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Dschungelgeheimnisse

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 207

 

Dschungelgeheimnisse.

 

Erzählt von

Max Schraut

 

1. Kapitel.

Die Gegner.

„Sahib, Sahib …, rulwa Rasch, darb …“

Und eine unglaublich schmutzige Kinderhand zupfte mich am linken Ärmel …

Zupfte so aufdringlich, diese Hand des kleinen schmierigen Bombayer Bettlers, daß ich mich halb umwandte.

Wir standen in der Gor Mascha, der breitesten der Basarstraßen von Black Town, der farbigen Stadt, standen vor dem Auslagetisch eines Silberfiligranarbeiters und hatten soeben festgestellt, daß neunzig Prozent dieser „echt indischen Hausindustrieerzeugnisse“ made in Germany waren, – wahrscheinlich stammten sie aus Mannheim, meinte Harald.

Und da hatte der kleine braune Bengel mir so frech seine in Öl gebackenen Rulwa-Kuchen angeboten.

Um uns her war das lebendige Bild einer späten Nachmittagsstunde: Arbeitsschluß in den Fabriken, Heimkehr des braunen Proletariats zum armseligen Heim …, – Lärm, Schweißdunst …

Und Blicke aus dunklen Fanatikeraugen, die jeden besser gekleideten Fremden, besonders die vielen eleganten weiblichen Touristen, mit verstecktem Haß anstarrten. –

Der Durchschnittseuropäer macht sich von den Großstädten des Orients zumeist eine vollkommen falsche Vorstellung. So ist auch in Indien neben all dem unberührt Märchenhaft-Phantastischen Europas nüchterne Werktätigkeit mit all dem Drum und Dran so aufdringlich in die Erscheinung getreten, daß hohe Fabrikschlote, fauchende Autos, ratternde, bimmelnde Straßenbahnen und Millionen von Fabrikarbeitern in kurzem den Untergang all dessen vorausahnen lassen, was einst dem Kaiserreiche Indien jenen unnennbaren Reiz verlieh, – also: Kultur, Fortschritt als Vernichter! –

Ich schaute dem braunen zerlumpten Bürschchen in das verhungerte, pockennarbige, einäugige Gesicht …

Entsetzlich diese leere Augenhöhle, über die ein paar schwarze Haarsträhnen wie schützend hinweghingen …

„Sahib, … Rasch, darb!“, wiederholte der Junge, der auf einem Brett von zweifelhafter Sauberkeit seine Ölkuchen feilbot.

„Herr … kaufe, billig!“

Auch Harald drehte sich jetzt um.

Musterte den kleinen Inder … Zog die Lederbörse und gab ihm eine Rupie …

„Maschi, ehm subak …!“ sagte er freundlich. (Geh’ es stimmt!)

Der Bengel grinste. Eine Rupie war für ihn ein Vermögen.

Rasch mischte er sich in das Menschengewühl, ohne sich zu bedanken. Er mochte fürchten, der Sahib mit dem rötlichen Vollbart könnte sich vergriffen haben und die Münze zurückfordern.

„Komm, mein Alter, – schnell …!“ meinte Harst dann in ganz anderem Tone. „Ich fürchte, ich habe soeben eine große Dummheit gemacht …“

Und er schob ein paar jugendliche Arbeiterinnen, deren kokette bunte Tracht und lasterhaftes Lächeln gleichfalls auf das Konto „Kultur“ zu setzen waren, unhöflich beiseite und suchte dem kleinen Bettler zu folgen.

Umsonst, – der war verschwunden.

„Eine Dummheit?“ fragte ich nun, als wir die Straßenbahn bestiegen, um nach dem Hotel Prince of Wales zurückzukehren, wo wir heute früh verkleidet als holländische Kaufleute abgestiegen waren.

„Ja,“ nickte Harald und setzte sich ganz vorn in den Triebwagen. „Ja, eine Dummheit, lieber Alter, denn dieser einäugige Bengel trieb sich schon mittags vor dem Hotel als Stiefelputzer umher. Ich hätte nicht verraten sollen, daß mir der Bombayer Dialekt so geläufig ist.“

Der Wagen war ziemlich leer. Ich brauchte mich deshalb auch nicht weiter in acht zu nehmen. „Es ist doch ausgeschlossen, Harald, daß uns jemand nachspionieren sollte,“ meinte ich achselzuckend. „Der Schoner Goa liegt mit seiner ganzen Besatzung vor dem Höllentor von Adagaru auf dem Meeresgrund, und aus diesem Abenteuer „Höllentor“ hätten wir nur noch drei Leute zu fürchten, und die stecken mitten im Kaimara-Dschungel auf einer Insel, von der eine Flucht unmöglich ist! Du bist diesmal wirklich zu vorsichtig! Schon der Umweg von Adagaru über Kannanore und diese Verkleidung waren höchst überflüssig.“

„So, glaubst du?!“

Seine Ironie war zu dick aufgetragen.

„Du hast also Beweise, daß doch noch jemand von der „Goa“ lebt und …“

Er unterbrach mich. „Beweise?! Nur den braunen Bengel! – Warte ab …“

Und er nahm eine Zigarette und qualmte und starrte vor sich hin.

Ihn in dieser Stimmung stören, – das hätte er sehr übel vermerkt.

Ich schwieg.

Black Town lag hinter uns. Das „weiße“ Bombay zeigte uns seine modernen Riesenbauten.

Wir stiegen vor dem Hotel aus und setzten uns auf die Terrasse. Dicht unter uns flutete der „vornehme“ Verkehr dahin: Berlin, Tauentzienstraße, etwa …

Der Kellner brachte Eismelange.

Harst beobachtete den breiten Bürgersteig, ich die drei Engländerinnen am Nebentisch, fraglos Mädels von heute, die ohne Begleitung eine Spritztour gen Indien gemacht hatten.

Typisch englische Gesichter … Nicht schön, nicht häßlich, gelangweilt, erhaben über alles …

Sie tranken Absinth, und sie mischten ihn so kräftig, daß er in den Gläsern giftgrün schimmerte, – sogen an den dicken Strohhalmen und hielten ihre Kodaks bereit.

Der Kellner hatte uns vorhin zugeflüstert, daß der Nizam von Haidarabad mit dem Acht-Uhr-Zug erwartet und mit großem Gefolge vom Hauptbahnhof vorüberkommen würde.

Und gerade als das Auto mit den Vorreitern sich zeigte, flüsterte Harald mir zu:

„Achtung!“

Dabei griff er langsam in die Jackentasche und holte etwas hervor, das in seiner flachen Hand völlig verschwand.

Etwas, das wir jeder heute mittag erst bei einem Waffenhändler gekauft hatten …

Spielzeug fast, winzig in den Abmessungen, und doch sieben Patronen im Rahmen.

Er legte die rechte Hand wie zufällig auf die Terrassenbrüstung. Ringsum hatte sich alles von den Stühlen erhoben. Ein paar Touristen erkletterten von der Straße her blitzschnell die Brüstung, um besser sehen zu können. Sie versperrten uns die Aussicht, und ich wollte schon grob werden, als Harald mir zurief, – und er konnte getrost rufen, da die lauten Schreie der begeisterten Menge, die alle dem größten und reichsten Potentaten Indiens galten, jedes andere Geräusch übertönten …

„Die Gefahr ist vorüber … Gehen wir … Wir haben jetzt lebende Schutzschilde … Es ist besser so.“

Er stand auf … Er ging schnell und leicht gebückt.

Ich wußte nun: Man hatte irgendein Attentat auf uns geplant gehabt – man – – wer?!

Der Lift sauste brummend nach oben. Unsere beiden Zimmer lagen im Seitenflügel, dritter Stock, nach dem Hotelpark zu.

Im Wohnsalon stellte Harald sich an eins der geschlossenen Gazefenster. Ich trat neben ihn, fragte kurz: „Was gab’s?“

„Shing Gabru!“

„Shing Gabru, der Steuermann der Goa?!“

„Wer sonst, mein Alter? Ich denke, wir kennen[1] nur einen Gabru. Es sind also doch nicht alle bei dem Untergang der Goa mit umgekommen. Ich fürchtete es … Es handelte sich ja nur um eine Explosion des großen Benzinbehälters, und die Malaien konnten schwimmen. Gabru und ein zweiter brauner Bursche standen drüben in den Anlagen dem Hotel gegenüber auf einem Sprengwagen und spielten neugierige Zuschauer. Aber der kleine Rulwa-Händler erkletterte allzu eilfertig die Tonne des Sprengwagens, und so wurde ich auf die Burschen aufmerksam. Jetzt wissen wir, woran wir sind. Jetzt wird Herr Gabru seine Stockflinten kaum mehr benutzen können, denn ein gewarntes Wild zieht sich in die Deckung zurück, und das werden wir beide schleunigst tun …“

„Also … Stockflinten …!“ meinte ich überrascht. „Die hätten aber doch geknallt, und …“

„Kleinkaliber knallt wenig, mein Alter, und der Lärm auf der Straße war groß. Außerdem trommelte der kleine Bengel auch so fürchterlich mit seinen Füßen gegen die Eisentonne, daß wir beide die Kugeln empfangen hätten ohne jede Beunruhigung der Umstehenden. – Es ist klar, daß Gabru gegen uns Verdacht geschöpft hatte, als wir die Eisenketten in der Tiefe von unseren Taucherpanzern lösten. Er ist schlau, der alte, weitgereiste Shing Gabru, und er ist ein Satan, wie Frau Dolores Gonzales mit Recht behauptete. Ein böser Gegner! Wenn ein Europäer Verbrecher wird, fehlt ihm stets der Rassenhaß. Gabru hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er sich durchaus nicht als Malaie etwa als Mensch zweiter Sorte fühlt. Das Hochfahrende, Anmaßende in seinem Wesen hatte ja auch eine gewisse Berechtigung, wie ich gern zugebe. Gabru ist ein vielseitig gebildeter Mann, dabei von erstaunlicher Energie und Geriebenheit. Wir werden es schwer mit ihm haben. Eigentlich wollten wir ja diese Nacht mal wieder in Ruhe in einem anständigen Hotelbett ausschlafen. Das ist nun unmöglich. Wir müssen sofort hinüber nach Kaimara, und wir haben allen Grund, dabei mit äußerster Vorsicht zu Werke zu gehen, denn …, – – ah, da haben wir’s ja schon!“

Er trat rasch vom Fenster zurück und zog mich mit sich.

„Du, – das war da soeben unten im Park kein anderer als Gabiti, der zweite Steuermann der Goa!! Nun sind’s also schon drei Überlebende dieses verwünschten Schoners! Sie kreisen uns förmlich ein, die Halunken, und wir sind unseres Lebens hier keine Sekunde mehr sicher.“

Er ging zur Tür, schloß ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. „Durchsuchen wir mal unsere Zimmer …! Vorwärts! Ich habe das Gefühl, als ob die Bande bereits …“

Er schwieg …

Er hatte die nur angelehnte Tür zum Schlafzimmer aufgestoßen …

Wir sahen vor uns eine üppige, schlanke rotblonde Europäerin in einem hellen Straßenkleid, die an der Linken ein kleines blondes Mädchen mit schickem Florentinerhut und Sonnenschleier hielt. Die Tür nach dem Flur war offen, als ob die beiden soeben erst eingetreten waren.

Die Dame – ganz jung war sie nicht mehr – sagte ohne jede Verlegenheit in fließendem Englisch:

„Entschuldigen Sie, meine Herren, ich habe mich in der Zimmernummer geirrt, wie ich sehe …“

Sie neigte leicht den Kopf und wollte in den Flur zurückgehen. Harst kam ihr zuvor, warf die Tür zu und schloß ab, zog den Schlüssel heraus und meinte ironisch:

„Über diesen Irrtum wollen wir uns doch noch ein wenig aussprechen, – – bitte, dort hinein!“

„Mein Herr!!“

„Keine Komödie!“ Und mit einem Ruck riß er ihr den modernen braunledernden Pompadour aus der rechten Hand.

„Schwer – zu viel Gewicht!“ sagte er kalt und schwenkte den Beutel hin und her. „Wünschen Sie, daß ich der Polizei telephoniere, daß Sie mit einer Schlüsselzange von außen diese verschlossen gewesene Schlafzimmertür geöffnet und mit einer Repetierpistole in Ihrem Handbeutelchen hier eingedrungen sind, um auf höheren Befehl uns beide niederzuknallen? – Ich glaubte nicht, daß Shing Gabru auch über europäische Helfershelfer verfügt, abgesehen von Gonzales, dessen Frau und Kapitän van Praang in Amsterdam. Setzen Sie sich dort auf das Sofa – bitte!!“

Jetzt gehorchte die Rotblonde, freilich mit einem heiter-überlegenen Lächeln, sagte dabei zu dem Mädelchen, das sich verschüchtert an sie gedrückt hatte: „Fürchte nichts, Gwendolin … Der Papa wird sofort hier sein und diese Herren ein wenig aufklären.“

Sie setzte sich, zog das Kind neben sich, schaute Harald aus grauen kühlen Augen voll an und fuhr fort: „Ich bin Frau Harriet Jackson, Gattin des hiesigen holländischen Konsuls Doktor Jackson. Vielleicht rufen Sie die Nummer 1919 sofort an, mein Herr … Mein Mann ist noch im Büro. Ich wollte hier eine Bekannte besuchen … Ich kenne weder einen Gabru noch Sie beide.“

Sie sprach mit überlegener Sicherheit, schien den ganzen Vorfall von der scherzhaften Seite zu nehmen und lachte jetzt übermütig, als Harald aus dem Lederpompadour … eine amerikanische Repetierpistole mit ziemlich langem Lauf Modell Chikago, hervorzog …

„Ein Geschenk für meinen Mann, mein Herr, vorhin bei Gambin in der Edward-Street gekauft – – Tatsache!“

Haralds verlegenes Gesicht ließ mich jetzt aus meiner bisherigen Reserve heraustreten.

„So läute den Herrn doch an …!“ meinte ich ärgerlich, denn Harst hatte uns hier offensichtlich eine wenig angenehme Geschichte eingebrockt.

Frau Doktor Harriet Jackson meinte versöhnlich: „Oder, um dieses Intermezzo rascher zu beenden, meine Herren: nebenan auf Nummer 79 wohnt meine Freundin, die Baronin Wilhelmine van der Leeven. Sie ist sicher daheim …“

Harald verbeugte sich. „Ich bedauere außerordentlich, Frau Jackson, daß wir beide[2], Sie und ich, die Opfer eines Irrtums geworden sind. – Gut, gehen wir nach Zimmer 79 hinüber …“

Spielte er Theater?!

Ich hatte die Jackson scharf beobachtet. Eine Wolke des Unmuts überschattete für Sekunden die klare Heiterkeit ihrer Züge …

Sie erhob sich rasch …

„Noch immer Zweifel, mein Herr?!“ lächelte sie … „Also gehen wir!“

 

2. Kapitel.

Die Baronin.

Sie streckte die Hand nach dem Pompadour aus …

Harst verneigte sich wieder. „Die Waffe ist geladen und entsichert, Frau Jackson … Der Waffenhändler war unverantwortlich leichtsinnig, als er Ihnen dieses Geschenk für Ihren Gatten übergab. – Bitte, Schraut, schließe die Tür auf …“

Ich tat’s … Aber in mir war eine Erregung, die meine Hand zittern ließ.

Frau Jackson trat mit ihrem Töchterchen, das unter dem Schleier leise schluchzte, in den Flur hinaus, schritt nach rechts weiter und klopfte an die nächste Tür …

Nummer 79 …

Harst stand hinter ihr, in der Linken den Pompadour, in der Rechten Amerikas modernste Selbstladepistole.

