser weitverzweigten Tragödie, die damit begann, daß eine Anzahl Engländer vor mehr denn zwölf Jahren Tutul Xius sagenhafte Sträflingsstadt, die Stadt der Edelsteinsucher und Edelsteinschleifer, entdecken wollte …

Und – auch wirklich entdeckte.

Totenstill ist es ringsum …

Kein Schuß fällt …

Die Berge schweigen, der See schweigt, aber das Blatt Pergamentpapier redet zu mir mit dröhnenden Worten, die meine Nerven fast peinigen.

 

11. Kapitel.

Sinclair Hoults Niederschrift.

„… Allan Tott ist der einzige von uns, der noch immer hofft.

In diesem Menschen steckt der zähe Wille eines indianischen Lasso, das mit seinen sechs verflochtenen Schnüren sich dehnt, aber nicht reißt.

Wir anderen sind des Urwaldes müde.

Wir haben gekämpft gegen die Wildnis und haben unsere Kräfte verzehrt. Wir wollen nicht mehr.

Wir wollen nicht mehr.

Tott war ohne jede Verzagtheit, er trieb uns empor, und wir haben von neuem gesucht.

Wir sind über Berge geklettert, die unsere Stiefel zerfetzten und an deren schroffen, harten Zacken die Haut unserer Handflächen und Beine klebt.

So fand ich den Wasserfall.

Ich allein.

Rief die anderen herbei, und Tott und ich kletterten in den Schlund hinab, den der Katarakt des unterirdischen Flusses halb ausfüllt.

Tott war vom Teufel besessen.

Er zeigte mir in den Steinwänden des Kanals uralte, halb verwischte Gravierungen: Richtungspfeile, Zahlen, vieles andere.

Genug: Wir erreichten den See, wir stiegen an der Ostseite eine Terrasse hinan und lagerten in einem Haufen von Felsen, der einer Ruine eines Palastes glich.

Tott schwor: Dies sei das Tal des Tutul Xiu.

Wir anderen schliefen zwölf Stunden.

Er wachte.

Der Teufel war in ihm.

Als wir uns gestärkt erhoben, hatte er bereits den anderen Kanalarm durchforscht und erzählte von einem grünen Garten Eden, der jenseits der schmalen, aber himmelhohen Steinwand läge.

Meine Füße brannten wie Feuer. Ich kühlte sie im See und weigerte mich, Tott und die drei Gefährten zu begleiten.

Sie gingen davon, tauchten im trockenen Kanal unter und entschwanden.

Vorher hatte Tott mich beiseite genommen.

„Hoult“, sagte er herzlich, „Hoult, alter Bursche, hören Sie sorgfältig zu. Ihre Uhr zeigt genau neun Uhr morgens. Genau um elf gehen Sie in die Felsen hinein, in unser Felshaus, und scharren in der linken Ecke den Steinschutt weg. Sie werden darunter eine Steinplatte finden, die ich ein wenig gelüftet habe. Sie bedeckt einen Schacht, in dem Schacht sind zwei lange Holzhebel zu sehen, die jetzt nach Süden zu in der Führung liegen. Drücken Sie sie nach vorn, nach Norden, und Sie werden ein Wunder miterleben, das seit König Tutuls Zeiten kein Menschenauge schaute.“

Ich saß am Ufer, die Füße im Wasser, neben mir die zerfetzten Stiefel und meine Waffen, und ich blickte zuweilen auf meine Uhr und dann wieder über den stillen See, auf dessen Fläche die Sonne Silberstreifen malte.

Ich dachte über Totts Worte nach, und ich begriff sie nicht.

Trotzdem wollte ich seinen Weisungen folgen. Es lag kein Grund vor, sie nicht zu befolgen, und Totts Klugheit, sagte ich mir, und seine unglaubliche Zähigkeit hatten uns immerhin hier an diesen See gebracht.

Ob es das Tal der Sträflinge sei, – ich zweifelte daran.

Eine Wolke segelte über den glasklaren blauen Himmel, und die Sonne wurde für Minuten verdeckt, – ein Vorgang, der so alltäglich ist, daß ich ihm keinerlei Bedeutung beimaß. Wie sollte ich auch? Ich war zermürbt durch den wochenlangen Kampf mit der Wildnis, meine Füße waren so zerschunden, daß das rohe Fleisch hervorschaute, mein Hirn war leer und mein Denken träufelte schwerfällig wie verdicktes Blut.

