Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band: 10
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.
Druck P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 26.
Kommerzienrat Kammler, der Beauftragte der Wettgegner Harsts, war gerade bei uns, als der merkwürdige Brief vormittags eintraf. Kammler war sofort einverstanden, daß der Inhalt dieses Briefes die neue Wettaufgabe darstellen solle.
Das Schreiben lautete:
Sehr geehrter Herr Harst!
Glauben Sie nicht, daß Ihnen etwa eine Falle gestellt werden soll. Wirklich nicht. Ich schwör’s Ihnen! Nein – nur die wahnsinnigste Angst läßt mich diese Zeilen in der Eisenbahn mit einer Füllfeder schreiben. Hier im leeren Abteil 2ter kann ich ja nicht beobachtet werden. Daheim oder anderswo würde ich es nicht wagen. Ja – ich wage nicht einmal, dem Papier all das anzuvertrauen, was mich bedrückt. Briefe, die ich an eine liebe Freundin schreibe, kommen nur dann an, wenn ihr Inhalt ganz harmlos ist. Kann ich wissen, ob nicht auch dieser Brief irgendwie abgefangen wird? – Ich flehe Sie an: Gewähren Sie mir eine Unterredung. – Aber diese muß unbedingt unter Vorsichtsmaßregeln stattfinden, die dafür bürgen, daß ich mich nicht noch größeren Gefahren aussetze. – Ach – wenn Sie wüßten, wie elend ich mich schon fühle! Ich schleppe mich nur noch weiter. Ich weiß ja: – eines Tages werde auch ich – Doch nein. Ich wage keinerlei Andeutungen. – Ich habe so lange nachgedacht, bis ich ein Mittel gefunden zu haben glaubte. Wir wohnen in Wannsee in der sogenannten Friedrichsburg dicht am Kleinen Wannsee in der Elsenstraße. Unser Garten reicht bis an das Wasser hinab. Wenn Sie ein Boot benutzen, können Sie nach Dunkelwerden unbemerkt dort landen. Aber seien Sie vorsichtig. Wir haben drei bissige Bulldoggen, die sofort Lärm schlagen. Legen Sie bitte gegen elf Uhr an unserem Bootssteg an und warten Sie auf mich. Ich steige dann zu Ihnen ins Boot, und wir stoßen vom Lande ab. Sollte ich in der kommenden Nacht nicht unbemerkt das Haus verlassen können, versuche ich’s in der nächsten. – Ich weiß: ich bin sehr unbescheiden, Ihnen zuzumuten, für eine Fremde Ihre kostbare Zeit zu opfern. Aber ich las gestern in der Zeitung, wie schnell Sie den Fall Blinkenstein aufgeklärt haben, und da dachte ich mir sofort: vielleicht kann Herr Harst Dich retten. – Ich fürchte, ich schreibe alles recht wirr durcheinander. Aber wenn Sie mich sprechen würden, dürften Sie begreifen, daß ich kein hysterisches junges Mädchen, sondern wirklich ein armes gehetztes Wild bin. – Ich muß schließen. Ich bin in Berlin angelangt. – Nochmals: Helfen Sie mir!
Ihre Sie bewundernde Thora von Malwack.
Harst erklärte zu diesem Schreiben: „Die Dame ist noch recht jung; harmlos; natürlich; sehr nervös; trotzdem energisch und zielbewußt; aber auch eitel; sie benutzt trotz ihrer Jugend blaßrosa Puder und hat sich in der Eisenbahn gepudert, bevor sie diesen Brief zuklebte. Hier haften auf der schlecht getrockneten Tinte einiger Buchstaben Puderstäubchen. Sie trägt auch die Fingernägel sehr lang und ganz spitz geschnitten. Hier sind in dem Papier die Eindrücke der Nagelspitzen. Schließlich noch: sie besitzt ein nicht mehr ganz neues Perlenhandtäschchen,“ – er schüttete aus dem aufgeschnittenen Briefumschlag zwei winzige Glasperlen in seine flache Hand – „und ist aschblond, wie dieses durch den Kleister des Umschlages festgehaltene Härchen zeigt, das auch weiter noch den Gebrauch einer Brennschere verrät. – Natürlich werden wir sofort nach Wannsee hinaus, das Terrain besichtigen und uns dort vielleicht irgendwo als harmlose Sommergäste und leidenschaftliche Angler einmieten. Der Fall scheint ja recht eigenartige Seiten zu haben. Vor acht Tagen ist ein Fräulein von Malwack, wie in den Zeitungen zu lesen war, beim Baden ertrunken. Mein Gedächtnis läßt mich nie im Stich.“
„Und vor einem Monat etwa starb ein Student desselben Namens an einer hier seltenen Krankheit: der Cholera asiatica,“ warf Kammler ein.
„Ganz recht. Es blieb die einzige Choleraerkrankung im Berliner Studentenviertel,“ meinte Harst. „Die Bewohner des Hauses, in dem Malwack wohnte – in der Gartenstraße, glaube ich, – machten unnötig eine achttägige Absperrung durch. – Die beiden Personen dürften fraglos Geschwister unserer Hilfesuchenden gewesen sein.“
Ich stand am Fenster, sah nun einen Depeschenboten unseren Vorgarten betreten. Er brachte ein Stadttelegramm für Harst. Es war auf dem Postamt Leipzigerplatz aufgegeben, und der Inhalt war folgender:
Bitte nicht kommen. Anders überlegt. Verreise sofort für länger. Thora.
Harst starrte, nachdem er uns diese Absage vorgelesen hatte, schweigend und regungslos auf die Depesche. Dann nahm er den Umschlag des Briefes, der neben ihm auf seinem Schreibtisch lag, trat dicht ans Fenster, besichtigte ihn nochmals, rief dann: „Ich Stümper,“ holte ein Vergrößerungsglas und nahm die Rückseite des Umschlages endlos lange in Augenschein, wandte sich uns nun zu und meinte: „Dieser Umschlag ist heimlich geöffnet und ebenso geschickt wieder zugeklebt worden, und die Depesche ist natürlich – gefälscht! Irgend jemand hat ein Interesse daran, daß ich mit Thora nicht zusammentreffe. Sie hätte nun, wenn ich diese Absage für echt gehalten hätte, mehrere Abende umsonst gewartet und wäre schließlich überzeugt gewesen, ich wolle ihr nicht helfen. – Hm – unser Haus dürfte jetzt vielleicht auch sehr scharf bewacht werden. Wir können daher auch nur unter allerlei Vorsichtsmaßregeln nach Wannsee hinaus. – Es wird ein recht interessantes Unternehmen werden, diese Rettungsaktion, denn ich bin der Meinung, wir haben es hier mit einer größeren Bande zu tun, die Briefe abfängt, öffnet, wieder schließt, Depeschen fälscht und – Thora nie aus den Augen läßt. Ja – es müssen mehrere sein. Einer allein bewältigt das alles nicht.“ –
Kammler hatte sich dann fünf Minuten drauf kaum verabschiedet, als Harst an eine bekannte Speditionsfirma telephonierte: ein Piano sollte von hier nach dem Lagerraum der Firma nachmittags abgeholt werden.
Wir hatten im Schuppen im Gemüsegarten eine leere Klavierkiste zu stehen. – Harst rief nachher den Spediteur noch persönlich an den Apparat und gab ihm einige Anweisungen über die Art der Aufbewahrung der Kiste.
Nachmittags nagelte Frau Auguste Harst, meines Brotherrn Mutter, die Kiste eigenhändig zu. Eine Viertelstunde drauf erschienen drei Männer und schleppten sie davon.
Der Spediteur ließ sie in seinen Speicher bringen. Als seine Leute diesen verlassen hatten, nahm er ein kleines Brecheisen und wuchtete den Deckel ab. – Nun konnten wir wieder hinaus. Harst dankte dem Spediteur für die freundliche Unterstützung, und durch eine Seitenpforte des Speichers schlüpften wir ins Freie. Wir trugen die Verkleidung älterer Herren, kauften in Berlin zwei Koffer und verschiedenes andere ein und waren gegen halb sieben in Wannsee, diesem idyllisch schönen Villenort, dessen Lage an zwei waldumsäumten Seen ihn mit Recht zu einem beliebten Nachmittagsausflugsort macht. Eine Stunde später hatten wir uns in einem kleinen Häuschen am äußersten Ende der Elsenstraße bei einfachen Leuten – einem Maurer – als Sommergäste eingemietet. Vorher aber hatte Harst noch in einem Fleischgeschäft drei Leberwürste erstanden und war auch noch in der Apotheke gewesen.
Unser Wirt Höppner war ein schon bejahrter Mann, dabei aber noch sehr rüstig. Harst biederte sich sofort mit ihm an. Wir hatten uns als Brüder namens Hevelke ausgegeben, wollten Angestellte einer Versicherungsgesellschaft sein und hier unseren Urlaub verleben.
Von Höppner erfuhren wir über die Bewohner der Friedrichsburg als Alteingesessenem recht viel, ohne daß er ahnte, man horche ihn aus.
Das alte Gebäude, vielleicht das älteste Wannsees, gehörte seit seiner Erbauung der Familie von Malwack, die einst hier auch weite Ländereien besessen hatte. Jetzt wohnten dort als die eigentlichen Eigentümer des weitläufigen Hauses die noch Überlebenden von vier Geschwistern, Thora und Wilhelma, deren Vormund ihr Onkel Gisbert von Malwack war, ein nach Höppners Angaben sehr vornehmer, liebenswürdiger und allgemein beliebter Herr, der vor einem Jahr nur deswegen aus Transvaal zurückgekehrt war, um nach dem Tode seines Bruders dessen letzten Willen zu erfüllen und die weitere Erziehung der vier Kinder des Verstorbenen zu leiten, von denen dann leider vor kurzem zwei plötzlich ums Leben gekommen waren. – „Überhaupt,“ meinte der brave Höppner, „über dem Geschlecht der Malwacks – sie sollen im Jahre 1620 aus Ungarn eingewandert sein – schwebt seit Jahren ein furchtbares Verhängnis. Der Baron Gisbert – die Familie hat das Recht, den Baronstitel zu führen – hat mir letztens, als ich wieder einmal eine Reparatur dort erledigte, erzählt, daß auf den Malwacks ein Fluch laste. So um das Jahr 1600 soll ein Baron von Malwack einen alten Zigeuner beim Wildern ertappt und ohne weiteres niedergeschossen haben. Da habe der Zigeuner, der allgemein als Hexenmeister galt, das Geschlecht verflucht und mit letztem Atem gedroht, die Malwacks würden nach 300 Jahren sämtlich kurz hintereinander hinsterben. – Ich bin ja nun wahrlich nicht abergläubisch, meine Herren, aber – zu denken gibt es doch, wenn man wie ich hier miterlebt hat, daß erst der alte Baron Ingobert, der Großvater der Geschwister, dann die Baronin Theresa, deren Mutter, dann deren Gatte, Baron Armin, und nun auch zwei der Kinder in einem Zeitraum von anderthalb Jahren dahingegangen sind, so daß von der ganzen Familie jetzt nur noch der Baron Gisbert und die beiden Töchter Thora und Wilhelma übrig sind.“
Harst zuckte die Achseln: „Trauriger Zufall – weiter nichts!“
Aber als wir kurz vor elf das Haus heimlich durch das niedrige Fenster unseres Zimmers verlassen hatten und durch das gegenüberliegende Waldstück zum Seeufer hinabschlichen, sagte er leise: „Schraut – hier handelt es sich um eine Verbrecherbande, die kein Mittel scheut, ans Ziel zu gelangen. Es wird einen bösen Kampf geben, Schraut, und wir tun gut, so sehr auf unserer Hut zu sein wie noch nie bisher. Deshalb auch: nie ohne unsere Schußwaffen ausgehen und nie aus der Rolle fallen – aus der Rolle der Brüder und Versicherungsbeamten.“
Unten am See lag ein kleines Boot, das Höppner gehörte und zu dem er uns den Schlüssel gegeben hatte. Auch die beiden Ruder waren darin mit einer langen Kette an die Ruderbänke angeschlossen.
Wir trieben das Boot langsam am Ufer entlang und kamen sehr bald – nach kaum vier Minuten, an die bis zum Wasser hinabreichende Mauer des Malwackschen Grundstücks. Höppner hatte uns von dieser Mauer erzählt und geäußert, heutzutage lasse kein Mensch mehr so dicke und so hohe Mauern bauen, dazu käme der Spaß zu teuer. Wir sahen nun auch – die Nacht war ziemlich hell – den zur Friedrichsburg gehörenden Anlegesteg, neben dem ein Badehäuschen weit in den See hinaus errichtet war. Sehr leise legten wir an dem Stege an einem dort befestigten Segelkutter an und warteten nun. Eine halbe Stunde verstrich. Dann – ganz plötzlich von der oben auf dem hohen Ufer liegenden Friedrichsburg her das wütende Bellen mehrerer Hunde, nein, mehr ein drohendes Aufheulen war’s, und dann – ein so entsetzlicher Schrei aus weiblichem Munde, das mir förmlich das Blut in den Adern gerann.
Nun – abermals dieser Ruf, den nur die höchste Todesangst der Brust eines Menschen auspreßt, – dann nichts mehr.
Harst hatte meinen Arm gepackt. „Thora!“ flüsterte er.
Da wurden droben im Garten Stimmen laut. Wir sahen Laternenschein zwischen den Bäumen aufblinken, hörten allerlei Zurufe, nun drei Schüsse kurz hintereinander, klägliches Heulen, noch einen Schuß.
„Mein Gott, was bedeutet das alles?“ fragte ich beklommen.
„Nichts anderes, als daß der Fluch des Geschlechts ein neues Opfer gefordert hat,“ erwiderte Harst dumpf. „Die Hunde werden Thora angefallen und zerfleischt haben. Aber wir dürfen –“
Er schwieg. Sein Blick starrte nach rechts – nach der Mitte des Sees hin. Dort lag ein dunkles Etwas – ein Boot.
Harst griff zu den Rudern. „Schraut – jenem Boote nach, – steuern Sie gut –“
Er verstand die Riemen zu gebrauchen. Er zog mit äußerster Kraft durch. Ich steuerte erst noch im Schatten der Bäume dicht am Ufer entlang und dann im Bogen auf das andere Boot zu. – „Gut so!“ lobte Harst. „Wenn wir nahe genug heran sind, dann den Menschen darin anrufen und mit einer Kugel drohen.“
In dem jetzt stilliegenden Boote saß ein Mann mit hellem Filzhut und schaute regungslos nach der Friedrichsburg hinüber. Wir näherten uns ihm von hinten so leise und langsam, daß er, der offenbar mit all seinen Sinnen nur jenseits am Ufer war, uns gar nicht bemerkte. Erst als Harst nun die Ruder halb einzog und die eine Dolle quietschte, fuhr er herum, griff auch sofort in die Jackentasche – nach einer Waffe.
Aber Harst war flinker. Mit einem Satz schwang er sich hinüber in das fremde Fahrzeug, riß den Menschen zu Boden, hielt ihm seinen Selbstlader vor die Stirn.
„Keine Bewegung, oder ich drücke ab,“ herrschte er den mit den Beinen über der mittelsten Ruderbank Liegenden an. „Schraut – Ihr Taschentuch her, schnell!“ Er hatte jetzt die Handgelenke des Mannes gepackt. Aber dieser wehrte sich wie ein Verzweifelter. Harst war kräftiger, gewandter. Und nun konnte auch ich eingreifen, nun hatte ich die Hände des Überrumpelten fest zusammengeknotet.
Harst richtete ihn auf, so daß er nun vor uns saß. Wir hatten einen noch jungen Menschen vor uns, dessen Kleidung einen ersten Schneider verriet.
„Wer sind Sie?“ fragte Harst.
Keine Antwort. Nur die Augen des Mannes glitten immer wieder prüfend über uns hin.
Harst faßte ihm in die Brusttasche, holte ein elegantes Portefeuille hervor, kniete auf dem Boden des Bootes nieder, schaltete seine Taschenlampe ein und wollte so den Inhalt der Brieftasche untersuchen, damit der Lichtschein vom Ufer aus nicht bemerkt würde.
Der junge Mensch, der einen kurzen, blonden Bürstenschnurrbart trug, zerrte immer wieder an seinen Fesseln, keuchte vor Wut und Anstrengung, hob dann ganz plötzlich den Fuß und versetzte der in Harsts Rechter befindlichen Brieftasche einen solchen Schlag von unten, daß sie ins Wasser flog. Sie ging jedoch nicht schnell genug unter, und Harst fischte sie glücklich wieder heraus, nahm nun die in unserem Boot befindliche lange Kette und band damit den wieder heftig sich Sträubenden so an die Ruderbank fest, daß dieser ein zweites Mal eine solche Attacke nicht mehr versuchen konnte.
„Sie scheinen ja ein ganz gefährlicher Bursche zu sein,“ meinte Harst und besichtigte den Inhalt der Brieftasche nun ungestört und sehr eingehend.
