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Shing Gabru, der Pirat

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 208

 

Shing Gabru, der Pirat.

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1927 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Eine Lichtanlage.

… Niemand lasse sich durch diesen Titel zu der Annahme verleiten, daß ich dem Leser hier eine blutige Freibeutergeschichte vorsetzen will. – Nein, ein feines Intrigenspiel war’s, dessen einzelne Teile funkelnde Brillanten exotischer Abenteuerlichkeit sind … –

So etwa schrieb ich zum Schluß des vorigen Bandes.

Nun geht der Kampf gegen Doktor Shing Guddai weiter. –

Anfang Dezember, indische Regenzeit, indischer Winter … Trostlos diese Tage, diese Monate für jeden, der sie verlebt, etwa in Bawari, der kleinen Küstenstadt im Winkel der gleichnamigen Bucht.

Bawari gehört zu jenen zahllosen indischen Fürstentümern, denen die Segnungen europäischer Kultur und englischer Kanonen den Landbesitz allmählich bis auf ein Minimum beschnitten haben.

Wir hatten den Radscha von Bawari am 18. November im Prince-Edward-Hotel in Bombay kennengelernt, wo er, ein armer Fürst, mit nur zwei Begleitern abgestiegen war.

Bara Dhug Chassi, Radscha von Bawari, dreißig Jahre alt, mehr Europäer als Asiate scheinbar, vielseitig und gründlich gebildet, lud uns ein, auf seinem Schlosse einige Zeit zu verweilen und (darum hatte Harald ihn gebeten) seine Bibliothek ganz nach Gutdünken zu benutzen. Harst wollte ein Werk über die Abstammung der Zigeuner schreiben, und der Fürst, mit diesem Thema bereits vertraut, hatte ein paar uralte Schriften seiner Bibliothek erwähnt, in denen von einer großen Wanderung eines großen indischen Volkstammes gen Westen die Rede war. (Die Zigeuner sollen bekanntlich indischer Herkunft sein, und mein zuweilen auf Rassefragen geradezu erpichter Freund hatte es sich damals in den Kopf gesetzt, diesen Dingen streng wissenschaftlich auf den Grund zu gehen.)

Doch – ich will den Leser nicht zu lange mit dieser Einleitung hinhalten.

Es war am 2. Dezember vormittags elf Uhr. In unserem Wohngemach in dem sogenannten Radschaschloß herrschte die schweißtreibende Schwüle eines überheizten Treibhauses. Draußen goß es. Die ganze Welt ringsum war in Regendampf gehüllt. Unsere Stiefel bekamen weißlichen Schimmelhauch in jeder Nacht – Pilzbildungen, – Zigarren und Zigaretten wurden zu weichen Nudeln, und unsere Wäsche und Kleider stanken muffig und dumpf, die Schrift auf dem Papier verlief wie auf einem Löschblatt, und Harald schrieb sein Manuskript daher mit Bleistift.

Auch jetzt …

Er saß an einem plumpen schweren Tisch aus Tekkaholz[1], dessen süßlich-unangenehmer Duft, fast an Chloroform erinnernd[2], die drückende Schwüle noch unerträglicher machte.

Ich hatte meinen Lieblingsplatz inne, an einem der beiden großen Fenster, mit Ausblick über die stille bewaldete Bucht und die zerklüfteten Berge, die deren wirkungsvollen, aber fast allzu ernsten Hintergrund bildeten. Ich las eins der alten englischen Werke über die Eroberung Indiens durch englische Großkaufleute, durch die sogenannte Ostindische Kompagnie, deren Nachfolger dann das Britische Weltreich geworden. Wie dieses Buch in die Bibliothek geraten, war eins der vielen kleinen Rätsel, die uns hier in diesem verwitterten Steinkasten von Schloß auf Schritt und Tritt begegneten. So kurze Zeit wir hier auch erst weilten, so liebenswürdig auch der Radscha war, so zuvorkommend auch die zahlreiche Dienerschaft sein mochte, die für die bescheidenen Verhältnisse dieses kleinen, bedeutungslosen Fürsten viel zu zahlreich war, – so wenig Grund wir etwa hatten, uns über irgendetwas zu beklagen, abgesehen von der Ungunst der Witterung: es gab da doch so allerlei, was wie ein ungreifbares Etwas beunruhigend und gespenstisch in der Luft hing – eine Gewitterwolke unter dem Horizont, von der man nur das Wetterleuchten vorläufig wahrnimmt.

Die Stimmung, in der wir uns befanden, kann ich schwer näher bezeichnen. Es war jenes Unbehagen in uns, das auf keine direkte Veranlassung sich zurückführen läßt, das aus den geheimen Gründen empfindlicher Seelen mit feinsten warnenden Schwingungen aufsteigt und dennoch, wenn man diese Schwingungen zergliedern und dem kritischen Verstande näherbringen will, in Nichts zerpufft.

Eben – etwas Ungreifbares, Unbegreifliches.

Ich schaute von meinem Buche auf und zu Harald hinüber. Wir hatten über dieses beklemmende Etwas, das hier in der Luft lag, uns gestern zum ersten Male im Park ausgesprochen, wobei Harald nicht so recht mit der Wahrheit über seine eigenen Eindrücke und Empfindungen herausrücken wollte, wie ich sehr wohl merkte.

Jetzt, wo ich ihn anblickte und er wie durch Zufall den Kopf mir zugewendet hatte, sah ich in seinem hageren braunen Gesicht einen Ausdruck stärkster Spannung …

Er schien zu lauschen …

Ich horchte gleichfalls …

Ich vernahm da abermals das seltsame Surren und Rattern, das in diesem elenden armseligen großen Steinkasten, in dem es keinen Motor, keine Maschinen, kein Auto oder dergleichen gab, doppelt unerklärlich wirkte.

Wir hatten diese Geräusche schon mehrfach vernommen.[3]

Wie stets, so verstummten diese ratternden leisen Laute, die aus endloser Ferne zu kommen schienen, auch jetzt sehr bald wieder.

Haralds Mienen waren nachdenklich geworden. Noch immer starrte er mich gedankenverloren an. Seine grauen Augen hatten jenen verschleierten matten Glanz, der ihnen eigentümlich ist, wenn sein Hirn auf irgendeinen Gegenstand vollkommen konzentriert ist.

Ich legte das Buch in meinen Schoß und hatte bereits die Lippen halb zu einer Frage geöffnet, als es klopfte und auf Haralds „Herein“ Seine Hoheit erschien – sein gewöhnlicher Nachmittagsbesuch.

Bara Dhug Chassi, ein überschlanker Inder mit schwarzem Spitzbart und verschlossenen, melancholischen Zügen, begrüßte uns mit zwangloser Herzlichkeit – wie immer. Er war wie gesagt mehr Europäer als Inder – scheinbar, und dazu ein internationaler Gentleman[4] von bestechendem Auftreten und Benehmen, von einer vornehmen Ruhe und Abgeklärtheit, die durch nichts, so schien’s, irgendwie gestört werden konnten. Er trug wie wir einen leichten seidenen Anzug von gelblichgrauer Farbe, war auch sonst bis auf den weißen schlichten Turban europäisch gekleidet, freilich kein Kino-Maharadscha, sondern ein brauner stiller Gelehrter und Forschungsreisender.

Das geringe Einkommen, das ihm zur Verfügung stand, benutzte er dazu, sich die Welt immer wieder in all ihren Teilen anzusehen. Er besaß eine alte klapprige Dampfjacht, die drunten in der Bucht vor Anker lag, – ein Schiff, das wirklich kaum den Namen Jacht verdiente.

Drunten in der Bucht, sagte ich, denn das Schloß erhob sich auf einem schroffen, halbinselförmigen Felsen, der in die Bucht sich etwa hundert Meter lang hinein erstreckte. Es war also von drei Seiten von Wasser umgeben, und auch die dem Lande zugekehrte Ostfront verriet deutlich, daß es einst vor mehr denn vier Jahrhunderten gerade an dieser Stelle erbaut worden war, um es leichter verteidigen zu können. Im Jahre 1817 war es von englischen Fregatten bombardiert und halb zusammengeschossen worden. Dieser dann wiederhergestellte Flügel diente jetzt dem Fürsten und der Dienerschaft als Wohnung. Der Mittelbau und der Südflügel enthielten nur leere Räume mit verfaulten Fußböden, – ohne Türen und Fenster … Vögel nisteten in den weiten einstigen Prunkräumen, Ratten, Mäuse, Skorpione und anderes Getier ging dort ein und aus. Wir hatten uns diese verwahrlosten Flure, Gemächer und Säle angesehen und bei dieser Gelegenheit – der Fürst führte uns selbst umher – hatte er uns auch mitgeteilt, daß das Jahr 1817 und der zwölfte Dezember den Merkstein in der einst so glorreichen Geschichte seines Geschlechts bezeichneten. Damals hatte sein Urgroßvater auf acht Neuntel seines Reiches verzichten und an England wegen Unbotmäßigkeit und bewaffneten Widerstandes seine gesamten Schätze ausliefern müssen.

Wenn ich hier den Leser vielleicht durch diese Angaben etwas langweile, so mag man mir das nicht verargen. Ich mußte sowohl die Örtlichkeit als auch den Fürsten und das, was wir in diesem ungeheuren Steinkasten von burgähnlichem Schloß als unklaren Seelendruck empfanden, unbedingt erwähnen. Die weitere Entwicklung der Dinge wird den Leser reichlich entschädigen. –

Wir hatten uns erhoben und mit dem Radscha einen Händedruck getauscht. Dann nahmen wir wieder Platz.

Bara Dhug Chassi, übrigens trotz all seiner gediegenen europäischen Bildung ein fanatischer Hindu, der sich streng an die zahllosen Vorschriften seiner Religion hielt, sprach zunächst über Haralds Rassenuntersuchung, über das Zigeuner-Manuskript, und meinte dann beiläufig, daß der vor kurzem angeschaffte Motor, der den bewohnten Teil des Schlosses mit elektrischem Licht versehen sollte, gar nicht recht arbeiten wolle. Die Monteure aus Goa (portugiesische Kolonie an der Malabar-Küste) schienen doch recht wenig mit den Maschinen vertraut zu sein, ob wir da nicht helfend einspringen könnten.

Bisher hatte Seine Hoheit noch nie etwas von seiner Absicht, elektrische Beleuchtung einzuführen, erwähnt. Trotzdem verbargen wir unser Erstaunen durch ein paar scheinbar interessierende Fragen. Im Laufe langjähriger Erfahrungen lernt man es, stets Komödiant zu sein. Im Grunde ist ja das ganze Leben ein wechselreiches Theaterstück, Posse, Schauspiel, Drama, wie es gerade kommt, und wer von sich behauptet, er gebe sich so, wie er in Wahrheit sei, kennt sich selbst nicht. Vielleicht sind es nur die sogenannten Proletarier, die hier eine Ausnahme bilden. Ihre Empfindungen sind primitiver als die der sogenannten gebildeten und gebildetseinwollenden Stände, und diese natürliche Unverfälschtheit hebt den einfachen Mann des Volkes zumeist schon hierdurch hoch über die verlogene Zunft seiner angeblichen Feinde, des Bürgertums, hinaus.

Theater …

Auch Seine Hoheit spielte hier Komödie. – Weshalb?!

Weshalb erfuhren wir erst jetzt von dieser geplanten Neuerung, die hier die Karbidlampen verdrängen sollte?!

Nun – er war klug genug, gerade uns gegenüber dies zu begründen. „Es sollte eine Überraschung für Sie werden, – gerade in Ihre Räume wollte ich zuerst Licht legen lassen …“

Sagte er …

Eine sehr fadenscheinige Bemäntelung, fand ich.

Wir folgten ihm dann hinab in die Kellerräume, die in die Felsen eingesprengt waren, in das granitene Halbinselfundament des Schlosses.

Wir wanderten über Flure und Treppen, und wie schon so oft hallten hier auf den Steinfliesen und Marmorfliesen, die nicht einmal mit Bastläufern belegt waren, unsere Schritte dumpf dröhnend in verschleierten Echos wieder und reizten die Nerven und weckten das Gefühl sich in einem verwunschenen Schlosse zu befinden.

Niemandem begegneten wir.

So war es immer …

Kein Diener zu sehen …

Alles wie ausgestorben. Und doch wohnten hier im Nordflügel etwa hundert Menschen.

Im Erdgeschoß auch heute wieder ein seltsamer schwacher Geruch von Chemikalien: Apothekerdunst!

Und auch wieder dasselbe merkwürdige Zischen und Fauchen hinter einzelnen Türen, das genau wie der Apothekergeruch, die Leere und diese verschwommenen Töne unenträtselbarer Art mit zu dem „Ungreifbarem“ rechneten.

Noch eins: eine große Zahl dieser Türen im Erdgeschoß waren durch Bretter vernagelt, die Bretter roh und ungeschickt überpinselt worden und möglichst der verwitterten Farbe der Korridorwände angepaßt. Der Anstrich blätterte stellenweise ab.

Und noch eins: Wir hatten zwar, wie erwähnt, das ganze Schloß besichtigt, auch die Parterreräume, wo die Dienerschaft hauste, konnten jedoch damals bei unserem Rundgang nichts Besonderes bemerken. Es blieb unklar, weshalb diese zahlreichen Türen als Eingänge ausgeschaltet worden waren.

Und – das letzte – um auch das von den „greifbaren“ Eigenarten des Radschasitzes nicht zu übergehen: Im ersten Stock, wo die Gemächer des Fürsten lagen, hatte Harald einmal, es war vorgestern gewesen, vor einer Tür ein feines, gesticktes Taschentüchlein liegen sehen, es aufgehoben, das Parfüm des Tuches als das in Rußland so beliebte Patschuli sofort erkannt, das Tüchlein wieder fallen lassen, und mir zugewinkt, weiterzugehen.

Der Fürst war unverheiratet und ein Frauenverächter.

Woher dieses europäische kostbare Tüchlein?!

 

2. Kapitel.

Ferne Klänge.

Das erste Kapitel dieses unseres merkwürdigen Abenteuers in Bawari ist zu lang geworden. Ich muß also notgedrungen die nächsten Ereignisse etwas kürzer behandeln.

Der Fürst zeigte uns den Motor, die kleine Dynamomaschine, alles funkelnagelneu, die Drähte, Schalter, Lampen und so weiter – einen ganzen Berg.

Fünf Monteure einer Firma aus Goa mühten sich mit dem bereits aufgestellten Motor ab. Es waren sämtlich Inder, und zwar junge intelligent aussehende Leute. Harst hatte als halber Fachmann den Fehler sehr bald entdeckt. Der Motor knatterte, zuweilen gab’s auch noch eine Reihe Vergaserexplosionen, aber das ging auf Rechnung des billigen Fabrikats.