Die Tür wurde von innen geöffnet. Eine dürre geschminkte Frau unbestimmbaren Alters in einem kostbaren Spitzenmorgenrock breitete die Arme aus …

„Harriet – – du?!“

Eine paar Küsse … Auch Gwendolin wurde geküßt …

Dann kamen wir an die Reihe …

„Wohl dein Gatte?“ fragte die Baronin van der Leeven berückend liebenswürdig.

„Nein, Wilma, nein …!“ lachte Frau Jackson. „Ich kenne diese beiden Herren nicht … Aber treten wir erst einmal bei dir ein, Darling … Die Sache ist zwar außerordentlich komisch, erheischt aber doch ein paar aufklärende Worte von seiten dieser Herren.“

Die reichlich nervös-quecksilbrige Baronin schüttelte den Kopf, schloß die Tür und deutete auf ein paar Korbsessel …

„Bitte … Ich bin neugierig. Das war ich schon immer …“

Die Frau Konsul nahm Platz und begann zu erzählen …

„Ja, denke dir, Liebste, – dieser Herr da behauptet, ich hätte mit einer Schlüsselzange die Tür …“

„Verzeihen Sie,“ fiel Harst ihr sichtlich bekniffen ins Wort … „Diese Verdächtigung nehme ich genau so mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns zurück wie die ganze …“

„Nicht nötig!“ meinte Frau Jackson lachend. „Sie werden wohl Ihre guten Gründe für Ihr Mißtrauen und Ihre Vorsicht gehabt haben.“

„Leider, meine Damen, leider … Gestatten Sie nun, daß ich Ihnen im Vertrauen auf Ihre Diskretion, auch die kleine Gwendolin wird wohl schweigen, unsere wahren Namen nenne … Wir sind hier als holländische Kaufleute abgestiegen, sind jedoch in Wahrheit zwei Deutsche, die seit Jahren das Abenteuer suchen – das seltsame Abenteuer in jeder Form. Ich heiße Harald Harst, und dies hier ist mein Freund …“

„… Max Schraut natürlich!“ rief Frau Jackson begeistert. „Oh – der Detektiv Harst! Welche Freude, meine Herren …! Sie müssen uns unbedingt als Genugtuung in unserem Bungalow ein paar Stunden schenken … Wir haben gerade heute ein kleines Souper zu Ehren des Leibarztes Seiner Hoheit, des Nizam von Haidarabad, – Doktor Fenner ist ein Freund meines Mannes … Sie werden bei uns die interessantesten Persönlichkeiten Bombays vorfinden, und Sie dürfen mir auf keinen Fall die Überraschung verderben, die ich …“

Harst sagte rasch: „Frau Jackson, es geht wirklich nicht … Sie werden sofort begreifen … Sie haben sicherlich in den Zeitungen gelesen, daß am sogenannten Höllentor von Adagaru vor vier Tagen nachts ein unbekanntes Schiff durch eine weithin sichtbare Explosion zerstört wurde. Dieses Schiff, meine Damen, war zu verbrecherischen Zwecken gekauft und ausgerüstet worden. Einzelheiten darf ich nicht angeben. Jedenfalls haben sich mehrere Leute der Besatzung gerettet und stellen uns beiden nach. Daher mein Mißtrauen gegen Sie, Frau Jackson. Schraut und ich müssen nun sofort von hier verschwinden, da diese Verbrecherbande noch anderes im Schilde führt als den Streich, der ihnen bei Adagaru mißglückte.“

Er nahm den Patronenrahmen aus der Pistole heraus, ließ auch die im Lauf steckende Patrone zurückschnellen, reichte Pompadour und Waffe der Frau Jackson und meinte in seiner bestrickend liebenswürdigen Art:

„Ein reuiger Sünder verabschiedet sich hiermit … Sollte ich später noch Zeit finden, Ihnen einen Besuch abzustatten, Frau Jackson, so werde ich es bestimmt tun … – Meine Damen, verzeihen Sie nochmals die peinliche Störung Ihres Wiedersehens …“

Frau Jackson und die magere Baronin drückten uns die Hand, und auch die kleine Gwendolin mußte uns einen Knix machen. Wir schieden in Frieden.

Frieden?!

Nun, als wir wieder in unserem Salon waren, als wir die beiden Zimmer sehr gründlich durchsucht hatten, sagte Harst, indem er mich ernst anblickte:

„Shing Gabrus Armee ist zum Teil Amazonenkorps! Wenn Weiber bei einer Millionensache wie dieser mithalten, muß man als Gegenpartei die gleichen Waffen benutzen: Heuchelei und Lüge! – Übrigens war die kleine Gwendolin, mein Alter, Besitzerin eines tadellosen Glasauges!“

Ich stand ihm gegenüber, und im Kopfe war’s mir so dumm, als gingen mir drin gleich tausend Mühlräder herum …

Glasauge?!

War Gwendolin etwa der kleine Bettler, die stinkende braune einäugige Range gewesen?!

Harst nickte. Er las mir meine Fragen aus dem Gesicht ab.

„Sie war’s … Und was muß dieses Kind bereits in ähnlichen Rollen geleistet haben!! Ihre Verkleidung war erstklassig …“

Er ging zum Schreibtisch …

Ich rief gedämpft:

„Harald, – – die Tochter eines Konsuls?! Bedenke!“

Er nahm den Hörer …

„Hier Zimmer 78 … Bitte, sofort den Hoteldirektor an den Apparat … Selbst da, Herr Steinert …! – Kommen Sie doch mal bitte zu uns …“

Steinert, geborener Schweizer und alter Bekannter von uns, war der einzige hier im Hotel, den wir eingeweiht hatten.

Harst legte den Hörer weg.

„Ich bin gespannt, was Steinert über die Jacksons weiß …“

Er setzte sich und winkte … Ich schloß die Tür auf. –

Steinert kam. „Na, wo brennt’s, meine Herren?“

„Bei Konsul Jackson brennt’s!“

„So?! – Da brennt’s immer, lieber Herr Harst.“

„Schulden?“

„Unglaublich! Er ist Spieler, sie Verschwenderin.“

„Und das Töchterchen?“

„Oh – der Schrecken Bombays! Ein kleiner Teufel! Enfant terribel ist ein milder Ausdruck für diese kleine Kanaille! Vor vier Monaten hat sie in Black Town bei einer Prügelei mit Chinesenbälgen ein Auge verloren und zwei Chinesenrangen in den Gardi-Teich geworfen, wo diese ertranken …“

„Und die Baronin van der Leeven hier nebenan?“

„Traf erst heute nachmittag ein. – Neuerscheinung! Meine Erfahrung sagt mir: Abenteurerin[3]!“

„Danke, bester Steiner! … Das genügt mir. – Sahen Sie heute die Jackson und die kleine Kanaille das Hotel betreten?“

„Gewiß … Vor kaum einer halben Stunde, kurz nach der Vorbeifahrt des Nizams. Das geschlossene Auto der Jackson hält noch vor dem Hotel.“

„Dann hat Gwendolin sich im Auto umgekleidet,“ nickte Harald.

„Wie meinen Sie – umgekleidet?!“ fragte der Direktor erstaunt.

Harald machte eine abschließende Geste. „Sie wissen, Steinert, daß wir gerne fragen, aber ungern reden. Ich danke Ihnen. Wiedersehen …“

Aber Steinert blieb.

„Herr Harst, – ohne aufdringlich erscheinen zu wollen: Liegt gegen die Jackson etwas Ernstes vor? Dann könnte ich Ihnen vielleicht noch nützlich sein, denn unser Erster Portier Gramaß besitzt neben dem Bungalow der Jacksons auf den Malabar-Hills so eine Art Wochenendheim … Und er hat mir letztens über die Jacksons so mancherlei erzählt, was …“

„Stopp – ich glaube zu ahnen, was … Haben die Jacksons die Dienerschaft gewechselt?“

„Ja … Vorgestern … Am Sonnabend, ganz plötzlich … Sechs Malaien haben sie eingestellt, und Gramaß meint, die Kerle seien fraglos Seeleute …“

„Sind sie auch! – Ist Gramaß im Dienst?“

„Gewiß. Bis Mitternacht.“

„Dann soll er sich punkt halb eins nachts in seinem Wochenendheim einfinden. – Wer wohnt dort ständig?“

„Niemand. Es ist nur ein kleines Blockhaus hart am Ufer der Meidwalla-Bucht. Gramaß ist wütender Angler, und …“

„Danke. – Noch eins, lieber Steinert. Schraut und ich müssen sofort verduften. Wir sind erkannt und werden scharf überwacht. Da unsere Gegner auf alle Tricks, aus einem Hotel zu verschwinden, kaum hereinfallen dürften, müssen wir die Sache diesmal gründlicher vorbereiten … Also hören Sie gut zu …“ –

Um zehn Uhr abends fand sich der Hoteldetektiv Mr. Stuart Camblon bei uns ein. – Auch die großen Hotelbetriebe im Orient sind längst gezwungen worden, derartige Herren einzustellen – genau wie die Warenhäuser. In Bombay, das als Durchgangshafen zum fernen Osten einen besonders starken Reiseverkehr hat, sind Hoteldetektive, die aufs innigste mit der Polizei zusammenarbeiten, eine äußerst segensreiche Einrichtung.

Ein Beispiel hierfür bot Mr. Stuart Camblon, den wir übrigens schon kannten. Er erschien bei uns als „Oberkellner“, denn das war sein offizieller Posten. Camblon, jung, ehrgeizig und geradezu in seinen Beruf verliebt, lächelte diskret, als Harald sich bei ihm entschuldigte, weil wir ihn bisher nicht ins Vertrauen gezogen hatten.

„Herr Harst, ich wußte bereits eine Stunde nach Ihrer Ankunft, wer Sie beide in Wirklichkeit sind. Sie haben einen kleinen Fehler begangen, der sie verriet. Zwei Herren, mögen sie auch noch so vertraut miteinander sein, nehmen höchst selten ein gemeinsames Schlafzimmer. Das tun nur Harst und Schraut – – immer! Und weil ich also wußte, daß die holländischen Kaufleute von Zimmer 78 waschechte Berliner und halbe Kollegen von mir sind, gestattete ich mir, so ein wenig meine bescheidene Hand schützend über Sie auszustrecken.“ Er lächelte nicht mehr. Er saß im Sessel und sprach sehr leise und sehr ernst. „Die Szene auf der Terrasse, Herr Harst, konnte meinen geschulten Augen nicht entgehen, noch weniger das Intermezzo mit Frau Jackson und mit der – hm ja – Baronin van Leeven, der zu einer Baronin so ziemlich alles fehlt …“

Harald legte dem Detektiv die Hand leicht auf die Schulter. „Sie werden es einmal weit bringen, Camblon … Diese angebliche Baronin ist ein Mann und heißt Tom Ridley, der berüchtigte Juwelendieb Ridley. Dreimal ist mir dieser Mensch bei anderen Gelegenheiten flüchtig begegnet. Man vergißt ein solches Geiergesicht niemals. – Hat der Hoteldirektor Ihnen genau Bescheid gesagt?“

„Vollkommen ausreichend, Herr Harst. Ich weiß, Sie haben Eile. Im Speisesaal ist der Tisch für Sie reserviert. Dicht dahinter befindet sich die durch eine Wand von Kastenpflanzen verdeckte Tür in das Büro. Dort liegen die Anzüge bereit. Unser Lastauto wartet am Seitenausgang. Ich werde es selbst steuern. Wohin?“

„Nach den Malabar-Hills, lieber Camblon. Das Wochenendhaus des angelwütigen Ersten Portiers lockt uns.“ –

Mitten im Souper verschwand erst Harst, dann ich hinter der grünen Wand, und gleich darauf schwangen sich zwei verschleierte Mohammedanerinnen in den Kasten des Hotelautos. Die Flügeltür schlug zu, und das Auto rollte davon …

Das Ganze hatte höchstens vier Minuten in Anspruch genommen. Jetzt mochten uns Shing Gabrus Spione nachpfeifen.

 

3. Kapitel.

Weibertücke.

Am hohen Felsgestade, dessen grüne Baumkulissen der heiße Seewind einer heißen Nacht mit ausdörrenden Stößen peitschte, krochen zwei dunkle Gestalten entlang. Ihr Ziel war der hell gestrichene Holzzaun eines kleinen Grundstücks, das zumeist auf einer schmalen Halbinsel lag.

Weiß leuchtete auch des Hotelportiers bescheidenes Blockhäuschen. Wenn der Wind einmal eine Atempause machte und nur das Brausen der Brandung wie das geheimnisvolle Klingen unsichtbarer lärmender Geister weiterlebte, hörten wir deutlich die Klänge eines Lautsprechers von der Veranda des Jacksonschen Bungalows her: Tanzmusik! –

Harst und ich waren im Abendanzug. Darüber trugen wir die mantelähnlichen schweren Weibergewänder … Und schwitzten …

Nun, um halb eins würde der Portier Gramaß uns unsere Sportanzüge bringen. Jetzt war’s elf Uhr. Den Schlüssel zum Blockhaus trug Harald in der Tasche.

Wir befanden uns hier im Nordwestteile der Malabar-Hills, jenes Felsenrückens, der der Inselstadt Bombay erst ihr charakteristisches Aussehen verleiht. Nach Norden lag der Jackson-Bungalow, weiterhin die berühmte Tempelruine Damara, und südlich von Gramaß’ Häuschen war ein Stück Wildnis zu einem herrlichen Naturpark umgewandelt worden. Alles in allem also war die Gegend einsam und nachts ohne jeden Verkehr. Die Villenkolonie der Europäer zog sich drüben an den Ostabhängen entlang. –

Harst kletterte über den Zaun. Dann standen wir im Schatten des kleinen Vorbaus neben der Haustür.

„So schließe doch auf!“ mahnte ich ungeduldig, denn ich wollte die Weibertracht los werden.

Harald deutete nach oben. Der Mond schwamm hinter Wolkenfetzen, mußte aber jeden Moment hervortreten.

„Warten wir!“ meinte Harst flüsternd. „Wir können nicht vorsichtig genug sein.“

Vor uns schwankten in einem Beet die Riesenblüten indischer Magnolien wie nickende Geisterköpfe unter den Windstößen. Rechts führte eine Steintreppe zu einem winzigen Bootshafen hinab, in dem ein Motorboot unter gelber Persenning schaukelte.

Ich hörte ein paar Takte eines Foxtrotts, dann Gelächter …

Der Wind riß die Töne von dannen.

Der Schweiß lief mir über das Gesicht …

Harald meinte leise: „Gramaß wird uns seinen Motorstänker leihen, und morgens sieben Uhr können wir im Dorfe Kaimara auf dem Festlande sein, wo John Weller und der Büffeljäger Dagbu[4] uns sicherlich bereits voller Sehnsucht erwarten. Dann geht’s zu vieren in den Kaimara-Dschungel hinein, zum zweiten Male … – Ach, mein lieber Alter, wie wenig aufnahmefähig ist doch unser Hirn für neue Eindrücke. Vielleicht nur bei uns, weil jeder Tag Neues bringt. Unsere Erlebnisse auf der Ruineninsel im Kaimara-Sumpf erscheinen mir wie flüchtige Traumbilder. Ist es wirklich wahr, daß wir dort neben dem Turme einen ungeheuren Schatz im graugrünen Schlamm, in unbekannten Tiefen verschwinden sahen?! Ist es wirklich wahr, daß wir Frau Dolores’ Schwester Gisela und die beiden Malaien dort auf der Insel zurückließen, ohne ergründet zu haben, was diese drei in der grauenvollen Wildnis zwischen Legionen von Stechmücken, Krokodilen, Giftschlangen und fieberdrohenden Nebeln auf Gabrus Befehl taten?! – Was taten sie dort?! Wir haben uns über diese Frage schon wiederholt unterhalten. Wir haben hin und her geraten … Wir mußten damals vor elf Tagen schleunigst zurück zur Goa und ließen dieses Dschungelgeheimnis ungeklärt. Nun wollten wir es in Ruhe lüften, dieses Dunkel um die schlanke, kühne Gisela … – Ruhe?! Gabru ist hinter uns her, und mit der Ruhe ist’s aus … – Der Mond hat sich wieder verkrochen … Ich werde aufschließen.“

Er schloß auf, und wir betraten die kleine Diele. Kollege Camblon hatte uns das Innere des Häuschens genau beschrieben.