Plötzlich, nachdem er einen Brief gelesen, schaltete er die Lampe aus, richtete sich auf, sagte in höflichstem Ton:
„Entschuldigen Sie. Wir haben uns geirrt. – Sind Sie Herr Berthold Müller, der heimlich Verlobte des Fräuleins Thora von Malwack?“
Der Fremde schaute Harst durchdringend an.
„Und wer sind Sie?“ fragte er kurz.
Harst knöpfte die Weste auf, in deren Innentasche er Thoras Brief stecken hatte. – „Bitte beugen Sie sich herab,“ sagte er und beleuchtete den Brief. „Erkennen Sie die Handschrift?“
„Ja – allerdings. Aber –“
„Ich bin Harald Harst. Ihre Braut hat mich um Hilfe gebeten.“
„Ah – das ändert die Sache!“ Er sagte es im freudigsten Ton. „Ja – mein Name ist Berthold Müller. Ich bin Prokurist bei Hobrecht u. Sohn in Potsdam, – das bekannte Holzgeschäft.“
Harst nahm ihm eilig die Fesseln ab. „Nochmals, Herr Müller, – entschuldigen Sie!“ meinte er dabei. „Wir sind hier nach Wannsee im Interesse Ihrer Braut gekommen, und wir mußten Ihrem ganzen Verhalten nach schließen, daß Sie mit zu den Leuten gehören, die gegen die Familie Malwack meiner Überzeugung einen rücksichtslosen, heimlichen und teuflisch schlauen Vernichtungskrieg führen.“
Müllers Lippen entfuhr ein hastiges: „Also auch Sie! – Ich befürchte nämlich dasselbe, und ich hatte mir vorgenommen, in aller Stille auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, mit denen ich freilich erst vor drei Tagen in der Weise begonnen habe, daß ich nachts von hier aus die Friedrichsburg überwache. Ich habe jetzt Urlaub und wohne drüben in dem Pensionat Mertens am Bahnhof Wannsee.“
Harst ließ sich nun von Müller erzählen, wann und wo dieser Thora von Malwack kennen gelernt hätte.
„Vor sechs Wochen etwa in Potsdam, Herr Harst. Ganz zufällig – durch einen kleinen Ritterdienst. Wir fanden sofort Gefallen aneinander, und obwohl wir uns sehr selten sehen konnten, haben wir uns doch vor drei Wochen heimlich verlobt. An eine öffentliche Brautschaft ist vor Thoras Mündigkeit – sie ist jetzt 19 Jahre alt – nicht zu denken, da ihr Onkel und Vormund trotz all seiner sonstigen vortrefflichen Eigenschaften nie gestatten würde, daß sie einen – „Müller“ heiratet.“
„Haben Sie häufiger Briefe gewechselt?“
„Ja. Aber nur postlagernd durfte ich an Thora schreiben. Und – von ihren Briefen ist selten einer in meine Hände gelangt. Sie müssen abgefangen worden sein. Wie? – das ist mir unerklärlich.“
„Hat Ihre Braut eine Freundin?“
„Nein. – Bekannte wohl – aber Freundinnen? Bestimmt nicht.“
„Oh – dann sind Sie die liebe Freundin, die sie in dem Schreiben an mich erwähnt.“
Müller stierte jetzt zerstreut nach der Friedrichsburg hinüber, meinte dann zögernd: „Was halten Sie von den Hilferufen, die vorhin –“
Harst unterbrach ihn gütig und herzlich: „Seien Sie ein Mann! – Ich bin ehrlich: Ihrer Braut ist ein Unglück zugestoßen. Ich vermute, die Bulldoggen haben sie angefallen. – Aber hoffen wir, daß sie lebt. Jedenfalls haben Sie nun in uns zwei Verbündete, die alles aufbieten werden, diese furchtbare Tragödie der Familie Malwack aufzuklären. Sie allein jedoch dürfen nichts unternehmen – gar nichts, verstanden! Außerdem warne ich Sie noch: seien Sie überaus mißtrauisch und vorsichtig. Vielleicht ist auch Ihr Leben in Gefahr!“
Eine Viertelstunde später trennten sich unsere Boote. Müller ruderte nach dem Bootshause des Ruderklubs Vineta zurück, dem sein Boot gehörte, und wir – wir benutzten die infolge starker Bewölkung jetzt recht tiefe Dunkelheit zu einer neuen Landung am Stege der Friedrichsburg.
Hier warteten wir so lange, bis ein feiner Regen niederging, der Harsts weitere Absichten wesentlich erleichterte. Wir stiegen aus und schlüpften in den Garten, dessen Anlagen sich bis zu dem flachen Uferstreifen herabsenkten. In einem Gebüsch zogen wir die Schuhe aus. Dann erst ging’s weiter – Schritt für Schritt. Nun lag ein weiter Rasenplatz vor uns und uns gegenüber der massige Bau des alten Gebäudes, das links an die hohe Mauer sich anlehnte.
Harst war stets voran. Wir krochen jetzt auf allen Vieren über den Rasen. Plötzlich schwenkte Harst nach rechts ab. Nun zog er mich neben sich, deutete auf den hellen Kiesweg. Dort lagen drei dunkle Tierkörper.
„Die Bulldoggen,“ flüsterte er. „Ich hätte mir die Würste und das Betäubungsmittel, mit dem ich sie getränkt habe, sparen können. – Der Baron Gisbert wird die Hunde erschossen haben.“
Dann ging es weiter nach links auf das Haus zu. Hinter einem der hohen Kellerfenster gewahrten wir einen hellen Lichtschein. Die Fenster waren sämtlich vergittert, auch die des Erdgeschosses.
Das erleuchtete Kellerfenster war das letzte linker Hand. Wir kauerten uns in den Winkel zwischen Gartenmauer und Hauswand, und Harst schob den Kopf dann so weit als möglich durch das Gitter. Das Fenster hatte gestreifte Vorhänge. Auch ich horchte, so gut ich konnte. Dann hörte ich etwas. Aber nicht im Keller, sondern anscheinend hinter der Gartenmauer. Ich wurde mißtrauisch, zupfte Harst am Ärmel und flüsterte ihm das Nötige zu.
Er drückte das Ohr gegen den Kalkputz der reichlich drei Meter hohen Mauer. So verharrte er eine ganze Weile. – Es regnete jetzt nicht mehr, und auch ich hörte nun wieder hinter der Mauer allerlei Geräusche.
Harst gab endlich das Lauschen auf, raunte mir zu: „Eine sehr merkwürdige Geschichte!“ Wir machten uns auf den Rückweg, blieben aber stets dicht an der Mauer, deren stellenweise ganz abgebröckeltem Kalkputz Harst eine mir unverständliche und uns sehr aufhaltende Aufmerksamkeit widmete. Dann sprang aus der Mauer ein dicker Pfeiler vor, um den bogenförmig eine breite Dornenhecke gepflanzt war. Weshalb Harst sich dicht an der Mauer an dieser Hecke vorbeidrängte, weshalb ich mir dabei zwei Löcher in meine Beinkleider reißen mußte, begriff ich zunächst nicht. Dann aber wurde mir alles klar, als mein Brotherr und Lehrer mir zuflüsterte: „Die Geräusche ertönten nicht hinter, sondern in der Mauer, Schraut, und ich nehme an, diese wird einen geheimen Gang darstellen, zu dem es hier vom Garten aus eine versteckte Tür gibt.“ – Dies genügte, meine Spannung aufs höchste zu steigern. – Ein geheimer Gang! Das verhieß allerlei Abenteuerliches!
Harst betastete jetzt eine hohe Reliefplatte aus Metall, die in die Mauerseite des Pfeilers nach dem Garten zu etwas eingelassen war. Was die Reliefs darstellten, war nicht zu erkennen. Offenbar war die Tafel aber sehr alt. – Nach wenigen Minuten hörte ich ein scharfes Kratzen von Metall auf Metall. Harst hatte die Klinge seines Taschenmessers – es war ein sogenanntes Jagdmesser mit feststellbarer Klinge – in die Fugen zwischen Mauer und Platte an der rechten Seite geschoben und drückte nun mit aller Kraft. Nun ein kurzer Knack. Die Klingenspitze war abgebrochen, gleichzeitig aber hatte sich die Reliefplatte nach innen geöffnet. Sie war nichts anderes als eine Geheimtür. Dahinter gähnte tiefe Dunkelheit. Harst kroch vorwärts, tastete mit den Händen um sich und winkte mir dann. Er schaltete seine Lampe ein, leuchtete umher, drückte die Geheimtür wieder zu und schlich lautlos nach rechts den sehr schmalen Gang entlang, der durch die hohle Mauer entstanden war. Nach dreißig Schritten machte er halt. Wir standen vor einer Tür aus fast schwarz gewordenem Eichenholz mit altertümlichem Drückerschloß.
Harst flüsterte: „Es ist ein Risiko. Aber – wir müssen’s wagen. Halten Sie Ihre Pistole entsichert bereit.“
Er faßte nach dem Drücker. Der war sehr gut geölt. Auch die Türangeln kreischten nicht. Die Tür ging nach außen auf. Der Lichtkegel von Harsts Taschenlampe glitt über ein quadratisches Gemach von etwa 3 Meter Seitenlänge hin. Ein Fenster war nicht vorhanden. Uns gegenüber aber zeichnete sich in der Mauer ein eiserner, mit Mauersteinen gefüllter Rahmen und einer komplizierten Verschlußvorrichtung ab. – „Eine Geheimtür ins Innere des Hauses,“ meinte Harst. „Und dies hier sieht ganz nach einem chemischen Laboratorium aus. Merkwürdig – sollte der Baron Gisbert sich als Alchimist, als Goldmacher, versuchen?!“ Links stand ein großer Holztisch mit Flaschen, Gläsern, Retorten und allerlei Apparaten. Darüber hingen an der Wand Regale, die Ähnliches enthielten. Rechts wieder füllte den kleinen Raum ein breiter Schrank gut zu ein Viertel aus. Von der Decke hingen an grünen Schnüren zwei einfache elektrische Birnen herab. Vor dem Holztisch stand ein uralter Ledersessel. Über diesem lag ein seidig glänzendes Kleidungsstück.
Harst hob es auf. Es war ein seidener, schottisch gemusterter Damenmantel. Er war stellenweise völlig zerfetzt und zeigte hier und dort Blutspuren. Diese waren noch recht frisch und erst wenig angetrocknet.
Harst hielt den Mantel noch immer hoch. Dann mußte ich seine Lampe ihm abnehmen, und er besichtigte das Kleidungsstück nun ganz eingehend, wobei er sich auch seines Taschenmikroskops bediente. Mir schien’s, als prüfte er sogar gewisse Stellen des Stoffes auf ihren Geruch hin. Als er nun den Mantel wieder über den Stuhl warf, als ich zufällig ihm ins Gesicht blickte, waren seine Züge wie versteinert und leuchteten in geisterhafter Blässe. Eine furchtbare Erregung mußte ihn ergriffen haben. Er blieb jedoch stumm, wandte sich nun dem Tische zu und langte nach einem Gestell, das ganz vorn stand. Darin steckten sechs verkorkte Reagenzgläschen, die jedes ein Papierschildchen trugen und mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt waren.
„Lesen Sie, Schraut,“ sagte er dumpf.
Ich las die Schildchen. Da stand mit lateinischen Buchstaben:
Bazcho, Baztet, Bazty, Bazcho, Baztet, Baztet.
„Gehen wir,“ meinte er, ohne meinen fragenden Blick zu beachten. „Ich weiß genug – übergenug. Allerdings noch nicht alles –“
Er hatte es jetzt sehr eilig, lief fast den Gang entlang, ebenso nachher durch den Garten zum Wasser hinab. Wir nahmen unsere Schuhe, und sie in der Hand haltend ging’s nach dem Bootssteg. Erst im Boot zogen wir[1] sie wieder an. Dann ergriff Harst die Ruder. Und – wie ruderte er! Als ob der Teufel hinter uns her wäre! – Am Liegeplatz des Bootes sprang er hinaus. – „Los, Schraut, – hurtig, – vielleicht geht’s um ein Menschenleben! Lassen Sie das Boot! Nur vorwärts!“
Wir rannten durch das Waldstück bis zur Elsenstraße hinauf. Jetzt faßte Harst mich unter. „Langsam – wie nächtliche Bummler, – und laut unterhalten!“
Er steckte sich eine seiner Mirakulum-Zigaretten an, gab auch mir eine. Er redete über Segelsport. So kamen wir bis vor das hohe Gitter, das den Vorgarten der Friedrichsburg nach der Straße hin absperrte.
Mitten auf dem Fahrdamm standen ein paar Leute, darunter einer der Wannseer Polizeibeamten.
Harst blieb stehen, fragte diesen: „Entschuldigen Sie, ist hier etwas passiert?“
Der Mann sah sehr würdig aus, hatte einen langen grauen Bart und war überraschend redselig.
„Ja – ein entsetzliches Unglück, – eine junge Dame ist von Hunden zerfleischt worden. Noch lebt sie. Der Doktor Heid ist noch in der Friedrichsburg. Das ist diese Villa hier –“
Harst spielte den Neugierigen. So erfuhren wir, daß die Baronesse Thora Malwack gegen halb zwölf noch im Park habe lustwandeln wollen. Und da seien die drei Bulldoggen, mit denen sie sonst sehr gut Freund gewesen, über sie hergefallen.
Dann tat sich die Tür der Friedrichsburg auf. Ein breiter Lichtstrom fiel die Freitreppe hinab. Wir sahen einen Diener in Livree und zwei Herren. Der Diener geleitete den einen nach der Gartenpforte.
„Ah – Doktor Heid!“ meinte der Polizist. Gleich darauf trat er an den noch jungen Arzt heran.
„Wie steht’s, Herr Doktor?“
Auch die anderen Leute drängten sich hinzu.
„Schlecht, lieber Gröber, sehr schlecht. Diese Bestien von Bulldoggen! Unbegreiflich, was den Kanaillen eingefallen ist! Gerade Baronesse Thora! – Gute Nacht, Gröber.“
Die nahe Straßenlaterne hatte des Doktors Gesicht hell beschienen. Es war ein frisches, schmißbedecktes Gesicht mit großen, ehrlichen Blauaugen.
Doktor Heid eilte davon. Und Harst faßte mich wieder unter. – „Ihm nach, Schraut! Von ihm hängt alles ab!“
Wir holten ihn bald ein – in einer Nebenstraße. Keine Seele war in der Nähe. Als er unsere schnellen Schritte hörte, drehte er sich um.
„Herr Doktor – einen Augenblick,“ rief Harst leise. – Der junge Arzt blieb stehen.
Harst grüßte, sagte: „Würden Sie mit mir unter jene Laterne kommen. Ich möchte Ihnen etwas mitteilen – etwas Interessantes.“
Heid wurde mißtrauisch, trat zurück, meinte:
„Wer sind Sie denn? – Etwas mitteilen? – Falls Sie Übles im Schilde führen, dann nehmen Sie sich in acht!“ Er griff in die Tasche. Und in seiner Rechten blitzte nun ein vernickelter Revolver.
Harst lachte leise auf. „Stecken Sie das Ding wieder weg, Herr Doktor! Wenn wir Meuchelmörder wären, hätten wir Sie längst abtun können. – Bitte, kommen Sie. Meinetwegen behalten Sie Ihre Waffe auch in der Hand. Wir werden vorausgehen.“
Unter der Laterne fuhr Harst dann ganz leise fort, indem seine Augen das Gesicht des jungen Arztes forschend musterten: „Sind Sie Hausarzt bei Baron Malwack?“
„Nein. Ich war heute zum ersten Male dort. Sanitätsrat Friedrich ist verreist, und daher holte man mich. – Aber – was soll das alles?“
„Ich muß vorsichtig sein. Ihr Gesicht beruhigt mich. Sie lügen nicht. – Ich bin – Harald Harst, und ich bin im Interesse der Familie Malwack, besser Fräulein Thoras, hierher gekommen. Dies ist mein Sekretär Schraut, dessen Name Ihnen aus den Zeitungsberichten über meine Wettaufgaben bekannt sein dürfte.“
„Ah – wirklich – Harald Harst?“
„Hier – bitte mein Ausweis mit Photographie. Freilich – ich trage zur Zeit eine Verkleidung. Aber hier ist das in dem Ausweis erwähnte besondere Kennzeichen.“ Er streifte den linken Ärmel hoch. Am Unterarm hatte er eine lange Schnittwunde mit zackigen Rändern.
Heid war nun überzeugt, tatsächlich den berühmten Liebhaberdetektiv vor sich zu haben.
„Herr Harst, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung,“ meinte er eifrig.