Nach einer halben Stunde kehrten wir mit dem Fürsten wieder an die Oberwelt zurück. Hierbei fiel mein Blick in dem vordersten Gewölbe auf eine Anzahl von alten, verrosteten Kanonenkugeln, die an der einen Wand zu eigentümlichen Gruppen aufgeschichtet waren. Es mochten im ganzen gegen hundert Geschosse sein. Eine Frage nach ihrer Herkunft und Bedeutung vermied ich, denn ich sagte mir selbst, daß sie von jenem Bombardement herrührten, das die Herrlichkeit von Bawari für alle Zeiten zerstört hatte – in Wahrheit Herrlichkeit, weil ja ehedem das Fürstentum und seine Herren mit zu den angesehensten Vorderindiens gehört hatten.

Oben im Flur des ersten Stockes verabschiedete sich der Radscha von uns. Wir waren ja auch mit ihm zumeist nur in den Abendstunden längere Zeit zusammen. Auch er pflegte viel zu schreiben – zu seinem Vergnügen, stets über seine Reisen. Seine Veröffentlichungen in verschiedenen Londoner Zeitungen hatten ihm auch die Ehrenmitgliedschaft einer Londoner wissenschaftlichen Gesellschaft eingebracht.

Wir beide stiegen in den zweiten Stock empor, wo unsere Räume lagen. – Keine Seele zu sehen … Unheimlich still der öde alte Palast.

In diesem Gewirr von Treppen, Fluren, offenen Durchgangsgemächern sich zurechtfinden war nicht ganz leicht. Harald und ich sprachen ganz laut und ungeniert über die geplante Lichtanlage. Ich achtete dabei nicht weiter auf den Weg, und mit einem Male standen wir in dem großen Saale des verfallenen Mittelbaus, der mit den Fenstern nach Westen zeigte. Harst trat an eines der Bogenfenster heran, in dem die bunten Scheiben nur noch zur Hälfte vorhanden waren.

„Bitte – unten!“ sagte er leise und schob mich hinter die undurchsichtigen Scheibenreste.

Ich blickte hinab … Hier fiel die Mauer völlig senkrecht zusammen mit der Felswand der Halbinsel in das grüne tiefe Wasser der Bucht hinab – wie eine geschlossene Masse. Und unten an dem rissigen Granit, der durch den Wechsel von Ebbe und Flut mit einem zurzeit deutlich sichtbaren Streifen von Algen und anderen Meerespflanzen grüngelb betupft war, schwamm auf den leicht bewegten Wassern eine wirre Masse von Treibholz, Moos, Grasstücken und Sträuchern. All das konnte nur durch den aus den Bawari-Bergen kommenden Djinga-Fluß, der jetzt zur Regenzeit ein wütend tobender Strom geworden, hier angehäuft worden sein.

Anderes sah ich nicht …

„Was meinst du dazu, mein Alter?“ fragte Harst gedämpft.

„Zu dem Treibholz?“

„Ja …“ – Dann deutete er auf die ferne Buchtmündung, wo eine Rauchfahne das Nahen eines Dampfers verkündete.

„Besuch,“ meinte er. „Gehen wir wieder …“

Er schritt voran, blieb jedoch in dem Türbogen zum Nordflügel wieder stehen …

„Deine Ohren sind besser als die meinen,“ flüsterte er …

Und jetzt erwähne ich hier etwas von dem, was ich unter den Begriff „nicht greifbar“ einreihen möchte.

Ich hatte schon zweimal in dem Flur vor unserem Zimmer ganz leise – ganz, ganz leise undeutliche Töne eines Instrumentes vernommen, das ich für ein Klavier oder einen Flügel hielt. Aber im ganzen Schlosse gab es derartiges nicht, nicht einmal ein Grammophon oder eine Spieldose. Der Fürst war vollständig unmusikalisch.

Jetzt vernahm ich diese Töne wiederum. In dieser Umgebung einer erloschenen Herrlichkeit – das Schloß mußte einst überaus kostbar eingerichtet gewesen sein – und in dieser Totenstille und unter Berücksichtigung unserer ganzen Stimmung war die Wirkung dieser Klangwellen, die von irgendwoher kamen, erstarben und wieder auflebten, doppelt gespenstisch.

„Ich höre …“ flüsterte ich …

Und er: „Das Tüchlein, Patschuli!“ – mit besonderer Hervorhebung des letzten Wortes.

Dann ging er weiter.

Als wir unser großes unbehagliches Wohngemach erreicht hatten, stellte er sich auch hier an das offene Fenster, beugte sich weit hinaus und blickte nach links – zum Buchteingang hin …

Meinte dann: „Es ist ein Frachtdampfer der Australia-London-Linie, am Schornstein zu erkennen, gelb, schwarz, gelb … – Der Motor unten im Keller ist Blendwerk, um die anderen Geräusche zu übertönen. Die Kugeln in dem Gewölbe sind so in Gruppen gelegt, daß sie das altindische Wort Gamiß, Rache, bilden. Der Radscha hält eine Europäerin hier verborgen, die Klavier spielt. Das Treibholz unten am Felsen liegt seit drei Tagen genau an derselben Stelle, ist also verankert, festgebunden – zu einem bestimmten Zweck. Das ganze Schloß ist ein großes versteinertes Rätsel mit heimlichem nächtlichen Erwachen dunkler Geister, von denen ich bisher nur drei beobachten konnte, obwohl es ein ganzes Regiment ist.“

Ein derartiger geistiger Überfall, ein solcher Regen kleiner, schnell wieder verlöschender Leuchtraketen, die die Umgebung nur für Sekunden in Licht tauchen und lediglich den Eindruck zurücklassen, man habe etwas gesehen – etwas, – das ist Harald Harsts Spezialität …

Meine Spezialität das für ihn so lästige ebenso rasche Stellen von Fragen.

„Drei Geister beobachtet – du?! Nachts? Dann bist du also nachts ohne mein Wissen in den anderen Räumen dieses ungemütlichen Kastens gewesen?“

Lästige Fragen …

„Nun ja,“ gestand er zögernd ein. „Du schnarchst so schön, mein Alter … Wenn du schnarchst, klingt es für jeden Lauscher, als ob wir beide unsere Kehlen als Sägen trainieren. Das war für mich ein Schutz. Bisher hält man uns beide hier denn auch für absolut harmlos.“

Mein Staunen wuchs …

„Du meinst etwa, daß … daß diese Einladung des Fürsten hierher besondere Gründe gehabt hat?“

„Natürlich. Die Art, wie wir mit ihm in Bombay bekannt wurden, war eine schlau erdachte Komödienszene. Das Gespräch brachte er auf die Zigeuner. Weiß Gott, woher er wußte, daß ich mich dafür interessierte. Die alten Schriften hier in seiner Bibliothek, die er als Köder sozusagen auswarf, hatte ich schon in Gebbers Antiquitätenladen in Bombay mir angesehen und hätte sie gekauft, wenn sie nicht Fälschungen wären – für dumme Touristen! – Kurz, Seine Hoheit wollte uns hier nach Bawari bringen und uns beaufsichtigen, denn letzteres geschieht dauernd, wie ich sehr bald nach Ankunft merkte. Über unsere drei Räume liegen die endlosen Dachkammern dieses Fuchsbaus. In den Zimmerdecken mit ihren prächtigen Schnitzereien und Mosaikfeldern sind Gucklöcher angebracht. – Willst du noch mehr wissen? Ich denke, all das ergibt einen tadellosen Vers, dessen Endreim man vielleicht mit Gassenhauerfertigkeit in die Worte fassen könnte:

Schraut und Harst, ei wei, ei wei,
Hier droht Doktor Gud-Guddai!!

Aber den Gassenhauer lassen wir besser weg, weil unser Feind Doktor Shing Guddai doch mehr in ein Epos hineinpaßt. Feind ist auch nicht richtig: Gegner!! Guddai, der große Verschwörer, der Mann, der ganz Asien gegen die Weißen aufwiegeln und seinen Europäerhaß in Strömen von Blut kühlen möchte, ist ein moderner Held der neuen Zeit, der großen Freiheitsbewegungen auf der Erde, ein Idealist ohne Gewissensskrupel, ein Asiate, und – Asiate sagt alles! Wir haben ihn seiner Betriebsmittel beraubt, haben den unermeßlichen Schatz von Kaimara im unergründlichen Sumpfe versenkt … Wir haben seinen Geheimorden mit zweihundert Filialen gesprengt … Er muß sozusagen von vorn wieder anfangen … Er fürchtet uns nicht als ernsthafte Widersacher, sondern mehr als unbequeme Hindernisse für seine Bewegungsfreiheit. Die hinter ihm her erlassenen Steckbriefe belächelt er. Hier in Bawari sind wir am besten aufgehoben, denkt er … Und seine Spekulation wäre richtig gewesen, wenn Seine Hoheit, der Radscha, fraglos sein Vertrauter, nicht das Pech gehabt hätte, mir hier sogenannte alte Schriften vorzulegen, die mein Sammlerehrgeiz schon vorher gesehen hatte. Der Radscha seinerseits ist ein Mann vom Schlage Guddais: Europäerhaß zerfrißt sein Inneres! Die Kanonenkugeln unten im Keller, das Wort Rache, reden eine deutliche Sprache. Meinst du, daß ein Nachkomme jener Fürsten von Bawari, die einst die reichsten und mächtigsten der Malabarküste waren, jemals vergessen wird, daß Europäer seine Vorfahren zu Sklaven degradierten?! Übrigens – mit der angeblichen Armut des Fürsten hat es auch wohl seine besondere Bewandtnis. Er übertreibt. Er besitzt eine Jacht, die, scheinbar ein elender Ratterkasten, eine ganz neue Turbinenmaschine besitzt. Ich wette, die Jacht läuft ihre 23 Knoten. Und seine Reisen, mein Alter, – das waren geheime Missionen im Auftrage Guddais, wahrscheinlich Waffenschmuggel und Ähnliches. Diese Fahrten beschränkten sich auf Ostasien und Amerika. – Genug davon. Wir sind hier Gefangene, hier in diesem abgeschiedenen Weltwinkel inmitten fanatischer Hindus und einiger hundert chinesischer Kulis, die drüben jenseits der Berge in der Stadt Bawari angeblich bescheiden und bieder auf des Fürsten Plantagen arbeiten. Besinne dich nur auf Guddais Andeutung: er gab uns zu verstehen, daß wir vielleicht sein Werk verzögern, es jedoch nie ganz zerstören könnten! Sein bester Schlupfwinkel blieb uns verborgen: Bawari! Hier hat er nun sein eigentliches Hauptquartier, von hier aus dirigiert er die Abermillionen von Asiaten weiter zum Tage des Entscheidungskampfes gegen die weiße Rasse, der auch wir angehören und die wir schützen müssen, wenn nicht Europas alte Kultur aufgerieben werden soll! Der Ausgang dieses Kampfes wäre ja zweifelsfrei derart, daß wir eine Neuauflage etwa der Pariser Bluthochzeit erlebten und daß dann diese Abermillionen brauner und gelber Helden, denen ihr Leben nichts gilt, während in Europa die Dickwänste von Spießbürgern und Schiebern und Politikern nur Maulhelden sind, – daß die Abermillionen sich zu Herren Europas aufschwingen würden. Das Wort von der „gelben Gefahr“ ist heute weit inhaltreicher als ehedem, da es geprägt wurde.“

Ich war vollkommen benommen …

Ich konnte nur staunen.

„Weshalb … bist du jetzt so offen, Harald. Weshalb sprichst du dir jetzt die Seele frei?“

„Weil die vier Gucklöcher oben in der Decke geschlossen sind. Zurzeit spioniert niemand – ausnahmsweise,“ erwiderte er gelassen.

So gelassen, wie er mir soeben die Zukunft Europas, die durch Doktor Shing Guddai bedroht war, in wenigen Pinselstrichen als grauenvolles Gemälde gezeigt hatte. Und – er hatte damit nicht ganz unrecht … Setzte sich etwa Japan als Militärmacht ersten Ranges an die Spitze dieses unzähligen Heeres fanatischer Asiaten, so konnte Europa kapitulieren. Freilich, Deutschland würde dabei am besten wegkommen, denn der Radscha hatte, wie ich mich nun besann, verschiedentlich angedeutet, daß Deutschlands Einkreisung bei den kultivierten Indern allgemein nur warmem Mitgefühl begegne.

Benommen war ich …

Kein Wunder … Harsts Sätze waren zuckende Blitze gewesen … Eine Welttragödie ward vielleicht hier in Bawari vorbereitet.

Sie zu verhindern: unsere Pflicht!

Wie aber dies erreichen, wenn wir … Gefangene waren?!

 

3. Kapitel.

Der lecke Dampfer.

Flüchtig durchzuckte mich jetzt der Gedanke an die Herren in Genf, die dort als Delegierte der Welt den ewigen Frieden zusammenkleistern wollen. Ob sie wohl den Rassenhaß, den Haß der bisher von ein paar Weißen beherrschten asiatischen Völker mit in Rechnung gestellt haben?!

Doktor Shing Guddai …

Wir kannten ihn. Wir hatten ihm Auge in Auge gegenübergestanden. Ein Malaie, dieser Guddai, also ein Stammesverwandter der Chinesen, deren Verschlagenheit, Zähigkeit, Grausamkeit und infernalische[5] Intelligenz berüchtigt sind.

Und wir hier Guddais Gefangene?!

Gefangene – wirklich?! Ich hatte davon noch nichts gemerkt, gar nichts.

Ich hatte jetzt nur allerlei neue Fragen zu stellen, die unbedingt geklärt werden mußten, wenn die ganze Situation für uns wirklich so ernst und bedrohlich war wie Harald sie hinstellte.

Zunächst also – und meine Stimme sank zum allervorsichtigsten Flüstern herab …

„Wir müssen versuchen von hier fortzukommen … Der Dampfer, der soeben in die Bucht einläuft, könnte …“

„… leck sein,“ beendete Harst den Satz.

„Leck?! Wie kommst du darauf?!“

„Ja, man hat so seine Ahnungen … – Gehen wir in den Park, mein Alter … Ziehen wir uns wie üblich an … Gummimäntel, Südwester … Vielleicht …“

„Was – – vielleicht?!“

„Warte ab …“ –

Wir waren nun schon gewöhnt, bei diesem ständigen Bindfadenregen unsere Spaziergänge zu machen. Der Park, der sich hinter dem Schlosse in sanfter Neigung bis in die Bergschluchten von Bawari hinanzog, war genau so verwildert wie das Schloß, das nur noch als Ruine gelten konnte. Und doch hatte er seine intimen Reize, seine Schönheiten, seine köstlichen kleinen Marmorpavillons, Springbrunnen, Grotten und das berühmte Mausoleum der Fürsten von Bawari, eine bezaubernde Schöpfung aus schwarzem Marmor mit reichem Goldmosaik.