Harst verriegelte die Tür, und dann ließ er die andere auf, die in Gramaß’ Wohnzimmer führte.

Die großen Fenster mit den dünnen Vorhängen sperrten das matte Licht der Tropennacht nicht völlig ab. Wir brauchten unsere Taschenlampen nicht einzuschalten. Vor dem rechten Fenster zwei helle Rohrsessel, dazwischen ein Tischchen … Dort nahmen wir Platz.

Die Sessel knarrten. Ich war etwas nervös. Aber als ich nun Schleier, Weiberkostüm und Smoking und Weste auf einen nahen dritten Sessel warf, froh, ein wenig freier atmen zu können, sagte Harald gedämpften Tones:

„Es riecht hier merkwürdig …!“

„Gramaß raucht Pfeife, und der Geruch des kalten Rauches von englischem Tabak …“ – Da schwieg ich, denn nun hatte ich, während ich sprach, gleichfalls einen widerlichen Dunst gespürt …

„Was ist das?“ fragte ich scheu.

„Leichengeruch und Ambraduft …“ sagte Harst gedehnt. „Ich werde doch besser mal meine Taschenlampe einschalten.“

Er rührte sich. Sein Sessel knarrte. Ich beugte vor und suchte die Gegenstände in dem kleinen Zimmer zu erkennen. Auf meiner Brust lastete plötzlich ein Zentner. Das Atmen ward mir schwer.

Ein Lichtstrahl fuhr grell in das ungewisse Dreivierteldunkel, breitete sich zur kegelförmigen, leuchtenden Bahn auf und …

… ich schreie auf, fuhr empor …

Uns gegenüber an der Wand neben der Tür saßen in den Ecken eines Sofas zwei zusammengesunkene Gestalten, die Köpfe nach hinten auf die Sofalehne gestützt …

Köpfe – – ein gelbfahles, verzerrtes Gesicht und braunes Leichenantlitz …

Harst sagte gepreßt:

„John Weller und Dagbu! Unsere Gefährten vom Kaimara-Dschungel …“

Vielleicht hätte er noch mehr gesagt.

Ein Lachen quoll kichernd aus einem Winkel auf und ging in hastige Worte über …

Stimme der Frau Jackson …

„Hände hoch, bitte, meine Herren! Sie sind gegen das Fenster als Silhouette gute Ziele. Hände hoch!“

Nicht gehorchen in solchem Falle, – das hieße das Leben wegwerfen …

In der Ecke regte es sich … Zwei, drei flinke Gestalten …

Diener der Frau Jackson, die neuen Diener …

Sie verzichteten auf Stricke. Dünner Eisendraht ist wirksamer.

Nun saßen wir wieder in den Rohrsesseln am Fenster, aber als Gefangene Frau Harriets.

Die drei Malaien schlüpften hinaus, sollten draußen wachen. Frau Jackson und die „Baronin“ standen vor uns.

Nerven hatten sie beide nicht. Trotz der beiden Leichen hinter ihnen waren sie abgebrüht genug, uns mit einigen ironischen Redewendungen zu begrüßen. Dann schlug Tom Ridley, die „Baronin“, einen mehr sachlichen Ton an.

„Zu langen Erklärungen haben wir keine Zeit, meine Herren … Kurz folgendes: der Malaie Gabru verfügt über eine Menge Helfershelfer, zu denen auch meine Schwester Harriet und ich gehören – leider! Gabru hat ein Spionagesystem ausgebildet, dem auch Sie nicht gewachsen sind, Herr Harst. Auf seinen Befehl wurde Ihnen beiden hier die Weller–Dagbu-Überraschung bereitet, und auf seinen Befehl sollen zwei Tote und zwei Lebende sofort mit Steinen beschwert in die See verschwinden. Harriet und ich sind es jedoch müde, uns von Gabru mit Brocken abspeisen zu lassen, wo er selbst volle Tafeln erntet. Wir wissen, daß er im Kaimara-Dschungel irgendwo einen Schlupfwinkel und sicherlich eine gut gefüllte Schatzkammer hat. Wir riskieren unser Leben, wenn wir Sie beide nicht töten. Wollen Sie ehrenwörtlich versprechen, Gabrus Versteck im Kaimara-Dschungel ausfindig zu machen und uns nachher die dort entdeckten Werte auszuhändigen, so lassen wir Sie am Leben. Die drei Malaien draußen sind ganz auf unserer Seite, denn Gabrus tyrannisches Regiment ist auch ihnen über. – Entscheiden Sie sich – rasch!“

„Was bleibt uns anderes übrig als zu bejahen, unser Wort also zu verpfänden,“ meinte Harald hochmütig.

„Gut denn … Ich werde Sie befreien … Entfernen Sie sich sofort … Nehmen Sie das Motorboot draußen. Vierzig Liter Benzin genügen vorläufig …“

Wir kamen in der Tat kaum zur Besinnung. Wir saßen in dem halb gedeckten Boot … Der Motor sprang an …

Der Mond erschien …

Und ich sah, wie von der Steilküste weiter rechts zwei Körper in die Brandung sausten. Denselben Weg wären wir gegangen, wenn nicht die Habgier zweier Verräter dem rätselhaften Malaien Shing Gabru einen Strich durch die Schlußrechnung gemacht hätte.

Die ziemlich hochgehende See trieb mit dem Motorboot ein loses Spiel. Manche Ladung Salzwasser kam über Bord. Das tat uns nichts. In der winzigen Bugkajüte hatten wir Ölzeug gefunden. Saßen nun nebeneinander am Steuer. Weiße Wogenkämme schlichen auf uns zu, klatschten gegen die Bordwand, gurgelten, sprühten …

Mein alter unverwüstlicher Harald pfiff das Seemannslied aus dem Fliegenden Holländer. Pfiff noch lauter als der nicht mehr ganz moderne Motor ratterte und knatterte.

Ich selbst sann über das nach, was mir vorhin flüchtig durch den Sinn gegangen war, als Tom Ridley über Shing Gabru gesprochen hatte und in seiner Stimme geheimer Haß brodelte …

Shing Gabru, Erster Steuermann der gewesenen Goa … In Wahrheit Herr der Goa … Der Kapitän Gonzales nur eine Puppe.

Wer war dieser Gabru?! – Malaie, Seemann – – gewiß! Etwa fünfzig Jahre alt, klein, sehnig verwittert … – All das besagte gar nichts. Wo hatte dieser Farbige, der Menschen auslöschte wie stinkende Unschlittkerzen[5], der keine moralischen Hemmungen kannte, der in den dunklen Augen den kalten Glanz ironischer Überlegenheit kaum zu verbergen trachtete, all diese Leute für seine Pläne geworben: Europäer, Malaien – – weiß Gott wen außerdem noch! Und – wie hatte er sie an sich gekettet, daß sie mit ihm blindlings das Verruchteste begingen?!

Rätselhafte Persönlichkeit! – Es stimmte schon …! –

„Harald!“

„Bitte …“

„Wie denkst du jetzt über Gabru?“

„Ich habe an anderes zu denken …“

Er hockte neben mir im triefenden Ölrock den Kopf etwas vorgereckt …

Der Mond war wieder mal für Minuten zwischen den Wolken hervorgeglitten …

Links vor uns die zackig dunkle Spitze der Malabar-Hills mit den dicken, massigen Türmen des Schweigens: Wahrzeichen für Bombay – Begräbnisstätte der Parsen … Und: Licht an Licht … Fünkchen an Fünkchen durch die Nacht glühend – – erleuchtete Villenfenster …

Vor uns genau in der Fahrrichtung das weiße blendende Riesenauge des Leuchtturms von Rock Malwin …

„Du solltest lieber nach rechts sehen,“ brummte Harald …

Ich richtete mich etwas auf. Unser Kurs war etwas südwärts. Also westlich von uns die offene See …

Und … da sah ich’s … Einen dunklen Schatten – – dahingleitend wie ein Meerungetüm …

Ein zweites Motorboot oder eine kleine Jacht …

„Du … meinst?!“ fragte ich unsicher.

„Gabru!“

Ein peinliches Kältegefühl rann mir den Rücken hinab …

„Wir werden also verfolgt …“

„Ja, mein Alter … Und ich sollte mich sehr wundern, wenn unsere Auftraggeber, die Geschwister, und auch die drei Malaien noch lebten … – Es ist ein Motorkutter, bedeutend schneller als unser Boot. Die Entfernung beträgt etwa achthundert Meter. Sobald der Kutter Miene macht auf uns zu zuhalten, steuere ich die Küste an. Aber Gabru wird hier kaum etwas gegen uns unternehmen. Hinter uns sind zwei Frachtdampfer, vor uns ein großer Ostasiensteamer, dazu vier Fischerfahrzeuge. Gabru ist vorsichtig. Beweis: Er selbst wagte sich nicht in das Wochenendhäuschen. Er wartete heimlich draußen auf See den Ausgang ab. – Sobald wir um Rock Malwin herum sind, verkrümeln wir uns zwischen den ankernden Schiffen …“

Ich starrte noch immer nach dem dunklen Kutter hinüber.

„Harald, wenn wir ihn mit Hilfe eines Polizeibootes zu fangen suchten …“

Harst lachte …

„Fangen – – den?! Ich denke, du kennst ihn jetzt! – Ah – eine Rakete …!“

Von dem Kutter zog ein feuriger Streifen gen Himmel …

Grüne Kugeln schwebten – – erloschen …

Harald wendete scharf …

Eins der plumpen Fischerfahrzeuge war keine fünfzig Meter entfernt. Wenn wir drüben in eine Bucht einlaufen wollten, mußten wir hart an dem Fischersampan vorüber.

Der Kutter war hinter uns. Vor seinem Bug blähte sich die See zu weißen Kämmen. Die Fischer schoben sich zwischen uns und das Land. Die Rakete – nur ein Signal für sie: Verbündete Gabrus!

Wer war Gabru, der Malaie?

Harald blickte zum Himmel empor … Der nächste Wolkenberg schob sich vor die strahlende Mondscheibe. Es wurde dunkel.

Harst sagte hastig: „Gabru wagt’s und wird gewinnen!“

Was er noch sagte, wurde zur Tat.

Unser Boot knatterte weiter …

Unser Boot strich dreißig Meter hinter dem Fischersampan vorüber …

Bäumte plötzlich empor …

Eine Riesenfaust schleuderte den Bug gen Himmel …

Dann sackte es weg – in Sekunden.

Die beiden Gestalten am Steuer gingen mit in die Tiefe.

 

4. Kapitel.

Doktor Shing Guddai.

„Entschuldigen Sie, lieber Greager, … Aber es ging nicht anders …“

Der Detektivinspektor stand im Schlafanzug vor uns.

Greager glotzte uns schlaftrunken an. „Wahrhaftig – Harst und Schraut! Und pudelnaß und in welchem Aufzuge!! – Bitte, hier hinein …“

„Zunächst mal trockene Sachen, lieber Greager …“ meinte Harald fröstelnd. „Dann einen Kognak, dreietagig, und eine Zigarette …“ –

Wir zogen uns rasch an. Harst erzählte …

„… Ihr Untergebener John Weller ist tot … Wir auch – für die Öffentlichkeit. Es war die einzige Möglichkeit mit dem Leben davonzukommen. Die Puppen am Steuer hatten wir festgebunden und waren dann über Bord geglitten. Die Rettungsgürtel trugen uns. Das Boot sank …Wie – ich weiß es nicht. Es sah aus, als ob es vorn emporgeschleudert wurde. Vielleicht hatte der Fischersampan einen Fischkasten im Schlepptau, und das Boot rammte den Kasten. Das wäre eine Erklärung. – Jedenfalls: wir sind tot, Greager! Deshalb klopfte ich auch an Ihr Schlafstubenfenster.“

Greager musterte uns unfreundlich. „Also John Weller ermordet …! – Sehen Sie, Harst, das kommt dabei heraus, wenn Sie mit Ihrem verdammten Dickkopf stets ohne die Polizei arbeiten wollen! – Was nun?“

„Es gibt nur ein Nun …! Schraut und ich müssen in tadelloser Verkleidung in den Dschungel. Gabru hält uns für erledigt. Gabru wird jetzt die Ruineninsel aufsuchen.“

Greager lächelte malitiös. „Aha – – Sie beide wieder – – allein! Nach altem Rezept!! – Bedauere! Jetzt setze ich meinen Willen durch, unbedingt. Ich komme mit.“

„Aha, der Löwe wittert Blut! – Meinetwegen, Greager. Beginnen wir mit der Toilette. In einer Stunde müssen wir unterwegs sein.“

„Und – – die Jackson?!“

„Die?! Ist sie tot, kann ihr kein Gericht mehr was anhaben. Lebt sie, so wird sie uns nicht entgehen. Beginnen wir also …“

„Ich muß unbedingt den Polizeichef benachrichtigen, daß ich dienstlich für unbestimmte Zeit verreise …“ meinte Greager zaudernd.

„Tun Sie es telephonisch – sofort! Sir Codanoor wird sich selbst im Bett freuen, meine Stimme zu hören. Ich werde ihm noch einige Verhaltungsmaßregeln geben, denn diese Jagd auf Shing Gabru ist keine Hasenhatz, mein lieber Greager. Was Gabru ist, weiß ich nicht. In jedem Falle aber ein Mann, der mächtiger ist als Sie, ich, und der Vizekönig von Indien.“

Der lange Detektivinspektor mit dem quittegelben Malariagesicht und der langen spitzen Schnüffelnase schielte Harald von der Seite an …

„Hm – spaßen Sie?“

„Nein, bei Gott nicht, Greager! Gabrus Beziehungen reichen sicherlich über halb Asien. Als wir auf der Goa als Koch und Maschinist waren, fiel mir die gleichmäßige Armtätowierung der Besatzung auf. Linker Unterarm, Oberseite: Bild eines hockenden Götzen mit zwei Köpfen. Als Rahmen ein Blumengewinde: Kaspa-Lianen, deutlich erkennbar!“

Greager horchte auf. „Teufel – sollte etwa dieser Gabru …“

„… dieser Gabru mit zu der vor drei Jahren gegründeten Sekte der Guddai gehören?!“ vollendete Harald eifrig. „Sehen Sie, Greager, das habe ich mich ebenfalls gefragt, als ich gestern im Speisesaal unseres Hotels den Artikel von Doktor Simpson über den Guddai-Orden las, von dessen Existenz ich bis dahin keine Ahnung hatte, – ein Orden, der die Verbrüderung der Völker Asiens bezweckt, eine harmlose Gesellschaft von farbigen Idealisten scheinbar, und doch wohl weit mehr, weit Schlimmeres, wie mir jetzt scheint. Sie sind besser über Guddai orientiert als ich … Simpson behauptet im India-Magazin, der Orden sei von dem malaiischen Arzt und Chemiker Shing Guddai begründet worden und zähle heute bereits über eine Million Mitglieder. Das Ordensstatut soll dem der europäischen Freimaurerlogen nachgebildet sein. Großmeister ist der hiesige indische Arzt Doktor Rama Dabschal. Ich behaupte: Doktor Dabschal ist Strohpuppe, und die wahren Lenker des Ordens halten sich im Hintergrund. Unter ihnen dürfte Gabru an erster Stelle stehen. Seine Tätowierung hatte drei Köpfe, lieber Greager. Und dieser Götze ist nach Doktor Simpson der Gott Buddhra, bekanntlich eine Verschmelzung Indras und Buddhas.“