„Gut. – Sie haben die Bißwunden Fräulein Thoras soeben verbunden. Hoffen Sie, daß sie durchkommen wird?“
„Falls keine schlimmere Vereiterung hinzutritt.“
„So, – dann bitte ich Sie dringend, sofort nach der Friedrichsburg zurückzukehren und dort so zu tun, als hätte Sie lediglich die Besorgnis um die Verwundete zurückgetrieben. Kein Wort von dieser Unterredung, Herr Doktor, zu niemandem, auch nicht zu Ihrer Gattin, falls Sie verheiratet sind.“
„Ich bin verheiratet –“
„Wie gesagt also: zu niemandem eine Silbe! – Erklären Sie dem Baron Gisbert, Sie hätten sich die Sache überlegt; die Komtesse müßte unbedingt in sachverständige Pflege und zwar unverzüglich. – Können Sie sie bei sich aufnehmen? – Ja? – Das ist mir sehr lieb. – Also: Sie verlangen mit aller Energie als Arzt, daß Fräulein Thora zu Ihnen geschafft wird. Ersinnen Sie einen Vorwand. Und – lassen Sie sich nicht umstimmen! Sagen Sie, Sie würden, falls Ihrem Verlangen nicht stattgegeben wird, jede Verantwortung ablehnen und dies auch der Polizei mitteilen. Die Hauptsache jedoch: weichen Sie dann auch nicht mehr eine Sekunde von dem Lager Ihrer Patientin – nicht eine Sekunde! Bewachen Sie sie, als ob sie sich in einer Mörderhöhle befände. Wir werden einen Krankenwagen besorgen und auch Ihre Gattin benachrichtigen, daß eine Kranke bei Ihnen untergebracht werden muß. – Wo wohnen Sie?“
„Potsdamer Chaussee 12. – Aber – aber – entschuldigen Sie schon, Herr Harst, ich bin so vollständig verblüfft über all diese seltsamen Forderungen, die Sie stellen, daß ich –“
„Glaube ich gern,“ unterbrach Harst ihn. „Bitte – Ihr Wort, daß Sie genau meine Anweisungen befolgen werden. Ein Menschenleben steht auf dem Spiel –“
Doktor Heid reichte Harst die Hand. „Weil Sie es sind. – Mein Wort!“
Da beugte sich Harst vor, flüsterte Heid ein paar Sätze ins Ohr.
Und – Heid prallte zurück, stammelte: „Un – un – möglich! Aber – wenn Harald Harst so etwas behauptet, muß man schweigen.“
Gleich darauf eilte er nach der Friedrichsburg zurück.
Eine Stunde später beobachteten wir aus sicherer Entfernung, wie die Komtesse fortgeschafft wurde. Wir begaben uns nun durch das Fenster wieder leise in unsere Zimmer zurück. Der Morgen dämmerte bereits.
„Schlafen zu gehen lohnt nicht mehr,“ meinte Harst. „Wir haben übergenug Arbeit. Unsere Wirtsleute werden Frühaufsteher sein. Dann lassen wir uns Kaffee geben und tun so, als ob wir zum Angeln wollten. – Zerwühlen Sie die Betten etwas, Schraut. – Ich werde mich waschen, den Oberkörper abreiben. Tun Sie’s nachher auch. Wir müssen ganz frisch sein. Die Leute, gegen die wir kämpfen, sollen umgehend unschädlich gemacht werden. Es sind vielfache Mörder. Ich hoffe morgen vormittag unsere Ermittelungen abgeschlossen zu haben.“ – Ich merkte, daß die Erregung, die ihn dort in dem kleinen Laboratorium gepackt hatte, noch immer anhielt.
Dann saß er in einem alten Korbsessel am Fenster und lauschte den Vogelstimmen, die aus dem Waldstück gegenüber den neuen Tag jubelnd begrüßten.
„Schraut,“ meinte er leise, „der Mensch ist doch die gefährlichste aller Bestien. Kein Tier kennt die Habgier. Kein Tier tötet um des schnöden Geldes willen. Nur wir – der homo sapiens, das intelligenteste aller Säugetiere! – Entsetzlich dies alles!“ – Worauf sich dies „Entsetzlich“ bezog, konnte ich nur vermuten.
Ich nahm ihm gegenüber Platz. – „Würden Sie mir nicht vielleicht erklären,“ bat ich, „wer nun eigentlich –“
Er winkte ab. „Das ist doch so klar, Schraut! Strengen Sie Ihr Hirn nur etwas an.“
Wir hörten im Nebenzimmer Geräusch. Höppners waren aufgestanden. Wir bekamen bald Kaffee, weiche Eier und anderes, frühstückten in Ruhe und verließen dann das freundliche Häuschen.
Es war jetzt sechs Uhr morgens. Wir gingen die Elsenstraße hinunter. In der Friedrichsburg regte sich nichts. Wir trafen dann den alten Polizisten Gröber, dessen Nachtwache nun beendet war. Harst flüsterte mir zu: „Sehr günstig. Das erspart uns einen Gang nach dem Gemeindeamt.“
Er sprach Gröber an, sagte, wer wir seien – Versicherungsbeamte auf Urlaub und leidenschaftliche Angler, – fragte, wo man die Erlaubnis zum Angeln im Kleinen Wannsee bekäme, und gelangte auf Umwegen unauffällig zu den Ereignissen der verflossenen Nacht.
Gröber ließ sich genau so leicht ausholen wie unser biederer Wirt. Wir hörten sehr viel Gutes über den Baron Gisbert, weniger Gutes über dessen Diener Franz Thomas, den er sich aus Transvaal mitgebracht hatte, wo er Farmbesitzer gewesen. Dann befand sich nach Gröbers Angaben noch ein Gärtner im Hause, ein jüngerer Mensch namens Max Berg, der gleichzeitig Kutscher bei den beiden Pferden war. Schließlich noch eine Köchin Ulrike Bilz, eine ältere Person, die ebenso unfreundlich wäre wie der hochmütige Diener Franz Thomas.
Gröber plauderte gern. Der Baron hatte ihm heute wieder zehn Mark geschenkt, weil er so schnell zur Stelle gewesen und den Doktor Heid geholt hatte.
Als der Polizist sich verabschiedet hatte, notierte sich Harst die Namen und das Charakteristische der einzelnen Bewohner der Friedrichsburg kurz in sein Taschenbuch.
„Alles sehr wertvoll, Schraut,“ meinte er. „Nun nach dem Bahnhofsrestaurant. Dort wollten wir uns ja um ½8 mit Berthold Müller treffen.“
Doch – der Erwartete erschien nicht. Harst wurde immer unruhiger. – „Die Sache kommt mir verdächtig vor. Aber wir dürfen nicht in seinem Pensionat nachfragen,“ meinte er. „Halt – ein Gedanke. Wir werden telephonieren.“
Der Bahnhofswirt stellte uns seinen Apparat zur Verfügung. Harst erhielt auch sehr bald Anschluß, meldete sich: „Hier Julius Kowger, Firma Knittel. – Ich muß Herrn Müller sofort sprechen.“
„Der schläft noch,“ erklärte ein Stubenmädchen der Pension.
„Wecken Sie ihn. – Ich melde mich nach fünf Minuten nochmals.“
Die fünf Minuten waren um. Und jetzt kam die erregte Antwort:
„Soeben ist Herr Müller tot in seinem Bett aufgefunden worden.“
Wir verließen den Bahnhof. Da kam hinter uns unser Freund Gröber dahergekeucht.
„Eine nette Geschichte. Kaum im Bett – wieder raus!“ rief er. „Bei Mertens liegt ein Selbstmörder im Bett. – Auf Wiedersehen. Hab’s eilig –“
Harst folgte ihm. Nach einer Weile sagte er: „Ich hätte den armen Kerl noch eindringlicher warnen sollen! Es war vorauszusehen, daß man auch ihn stumm machen würde, nachdem man bei Thora das Geschäft ziemlich glatt erledigt hatte.“
„Sie – Sie glauben nicht, daß die Bulldoggen es waren, sondern daß Menschen die Komtesse –“
Er fiel mir ins Wort. „Doch, es waren die Hunde. Und gerade weil sie’s waren –“ Er führte den Satz nicht zu Ende. „Ah – dort in jenem Hause ist Gröber verschwunden. Kehren wir um. – Nein – doch nicht. Es gefällt mir bei Höppners nicht. Wir werden uns umquartieren. Gehen wir zu Mertens.“
Das Pensionat gehörte einer älteren Witwe. Die Ärmste rang verzweifelt die Hände, weil sie fürchtete, der Selbstmord würde ihre Pension in Verruf bringen. Harst beruhigte sie. Wir nahmen gleich drei teure Zimmer, und Harst bat dann, ihn doch mal in das Zimmer Müllers zu führen. – „Als Beamter einer Lebensversicherungsgesellschaft verstehe ich was von Selbstmorden,“ erklärte er etwas unklar. Aber der Mertens genügte diese Begründung. So gelangten wir denn in das nach dem Garten hinausgehende Hochparterrezimmer, wo Gröber bis zum Eintreffen des Arztes und des Gemeindevorstehers Wache halten mußte. Er hatte nichts dagegen, daß wir uns den Toten ansahen. Die Mertens war wieder davongeeilt.
Müller lag im Nachthemd im Bett, war bis zur halben Brust zugedeckt. Auf dem Nachttischchen am Kopfende des Bettes stand unter anderem ein Glas, in dem ein milchiger Rest einer Flüssigkeit am Boden zu bemerken war. Neben dem Glase aber lag ein Bogen Papier, Oktavformat; darauf war zu lesen – mit Tinte geschrieben:
„Ich habe das Leben satt! Ich scheide freiwillig aus dieser Welt, die mir nur Enttäuschungen gebracht hat. – Berthold Müller.“
„Nichts anrühren!“ rief Gröber, als Harst das Glas hochheben wollte. „Natürlich hat er sich vergiftet.“
„Scheint so,“ meinte Harst sehr gedehnt.
Da wurden im Flur Schritte laut. Doktor Heid und der Gemeindevorsteher traten ein.
Heid stutzte, als er Harst und mich erkannte, tat aber völlig fremd.
Der Gemeindevorsteher, der ja gleichzeitig auch die höchste Polizeigewalt des Ortes darstellte, wollte gerade zu sprechen beginnen, als Harst ihm schnell seinen Ausweis hinreichte und seinen linken Ärmel dann hochstreifte und die Narbe zeigte.
Dann öffnete er die Tür, schaute hinaus, schloß sie wieder und sagte flüsternd:
„Doktor Heid kennt uns schon. Sie haben doch nichts dagegen, daß ich mich hier etwas umsehe. Bitte treten Sie alle in jene Ecke neben den Ofen. Und – bitte verpflichten Sie Gröber zu strengstem Stillschweigen, Herr Gemeindevorsteher. Er ist etwas redselig, und – hier liegt Mord, nicht Selbstmord vor!“
Der Gemeindevorsteher erklärte bereitwilligst, sich ganz Harsts Anordnungen zu unterwerfen. „Bei Ihrer Berühmtheit, Herr Harst!“ fügte er respektvoll hinzu.
Wir, die wir in der Ofenecke standen, bekamen allerlei zu sehen. Harst begann mit der Untersuchung des Toten. Plötzlich richtete er sich auf, holte vom Schreibtisch Siegellack, entblößte Müllers Brust noch mehr und ließ ein brennendes Tröpfchen des roten Lacks auf die linke Brustwarze fallen.
Ich glaubte wahrzunehmen, daß die Haut rings um die Brustwarze sich etwas spannte.
Harst zog Müller jetzt das Nachthemd vollends aus, besichtigte die Haut der Arme, der Brust, des Halses und des Gesichts mit einer Sorgfalt, als suche er etwas ganz Besonderes.
Nachdem er dann noch im Zimmer alles Mögliche sich mit gleichem Interesse angeschaut hatte, so die Feder des Federhalters, die Tinte im Schreibzeug, das Fensterbrett und auch den Spüleimer, wandte er sich an Doktor Heid.
„Der Mann hat sich nicht vergiftet, sondern ist durch das indianische Pfeilgift Kurare in einen starrkrampfähnlichen Zustand versetzt worden, der regelmäßig den Tod nach sich zieht, wenn nicht alsbald die Nervenlähmung durch elektrische Behandlung beseitigt wird. – Schnell also, Herr Doktor. Tun Sie das Nötige. Aber – absolutes Schweigen! Sie wissen!“
Heid lief schon hinaus, um seine Elektrisiermaschine zu holen.
Dann sagte Harst zu den beiden Beamten: „Bitte verändern Sie hier nichts im Zimmer. Schließen Sie es ab, sobald Doktor Heid den Bewußtlosen wieder ins Leben zurückgerufen hat, und befolgen Sie dasselbe, was ich ihm sagte: Schweigen Sie! Nichts von dem, was ich festgestellt habe, nichts über meine Person. Fragt man Sie, so sagen Sie: „Ja – ein Selbstmordversuch. Aber dem Doktor ist es gelungen, den Mann noch zu retten.“ – So – guten Morgen. Sie hören noch von mir.“
Wir gingen in den Garten unter die Fenster Berthold Müllers. – Harst murmelte: „Sehr unbegabt – sehr!“ Dann kehrten wir ins Haus zurück, und er teilte Frau Mertens mit, wir würden morgen abend einziehen. Er zahlte die Miete für eine Woche voraus, und die Mertens strahlte. Sie war so in Angst gewesen, ihr Pensionat könnte nun[2] leer bleiben.
Wir kamen dann gerade über die Brücke, die die Verbindung zwischen den beiden Seen überwölbt, als Doktor Heid auf einem Rade heransauste. Harst winkte.
„Herr Doktor, geben Sie uns für Ihre Gattin eine Karte mit, die uns genügend legitimiert. Ich muß die Baronesse sprechen. Sie ist doch hoffentlich vernehmungsfähig?“ –
Frau Heid sagte gleich darauf zu uns in ihres Mannes Sprechzimmer: „Ich ahnte, daß hier irgend welche geheimnisvollen Umstände mitsprachen, Herr Harst. – Auf meine Verschwiegenheit können Sie sich verlassen. Ich werde auch ganz genau befolgen, was Sie verlangen.“
Die Baronesse war im Salon untergebracht. Frau Heid hatte uns angemeldet. Die Kranke war sehr bleich. Ihre zerfleischte linke Schulter war dick bandagiert.
Harst setzte sich an das Bett. – „Sie wissen, wer ich bin, Baronesse. Es tut mir so unendlich leid, daß ich nicht rechtzeitig eingreifen konnte. Nun – jetzt sind Sie dafür aber auch ganz sicher hier. Sie werden gesund und glücklich werden. Berthold Müller läßt Sie herzlichst grüßen. Er ist unser Verbündeter geworden. – So, und nun einige Fragen, Baronesse.“
Wir erfuhren so, daß Thora sich kurz vor ½12 zu der Zusammenkunft mit uns hatte an den See begeben wollen. Sie kam auch unbemerkt in den Garten. Dann näherten sich ihr die drei Bulldoggen, bisher ihre Lieblinge. Sie rief sie leise an. Aber ganz plötzlich waren die Hunde dann zum Angriff gegen sie vorgegangen – ohne jeden Grund. Sie hatte sich verzweifelt gewehrt und laut um Hilfe gerufen. Zu ihrem Erstaunen hatten die Bulldoggen ebenso plötzlich aber von ihr abgelassen und waren scheu zur Seite gekrochen. Dann war ihr Onkel aus dem Hause herbeigestürmt, auch der Diener, und dieser trug sie nun in ihr Zimmer, während der Baron die Hunde in seiner Wut niederschoß.
„Sie trugen einen Seidenmantel, Baronesse, nicht wahr?“ – Sie bejahte.
„Haben die Bulldoggen vielleicht mal irgend ein kleineres Raubwild zerrissen?“ forschte Harst weiter.
„Ja – vor zwei Tagen einen zahmen Fuchs. Meiner Schwester Wilhelma gehörte er. Er wurde in einem Käfig gehalten. Wie die Hunde, deren größter Feind er war, ihn töten konnten, ist uns unerklärlich. Es muß jemand sie in den Käfig hineingelassen haben. Sie haben ihn vollständig zerfleischt. Nur Fetzen waren noch vorhanden. Wilhelma ist ganz untröstlich.“
Dann richtete Harst noch verschiedene Fragen an sie, die ihren Brief – die Bitte um Hilfe – betrafen.
So bat er um Aufklärung, weshalb sie sich als „gehetztes Wild“ in dem Schreiben bezeichnet habe.
„Weil ich bereits dreimal dem sicheren Tode nur durch einen Zufall entgangen bin.“ Sie schilderte diese Vorfälle kurz.
Dann wollte Harst wissen, ob sie einem der Hausangestellten mißtraue.