Und dann sah ich, was ich zunächst für Spuk, für Ausgeburt der Phantasie hielt: Der Schatten, der über dem See lag, dazu die immer noch grelle Beleuchtung der Vormittagsstunde gaben mir Einblick in die klaren Tiefen des Bergsees, und auf dessen Grunde gewahrte ich Steinhäuser, Ruinen, Straßen, Plätze, Tempel und Hallen.

Ich war anfänglich derart verblüfft und benommen, daß ich mehrfach die Augen schloß, um das Trugbild zu verscheuchen.

Es war kein Trugbild, es war Wirklichkeit, die ich schauen durfte, und als ich dies erst voll begriffen hatte, kam ein Schrei aus meiner Kehle, der die Gefährten herbeirufen sollte. Ich wollte Tott danken, weil er so beharrlich uns immer wieder aufgerüttelt hatte. Nur ihm verdankten wir es, wenn jetzt unsere Namen eingereiht würden in die Liste der großen Forscher. Wir hatten ja das entdeckt, was vor uns so und so viele Expeditionen gesucht hatten: Tutul Xius sagenhafte Sträflingsstadt!!

Nicht schnöde Gewinnsucht hatten mich und meine Begleiter nach Yucatan geführt. Ich bin reich, so reich, daß ich verborgenen Schätzen nicht nachzujagen brauche. Wir waren als Forscher in dieses Land gekommen, und wir hatten gesiegt!

Schmerzen, Ratlosigkeit – alles war vergessen. Ich fühlte den Rausch des Sieges, und ich schritt in das Felsenhaus, legte Pflaster auf meine wunden Füße, besserte die Stiefel notdürftig aus, streifte sie über die frischen Strümpfe und Bandagen und blickte auf die Uhr … Sie zeigte wenige Minuten vor elf.

Ich beeilte mich, ich fand die Steinplatte im Boden, lüftete sie vollends und sah die beiden langen Hebel mit ihren Handgriffen.

Meine Uhr zeigte die elfte Stunde.

Das neu erwachte Kraftgefühl in mir steigerte sich zu einer übermenschlichen Ausdauer, Zähigkeit und verbissenen Energie, wie Freund Tott sie besaß. Die Hebel rührten sich nicht, ließen sich nicht bewegen. Aber in mir flutete jetzt Totts Tatkraft, und keuchend und japsend vor unerhörter Anstrengung drückte ich sie doch endlich in die andere Lage, sank dann erschöpft am Rande des Schachtes zusammen, und das Blut in meinen Ohren brauste wie das Tosen eines Wasserfalls, wuchs an zu wildestem Donnern, Zischen, Heulen und Pfeifen, – – und voller Entsetzen merkte ich jäh, daß es nicht mein Blut war, das die Nerven der Gehörgänge malträtierte, sondern daß die Geräusche aus dem Schachte kamen – von unten her, aus unbekannten Tiefen des Gesteins, daß ich also leichtfertig irgendwo ein Schleusenwerk geöffnet hatte, das vielleicht die Wasser des Sees gen Westen entleerte – in das grüne Tal, wo meine Gefährten weilten.

Grauen und Angst packten mich.

Tott konnte nicht geahnt haben, was die Hebel bedeuteten, sonst würde er mir niemals diesen halben Befehl erteilt haben. Ich mußte die Wasserfluten wieder abstoppen – auf eigene Verantwortung, und ich riß die Hebel zurück, fast wahnsinnig vor Angst, die Freunde drüben ertränkt zu haben.

Es gelang mir … Das Donnern und Fauchen und Zischen verstummte, – ich rannte ins Freie, zum See hinab, und ich sah, daß der Seespiegel gut um ein Meter gesunken war.

Ich brach am Ufer zusammen, der kalte Schweiß drang mir aus allen Poren, Übelkeit fühlte ich, meine Nerven versagten, ich wurde ohnmächtig.

Tott rüttelte mich wach, Tott brüllte mich an wie ein Verrückter:

„Sie verdammter Schuft Sie, – Sie haben Alkins, Howland und Braßwell ersäuft wie junge Katzen!!“

Er war sinnlos vor Wut.

So schien es mir damals.

Heute weiß ich, daß dieser Elende ein grausamer, bösartiger Komödiant ist.