Abermals begegneten wir in den Fluren und auf der Treppe keinem Menschen. Wir kamen wieder an den mit Holz verkleideten Türen vorüber, hörten wieder den Motor unten in den Gewölben knattern und fauchen … Und dann standen wir im Freien, im rieselnden, plätschernden Regen, wandten uns nach links – wie alle Tage, hielten unser Tagesprogramm genau ein.

So gelangten wir denn über nasse, mit zerstampften Muscheln bestreute Hauptwege nach einer Viertelstunde zu unserem Lieblingsplatz, einem baumüberwölbten Pavillon, auf einer Felskuppe in Form einer chinesischen Pagode errichtet.

Aus einem der alten Rohrstühle erhebt sich Seine Hoheit Radscha Bara Dhug Chassi. Sein melancholisches verschlossenes Gesicht verzieht sich zu der unmerklichen Spur eines Lächelns.

„Seltene Ehre!“ – er deutet auf den Dampfer, der bereits den Innenwinkel der Bucht erreicht hat. Trotz des Regens erkenne ich, daß das Schiff, ein großer Frachter, starke Steuerbordschlagseite hat, das heißt: er liegt schief und schleicht dahin wie ein verwundeter Wal.

Der Fürst fügt hinzu: „Seit Monaten das erste größere Schiff hier … Ich habe ein Boot geschickt …“

Ich sehe auch das Boot.

„… Man will doch gern wissen, was den Steamer herführt … Er signalisierte allerlei … Aber ich konnte die Signale nicht deuten … Und meine Jachtbesatzung ist beurlaubt. Auf der Jacht befinden sich nur drei meiner Diener als Wache, und die sind nicht Seeleute …“

Der Radscha hatte ein Fernglas bei sich.

„… Wenn Sie es benutzen wollen, meine Herren … Bitte …“ –

Es macht auf mich den Eindruck, als ob Seine Hoheit uns hier erwartet hat.

Und die weitere Entwicklung der Dinge gibt mir recht.

Harst mustert das Schiff mit Hilfe des Glases …

„Backbord mittschiffs ein Leck,“ erklärt er … „Man sieht, daß die Leute es abgedichtet haben … Bretter, Ölleinwand … Ich glaube, der Kapitän will den Dampfer auf Strand setzen, damit dieser nicht wegsackt … Ihr Boot, Hoheit, legt soeben am Fallreep an …“

Harst gibt mir das Glas …

Mich interessiert der Steamer kaum mehr, mich interessieren nur die Begleitumstände seines Erscheinens hier an der einsamen felsigen Küste.

Dann stößt das Ruderboot wieder ab, und der Dampfer wendet, folgt ihm bis zum Westufer, wo eine Sandbank sich entlangzieht.

Dort wird der Steamer auch wirklich auf Strand gesetzt. Das Boot hat ihm den Weg dorthin gewiesen. Es kehrt jetzt zur verwitterten Landungsbrücke neben dem Schlosse zurück. Wir sehen, daß in dem Boot noch zwei Fremde in Ölzeug sitzen.

„Gehen wir hinab,“ meint der Radscha. „Hören wir, was dem Dampfer zugestoßen ist …“

Auf der Landungsbrücke lernen wir so den Kapitän der „Sidney“ und deren zweiten Offizier kennen, zwei Australier, die das besondere Wesensgepräge dieses kleinsten und doch jetzt mit aller Macht emporstrebenden Erdteils trugen.

„Es war die höchste Zeit, daß wir unsere Sidney auflaufen ließen,“ erklärte der Kapitän. „Heute früh im dicksten Regennebel stießen wir gegen ein unter Wasser treibendes Wrack, das uns erst den Bug eindrückte und dann noch mittschiffs die Plankennieten sprengte. Zum Glück zeigte mir die Seekarte, daß ich hier in Ihrer Bucht günstiges Ufer finden würde, Radscha …“ – Er behandelte den Radscha durchaus nicht als etwa gesellschaftlich Höherstehenden, eher das Gegenteil.

Im weiteren Gespräch erwähnte er, daß die Sidney von der australischen Regierung gechartert sei und Geschütze und Torpedorohre für den in Melbourne auf Stapel liegenden Großkreuzer an Bord habe.

Als er dies so nebenbei bemerkte, sah ich über Haralds Gesicht ein schnelles Lächeln huschen – ein Lächeln der Zufriedenheit, so etwa, als ob diese Angaben des Kapitäns seine Vermutung nur bestätigt hätten.

Freilich – ich selbst wurde aus diesem Lächeln nicht recht klug. Hatte Harald die Besonderheit der Ladung der Sidney vorausgeahnt? Hatte er etwa den Argwohn, daß dieser Zusammenstoß draußen in See, der den Dampfer hier in die Bawari-Bucht hineinzwang, kein Zufall gewesen?! –

Der Fürst wieder behandelte die Australier mit kühler Förmlichkeit, ohne jedoch unfreundlich zu sein, versprach ihnen alle Hilfe und lud sie zum Mittagessen ins Schloß ein.

Doch die eigentliche Sensation kam jetzt erst. Der Kapitän fragte, ob der Fürst eine Funkanlage besitzt.

„Nein,“ und der Radscha markierte ein Achselzucken, was soviel hieß, wie: mein alter Steinkasten und Radio?!

Der Kapitän schaute Harald an. „Herr Harst, Sie sind doch der bekannte Detektiv?“ fragte er zögernd.

„Bedauere … Detektiv bin ich nicht. Ich bin ein reicher Privatmann, der aus Liebhaberei dem Abenteuer in seiner seltensten Not, das heißt den Ausnahmefällen abenteuerlicher und krimineller Art nachjagt …“

„Also doch Harald Harst!“ meinte der Kapitän befriedigt. Und fügte ernst hinzu: „Das Eigentümliche bei dieser Kollision[6] mit dem Wrack ist nämlich die fast gleichzeitige Zerstörung der Radioeinrichtung an Bord und eine unerklärliche Krankheit des Telegraphisten, der gerade in der Kabine Dienst hatte. Der Mann ist noch immer bewußtlos. Würden Sie vielleicht einmal mit an Bord kommen?“ – Und zu uns anderen gewandt: „Ich muß ja irgendwo aus dem nächsten Hafen ein paar Leichter zur Übernahme der Ladung herbeordern. Und das will ich durch Funkdepeschen tun … Oder – ich wollte es … – Telegraphische Verbindung von hier gibt es wohl auch nicht!?“

„Nein …“ und der Radscha deutete abermals ein Achselzucken an, was wieder heißen sollte: Bawari ist ein entlegenes elendes Dorf!

Gleich darauf brachte das Boot uns alle zur Sidney zurück, wo wir sowohl die Beschädigungen des eisernen Schiffsrumpfes als auch die zerstörten Apparate in Augenschein nahmen und schließlich vor der Koje des bewußtlosen Funkers standen, dessen Körper keinerlei Verletzungen aufwies.

„… Als Täter kommt ja nur einer meiner Leute in Frage …“ warf der Kapitän ingrimmig hin. „Wie soll ich aber unter achtzig Mann diesen Lump herausfinden und wie soll ich ferner noch eine Erklärung für diese Zertrümmerung der Funkanlage …“

Harst unterbrach ihn. „Ein Racheakt, Kapitän … Was sonst?!“

„Allerdings – – was sonst?! Nur gibt’s dabei den einen heiklen Punkt, daß hier von Rache keine Rede sein kann. Meine Leute sind sämtlich bereits drei Jahre auf der Sidney, und nicht einem möchte ich eine solche Schurkerei zutrauen, nicht einem!“

Harald hatte sich tief über die reglose Gestalt des Funkers gebeugt, richtete sich wieder auf …

„Chloroform,“ meinte er gelassen. „Also eine schwere Narkose … Der Mann wird von selbst wieder zu sich kommen. Sorgen Sie nur für frische Luft … – Im übrigen bleibe ich dabei: es muß sich um einen Racheakt handeln. Hat der Funker hier einen Feind an Bord? Und wo ist Ihre Schiffsapotheke, Kapitän? Dort wird wohl Chloroform vorhanden sein.“

Wenn Harst auch alles Weitere mit größter Ruhe erledigte und prüfte, so war ihm doch anzumerken, daß der Fall ihn interessierte, nur erschien mir dieses Interesse stark gedämpft und … als Spiegelfechterei.

Bei der Untersuchung und der Vernehmung einiger Leute der Besatzung kam nichts heraus. Sie dauerte volle drei Stunden … Inzwischen hatte die Ebbe eingesetzt, und die halb auf der Sandbank liegende Sidney neigte sich, da auch ihr Heck immer mehr aus dem Wasser hervorkroch, bedrohlich auf die Seite.

Der Kapitän ließ daher schleunigst Pfähle und Baumstämme herbeischaffen – zum Abstützen des Rumpfes, damit der Dampfer nicht vollends auf die Seite kippe.

Hierbei wollte er aus der an der Kopfseite der Halbinsel angetriebenen Masse von Bäumen einige besonders dicke Stämme herausholen, was der Radscha jedoch unter der Begründung verbot, das Treibholz dort sei bereits zu dem Zwecke dort verankert, für eine spätere Aufschüttung, einen Damm, das Fundament zu bilden.

„… Die Wellen haben die Felsen zerbröckelt,“ meinte er. „Ich muß dafür sorgen, daß die steile Uferwand der Halbinsel nicht eines Tages einstürzt und mit ihr ein Teil des Schlosses. Dort drüben liegen ja gefällte Stämme.“

So wurden denn diese mit der Schiffspinasse herbeigeschleppt.

Den Leser aber möchte ich auf die Begründung des Fürsten besonders aufmerksam machen.

Mir kam sie deshalb sofort gesucht und unwahrscheinlich vor, weil Harald mich ja bereits vormittags darauf hingewiesen hatte, daß der Berg Treibholz, eine riesige grüne Insel dicht am Nordufer, dort vertäut sei. –

Gegen zwei Uhr nachmittags kehrten der Radscha und wir beide unverrichteter Sache nach dem Schlosse zurück. Oder besser – es schien so! – Harst wußte damals schon, wer den Funker erst durch einen Herzhieb betäubt, dann chloroformiert und die Radioeinrichtung gründlich demoliert hatte.

Der Funker selbst war außer Lebensgefahr, würde aber wohl noch ein paar Stunden bewußtlos bleiben. Sein Erwachen hatte Harald nicht abwarten wollen, und als er dies ganz gleichgültig äußerte, bemerkte ich auf dem Gesicht des Fürsten einen deutlichen Ausdruck von Befriedigung.

Als wir beide dann in unserem Wohngemach, dessen Decke die bereits erwähnten Spionagelöcher hatte, unsere nassen Gummimäntel ablegten, sah ich, daß Harst mit der ihm eigenen Taschenspielergewandtheit einen kleinen Gegenstand aus dem linken Ärmelaufschlag seines Mantels zog und in die Jackentasche gleiten ließ.

Dann ereignete sich ein Zwischenfall, der so unerklärlich und so ohne jeden Zusammenhang mit den bisherigen immerhin noch harmlosen Ereignissen zu sein schien, daß selbst mein Freund dazu ein außerordentlich erstauntes und überraschtes Gesicht machte.

Der Zwischenfall war folgender …

 

4. Kapitel.

Der Amokläufer.

Urplötzlich flog die Tür auf …

Mit einem tierischen Geheul stürzte ein Inder herein, der völlig nackt und über und über mit Blut besudelt war. Auf der Brust hatte der Kerl mehrere tiefe lange Schnitte, ebenso auf der Stirn …

In der Rechten hielt er ein langes breites Messer, wie es in den Dschungeln zum Freimachen des Weges von hindernden Ranken benutzt wird.

Der Schaum vor dem Munde des hageren braunen Burschen, das gräßlich verzerrte Gesicht und die weit aufgerissenen Augen ließen für den Zustand, in dem er sich befand, nur eine Erklärung zu: Es war ein Amokläufer[7], ein von blutdürstigem Irrsinn Befallener – übrigens eine Art von Wahnsinn, die gerade unter den Malaien häufig vorkommt und für die man bisher keine rechte wissenschaftliche Deutung gefunden hat.

Der gefährliche Mensch machte bei unserem Anblick einen Moment halt, stand dicht vor Harald und stierte ihn mit rollenden Augen an.

Die Situation war kritisch. Wir hatten unsere Clementpistolen soeben auf den Tisch vor dem Rohrsofa gelegt, wir waren waffenlos und hatten es mit einem Verrückten zu tun, der in diesem Anfall von Raserei über Riesenkräfte verfügte.

Ich selbst, der ich entfernter von ihm war, warf einen ebenso fragenden wie erschrockenen Blick auf Harald. Ich wußte nicht, wie wir diesem Amokläufer entgehen sollten, der, falls er uns niederstach, nicht einmal für diese Bluttat verantwortlich zu machen war.

Dann sprang der Farbige auch schon mit gellem Schrei auf Harst zu, wich dem blitzschnellen Boxhieb geschickt und schwang seinen Klewang zum tödlichen Schlag. Ich sah – es war doch kein gewöhnliches großes Buschmesser sondern eben ein malaiischer gekrümmter Klewang, ein Hauschwert. Während mir vor Entsetzen das Blut aus dem Gesicht wich, während ich wie gelähmt auf meinem Platze verharrte und mir gar nicht der Gedanke kam, zum Tische zu eilen und den Amokläufer niederzuschießen (was stets straflos bleibt, aber in den meisten Fällen insofern nicht gelingt, als diese Irrsinnigen selbst durch Lungenschüsse kaum irgendwie gestört werden), – da hatte Harald die herabsausende Waffe bereits unterlaufen und rollte sich in tollem Ringen mit dem Malaien auf dem Boden umher. –

Der Leser mag mir gestatten, hier noch ein paar Worte zu dem rätselhaften Thema „Zählebigkeit der Amokläufer“ einzufügen. Wir Europäer sind anmaßend genug, die Asiaten als „Halbzivilisierte“ anzusehen, wir brüsten uns mit Erfindungen mannigfachster Art und sind doch diesem selben Asiaten in vielem derart unterlegen, daß zum Beispiel erste ärztliche Kapazitäten bekennen müssen: Es gibt Wunder, die uns unbegreiflich bleiben. – Ich habe in diesen anspruchslosen Erzählungen schon wiederholt unsere Begegnungen und Erlebnisse mit indischen Zauberern, Yogis oder Fakiren, erwähnt. Kein Europäer bringt es fertig, seinen Herzschlag durch Willenskonzentration aussetzen zu lassen – sekundenlang! Der Inder kann’s! Kein Europäer vermag wie der freilich von plötzlichem Blutrausch befallene Malaie oder Javane mit sechs Lungenschüssen und zwei Herzschüssen noch kilometerweit dahinzurasen! – Tatsachen! Beglaubigt! – All diese Amokläufer sind Opiumraucher. Wie jedoch der opiumdurchtränkte Körper so (völlig gegen alle Regel) zählebig wird, spottet europäischer Weisheit. – Ich werde im weiteren Verlauf dieses unseres Abenteuers noch Gelegenheit haben, auch Doktor Shing Guddai als eins der seltsamsten Phänomene[8] ähnlicher Art beschreiben zu können. –

Harst und der blutende braune Kerl wälzten sich blitzschnell hin und her. Harsts Kleider zerrissen mit dem bekannten kreischenden Ton unter den Zähnen, Händen und Füßen des nackten Amoks …

Ein Eingreifen meinerseits war unmöglich …

Wenn ich nun auch die Pistole in der Hand hielt, – zum Schuß kam ich nicht.