Greager sog mit gerunzelter Stirn an seiner Zigarre. „Harst, es stimmt, über den Guddai-Orden bin ich gründlich orientiert. Wir wissen hier – das heißt die Polizei –, daß offenbar Rußlands neue Herren diesen Orden kräftig unterstützen. Er ist unser Schmerzenskind. – Vor drei Monaten hatten wir hier den ersten Generalstreik. Die farbige Bande war wie toll. Und als der Direktor der Hostgar-Werke gesteinigt wurde, waren ein paar Guddai die Drahtzieher. Freilich, eine Haussuchung bei Doktor Dabschal förderte nur harmlose Druckschriften zutage. Aber wir spüren die Wühlarbeit dieses neuesten Ungeziefers, das Englands Macht zerbröckeln möchte, auf Schritt und Tritt. Es lauert da ein Gespenst in der Finsternis, von dem wir ahnen, daß es ständig wächst und an Umfang zunimmt, aber – wir sind machtlos. Unsere politische Abteilung ist nicht mehr zuverlässig. Die Niederlassungen des Ordens in Madras, Kalkutta und Colombo waren gewarnt, bevor auch dort die Haussuchungen begannen. Meine farbigen Untergebenen muß ich wie Spitzbuben von weißen Kollegen überwachen lassen … Das Gift fließt weiter. Eine starke Intelligenz arbeitet gegen England, gegen alle Europäer. Chinesen tauchen hier auf, verschwinden wieder … Die Jacht eines reichen Siamesen lief in den Hafen ein … Man fand Verstecke im Schiff, vollgepfropft mit Waffen. Der Siamese war ein Guddai. Die Jacht sank noch in derselben Nacht und liegt in vierzig Meter Tiefe vor dem Albert-Dock. Die Besatzung blieb verschwunden … – Harst, wenn Sie recht hätten!! Wenn womöglich dort im Kaimara-Dschungel die geheime Brutstätte all dieser Umtriebe sich befände und Shing Gabru …“

„… vielleicht Doktor Shing Guddai wäre!!“ Harald rief’s, und seine Augen leuchteten. „Wenn dem so wäre, Greager: dann gibt es einen Kampf gegen eine Geheimorganisation und gegen deren geistigen Führer, wie ich Ähnliches noch nicht erlebt habe …!“

Der Detektivinspektor zuckte nur die Achseln. „Ihre Begeisterung ist Geschmackssache, lieber Harst. Ich trage meine Haut pflichtgemäß zu Markte, Sie eines verfeinerten Spleens wegen! Ist Shing Gabru tatsächlich Doktor Shing Guddai, und jetzt nehme ich’s beinahe selbst an, so ist es meine Pflicht, die Sache der politischen Abteilung zu melden und … – , – was gibt’s denn zum Teufel?!“

Harst war nämlich mit einem Riesensatz zur Tür gesprungen, hatte den Lichtschalter erwischt und – – das Zimmer wurde dunkel.

In demselben Moment, als zugleich mit dem leisen Knacken des Schalters die Herrenzimmerkrone erlosch, zischte irgendetwas so dicht an meinem linken Ohr vorüber, daß ich bei dem jähen Zusammenzucken beinahe mit dem Korbsessel umgekippt wäre.

Noch mehr geschah …

Als noch der Eindruck, eine Kugel müsse mich haarscharf gestreift haben, mein Hirn schneller jagen ließ, vernahm ich einen kurzen Aufschrei und kurz hintereinander zwei unverkennbare laute Geräusche: das schwere Umsinken zweien Körper!

In solchen Augenblicken arbeitet das Hirn mit verblüffender Geschwindigkeit. Ich war mir sofort klar darüber, daß von der Veranda aus durch die Gazeflügel der Fenster auf uns mit Luftbüchsen geschossen worden war …

Shing Gabru natürlich – oder die Guddai! Das war ja schließlich dasselbe.

Wichtig nur, daß Harald wiederum den Feind unterschätzt hatte: Wir waren bis hierher in Greagers Garten und Bungalows verfolgt worden!

Zwei Körper waren dumpf krachend auf die Dielen gesunken …

Zwei …!!

Und mein Herz hämmerte noch rascher …

Zwei …!! –

Da – – eine Hand auf meinem Knie …

Eine Stimme …: „Folge mir …! Krieche! Leise!“

Wir kannten Greagers Wohnung. Aus dem Herrenzimmer führte eine Tür, die nur durch einen kostbaren Vorhang verdeckt war, in eine langgestreckte Bibliothek. An diese schloß sich nach rechts das Eßzimmer und das Schlafzimmer an. Letzteres hatte einen besonderen Ausgang nach dem Garten, eine kleine Treppe, die fast bis zur Gartenmauer reichte. Die Mauer wieder zog sich am Rande einer Schlucht hin, in der das romantische Gipra-Bächlein seine spärlichen Fluten zum Meere sandte.

Ich will hier nur mit wenigen Worten erwähnen, daß wir schließlich in diesem Bächlein dahin wateten und beim ersten Morgengrauen am Viktoria-Dock in einem Kutter der Hafenpolizei schliefen, auf dem sich nur ein einzelner Mann, ein Beamter, gähnend am Steuer rekelte und seine Pfeife rauchte. Diesen Mann kannten wir. Es war der Hafenlotse Jack Ulster, das größte Original Bombays. Jeder deutsche Seemann, der mal in Bombay gewesen, dürfte den roten Jack kennen.

Fünf Minuten drauf eilte Jack davon zur nächsten Kneipe … Harst hatte ihm genaueste Verhaltungsmaßregeln gegeben. Greager sollte sofort von einem Arzt in Behandlung genommen werden, denn Harald hatte des Inspektors Stirnstreifschuß nur mit einem Taschentuch im Dunkeln flüchtig verbunden gehabt … –

In der kleinen Kajüte des Polizeikutters beobachteten wir den Kai. Es zeigte sich nichts Verdächtiges. Diesmal waren wir den Guddai-Herrschaften wirklich entwischt.

 

5. Kapitel.

Die Flußenge.

Jack Ulster kehrte erst um halb sieben Uhr morgens zurück. Er brachte einen ganzen Hut voll Neuigkeiten mit.

Greager war von selbst wieder zu sich gekommen und hatte einen Arzt telephonisch zu sich rufen wollen. Der Fernsprecher funktionierte nicht. Die Zuleitung zum Hause war zerschnitten. Er schickte einen Diener nach dem Doktor, einen zweiten zu Sir Codanoor, dem Polizeichef. Sir Codanoor war im Nachtanzug im Auto zu Greager gesaust.

Von Greager dann zum Polizeigebäude. Zehn Beamte jagten auf Motorrädern zum Jackson-Bungalow, zwei andere in unser Hotel – der angeblichen Baronin wegen. Der Jackson-Bungalow war leer. Die „Baronin“ ebensowenig zu finden.

„… Und jetzt, Herr Harst,“ schloß der unglaublich maulfaule Ulster seinen Bericht, „ist die ganze Polizei alarmiert. Eisenbahn, Schiffe, Hotels – alles wird überwacht …“

Und der rote Jack grinste, fügte hinzu: „Was natürlich alles Blödsinn ist, heller Blödsinn, hellster Blödsinn! Ich als Polizeilotse habe doch auch so eine geringe Ahnung vom Betrieb. Sir Codanoor ist ein Riesenroß!“

Und er streichelte seinen fuchsigen Schifferbart und kraute sich mit dem Pfeifenmundstück die rote Perücke. Sein vertrocknetes pfiffiges Mumiengesicht drückte eine haarsträubende Geringschätzung aus. „Herr Harst, wir drei – wir werden den Zaun schon pinseln … wir drei! Aber Sir Codanoors Armee?! Für die gebe ich keinen Penny!! Ich habe schon damals, als die Jacht des reichen Siamesen beschlagnahmt wurde, mit allem Nachdruck dazu geraten, das Schiff hier an den Kai zu verholen. Und was wurde?! Es sackte weg, es hatte Bodenventile, und die Polizeiwache mußte sich schwimmend retten! – Und nun die Hauptsache: Der Sampan mit kleinem Motor, den Sie gern für die Fahrt in die Kaimara-Sümpfe haben wollten, liegt bereit. In diesem Bündel ist alles, was wir zunächst brauchen … Fangen wir an …“ –

Die drei Inder, die um halb acht den Kutter verließen, fielen niemandem auf.

Jack Ulster war für uns ein Verbündeter, wie wir keinen besseren suchen konnten. Der Sampan, der uns drei dann zum Festlande hinüberbrachte, war mit leeren Kisten, Fischernetzen und anderen Dingen herausstaffiert worden, daß niemand dieses plumpe Fahrzeug, in dem drei bärtige schmierige braune Kerle hockten, irgendwie beargwöhnen konnte. Es war eben ein Fischersampan wie hundert andere hier, und selbst der Motor war nichts Außergewöhnliches, da verschiedene modern denkende Bombayer Gulugras (Küstenfischer) sich längst derartiger Benzinknatterer bedienten.

Wir drei hockten also hinten am Steuer, rauchten Holzpfeifen und besprachen den Schlachtplan. Harst hatte Freund Jack in die Sachlage nun gründlich eingeweiht, und der alte Seebär, der auch die Kaimara-Dschungel recht gut kannte, machte ein ziemlich längliches Gesicht dazu, als Harald erklärte, wir müßten mit unserem Sampan bis zur Ruineninsel vordringen.

„Faule Geschichte!“ kopfschüttelte Jack Ulster bedenklich. „Sie vergessen, daß dieser Oberlump von Shing Gabru fraglos den Kaimara-Fluß scharf überwachen lassen wird. Jenseits des Dorfes Kaimara beginnt bereits die gefürchtete Fieberregion. Dorthin verirrt sich kein Fischersampan. Nur Krokodiljäger, die gewerbsmäßig den gepanzerten Viechern den dicken Frack ausziehen, treiben sich dort umher. Wir müssen also unbedingt unser Boot anders maskieren. Ich werde die Geschichte schon befingern. Unweit von Kaimara an einem toten Flußarm haust ein alter Mohammedaner mit seiner zahlreichen Familie. Die ganze Gesellschaft lebt von Krokodilen, das heißt von Krokodilhäuten. Dabei ist Mohammed ben Mafra ein ehrlicher Kerl und mir zu Dank verpflichtet. Dort haben wir keinen Verrat zu fürchten.“

Harst war sehr einverstanden, daß wir diesen Mafra um Unterstützung angingen. Er sah selbst ein, wie wenig Aussicht wir hatten, den tausend Augen der Guddai zu entgehen.

Um zwei Uhr nachmittags erreichten wir die kleine Niederlassung der aus fünfzehn Köpfen bestehenden Familie Mafra: Vater, Mutter, zwei verheiratete Söhne und eine Schar nackter Rangen waren vor den vier Hütten gerade mit dem Säubern von Krokodilhäuten beschäftigt.

Wenn unsere Damen ahnten, welch’ pestialischen Gestank diese Häute verbreiten, bevor sie fertig gegerbt sind, würden sie kaum so sehr auf Krokodiltaschen erpicht sein.

Der rote Jack und wir wurden freudigst begrüßt, zumal wir sofort eine Anzahl Päckchen Rauchtabak und für die Frauen Zigaretten spendeten. Als Jack Ulster dann jedoch erklärte, er und die beiden anderen als Inder verkleideten Sahibs wollten im Kaimara-Dschungel Krokodile jagen, machte der alte Mafra ein ganz merkwürdiges Gesicht, kratzte sich den zotteligen Bart und meinte diplomatisch: „Die Sümpfe sind jetzt sehr ungesund, Sahib Ulster. Meine Söhne wollten heute früh zur Jagd, mußten aber wieder umkehren …“

Harald warf Jack einen besonderen Blick zu. Jack verstand sofort und sagte zu dem Oberhaupt der Siedlung: „Mein guter Mafra, das Ungesunde der Sümpfe besteht wahrscheinlich in Booten mit fremden bewaffneten Leuten, die wenig liebenswürdig sind und die deine Söhne zurückgeschickt haben.“

Ringsum jetzt erstaunte Mienen.

„Sahib,“ rief Mafra ehrlich, „ist es euch ebenso ergangen?!“

„Ach nee, das nicht, mein guter Krokodilmörder! Noch nicht! Aber …“

Harald mischte sich ein. „Einen Augenblick, Jack,“ meinte er in französischer Sprache. „Sie sehen, auch Mafra kann uns nicht helfen. Wir werden die Blockade eben abends im Nebel durchbrechen. Fragen Sie Mafras Söhne nur, wo die Wachtboote der Guddai liegen.“

Nun, diese Stelle wurde uns genau beschrieben. Die Kerle hatten sich sehr schlau einen Ort ausgewählt, wo der Fluß durch Baumbarrikaden zu beiden Seiten bis auf fünfzig Meter verengert wurde. Dort waren die Söhne Mafras auf vier Sampans gestoßen, die scheinbar gleichfalls den Krokodilfang betrieben. Die Insassen waren Malaien, Chinesen und engbrüstige Singhalesen gewesen.

Diese Angaben genügten uns.

Um sechs Uhr abends verließen wir den Seitenarm des Flusses, schlängelten uns um acht an dem Dorfe Kaimara vorüber und gerieten um neun in rasch zunehmende Dunkelheit in die ersten Streifen der gefährlichen Nebel, schluckten jeder ein halbes Gramm Chinin und lutschten scharfe Mentholbonbons.

Bis zu jener Flußenge waren’s noch etwa sechs Kilometer. Erst kurz vor der Enge stellten wir im dicksten Nebel den Motor ab und ruderten, wobei wir uns redliche Mühe gaben, jedes Geräusch zu vermeiden. Daß unser Sampan, lediglich durch die Kraft dreier Blattruder gegen die schwache Strömung vorwärtsgetrieben, nur vorwärtsschlich, war unter diesen Umständen ein Vorteil. Harald hatte mich, der ich anerkannt tadellose Ohren habe, ganz vorn postiert.

Ringsum herrschte bis auf den gelegentlichen Lärm der Wasservögel im Schilf wahre Totenstille.

Allmählich aber vernahm ich immer deutlicher vor uns ein feines Gurgeln und Rauschen: in der Enge staute sich das Wasser und erzeugte Wirbel und allerlei Geräusche in den Baumverhauen an den Ufern.

Der entscheidende Moment nahte. Wenn wir Glück hatten, kamen wir unerkannt hindurch. In jeder Hand eine Repetierpistole stand ich mit weit vorgerecktem Kopf da … Das Rauschen und Gurgeln wurde stärker. Ich hielt den Atem an … Was war’s da eben gewesen …? Ein Plätschern dicht vor? Sollten sich hier bereits Krokodile befinden?

Da – – trotz des Nebels erkenne ich eine Gestalt, die sich blitzschnell vor mir an Bord schwingt … Ich hebe schon den Fuß um den Burschen durch einen Tritt ins Gesicht ins Wasser zurückzubeordern …

Eine flüsternde Stimme … reines Englisch:

„Hier Tom Ridley …!! Sofort umkehren! Es sind zwei Taue in verschiedenen Höhen über den Fluß gespannt!“

Harst trat schon hinzu.

Ridley – – die „Baronin“, als Warnerin! Das war eine Überraschung!