Heute, – wo es zu spät ist! –

Und wieder schrie er mich an: „Sagte ich Ihnen nicht, Sie sollten erst um elf die Hebel bewegen!! Um elf, Sie Schuft!! Und – es ist erst dreiviertel elf, – da, sehen Sie meine Uhr: Drei viertel elf!! Sie ehrgeiziger Narr wollten auch mich beseitigen, um dann ganz allein den großen Entdecker spielen zu können! Raus mit ihrer Uhr – – raus damit! – – Um elf, – – und – – ah, Ihre Uhr geht ja eine volle Stunde vor, Sie haben sie gestellt, Sie Halunke – – für alle Fälle, – Ihre Uhr zeigt dreiviertel zwölf!!“ –

Ich war ein vernichteter Mann. Tott hatte mich vollkommen in der Hand, ich mußte damals sofort ein sogenanntes Schuldbekenntnis niederschreiben, das er an sich nahm. –

In meiner Verwirrung, Angst und Verblendung versprach ich ihm ungeheure Summen, falls er schwiege. In meiner Verblendung merkte ich nicht, daß jedes seiner Worte teuflische Berechnung war.

Er änderte sein Benehmen, er spielte den teilnehmenden Freund, er führte mich zwei Tage später in das grüne Tal, zeigte mir dort den Schleusenkanal in der Bergwand, zeigte mir die Leichen der drei Gefährten, die das Wasser in dem Schleusentunnel überrascht hatte. Das grüne Tal war überschwemmt gewesen, wir erkannten noch überall die Spuren des Wassers, das sich inzwischen wieder verlaufen hatte.

Howlands Leiche war von großen Termiten fast kahl gefressen.

Und als wir nach abermals fünf Tagen den grauenvollen Ort verließen, nahm Tott gegen meinen Willen Howlands Skelett mit sich und ließ es nachher von einem Fachmann sauber zusammensetzen und schenkte es mir.

Schenkte?! – Nein, er zwang mich, es zu behalten. „Damit Sie nie vergessen, daß Sie ein Mörder sind, Hoult!“, sagte er höhnend und ließ so die Maske fallen und zeigte mir jetzt sein wahres Gesicht. – –

Jahre sind vergangen. Allan Tott bleibt mein Quälgeist. Jetzt wünscht er, daß ich ihm mein einziges Kind zum Weibe gebe.

Ich bin ein kläglicher Feigling, ich fürchte den öffentlichen Skandal, Tott besitzt mein schriftliches Schuldbekenntnis, und niemand würde mir glauben, daß Tott mich damals hinterlistig in eine Schuld verstrickt hat, die vor Gott und den Menschen nur ihm zuzurechnen ist. Er betrog mich, er hatte seine Uhr zurückgestellt, – er hatte die drei in den Schleusenkanal geschickt, er wußte, daß sie ertrinken würden, er wollte lediglich mein unbeschränkter Herr werden – – und wurde es auch. –

Rache, Vergeltung!! Meine Seele schreit danach!!

Und ich … Feigling begnüge mich damit, dieses Papier in Howlands linkem Oberarmknochen zu verbergen.

Ich bin des Lebens müde … Ich verachte mich selbst. Heute hat Heliante Allan Tott geheiratet.

Aber eine kleine Rache habe ich doch ersonnen: An diesem Tage wird Tott meinen Brief erhalten – – spät abends, und in dem Brief kündige ich ihm an, daß der Nachbar Doktor Tod ihn an den Galgen bringen wird … falls …

Ja, falls er je wagen sollte, das Skelett zu vernichten! –

Ich weiß, wie gerade so unbestimmte Drohungen auf Verbrecherseelen wirken. Tott wird glauben, meine Anwälte seien irgendwie von mir instruiert, gegen ihn vorzugehen, wenn er sich des Nachbar Dr. Tod entledigte.

Er wird es nicht wagen.

Und so wird Howlands Gerippe sein Leben fernerhin mit unbekanntem Schrecken erfüllen, und er wird ruhelos werden wie ein Mörder.

Er ist ein Mörder.

Nicht ich.

Sinclair Hoult.“

 

12. Kapitel.

Die Bewohner des Yucatan-Vineta.