Dann schüttelte Harald den brüllenden, geifernden Farbigen mit einem Faustschlag gegen das Kinn von sich ab, der den Kerl für Minuten hätte erledigen müssen. Der Malaie flog in eine Ecke, riß einen Wandschrank um, und … von der offenen Tür rasch hintereinander fünf Schüsse …

Der Radscha stand dort …

Schreckerstarrte Dienergesichter hinter ihm …

Der Radscha feuerte nochmals …

Der Amokläufer war hochgeschnellt, schleuderte den Klewang nach dem Fürsten … Die Klinge fuhr in die Türfüllung … Der Irrsinnige schlug nach vorn auf die Dielen, zuckte noch ein paarmal und lag still.

„Tragt ihn weg!“ befahl der Radscha mit merklich zitternder Stimme.

Die Diener schleppten den Toten hinaus.

Harald war bereits auf den Füßen. Aber – wie sah er aus …!!

Sein Anzug nur noch Fetzen, sein Gesicht zerkratzt, das linke Ohr halb abgebissen …!

Der Fürst, der mit geradezu unerhörter Gelassenheit einen neuen Patronenrahmen in seinen Browning schob, sagte entschuldigend:

„Ich bedauere es sehr, daß mein Diener Alito gerade hierher seinen dunklen Weg nahm – hier zu Ihnen, meinen Gästen. Anderseits kann ich Ihnen, Herr Harst, nur meinen Glückwunsch aussprechen, denn einem Amokläufer unbewaffnet gegenüberzustehen, ist stets sicherer Tod. – Gestatten Sie, daß ich Sie verbinde und Ihr Ohr wieder annähe. Da meine Vermögensverhältnisse mir das Halten eines Arztes verbieten, habe ich mich selbst als solcher ausbilden lassen.“ –

Eine halbe Stunde drauf lag Harald in seinem Bett, und ich saß bei ihm und kühlte ihm den zweiten Biß in den Hals, der bedenklich geschwollen war. Der Fürst hatte sich soeben verabschiedet. Harst schien sehr matt zu sein, rührte sich nicht und hielt die Augen geschlossen.

Auf dem Marmortischchen neben dem Bett brannte unter einem roten Seidenschirm eine kleine, leise fauchende Karbidflamme. Der Behälter der Lampe war wohl zu füllen vergessen worden. Das Flämmchen wurde immer matter, begann zu puffen und erlosch.

Die dicken seidenen verblichenen Fenstervorhänge waren geschlossen. Draußen tobte erneut ein Unwetter mit Blitz, Donner und schwachen Regengüssen. Im Zimmer war’s völlig dunkel.

Vom Bett her ein hastiges Flüstern …

Ich beuge mich vor, höre …

„Mein Alter, alles Schwindel – alles … Der Amokläufer war Statist hier in dem großen Weltendrama, dessen Regisseur Doktor Guddai heißt. Der Kerl, der Malaie, spielte seine Rolle famos. Es galt lediglich dem Gegenstand, den ich in der Funkerkabine der Sidney gefunden hatte. Die Tasche riß mir der Malaie ab … Der Gegenstand ist jetzt für uns verloren. Es war …“ – er machte eine kleine Pause – „es war ein Gummiabsatz, schon recht abgetreten …“

Gummiabsätze sind neuerdings beliebte billige geistige Marktware von Kriminalschriftstellern. Ein Gummiabsatz, an einem „Tatort“ gefunden, imponiert mir absolut nicht. – Hier lagen die Dinge anders. Hier hatte mich Harst soeben einen Blick in diese überschlauen, verschlagenen Asiatenseelen tun lassen, der mir erst so recht zeigte, mit wem wir zu kämpfen hatten.

Der Amokläufer … „bestellte Arbeit“, nur um den Gummiabsatz uns zu stehlen: fürwahr, das war schon mehr wie Trick, das war infernalische Gerissenheit! Niemals hätte ich dies geahnt – niemals!

Harst flüsterte weiter …

 

5. Kapitel.

Die Melone.

„…Sieh mal, mein Alter, – ich habe dir so und so oft gesagt, daß unsereiner, der mit Gefahr, Gedanken und Verbrechern jongliert, nie völlig auslernt. Es war eine ungeheure Dummheit von mir, den Absatz aus dem Mantelärmel in die Tasche gleiten zu lassen. Wir sind beobachtet worden, und die Herrschaften hier arbeiten so prompt, daß bereits Minuten später der scheinbar Tobsüchtige mich anfiel. – Natürlich hat der Radscha seine Pistole blind geladen gehabt, natürlich lebt der Mann … Das ist jedoch gleichgültig. Wichtig ist nur, daß der Fürst uns nun nicht mehr für harmlos hält … Wir werden den Fehler, den ich beging, kaum wieder ausgleichen können …“

Dann – etwas lauter, – so, als ob er soeben erst seine Mattigkeit abgeschüttelt habe:

„Ich habe Durst … Reiche mir doch die große Melone herüber … Schneide mir ein Stück heraus, zünde die Kerze an und … dann laß mich schlafen …“

Ich habe mich an Haralds seltsame Einfälle und Wünsche längst gewöhnt. Ich tat wie befohlen. Er aß ein paar Happen, legte die kürbisähnliche Frucht auf das Tischchen und schickte mich weg. – Schlafen wollte er … Ich hatte die Kerze wieder ausgelöscht …

Ging also ins Wohngemach und setzte mich an das offene Fenster.

Das Unwetter hatte seinen Höhepunkt erreicht. Der Sturm wehte die Regenmassen gegen die Südfront des Schlosses. Hier konnte man getrost das Fenster offen lassen. – Und meine Gedanken waren wie die Blitze da draußen …

Der Amokläufer ein … Statist Doktor Guddais!! Und – Doktor Guddai hatte dort im Kaimara-Sumpf, als er uns entrann, an den braunen Schnürschuhen Gummiabsätze gehabt! Ich mußte das wissen, denn ich hatte Guddai damals auf den Sessel gefesselt – auch die Füße!

Harst hatte zwar vorhin den malaiischen Arzt, diesen gefährlichen Großmeister des Ordens der Guddai, nicht im Zusammenhang mit dem in der Funkerkabine gefundenen Gummihacken erwähnt, und doch war ich überzeugt: Guddai hatte den Funker wehrlos gemacht und die Apparate zerstört.

Wozu aber?! Und – wie war er an Bord der Sidney gelangt?!

Da erschien einer der Diener nach bescheidenem Anklopfen und bat mich zu Tisch.

Die beiden Hauptmahlzeiten nahmen wir bisher stets mit dem Radscha gemeinsam ein: Mittag um halb vier, Abendessen um halb neun.

Heute war’s halb fünf geworden.

„Mein Freund schläft,“ erklärte ich leise dem Diener. „Stört ihn nicht …“

Dann ging ich in den Speisesaal hinab.

Wir saßen heute zu sechs an der Tafel, die immerhin etwas festlich, fürstlich gedeckt war: der Radscha, sein sogenannter Hausmeister, sein Sekretär und der Kapitän der Sidney, deren Erster Offizier und ich.

Der Fürst fragte nach Haralds Befinden.

„Er schläft, Hoheit …“

Der Kapitän erzählte eigene Erlebnisse mit Amokläufern.

Ich – – spielte Theater … Ich tat ganz so, als ob ich den heutigen Amokläufer bereits als reif für den Scheiterhaufen hielt – also tot.

Insgeheim beobachtete ich den Radscha. Er hatte sich in seinem Wesen nicht im geringsten verändert. Er war still, wortkarg, gemessen – liebenswürdig wie immer.

Erst nach zwei Stunden konnte ich wieder in unsere Räume zurückkehren. Was der Kapitän der Sidney über das Erwachen und die spärlichen Angaben des hinterrücks überfallenen Funkers bei Tisch mitgeteilt hatte, war sehr wenig: der Funker hatte seinen Gegner kaum recht zu Gesicht bekommen, konnte nur unklar sich besinnen, daß dieser mittelgroß, schwarzbärtig und scheinbar ein Europäer gewesen.

Dies ging mir durch den Kopf, während ich lautlos unser Wohngemach betrat und ebenso still den Vorhang nach dem Schlafzimmer lüftete.

Das Unwetter war vorbei. Es war dämmerig im Zimmer. Undeutlich erkannte ich Harsts Gesicht in den Kissen.

Er regte sich nicht. – Ob er wirklich noch immer schlief?!

Ich lauschte …

Keine Atemzüge – nichts …

Die Angst kroch mir da jäh zum Herzen, daß man ihn inzwischen vielleicht vollends abgetan haben könnte.

Mit vier schnellen Schritten war ich an seinem Bett …

Ein unheimliches Gesicht starrte mich an …

Ein Gesicht, das mit dem Haralds auch nicht die geringste Ähnlichkeit hatte …

Ein schrecklich gedunsenes Gesicht von gräßlicher Leichenfarbe …!

Mir jagte das Herz …

Dann mit einem Schlage die fast lächerliche Erkenntnis der Wahrheit:

Das Gesicht war die zu einem menschlichen Antlitz durch Perücke und Wachs (Nase und Lippen) zurechtgestutzte … Melone!

Wo war Harst?!

Und – eine neue Erkenntnis da: Er hatte diese gute Gelegenheit, wo ich unten an der Tafel saß und er scheinbar schlief, – wo wir also nicht belauscht worden waren, zu einem geheimen Ausflug in die ruinenhaften Säle der alten Burg benutzt und dort vielleicht nach der … Klavierspielerin mit dem Patschulitüchlein gesucht!!

Gedanken – – blitzartig …

Erlöschend – neu aufzuckend … –

Eine Hand legt sich auf meine Schulter …

„Ich!!“

Und er huscht zum Bett, kriecht unter die Decke …

Das Leichengesicht verschwindet, und Harald gähnt und meint ganz laut:

„Tadellos geschlafen habe ich! Jetzt stehe ich auf … Ich fühle mich sauwohl!“

Seine Stimme klingt noch heiser. Aber das tut nichts. Er ist wieder der alte, er war’s schon, als er die Melonenschnitte aß!

Weshalb gerade Melone: nun wußte ich’s! –

Er kleidet sich an, fragt nach dem Funker …

Und meint dann so nebenbei: „Übrigens hatte ich da in dem Funkerhäuschen der Sidney etwas zu mir gesteckt, das jetzt, wo der Überfallene seinen Feind als Europäer hinstellt, erst erhöhte Bedeutung gewinnt …“

Aha – ich begreife: Das redet er nicht für mich, sondern für die Spione und Lauscher!

„Durchsuche doch mal die Fetzen meines Anzugs, mein Alter … In der rechten Jackentasche wirst du einen Gummiabsatz finden …“

Theater wieder … Der Fürst soll wieder beruhigt werden, man soll uns weiter für harmlos halten!

Theater: ich durchsuche die Reste des Anzugs.

Und da … tritt Seine Hoheit ein.

Wie gerufen …

Vielleicht wirklich gerufen!!

Harald sitzt auf dem Bettrand …

Die Komödie geht weiter …

Harst sagt achselzuckend: „Ich hatte mir was den Überfall auf den Funker betrifft, nach meiner Gewohnheit einen Trumpf reserviert. Schraut scheint diese Trumpfkarte aus Gummi jedoch nicht finden zu können. Der Gegner des Funkers hat sich nämlich offenbar an der schmalen Messingleiste der Kabinenschwelle einen Gummiabsatz abgerissen, den ich in aller Stille zu mir steckte, Hoheit[9]. Es wäre schade, wenn dieser Absatz verschwunden wäre, denn durch ihn hätte ich unbedingt den Täter unter der Besatzung der Sidney herausgesiebt … – Na, Schraut, noch nichts?“

„Nein …“

„Dann suche mal nebenan im Wohnzimmer.“

Ich tat’s … Ich hörte Harst und den Radscha sich unterhalten. Ich suchte mit allem Eifer, – – um die Herrschaften, die über uns an den Löchern postiert waren, ordentlich zu narren.

Dann traten Harald und der Radscha ein. Merkwürdig – und gerade da entdeckte ich unter dem Wandschirm tatsächlich einen Gummiabsatz …

„Hallo – hier ist er!“ rief ich …

„Famos,“ meinte Harst. „Her damit … Jetzt fahren wir zur Sidney hinüber!“

Und er zeigte dem Fürsten das wertvolle Beweisstück …

„Weshalb haben Sie denn nicht sofort auf der Sidney die Schuhe sämtlicher Leute geprüft?“ fragte Seine Hoheit etwas gedehnt.

Haralds bepflastertes Gesicht versuchte zu lächeln …

„Das werden Sie sofort erfahren,“ erwiderte er ein wenig überhebenden Tones. „Ich wette, in einer Stunde liegt der Schuft in Eisen, der den Funker chloroformierte …!“

Und ich – – lächelte ganz heimlich.

Daß dieser von mir gefundene Gummiabsatz niemals derselbe war, den Harst in der Tasche gehabt: jedes Kind mußte dies erraten!

Seine Hoheit hatte diesen Absatz hier … deponieren lassen!!

Schlau, sehr schlau …

Nicht schlau genug …! –

Dann ruderten wir zur gestützten, lecken Sidney, an der sich die Besatzung eifrig abmühte, die Beschädigungen der Eisenplanken auszubessern, denn die Ebbe hatte den Dampfer nun fast völlig aus dem Wasser herausgehoben.