„Nur dem Gärtner,“ meinte sie. „Ich habe festgestellt, daß er mir nachschleicht. Als ich Onkel Gisbert, den wir alle sehr lieben, dies mitteilte, lachte er mich aus. „Kind, er hat eben eine heimliche Neigung zu Dir gefaßt,“ sagte er zu mir. „Ich werde ihn ins Gebet nehmen, und dann wird er Dich in Ruhe lassen.“ – Eine Weile fiel mir dann auch nichts auf. Aber eines Tages, als ich mich in Potsdam mit Bert, meinem Bräutigam, traf, war er wieder hinter uns her, verschwand jedoch, als ich mich zum zweiten Mal nach ihm umdrehte. Auch im Garten hat er mich stets sozusagen beaufsichtigt. Immer ist er in der Nähe, wenn –“
„Danke, Baronesse. – Hat Ihnen Ihr Vater einmal von dem sogenannten Fluche des Geschlechts etwas erzählt?“
„Nein – nie! Ich weiß nur, daß unsere Familie Ungarn wegen politischer Umtriebe verlassen mußte. Die Friedrichsburg soll auch geheime Gänge enthalten, die der Erbauer absichtlich angelegt haben soll, da er Nachstellungen seiner politischen Feinde befürchtete. Erst Onkel Gisbert berichtete uns die Sage von dem sterbenden Zigeuner. Es kann ja nur eine Sage sein, obwohl der Onkel daran zu glauben scheint.“
„Besitzen Sie ein Familienalbum?“ fragte Harst nun. „Wenn ja – wo befindet es sich?“
„Im sogenannten blauen Saal im ersten Stock in einem Eichenschrank.“
In diesem Augenblick trat Frau Doktor Heid ein, flüsterte:
„Der Diener des Barons ist im Wartezimmer. Er will Bescheid haben, ob der Baron seine Nichte sehen kann.“
„Bestellen Sie, daß er sie sehen, aber nicht sprechen dürfe, da sie noch zu schwach ist,“ erklärte Harst. „Bitte kommen Sie dann wieder hierher, Frau Doktor.“
Als sie erschien, sagte Harst: „Sie bleiben hier im Zimmer, Frau Doktor. Unter keinen Umständen verlassen Sie es. Sie dulden auch nicht einmal, daß der Baron etwa seine Nichte auf die Stirn küßt. Am besten, Sie setzen sich hier ans Bett und rühren sich nicht weg. – Wir, Schraut und ich, werden dort das Piano anders stellen, damit wir dahinter Platz haben. Oben auf das Instrument werde ich Bücher so aufstellen, daß kleine Spalten zum Durchsehen frei bleiben. – Fragen Sie jetzt nichts. Ich tue alles im Interesse der Baronesse und auch aus Interesse für deren Onkel.“ – Die beiden Damen merkten wohl kaum den feinen Unterschied, den Harst machte: einmal „im Interesse“, dann „aus Interesse“! Ich – merkte ihn! Aber – klüger wurde ich dadurch auch nicht. –
Eine Viertelstunde später klopfte es an die Salontür. Frau Heid rief Herein.
Der Baron war ein schlanker, eleganter, älterer Herr mit graumeliertem Spitzbart, sehr liebenswürdig, sehr gewandt: er küßte Frau Heid die Hand.
Er bezeigte für Thora eine rührende Teilnahme, stand am Fußende des Bettes und sprach liebevolle Worte, legte für sie dann ein paar prachtvolle rote Rosen mit langen Stielen auf die Bettdecke und verabschiedete sich wieder.
Kaum war er hinaus, jetzt begleitet von der jungen Arztfrau, als Harst auch schon die Rosen in eine Zeitung sehr vorsichtig einwickelte und zu der Baronesse sagte: „Der Duft könnte Ihnen schaden.“ –
Wir warteten dann in Heids Sprechzimmer auf seine Rückkehr. Harst benutzte die Zeit und untersuchte die vier Rosen. – „Ich finde nichts. Trotzdem ist es besser, sie werden verbrannt,“ meinte er. Und er tat es eigenhändig im Ofen, indem er Papier aus dem Papierkorb hineinstopfte und es anzündete.
Nach einer halben Stunde trat Heid endlich ein. „Er lebt!“ rief er ganz glücklich. „Er hat auch bereits zu Protokoll gegeben, daß er nie an Selbstmord gedacht und daß der Zettel nicht von ihm herrührt, der auf dem Schreibtisch lag. – In dem Wasserglas befindet sich am Boden Arsenik, wie ich festgestellt habe. – Eine recht mysteriöse Geschichte.“
„Keineswegs, Herr Doktor,“ sagte Harst gelassen. „Sogar eine sehr ungeschickte Geschichte. – Die Arseniklösung, die man in dem Glase eingerührt hatte, ist in den Spüleimer gegossen worden. Die Tinte, mit der die Selbstmordankündigung geschrieben wurde, ist schwarze Kaisertinte, während das Schreibzeug Eisengallustinte enthält. Die Handschrift ist von Leuten gefälscht, die Briefe Müllers an seine Braut abgefangen haben und so leicht imstande waren, Schreibübungen nach diesen Mustern zu machen. Das Kurare-Gift ist ihm durch einen Nadelstich in die linke Halsseite beigebracht worden. Die Haut zeigt dort auch zwei Mückenstiche. Der Schlafende wird den Stich also für eine Mücke gehalten haben. Der, der die Nadel handhabte, ist durch das offen gelassene linke Fenster mit Hilfe einer Leiter eingestiegen. Die Eindrücke der Leiterenden sind unter dem Fenster zu erkennen, ebenso auch der scharfe Abdruck eines Absatzes mit Gummiecke dicht daneben in einer vom Dach herabgetropften, noch nicht erhärteten Teeranhäufung. Die Gummiecke ist mit drei Nägeln befestigt. – Also: Mordversuch!“
Doktor Heid stand ganz versteinert da. „Sie – Sie übertreffen noch meine Erwartungen, Herr Harst,“ sagte er nun kopfschüttelnd. „Nie hätte ich gedacht, daß es so geniale –“
Harst wehrte lächelnd ab. „Keine Schmeicheleien! – Wir sind ja erst zur Hälfte mit diesem Fall fertig. Ich betone: diesem Fall! – Denn die Leute, die Müller umbringen wollten, haben bereits fünf Morde auf dem Gewissen und wollten auch die Baronesse beseitigen. Müller aber sollte sterben, weil seine Braut ihn zum Mitwisser ihrer Todesgedanken gemacht hatte. Er wäre der Mordbande gefährlich geworden – vielleicht! – So, nun etwas anderes. Ich habe Ihrer Gattin bereits mitgeteilt, daß niemand, sei es, wer es sei, außer Ihnen beiden an das Krankenbett darf. Also – größte Vorsicht! Dann – nur Speisen der Baronesse geben, die unter Ihrer Aufsicht, besser von Ihrer Gattin allein und von Vorräten bereitet sind, die bereits im Hause vorhanden. Schließlich: wir werden die Nacht über hier wachen, das heißt im Salon hinter dem Klavier, aber es ist möglich, daß wir erst sehr spät kommen können. Lassen Sie also Haus- und Flurtür auf. Brennen Sie aber kein Licht in der Wohnung. Tun Sie, als wären Sie zeitig wie immer schlafen gegangen. Sollte der Baron heute nochmals hier erscheinen, so können Sie so nebenbei erklären, Sie hielten eine Nachtwache bei der Baronesse für überflüssig; Sie würden ihr ein starkes Schlafpulver geben, schon der Schmerzen wegen. – Was Müller anbetrifft, so lassen Sie ihn sofort nach Potsdam in ein Krankenhaus bringen.“
„Oh – es geht ihm ja schon so gut, daß –“
„Dann soll er bei Mertens ein anderes Zimmer beziehen – im zweiten Stock, soll die Fenster nachts geschlossen halten und irgend jemand für die Nacht zu sich nehmen – vielleicht den Hausdiener. Aber all das ganz unauffällig.“ – Harst erhob sich. „Ich habe jetzt ein starkes Bedürfnis nach Schlaf. – Also – auf Wiedersehen, Herr Doktor.“
Heid hielt Harsts Rechte in der seinen fest, bat:
„So sagen Sie mir doch nur, was all das bedeutet?! Schon in der Nacht unter der Laterne den furchtbaren Hinweis auf Tetanus –“
„Nicht jetzt, Doktor, – morgen vielleicht – oder in der kommenden Nacht. – Auf Wiedersehen!“
Wir wanderten unserem Häuschen zu. Harst grübelte vor sich hin mit gesenktem Kopf.
„Wenn ich nur wüßte, wie ich ohne die Depesche nach Transvaal auskäme,“ meinte er dann. „Sie wäre ja tagelang unterwegs. Und ebenso die Antwort. – Gewiß – wenn wir eine Photographie fänden, – wenn! Aber – wie nur an das Album herangelangen? – Wir müßten es gerade stehlen. Schließlich ließe sich auch das vielleicht bewerkstelligen –“
Wieder schwieg er. Erst vor unserem Sommerheim blieb er stehen, faßte mich an den Ärmel: „Schraut – ich hab’s. Wir stehlen’s! Und wir machen auch dabei gleich die Probe aufs Exempel. Der Baron hatte seine Farm dicht bei Keetmannshoop. Wir werden die Afrikakenner spielen.“
Wir schliefen bis gegen drei nachmittags. Dann mußte uns Frau Höppner eine einfache Mahlzeit zubereiten, und um vier läuteten wir an der Gitterpforte der Friedrichsburg.
Der Diener öffnete uns. Er hatte ein faltiges, glattrasiertes Fuchsgesicht und sehr argwöhnische Augen. – Harst erklärte, den Herrn Baron sprechen zu wollen in einer rein persönlichen Angelegenheit.
Der Diener ließ sich die Namen nennen – Brüder Ernst und Oskar Hevelke, Versicherungsbeamte, – führte uns ins Haus und hieß uns auf der sehr prunkvollen Diele warten, kehrte sehr bald zurück und geleitete uns in den Garten, wo der Baron in einem Liegestuhl, neben sich einen gedeckten Kaffeetisch, unter einer Kastanie saß.
Er erhob sich, war recht freundlich, und fragte nach unseren Wünschen.
Harst tat nun sehr verlegen. „Entschuldigen Sie, Herr Baron, – wir haben uns geirrt,“ meinte er. „Wir kamen in der Hoffnung her, in Ihnen einen Bekannten begrüßen zu können. Mein Bruder und ich waren vor fünf Jahren längere Zeit im Auftrage einer englischen Versicherungsgesellschaft in Keetmannshoop, lernten dort einen Baron von Malwack flüchtig kennen und hofften nun, hier in Ihnen diesen Herrn wiederzufinden, der sich dann vielleicht hätte versichern lassen. Man verdient doch gern die Provision. Entschuldigen Sie also gütigst, Herr Baron. Wir sind ganz zufällig auf Ihren Namen aufmerksam geworden. Wir wohnen als Sommergäste bei dem Maurer Höppner, und durch das gestrige Unglück mit den Hunden –“
„Oh – da bedarf es doch keiner Entschuldigungen, meine Herren, wirklich nicht. – Also in Keetmannshoop waren Sie mal. Na – dann haben Sie dort meinen Vetter kennen gelernt, der damals auf meiner Farm als Jagdgast weilte. Ich bin ja auch alter Transvaaler.“
Mir fiel es auf, daß er dann sofort das Thema wechselte. Harst verabschiedete sich bald, fragte dann aber noch zögernd, ob der Herr Baron nicht doch vielleicht Lust hätte, sein Leben versichern zu lassen. – Doch der lachte zwanglos, meinte: „Für wen wohl? Ich bin Junggeselle und habe für mich übergenug. Nein, so leid es mir tut, meine Herren, aber –“
„Und Ihre Hausangestellten, Herr Baron?“
„Sie scheinen ja ein sehr eifriger Beamter zu sein,“ lachte der frühere Farmer. „Ich will sie fragen, und dann gebe ich Ihnen Bescheid.“
Wir gingen wieder. Auf der Straße sagte Harst:
„Wir brauchen das Album nicht mehr. Deshalb habe ich von dem Diebstahl abgesehen. Wir hätten ihn vielleicht ermöglicht, wenn wir uns das Haus hätten zeigen lassen. Nun – wir sind um eine Schwierigkeit herumgekommen. Dieser Baron ist entweder nie in Afrika gewesen oder hat guten Grund, diese Erinnerungen nicht aufzufrischen. Deshalb vermied er ein Gespräch über Keetmannshoop. Die Hauptsache: er ist harmlos geblieben und – ich kann mir auch die Depesche sparen.“
Wir suchten das Postamt auf, und Harst rief die Berliner Kriminalpolizei an, bat um sechs Beamte für die Nacht, denen er abends neun Uhr auf dem Bahnhof Wannsee die nötigen Weisungen geben würde.
Bis gegen 7 Uhr abends ruderten wir auf dem Kleinen Wannsee herum, lediglich, um uns die Zeit zu vertreiben. Bei Höppners fanden wir dann einen Brief des Doktors, versiegelt, darin nur seine Visitenkarte mit den Worten: „Er war selbst hier. Habe über Schlafpulver gesprochen.“
Harst nickte zufrieden. „Die Falle wäre gestellt. Der Fuchs wird hineintappen. Es fragt sich nur, welcher aus dem großen Fuchsbau es sein wird.“
Um zehn schlichen wir in das Haus des Doktors hinein. Er wohnte Hochparterre[3].
Heid und Frau waren noch auf. Im Dunkeln wurde die Baronesse nun auf Harsts ausdrücklichen Wunsch im Speisezimmer auf dem Diwan gebettet. Heid sollte bei ihr wachen.
Dann begaben wir uns in den Salon. Harst nahm den falschen Bart ab, so daß sein glattrasiertes Gesicht zum Vorschein kam, band um die Stirn eine Serviette, legte Jackett, Kragen und Schlips ab, versteckte dies alles, öffnete den einen Fensterflügel, setzte sich auf den Rand des Bettes, in dem noch die Betten lagen, und hieß mich hinter dem Klavier auf einem Stuhl Posto fassen. Zwei Paar stählerne Handfesseln trug ich in der Tasche, und Harst sagte, ich solle sie bereit halten, sobald er sich ins Bett lege.
Auf dem Nachttisch brannte nur ein sogenannter Ölschwimmer, dessen Lichtkreis kaum für die Platte des Tischchens reichte.
Ich saß nun und wartete. Und ich hatte dabei genügend Zeit, mir alles zu überlegen, was mit diesem Fall zusammenhing. Ich wußte jetzt, daß Harst den Baron beargwöhnte. Aber ganz klar sah ich noch immer nicht.
Eine Stutzuhr auf einer Vitrine links von mir schlug zwölf. Ich saß so, daß ich mich nur halb aufzurichten brauchte, um durch die Lücke in den Büchern hindurchzuspähen. Ich tat’s sehr oft. Und als die Uhr ausgeschlagen hatte, abermals.
Harst lag im Bett! Viel von ihm sah ich nicht. Er hatte die Decke bis zum Halse hochgezogen. Das Bett stand rechts von mir an der Wand. Geradeaus lagen die beiden Fenster.
Ich beobachtete sie scharf. Minuten vergingen. Dann bewegte sich der Vorhang vor dem offenen Flügel, dann wurde er zurückgeschoben – ganz langsam. Die Nacht war hell, und die Dämmerung im Zimmer gestattete ganz gut, die einzelnen Gegenstände ungefähr zu unterscheiden.
Abermals bewegte sich der Vorhang. Eine Gestalt erschien. Sie verharrte regungslos dicht am Fenster. Dann hantierte sie vorsichtig mit etwas herum, das wie ein Stock aussah, der sich immer mehr verlängerte. Es war fraglos ein Angelstock aus mehreren, ineinander zu schiebenden Teilen.
Harst lag mit dem Gesicht nach den Fenstern hin. Er hatte die Kopfkissen umgelegt und auch das Nachttischchen umgestellt. Das fiel mir erst jetzt auf. Er konnte also ebenfalls die Fenster im Auge behalten.
Die Gestalt bewegte sich vorwärts. Ich erkannte nun recht deutlich den langen Angelstock. Jetzt machte der Eindringling halt. Der schwache Lichtschein des Schwimmerchens traf das dünne Ende des Angelstockes.
Da bewegte Harst den Kopf, und blitzschnell zog die Gestalt, die etwa zwei Schritt vom Fenster entfernt tief gebückt dastand, den Stock zurück.
Wieder Stille. Nur mein Herz hämmerte.
Und dann – hob der Fremde zum zweiten Mal den jetzt gesenkten Stock. Das dünne Ende – es war heller Bambus – leuchtete matt im Lichte des Lämpchens auf, beschrieb einen Bogen auf Harsts Hals zu.
Ich wußte: die Entscheidung war da.
Und – sie kam! – Harst schlug urplötzlich mit der Linken den Stock bei Seite, schleuderte die Decke von sich, tat einen wahren Panthersatz und warf sich auf den im ersten Augenblick völlig Überraschten.
Doch dieser Mensch hatte Riesenkräfte. Ein Faustschlag traf Harsts Stirn, daß er zurückflog. Und gedankenschnell schwang der Fremde sich auf den Fensterkopf, wollte hinausspringen.
Wollte! – Harsts Hände bekamen ihn gerade noch an den Schultern zu packen, rissen ihn zurück, glitten nach dem Halse hin.
Ein schweres Ächzen, und dann konnte ich dem halb Bewußtlosen die Handschellen anlegen, bückte mich, drückte das andere Paar um die Fußgelenke.
„Licht!“ befahl Harst. Ich schaltete den Kronleuchter ein.
Tageshelle urplötzlich. Ganz geblendet schloß ich die Augen, öffnete sie wieder.