Ich habe Sinclair Hoults Niederschrift sorgfältig in die eine Knochenhälfte zurückgeschoben und diese an drei Schilfstengel festgebunden. Ich will vorsichtig sein …

Bruder Menardus steht droben am Eingang des Steinhauses und winkt mir heimlich zu. Ich deute auf das Knochenstück und dann nach drüben und nach oben, wo die Feinde lauern.

Der Pater wagt sich noch mehr ins Freie, – – kein Schuß fällt.

Seltsam.

Fred Turfs hagere, sehnige Gestalt, schiebt sich neben den stämmigen Pater, sie stehen in dem Felseingang und suchen jetzt mit dem Fernglas die Bergwände und den Kanaleingang nach verborgenen Schützen ab. Hinter ihnen drängen sich die Galibi-Krieger zusammen, und einer von diesen bückt sich, hebt eine Steinplatte wie ein Brett auf und legt sie sich über den gekrümmten Rücken als Kugelschild und rennt die Böschung hinab, läßt die Steinplatte senkrecht vor mir stehen und gleitet ins Wasser.

Zwei Schüsse knallen … Die Kugeln zischen in den See … Das ist alles. – Der Galibi-Karibe und ich kauern hinter dem Steinstück, und der muskelstrotzende Halbwilde sucht mir in fürchterlichem Hafenslang klar zu machen, daß vorhin durch die Salve aus unserer Hütte doch ein paar von Totts Kerlen üble Wischer abbekommen hätten und daß die Bande sich hüten würde, noch irgend etwas gegen uns zu unternehmen.

Er schielt dann nach dem Knochenstück, aber ich finde die Verständigung mit ihm doch zu mühsam und schweige und betrachte die Freunde droben.

Eine halbe Stunde vergeht.

Nichts geschieht. Trotzdem spüre ich es in allen Nerven, daß die Tragödie sich hier ihrem Ende entgegenneigt. Ich habe mir inzwischen vieles überlegt und über alles Klarheit gewonnen.

Ich kenne jetzt das Geheimnis der Stadt der Träume dort unten auf dem Grunde des Sees. Sie ist ersäuft worden, ertränkt, überflutet, und der unterirdische Fluß, die Schleusen, die Hebel und die Schleusenkanäle und das benachbarte grüne Tal greifen dabei ineinander als feiner Mechanismus. Einst, so reime ich es mir als ehemaliger Ingenieur zusammen, war das „grüne Tal“ das ungeheure Staubecken, nur zu dem Zweck angelegt, die Stadt der Smaragdschleifer unter Wasser zu setzen. – Technische Einzelheiten?! Weshalb?! Ich schreibe meine Erinnerungen, und ich weiß, daß es so gewesen sein muß, daß zwei Schleusenkanäle die westliche Steilwand durchziehen – zwei! Der eine muß um neun Meter höher liegen als der andere, denn etwa neun Meter Wasser steht über den Gebäuden des Yucatan-Vineta. Als König Tutul Xiu von den Spaniern vertrieben wurde, haben einige seiner Getreuen das Staubecken geöffnet, die Traumstadt ertrank, und seitdem ist auch der eine Arm des Flußtunnels ausgetrocknet.

Nur etwas vermag ich nicht zu klären.

Ich sah Geschöpfe in den Straßen im Wasser wandeln, und nur dies bleibt Rätsel.

… Der Galibi stößt mich leise an, deutet gen Himmel und quält sich ab, mir irgend etwas recht anschaulich zu erzählen, aber im Übereifer wird seine Rede noch unverständlicher, er wiederholt nur häufiger den Namen Goto, meint wohl den alten Goto, und ich verstehe endlich, daß es dort oben im Steinhause bei uns zu Zwistigkeiten gekommen sein muß, was mich stark beunruhigt, denn die drei Gotos, Großvater, Vater und Enkel, brüten irgendwie Unheil …

Abermals zeigt der Galibi aufwärts … Ich sehe am Himmel dünne Wolkenfetzen, die der Sonne entgegensegeln, und hinter diesem zarten Gewölk folgt eine einzelne Wolke …

Ich begreife nun: Der Galibi ist durch den Pater in die Geheimnisse der Tiefe eingeweiht worden und hofft, jetzt ebenfalls die versunkene Stadt zu schauen.

Das Gefühl, daß eine Katastrophe naht, steigert sich bei mir zur Pein. Ich möchte hinauf zu den Freunden, – – Kugeln pfeifen, als ich mich halb aufrichte. Allan Totts Posten sind doch noch allzu wachsam.