Und – auf der Sidney?

Lieber Leser, was dort jetzt geschah, damit will ich den zweiten Teil beginnen – recht wirkungsvoll, hoffe ich.

 

 

Hinter der Treibholzinsel.[10]

 

1. Kapitel.[11]

Der nasse Beutel.

Verspricht dieser Titel „Hinter der Treibholzinsel“ nicht so allerhand?!

Er verspricht’s und hält’s auch. –

Wir waren in der Kapitänskajüte zu fünfen: der Fürst, der Kapitän, der Erste Offizier und wir beide. – Nachdem die beiden Australier Harald ihre Glückwünsche wegen des so glimpflich verlaufenen Renkontres[12] mit dem Amokmann ausgesprochen hatten, eine Höflichkeitspflicht, der sie sich mit sichtlicher Herzlichkeit unterzogen, holte Harst den bewußten Gummiabsatz hervor, der der Größe nach ja unfehlbar von einem Männerstiefel stammte, von rötlicher Farbe war und drei Nagellöcher zeigte.

Die beiden Schiffsoffiziere der Sidney erklärten sofort, – und der Kapitän tat’s mit einiger Verlegenheit, weil er doch schließlich Harsts Weltruf als Liebhaberdetektiv gleichsam in Frage stellte –, … erklärten also übereinstimmend, daß derartige Gummiabsätze hier an Bord lediglich von dem überfallenen Funker selbst getragen würden.

Wir begaben uns also in dessen Kabine. Er lag noch zu Bett. Neben dem Bett standen seine dunkelbraunen Schnürschuhe.

Es stimmte: von dem linken Schuh fehlte der Gummiabsatz! Und der, den Harald nun neben den anderen hielt, glich vollkommen unserem „Beweisstück“.

Harst meinte scheinbar verärgert, wobei er den Ton tadellos traf: „Dann bin ich eben in diesem Falle ein Versager!“ Und er warf den Absatz auf das Klapptischchen und wandte sich an den Funker …

„Besinnen Sie sich bitte mal ganz genau … Können Sie denn über den Attentäter so gar nichts angeben?“

„Nicht mehr, als ich dem Kapitän bereits mitteilte?“

„Sie haben auch keinen Feind hier an Bord?“

„Nein …“

Harald hob die Schultern … „Dann begreife ich dieses Geschehnis nicht … Immerhin werde ich die Sache weiterverfolgen. – Der Überfall fand doch kurz nach dem Zusammenstoß mit dem treibenden Wrack statt?“

„Ja … der Kapitän hatte mir soeben Befehl gegeben, drahtlos Hilfe herbeizurufen, da wir fürchteten, der Dampfer könnte sehr schnell wegsacken. Kaum hatte ich nach Empfang dieses Befehls das Funkhäuschen oben wieder betreten, als hinter mir die Tür aufging und der Fremde eintrat …“

„Merkwürdig!“ meinte Harst kopfschüttelnd. „Nun – wollen sehen, was ich noch ausrichten kann, obwohl ich wenig Hoffnung habe, hier Klarheit zu schaffen.“

Der Erste Offizier mischte sich jetzt ein …

„Vorhin sprach ich schon mit dem Kapitän darüber, daß eigenartigerweise in den letzten drei Wochen gerade hier vor dem Küstenstrich von Bawari nicht weniger als fünf Dampfer entweder wegsackten oder auf Strand gesetzt werden mußten. All diese Schiffe hatten wertvolle Ladung und gingen verloren, da auch die, die man noch hatte auflaufen lassen, in der Brandung zerschlagen wurden. So weit ich mich entsinne, waren es drei, die hier irgendwo in der Nähe auf Strand gesetzt und von der Besatzung verlassen wurden. Nachher sollen die halb zerstörten Wracke gänzlich ausgeplündert worden sein. Ich nehme an, daß eine sogenannte Pendelströmung, die in den Seekarten noch nicht verzeichnet ist, das gefährliche Wrack, mit dem auch wir zusammenstießen, ausgerechnet vor der Bawari-Bucht hin und her treibt, so daß es eine beständige Bedrohung der südlichen Schiffsroute bedeutet. Wir werden dies dem Marineamt in Bombay melden und dringend raten, das Wrack durch einen Kreuzer torpedieren zu lassen.“

„Sehr richtig,“ pflichtete Harald bei. „Gerade diese Wracke, die halb unter Wasser dahinschwimmen, sind ja am gefährlichsten. – Nun wollen wir aber den Patienten nicht weiter stören …“

Der Kapitän lud uns, schon um den Radscha zu ehren, zum Abendessen ein.

Die Sidney hatte wie so viele moderne Frachter auch mittschiffs noch dreißig Passagierkabinen, von denen jedoch nur ein Teil belegt war.

So kam es, daß wir um halb acht mit etwa zwanzig Herren und Damen zusammen tafelten und schließlich eine recht animierte Stimmung herrschte, da die Fahrgäste inzwischen längst die Angst und Aufregungen, die der Zusammenstoß mit dem Wrack hervorgerufen, vergessen hatten. Unter den Passagieren befanden sich auch drei australische Großfarmer mit ihren Frauen, die von einem Europabummel zurückkehrten und die nicht etwa aus Sparsamkeit die Sidney zur Rückfahrt benutzt hatten, sondern lediglich deshalb, weil das prächtige Schiff unterwegs mehr Häfen als eins der schwimmenden Luxushotels anlief. Die Herrschaften hatten eben recht viel sehen wollen.

Es war nun für mich ein wenig auffallend, daß Harald ausgerechnet diese drei Familien (der Kapitän hatte uns zugeflüstert, daß sie mit zu den reichsten Leuten Australiens gehörten) besonders auszeichnete, indem er sich nach der Tafel (es wurde an einzelnen Tischen gespeist) zu ihnen setzte und den liebenswürdigen interessanten Plauderer spielte.

Die drei Damen trugen Abendtoilette, obwohl dies auf einem Frachter kaum üblich ist, wo jeder Passagier möglichst ungezwungen leben will.

Was sie noch trugen, diese drei reifen Schönheiten, war noch protziger als die eleganten Roben …

Schmuck: Perlen, Brillanten, – – jede ein Vermögen! –

Ich war am Kapitänstisch sitzen geblieben. Der Fürst, dem man einen Ehrensessel angewiesen, saß links von mir. Daß ich ihn dauernd belauerte, war selbstverständlich. Und daß ich dies in der Hoffnung tat, festzustellen, ob er nicht vielleicht mit den einzigen beiden Farbigen unter den Passagieren, zwei Kaufleuten aus Colombo auf Ceylon, insgeheim sich irgendwie verständigte, möchte ich hier besonders betonen.

Ich vermutete eben, die beiden Inder könnten gleichfalls zum Guddai-Orden gehören, und einer von ihnen könnte der Attentäter gewesen sein, denn daß Doktor Shing Guddai persönlich hier den Attentäter gespielt, hielt ich jetzt doch für ausgeschlossen. Wie sollte er, wenn er sich nicht unter den Passagieren befand, auf das Schiff gelangt und nachher wieder entflohen sein?

Schon diese letzten Sätze zeigen dem Leser, wie dunkel die ganze Angelegenheit noch war.

Und sie blieb dunkel. Der Radscha kümmerte sich um die beiden Colomboer in keiner Weise. Er unterhielt sich mit uns über ziemlich gelehrte Dinge, er war ja auch ein ebenso belesener wie vielseitig gebildeter Mann.

Erst gegen elf Uhr kehrten wir drei, der Fürst und wir, an Land zurück. Inzwischen hatte die Flut eingesetzt, und das steigende Wasser hatte die Sidney wieder mit Ausnahme des Bugs, der auf der Sandbank lag, ihrem feuchten Element zurückgegeben. Das Wetter war wie bisher: miserabel! Es goß … goß!

Im Schloß sagten wir dem Fürsten gute Nacht. – In unserem Wohngemach brannte bereits die große Karbidlampe, die einer der uns zugeteilten Diener angezündet hatte. Er fragte noch nach unseren Befehlen … Harst schickte ihn freundlich weg. Wir brauchten nichts mehr, erklärte er. Der Diener verneigte sich und ging.

Endlich waren wir nun allein.

Allein?! – Ein Irrtum! Über uns lagen sicher wieder die Spione an den Gucklöchern.

Harald gähnte … Und ich auch. Ich war tatsächlich rechtschaffen müde.

Wir zogen uns in unser Schlafzimmer zurück, sprachen über die angeregten Stunden auf der Sidney und legten uns zu Bett. Harst löschte die Kerze.

Ich ahnte, was kommen würde. Ich kämpfte mit aller Macht gegen das Schlafbedürfnis an. Aber – die Natur verlangte ihr Recht. Ich schlief ein. Und ich habe sicherlich unglaublich geschnarcht.

Ich erwachte über einem furchtbaren Donnerschlag eines nächtlichen Gewitters. Ein Blick auf das Leuchtzifferblatt meiner Uhr: halb eins! – Ich richtete mich im Bett auf …Ringsum undurchdringliche Finsternis …

Ob Harald wirklich schlief? Oder – ob ich nicht – und deshalb hatte ich ja den Schlaf zu verscheuchen gesucht! – etwas Wichtiges versäumt hatte: ihn begleiten zu dürfen!

Ich erhob mich …

Sein Bett war leer …

Also Tatsache: er war wieder unterwegs auf gefährlichen Wegen hier in dem alten ruinenhaften Steinkasten!

In meinem schwarzseidenen Schlafanzug tastete ich mich ins Wohngemach. Hier dieselbe Finsternis.

Dann draußen ein neuer Blitz …

Und – ich sah, daß eins der Fenster, die wir doch vor dem Schlafengehen geschlossen hatten, offen stand.

Das grelle Licht des Blitzes war im Nu wieder erloschen.

Trotzdem hatte ich noch den Kopf eines Menschen bemerkt, der von unten her – wahrscheinlich an einem Tau, emporturnte und vielleicht bei uns eindringen wollte – den Kopf eines bärtigen Inders.

Ich duckte mich, war neben dem Fenster …

Ich hörte das keuchende Atmen einer Männerbrust …

Sollte ich den Kerl niederschlagen?

Harald konnte es nicht sein. Haralds nächtliche Erkundigungen hatten sich bisher nur auf das Schloß beschränkt. Was hätte er auch draußen vorhaben können?!

Der Inder schwang sich vollends ins Zimmer hinein. Undeutlich erkannte ich seine Gestalt als etwas helleren Fleck vor mir – dicht vor mir …

Dann – eine Stimme – – ironisch, leise:

„Ausgeschlafen, mein Alter?“

Und Harsts Hand zog mich vom Fenster weg in das Schlafzimmer.

Er triefte … Er war in seiner Verkleidung bis auf die Haut durchnäßt. Ich vernahm deutlich das Rieseln des Wassers aus seinem dunkelbraunen Leinenanzug.

„Wo warst du?“ fragte ich.

„Bei dem Wrack,“ flüsterte er zurück.

„Wrack? Welches Wrack?“

„Das in der Pendel-Strömung vor der Bawari-Bucht treibt … Außerdem aber auch auf der Sidney …“

„Schwimmend?“

„Natürlich schwimmend und heimlich …“

Wir standen im Dunkeln …

Er drückte mir etwas in die Hand – einen nassen, prall gefüllten Beutel …

„Was ist das?“ meinte ich unsicher.

„Die Juwelen der Frauen der drei australischen Schafkönige …“

Ich glaubte mich verhört zu haben …

„Die … Juwelen?! – Ja, aber …“

„… Ich habe mich als Dieb versucht, um anderen Dieben zuvorzukommen … Ich kann dir genau sagen,“ flüsterte er hastig weiter, „was in kurzem geschehen wird … Die Balken, die die Sidney stützen und nun im Wasser stehen, werden … weggespült werden. Die Ebbe naht, und die Sidney wird um drei Uhr morgens kentern. Die dadurch entstehende Verwirrung würde der Guddai-Orden dazu benutzt haben, sein Betriebskapital durch diese Juwelen und durch die Schiffskasse zu vergrößern. – Wenn ich vorhin sagte: heimlich auf der Sidney gewesen, so stimmt das doch nicht ganz. Ich habe mich teilweise dem Kapitän anvertraut. – Jetzt werde ich mich wieder umziehen, die Wasserlachen aufwischen und schlafen gehen … Du auch!“

„Halt!“ Ich packte ihn am Arm …

„Nachher … nachher, mein Alter … Erst muß ich die Verkleidung ablegen. Ich weiß, daß du sehr viel zu fragen hast …“

Das stimmte. Und ich würde mich auf keinen Fall mit Redensarten abspeisen lassen, wie Harald sie liebt, um … seine sogenannten Trümpfe bis zuletzt in der Hand zu behalten.

Ich gab seinen Arm frei.

Da – kam der neue Zwischenfall …

Kein Amokläufer … Bewahre …!

Ein Lichtkegel sprang links von uns aus der Wand heraus …

Erlosch wieder …

Trotzdem hatte ich eine schlanke Frauengestalt in einem hellseidenen, goldbestickten Morgenrock erkannt, die durch eine uns bisher völlig entgangene Tür in der Wandtäfelung eingetreten war.

Nach dem kurzen Aufblitzen der Taschenlampe war die Finsternis doppelt drückend.

 

2. Kapitel.

Fanny Aldow.

Und in diese Finsternis hinein raunte Harald nach der Wand zu:

„Frau Aldow – bitte, keine Angst vor uns …!“

Die Begleitmusik zu diesen überraschenden Worten war das Rauschen des Regens.

Ein zarter Duft umwehte mich dann plötzlich, wurde stärker, unangenehm: Patschuli!

Diese Frau Aldow mußte jetzt dicht vor uns stehen.

„Meine Herren – – endlich!“ flüsterte die Frau überstürzt. „Retten Sie mich! Heute habe ich zufällig den geheimen Weg durch die Mauern bis hierher gefunden …! Retten Sie mich!! Der Wächter ist nicht da …“

„Frau Aldow, das wird bestimmt geschehen … Nur nicht heute …“ erwiderte Harald ebenso hastig. „Kehren Sie unverzüglich in Ihre Gemächer zurück – oder Sie verderben alles und setzen außerdem Schraut und mich der Gefahr aus, das Leben zu verlieren, für immer spurlos zu verschwinden! Gehen Sie – ich bitte Sie dringend! Wir werden Sie nicht im Stich lassen. Schalten Sie auf keinen Fall Ihre Taschenlampe hier wieder ein … Gehen Sie, eilen Sie! Ich kenne die Geheimtüren und die Gänge … Ich werde Sie retten!“

„Ich vertraue Ihnen …“ – und dann unmerkliche Geräusche des Einschnappens eines Riegels … –

Ich bin gewiß seit vielen Jahren an nächtliche Abenteuer aller Art gewöhnt, und meine Nerven vertragen so manches.