Die Strömung führte unseren Sampan rückwärts. Ridley erklärte hastig: „Meine Herren, meine Schwester Harriet Jackson und ihr Mann sind von Gabru ertränkt worden. Ich entkam wie durch ein Wunder … Ich habe Sie hier in einem Boot erwartet … Ich bin Ihr Verbündeter …“

Der dürre, hakennasige Ridley sprach wie ein Mensch, dem Haß und Mordlust den Atem benehmen …

Unser Sampan glitt weiter flußabwärts …

Wir waren durch Ridley dem sicheren Tode entgangen.[6] Das sahen wir sehr bald ein …

Und nun, lieber Leser, einen kleinen Sprung von genau zwölf Stunden, sonst werde ich mit dem, was ich noch zu berichten habe, nicht fertig …

 

 

Doktor Shing Guddai.

 

1. Kapitel.

Kaimara-Leiden.

Zwölf Stunden. Also zehn Uhr vormittags. In einem winzigen Bretternachen, dem sogenannten Boote Ridleys, rudern vier zerlumpte Kerle durch einen verkrauteten See des ungeheuren Kaimara-Dschungels.

Vier: Jack, Tom, wir beide!

Die beiden Taue haben den Guddais an der Flußenge nicht viel genutzt. Den Sampan haben wir davonschwimmen lassen, haben das Boot Ridleys unter den Tauen, unter Wasser hindurchbugsiert, es nachher wieder ausgeschöpft und die Fahrt fortgesetzt.

Das Schlimmste hierbei: Wir haben weder Proviant noch Trinkwasser, haben selbst unsere Büchsen opfern müssen, so daß wir lediglich auf unsere Pistolen angewiesen sind.

Schlimm das … Pistolen gegen Gabrus Garde?! – Aber was half’s …?! Die Hauptsache: die Ruineninsel war nahe!

Unser Kahn hielt sich stets hinter und zwischen den vier Meter hohen Schilfstengeln verborgen. Haralds untrüglicher Ortssinn bewährte sich abermals: wir landeten um elf Uhr unweit jener zweiten Felsinsel, auf der sich der steinerne Turm erhob, wo Gisela van Praang wohnte – mit ihr zwei Malaien, als Hüter irgendeines Geheimnisses …

Welches aber?! –

Wir landeten … In dichtestem Gestrüpp an einer riesigen Masse verfaulender, durch den Wind gestürzter Bäume. Und von hier führte eine Naturbrücke, ein entwurzelter Urwaldriese, bis zum steinigen, grau bemoosten, von urwüchsigen Stachellianenverhauen umgebenden Ufer der Turminsel hinüber. Der Turm selbst war von hier aus nicht zu sehen. Dazu war das Felseneiland zu dicht bewaldet.

Wir vier waren nach dieser Nacht unerhörter Anstrengungen und unsäglichen Qualen durch die Millionen von Stechmücken vollständig erschöpft. Gesicht und Nacken hatten die Schleier leidlich geschützt. Unsere Hände und Unterarme jedoch waren formlose Klumpen. Tom Ridley, dessen Gaunerlaufbahn zwar allerhand unsaubere Wege auf und ab, niemals aber in eine solche Wildnis wie diese geführt hatte, litt am meisten. Aber zu seiner Ehre sei gesagt, daß er kein Waschweib, kein empfindsames Nervenbündel war. Er blieb stumm, biß die Zähne aufeinander und schluckte gehorsam die neue Dosis Chinin, obwohl er fraglos genau so abscheuliches Ohrensausen hatte wie wir drei anderen.

Wir hatten den Kahn in den Haufen morscher Stämme hineingezogen und uns dann ein Lagerplätzchen gesucht. Es gab da eine steinige Erhebung, die leidlich für diesen Zweck paßte. Hunger und Durst quälten uns. Das Sumpfwasser trinken – sicherer Tod! Und Nahrung, etwas Eßbares – – Woher?!

Während wir stumpfsinnig auf unserem Moospolster ausruhten, zum Einschlafen viel zu müde, eben übermüdet, vernahmen wir von drüben, wo die Turminsel lag, die verschwommenen Klänge jenes Grammophons, das Harald, mich und den armen John Weller, der nun längst tot war, schon einmal so unendlich überrascht hatte.

Jack Ulster nickte trübselig … „Die Valencia!!“ sagte er leise.

Es stimmte: Valencia!

Ridley rieb seine Hände mit dem Saft der Kussu-Frucht ein, deren zitronenartiger Duft und kühlende Wirkung leider der Zunge nicht bekommt: sie ist gallenbitter!

Harald putzte mit den verschwollenen Händen an seiner Pistole herum. Ich kaute an einer Wurzel, die nach Jacks Angabe genießbar sein sollte. Sie schmeckte wie Limburger Käse mit ranzigem Olivenöl. Ich warf sie weg. Der Polizeilotse Ulster, unser Witzbold, hatte jeden Witz verloren und starrte trübe ins Weite.

Wenn nur erst der Abend da wäre, das war unser aller Wunsch. Denn dann konnten wir zum Turme hinüber. Dort gab es Ziegen, Ziegenmilch, Ziegenkäse und eine gut gefüllte Speisekammer und … klares Trinkwasser!

Herrgott – – dieser Durst!!

Und dieses Brennen der Unterarme und Hände!

Verzweifelt griff ich abermals nach einer Kussu-Frucht –

Ridley schlief ein und schnarchte melodisch. Mochte er …! Die Affen in den Bäumen lärmten ja wie toll, und die Wasservögel auf dem nahen Sumpfsee gaben den Vierhändern im Skandalieren nicht viel nach.

Harst schlug eine grüne giftige Baumschlange tot, die sich genau zwischen seine Füße von einem Ast hatte herabfallen lassen. Jack nickte dazu anerkennend.

Wenn wir nur Tabak gehabt hätten …!!

Dieser Durst – und diese schwere schwüle, feuchte Dschungelluft!!

Jack schlief nun auch …

Harald schob den Patronenrahmen in seine Pistole und meinte:

„Ich werde Wasser und Hartzwieback von drüben holen. Du wachst hier, mein Alter, und wehe dir, wenn du mir etwa folgst!“

Er verschwand im Gestrüpp, balanzierte über den Baumstamm und kam mir dann vollends aus den Augen. Wenn ich damals nicht vor Erschöpfung so vollständig gleichgültig gewesen wäre, hätte ich nie geduldet, daß er sich für uns drei in dieser Weise opferte. Ein Opfer war’s. Ohne Zweifel war ja Gabru längst mit einer Anzahl seiner Getreuen hier in diesen Schlupfwinkel geflüchtet. Harst rechnete selbst damit. Die Gefahren, die er also auf sich nahm, standen in keinem Verhältnis zu unseren körperlichen Beschwerden durch Hunger und Durst. Das einzige, was mich beruhigte, war das andauernde ferne leise Gedudel des Grammophons. Ich sagte mir mit Recht, daß Gabru dieses Urwaldkonzert nie geduldet haben würde, wenn er geahnt hätte, wir seien in der Nähe. Wahrscheinlich vertraute er auf seine Flußblockade.

Die Sonne schien in grellen Flecken durch das Blätterdach und malte vielgestaltige Kringel auf den bemoosten Steinboden. Die Hitze wurde immer drückender. Irgendwo in der Nähe, unsichtbar für mich, wälzten sich ein paar Wasserbüffel in einem Schlammloch und erneuerten ihren Lehmpanzer zum Schutz gegen das stechende Heer der Mücken und Fliegen. Ganz interessant, daß diese langgehörnten Büffel diesen Panzer dadurch dicker gestalten, daß sie nach dem ersten Schlammbad die Kruste antrocknen lassen, sich dann abermals umherwälzen, sich wieder in die Sonne stellen – und so fort, bis Rücken und Hals oft handdick bepflastert sind.

Außer den Büffeln belauschte ich noch eine Affenfamilie, die schräg über mir im dicksten Grün über irgendetwas in heftige Erregung geraten war. Jack Ulster hatte vorhin erklärt, es gäbe hier im Kaimara-Dschungel auch Riesenschlangen von der Gattung Boa Konstriktor, was Harald anzuzweifeln wagte. Der Lärm der Affen (übrigens dieselbe Art, die in vielen Hindutempeln als heilig sorgsam gepflegt wird) steigerte sich immer mehr. Mit einem Male sah ich dann ein graugrünes schenkeldickes Tau an einem kahlen Ast entlanggleiten: eine Riesenschlange! – Also hatte Jack doch recht gehabt.

Die Affen verstummten, und auch die Büffel zogen weiter. Selbst die Vögel schienen vor der Hitze langsam ihre Stimmen zu schonen. Es wurde immer stiller. Nur Tom Ridley schnarchte laut und ausdauernd.

Ich betrachtete ihn mit gemischten Gefühlen. Er hatte uns auf dem Flusse noch rechtzeitig gewarnt … Wir schuldeten ihm Dank. Und dennoch: einen Menschen von seinem „Weltruhm“ als Dieb und Hochstapler zum Gefährten zu haben: ein zweifelhaftes Vergnügen!

Sein geradezu abstoßend mageres Gesicht mit der frechen Hakennase entbehrte durchaus nicht gewisser Reize. Schon als „Baronin“ war mir dies aufgefallen. Es war das Gesicht eines Mannes, dem nichts im Leben mehr fremd, der das Schicksal ironisch lächelnd als Unvermeidliches in jeder Form hinnimmt … Dieses welt- und gefahrenverachtende Lächeln war um seinen Mund wie festgefroren.

Ich rief mir bei dieser Gelegenheit flüchtig ins Gedächtnis zurück, was er uns während der zwölfstündigen Kahnfahrt über den Guddai-Orden mitgeteilt hatte – wenig, sehr wenig, denn er, ein nur untergeordnetes Mitglied, freilich auch gut bezahltes, kannte lediglich Gabru und ein paar Malaien und Chinesen. Genauso gering orientiert war seine Schwester Frau Jackson und deren Gatte gewesen. Der Orden ließ sich eben von keinem Europäer in die Karten schauen, bezahlte deren Dienste überreich, hatte jedem aber im Falle des Verrats mit dem Tode gedroht. Was Ridley und die Jackson und der Konsul Jackson bisher auf Befehl Gabrus und eines Chinesen, der gleichfalls im Orden eine große Rolle zu spielen schien, erledigt hatten, waren ausschließlich Spionagedienste in der Richtung gewesen, was die Polizei gegen die Guddai (sprich: Gudda-i) plante. –

Über den Tod des Ehepaares Jackson und seine eigene Flucht hatte Ridley sich eingehend geäußert. Die Jacksons waren tatsächlich in Säcken im Meer ersäuft worden. Der Sack, in den man Ridley gesteckt hatte, zerriß beim Überbordwerfen an der Reling, und die Verzweiflung und Todesangst ließen den Todgeweihten die Kraft finden, seine Fesseln abzustreifen und an Land zu schwimmen.

Noch jetzt, wo ich mich hier inmitten des Sumpfes dieser Schilderung Ridleys erinnerte, überlief es mich kalt … Ich dachte an dieses entsetzliche Ende des verbrecherischen Ehepaares, das infolge seiner Geldgier und Verschwendungssucht sich zu Sklaven von farbigen Geheimbündlern gemacht hatte, dachte auch an das verderbte Kind, das uns beide im Eingeborenenviertel angebettelt hatte und nun Waise war …

Jäh zerriß die Kette träger Gedanken. Ich schrak aus meinem Sinnen auf …

Ein leiser Pfiff – nochmals …

Harst stand drüben auf dem Baumstamm und winkte …

 

2. Kapitel.

Die Trichterstimme.

Winkte und bedeutete mir durch Gesten, daß ich auch Jack und Tom mitbringen solle.

Ich weckte die beiden. Es war nicht ganz leicht. Ridley war so benommen, daß er, kaum aufgestanden, taumelnd wieder niederstürzte. Als ich ihm emporhalf und dabei seine geschwollene Hand berührte, war sie eisig kalt. Ich blickte ihn erschrocken an. Seine Pupillen waren unnatürlich groß, der Blick starr und glanzlos. Auf den Wangen zeichneten sich vereinzelte bläulich-rote Flecken ab.

Wer jemals einen am indischen Sumpffieber Erkrankten gesehen hat, kennt diese schrecklichen Anzeichen.

Ich verbarg meine Bestürzung, ließ Ridley sacht wieder zu Boden gleiten und holte mein Chininbüchschen hervor. Ridley schluckte die große Pille gehorsam hinab, hustete … spie sie wieder aus. Er erbrach sich. Jack Ulster hielt ihm den Kopf, schaute mich vielsagend und achselzuckend an. Wir beide wußten nur zu gut, daß Ridley verloren war. In dieser Fieberluft, ohne geeignete Medikamente und Pflege, ohne Trinkwasser, mußte es mit ihm in wenigen Stunden zu Ende gehen.

Mit einem Male stand Harald neben uns. Bückte sich, nahm Tom in die Arme und drängte sich wortlos wieder durch die Büsche.

Wir folgten ihm. Ruhig überschritt er den Baumstamm. Und nach wenigen Minuten standen wir vor dem aus unbehauenen Steinquadern erbauten Turme, der, wie uns von unserem ersten Besuche dieser Insel her bekannt, nur einen geheimen Eingang durch den in einem Gebüsch liegenden Ziegenstall hatte.

„Es ist hier vorläufig alles sicher,“ sagte Harald etwas geistesabwesend, als wir durch den kurzen unterirdischen Gang die leicht zu verteidigende Turmfestung betreten hatten, die ohne Zweifel Shing Gabrus Schlupfwinkel darstellte.

Er legte den Kranken in dem oberen Turmgemach auf das Bett, das offenbar in Eile verlassen worden war – von Gisela van Praang, der Nichte des alten Amsterdamer Schiffskapitäns, der mit zu den Guddai gehören mußte, wenn auch als untergeordnete Nebenperson, wie all die anderen Europäer, die wir bisher als Mitglieder des Ordens kennengelernt hatten.

Im Nu hatte er dann aus einem Medikamentenschränkchen eine Arznei hervorgesucht, während ich aus dem unteren Gelaß, wo eine klare Quelle aus einer Felsspalte hervorsprudelte, Trinkwasser holte.

Nachdem wir für Ridley, so gut es in der Eile möglich war, alles getan hatten, um das Schlimmste abzuwenden, dachten wir auch an uns. Die Proviantkammer unten wurde gründlich geplündert. Freilich – die Vorräte waren so überreich, daß selbst unser Riesenappetit ihnen wenig Abbruch tun konnte.

„Ich war auch drüben[7] auf der Ruineninsel,“ erklärte Harald in demselben nachdenklichen Tone. „Gisela und die beiden Malaien sind verschwunden. Aus verschiedenen Anzeichen schließe ich, daß sie vor etwa zwölf Stunden irgendwie dieses Versteck in der Wildnis verlassen haben. Allerdings – wie sie dies fertig gebracht haben, begreife ich nicht. Doch das ist eine spätere Sorge …“

Der kleine, knorrige Jack schob ein großes Stück Büchsenfleisch in den großen Mund und meinte halb grinsend: „Herr Harst, Hut ab vor Ihren Talenten … Aber – – vor zwölf Stunden, glauben Sie?! Ich bitte Sie, das ist ja ausgeschlossen. Denken Sie doch hieran!!“ Und er tippte auf den hochgeklappten Deckel des Schrankgrammophons. „Denken Sie an Valencia und all das andere, das uns als Ohrenschmaus geboten wurde. Ein Grammophon, das von selbst spielt, ist mir noch nicht begegnet.“

„Ein Irrtum!“ stellte Harald die Sache ohne besonderen Nachdruck sofort richtig. Und er deutete in die Ecke neben dem offenen Fenster, wo ein chinesischer Wandschirm stand. „Wenn Sie dort den Tisch mal ansehen wollen, lieber Jack, so werden Sie ohne Zweifel dem Radioapparat mit Rahmenantenne alle Anerkennung zollen. Es ist ein Fünfröhrengerät modernster Art, der Lautsprecher ebenso vorzüglich und die Schaltuhr, die den Apparat zu bestimmten Stunden ein- und ausschaltet, eine amerikanische Erfindung jüngsten Datums. Als wir, Schraut und ich, vor rund vierzehn Tagen hier waren, gab es dieses Röhrengerät noch nicht.“

Jack schaute um die Ecke des Wandschirms herum. „Wahrhaftig – es stimmt! Ich nehme reumütig alles zurück! Aber noch eine kleine bescheidene Bitte, verehrtester Meister der Gaunergreifer: Woraus haben Sie kombiniert, daß die drei Bewohner dieser Wildnis vor zwölf Stunden ausgerückt sind? – Unsereiner will doch von Ihrem Genie doch auch etwas profitieren, obwohl ich sonst wenig auf Profite versessen bin …“

Harald blickte durch das Fenster in die grüne Dschungeleinsamkeit hinaus – – zerstreut, den Blick gleichsam nach innen gerichtet.