Dort auf dem Teppich lag der Baron Gisbert von Malwack. –
Harst holte den Doktor, bückte sich, hob den Angelstock auf. An dessen Spitze war eine lange, dünne Nadel befestigt, deren Oberteil einen bräunlichen Schimmer zeigte.
„Es ist Gift – Kurare,“ sagte Harst laut.
Der Gefesselte regte sich. Über sein verzerrtes Gesicht ging ein Grinsen hin. – „Das Spiel scheint aus zu sein,“ meinte er mit einer Gelassenheit, die für die Abgebrühtheit des Verbrechers sprach. „Nun – was können Sie mir groß anhaben?! So gut wie nichts! Was habe ich getan: etwas versucht, das nicht zur Ausführung gekommen ist!“ – Da erkannte er mich. – „Ah – einer der Versicherungsbeamten! Also Spione,“ lachte er höhnisch.
Harst trat näher. „Ja – Spione! Und der andere bin ich. Ich heiße Harald Harst –“
Das Gesicht des Barons wurde starr und um einen Schatten blasser. Er schaute zur Seite.
„Also Harald Harst bin ich, den die Baronesse zu Hilfe gerufen hat gegen Sie und Ihre Verbündeten, Sie – Massenmörder! Ich kenne Ihr geheimes Laboratorium. Dort fand ich ein Gestell mit Reagenzgläschen – Cholerabazillen und Tetanus- oder Wundstarrkrampfbazillen, dort aber auch den zerrissenen, blutigen Mantel der Baronesse. Sie Ungeheuer – Sie haben absichtlich die Hunde auf den Fuchs scharf gemacht, haben dann dem Mantel durch irgend ein Mittel dieselbe Raubtierausdünstung so kräftig beigebracht, daß die Bulldoggen nicht die Witterung der Komtesse gestern nacht bekamen, sondern die des ihnen verhaßten Fuchses. Und da sind sie auf das arme Weib losgestürzt, ließen erst von ihr ab, als sie am Boden lag und als nun die menschliche Witterung die andere übertäubte. Ich habe noch deutlich den Raubtiergeruch an dem Mantel gespürt. Und nur deshalb haben Sie ihn in das Geheimgemach getragen, weil Sie diesen Geruch als verräterisch fürchteten. Der Mantel sollte eben verschwinden. Sie wußten, daß die Baronesse mich treffen wollte. Sie oder einer Ihrer Genossen hat ja den Brief geöffnet und mir dann die gefälschte Depesche gesandt. Sie wollten Thora ermorden, ebenso wie Sie ihren Verlobten beseitigen wollten und – wie Sie den Studenten Malwack, die ältere Baronesse und all die anderen Mitglieder der Familie schon beseitigt haben, um Erbe des großen Familienvermögens zu werden.“
„Lächerlich!“ rief der Gefesselte dazwischen. Aber es klang sehr kleinlaut.
„Ihnen wird das Lachen vergehen. – Sie sind ein Betrüger, sind nicht Baron Gisbert. Wer Sie sind, wird wohl einer Ihrer Komplicen angeben, um den eigenen Kopf zu retten. In diesem Augenblick sind Ihre drei Helfershelfer, der Diener, die Köchin und der Gärtner, bereits verhaftet. Diese drei haben Sie ja sofort nach Übernahme der Vormundschaft eingestellt und das altbewährte Personal entlassen. – Wäre es nicht besser, Sie legten ein Geständnis ab?“
„Da können Sie lange warten,“ zischte der Verbrecher in ohnmächtiger Wut.
Draußen ein Trillerpfiff. – „Aha – Kommissar Bechert,“ meinte Harst. „Holen Sie ihn herein, Schraut.“
Der Kriminalkommissar raunte mir schon im Flur zu: „Der Gärtner hat alles gestanden. Nun ist die Bande geliefert!“
Bechert warf einen langen Blick auf den Daliegenden.
„Schade – daß die Folter abgeschafft ist,“ sagte er zu ihm voller Abscheu. „Sie hätten sie verdient, Sie Bestie in Menschengestalt! Sie heißen in Wirklichkeit Paul Melzer, waren Arzt in Keetmannshoop, wurden wegen allerlei Betrügereien eingesperrt, entwarfen dann den Plan, sich des großen Vermögens der Malwacks zu bemächtigen, dangen sich drei ebenso verkommene Existenzen zu Verbündeten, rüsteten sie mit Giften aus, schickten sie hierher und ließen durch den jetzigen Diener erst den alten Baron und dann das Ehepaar beseitigen. Einzelheiten will ich mir jetzt schenken. Sie kannten den Baron Gisbert persönlich, wußten auch, daß er hier Vormund werden sollte. Als er nach Deutschland abreisen wollte, haben Sie ihn in Kapstadt ermordet, ihm sein Geld, seine Papiere abgenommen, haben sich als Baron ausgegeben, konnten es auch ganz ruhig, da dieser seit zwanzig Jahren dauernd in Transvaal gelebt hatte und weil eine entfernte Ähnlichkeit mit ihm diesen Betrug erleichterte. Die ältere Baronesse haben Sie mit eigener Hand im Badehäuschen der Friedrichsburg ertränkt, den jungen Baron, den Studenten, durch Cholerabazillen hingemordet, Baronesse Thora sollten die Hunde zerfleischen, und ihren Verlobten sollte gestern der Gärtner vergiften. Auch darin stimmt Herrn Harsts Vermutung, daß Sie Thora von Malwack das Tetanusgift in die Wunden bringen wollten, damit sie an Wundstarrkrampf eingehe. Jeder von Ihnen hat gemordet oder zu morden versucht, nur des Dieners Frau, die Köchin, noch nicht. Aber auch sie sollte gleich schuldig werden und später die jüngste der Schwestern irgendwie den anderen folgen lassen. Um diesen Morden ein abergläubisches Mäntelchen umzuhängen, erfanden Sie die Geschichte von dem Fluche des Geschlechts derer von Malwack. – So – nun wird die Welt von Ihnen befreit werden – endlich, und das haben wir nur Harald Harst zu verdanken. Ein verbrecherisches Genie wie Sie konnte auch nur durch ein Genie entlarvt werden.“
Harst und ich gingen durch die stillen, friedlichen Straßen Wannsees heim nach unserem Sommerquartier.
Und Harst sagte: „Bechert hat recht: der Mensch war ein Genie in seiner Art. Wer wäre wohl so leicht auf die Idee gekommen, die Bulldoggen als Mörder zu benutzen?!“
Dann rauchte er seine Mirakulum weiter.
Wir saßen gegen elf Uhr vormittags in Harsts vornehm eingerichtetem Arbeitszimmer und warteten auf den Brief, den uns die Wettgegner durch einen Eilboten zustellen wollten und der die neue Aufgabe enthalten würde.
Harst sprach über das Liebespaar, dem er in Blinkenstein eine Heirat erleichtert hatte. Ich stand am Fenster und beobachtete eine Regenwolke, die uns vorhin einen kräftigen Schauer gebracht hatte und die nun nach Osten zu über Berlin hinwegzog.
Dann rollte ein Auto vor das Haus. Eine tief verschleierte Dame stieg aus, sah sich ängstlich um, drückte dem Chauffeur Geld in die Hand und lief nun leichtfüßig durch den Vorgarten auf die Eingangstür zu.
Harst war neben mich getreten, sagte: „Sie hat Angst vor Verfolgern. Sie wohnt in einem westlich gelegenen Vorort, hat erst vor kurzem ihre Wohnung verlassen – vor vielleicht einer Viertelstunde, hat nicht gleich ein Auto gefunden und will meinen Rat oder meine Hilfe erbitten. – Ah – da läutet es schon. Öffnen Sie, Schraut.“
Ich führte die Dame hinein. Harst bat, sie möchte im Klubsessel am Fenster Platz nehmen. Sie war elegant gekleidet. Der Schleier verhüllte ihr Gesicht vollkommen.
„Sie gestatten, daß mein Privatsekretär im Zimmer bleibt, gnädiges Fräulein,“ begann er nun. „Glauben Sie, daß Ihre Verfolger bis hierher hinter Ihnen geblieben sind?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, nein, Herr Harst. Aber – woher können Sie wissen, daß –“
„Oh – das ist so einfach. Ich weiß noch mehr. Sie wohnen vielleicht in der Villenkolonie Grunewald, im westlichen Teil. Sie haben Ihr Haus vor etwa einer Viertelstunde verlassen. Es dauerte eine Weile, ehe Sie ein Mietauto fanden. Dann haben Sie den Chauffeur auf Umwegen hierher dirigiert – der Verfolger wegen. Sie sind unverheiratet, radeln gern, gehören dem sehr exklusiven Tennisklub „Berlin 1900“ an; Ihr Vater war oder ist eine bekannte, sehr angesehene Persönlichkeit, hat manche Eigenheiten –“
„Ja – mein Gott, wissen Sie denn, daß ich Hildegard Burmeester bin?“ rief die Dame dazwischen.
„Jetzt erst weiß ich’s. – Sie sind zu mir als dem durch die Zeitungen einigermaßen berühmt gewordenen Privatdetektiv gekommen. Ich wäre ein Stümper, wenn ich nicht all das, was ich Ihnen soeben erklärt habe, durch bloße Kombinationen herausgefunden hätte, – Ihre Hast, mit der Sie hier ins Haus liefen, Ihr scheues Wesen draußen neben dem Auto verrieten mir, daß Sie fürchteten, man könnte Ihnen gefolgt sein. Ihr Schirm ist recht naß. Jene Wolke dort kam von Westen, muß also im Westen zuerst einen Regenschauer gebracht haben und zwar vor nicht langer Zeit. Der Schirm also sagte mir, wo ich Ihr Heim zu suchen hätte. Denn – wohnten Sie im Osten irgendwo, hätten Sie schon vor dem Beginn des Regens im Auto gesessen. Derselbe recht feuchte Schirm deutet aber auch auf längeren Aufenthalt auf der Straße hin, das heißt, – Sie suchten einen Kraftwagen. Wären Sie nun direkt[4] zu mir gefahren – ohne Umwege – hätte das Verdeck des Autos nicht so triefen können. Sie sind ganz sicher gerade immer unter der Regenwolke geblieben, deren Naß nur einen geringen Raum traf. Sie tragen sehr eng anliegende Handschuhe. Die Ringe zeichnen sich deutlich ab. Aber – ein Ehereif fehlt. Daher „gnädiges Fräulein“. Dann zeigt das Oberleder Ihrer braunen Schnürschuhe innen an den geschwungenen Teilen jene charakteristischen Kratzer, wie sie Pedale eines Rades hervorrufen. Ferner steckt in Ihrer Krawatte das goldene Abzeichen jenes Klubs. Dieser nimmt nur Mitglieder aus ersten Familien auf. Also muß Ihr Vater angesehen sein. Ihre Kleidung, Ihr Schmuck, die goldene Schirmkrücke verraten Reichtum, desgleichen die Wohnung, die doch, da Sie vorhin zustimmend nickten, wirklich in der Villenkolonie Grunewald liegt. Die meisten dort Ansässigen haben eigene Autos. Wenn Sie nun ein Mietauto benutzten, so könnte[5] vielleicht daraus abgeleitet werden, daß Ihr Vater sehr sparsam und nicht für den Luxus eines Kraftwagens zu haben ist – also eine Eigenheit. Jeder Mensch besitzt ja mehrere – selbst der tugendhafteste, dann ist eben diese Tugendhaftigkeit seine Besonderheit. – So, und nun bitte ich Sie, mir vertrauensvoll Ihren Fall vorzutragen, wobei ich nichts, keine Kleinigkeit, mag sie noch so geringfügig erscheinen, wegzulassen bitte.“
Die Dame schlug den Schleier hoch. Wir bekamen ein blasses, feines Gesicht mit den kennzeichnenden Linien großer Willensstärke um Mund und Kinn zu sehen. Sie fing nun recht überstürzt an:
„Mich schickt Kommerzienrat Kammler her, einer Ihrer Wettgegner. Er ist mein Patenonkel. Er läßt Sie grüßen, Herr Harst. Ich soll Ihnen bestellen, daß meine Angelegenheit gleichzeitig die nächste Wettaufgabe für Sie ist. Er hat mir vor einer Stunde telephonisch mitgeteilt, daß Sie wieder hier eingetroffen wären. Da habe ich mich denn auch sofort auf den Weg gemacht.“
Sie schwieg, schaute zu Boden.
Da sagte Harst liebenswürdig: „Es scheint Ihnen etwas schwer zu werden, mir alles zu berichten, was Sie bedrückt. Bitte – tun Sie so, als säßen Sie hier zwei Anwälten gegenüber, die zum Schweigen verpflichtet sind. Ein Detektiv ist wie ein Beichtvater. Er verschließt alles, was diskret behandelt werden soll, fest in seiner Brust. – Ihr Vater ist der bekannte Kunstfreund und Altertumsforscher Geheimrat Pieter Burmeester. Er ist Witwer, so weit ich mich erinnere. Seine Familie stammt aus Holland. Er war früher Professor an der Universität Leyden. Er besitzt ein förmliches Museum, das er aber nur Größen der Wissenschaft zeigt. – So – und nun zur Sache, gnädiges Fräulein.“
Sie zögerte, schien zu überlegen. Dann begann sie leise:
„Sie müssen nicht denken, daß ich etwa furchtsam oder gar abergläubisch bin, Herr Harst. Nein, im Gegenteil, ich bin durch den frühen Tod meiner Mutter schnell selbständig und auch energisch geworden. Ich stehe unserem Haushalt allein vor. Wir haben nur eine Köchin und einen alten Diener. Beide sind seit vielen Jahren bei uns und goldtreu. Unsere Villa besteht aus einem zweistöckigen Hauptgebäude und einem parallel zur Hinterfront verlaufenden, später angebauten Nebenhaus. Dies ist einstöckig und enthält Papas Sammlungen. Wir nennen es immer das Museum. Es hat stark vergitterte Fenster, eiserne Türen und überall elektrische Alarmvorrichtungen. Die Türschlösser sind so kunstvoll, daß sie mit Nachschlüsseln nicht zu öffnen sind. Aus dem Museum führt eine Verbindungstür in Papas Arbeitszimmer. Dann kann man noch durch eine zweite vom Hofe aus hineingelangen. Diese ist aber seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Mein Schlafzimmer liegt nun im Hochparterre nach dem Hofe zu, der ein nach Norden zu offenes Quadrat bildet und kaum fünf Meter breit ist. Meinen beiden Schlafstubenfenstern gegenüber befinden sich die des sogenannten Mumiensaales, eines Raumes, der einige Dutzend äußerst seltene ägyptische, peruanische und mexikanische Mumien enthält –“
Sie hatte immer leiser gesprochen. Man merkte, wie sehr sich ihre Erregung steigerte, je mehr sie dem Kernpunkt der Sache näherkam.
Dann fuhr sie wieder etwas lauter fort: „Vor acht Tagen war ich gegen halb zwölf aus dem Theater gekommen. Ich wollte gerade die Vorhänge meines linken Schlafstubenfensters zuziehen, als ich zufällig nach dem Mumiensaal[6] hinüberblickte. Der Vollmond traf jene Fenster mit breiter Lichtbahn, so daß ich deutlich wahrnahm, wie eine Gestalt sich hinter dem mittelsten Fenster dort bewegte. Ich glaubte erst, es wäre unser Diener Karl. Dann aber trat die Gestalt ganz dicht an die tief herabgehenden Scheiben heran.
Mit einem Schrei des Entsetzens prallte ich zurück, denn – dort stand eine der Mumien, die Papa erst vor kurzem gekauft hatte, – stand da, wie sie auch in ihrem bunten Mumiensarg gelegen, – mit über der Brust gekreuzten Armen, um die Stirn das helle Band gebunden; die gläsernen, künstlichen Augen schienen mich anzustieren. Aber – sie bewegten sich. Ich habe es ganz deutlich bemerkt.
Ich war so erschrocken, daß ich mich zitternd auf den nächsten Stuhl setzen mußte. Als ich wieder hinüberblickte, war die Gestalt verschwunden. Ich wurde ruhiger, redete mir schließlich ein, es sei nur eine Sinnestäuschung gewesen, ging zu Bett und sagte am Morgen niemandem etwas von meinem seltsamen Erlebnis. – Zwei Tage darauf – inzwischen hatte ich den Mumiensaal mehrmals betreten und jene Königsmumie – es handelt sich um einen jüngeren Mann, angeblich den im Alter von 22 Jahren verstorbenen ägyptischen König Eneochar – mit stillem Grauen betrachtet, – also zwei Tage später gegen elf Uhr abends ereignete sich genau dasselbe: wieder stand die Mumie regungslos an demselben Fenster, und wieder sank ich vor Entsetzen fast ohnmächtig um. – Mein Vater war nicht daheim. Ich weckte Karl, unseren Diener, und sagte ihm, ich hätte einen Einbrecher im Museum bemerkt.“
„Weshalb diese Entstellung der Wahrheit?“ fragte Harst kurz.
Hildegard Burmeester errötete, wurde verwirrt.