Das Auftauchen dieser Frau Aldow hier bei uns hatte jedoch selbst meine Kaltschnäuzigkeit aus dem Gleichgewicht gebracht.

Die Frau war gehorsam gegangen. – Ich fragte rasch:

„Wer ist diese Dame, Harald?“

„Fanny Aldow …“

Und – da ging mir ein Licht auf. – In Bombay war’s gewesen, kurz nach unserem Erlebnis mit Shing Guddai in den Kaimara-Sümpfen, das mit des malaiischen Doktors Flucht endete. Da hatte ich im Hotel in Bombay in der Zeitung eine Notiz gefunden, daß (und hierauf besann ich mich jetzt geradezu blitzartig!) auf dem Dampfer „Ternante“ die berühmte russische Sängerin Fanny Aldow, unterwegs nach Singapore, vor der Bawari-Bucht mit untergegangen sei. – Dieser Nachruf für die weltbekannte Sängerin war in wärmster Form gehalten gewesen.

Harald flüsterte schon weiter:

„Krieche jetzt gefälligst wieder ins Bett …! Nachher setze ich mich zu dir …“ –

Während draußen das tropische Gewitter in der Ferne nur noch mit dumpfem Grollen seinen Abzug begleitete, hatte sich Harst ganz dicht an mich herangedrückt und gab mir im vorsichtigsten Flüsterton Auskunft über das, was mir noch dunkel und unklar. Und das war eine ganze Menge. – Ich will hier seine Mitteilungen gekürzt wiedergeben. Sie betrafen:

1. Fanny Aldow, Witwe des russischen Hauptmanns Aldow, gefallen 1915 vor Warschau.

„Das Klavierspiel in dem leeren Teile des Schlosses, dessen sämtliche Räume wir scheinbar besichtigt hatten, gab mir den Gedanken ein, daß vielleicht in jenen öden Sälen sich doch noch verborgene bewohnte Gemächer befinden könnten. Bei einer nächtlichen genauen Prüfung der Wandtäfelung hier in unserem Schlafzimmer fand ich die Geheimtür. Du schliefst damals so fest wie immer, und das war gut, wie ich schon betonte. Dein Schnarchen genügt für zwei. Ich wagte mich in die in den dicken Mauern verborgenen Gänge und Treppen hinein und konnte so ermitteln, daß meine Vermutung stimmte: Im Mittelbau im ersten Stock lag vor einer Geheimtür ähnlich der unsrigen hier, ein Inder auf einer Matte als Wächter, neben sich eine brennende Laterne, einen Dolch und eine Repetierpistole. Hinter der Geheimtür vernahm ich, da ich dem Wächter kriechend bis auf fünf Schritt nahe gekommen war, erregte Stimmen: die des Fürsten und einer Frau. – In der nächsten Nacht wagte ich mich noch tiefer in dieses Labyrinth von geheimen Verbindungswegen hinein und näherte mich den verborgenen Gemächern von einer anderen Seite, stieß wieder auf einen Wächter und hörte diesmal die Stimmen Doktor Shing Guddais und derselben Frau. Guddai rief einmal sichtlich in heller Wut ihren Namen: Frau Aldow!! – Da wußte ich, daß die Klavierspielerin mit dem Patschuli-Parfüm die angeblich mit jenem Dampfer mit verunglückte Künstlerin war. – In derselben Nacht – vorgestern – traf ich vor einem dritten geheimen Zugang zu den versteckten Räumen einen dritten bewaffneten versteckten Wächter. Daher sprach ich zu dir heute auch von drei „dunklen Geistern“, wie du dich besinnen wirst. Ich meinte damit die drei Wächter. – Gestern nacht war ich abermals unterwegs. Du kannst dir denken, daß diese Ausflüge in die Geheimnisse von Schloß Bawari eine immerhin ziemlich kitzlige Geschichte waren. Viermal hätte mich Seine Hoheit beinahe dabei überrascht. Aber immer konnte ich noch rechtzeitig in eins der Gemächer schlüpfen, die wie das unsrige mit den Gängen in Verbindung stehen. Also – gestern nacht abermals … Und da konnte ich trotz des Wächters von dem englisch geführten Gespräch des Radschas und Frau Aldow etwas mehr aufschnappen. Der Fürst war außerordentlich erregt, als er der Sängerin zurief, sie würde niemals mehr diese Mauern verlassen, wenn sie nicht endlich … „gestehe“. Was sie gestehen sollte, weiß ich nicht. Aber der Fürst fügte hinzu, daß sie ja nicht noch immer hoffen dürfe, von hier zu entwischen. Es würde ihr dies ebensowenig gelingen wie zwei anderen Europäern, zwei Herren, die er hier gleichfalls gefangen halte, nur auf andere Art! – – Dies ist alles, was ich dir über Frau Aldow berichten kann, lieber Alter. Du ersiehst aus meinen Angaben, daß ich bereits vor dem Funde des Gummiabsatzes wußte, daß Guddai hier im Schlosse weilt. Wie Frau Aldow von dem Dampfer Ternante als einzige gerettet worden ist, wird sich später aufklären lassen. Jedenfalls hat sie in dieser Nacht die Geheimtüren nicht bewacht gefunden und ist bis zu uns gelangt. Der Radscha dürfte ihr gesagt haben, wo die „beiden europäischen Herren“ wohnen.“ –

2. Betrifft den Dampfer Sidney, den Gummiabsatz und die Juwelen.

„… Und nun zu dem anderen Punkt, mein Alter …: Sidney! – Dieser Dampfer ist genau so wie die fünf anderen, die der Erste Offizier erwähnte und zu denen auch der Ternante gehörte, durch ein Wrack gerammt worden. Über diese besondere Art dieses Wrackes möchte ich noch schweigen. Ich habe das Wrack gesehen. Das muß dir genügen – bis auf weiteres. – Shing Guddais geheime Machtmittel sind vielseitig und modern. Er ist, um einen etwas hintertreppenhaften Ausdruck zu gebrauchen, ein Pirat, ein Freibeuter. – Ich glaube dir’s gern, daß dir diese meine Andeutungen nicht viel Klarheit geben. Begnüge dich mit folgendem: Das, was der Erste Offizier zu erwähnen vergaß oder für unwichtig hielt: die fünf Dampfer waren genau so wie die Sidney für die britische Regierung gechartert. Sie hatten Waffen, Munition, Radioapparate und anderes als Fracht. Aber auch Passagiere, genau wie die Sidney. Die sämtlichen sechs Schiffe, die Sidney eingeschlossen, kommen auf Guddais Konto. Er hat sie versenkt oder leck gemacht und dann … ausgeplündert. Daß dabei Hunderte Menschen starben, elend ertranken, fiel bei ihm nicht ins Gewicht, denn bei seinen Plänen handelt es sich um Millionen von farbigen Asiaten, die er zu Herren der Welt erheben will. Asiens uralte, nein, älteste Kultur soll wieder an der Spitze marschieren und Europa eine asiatische Kolonie werden. – Mit der Sidney glückte ihm der Streich nicht so recht. Sie lief mit schwerer Havarie hier in die Bucht ein. Absichtlich hat der Fürst als treuer Anhänger Guddais die Sidney dort auf die Sandbank führen lassen, die nach Norden zu steil abfällt. Die Sidney sollte kentern. Das merkte ich sofort. Und sie wird kentern, denn Guddai will es so, wie ich es in dieser Nacht aus seinem eigenen Munde hörte. Sie wird kentern, und dann wird sie geplündert werden: des Kriegsmaterials in ihrem Laderaum wegen! Nebenbei sollten noch die Juwelen geraubt und die Schiffskasse geleert werden – sollten. Es wird nicht geschehen. Die Juwelen habe ich hier, und den Kapitän der Sidney habe ich gewarnt, ohne ihn vollkommen einzuweihen, denn eine einzige Unüberlegtheit meinerseits, und wir beide, Frau Aldow und sämtliche Leute der Sidney leben keine zwölf Stunden mehr. – Was den Gummiabsatz betrifft, den ich fand: er gehört Guddai – bestimmt. Guddai war an Bord der Sidney, betäubte den Funker, damit der Dampfer nicht drahtlos Hilfe herbeirufen könnte. Wie er auf die Sidney gelangte und sie wieder verließ, das hängt mit dem „Wrack“ zusammen. – Du wärest berechtigt mich zu fragen, weshalb ich es zulasse, daß die Sidney durch Wegstoßen der Stützen zum Kentern gebracht wird. – Antwort: Täte ich’s, so wüßten Guddai und der Radscha, daß ich das Spiel durchschaut habe, dann würden wir alle insgesamt … abgeschlachtet werden. – – So, und nun, denke ich, hast du kaum noch etwas zu fragen, es sei denn, daß du dir nicht selbst sagen kannst, daß der Fürst den Gummiabsatz von dem Schuh des Funkers selbst entfernt hat – also den Absatz, den du fandest, und daß er mich auf diese Weise, durch den Amokmann und den zweiten Gummiabsatz, täuschen wollte. Wollte … denn Absatz Nummer zwei, den du hinter dem Wandschirm entdecktest, glich dem ersten nur ganz ganz entfernt. – Jetzt werden wir schlafen. Keine Widerrede … Denn wir werden doch sehr bald wieder geweckt werden, nämlich nach dem Kentern der Sidney, wenn die Besatzung und die Passagiere hier im Schloß untergebracht werden müssen. – Gute Nacht.“

Ich war allein auf meinem Lager.

Aber – – schlafen?!

Ich versuchte Ordnung in meine wild aufgescheuchten Gedanken zu bringen …

Was war das alles nur für ein bunter blutiger Knäuel von Geschehnissen?!

Guddai – – Pirat?! Guddai, den wir einst als biederen Steuermann Gabru kennengelernt hatten – – Freibeuter?!

Und – – das Wrack in der Pendelströmung?! – Harst hatte es gesehen?!

Und – – die anderen fünf gerammten Dampfer …?! Frau Aldow gerettet – – wie?!

Schlafen – – ich – – nach alledem?!

Unmöglich!

Ich lag da, den Kopf in die Hand gestützt und sann und sann …

Und dieses Grübeln endete schließlich mit der Gewißheit, daß Harst und ich hier ein verwegenes Hasard mit unserem und dem Leben von weiteren hundert Menschen – von der Sidney – riskierten …

Daß wir auf einem Pulverfasse saßen und jeden Moment in die Luft fliegen konnten! –

So mochte ich etwa eine Stunde gelegen haben, als ich wieder den Patschuli-Duft spürte und dann eine weiche Frauenhand über mein Gesicht glitt …

Fanny Aldow …!

Eine weiche Stimme flüsterte:

„Sind Sie wach, mein Herr? – Ich kann nicht zurück in mein Schlafgemach … Die Wächter sind wieder da …“

 

3. Kapitel.

Ein kleiner Scherz …

Harst schlief.

Frau Aldow saß auf meinem Bettrand.

Es war wirklich wieder eine tolle Nacht!

„Mein Herr, ich kenne Ihren Namen nicht …“ raunte die Sängerin in einer Angst, die ihre Stimme vibrieren ließ. „Der Fürst sprach stets nur von zwei Europäern, die …“

„Ich weiß, Frau Aldow … – Ich werde meinen Freund wecken,“ unterbrach ich sie, denn jede Sekunde war hier kostbar. „Und – unsere Namen: Harst und Schraut!“

Ich merkte, daß sie sich noch näher zu mir beugte. „Wie – – Harald Harst, – – unmöglich!“ Aber dieses „Unmöglich“ klang ganz so, als ob sie sich heimlich doch an die Hoffnung klammerte, gerade einen Harald Harst könnte ihr ein gütiges Geschick in den Weg geführt haben.

„Es ist so,“ erklärte ich nur …

Sie erhob sich, und ich in meinem Schlafanzug schlürfte zum Lager des Freundes.

Meine tastende Hand fühlte etwas Kühles, Rundes …

Den Melonenkopf!!

Harst war nicht da …

„Er ist … unterwegs,“ hauchte ich Frau Fanny ins Ohr.

„Wohin?“ – und sie gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen, – ich war ja nur zweite Garnitur!

„Wenn ich’s wüßte, Frau Aldow! Er liebt es, das Schwierigste allein zu erledigen. Aber – – fürchten Sie nichts. Ich habe immerhin von ihm so manches gelernt. Die Wächter vermuten Sie in Ihrem Gemach?“

„Ja … Ich habe zwei Räume. Nebenan liegt ein dritter, in dem ein mir unbekannter Farbiger wohnt. Als ich vorhin hier war, fand ich eine der Geheimtüren zum ersten Male unbewacht … Bisher hatte ich keinen Schritt ins Freie tun dürfen, war eine streng bewachte Gefangene. Heute nacht …“

„Schon gut, Frau Aldow … Warten Sie …“

Ich glitt auf die Zimmerecke zu, wo unsere Koffer standen. Aber als ich in Koffer Nr. 2 nach etwas ganz Bestimmtem suchte, fand ich es nicht. Trotzdem mußte ich’s wagen …

Auf dem Waschtisch ein Zerstäuber …

Ersatz für das Fehlende …

Das Haarwasser goß ich aus, füllte eine andere Flüssigkeit in den Glasbehälter. Alles nach dem Gefühl, alles ohne Licht, alles im Eiltempo.

Dann mußte Frau Aldow vorausgehen. Zum ersten Male betrat ich die Gänge und Treppen dieses Fuchsbaues von Radschaschloß.

Frau Aldow benahm sich außerordentlich gewandt, bedeckte die Linse ihrer eingeschalteten Taschenlampe zumeist mit der Hand …

So kamen wir schließlich in eine gerade lange Strecke des muffigen dumpfen Geheimganges, dessen dunkle Wände in weiten Flächen weißliche Pilzbildungen zeigten, so feucht war es auch hier. Eine feuchtwarme, modrig riechende Luft benahm mir fast den Atem.

In der Ferne schimmerte ein trübes Licht …

Der Wächter …!

„Warten Sie hier …!“ flüsterte ich und – begann zu kriechen.

In meinem schwarzen Schlafanzug, in meinen weichen Morgenschuhen kam ich auf diesem feuchten Fliesenboden schnell vorwärts, brauchte den Inder dort vor mir auch nicht allzu sehr als Hindernis zu fürchten, denn der hagere Kerl mit dem schwarzen Bart rauchte neben seiner Laterne auf der Matte hockend eine langstielige Pfeife, die fraglos nicht nur Tabak, sondern auch Opium enthielt.