Die Wolke nähert sich der Sonne …

Ein feiner Schatten fliegt über den Seespiegel, die Sonnenstrahlen verschwinden, ich drehe mich um, und ich erlebe wiederum das fesselnde Schauspiel, wie die versunkene Stadt sich zu heben scheint und die Wasser des Sees nur mehr die alten Bauten und Straßen ein wenig verzerren.

Der indianische Krieger stößt einen leisen Schrei aus, sein Arm fliegt hoch, – – auch ich bemerke drunten fünf wandelnde Gestalten, ich starre hin …

Und … urplötzlich geht es durch die Wasserfläche wie eine leise Erschütterung, wie ein Zittern, und zehn Meter links von uns dicht am Ufer bildet sich ein Strudel, aus dessen quirlenden Wassern ein Donnern, Brüllen, Pfeifen und Brausen hervordringt.

So stark ist die Zugkraft des immer mehr sich verbreiternden Strudels, daß der Indianer und ich unsere Beine zur Seite gerissen fühlen, daß wir uns an Felskanten anklammern, daß wir nur noch an uns selbst denken …

Nicht lange.

Der Seespiegel sinkt. Sinkt sehr schnell.

Ich weiß, was geschehen: Der alte Goto hat die Hebel zurückgedrückt, will Totts Bande ertränken …

Unsere Beine hängen sehr bald im Trockenen.

Droben am Steinhause Stimmgewirr, Rufen, Schreien, – dann trabt Miß Marry vergnügt ins Freie, keilt vor Freiheitsseligkeit hinten aus und rennt die Terrasse entlang, beginnt zu grasen.

Kein Schuß fällt.

Ich springe empor, jage zum Felsen hinauf, stoße auf den Pater und Heliante, auf Turf, – – alle drängen ins Freie, in den Sonnenschein hinein, der bereits wieder den See mit flirrendem Licht übergießt.

Der See?!

Er sinkt …

Er verschwindet …

Der Strudel frißt den See, und das Wasser zeigt Streifen, die alle nach derselben Stelle laufen: Zum Strudel!

Der alte Goto stürzt mit halbirren Augen zwischen uns hindurch, wirft sich in die Knie, reckt die gefalteten Hände empor und kreischt ein Dankgebet …

Entsetzen lähmt uns.

Doktor Goto tut nichts, – Doktor Goto und sein Sohn stehen mit düsteren Mienen dicht hinter dem Alten.

Keiner von uns ist in diesen Minuten Herr seiner selbst. Pater Menardus blickt mich wie ein all seiner Kräfte beraubter Kranker aus fahlem Antlitz fragend an.

Heliante lehnt an Turfs Schulter, er hat den linken Arm um ihre Hüfte geschlungen und zeigt vielleicht als einziger außer den drei Gotos die eherne Ruhe eines Menschen, der dem Schicksal mit stiller Genugtuung seinen Lauf läßt.

Der See sinkt …

Eine Dachspitze erscheint bereits, andere folgen. Die Stadt der Träume erwacht, kehrt zurück zum Lichte nach mehr denn fünfhundert Jahren, – – noch zehn Minuten, und die ersten Straßen liegen frei, – noch fünf Minuten, und der Hauptteil der Stadt wird in Sonnenschein gebadet, – – nur noch Tümpel sind hier und dort zu sehen, und …

… Und mitten auf dem Platze vor dem Tempel liegen fünf Gestalten …

Fünf Männer in Taucheranzügen, von deren Helmen sich die Luftschläuche entlangziehen bis zu einem Schleusenkanal, der neben dem größeren in der noch nassen, triefenden Talwand klafft.

Wir laufen …

Wir stolpern, fallen …

Der Pater ist allen voraus …

Der Pater möchte retten, was noch zu retten ist, zerschlägt mit einem Stein die Helmfenster der fünf, damit sie atmen können.

Sie atmen nie mehr. – –

Ich habe Allan Tott aus der Nähe nur als Leiche gesehen. Er war einer der fünf. Um seinen Hals hing ein Sack, der mit Gold und Edelsteinen gefüllt war.