„Weil – weil ich mich schämte, weil ich nicht zugeben mochte, daß ich an Sinnestäuschungen litt. – Karl und ich sind dann bewaffnet im Museum gewesen. Auch Papa kam bald hinzu. Wir fanden nichts Verdächtiges. Ich habe meinem Vater ebenfalls nichts von der Mumie gesagt.
Am folgenden Tage verreiste er nach Schweden, wo eine neue große Höhle entdeckt worden ist. Er will dort die Höhlenwohnungen und die mit aufgefundenen Geräte sich ansehen. Er kehrt erst in ein paar Tagen zurück. – Ich war nun doch bereits derart verängstigt, daß ich Karl bat, im Nebenzimmer, einem Gastzimmer, zu schlafen. Am zweiten Abend nach der Abreise meines Vaters, also vorgestern, erblickte ich die Mumie abermals. Da habe ich vor Grauen schnell meine Vorhänge geschlossen und Karl herbeigerufen, habe mit ihm eine Weile geplaudert, und mich so zu beruhigen gesucht.
Ich weiß nun bestimmt, daß es sich hier nicht um Halluzinationen[7] handelt, Herr Harst, denn – gestern hat Karl selbst ebenfalls gegen elf Uhr abends die Mumie beobachtet, wie sie ans Fenster trat und dann plötzlich verschwand. Er ist sofort mit seinem Revolver ins Museum geeilt, kam nach einer halben Stunde zurück, klopfte bei mir an und erzählte mir alles. Er hatte den König Eneochar still im Sarge liegend gefunden. – Wir haben nun beschlossen, Papa auf keinen Fall in diese geheimnisvolle Geschichte einzuweihen, da er sehr nervös und sehr reizbar ist. Es könnte seiner Gesundheit schwer schaden, wenn er davon etwas erführe.“
Sie machte eine kurze Pause. Dann fügte sie, jetzt wirklich voller Angst, hinzu:
„Und – und nun noch das andere, ebenso Seltsame, Unerklärliche. – Ich – ich werde seit Tagen auf Schritt und Tritt verfolgt. Stets ist es dieselbe schwarz gekleidete, ganz dicht verschleierte Dame, die ich hinter mir, neben mir bemerke. Sie ist wie mein Schatten; taucht plötzlich auf, verschwindet wieder, taucht abermals auf.“
Ihre eingehenden Angaben über diese Frau und die Art dieser Verfolgung brachten nichts Wesentliches.
Harst fragte noch dies und jenes, wobei er im Zimmer auf und ab ging. Dann traf er mit Fräulein Burmeester ganz bestimmte Verabredungen und führte sie nun persönlich durch den Gemüsegarten, der hinten an ein Laubengelände grenzt, auf einen Fahrweg, auf dem sie in eine Nebenstraße gelangen konnte.
Ich hatte mir inzwischen den neuen Fall nochmals hin und her überlegt. Als Harst das Zimmer wieder betrat, sagte er sofort, und er lächelte dabei ein wenig:
„Die Hälfte hat sie uns verschwiegen, behaupte ich. Daß sie sich geschämt hat, eine Sinnestäuschung zuzugeben, ist nicht wahr. Auch ihr ganzes Verhalten spricht dafür, daß sie einen anderen Grund hatte, erst dem Diener gegenüber die Tatsachen zu verdrehen und nun durchaus zu verhindern wünscht, ihren Vater etwas von dieser reichlich abenteuerlichen Sache erfahren zu lassen. – Besinnen Sie sich, lieber Schraut: Als ich sie fragte, ob ihr Vater in diesem Jahr bereits in einem Bade gewesen wäre – es hat nämlich in den Zeitungen gestanden, – wurde sie ohne jeden Grund sehr – sehr verlegen und rot und erklärte nur widerwillig: „Ja – im April in Pyrmont.“ – Jedenfalls dürfte es zweckmäßig sein, festzustellen, weshalb diese Antwort sie so verlegen machte. Ich werde den Berufsdetektiv Holtz, der mir letztens warm empfohlen wurde, sofort nach Pyrmont schicken, denn Sie, Schraut, brauche ich hier sehr nötig. Natürlich ist eine große Sache im Gange, irgend etwas ganz Besonderes, und da wir es wahrscheinlich mit mehreren Leuten zu tun haben, ist es ratsamer, wieder zu zweien zu arbeiten. – Holen Sie nur gleich unsere Gasarbeiterkostüme[8] herbei. Wir werden sofort nach der Villa hinausfahren, wie ich’s mit Fräulein Burmeester verabredet habe.“
Eine Stunde später verließen wir unser Heim auf demselben Wege wie vorher Hildegard Burmeester durch den Gemüsegarten. Unsere Verkleidung machte uns völlig unkenntlich.
Die Villa Burmeester lag inmitten eines wohlgepflegten, großen Gartens, der von ähnlichen Gärten umgrenzt war. Karl, der Diener, ein älterer, würdiger Mann, öffnete uns. Harst nannte seinen Namen und zeigte den Zettel als Legitimation, auf den Hildegard auf seinen Wunsch mit Tinte geschrieben hatte: „Überall hinführen – Hildegard!“
Karl wußte, daß seine junge Herrin bei uns gewesen. Er war sehr höflich und entgegenkommend, ohne jedoch auch nur einen Augenblick eine kriecherische Unterwürfigkeit zu zeigen. Er hatte zweifellos einen vortrefflichen Charakter und besaß die größte Anhänglichkeit an seinen Herrn und dessen Tochter. Auch die Köchin machte den allerbesten Eindruck.
Harst besichtigte zunächst das Gebäude von außen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dem Museumanbau. Wir mußten uns gedulden, der alte Karl und ich, denn Harst ging mit einer Sorgfalt zu Werke, die manchem sehr überflüssig erschienen wäre.
Auf dem kleinen Hofe stand eine einfache, etwa sechs Meter hohe Leiter. Harst fragte den Diener, ob sie zur Nacht weggeschlossen würde. – „Nein, hier gibt’s keine Diebe,“ meinte der Alte.
Harst nahm sein Taschenmesser und schnitt von einer der untersten Sprossen einen kleinen Span ab, wickelte ihn in Papier, steckte ihn in die Tasche und erklärte, das Haus nun auch von innen sich ansehen zu wollen.
Das Museum kam zuletzt heran, nachdem wir die Villa vom Dache bis zum Keller durchwandert hatten. Daß Geheimrat Burmeester ein schwerreicher Mann sein mußte, zeigte sowohl die Einrichtung der Zimmer, mehr aber noch die Unmenge wertvoller Altertümer, die er in den vier Räumen seines Privatmuseums aufgestapelt hatte. Jeder dieser Räume war von dem benachbarten durch eiserne Türen mit Kunstschlössern getrennt, wie uns dies Fräulein Hildegard schon mitgeteilt hatte. Die Balkenlagen des Fußbodens und der Decke waren gleichfalls mit Eisenplatteneinlagen versehen. Die Gitter an den Fenstern wieder waren ziemlich eng und von einer Stärke, die für Löwenkäfige genügt hätte. Kurz – der Geheimrat hatte seine Schätze – man denke noch an die Alarmglocken, die bei unbefugtem Öffnen einer Tür sofort anschlugen – so vorzüglich geschützt, daß hier „eine Einbruchsdiebstahlversicherung wirklich unnötig ist“, wie Harst lächelnd sagte.
Erst nahmen wir die drei anderen Räume in Augenschein. Dann schloß der alte Karl die schwere Eisentür zum Mumiensaal auf. Wir traten ein. Durch die drei Fenster fiel das Tageslicht in blendender Helle bis in den entferntesten Winkel. Ja – hell genug war’s hier. Und doch überlief mich in Gesellschaft all dieser starren, braunen Mumiengesichter, dieser in Jahrhunderte, selbst Jahrtausende alte Stoffe gehüllten regungslosen, vertrockneten Leichen ein Frösteln. Viele der Mumien standen in Glaskästen. Andere wieder lagen in ihren Mumiensärgen, über die dann nur große Glasplatten gebreitet waren als Schutz gegen den Staub.
Wenn ich sagte: „braune Mumiengesichter“, so trifft dies nicht ganz zu. Sechs ägyptische Mumien, wahre Prachtexemplare, tadellos erhalten, mit glatter, faltenloser Gesichtshaut, zeigten nur einen leicht bräunlichen Teint. Ganz besonders traf dies auf den König Eneochar zu.
Wir drei standen nun vor diesen so vorzüglich erhaltenen Resten des jungen Königs. Er lag lang ausgestreckt in einem reich vergoldeten, bunt bemalten Sarge, der auf acht Metallfüßen ruhte. – „Dieser Sarg allein,“ erklärte Harst, „ist Hunderttausende wert. Es ist Zedernholz vom Libanon.“
Die königliche Mumie war in ein mantelartiges Gewand gehüllt, dessen Farben verblichen waren. Es mußte sich um eine sehr kunstvolle Weberei handeln. Man erkannte noch breite, mit Hieroglyphen bedeckte Streifen, allerhand Tierfiguren und zahlreiche Goldfäden. Um die Stirn trug Eneochar eine breite Binde aus einem wohl einst schneeweiß gewesenen Stoff. Mitten auf dieser Binde war ein Käfer aus Gold befestigt. Das schwarze, glatte Haar war zwanglos zurückgestrichen. Das bartlose Gesicht wirkte infolge der künstlichen Augen unheimlich – wie das eines Lebenden, der jeden Augenblick aus seinem Sarge steigen konnte. Die Arme waren über der Brust gekreuzt; die Hände ebenso wie die Füße mit Binden umwickelt. Karl erzählte, auch der ganze Leib sei eng mit solchen Binden umhüllt.
Harst schien jetzt eingeschlafen zu sein. Ohne jede Bewegung verharrte er mit halb geschlossenen Lidern vor dieser selten gut erhaltenen Mumie, die, wie der Diener uns berichtet hatte, erst vor zehn Tagen etwa von dem Geheimrat für eine Unsumme angekauft worden war. Der Verkäufer war ein Ungar gewesen, der zugegeben hatte, gewerbsmäßig die Katakomben der ägyptischen Ruinenstädte nach Mumien zu durchsuchen und die Mumien dann heimlich nach Europa oder Amerika zu schaffen. Die Ausfuhr von Mumien ist ja seit Jahren in Ägypten streng verboten. Der Geheimrat hatte den Mann daher auch nicht weiter nach Namen und Heimat gefragt. Er war froh gewesen, dieses Prachtexemplar seinen Sammlungen einfügen zu können.
Endlich regte Harst sich. – „Wie oft reinigen Sie diese vier Räume?“ fragte er den Diener.
„Selten nur, Herr Harst. Etwa alle zwei Wochen. Zuletzt tat ich’s vor acht Tagen.“
„Dann putzen Sie auch die Fenster und wischen Staub, nicht wahr?“
„Ja – nur dann. Der Herr Geheimrat ist immer dabei. Er ist so besorgt um seine Altertümer.“
Harst wanderte nun im Mumiensaal auf und ab, blieb hier stehen, dort stehen, hatte die Augen überall, machte schließlich vor einem in die Wand eingemauerten Stahlschrank halt und meinte: „Was enthält dieser Tresor?“
Karl erklärte, er wüßte es nicht. Er nehme aber an, es seien altertümliche Kleinodien darin verwahrt.
Harst nickte zerstreut und besichtigte das Kombinationsschloß. „Amerikanisches Fabrikat – allerbeste Arbeit,“ sagte er wie zu sich selbst. „Kein Einbrecher könnte ihn sprengen. Ganz ausgeschlossen.“
Wieder stierte er nun diesen Tresor wie hypnotisiert an. Nach gut fünf Minuten drehte er sich nach uns um.
„So, nun erzählen Sie mir genau, was Sie damals von der wandelnden Mumie gesehen haben,“ bat er den Alten.
Karl berichtete mit all der Umständlichkeit, die viele ältere Leute an sich haben. Aber Neues brachte seine Schilderung jenes Abends nicht.
Harst verabschiedete sich jetzt, drückte Karl die Hand und sagte leichthin: „Wir werden die Sache bald aufgeklärt haben, hoffe ich. Ich habe mit Fräulein Hildegard vereinbart, daß wir einen Hausschlüssel erhalten sollen, damit wir nachts jederzeit ungehindert die Villa betreten können. Bitte, geben Sie mir den Schlüssel. Ferner nehmen Sie sämtliche Schlüssel zum Museum fortan in Ihr Zimmer. Es ist möglich, daß ich sie sehr schnell von Ihnen verlange. Im übrigen leben Sie alle hier so weiter wie bisher.“
Wir standen auf der Diele, und Karl eilte nun davon, um den Schlüssel zu holen.
Harst deutete auf ein Gemälde an der Wand. Es stellte eine Jagdszene dar. Eine Meute Hunde war einem Fuchs dicht auf den Fersen.
„Da, lieber Schraut, – das Bild trifft auch auf uns zu. Nur dürften es mehrere sehr schlaue Füchse sein, die wir jagen.“
Karl brachte den Schlüssel. Und die beiden Gasarbeiter verließen die Villa, traten auf die stille Straße hinaus. – Wir schlenderten gemächlich weiter, so recht wie Leute, die ihre Arbeit getan und es nicht eilig haben. Ein Auto kam hinter uns her, sehr langsam, fuhr dicht am Straßenrand entlang. Als es mit uns auf gleicher Höhe war, beugte sich der Chauffeur heraus und fragte leise:
„Herr Harst?“
Es war ein junger Mensch mit schwarzem Schnurrbart. Der Kraftwagen war ein geschlossenes, elegantes Privatauto.
Harst hielt mit dem Auto gleichen Schritt, musterte den Chauffeur scharf, fragte: „Bei wem stehen Sie in Dienst?“
„Bei Professor Koblenz. Fräulein Burmeester schickt mich. Sie meinte, Herr Harst und sein Sekretär würden in einer Verkleidung die Villa verlassen. Ich bin mir nun meiner Sache nicht sicher. Sind Sie Herr Harst?“
Harst bejahte. – „So – dann möchten Sie doch das Auto sofort benutzen,“ sagte der Chauffeur nun lebhafter. „Fräulein Burmeester läßt darum sehr bitten. Es ist etwas Neues geschehen. Worum es sich handelt, weiß ich nicht. Herr Professor Koblenz ist ein Freund des Herrn Geheimrats, und –“
„Schon gut. – Vorwärts!“ – Wir stiegen ein.
„Was mag nur passiert sein?“ meinte Harst nachdenklich. „Koblenz ist der berühmte Chirurg. – Na – wir werden ja hören –“
Der Chauffeur fuhr sehr schnell und sehr gewandt. Wir passierten den Vorort Halensee, dann ging’s nach Charlottenburg hinein. Wir kamen in alte, enge Gassen, bogen nun in eine Einfahrt ein, durchquerten drei Höfe, die überall von Autogaragen umsäumt waren.
Harst pfiff plötzlich leise durch die Zähne. – „Eine Falle!“ raunte er mir zu. „Hinaus mit uns!“
Er wollte die Tür öffnen. Aber – das Schloß mußte in Unordnung sein. Ich versuchte dasselbe, – ebenfalls umsonst.
Harst hob schon die Faust, um die Scheibe zu zertrümmern.
Da glitt der Wagen schon in eine offene Garagentür hinein, die hinter uns sofort zuflog. Einen Augenblick tiefes Dunkel. Dann blitzte eine große Laterne auf, dann wurden beide Autotüren geöffnet, und von jeder Seite hielt uns ein maskierter Kerl einen Revolver dicht vor das Gesicht.
„Keinen Laut! Aussteigen! – Mit uns ist nicht zu spaßen!“ rief der eine, ohne seine Stimme zu dämpfen. Er mußte sich hier also sehr sicher fühlen.
Harst fragte kaltblütig: „Was wollen Sie eigentlich von uns?“
„Nichts, als Sie und Ihren Sekretär und Gehilfen für drei Tage kaltstellen. Ihnen wird kein Leid zugefügt werden, wenn Sie vernünftig sind.“
„Meinetwegen denn,“ lachte Harst und kletterte heraus. Ich mußte noch im Wagen bleiben. Aber auch ich wurde dann durch Stahlfesseln an den Händen gebunden, erhielt eine Decke über den Kopf geworfen, fühlte Stricke an meinen Fußgelenken, wurde hochgehoben und wieder in die weichen Polster gedrückt.
Abermals begann eine lange Autofahrt. Jetzt aber saß mir gegenüber ein Kerl, der mir gedroht hatte, mich zu erstechen, falls ich einen Laut ausstieße. Wir fuhren und fuhren. Dann spürte ich an meinem rechten Ellbogen eine Berührung – einen leichten Stoß. Er wiederholte sich taktmäßig – eins – zwei – drei, Pause, – eins – zwei, drei –
Schließlich ging mir ein Licht auf. Es konnte nur Harst sein, der mich auf diese Weise von seiner Anwesenheit verständigen wollte. – Ich gab nun ebenfalls Antwort – eins – zwei – drei. – Da hörten die Signale auf. – Also natürlich Harst! Er, dem der Kerl nicht mit Erstechen gedroht hatte, war also wohl auch durch einen Knebel stumm gemacht worden – als der gefährlichere von uns.