Der Farbige glotzte stier vor sich hin. Hinter ihm sah ich die Umrisse der kleinen Geheimtür.

Der Mann befand sich zweifellos infolge des Opiums bereits im sechsten Himmel. In den siebenten verhalf ich ihm durch den Zerstäuber. Als er jetzt seine Pfeife frisch füllte und sich dabei ein wenig bewegte – ich lag drei Schritt von ihm entfernt, und eine halbe Kopfwendung hätte mich verraten –, – da bediente ich den Druckball des Zerstäubers, und der feine Sprühregen des Saftes der Kiatipflanze, aus der man in Europa erst seit zwei Jahren das blitzartig betäubende Kiatin gewinnt, ergoß sich im Bogen über sein edles Haupt. Ich selbst hielt den Atem an und schob mich schleunigst wieder rückwärts …

Beobachtete den Wächter …

Jetzt mußte er unbedingt umsinken …

Jetzt …

Aber – was in aller Welt bedeutete das?!

Er … wandte langsam den Kopf …

Ich sah sein Gesicht von vorn …

Er grinste …

Harst!! Bei Gott, Harst …!!

Er nickte mir zu …

„Ich habe das Kiatin selbst benötigt,“ meinte er gemütlich. „In die rechteckige Kiatin-Flasche hatte ich Alkohol gefüllt … Immerhin wird der Inhalt noch den sauren, penetranten Geruch des Kiatins beibehalten haben. Das hat dich getäuscht, mein Alter.“

Er erhob sich …

Frau Aldow trat neben uns …

„Herr Harst …?“

„Ach, ich liebe so kleine Scherze, Frau Aldow. Ohne sie wäre unser Abenteuerdasein mit der Zeit nur eine Skatpartie mit miserablen Gegnern …“

Ich mit meinem harmlosen Alkoholzerstäuber in der Linken kam mir überaus töricht vor. Ich hatte hier ein Bravourstückchen leisten wollen, und was war daraus geworden: ein … „kleiner Scherz“ …!! Von der Sorte der Haraldschen Scherze, die ich nie geliebt habe.

Frau Aldow streckte Harald die Hand hin …

„Oh – wie ich mich freue!!“ meinte sie nur …

„Dazu haben Sie augenblicklich auch guten Grund, Frau Aldow, denn Sie können nun wieder in Ihr Schlafgemach hinein, obwohl Ihr Bett besetzt ist … Der Wächter liegt darauf, der hier saß. Das Kiatin wirkt gewöhnlich für zwei Stunden, und wenn unsere Ärzte es erst mehr ausprobiert haben, wird es unfehlbar Äther, Chloroform und Ähnliches vollkommen verdrängen. – Übrigens kamen Sie vorhin an mir vorüber, Frau Aldow, nachdem Sie den Eingang hier versperrt gefunden und eine gute Viertelstunde unschlüssig drüben vor einer der anderen Geheimtüren verbracht hatten. Doch – über all das sprechen wir besser mit denen, die es am nächsten angeht. Folgen Sie mir nur …“

Er drückte die Geheimtür auf …

Laue parfümierte Luft … Eine rosa Ampel … Jeder nur erdenkliche Luxus in diesem Schlafgemach der gefangenen Sängerin … Auf dem Bett aber reglos der Wächter …

Ich konnte eine Bemerkung über diesen goldenen Käfig, den der Fürst für die berühmte Fanny Aldow hergerichtet hatte, nur deshalb unterdrücken, weil mir anderes durch den Kopf ging …: „mit denen, die es am nächsten angeht …“ hatte Harald gesagt.

Wer war dies?

Mir blieb keine Zeit zum Nachdenken.

Er hatte schon die weiß lackierte und mit köstlichen bunten Mosaikmedaillons verzierte Verbindungstür nach dem Nebenraum geöffnet.

Derselbe Luxus … Ein Stutzflügel … Gemälde, kostbarste Teppiche: aber auch hier kein Fenster, nur Karbidlampen in elegantester Ausführung …

Blendende Helle …

Eine Lichtfülle, die in die Augen stach …

Und dort vor dem mit Büchern und Zeitschriften bedeckten, überreich geschnitzten Tisch zwei hochlehnige Sessel, zwei Männer darin …

Zwei Augenpaare, die uns drei anfunkelten in ohnmächtigem Grimm …

Kein Wunder …

Seiner Hoheit dem Radscha Bara Dhug Chassi (was etwa „Herr der Sonnenküste“ bedeutet) war es bisher sicherlich unbekannt, wie unbequem es ist, an seinen Sessel festgebunden zu sein und einen Knebel im Munde zu haben.

Und der zweite, weit kleinere braune Gentleman mit dem faltigen, klugen Gesicht, der Herr Doktor Shing Guddai oder Steuermann Shing Gabru, mochte zurzeit peinlichen Erinnerungen nachhängen, da er ja im Granitturm im Kaimara-Sumpf ähnlich hilflos uns gegenüber gesessen hatte.

Neben mir rief Fanny Aldow – und der Ton ihrer Stimme ließ so allerhand Deutungen zu:

„Mein Gott – – der Fürst!“

Harst sagte und zeigte in die Diwanecke, wo auf dem tigerfellbedeckten Ruhelager nicht weniger als fünf andere Inder wie Tote, Beine und Arme in wunderlichen Stellungen, dalagen.

„Das sind die fünf Vertrauten dieser beiden Herren“, meinte Harst erklärend. „Der sechste benutzt Ihr Bett, Frau Aldow. Ich hatte es etwas eilig, und der Diwan ist auch so schon stark belegt …“

Dann mit einer Handbewegung: „Nehmen Sie Platz, Frau Aldow … Auch du, mein Alter … So …“ – er rückte sich einen Hocker näher … setzte sich.

Ich kenne ihn. Wenn er so überaus ironisch ist, dann hat der Feind verspielt.

Er nahm seinen angeklebten Bart und den Turban ab und glättete sich den etwas lichten, angegrauten Scheitel …

„Schraut, deine Pistole …!“

Ich holte sie hervor.

„Sobald einer der beiden Herren da rufen sollte, was freilich hier in diesen drei Gemächern ziemlich zwecklos ist, schießt du … Ich will aber vorsichtig sein, denn so ganz schallsicher sind diese Mauern doch nicht. Wir hörten ja Ihr Klavierspiel, Frau Aldow. – Jetzt nimm den Herren die Knebel ab …“

Er saß neben einem jener aus Kupfer hergestellten Tischchen, die zumeist nur noch als Museumsstücke anzustaunen sind. Auf dem Tischchen standen ein Silberkästchen mit russischen Zigaretten und anderes: Feuerzeug, Aschenschalen, ein Rauchverzehrer …

Er zündete reichlich umständlich eine der Zigaretten an, prüfte den Geschmack und wandte sich an Frau Aldow: „Eine vorzügliche Marke … Aus Tiflis von den Gebrüdern Kebantschow … – Entschuldigen Sie, Frau Aldow, ich hätte Ihnen zuerst den Silberkasten reichen sollen …“

„Ich danke!“ – das war ein unfreundlicher gereizter Ton …

Ich setzte mich wieder. Harst lächelte sanft.

Der Radscha rief ärgerlich: „Weshalb dieses fade Geschwätz, Herr Harst! Beginnen Sie! Sie wollen uns nur zeigen, daß Sie jetzt die Situation beherrschen!“

„Ich habe Zeit, Hoheit … Sehr viel Zeit … Ich weiß durch meine nächtlichen Erkundigungsgänge, daß nur Sie, Doktor Guddai und die von mir mit der Kiatin-Zerstäuberspritze bewußtlos gemachten sechs Inder diese Räume kennen und daß ohne Doktor Guddai das merkwürdige „Wrack“ der Sidney nicht mehr gefährlich werden kann. Zurzeit wird Doktor Guddai, der als „Gabru“ hier Unterschlupf gefunden hat, in dem Hafen des Wrackes bereits sehnsüchtig erwartet. Daß ich vorhin Ihren Kriegsrat dort in Guddais Gemach, an dem eben auch die Wächter, die einzig mit Eingeweihten, teilnahmen, ein wenig störte, war meine Revanche für den famosen Amokläufer. – Wir haben noch nicht Gelegenheit gehabt, Hoheit, über all diese Dinge zu plaudern … Ich plaudere gern mit geistvollen Leuten. – Sehen Sie, Hoheit, vorhin erschien Frau Aldow bei uns, sagte, der Wächter vor der einen Geheimtür sei nicht da … Das gab mir zu denken, Hoheit. Ich nahm an, daß Sie und Doktor Guddai und die anderen sechs, die hier die einfachen Diener spielen, in Wahrheit aber leitende, verantwortliche Stellen im Guddai-Orden bekleiden, – also daß Sie acht nochmals beraten wollten, wie Sie die Geschütze von der Sidney ebenfalls an sich bringen könnten. Als ich Frau Aldow zurückschickte, war einer von Ihnen acht doch bereits wieder vor dem Schlafgemach der Dame auf Posten. Ich – war auch auf dem Posten … Ich ließ Frau Aldow an mir vorüber, der Wächter litt plötzlich an Schlafsucht, und ich drang hier ein … Meine unangenehm prompt wirkende Spritze … – pardon, das ist Ihnen ja bekannt, Sie waren Zeugen …“

Der Fürst starrte jetzt unausgesetzt Frau Aldow an. Sein Gesichtsausdruck hatte sich wieder verändert … Das tief Melancholische seiner Züge, seiner Augen trat deutlich hervor. Er schien kaum hinzuhören auf das, was Harald sprach … Seine Aufmerksamkeit für die berühmte Sängerin erschien mir recht eigenartig. Seine Blicke hatten fast etwas Flehendes. Und ganz leise regte sich da in mir der Argwohn, der Radscha könnte diese blendend schöne, rassige Frau mit dem prächtigen aschblonden Haar doch vielleicht nicht lediglich des Ordens wegen eingekerkert haben.

Harsts Worte plätscherten weiter …

„Hoheit, Sie und Doktor Guddai sind Feinde Europas … Ihre Pläne sind vielleicht das Gigantischste, was je Menschenhirne ausgebrütet haben. Sie beide als die Hauptakteure in dem noch im Stadium der Anfangsproben befindlichen Dramas „Der Untergang Europas“ sind durch mich wesentlich gestört worden. Ein guter Gedanke also, Schraut und mich hier nach Bawari – in die Höhle des Löwen – einzuladen. Nur – die Durchführung war fehlerhaft, Hoheit. Zunächst zum Beispiel die Geräusche in den Kellern, der Motor der Lichtanlage: Ein ganz böser Fehler! – Ich könnte Ihnen Ihre kleinen Versager Punkt für Punkt aufzählen …“

Er tat ein paar Züge aus der Zigarette …

Da sagte Doktor Shing Guddai, der jetzt ein lächelnder, recht überheblicher Gefangener war: „Ihre Eigenarten sind mir nicht fremd, Herr Harst … Ihre lange Vorrede soll nur Ihren Freund Schraut etwas auf die Folter spannen. – Herr Schraut, es gibt kein Wrack in einer Pendelströmung vor der Bawari-Bucht, es gibt nur ein U-Boot, das uns gehört und das die Schiffe gerammt hat!“

Harst schaute mich an. „Schade, mein Alter … Doktor Guddai macht das alles so plump. Ich hätte dir diese Weisheit tropfenweise beigebracht. So wirkte sie gar nicht …!“

Er irrte sich. Sie hatte gewirkt … Ich saß da und … schämte mich!

Daß ich nicht von selbst auf den Gedanken gekommen, nur ein U-Boot könnte hier benutzt worden sein: Eine Blamage für mich!!

 

4. Kapitel.

Guddais Abschied.

„… Ein U-Boot!“ nickte der braun gefärbte Harst und seufzte leicht … „Wie schön hätte ich so allgemach Frau Aldow und dich auf die einzig richtige Spur bringen können! – Guddai, Sie sind ein Stümper …!“

Die dünnen Lippen des Malaien verzogen sich geringschätzig. Aber er schwieg.

„Nun muß ich als Grobschmied arbeiten,“ fügte Harst in demselben Tone hinzu. „Also – das U-Boot ist das englische U-Boot E 111, das anscheinend bei seiner vierten Probefahrt verunglückte und irgendwo auf dem Meeresgrund des Atlantik ruht. Als dies vor drei Monaten geschah, ganz England trauerte um den Verlust von dreißig wackeren Unterseeleuten, da befand sich Seine Hoheit mit seiner Jacht zufällig an der englischen Küste. Das sagt genug. Nun liegt dieses U-Boot hier unter dem Schlosse in dem natürlichen Felsenhafen, dessen Eingang die grüne gewaltige Treibholzinsel verdeckt. Damit das Geräusch der äußerst kräftigen Motoren des U-Bootes, die einmal gründlich nachgesehen werden mußten, nicht zum Verräter würde, wurde die … neue Lichtanlage vorbereitet.“

Guddai lächelte noch immer …

Nicht mehr geringschätzig, sondern etwa so wie ein Erwachsener, der den kindlichen Vorwürfen eines unreifen Knaben lauscht: Harst!

Dieser Harst sagte achselzuckend: „Die verankerte Masse Treibholz war eine grobe Dummheit … Ich mußte notwendig nach einer Erklärung dafür suchen, weshalb dieses Treibholz sich nicht weiterbewegte, obwohl Ebbe und Flut hier in der Bucht reißende Strömungen erzeugen. Ihre Erklärung, Hoheit, war doch zu fadenscheinig. Ich riet auf eine Wassergrotte unter dem Schlosse, und von diesem Einfall bis zu der Annahme, E 111 könnte jetzt den grimmigsten Feinden des britischen Weltreichs gute Dienste leisten, war es nur ein Katzensprung. In dieser Nacht war ich in dem Felsenhafen, belauschte Sie, Doktor Guddai, sah das U-Boot … – Doch das ist eigentlich kaum erwähnenswert. – Sie waren jedenfalls an Bord der Sidney, Doktor Guddai, Sie betäubten den Funker, Sie verloren den Absatz, Sie flüchteten auf das U-Boot zurück, nachdem die Apparate zerstört waren. Sie sind der Pirat, der bisher sechs Dampfer rammte, außerdem wohl noch ein paar verschiedene Segler. Und ich – – bin Europäer und muß Ihrem Treiben ein Ende machen, muß Europa davor bewahren, daß in Ihnen ein neuer Attila ersteht, der mit seinen Hunnen, also mit Ihren Asiaten, der weißen Rasse fernerhin Gesetze diktiert.“

Guddai, der Malaie, lächelte …

Der Fürst hatte jetzt die Augen geschlossen und schien zu schlafen …

Harald blickte hin – blickte schärfer hin …

Sprang auf …

Trat zu dem Sessel des Fürsten …

In demselben Moment stieß Frau Aldow Harst beiseite …

Ich sah, daß Seiner Hoheit melancholisches Haupt schlaff zur Seite gesunken war … Der Mund stand halb offen …

Auch ich schnellte empor …

„Er ist ohnmächtig geworden!“ schrie Fanny Aldow angsterfüllt.