„Erstens,“ erwiderte er langsam, „ist die Weckeruhr dort auf dem Nachttischchen neben Giselas Bett vor zwölf Stunden zum letzten Mal aufgezogen worden, also etwa um Mitternacht. Sie hat nur ein Achtzehn-Stunden-Werk, wie ich nachgesehen habe. Zweitens sind die Ziegen gestern abend[8] zum letzten Mal gemolken worden. Die Milch ist bereits sauer und oben pelzig. Die Euter der vier Tiere sind prall gefüllt. Wir müssen die Tiere nachher melken. Drittens aber – und das ist der Hauptpunkt – fand ich dort auf dem Schreibtisch – Damen sind oberflächlich! – den Entwurf einer Radiodepesche, denn das Fünfröhrengerät stellt gleichzeitig einen Kurzwellensender dar – einer Depesche in Morsezeichen nach einem besonderen Schlüssel. Der Text lautet etwa:

Meldung empfangen. Ballon in Ordnung. Fliegen nachts ein Uhr, falls Wind günstig. Gisa.

Hieraus ist ersichtlich, mein lieber Jack, daß diese Siedlung inmitten des Kaimara-Dschungels so allerlei moderne Einrichtungen enthält, die so leicht niemand hier vermutet: eine Radiostation, eine Anlage, um einen Freiballon zu füllen und … ja, weiß Gott noch was!“

Der kleine Jack zog sein Froschmaul vor ungläubigem Staunen noch breiter.

„Ballon?!“ brummte er. „Dazu gehört doch Gas!!“

„Allerdings … Aber bekanntlich entwickeln Sümpfe zuweilen reichlich Gase, und Felsmassen, die mitten in Sümpfen liegen, sind zuweilen wie Gasometer, lassen das Gas unter starkem Druck nur durch enge Öffnungen entweichen.“

„Ach so – na schön! Die Geschichte ist mir zwar noch unklar, aber wenn Sie es sagen, wird’s schon stimmen. – Übrigens sind die Zigaretten der Miß Gisela ganz rauchbar … Feine Dinger, dreimal in Stanniol[9] verpackt … Gemeinster Knaster wäre mir lieber, und auch dieser Likör hier, Amisetta, ist nichts für einen Seemannsrachen, genau so wie mir …“

Er fuhr entsetzt herum …

Der Lautsprecher hatte sich urplötzlich mit kräftigem „Hallo!!“ gemeldet …

„Verfluchter Trichter!“, schimpfte Jack wütend … Horchte dann aber doch gespannt auf die ferneren Worte, die der Lautsprecher klar und deutlich spendete …

Nochmals „Hallo!!“, dann …

„Hier Ida dug … Ida … dug … Hallo, hier Ida dug …“

Ida dug?!

„Gud – dai,“ flüsterte Harald erklärend.

„Ist dort noch jemand? Gebt nur das bekannte Signal …! Wenn Ihr des schwachen Windes wegen nicht abgeflogen seid, bleibt an Ort und Stelle. – Ida Dug.“

Der Lautsprecher gab noch ein paar knackende Geräusche von sich und verstummte dann.

Tom Ridley hinter uns auf dem Bett hatte schon vorhin beängstigend gestöhnt und stieß jetzt einen unterdrückten Schrei heftigsten Schmerzes aus.

Harald eilte an sein Lager.

„Wenn wir nur Morphium hätten …“ meinte er betäubt und trocknete dem bereits Bewußtlosen den Schweiß von der Stirn.

Ridley warf sich hin und her und murmelte einzelne Sätze, die uns unverständlich blieben. Das kalte Fieber hatte ihn mit aller Macht gepackt. Dann rief er klar und wie in wilder Verzweiflung: „Hätte ich’s nie geduldet, Gisa!!“

Sein fahles, verfallenes Gesicht ward zur Maske schrecklichster Seelenpein.

Gisa, Gisa hatte er gerufen! Also kannte er doch offenbar diese Gisela van Praang, die hier als Vertraute oder weiße Sklavin des allmächtigen Malaien Gabru gehaust hatte!

Ob er uns etwa belogen hatte? Ob ihm auch dieser Turm, diese Sümpfe und kleinen bewaldeten Felsgestade nichts Neues gewesen?!

Ich blickte Harald fragend an. Aber der wiederholte nur noch besorgter: „Hätten wir nur Morphium!! Ich will doch nochmals das Medizinschränkchen durchsuchen.“

Jack raunte mir zu: „Alles zwecklos – alles! Ich kenne das indische Sumpffieber unten von Mangalore her!!“

Harst kramte nervös in dem Schränkchen, stellte all die Fläschchen und Büchsen und Röhrchen und Schächtelchen auf den Tisch und murmelte: „Reiche Auswahl! Nur Morphium fehlt!“

„Ohne Morphium hält das Herz diese Schmerzen nicht aus,“ erklärte er nochmals in verzweifelter Erregung. Seine Stimme war ungewöhnlich schrill und machte mich noch nervöser.

Jack Ulster kraute sich den roten Bart und meinte wenig hoffnungsvoll: „Ich habe mal gehört, daß man gestoßene Mohnkörner gegen Sumpffieber gibt. Versuchen wir’s … Draußen neben dem Ziegenstall sah ich dicke braune reife Mohnköpfe. Ich werde mal zusehen, ob …“ – Und er verließ das Zimmer, polterte die Treppe hinab. – Harald winkte mir … „Geh’ mit, mein Alter … Beeilt euch!“

Als Jack und ich gerade genug Mohnköpfe eingesammelt hatten, erschien Harald bei uns.

„Ich werde die armen Ziegen melken … Jack, Sie können Ridley den Mohn einflößen. Stoßen Sie die Körner mit ganz wenig Wasser zu einem flüssigen Brei …“

Der Lotse lief schon vondannen.

Wir beide nahmen uns die Ziegen vor. Die Euter waren in der Tat prall gefüllt, und die Tiere standen artig still, obwohl weder Harald noch ich Künstler im Melken sind. Woher auch?! Wir können ja so allerlei, aber das Melken ist eine Kunst.

Wir hatten die Tiere aus dem runden, gemauerten Stall ins Freie geführt, saßen auf Steinen, die die Melkschemel vertraten. Und kaum waren wir mit dem milchbescherenden Geschäft fertig, als der rote Jack urplötzlich auftauchte und brüllte, – brüllte, indem er in der Rechten ein Fläschchen und ein Schächtelchen schwang:

„Wir haben fein gesucht, Herr Harst!! Da – – hier ist Morphium, hier eine kleine Injektionsspritze! Als ich den ganzen Kram in das Schränkchen sauber zurückstellte, fand ich das Gewünschte. Sie haben’s übersehen!!“ – Er triumphierte, der kleine ulkige Kerl …

Hätte er gehört, was Harald leise vor sich hinmurmelte, würde er wohl genauso stutzig geworden sein wie ich …

„Also doch!“ lautete Harsts kurze gedämpfte Bemerkung …

 

3. Kapitel.

„Ich kann nicht anders …“

Wir kehrten in den Turm zurück.

Harald prüfte den Inhalt des Fläschchens mit Zunge und Nase, sagte im übrigen gar nichts und machte Ridley eine Einspritzung.

Inzwischen war ich mir bereits darüber klar geworden daß eine Flüchtigkeit seinerseits bei der Durchsuchung des Schränkchens gar nicht in Frage kommen könnte. Ein Harst ist nie flüchtig, übersieht nichts. Also mußten das schwarze Schächtelchen mit der Spritze und das Fläschchen nachträglich in das Turmzimmer gebracht worden sein, eben in jenen Minuten, als auch Jack Ulster mit uns unten im Ziegenstalle war.

Wer hatte es hierher gebracht, wer?! Wer konnte ahnen, daß Harald unbedingt Morphium für den Kranken brauchte? – Ahnen?! Nein – wer hatte seinen halb verzweifelten Ausruf mit angehört, daß er das bekannte Narkotikum haben müsse, um Ridleys Leben zu retten?!

Mit angehört!! Das war’s!!

Jetzt begriff ich, aus welchem Grunde er so überlaut (er, der Ruhige, Ausgeglichene) seinem Wunsche nach Morphium Ausdruck verliehen hatte! Er sollte eben gehört werden. Er hatte gewußt, daß Lauscher in der Nähe waren! – Wer – – wer?! Meines Erachtens konnten es nur Gisela und die beiden Malaien sein, die den Luftballon also noch nicht benutzt hatten! –

Derartige kleine Kombinationen gleiten wie flüchtige ineinanderreimende Schattenbilder durch das Hirn. Es ist Übungssache, nichts weiter. Genau wie der tadellose Pianist nie auf die Tasten schauen braucht, wenn er vom Blatt spielt, ebensowenig braucht der an logisches Denken gewöhnte Verstand äußere Eindrücke sich nochmals zu vergegenwärtigen, sobald er diese Eindrücke als geschlossenes Ganzes geistig verwerten will.

Für mich stand jetzt fest, daß Gisa und die beiden Malaien hier im Turme steckten. –

Harst säuberte die Injektionsspritze mit Alkohol. Der rote Jack säuberte seine Kehle mit Rum. Er hatte nicht umsonst ein so blaurotes Riechorgan. Als er merkte, daß ich seine heimliche Alkoholvertilgung dort im Schränkchen beobachtete, grinste er wohlgefällig und stellte die Flasche behutsam wieder oben auf den Schrank. Harst kehrte ihm den Rücken zu, meinte nun leise:

„Lieber Jack, lassen Sie bitte auch für uns noch etwas übrig!“

Der sanfte Vorwurf machte Jack verlegen. Und verlegene Leute poltern oft mit Redensarten heraus, die sie sich sonst wohl verkniffen hätten.

„Es war nur ein Schluck, Herr Harst … Und den habe ich doch zum Teufel verdient! Wer fand das Morphium?! Wer hat außerdem festgestellt, um Ihnen auch dies unter die Nase zu reiben, daß der ganze Radioapparat dort hinter dem Wandschrank …“

Harald hustete laut und rief krächzend:

„Der Apparat ist erstklassig!!“

Dabei drehte er sich um und spendete Freund Jack einen Blick, den dieser sehr wohl verstand.

Jack war nicht auf den Kopf gefallen und meinte jetzt wurstig – scheinbar wurstig:

„Bestreite ich gar nicht, daß der Wellenfänger da ein erstklassiges Erzeugnis ist! Weiß ja damit Bescheid …! Wollte nur sagen, daß der Apparat uns doch eigentlich gewarnt hat … Stimmt’s?! Gewarnt[10]!! Doktor Shing Guddai ist fraglos im Anmarsch, und wir drei tun gut, den Kranken schleunigst anderswohin zu transportieren und uns auch!“

Harald war langsam an das offene Fenster getreten. Seine Augen, durch die Sonne geblendet, verengerten sich zu schmalen Schlitzen. Ich beobachtete ihn von der Seite. – Was hatte er vor? Seine Körperhaltung, seine Mienen deuteten die Sprungbereitschaft eines klug überlegten Angreifers an.

Und – – er sprang wirklich …

Es war ein jähes zur Seiteschnellen des Körpers, ein gleichzeitiges Zupacken mit den Händen …

Der Wandschirm flog ins Zimmer …

Ein heller Schrei …

Und Harst hatte neben dem Radiotische in einem Loche der grob behauenen Dielen einen Frauenkopf erwischt, hielt den Hals der Frau umklammert, damit sie nicht nochmals so gellend um Hilfe rufen könne.

Es war Gisela van Praang.

Ich half Harald, das junge Mädchen vollends aus der offenen Falltür nach oben zu ziehen.

Gisela trug jetzt ein ähnliches helles Kleid wie damals, als wir mit ihr zum ersten Male zusammengetroffen waren. Sie sträubte sich nur schwach, und kaum hatte ich sie dann in einen der Rohrsessel gedrückt, als Harst auch schon die Klappe der kleinen Falltür hastig schloß und sich auf diese stellte, damit, wie leicht zu begreifen, die Malaien nicht etwa ihrer weißen Herrin folgten.

Das junge rassige Weib, das hier in dieser Sumpfwildnis hauste und ohne Zweifel weit mehr von Doktor Guddais Geheimnissen wußte, als die anderen Mitglieder des Ordens, so weit sie Europäer waren, – dieses pikante, schlanke, katzengleich geschmeidige Geschöpf hatte nun den Kopf mit jähem Ruck nach Ridleys Leidenslager gewandt und … begann mit einem Male trostlos zu weinen … schluchzte … und fragte stockend:

„Herr Harst, wird er sterben?“

„Nein,“ erklärte Harald. „Sie können außer Sorge sein, Fräulein Gisela van Praang. Ridleys Herz ist in Ordnung, und das ist vorläufig die Hauptsache.“

Sie nickte, und in ihre leuchtenden Augen trat ein Ausdruck froher Zuversicht. „Ich weiß, daß Sie niemals lügen, Herr Harst. Die Verdrehung der Wahrheit ist für Sie lediglich Mittel zum einwandfreien Zweck.“

„Dann also ein anderes Thema,“ meinte Harst, und seine Mienen wurden streng und kalt. „Wir müssen hier rasch ins Reine kommen, Fräulein van Praang. – Weshalb hat Doktor Guddai Sie und die Malaien hier in der Sumpfwildnis stationiert, – dieser Ausdruck „stationiert“ trifft ja am besten zu?“

Gisa senkte den Kopf. Ohne Verlegenheit erwiderte sie leise, aber mit fester, aufrichtiger Stimme: „Ich bedauere, Herr Harst, Sie enttäuschen zu müssen. Vielleicht werden Sie mir nicht glauben. Und doch spreche ich die volle Wahrheit: Ich weiß es nicht! Ich kenne Guddais Gründe nicht. Im übrigen habe ich auch bereits gegen meinen Eid verstoßen, den ich unter allen Umständen halten möchte. Ich darf Ihnen nichts mehr über Doktor Guddai sagen – nichts! Ich habe die mir erteilten Instruktionen bisher hier genau befolgt und werde es auch weiter tun.“

Harst machte eine nachlässig-abwehrende Handbewegung. „Ich will Sie gewiß nicht dazu verführen, Ihren Schwur zu brechen, zumal ich bereits genug weiß – überzeugend. Der Orden der Guddai ist eine große Verbrecherorganisation – nichts weiter, und seine Gepflogenheiten sind für die Allgemeinheit so gefährlich, daß es meine Pflicht ist, ihn auszutilgen. – Wissen Sie, daß ihre Schwester, die Frau des Kapitäns Gonzales, am Höllentor von Adagaru den Tod fand und daß letztens in Bombay auch der Konsul und seine Frau sowie ein paar Malaien einfach ersäuft wurden? Wissen Sie ferner, daß dem Manne, den Sie offenbar lieben, dasselbe Schicksal drohte, daß er nur durch einen Zufall entkam und daß er nicht etwa hier in unserer Begleitung als Spion Guddais, sondern als Flüchtling vor diesem mordgierigen Moloch aufgetaucht ist?!“

Sie hatte sich weit vorgebeugt, war tief erblaßt und starrte Harst ungläubig an.