Wie lange die Fahrt dauerte, konnten wir erst später ungefähr berechnen – etwa anderthalb Stunden. Nun hielt das Auto. Wieder verging eine kleine Ewigkeit, bis ich herausgehoben und davongetragen wurde. Ein einzelner Mensch schleppte mich. Er mußte Riesenkräfte besitzen. Ich hörte Fußboden unter seinen Schritten dröhnen, hörte zwei Türen zuschlagen. Dann wurde ich lang auf den Boden gelegt, dann nahm man mir das Tuch vom Kopf.
Ich lag auf ein paar Decken. Unter den Kopf war mir ein Kissen geschoben worden. Vor mir lag Harst in derselben Weise, den Kopf gleichfalls nach der Zimmerwand, so daß wir eine Linie bildeten. Zwischen unseren Füßen stand aufrecht eine Metallplatte.
Das Zimmer hatte an der rechten Wand von mir aus ein großes Fenster. Gardinen fehlten. Aber die gelben Vorhänge waren zugezogen. Sonst war der Raum bis auf einen kleinen Kachelofen leer.
Der maskierte, kleine, sehr breitschultrige und recht gut angezogene Mensch, der schon in der Garage den Sprecher gemacht hatte, sagte jetzt: „Ich will Ihnen die Belästigung durch einen Knebel hier ersparen. Ihre Hilferufe wären nämlich zwecklos. Das Haus liegt ganz einsam. Sollten Sie aber Lärm machen, so erhalten Sie sofort etwas zwischen die Zähne, daß Ihnen das Schreien vergeht. Ich warne Sie auch vor jedem Fluchtversuch! Sie sehen dort zwischen Ihren Füßen die Kupferplatte. Sie ist an den Dielen festgeschraubt. Hinter Ihren Köpfen befinden sich ähnliche Platten –“
Ich schaute nach Harst hinüber. Es stimmte. Dicht hinter seinem Kopf ragte ebenfalls eine Platte hervor. – Was sollten diese –?
Da sprach der Mensch schon weiter. „In die drei Kupferplatten sind elektrische Ströme geleitet. Sobald Sie es wagen, sich allzu sehr auf Ihrem Lager zu rühren, kippen die Platten hinter Ihren Köpfen um. Dadurch wird der Strom geschlossen und – Sie erleben eine elektrische Hinrichtung am eigenen Leibe! – So, nun wissen Sie Bescheid! – Ich werde Ihre Füße jetzt an die feststehende Platte binden, und ebenso Ihre Oberkörper an Haken, die hinter Ihnen in die Wand geschraubt sind. Sie sehen,“ wandte er sich nun direkt an Harst, „daß wir durchaus Ihren Fähigkeiten Rechnung tragen. Sie sind für unternehmungslustige Leute ein sehr gefährlicher Feind. Deshalb haben wir auch bereits gestern diese Einrichtung hier getroffen, die uns dafür bürgt, daß Sie uns nicht entweichen können. – Damit Sie nun aber nicht glauben, daß ich Ihnen hinsichtlich der elektrischen Starkströme blauen Dunst vormache, werde ich zu Ihrer Warnung diesen dünnen Eisendraht von einer Kopfplatte nach der Fußplatte führen.“ Er holte aus der Tasche ein Paar Gummihandschuhe hervor, streifte sie über und hob einen feinen, langen Draht auf, hielt ihn an die Fußplatte, und – in demselben Augenblick zuckte ein greller, langer Blitz unter lautem Knall auf: der elektrische Strom hatte den Draht bis zur Weißglut erhitzt und geschmolzen.
Allerdings: dieser Beweis genügte.
Nun band er uns so, wie er es uns angekündigt hatte, sagte noch: „Abends erhalten Sie Essen und Trinken,“ und verließ das Zimmer.
Ich gebe zu: so weich ich auch lag – nur die auf dem Rücken gefesselten Hände waren etwas unbequem, – ich kam mir wie in einem Sarge vor, wie ein lebendig Begrabener, der durch einen Starrkrampf kein Glied rühren kann und doch bei vollem Bewußtsein ist.
Der Gedanke, daß jede unvorsichtige Bewegung mir unfehlbar den Tod bringen würde, trieb mir den Schweiß aus allen Poren. Ich regte mich nicht. Ich sah daher auch nichts von Harst, da ich mit dem Kopf zu niedrig lag.
Eine Weile verging. Dann Harsts Stimme:
„Ich begreife diese Leute nicht?! Wozu all diese Umstände?! Wozu diese teuflische Einrichtung, die uns jede Sekunde mit dem Tode bedroht?! – Hätten die Leute von mir das Versprechen gefordert, gegen sie nichts zu unternehmen, – vielleicht hätte ich’s gegeben. – Schade, daß man uns nun so – so vorzüglich „kalt gestellt“ hat. Dieser Fall bietet ja so sehr viel Merkwürdiges. Sehr viel. – Schraut, ich fürchte, nun können wir nie dahinter kommen, was die wandelnde Mumie bedeutet – wenn ich wenigstens eine Zigarette hätte.“ – Er hatte all das in gewöhnlichem Tone gesprochen, weder zu laut, noch zu leise. Nun aber rief er, auch nicht allzu kräftig: „He, Sie! Einen Augenblick! Ich möchte nur um eine Zigarette bitten!“
Niemand erschien. Im Hause war’s ganz still.
Abermals rief Harst etwa dasselbe. – Wieder ohne Erfolg.
Dann verstummte er. – Ich lauschte mit angespannten Sinnen. Ich glaubte in der Ferne ein dumpfes, schnell verklingendes Rattern zu hören, auch einmal Hundegebell.
Im Zimmer war’s ziemlich hell trotz der geschlossenen Vorhänge. Meiner Schätzung mußte es ungefähr vier Uhr nachmittags sein. – Diese entsetzliche Stille hier peinigte mich. – „Herr Harst!“ flüsterte ich halblaut.
„Versuchen Sie zu schlafen,“ meinte er. „Was sollen wir anderes tun, Schraut?! Langweilig ist diese Art Gefangenschaft, das stimmt. Aber – ich füge mich. Ich habe keine Lust, mich elektrisch hinzurichten.“
Ich war überzeugt, daß auch seine ersten Sätze schon nur für einen heimlichen Lauscher berechnet waren. Er – er, Harald Harst, sich fügen?! – Nein – das glaubte ich nimmermehr! Dazu kannte ich ihn zu gut.
Wie endlos lang sich Minuten recken können, erfuhr ich heute wieder einmal. Ich wartete nämlich jetzt voller Ungeduld auf den Abend – auf die kleine Abwechselung, wenn wir – gefüttert werden sollten. Aber – mir schien’s ein voller Tag zu sein, ehe die Dämmerung draußen eintrat, ehe die Schatten der Dunkelheit unser Gefängnis zu füllen begannen.
Plötzlich Harsts leise Stimme: „Geben Sie jetzt auf jedes Geräusch acht, – aber Sie selbst: kein Wort!“
Ich horchte, strengte meine Ohren wie nie zuvor an. Bisher war im Hause auch nicht ein Laut vernehmbar gewesen. Es dauerte recht lange, bis ich dann ein Knarren hörte – von losen Dielen vielleicht.
Da sagte Harst mit ziemlich kräftiger Stimme: „Wenn die Kerle uns nur nicht hungern lassen! Still liegen will ich ja gern, weil’s eben sein muß. Aber hungern und gleich drei Tage! Nein – das –“
Die einzige Tür des Zimmers, links von mir, öffnete sich in diesem Augenblick. Ein Mann trat ein – unser Wächter! Er brachte eine brennende Laterne und einen Korb mit. – Ich will hier nicht im einzelnen schildern, wie er uns dann fütterte, – jedenfalls so, daß wir ihm dabei nichts anhaben konnten.
Er warnte uns nochmals vor dem elektrischen Strom, worauf Harst erklärte: „Ich bewundere Ihre Erfindungsgabe, Mann! Diese Art, einen Fluchtversuch zu verhindern, ist recht praktisch. – Was macht denn die Mumie des Königs Eneochar?“
Hinter der langen Seidenmaske kam ein kurzes Auflachen hervor. – „Oh – der geht’s gut, Herr Harst! – Nicht wahr – Sie möchten zu gern wissen, was wir vorhaben. Nur Geduld! Noch ein paar Tage, und Sie werden mehr davon hören, als Ihnen lieb und Ihrem Ruf als genialer Detektiv dienlich ist. Überhaupt: ich hätte Sie für schlauer gehalten! Fräulein Burmeester wird Ihnen doch fraglos heute vormittag auch erzählt haben, daß sie ständig überwacht wird. Wie konnten Sie da so gutgläubig das Auto besteigen, nur weil der Chauffeur die Leimrute mit dem Namen Koblenz legte?! Wir wußten ja schon gestern abend, daß wir’s mit Ihnen zu tun bekommen würden. Das Fräulein war ja gestern gegen sieben Uhr abends bereits einmal vergeblich in Ihrer Wohnung. Damals waren Sie noch verreist. Inzwischen konnten wir dann hier alles zu Ihrem Empfang bereit machen. – Ja – Sie sehen, es gibt auch noch klügere Köpfe als Sie es sind. Sie können sich jetzt Ihr Hirn noch so sehr zermartern: Sie werden weder hinter unsere Absichten kommen, noch vor der Zeit frei werden, – nein, erst dann, wenn wir von auswärts die Berliner Polizei benachrichtigen, daß der berühmte Harald Harst dort und dort gebunden liegt. Und dann – sind wir über alle Berge, Verehrtester! – Doch ich will Sie nicht verhöhnen. Wenn Sie erst wissen, was wir planten, werden Sie selbst sagen: der, der das ersann, war mir über. – So – und nun gute Nacht, meine Herren. Morgen früh sehen wir uns wieder.“
Er nahm Korb und Laterne auf, wandte sich zum Gehen. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als Harst ihm nachrief:
„Sie – darf ich um eine Zigarette bitten? Ich bin leidenschaftlicher Raucher.“
Der Maskierte öffnete die Tür ein wenig. – „Bedauere – das darf ich nicht gestatten,“ erklärte er und schloß sie wieder.
Nach einer Weile sagte Harst: „Ich bin hundemüde, will zu schlafen versuchen. – Gute Nacht, Schraut! Morgen bitte ich den Mann, uns die Hände vorn zu fesseln. Ich muß immer halb auf der Seite liegen. – Gute Nacht!“
Nach abermals einer geraumen Zeit glaubte ich wieder ein Knarren von Dielen zu hören. Und gleich darauf vernahm ich Harsts Flüstern: „Schraut, der Kerl hat jetzt wieder das Haus verlassen. Nun kann’s also losgehen. – Sie werden fragen: „Was?“ – Natürlich der Befreiungsversuch!“
„Um Himmels willen – denken Sie an die Gefahr, die –“
„Oh – daran habe ich schon gedacht. Bereits, als es noch ganz hell war, als der Kerl die Gummihandschuhe überzog. – Ja – Gummi schützt vor elektrischen Schlägen, isoliert. – Ganz gefährliche Halunken sind’s, mit denen wir’s zu tun haben. Aber – doch nicht schlau genug, mein lieber Schraut! Unser Wächter hat eins übersehen: daß ich zu meinem Gasarbeiterkostüm Segeltuchschuhe mit Gummisohlen trage. Ich kann also ganz getrost mit meinem Körper so herumwirtschaften, daß die Kopfplatte umkippt. Meine Gummisohlen verhindern ja den Stromschluß. Und die Stricke, die mir unter den Armen durchgezogen sind, hoffe ich schon klein zu kriegen. – Warten Sie –“
Es war jetzt ganz dunkel geworden. Ich hörte verschiedene scharfe Rucke, dann Harsts Stimme: „Verdammt – sie halten! – Nun ist soeben auch die Platte umgekippt. Sie liegt mir auf der Stirn. Von elektrischem Strom keine Spur. Gepriesen seien die alten Tennisschuhe! – Jetzt probiere[9] ich’s mit der Fußplatte. Vielleicht lassen sich dort die Stricke hochstreifen.“
Ich spürte an den Füßen wieder verschiedene Rucke. Dann: „Ich bin frei, Schraut!“ Harsts Stimme gab deutlich den Triumph wieder. „Das heißt: ich bin noch immer an den Händen und an die Mauer gefesselt. Aber von der Mauer werde ich sofort los sein.“
Tatsächlich trat er sehr bald an das Kopfende meines Lagers, bückte sich und sagte: „Lieber Schraut, ich muß Sie jetzt allein lassen. Ich werde irgend ein Fenster mit dem Kopf eindrücken – denn meine Stahlfesseln sind besser als das elektrische Hinrichtungsbett, – werde nach der nächsten Polizeistelle oder sonst wohin eilen, wo man mir die Dinger durchfeilt, und hole Sie dann. Auf Wiedersehen –“
Er blieb eine halbe Stunde etwa weg. Ich hatte deutlich das Splittern von Glas gehört, als er das Zimmer verlassen hatte. – Nun Schritte draußen, nun ein Lichtschein. Es war Harst in Begleitung von zwei Kriminalbeamten. Gleich darauf konnte auch ich mich erheben, wurde schnell von meinen Handfesseln befreit.
Harst gab den beiden Beamten noch verschiedene Verhaltungsmaßregeln. Sie sollten hier bleiben und jeden festnehmen, der das Haus betrat. Dann ging Harst voraus; erst in einen Flur, nun vier Stufen abwärts; dann links in eine Kellerwohnung. Hier krochen wir durch ein Fenster. Wir befanden uns jetzt in einem großen Park. Ich sah ringsum in der Ferne Lichter schimmern.
„Das Haus gehört zu der Villa des Herrn von Heykerling,“ sagte Harst. „Wir befinden uns hier auf heimatlichem Boden – in Alt-Schmargendorf. Ein gewisser Meinert hat das Haus heute früh gemietet. Ich habe Heykerling vorhin ausgefragt. Meinert hat sich als Ingenieur ausgegeben. Er wollte es mit seiner Frau bewohnen, aber erst nach ein paar Tagen einziehen. Heute nachmittag hat er etwas von seinen Sachen bereits hergeschafft – Teppiche, – das waren wir, Schraut! – Eine tolle Geschichte. Wer weiß, wie sie endet.“
Wir gingen einen Fahrweg entlang, kamen an der Villa vorüber und betraten die Straße. Eine Elektrische ratterte herbei. – Ah – das war’s also gewesen, was ich gehört hatte! – Wir stiegen ein, und eine Viertelstunde später standen wir in Harsts Arbeitszimmer.
„So,“ meinte er, „nun können wir wieder wir selbst werden. Und dann – nach dem Museum. Vielleicht bringt uns diese Nacht schon einen besseren Erfolg, als dieser Anfang heute ihn verhieß.“
Gegen zehn Uhr brachen wir auf, fuhren mit einem Auto nach der Grunewaldkolonie und gingen dann zu Fuß nach einer Straße, deren eine Villa mit der Rückfront an die Burmeesters grenzte. Wir kletterten über den Zaun, schlichen durch den fremden Garten und kletterten wieder über einen Zaun. Nun befanden wir uns auf dem Grundstück des Geheimrats.
Die Nacht war dunkel; der Himmel dicht bewölkt. Hin und wieder fielen ein paar Tropfen. Aber zu einem Regenguß kam es zum Glück nicht. – Harst bog in den Hof ein. Wir sahen, daß Hildegards Fenster hell waren. – „Der Lichtschein stört,“ flüsterte Harst. „Wir müssen warten. Stellen wir uns dort in die Haupttür des Museums.“
Ich hatte keine Ahnung, was er eigentlich beabsichtigte. Er war ja nie sehr redselig. Und dabei hätte ich so viel zu fragen gehabt – so sehr viel! Ich wußte bisher ja nichts von den Zusammenhängen der einzelnen Ereignisse, die mit diesem neuesten Fall verknüpft waren. Harst hatte mir vorhin daheim nur gesagt, daß der Maskierte seine Taschen durchsucht und ihm den Schlüssel der Villa abgenommen hätte. Ich freute mich daher, als er nun wenigstens etwas den Schleier lüftete.