Und da – die kalte klare Stimme Guddais:

„Er – – ist tot!“

Harst band den Fürsten bereits von dem Sessel los …

Und zu Frau Aldow gewandt: „Wenn Sie den Radscha lieben, so hätten Sie ihm sofort verraten sollen, wo sich Ihr Schmuck befindet, der auf Erden nicht seinesgleichen hat, da ich persönlich fest davon überzeugt bin, daß die Gerüchte auf Wahrheit beruhen, die letzte russische Kaiserin habe Ihnen, ihrer Vertrauten, vor der Verhaftung der Zarenfamilie ihre Juwelen oder doch den größten Teil davon geschenkt. Der Fürst wieder, der Ihnen zwei Monate von Stadt zu Stadt folgte und Ihnen immer wieder seine Hand anbot, wie mir eine erregte, sehr laute Szene zwischen Ihnen beiden verriet, – dieser hier urplötzlich von einem Herzschlag hingeraffte Mann von hohen Geistesgaben war immerhin nur ein Werkzeug, ein Sklave eines Mächtigeren: Doktor Guddais! Wenn der Radscha also Ihre Juwelen verlangte, so gehorchte er nur seinem Ordenseid. Sie hätten sich und ihm viel erspart, wenn Sie die Wahrheit gesagt haben würden …“

Frau Aldow war aufschluchzend neben dem Sessel des toten Fürsten in die Knie gesunken …

Und ich – ich dachte schmerzlich bewegt, daß also auch noch das hehrste Gefühl, das den Menschen von der Natur ins Herz gepflanzt ist, hier in diesem Rassendrama ein Wörtlein mitsprach: die Liebe!

Fanny Aldow weinte leise …

Ihre Hände hielten die schlanke starre braune Hand des fürstlichen Melancholikers umklammert, dessen Seele sich vielleicht in heißem Verlangen nach dem Besitz dieser berühmten, reizvollen Frau verzehrt hatte. –

Doktor Shing Guddai sagte da gedämpft:

„Herr Harst, ich gehöre nicht zu den Leuten, die etwas hinausschieben, das unabwendbar ist. Ich erkläre mich für besiegt. Ich erkenne auch an, daß Sie als Europäer mich den Behörden ausliefern müssen. Meine Strafe wäre der Strang. Ein Shing Guddai läßt sich nicht aufknüpfen …“ – Seine Stimme sank immer mehr zu einem seltsamen Flüstern herab, das in seiner monotonen Gleichmäßigkeit, man könnte sagen Farblosigkeit merkwürdig erregend war, etwa wie die wenigen schrillen Takte einer Negermusik, die sich beständig wiederholen. „Meine Herren, der Fürst ist gestorben, weil ich es wollte …“ sprach der Malaie weiter. „All meine Ordensbrüder, die mit mir persönlich in Berührung gekommen sind, unterliegen meinem Einfluß. Auch ich werde sterben. Aber mein Tod ändert nichts an dem, was kommen muß. Mein Nachfolger ersteht mir in demselben Moment, wo ich dahinwelke, genau wie der Taschi-Lame der Buddhisten nie sterben kann. Somit ist auch dieser Erfolg hier für Sie nur ein Scheinerfolg. – Leben Sie wohl, meine Herren … Ich habe Sie als Gegner stets geachtet, und als Europäer hätte ich nicht anders gehandelt als Sie …“

Er schloß die Augen … Seine Brust hob sich zu einem letzten gurgelnden Atemzug. Dann verfiel sein Gesicht gleichsam, die Schatten des Todes breiteten sich darüber aus und langsam sank auch ihm der Kopf zur Seite.

Frau Aldow schrie vor Grauen auf und stierte den zweiten Toten dieser geheimnisvollen Nacht mit entsetzten Augen an … dann … wurde sie ohnmächtig.

Zehn Minuten drauf hatten wir festgestellt, daß das ganze Schloß außer uns und der Frau Aldow und den sechs Gefangenen kein lebendes Wesen mehr beherbergte. Die zahlreiche Dienerschaft war verschwunden.

„Fernwirkung des Einflusses Doktor Guddais,“ erklärte Harst dem Kapitän der Sidney, der dazu skeptisch lächelte.

Ich lächelte nicht. Ich hatte in Indien schon ähnliche Dinge erlebt.

 

5. Kapitel.

Das Gesicht im Helm.

Ein neuer Regentag war angebrochen.

Die Besatzung der Sidney war bewaffnet worden. Unten in der riesigen Wassergrotte, die nicht nur dem U-Boot als Hafen, sondern den Guddais auch als Waffendepot gedient hatte, war übergenug an Gewehren, Pistolen und Schnellfeuergeschützen vorhanden.

Nicht vorhanden war das U-Boot.

Und als Harald dem Kapitän der Sidney nun vorhielt, das Doktor Guddai dem Boot unmöglich persönlich den Befehl übermittelt haben könne zu flüchten und daß es doch noch vor wenigen Stunden angriffsbereit in der Grotte vertäut gewesen, um der Sidney den Todesstoß zu versetzen, da zuckte der Australier verlegen die Achseln … Das Lächeln war ihm vergangen. –

Um zehn Uhr vormittags hatte Harald mit Frau Aldow in meiner Gegenwart in dem jetzt von vierzig Matrosen besetzten Schlosse eine kurze Unterredung. Frau Aldow gab zu, daß sie ihre Juwelen, deren Wert sie auf fünf Millionen schätzte, stets durch ihren Sekretär auf ihren Konzertreisen befördern ließ und daß dieser Sekretär, ein Russe, sich aus Vorsicht auf dem Zweimaster Bellard in Bombay nach Colombo eingeschifft und die Juwelen im doppelten Boden seines Koffers mit sich geführt habe. – Frau Aldow war infolge des Todes des Radschas seelisch vollständig gebrochen. Am liebsten hätte sie an der Leiche des heimlich Geliebten Totenwache gehalten, aber Harald hatte beide Leichen auf die Sidney schaffen lassen, wo sie in einer engen Vorschiffkammer scharf bewacht wurden.

Inzwischen hatten die beiden Funker der Sidney mit Hilfe einiger Passagiere die in der Wassergrotte gleichfalls aufgefundenen Radioapparate, auch einen Sender, hergerichtet und mit Bombay Verbindung bekommen. Harst, der die Schiffsoffiziere und die Funker zu strengstem Stillschweigen verpflichtete, ließ eine von ihm entworfene Depesche nach Bombay abgehen, denn es mußte ja unbedingt vermieden werden, daß die Öffentlichkeit sich vorschnell mit den Vorgängen hier in Bawari beschäftigte.

Jedenfalls hatten wir bis zum Nachmittag alle Hände voll zu tun. Ich kam in der Tat kaum recht zur Besinnung, weiß nur noch, daß mir damals die Stunden wie im Fluge dahinglitten.

Es war sechs Uhr, als Harst dann die beiden Leichen wieder nach dem Schlosse überführen und dort aufbahren lassen wollte. Als die Vorschiffkammer geöffnet wurde, drang uns bereits starker Verwesungsgeruch entgegen, bei dieser lauen Hitze kein Wunder weiter. – Um acht Uhr waren die Toten in einem der Säle aufgebahrt. Aus der nahen Stadt Bawari waren eine Anzahl Hindupriester erschienen, die nun zusammen mit zwölf Matrosen die Totenwache übernahmen. Harald fürchtete noch immer, die Leichen könnten von den fanatischen Hindus gestohlen werden. –

Am nächsten Morgen sieben Uhr lief ein großer englischer Zerstörer, von Bombay kommend, in die Bucht ein. An Bord befanden sich der Marinekommandant und der Chef der politischen Polizei. – Was sich weiter abspielte, hat in allen englischen Zeitungen gestanden und auch in einigen deutschen Blättern – stark gekürzt, da den deutschen Redakteuren offenbar Doktor Guddais Orden und dessen Pläne zu unwichtig erschienen. Gott ja – Asien, Indien liegt so weit … Und Bawari und ein Malaie, dessen Leiche mit einem Male in Staub zerfällt, – – wen interessiert das in Deutschland?!

In Staub zerfällt …! So war’s! – Die beiden hohen Bombayer Beamten wünschten die Toten zu sehen, die mit karbolgetränkten Tüchern bedeckt waren. Als diese Tücher entfernt wurden, lagen auf den beiden Bahren nur noch graue Staubteilchen in Form menschlicher Gestalten. –

Ich schildere dies absichtlich in aller Nüchternheit. – Ein Diebstahl der Leichen war ausgeschlossen gewesen. Die Hindupriester, über dieses Wunder befragt, schwiegen und blickten an uns verhaßten Weißen vorüber ins Leere. Um ihre Lippen spielte ein unmerkliches Lächeln, – – das Lächeln der Mördergöttin Thug oder Bhowani[13], jenes Rätsellächeln, das man nie vergißt, wenn man die vergoldete Statue der Bhowani auch nur ein einziges Mal im Museum in Kalkutta gesehen hat. –

Drei Tage später war die Sidney wieder flott und setzte ihre Fahrt nach Colombo fort.

Der Zerstörer aber, der auch zwei Tiefseetaucherausrüstungen aus Bombay mitgebracht hatte, ankerte bei ruhigem Wetter vierzig Seemeilen vor der Bawari-Bucht auf der sogenannten Lindneeß-Untiefe. Hier lag nämlich, sechzig Meter Wasser über sich, der Zweimaster, der die Juwelen Frau Aldows mit hinab auf den Meeresgrund genommen hatte. Die Stelle, wo das U-Boot ihn gerammt, konnte uns der einzig Überlebende der Besatzung bezeichnen.

Diese Schlußepisode von „Shing Gabru, der Pirat“ steht nur in losem Zusammenhang mit unserem Ringen gegen den genialsten und großzügigsten aller Verschwörer, nur ein Faden verbindet diese Episode mit dem rätselvollen Geschehen in Bawari.

Der Leser besinnt sich, daß ich bereits in einem der letzten Bände, in dem Höllentor von Adagaru, berichtet habe, wie Harst und ich in Tiefseetaucherausrüstungen in das Meer hinabgestiegen waren und wie wir damals mit genauer Not dem entsetzlichen Erstickungstode entgingen.

Jetzt wollten wir Frau Aldows Juwelen aus dem Wrack des Zweimasters heraufholen.

Vormittags elf Uhr wurden wir in den Panzeranzügen hinabgehißt, fanden auch sofort das Wrack und drangen in die Heckkajüte ein, wo Harst den Koffer zerschnitt und sich dann von mir die Stahlkassette auf den Rücken binden ließ. Wir waren bereits vom Schiffsrumpf wieder in das Gewirr der Tiefseepflanzen hinabgeglitten, wobei mir ein langer Bootshaken gute Dienste geleistet hatte, als ich nochmals einen Blick nach oben zur Reling zurückwarf …

Harst stand halb hinter mir …

Ein greller Lichtschein dort oben … ein dritter Taucher – elektrische Laterne vor der Brust wie wir … Und dieser Dritte hatte in den Händen – eine große Drahtschere, suchte den Luftschlauch Haralds zu zerschneiden …

Ich stieß mit dem harpunenartigen Bootshaken zu, traf den Fremden dort oben an der Reling vor die Brust … Er glitt auf dem schrägen Deck des Wrackes aus, verschwand …

All das ging blitzartig …

Aber trotzdem hatte ich hinter dem Helmfenster des Fremden unklar unvergeßliche Gesichtszüge erkannt … Ich hätte schwören mögen, daß es Doktor Shing Guddai gewesen!

Harst hatte schon das Notsignal gegeben …

Schnell wurden wir hochgewunden – so schnell, daß ich in der Tiefe nur noch einen langen breiten Schatten auf das Wrack zugleiten sah …: ein … U-Boot!

Kaum oben an Deck des Zerstörers, ließ Harst diesen auch schon Anker lichten und in voller Fahrt davondampfen, um einem Rammstoß zu entgehen. Immerhin hatte es doch zehn Minuten gewährt, bis der Zerstörer den Platz verließ, und inzwischen war Frau Aldow mit ihrer Kassette in ihrer Kabine verschwunden.

In ihrer Kabine?!

Nein –: Frau Fanny Aldow war überhaupt nicht mehr aufzufinden, auch die Kassette nicht! Es gab hierfür nur eine Erklärung: sie mußte sich durch ihr Kabinenfenster in die See haben gleiten lassen, und das U-Boot mußte sie aufgenommen haben, als infolge Harsts Alarmnachricht, Guddais „Wrack“ sei in der Nähe, alle Mann anderweit beschäftigt waren. –

Was aus Fanny Aldow geworden, was der Guddai-Orden weiter unternahm, gehört nicht mehr hierher. Drei volle Monate war von den Guddais nichts zu spüren … England, Europa wiegte sich in behaglichem Sicherheitsgefühl … Shing Gabru-Guddai war längst vergessen …

Dann lernten wir „Gamderlans Menagerie[14] kennen, – ein biologisches Rätsel, ein Beweis für Doktor Guddais unerschöpfliche Phantasie zwecks Erreichung seines fanatischen Zieles.

 

 

Anmerkungen:

  1. Tekka: Südindische Bezeichnung für „Teak“. Siehe auch Wikipedia: Teakbaum.
  2. In der Vorlage steht: „erinnernde“.
  3. Hier folgt eine überflüssige Zeile „bezeichnet habe.“, die nirgends eingeordnet werden kann.
  4. In der Vorlage steht: „Gentlemen“. Zwei Vorkommen auf „Gentleman“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „infernatische“.
  6. In der Vorlage steht: „Kollosion“.
  7. „Amokläufer“ / „Amok-Läufer“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Amokläufer“ geändert.
  8. In der Vorlage steht: „Phänomen“.
  9. In der Vorlage steht: „Hoheti“.
  10. In der Vorlage steht als Überschrift: „Shing Gabru, der Pirat.“.
  11. In der Vorlage steht: „. Kapitel.“.
  12. In der Vorlage steht: „Rekontres“. Veraltet für Streit; Kampf; Konflikt; Auseinandersetzung.
  13. In der Vorlage steht: „Bowani“. Zwei Vorkommen auf „Bhowani“ geändert.
  14. In der Vorlage steht: „Gonnderlans Menagerie“.