„Ich lüge nicht,“ meinte er freundlicher. „Sie täten unter diesen Umständen besser, sich vollends auf unsere Seite zu schlagen. Guddai oder Shing Gabru, der Malaie, hat Ihre Schwester bewußt in den Tod geschickt. Er wird es mit Ihnen nicht anders machen. Er ist Asiate, fanatischer Weißenhasser … – Aber – was rede ich?! Ich will keinerlei seelischen Zwang auf Sie ausüben.“

Wieder hatte sie den Kopf gesenkt. Sie rang mit sich … Man merkte ihr an, wie schwer es ihr wurde, zu einem Entschluß zu gelangen. Ihre aufgepeitschten Gedanken formten sich schließlich zu abgerissenen Sätzen … „Er hat eine so unheimliche Macht über uns … Ich begreife es selbst nicht … Ich habe geschworen … Ich kann nicht …“

Harst stand am Fenster, den Kopf halb hinausgewendet. Er lächelte ganz wenig …

Sagte dann gütig: „Sie sollen wieder frei sein, Fräulein Gisa … Kehren Sie zurück in die geheimen Kellergelasse des Turmes. Tun Sie, was Sie müssen. Ridley werde ich schützen. – Der Radioapparat dort – ein Blendwerk, ich weiß es … Die scheinbare Radiomeldung vorhin ein verstärktes Sprachrohrkunststück von Ihnen … Ja, ich weiß … Gehen Sie … gehen Sie, und seien sie nochmals gewarnt. Guddai ist ein Mensch von blendender Intelligenz ohne jede moralische Hemmungen. Vergessen Sie das nicht!“

Gisela erhob sich – langsam – mit den ruckartigen, unabgerundeten Bewegungen eines Automaten.

„Ich … danke Ihnen,“ flüsterte sie. „Ich danke Ihnen, – ich kann nicht anders …!“ Ihre Augen waren wie erloschen … Und so schritt sie auf die Falltür zu, bückte sich, wollte hinab in die uns unbekannten Tiefen …

Jack Ulster rief da, und seine Stimme war voller Groll und Auflehnung:

„Noch besser!! Sollen wir das Weib wirklich laufen lassen?! Noch besser!! Gehört Sie nicht mit zu der Bande von farbigen Schuften, die …“

Harald schaute den kleinen aufgeregten Lotsen kühl an, und unter diesem Blick verstummte er, hüstelte und brummte: „In drei Teufels Namen, – mag es sein!“

Gisa war schon halb in dem Loche in den Dielen verschwunden.

Harst sagte mit Betonung: „Sie brachte uns das Morphium, Jack. Vergessen Sie das nicht. Auch uns kann das Sumpffieber packen …“

Gisela warf noch einen letzten langen schmerzlichen Blick auf den jetzt ruhig atmenden Ridley. Dann klappte die Falltür zu.

Harald winkte uns …

„Kommt her …!“ meinte er ganz leise.

Wir traten neben ihn.

Seine ausgestreckte Hand wies auf einen riesigen, hier in Indien so seltenen Rasamala-Baum[11], diesem Herrscher der tropischen Urwälder.

Der Baum war vielleicht dreihundert Meter entfernt und mußte auf einem der kleinen felsigen Sumpfeilande stehen, die hier die endlose Sumpffläche mit festem Granitgestein durchbrachen.

Nur die Krone des Baumes ragte über die geschlossene Mauer des grünen Dschungels hinweg. Diese Krone hatte die Form eines dicken unförmigen Kreuzes – ein merkwürdiges Spiel der Natur …

„Seht ihr dort auf dem Rasamala auch nur einen einzigen Vogel?“ fragte er flüsternd. „Ist sein Laub nicht fahl und krank? Seht ihr nicht, daß durch das Grün der Krone etwas hindurchschimmert, das unmöglich mit zu den Ästen und dem Stamm gehören kann …“

Jacks Falkenaugen waren besser als die meinen.

„Eine … Baumhütte!“ flüsterte er ebenso vorsichtig.

„Ja – – die Ballonstation dieses Guddai,“ nickte Harald. „Sumpfgas dort … Welke Blätter … Kein Getier … deshalb!! – Giselas Radiodepesche, deren Entwurf ich fand, ist echt gewesen. Die spätere Radiomeldung, die wir hörten, sollte uns von hier verscheuchen. Ich sprach absichtlich so laut von Morphium. Ich ahnte, daß wir belauscht wurden, sah nachher die Umrisse der Falltür hinter dem Wandschirm. Guddai wird kommen. Vielleicht sehr bald … Sein Geheimnis kenne ich. Es war eigentlich gar kein Geheimnis mehr. Der Schatz des Radschas von Kaimara, der unter den Fliesen des Ziegenstalles in der eisernen Kiste ruhte und der nun im Sumpf versunken ist, – das war’s, was Gisela zu bewachen hatte, ohne es selbst zu wissen. Der Schatz wird nie mehr an die Oberfläche gelangen. Shing Guddai, behaupte ich, muß ein Abkömmling irgendeines Hofbeamten des entthronten Fürsten von Kaimara sein, und das Geheimnis vererbte sich in der Familie weiter … – Nun, wir werden ja Guddai persönlich sprechen.“

Jack Ulster lachte. „Sprechen?! – Eine Kugel dem Halunken!“

„Nein … Ich will den Mann lebend haben, lieber Jack … Vielleicht läßt er sich doch noch zu Geständnissen herbei …“

Seine Stimme war immer leiser geworden.

Er schritt rasch zu einem der Sessel, bückte sich … Sie hatten Auflegekissen, diese Rohrsessel. Was er dort tat, sahen wir nicht.

Dann – ein Wink von ihm …

„Setzen wir uns,“ sagte er ganz laut.

Zu laut …

Und wir saßen um den Tisch herum … Jack machte uns ein Zeichen, deutete nach der Treppe …

Harst schüttelt den Kopf …

Auch ich höre das Knarren einer Stufe …

Mein Herz hämmert …

Guddai schon?!

Harst lacht heiter – – theaterhaft …

„Kinder, nun werden wir also erst mal schlafen,“ – und er redet wie ein Komödiant, … Gähnt – – gähnt … „Herr Shing Guddai wird so bald hier kaum erscheinen …“ Gähnt … „Wir werden uns auch sichern, werden den Treppenzugang verrammeln … Kommt …!“

Ich schiele nach der Treppe, deren helle Bambuseinfassung wie eine Spielbox für Kinder aussieht.

Ich sehe drei … vier beturbante Köpfe …

Vier Büchsenläufe …

Peinliche Situation …

Über uns prallt die Sonne grell auf das große Dachfenster … Die eine Wand des Turmgemachs ist weiß von Sonnenlicht …

Eine Stimme gellt auf, schneidend, hart …

Es ist der Zuruf aller Straßenräuber:

„Hände hoch!“

Harst fährt empor …

Fällt in den Sessel zurück …

Wieder Guddais Stimme:

„Eine verdächtige Bewegung nur, und ihr seid hinüber!“

Es ist das alte Spiel aller Desperados … Aber dieser Mann dort, dieser Doktor Shing Guddai ist mehr als ein gewöhnlicher Desperado …

Steht vor uns in einem hellen Flanellanzug, – elegant, klein, sehnig, das markante Gesicht ohne jede Regung in den Zügen …

Von der Treppe her quillt eine Menschenwoge in den Raum. Malaien, Chinesen, Singhalesen, Inder der verschiedensten Stämme, an die dreißig Kerle, bis auf die Zähne bewaffnet …

 

4. Kapitel.

Kampf der Intelligenzen.

Doktor Shing Guddai steht vor uns, verbeugt sich … „Ich bedauere dieses Wiedersehen, Herr Harst …“

Der Mann ist völlig verwandelt … Nicht mehr der anmaßende, freche, höhnische Steuermann Shing Gabru, als den wir ihn schon in Amsterdam kennenlernten …

Weltmann jetzt, Verbrecher besonderen Ausmaßes …

„In Ihrem Interesse bedauere ich es, Herr Harst … Sie können sich wohl selbst sagen, wie diese Begegnung enden wird. Sie haben sich da in Dinge eingemischt, die selbst für Sie gefährlich geworden sind. Sie haben mich bei Adagaru gezwungen, den Schoner zu sprengen … Sie haben diesen Ort abermals aufgesucht, obwohl …“

Sein Blick hat Ridley auf dem Lager in der Ecke entdeckt.

Sein Gesicht verzerrt sich für einen Moment … Er unterbricht sich …

Eine befehlende Handbewegung … „Werft ihn in den Sumpf …! Einen Stein an die Füße …!“

Die farbige Rotte, deren fanatische Gesichter den Weißenhaß so unverhohlen widerspiegeln, wie ich es noch nie bei diesen kaltherzigen, schlauen Asiaten gesehen, drängt auf Ridley zu …

„Einen Augenblick, Doktor Guddai,“ meint Harald. „Ich möchte mit Ihnen etwas besprechen … Wenn Sie Ridley ersäufen lassen, so wird Ihnen Ihr Familiengeheimnis nichts mehr nützen …“

Guddais Brauen heben sich …

„Was reden Sie da? Familiengeheimnis?! Was soll das?“ – Unruhe malt sich in seinen Zügen …

„Ich rede von dem Geheimnis von Kaimara – genügt das? – Ich denke, Sie schicken Ihre Leibgarde besser weg und verhandeln mit uns … Wir werden uns nicht an Ihnen vergreifen. Mein Wort, – – falls wir eben zu einer Einigung gelangen …“

Grabus[12] dunkles Gesicht hat um die Nase graue Flecken bekommen …

„Ihr bleibt und bewacht die drei!“ schreit er seinen Banditen zu …

Der Weltmann ist wieder zu Shing Gabru geworden …

Seine Oberlippe ist vor heimlicher Wut hochgezogen, läßt die tadellosen Zähne sehen …

Dann stürzt er die Treppe hinab …

Ich weiß, wohin …

In den Ziegenstall … Den Ziegenmist, die Blätter, das Heu wird er zur Seite schieben – wie wir vor nahezu zwei Wochen – und wird die Fliesen emporheben, wird nur das schlammgefüllte Loch finden, in dem die einstige Schiffskasse der „Wellington“ verankert war und dann versank, weil wir den Mechanismus nicht kannten …

Milliarden an Werten versanken so … Milliarden, die hier in der Wildnis Jahrhunderte gelagert hatten …

Und – – nichts davon wird er mehr finden, die Reichtümer des letzten Radschas von Kaimara sind für ewig dahin.

Aber – welch’ ein tolles Spiel wagt Harald hier?! Wir drei – und dreißig Gegner, – Kerle, denen ein Menschenleben ein Quark …

Wie soll dieses Spiel enden?! –

Über der Treppenöffnung erscheint Guddais erdfahles Gesicht …

Mit Augen, die fast grauenvoll in ihrer Wildheit sind …

„Hund!“ brüllt er … „Hund, du …“

Die Repetierpistole in seiner Hand flattert …

Harst:

„Guddai, keine neue Torheit! Sie würden außerdem in Ihrer Erregung vorbeischießen … – Schicken Sie die Kerle da weg … Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen …“

„Du … Hund – – mir einen Vorschlag!!“ – Aller Kulturlack ist dahin …

„Ja … Unter bestimmten Bedingungen bin ich bereit, den neuen … Ort anzugeben – – Sie verstehen mich, Doktor Guddai …“

Guddai krümmt sich vor Grimm und Haß zusammen … Sein Gesicht: Fratze, – seine Augen: Vulkane!

„Du – – Hund, mir – – Vorschlag?!“ Er lacht … lacht … „Foltern werden wir euch, daß ihr heult, daß ihr …“

„Und wissen Ihre Leute etwas von … Kaimara?“ fällt Harst dem Tobenden ins Wort …

Das trifft wie ein Schlag …

Guddai reißt sich zusammen. Er besinnt sich zu spät darauf, daß er hier einer gleichwertigen Intelligenz und einem Manne gegenübersteht, der in Wahrheit ein Gentleman[13], eine internationale Größe, eine durch und durch vornehme Natur.

Er hat sich Blößen gegeben. Europas Kulturgewand, daß er sich mühsam umgehängt, hatte er von sich geworfen, war wieder Naturmensch geworden, Asiate, unbeherrscht in seiner wilden Wut über den Verlust des Schatzes.

Er schämte sich vielleicht … Und neben dieser Scham, sich vor Harst in all seiner erbärmlichen tierischen Wildheit gezeigt zu haben, preßt ihm die Furcht, sein Geheimnis könnte seinen Schergen verraten werden, das rasende Blut bis in die Schläfen, daß die Adern schwellen …

„Geht!“ befiehlt er kalt …

Und mit einem Schlage ist er wieder Doktor Guddai, dem europäische Weisheit das Hirn wetzte.

Die farbige Rotte verschwindet wie ein ekler Rattenschwarm über die Treppe hinab.

Guddai verneigt sich vor Harst.

„An diese Minuten werde ich denken,“ sagt er. „Wir Asiaten werden auf die Kunst der Selbstbeherrschung von Jugend an gedrillt. Das liegt in den ganzen Verhältnissen der farbigen Rasse, ist eine Selbstverständlichkeit, ist das Übergewicht über unsere einzigen wahren Feinde: die Weißen!“

Er zieht einen Stuhl an den Tisch und setzt sich …

Sein Gesicht entspannt sich. Seine Augen werden ausdruckslos. Er schaut Harald gleichgültig an …

„Sie haben also den Schatz anderswo versteckt, Herr Harst,“ beginnt er den Kampf der Intelligenzen.

Harst schaut ihn ebenso gleichgültig an. Die Gegner messen sich …

„Eine überflüssige Frage, Doktor Guddai,“ meint Harald. „Ich bin jedenfalls bereit, Ihnen die Freiheit und den Schatz zu belassen, wenn Sie mir über den Guddai-Orden [und deren Mitglieder alles erzählen …“

„Ich verrate nichts! Wir wollen Herrscher über ganz Europa][14] werden … In ein paar Jahren bin ich am Ziel … In ein paar Jahren wird es vom Stillen Ozean bis zum Kralgebirge, bis zum Bosporus keinen Europäer mehr geben, der nicht unser Sklave wäre! – Lächerlich sind die Gerüchte, daß ich mit Rußland im Bunde stehe … Nur Narren können solches glauben. Wir Asiaten haben mit den Herren in Moskau nichts zu tun – gar nichts. Rußland, das europäische Rußland ist für mich nur der Wall gegen die weiße Gefahr. Aber all das sind Erörterungen, die hier gegenstandslos sind. – Ich wiederhole: Ich verrate nichts! Ich werde den Schatz finden … Brechen wir diese zwecklose Unterredung ab …“

Sein Körper straffte sich …

Im Moment hat er in jeder Hand eine Repetierpistole …

„Hände hoch!!“

Das Spiel ist für uns verloren …

Wirklich verloren …?!

Aus Harsts Sessel blitzt es zweimal auf … Unter dem Zipfel der Tischdecke hervor … Nun weiß ich, was er vorhin unter dem Sitzpolster verborgen hatte …

Zwei Schüsse …

Ohne zu zielen …

Ohne zu visieren … Von unten nach oben …

Und Doktor Shing Guddais Pistolen fliegen gegen die Wand …

Blut rinnt über Guddais verstümmelte Finger …

„Schraut – den Tisch über die Treppenöffnung!“ brüllt Harald. „Jack – auf das Dach … Schnell …!“

Und er selbst … ein Griff … Guddai liegt am Boden …

Der Tisch poltert über die Öffnung …

Fensterscheiben splittern … Jack hat sich an dem Basttau emporgeschwungen …

Oben knallt seine Waffe …

Sieben Schuß …

Unten am Turm wildes Geheul …

Alle Teufel der Hölle sind los …

Ich habe die Schemel, einen Schrank über den Tisch gehäuft …

Harst verbindet Doktor Guddais Hände … Ridley ist erwacht, sitzt aufrecht im Bett … Jack oben feuert weiter.