Unwillig hat sich der Pater dem alten Goto gegenübergestellt und ihn grob angefaucht … „Die Rache ist mein, spricht der Herr!“, – – aber der greise Kaufmann aus Merida, der jetzt wieder völlig bei Sinnen ist, weist alle Vorwürfe zurück.

„Pater Menardus, sieben Jahre hat dieser Verbrecher Allan Tott mich und meinen Enkel eingesperrt gehalten, nachdem er mich dazu überredet hatte, in aller Stille die teuren Taucheranzüge, die endlos langen Luftschläuche, die Luftpumpen und vieles andere noch zu besorgen. Tott kannte das Hauptgeheimnis dieser beiden benachbarten Täler: Daß man aus dem grünen Tal mittels Schleusenkammern in den See und die versunkene Stadt gelangen könnte, – was er mir jedoch erst genauer erklärte, als ich sein Gefangener war. Er hat mich belogen und betrogen, er ist ein vielfacher Mörder, und – das Schicksal war gerecht: Er erstickte hier in seinem ergaunerten Taucheranzug, nachdem die in das Tal einbrechende Wassermenge seine Leute von den Luftpumpen verjagt hatten.“

Der Pater schwieg, wandte sich halb ab und schaute in die Ferne, als ob er von dort irgendwoher die Erleuchtung heraufbeschwören könnte, die ihm Erleichterung bringen sollte in dem Gewissenskonflikt zwischen Gotos Anklagen und seinen eigenen milderen priesterlichen Gefühlen.

Fred Turf, der Heliante abermals stützte, entfaltete jetzt das Blatt Papier aus dem Knochenstück, das der Galibi-Krieger mitgebracht und ihm gegeben hatte.

Turf las mit lauter Stimme Sinclair Hoults Geständnis vor.

Und fügte hinzu – noch härter, eherner, und doch auch tief bewegt durch die Erinnerungen an Allan Totts anderes Opfer:

„… Ich hatte einen jüngeren Bruder namens Winston … Er war leichtlebig, genußhungrig, und Allan Tott umgarnte ihn, stahl ihn mir, machte ihn … zum Verbrecher. Wie Winston starb, ist bekannt. Die Tutul-Kakteen und Allan Tott mordeten ihn. – Weshalb lenkte Tott ihn auf schlechte Pfade? – Die Antwort ist so einfach: Weil ich seit Jahren in London einer der gefürchtetsten Oberbeamten von Scotland Yard bin, weil ich Allan Tott seit langem beargwöhnte. Deshalb verführte er Winston zu allerlei Schlechtigkeiten – in der Hoffnung, ich würde die Bruderliebe über die Pflicht stellen und ihn und Winston unbehelligt lassen.“

Er flüsterte Heliante etwas zu, und die beiden entfernten sich. – –

Pater Menardus und seine zwölf Krieger und ich sind jetzt die Bewohner der Felsgrotte über der Stadt der Träume.

Die anderen zogen gestern davon, kehrten heim durch den wieder passierbaren unterirdischen Fluß.

Allan Tott liegt drüben unter einem Hügel. Acht Hügel nebeneinander, – – acht Tote. Der Rest der Gesellen Allan Totts entfloh in die Wildnis.

Wir sitzen im Abendrot vor der Steinhütte, und meine Blicke schweifen hinweg über die tote Stadt, die ich nun mit allen Einzelheiten kenne.

Oft genug bin ich in der verflossenen Woche durch die schlammigen Straßen gewandert, oft genug leistete Turf mir Gesellschaft, noch häufiger Doktor Goto, zuweilen auch Heliante, die wieder ganz vertraulich „Olaf“ mich anredete und in mir den treuen Kameraden liebt.

Ihre andere Liebe gehört Manfred Turf.

Vinzent Kumanogoto, mit dessen Person dieser mein Abseitspfad begann, hat mich so und so oft flehentlich gebeten, mich doch in Merida seßhaft zu machen, hat mir ein Vermögen in Edelsteinen versprochen und alle Register sorgender Freundschaft spielen lassen.

Ich habe gelächelt.

Habe erwidert: „Pater Menardus nimmt mich mit in das Galibi-Dorf. Das lockt mich mehr, Freund Goto.“

Da hat er es aufgegeben.

Nun sitzen der Pater und ich im Abendrot und sprechen bedächtig wie erprobte Lebenskämpfer über die bunten Geschehnisse, die wir hier mit erlebten.

Morgen wollen wir wieder hinüber zum einstigen „grünen Tale“, das jetzt nur noch ein Staubecken ist, – – wie einst, wie vor einem halben Jahrtausend.

Der kräftige Bratenduft lockt uns in die Steinhütte. Um das Feuer hocken die Galibi, einer dreht den Spieß, ein anderer fängt mit einem geschnitzten Löffel das herabträufelnde Fett der Hirschlende auf, und die anderen sehen zu und rauchen und schwatzen.

Wir essen, Miß Marry weidet draußen, die Nacht kommt, und der Vollmond steigt über der toten Stadt herauf.

Nicht lange wirft er sein Silberlicht über die alten Steingebäude, über König Tutuls Strafkolonie.

Dickes, schwarzes Gewölk zieht von Osten heran, Blitze flammen, Sintflut stürzt vom finsteren Firmament, Donner dröhnt in den Bergen, – – stundenlang regnet es.

Ungeheure Wassermengen kommen herab, gleiten in schäumenden Bächen über die Steinwände und füllen die Straßen der toten Stadt mit dünnen Tümpeln, die sich allmählich ausdehnen.

Der Morgen bricht an.

Es regnet noch immer.

Die Luft ist schwer und drückend, ein Gewitter folgt dem anderen, von Tageshelle ist nichts zu spüren, – – es regnet, gießt, blitzt, donnert.

Pater Menardus betrachtet ernst die Seen, die in der toten Stadt sich gebildet haben, – nicht mehr Tümpel …

„Abelsen“, sagt er mit einem Blick zum schwarzen Firmament, „ich fürchte, wenn dieser Regen noch einige Stunden anhält, wird das Staubecken drüben …“

Ein seltsamer Knall, der aus den Tiefen der Erde zu kommen scheint, läßt ihn schweigen.

Ich halte den Atem an …

Ich ahne, was kommen wird.

Es kommt: Die Wassermassen drüben haben die Schleuse gesprengt, – aus dem unteren Schleusenkanal schießt eine Wasserwoge hervor, – die tote Stadt beginnt von neuem zu ertrinken.

Und als ob der Himmel nur darauf gewartet hätte, daß seine geöffneten Schleusen die andere, die künstliche, zerstörten, zerreißt jetzt das Gewölk, Wind kommt auf, fegt die schwarzen Tücher zur Seite, und die Sonne lacht über der abermals ertrinkenden Stadt, schaut blinzelnd zu, wie das Tal wiederum zum See wird, wie das Wunder von Vineta auf Yucatan aufs neue geschaffen wird.

Die heranrollenden Wassermassen erreichen drüben die Grabhügel, – – Allan Tott wird wie ein Seemann unter klarer Flut ruhen.

„… Auch er war nur ein armer, irrender Mensch“, sagt der Pater leise. „Gott wird gnädig sein, – – Gott ist die Liebe und die Gnade und die Verzeihung.“

Immer tiefer versinkt die Stadt der Träume.

Immer höher steigen die Wasser …

Wir bleiben stumm.

Der letzte Dachgiebel verschwindet …

Noch immer schießt das Wasser aus dem Schleusenkanal …

Bis er ermüdet, bis seine Kräfte erschöpft sind …

Die Stadt der Träume ist wieder das geworden, was sie gewesen, als mein Blick zum ersten Mal diesen Bergkessel schaute: Ein See, glitzernd im Sonnenschein …

Ein stilles, großes Andenken an eine einst glorreiche Indianernation, an das Maya-Volk. – –

Nachmittags besuchen der Pater und ich das grüne Tal.

Kein angenehmer Weg, – wir waten durch den Fluß, wir lernen wieder die Unterwelt kennen, und dann treten wir wieder hinaus in den Sonnenschein.

Das lange Bad hat dem Baumwuchs nichts geschadet …

Ein freundliches Bild empfängt uns.

Murmelnd und plätschernd zieht der Fluß unter tropischen Bäumen seine geheimnisvolle Straße und verschwindet im Süden abermals in einer Kluft der Felswände.