Das braune, gelbe, braungelbe Gesindel will stürmen … Stöße gegen die Tischplatte … Ich feuere … Die Tischplatte hat Ritzen … Die Nickelmantelgeschosse kriechen hindurch … Das Gebrüll verstummt …

Guddai sitzt im Sessel, die Ellbogen an den Leib geschnürt …

„Sie glauben nun wohl gesiegt zu haben, Herr Harst?! Sie irren sich!“

Harst packt in das Schränkchen zurück, was er an Verbandszeug nicht mehr braucht … Sagt:

„Ihr Lächeln wird einfrieren, Doktor Guddai, denn Gisela van Praang und die beiden Malaien befinden sich nicht mehr in den Kellern, werden Ihnen nicht mehr zu Hilfe kommen … worauf Sie gerechnet hatten. Wir haben die Falltür entdeckt, und Gisela weiß, daß ihre Schwester tot ist. Da – sehen Sie … dort drüben … Der Ballon füllt sich … Wie eine gelbfahle Birne quillt er in der Krone des Rasamala empor … Riesenbirne …“

Guddai ist schon am Fenster …

Ein zischender Atemzug …

„Hund … Hund …!! Ich … ich …“ – er besinnt sich, fährt höflich fort: „Entschuldigen Sie, Herr Harst … Bitte – Ihre Bedingungen also?“

 

5. Kapitel.

Dschungelgeheimnisse.

Gleich darauf beugt Guddai sich zum Fenster hinaus, befiehlt seiner Horde, sofort in dem Sampan wieder bis zur Kaimara-Krümmung zurückzukehren. Einer der Chinesen nimmt den Befehl entgegen. Guddai betont nochmals, daß der Befehl durchaus ernst gemeint sei.

Zehn Minuten drauf – inzwischen ist die Ballonkugel fast zur prallen Fülle angeschwollen – meldet Jack oben vom Dach aus, daß der große Sampan durch den verkrauteten See davonrudere.

Ridley ist wieder in die tiefe Morphiumbetäubung zurückgesunken.

Guddai sitzt im Sessel …

Was er nun über den Orden angibt, ist ein phantastisches Gebilde schlauester Einrichtungen, die alle dazu bestimmt, die Guddai vor Verrat zu schützen.

Mit einer Offenheit, die uns verblüfft, enthüllt er all die Geheimnisse, die nachher in den englischen Zeitungen ganze Spalten einnahmen. – Ich kann schon hier bemerken, daß diese Angaben stimmten, daß die internationale Aktion gegen die Guddai-Brüder einen Erfolg brachte: Man hat einige hundert Leute verhaftet und eingesperrt, hat Waffen und Geld und Werte beschlagnahmt …

Aber … – Doch auf dieses „Aber!!“ komme ich später zurück.

„… Genügt Ihnen das alles, Herr Harst?“ fragt er zum Schluß.

Harald erwidert: „Es genügt zu sehr, Doktor Guddai. Es beweist mir, daß der Kaimara-Dschungel doch wohl noch andere Geheimnisse hütet als nur den Schatz … Ich werde sie finden …“

Guddai: „Suchen Sie!“ – Hohn ist das …

Harst ruft zu Jack empor:

„Jack, Sie bleiben dort und beobachten die Fahrrinne durch den See … Sobald der Sampan etwa umkehrt, geben Sie drei Warnungsschüsse ab … Wieviel Leute waren in dem Sampan?“

„Einundzwanzig lebende, drei verwundete und sechs tote Schufte, Herr Harst! – Es scheint keiner der Gesellschaft hier zurückgeblieben zu sein … – Der Ballon, – – sehen Sie ihn?“

„Ja, schon gut …!“ Und Harald wendet sich an Guddai. „Wir werden Sie hier an den Sessel binden, und Jack wird Sie im Auge behalten. – Schraut, hilf mir …“

Dann räumten wir Tisch, Schrank, Schemel von der Treppenöffnung weg …

Gehen hinab mit einschalteten Taschenlampen …

Blut auf den Stufen … Ich habe also doch getroffen.

Wir kommen ins Freie …

Harald reißt aus dem Stalle eine Bambusleiter heraus …

Wir laufen über die Baumbrücke zu der Insel, wo unser eigener Sampan gut verborgen liegt …

Hinein … Hinüber zu dem kleinen Eiland mit dem Kreuzbaum, dem Rasamala …

Ich fiebere … Ich ahne, daß es noch ungeahnte Überraschungen geben wird … Ich bin übernervös … Die brütende feuchtwarme Glut des Dschungels benimmt mir den Atem. Ich stiere empor zu dem Baumriesen … Die grünen Wände der Wildnis haben genug Lücken. Ich sehe in der Gondel drei Gestalten … Die Lücke schließt sich wieder. Wir landen – laufen … stolpern … kommen an das Gestrüpp, – – dahinter der Stamm des Rasamala – und neben ihm im Steinboden ein eisernes Rohr, emporführend in die Blattdunkelheit.

Der Baum hat Steigeisen – eingeschlagene Schiffsnägel …

Empor … Harst voran …

Harst immer weiter voran … Entschwindet mir …

Ich höre fünf blecherne Knalle seiner Pistole …

Ich … kann nicht mehr …

Meine Kräfte versagen …

Ich sitze auf einem Ast … Über, unter, neben mir grünes Dunkel … ein paar dünne verlorene Sonnenstreifen …

Aber die fünf blechernen Knalle sind Anpeitschmittel …

Man sollte nie sagen: Ich kann nicht weiter! – Geist ist mehr denn Körper. Geist ist alles, ist Urkraft. Autosuggestion ist heute das große Schlagwort – mit Recht. Der Wille schafft Wunder …

Hier auch. Meine Augen brennen von salzigen Schweißperlen. Meine durch die Insektenstiche verschwollenen Hände packen den nächsten Ast. Ich klettere, klimme, springe … Ich bilde mir ein, die Richtung nach oben einzuhalten. Ich sehe ja nur Blätter, Äste, Lianen, Schmarotzerpflanzen, Zweige … Ich befinde mich in einer Wildnis hoch über dem Erdboden, in einer Welt für sich …

Dann ein gellender Schrei über mir, Krachen von Ästen …

Nochmals der Schrei der angsterfüllten Frauenstimme …

Gisela, – kein Zweifel: Gisela!

Ich sehe nichts … Ich klettere, klimme, springe, turne …

Und gelangte schließlich an einen blattlosen dicken Ast …

Jetzt sehe ich …

Dicht vor mir eine Riesenschlange – – dicht vor mir Gisela, die vor Tollkühnheit auf dem Ast entlangläuft – auf mich zu …

Das Untier von Boa Konstriktor, von der nur Kopf und halber Leib von Schenkeldicke sichtbar sind, schnellt vorwärts, gerade als ich das Mädchen an mich reiße …

Was dann geschah: Ich weiß es nicht mehr aus eigenem Erinnern … Harald hat’s mir erzählt …

Ich fühle den eklen Schlangenleib im Nacken – werde hochgehoben …

Die Leibesringe der Boa pressen mir die Rippen zusammen … mir und der bewußtlosen Gisela …

Dann wie aus weiter Ferne Schüsse …

Etwas Schweres schlägt mir auf den Kopf: Der zerschmetterte, zerfetzte Kopf der Boa …

Gleitet über mein Gesicht …

Die Leibesringe sinken … Und mit letzter, allerletzter Kraft lege ich das Mädchen über den Ast – wie eine Leiche … Ein Strick mit einer Schlinge gleitet mir über Kopf und Schultern … Harst oben in der Gondel des Freiballons zieht mich empor … Ohnmächtig sinke ich neben einem toten Malaien in der Gondel zusammen. –

Das Turmgemach beherbergt jetzt drei Kranke und zwei mitfühlende Pfleger. Harst und Jack bemühen sich um uns … Ich bin wieder bei Bewußtsein, aber mein Leib ist wie gerädert.

Dort im Sessel sitzt eine gefesselte, zusammengesunkene Gestalt … Mund halb offen, Totenfarbe: Doktor Guddai!

Ich schaue schärfer hin … Nein, es ist nicht Guddai. Es ist ein Malaie von gleicher Größe und einiger Ähnlichkeit.

„Harald …!“

Er beugt sich über mich … sagt sehr ernst:

„Guddai ist entwischt … Er hat Jack getäuscht. Der Tote dort ist der zweite Malaie, der hier mit Gisela in der Einsamkeit hauste. Den anderen hat Guddai in der Gondel erschossen. Drei meiner Schüsse galten der Ballonhülle, zwei galten Guddai. Aber er entkam …“

Ich bin schwach und elend wie nach langer Krankheit. Ich liege da … Das Denken wird mir schwer … und verfalle in einen unruhigen Halbschlaf … Erwache wieder … Abendrot im Turmgemach … Ein Blick ringsum. Da sitzt Gisela an Ridleys Schmerzenslager …

Spricht zu Harst … Ich begreife Worte, Sätze, Sinn …

„Tom Ridley war mein Liebhaber, – er hat mich, die er vom Varietee[15] her kannte, mit Steuermann Shing Gabru bekannt gemacht … So trat ich dem Orden bei … Ich weiß nicht, was ich hier bewachen sollte, ich weiß nur, daß Gabru hier im Kaimara-Dschungel Waffendepots besitzt und sogar Geschütze … Hier in Indien sollte der große Aufstand gegen die Europäer beginnen …“

Sie hält Ridleys Hand. Ridley sitzt aufgestützt da …

Jack erscheint – zerstoßen, voller Schlamm, aber mit glitzernden Äuglein …

„Der Kerl ist nicht zu finden … Aber oben in der Krone des Rasamala hängt eine Antenne und in der Baumhütte steht ein Kurzwellensender …“

Die Nacht verstreicht ohne Zwischenfälle. Abends hat Harald den Sender bedient, hat sich mit Bombay in Verbindung gesetzt … In fünfzig Küstenstädten fern und nah beginnt die Razzia auf die Guddai. Die Zeitungen berichteten darüber. Man sprengte den Orden, man beschlagnahmte Waffen, Munition … All das ist ja im Grunde so nebensächlich – für uns! Denn Guddai lebte … –

Der Morgen kam. Ich war von der Boa-Krankheit völlig wiederhergestellt, und auch Ridley und Gisela hatten erstaunliche Fortschritte auf dem Wege der Genesung gemacht. Liebe tut Wunder.

Jack und wir beide durchsuchten nochmals die kleinen Felsinseln mit ihren undurchdringlichen Dickichten. Wenn Doktor Guddai in diesen Teppich von Gras, Moos und bunten Blüten irgendwo seine Füße als gehetzter Flüchtling eingedrückt hätte: wir hätten diese Spuren noch bemerken müssen.

Wir fanden unter dem Rasamala nur die von großen Ameisen bereits halb verspeiste Riesenschlange und die Patronenhülsen seiner Pistole – von den Schüssen, mit denen er den einen Malaien ausgelöscht hatte und noch andere auslöschen wollte: Harst und Gisela! Es war ihm nicht geglückt.

Aber Harald ist zäh und ausdauernd. Während Jack und ich staunend die praktische Einrichtung des Naturgasometers zur Ballonfüllung betrachteten, rief uns sein munteres Hallo! nach links zum Rande dieses Inselchens.

Ja, der Kaimara-Dschungel besaß doch nicht lediglich in seinem unwegsamen Innern eine Radiostation, einen Gasometer, einen modernen Ballon und Munitionsverstecke … Nicht nur in seinen Tiefen die kostbaren Sammlungen an Edelsteinen, Perlen und Goldgeschmeiden der entthronten Fürsten von Kaimara …! Nein, da war noch etwas, das uns vor der Intelligenz und Schaffenskraft eines Doktor Guddai Hochachtung abnötigte … Noch etwas: Eine Bahn über den unergründlichen, trügerischen Sumpf mit seinen Giftschlangen, Krokodilen, Skorpionen und Milliarden von Mücken …

Zwei Stahltaue, ein dünnes, ein dickes, straff gespannt … Daneben eine teergetränkte Leine! Und als Harald an dieser Leine zog und die Eisenrolle sich leise quietschend drehte, kam ein Hängewägelchen durch Röhricht und Ranken und Dornen und schillernde Sumpfpflanzen dahergeschwebt …

Schwebebahn im Kaimara-Dschungel …

Im Wägelchen ein Zettel, mit einem flachen Felsstück beschwert … Flüchtige Zeilen – tadelloses Englisch …: Guddais Abschiedsgruß, – Gentleman Doktor Shing Guddai …

„Herr Harst, vielleicht sehen wir uns wieder. Vorläufig wohl nicht, da ich zunächst meinen Orden wieder in anderer Form aufbauen lassen will. Von mir und den Meinen haben Sie nichts zu fürchten. Ich wünschte, wir könnten Freunde werden. Ich bin Idealist … kein Mörder. Ich liebe Asien, ich will Asien für die Asiaten erobern. War Napoleon ein Mörder, der eine Welt in Trümmer schlug?

Ich bleibe allzeit Ihr ehrlicher Bewunderer

Doktor Shing Guddai. –“

Am nächsten Morgen waren wir wieder in Bombay. Ridley und Gisela hatten uns schon im Dorfe Kaimara verlassen, um allen Weiterungen mit der Polizei zu entgehen. – Der Schatz des Radschas von Kaimara konnte aus den Tiefen des Sumpfes nicht mehr gehoben werden. Wir waren selbst noch Zeugen dieser Versuche. Von Guddai hörte man bis Anfang Dezember nichts. Dann … kam der zweite Waffengang mit Doktor Guddai … – Wenn ich dafür den Titel „Shing Gabru, der Pirat“ gewählt habe, so lasse sich niemand dadurch zu der Annahme verleiten, daß ein Mann von der Intelligenz eines Guddai die Freibeuterei mit gewöhnlichen Mitteln betrieb. Ich werde dem Leser keine blutige Piratengeschichte vorsetzen … Nein: die Geschichte eines feinen Intrigenspiels, dessen einzelne Teile funkelnde Brillanten exotischer Abenteuerlichkeit sind! Was die Londoner „Times“ seinerzeit darüber brachte, war nur ein nüchterner Extrakt. Die grellbunte Wirklichkeit also im nächsten Band[16]

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „eknnen“.
  2. In der Vorlage steht: „bede“.
  3. In der Vorlage steht: „Abenteuerin“.
  4. In der Vorlage steht: „Dogbu“. – Im vorhergehenden Heft hieß der Büffeljäger aber „Dagbu“. Daher drei Vorkommen auf „Dagbu“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „Umschlittkerzen“.
  6. Die folgende Zeile ist doppelt und gehört erst vier Zeilen später hier hinein.
  7. In der Vorlage steht: „dürben“.
  8. In der Vorlage steht: „Abend“.
  9. In der Vorlage steht: „Staniol“. Siehe auch Wikipedia: Stanniol.
  10. In der Vorlage steht: „Gewornt“.
  11. In der Vorlage steht: „Rafamala“. – Sieben Vorkommen auf „Rasamala“ geändert.
  12. In der Vorlage steht: „Grabus“.
  13. In der Vorlage steht: „Gentlemen“. – Zwei Vorkommen auf „Gentleman“ geändert.
  14. An dieser Stelle fehlen (mindestens) zwei Zeilen: Der Abschluß der Rede von Harst und der Beginn der Rede von Doktor Guddai. Text sinngemäß ergänzt.
  15. In der Vorlage steht: „Variete“.
  16. In der Vorlage steht: „Ban“.