Wertlos und verschmutzt liegen die Luftpumpen auf einer Terrasse der Westwand, Lagerzelte sind halb vom Schlamm bedeckt, Werkzeuge sind umhergestreut, Patronenhülsen häufen sich zu kleinen Hügeln, Kochgeräte schwimmen in Pfützen, – – Der Pater meint frischen Tones:

„Meine Leute werden hier manches Brauchbare heraussuchen, bevor wir aufbrechen …“

Sein Fuß stößt gegen einen Ledersack, – „Vielleicht Steine, Edelsteine, Abelsen …“

„Schmeißen Sie das Zeug weg“, warne ich …

Der Pater öffnet den Sack …

Die Sonne trifft den Inhalt …

Ein giftgrünes Sprühen leuchtet uns entgegen.

„Das … sind … Millionen“, sage ich mit schwerer Zunge. „Das ist wahrscheinlich Allan Totts gesamte Beute aus der Stadt der Träume … Weg damit, Pater Menardus, – hinein in den Fluß … Unheil hängt an diesem schillernden Tand …“

Sein Kopf hebt sich, seine Augen ruhen in den meinen.

Ein seltsam nachdenklicher Blick ist es, der mich umfängt.

„Abelsen, – – ich hätte eine Bitte …“

„Nun – und?!“

– – Was Pater Menardus, den ich liebe, mir berichtet, weckt Erinnerungen an das Rauschen des Meeres, an dröhnende Schiffsplanken, die unter dem Ansturm der Wogen erzittern, und an einsame Gestade, die ich besuchen durfte und die vor meinen Augen durch ein Seebeben versanken.

„Abelsen, – Sie würden es schaffen, – Ihnen traue ich es zu! Hier die Steine, – – Sie könnten einen Schoner kaufen … Wollen Sie?“

„Ja!“

Er drückt meine Hand …

„Ich danke Ihnen … Ich wußte es, daß Sie einwilligen würden … Und von mir wieder ist es verständlich, daß ich über das Schicksal meiner Lieblingsschwester Klarheit gewinnen möchte.“

Seine gütigen Augen zeigen die tiefe Melancholie des Heimwehs, der Sehnsucht nach den Seinen …

Ich nehme den Ledersack, knöpfe ihn an den Gürtel …

Ich weiß, ich werde nicht sehr lange im Dorfe der Galibi mich ausruhen. Mir zeigt sich ein neuer Pfad abseits vom Alltag, und ich werde ihn gehen, ich … werde!

 

Nächster Band:

Die Robinsonklippe.

 

 

Anmerkungen:

  1. „Vinzent“ / „Vincent“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich und bandübergreifend auf „Vinzent“ geändert.
  2. „Südyucatans“ / „Süd-Yucatans“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Südyucatans“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „Bleiblomben“.
  4. „Maya-Reich“ / „Mayareich(e)“, „Maya-König(en)“ / „Mayakönig(s)“, „Maya-Sagen“ / „Mayasagen“ sowie „Maya-Volk“ / „Mayavolk(es)“ – Jeweils beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Maya-Reich(e)“, „Maya-König(en)(s)“, „Maya-Sagen“ und „Maya-Volk(es)“ geändert. Weiterhin auch „Mayastadt“ einheitlich auf „Maya-Stadt“ geändert.
  5. Hier irrt der Dichter. Mit der Maya-Kultur und -Macht ist es bereits um 900 n.Chr. so gut wie vorbei. Die postklassische Phase ab 900 gibt nur noch ein Schattenbild.
  6. In Mayers Blitz-Lexikon von 1932 noch „Quesal“ geschrieben. Siehe auch Wikipedia: Quetzal.
  7. In der Vorlage steht: „Galegos“ – Einheitlich und bandübergreifend auf „Gallegos“ geändert.
  8. In der Vorlage steht: „Elephantasis“.
  9. In der Vorlage steht: „wiederfuhr“.
  10. In der Vorlage steht: „erwiederte“.
  11. Fehlendes Wort „zu“ ergänzt.
  12. In der Vorlage steht: „mich“.
  13. „Smaragd-Tal“ / „Smaragdtal(es)“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Smaragdtal(es)“ geändert.
  14. In der Vorlage steht: „Unserer“.
  15. Doppeltes Wort „voraus.“ entfernt.
  16. In der Vorlage ist eine Zeile doppelt, die neun Zeilen vorher schon dastand, dafür fehlt eine andere Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  17. „Hoult“ (18) / „Hould“ (2) – Einheitlich auf „Hoult“ geändert.
  18. In der Vorlage steht: „D. Tod“.
  19. Fehlendes Wort „zu“ ergänzt.