„Nun, Schraut, wie denken Sie über diese ganze Geschichte?“ begann er. „Wir haben jetzt die beste Zeit, die Dinge einmal kritisch zu beleuchten. – Wir haben bisher folgendes festgestellt oder aber uns erzählen lassen: Der Geheimrat kauft vor 10 Tagen etwa eine ägyptische Mumie. Dann verreist er nach Schweden, und die Mumie wird – nachts lebendig, stellt sich ans Fenster und wird von zwei einwandfreien Zeugen gesehen. Da nun in das Museum, wie wir heute nachgeprüft haben, unmöglich heimlich einzudringen ist – ich betone dies besonders! – muß man annehmen, daß ein Fremder durch einen schlauen Trick sich in den Mumiensaal eingeschmuggelt hat und sich dort noch immer aufhält, – denn hinaus kann er so ohne weiteres nicht, – eben auch nur durch einen neuen Trick. – Ich sage: er hält sich dort noch immer auf. Und ich habe auch Beweise dafür. – Dieser Mensch spielt also nächtlicherweile die Mumie des Königs Eneochar. Wozu? Weshalb läßt er sich tagelang dort einschließen? – Nun – ich glaubte zunächst, er wollte dem Tresor zu Leibe gehen. Aber der Stahlschrank zeigt nirgends Spuren einbrecherischer Tätigkeit. Derartige Versuche wären auch aussichtslos. Der Tresor ist das Beste vom Besten[10] – unangreifbar, selbst für Dynamit oder andere Sprengmittel. Ich bin daher anderer Meinung geworden. Hier wird irgend etwas vorbereitet, was so fein ausgeklügelt ist, daß meine bisherigen Feststellungen nicht dazu ausreichen, durch bloße logische Schlüsse das Richtige zu finden, obwohl – Fräulein Hildegards Benehmen heute vormittag bei uns einen gewissen Anhalt dafür gibt, daß sie irgendwie zu dieser Sache in einer etwas fragwürdigen Beziehung steht. Vielleicht kennt sie gar den, der dort im Mumiensaal herumgeistert – vielleicht! Liebe ist manchmal erfinderisch! Das Fräulein kam ja erst zu uns, als auch der alte Karl den toten König am Fenster gesehen hatte, besser den, der ihn nachts darstellt. Anderseits deutet aber Hildegards offenbare Angst vor der wandelnden Mumie auch wieder darauf hin, daß es sich nicht um einen heimlich dort oben von ihr versteckt gehaltenen Liebhaber handelt. Wir sehen uns hier also in einem bösen Labyrinth, lieber Schraut. – Ich möchte nun eine Liebesgeschichte auch deshalb ausschalten, weil mir dabei zu viel Personen beteiligt sind: erstens doch der Mumiendarsteller, dann die schwarze Frau, die Verfolgerin, weiter noch der Chauffeur und unser stiernackiger Gefangenwärter. Der Chauffeur war nämlich einer der beiden, die uns mit Revolvern bedrohten, er hatte nur schnell eine Seidenmaske vorgebunden. Weiter auch, weil diese Bande mit recht kostspieligen Mitteln arbeitet: Auto, gemietetes Haus, – und weil schließlich die stete Überwachung Hildegards beweist, daß die Bande fürchtete, das Fräulein könnte sich an die Polizei wenden, nachdem sie den Mumienkönig zum ersten Male am Fenster gesehen hatte. Von dieser steten Beobachtung merkte Hildegard ja erst vor einigen Tagen etwas. Vorher werden die Leute sie nicht für nötig gehalten haben. Dann aber hat der Mumiendarsteller seinen Verbündeten Nachricht gegeben, daß er leider sich hat blicken lassen, und nunmehr setzt die Überwachung ein.“
„Nachricht gegeben?!“ warf ich zweifelnd ein. „Der Mann kann ja doch nicht heraus, sagten Sie vorhin, Herr Harst!“
„Aber Schraut, – die Leiter, die wir gleich benutzen werden! Die Leiter! Und die Eindrücke der Leiterenden, die ich hinter dem Museum in der Erde fand, ferner auf dem flachen Pappdach des Museums sandige Fußspuren.“
Da ging mir ein Licht auf. – Harst fuhr schon fort: „Schließlich auch noch die Leitersprosse, von der ich doch einen Span abschnitt! Vorhin daheim, als Sie sich umzogen, habe ich ihn untersucht. Wissen Sie, was daran klebte? – Nicht etwa Blut! Nein: talgig gewordene Bratentunke, – ein Beweis, daß der Eingeschlossene von seinen Genossen recht gut verpflegt wird. Sie haben ihm ein warmes Gericht bringen wollen, und beim Erklettern der Leiter muß der Topf oder der Kessel umgekippt sein und etwas von der Tunke floß heraus. Dieses warme Gericht, lieber Schraut, zwingt uns nun auch, den Gedanken völlig fallen zu lassen, Hildegard könnte einen Liebsten dort oben verbergen. Den würde sie ja auch selbst verpflegen. – Alles in allem: die Sache bleibt dunkel! Da hat der stiernackige Prahlhans heute vorläufig – also vorläufig – ganz recht gehabt: fein ersonnen ist dieser Plan! Aber – wir werden ja sehen, ob nicht ich derjenige bin, der – ihm über ist! – Ah – Hildegards Fenster sind dunkel. Nun schleunigst die Leiter geholt und hinauf aufs Dach! Wenn ich oben bin, tragen Sie die Leiter wieder zurück. Dann verbergen Sie sich an der Rückseite des Museums im Gebüsch. Wahrscheinlich wird einer der Kerle nachher unten an der Leiter Wache halten. Den nehmen Sie aufs Korn. Entkommen darf er auf keinen Fall. Hier – dieses Instrument genügt. Versuchen Sie ihn von rückwärts niederzuschlagen.“ Er reichte mir ein Leinentuch, in das feuchter Sand oben eingebunden war. Er hatte daheim zwei von diesen Totschlägern hergestellt.
Nachdem Harst sich auf das flache Dach geschwungen hatte, brachte ich die Leiter auf den Hof zurück, verkroch mich dann in einem nahen Gebüsch, das etwa drei Meter von der Mitte der Mauer entfernt war.
Erst nach Mitternacht – inzwischen hatte es zu regnen begonnen, wenn auch nicht allzu stark – hörte ich leise Schritte. Nun tauchten zwei Gestalten auf, verschwanden nach dem Hofe zu, kamen gleich darauf mit der Leiter zurück, lehnten sie gegen die Mauer, und der größere Mann von beiden kletterte dann nach oben.
Ich schob mich jetzt sacht hinter den, der an der Leiter lehnte und sich offenbar sehr sicher fühlte. Das Rauschen des Regens begünstigte mein Vorhaben. Ich richtete mich langsam auf, holte aus, schlug mit dem Sandsack mit aller Kraft zu. Mein Gegner knickte auch in die Knie, fuhr jedoch sofort herum, packte mich bei der Kehle und warf mich hintenüber. Der Mensch hatte Bärenkräfte. Sein bärtiges Gesicht lag dicht über mir. Vor meinen Augen sprühten bereits Funken. Ich schickte einen letzten hilfesuchenden Blick nach der Leiter hin und – sah eine Gestalt blitzschnell daran herabrutschen, fühlte, daß die würgende Hand losließ, hörte einen dumpfen Schlag, dann ein Ächzen und nun Harsts Stimme:
„Hier ist starker, geölter Bindfaden, Schraut! Fesseln Sie den Kerl. Der andere liegt oben –“
Er stieg schnell wieder die Leiter empor. Ich schob meinem bewußtlosen Gegner auch mein Taschentuch in den Mund. Nun war er wehrlos, und ich konnte Harst folgen. Ich wollte doch sehen, wer der andere war. Außerdem mußten wir diesen Mann doch ebenfalls nach unten schaffen.
Als ich auf das Dach kroch, bemerkte ich sofort den feinen Lichtstrahl von Harsts Taschenlampe. Er kniete neben dem ebenfalls ohnmächtigen, bereits gefesselten und geknebelten Menschen und untersuchte dessen Taschen.
Ich beugte mich tief herab. Der Mann war jung und völlig bartlos. – „Es ist der Chauffeur,“ flüsterte Harst. „Der schwarze Schnurrbart mittags war nur angeklebt.“
Er zeigte mir dann einen aufgerollten Bindfaden, an dessen einem Ende ein zusammengefalteter Zettel festgebunden war.
„Sehen Sie, Schraut, – dies ist die Nachrichtenübermittlung[11],“ meinte er. „Wir werden sie sofort ausprobieren.“
Er legte sich nun lang auf das Dach gerade über dem mittleren Fenster des Mumiensaales, schob den Oberkörper etwas über den Dachrand hinaus und ließ den Zettel, den er vorher noch gelesen hatte, hinab. – Ich hatte mich neben ihm niedergelassen. Es dauerte recht lange, ehe Harst den Bindfaden wieder hochzog. Daran hing wieder ein Zettel. Er band ihn los und überflog ihn beim Licht der Taschenlampe, gab ihn mir dann, indem er flüsterte: „Der erste lautete: „Wir haben beide fest und die Depesche an B. abgesandt. Du bist jetzt ganz sicher.“ – Hier nun die Antwort, die Sie selbst lesen können.“
Und ich las, während er mir leuchtete: „Beide waren heute hier. Aber mein Versteck ist sicher. B’s Rückkehr und der große Schlag also morgen abend wahrscheinlich. Haltet Euch bereit. An mir soll’s nicht liegen.“
Harst steckte dann den Zettel zu sich. Wir warteten, bis der Chauffeur das Bewußtsein wiedererlangt hatte, befreiten ihn von den Fußfesseln und zwangen ihn, die Leiter hinabzusteigen, wobei Harst ihn von oben stets festhielt, während ich vorankletterte. Eine Flucht dieses Menschen war also ausgeschlossen. Unten wurden ihm wieder die Beine gebunden, und dann trugen wir die beiden Gefangenen einzeln nach einer Glaslaube im rückwärtigen Teile des Gartens. Hier nun – mittlerweile war auch der Bärtige erwacht – unterzog Harst diesen einem Verhör, das er mit den Worten einleitete:
„Sie sind unser Gefangenwärter, der angebliche Ingenieur Meinert. Sie haben nun wohl eingesehen, daß es sehr richtig von Ihnen war, mich nicht zu verhöhnen. – Wollen Sie jetzt ein Geständnis ablegen?“
Der Mensch besaß die Frechheit, Harst ins Gesicht zu lachen. Wir hatten ihm den Knebel vorher aus dem Munde entfernt.
„Geständnis?! – Niemals! Was soll ich gestehen, was kann man uns vorwerfen?! Höchstens doch Freiheitsberaubung, – weil wir Sie beide ein paar Stunden eingesperrt haben!“ Er lachte abermals. Aber dieses Lachen klang doch gezwungen.
„Und der König Eneochar?“ meinte Harst gelassen.
„Wer ist das? Kenne ich nicht!“ erwiderte der Mensch achselzuckend. – In unserem Gefängnis hatte er anders geredet! –
Ein Versuch, den Chauffeur zum Sprechen zu bringen, scheiterte gleichfalls.
Harst entnahm nun den Taschen unserer Gefangenen alles, was sie enthielten. Da fing der Bärtige, der übrigens ein recht intelligentes Gesicht hatte, zu drohen an:
„Lassen Sie die Finger von meinem Eigentum, Sie – Sie verfluchter Schnüffler! Ich warne Sie! Wir haben noch genug Verbündete, die Sie zur Strafe kalt machen werden!“ Seine ganze, bisher mühsam zurückgehaltene Wut blinkte in seinen Augen, prägte sich in seinem verzerrten Gesicht aus.
„Den Knebel, Schraut,“ befahl Harst kurz. – Aber der Kerle biß die Zähne ganz fest zusammen. Da packte Harst ihn bei der Gurgel, daß er bald nach Luft schnappen mußte. Nun zwängte ich ihm das zusammengeballte Taschentuch doch in den Mund.
Harst hatte des Bärtigen Brieftasche zur Hand genommen, sah die Papiere durch, breitete sie auf dem Tisch der Laube aus und meinte nach einer Weile:
„Ah – sehr interessant! Hier ist ja ein Brief, gerichtet an Herrn Elektrotechniker Franz Wilke, unterzeichnet mit Bela Matsarek; Datum vom 18. April des Jahres, Absenderort: Bad Pyrmont. – Sieh da – Pyrmont! Wie gut, daß ich den Berufsdetektiv Holtz dorthin geschickt habe. – Schraut, hören[12] Sie den Inhalt:
Lieber W!
Bisher alle Versuche, die H. zu erobern und auf diese Weise zum Ziele zu kommen, umsonst. Reisen demnächst ab. Werden also doch die Mumie opfern müssen. Sonst wird aus der Geschichte nichts –
Das weitere ist unwesentlich. – H. ist natürlich Hildegard. Und Herr Bela Matsarek also der ungarische Mumienhändler. – Die Sache klärt sich bedeutend. – Aha – hier haben wir ja auch eine vorgestern beglichene Hotelrechnung, Hotel „Stadt Berlin“, Mohrenstraße, ausgestellt für Herrn Ingenieur Franz Wilke und Frau, Zimmer 19. – Also dort wohnen Sie, Herr Wilke alias Meinert. Na, dann werden wir Ihre Frau ja auch bald festnehmen können. – So, nun zu Ihnen!“ Damit befühlte er nochmals die Taschen des Chauffeurs. In der Innentasche der Weste trug dieser ein Glanzlederstück, in das außer anderen Papieren auch ein Chauffeurzeugnis für Ernst Pakschat, Berlin N., Borsigstraße 5, eingeschlagen war. – Dieser Mann war also tatsächlich Chauffeur.
„Für heute genügt’s,“ meinte Harst. „Jetzt werde ich das Berliner Polizeipräsidium anrufen und Sie beide abholen lassen. Ich bin dort gut bekannt, und man wird mir ohne weiteres gestatten, diesen Fall allein zu Ende zu führen. – Auch Frau Wilke dürfte sehr bald ihr Zimmer 19 mit einer Untersuchungszelle vertauschen.“
Ich blieb als Wächter in der Laube zurück. Nach einer halben Stunde bereits wurden unsere beiden Verbündeten in aller Stille fortgeschafft.
Wir aber machten uns auf den Heimweg. Der Morgen graute bereits. Das Gewölk war verschwunden. Der neue Tag versprach das Beste.
„Nun, Schraut, – jetzt werden Sie mir doch wohl als mein Schüler Ehre machen und mir Ihre Ansicht über die wandelnde Mumie auseinandersetzen können,“ sagte Harst gutgelaunt, während wir durch die stillen Straßen wanderten.
„Hm,“ erklärte ich zögernd. „Das „Beide“ auf den Zetteln bezog sich auf uns. Und die in dem ersten Zettel erwähnte Depesche ist wohl an den Geheimrat Burmeester gerichtet zu dem Zweck, ihn unter einem Vorwand nach Berlin zu locken. Was aber mit dem „großen Schlag“ gemeint ist, weiß ich nicht.“
„Ich auch nicht – Tatsache!“ lächelte Harst. „Aber wir werden auch hinter diese noch offene Frage kommen. – Wertvoll und entlastend für Hildegard ist der Brief, den der Ungar an Wilke aus Pyrmont geschickt hat. Wenn unser Abgesandter Holtz von dort zurück sein wird, dürfte er uns folgendes berichten, falls er bei seinen Nachforschungen einigermaßen Glück gehabt hat: Fräulein Burmeester hat in Pyrmont ohne Wissen ihres Vaters mit einem Ungarn verkehrt, der ihr sehr den Hof machte, ohne jedoch ihre Liebe erringen zu können. – So ungefähr dürfte Holtz’ Auskunft lauten. Wesentlich anders kaum, denn – weshalb hat Hildegard uns verschwiegen, daß sie den Mumienhändler persönlich kannte, von dem ihr Vater den König Eneochar erwarb? Doch nur, weil sie sich scheute, zuzugeben, er hätte sich ihr schon während des Badeaufenthaltes in Pyrmont genähert, wovon der Geheimrat freilich nichts wußte. Hätte dieser hiervon Kenntnis, dann würde der alte Diener Karl uns heute kaum erklärt haben: „Der Geheimrat hat den Verkäufer nicht weiter nach Namen und Heimat gefragt.“ – Hildegards an sich wohl recht harmloses Geheimnis ist damit aufgedeckt; ihre Beziehungen zu der wandelnden Mumie sind geklärt. Es muß sie ja ganz besonders erschreckt haben, daß gerade die Mumie, die von ihrem Anbeter, der sie nicht „erobern“ konnte, herstammte, am Fenster stand und zu ihr hinüberstarrte. Daß diese wandelnde Mumie der geschickt herausgeputzte Matsarek selbst ist, ahnt sie nicht. Wie sollte sie auch? Matsarek hat sich ihr ja auch fraglos nicht absichtlich gezeigt, – nein, er wartete eben in der Nähe des Fensters auf eine Nachricht oder auf Lebensmittel, die seine Genossen ihm am Bindfaden vom Dache herab zuführen sollten. – Nun bleibt wie gesagt nur noch eins zu klären: was hat es mit dem „großen Schlag“ auf sich.“
„Hm – und das Versteck Matsareks im Mumiensaal?“ fragte ich zögernd. „Ich wüßte nicht, wo sich dort ein Mensch verbergen sollte – wirklich nicht!“
„Ja, lieber Schraut, – das Versteck hängt eben mit dem Trick zusammen, durch den der Ungar sich dort eingeschmuggelt hat. – Doch – lassen wir das für morgen.“
Vormittags elf Uhr rief Harst Fräulein Burmeester telephonisch an. Sie war sehr überrascht, daß er sich meldete, und erklärte dazu folgendes: Am Spätnachmittag gestern sei ein Mann zu ihr gekommen, der ihr den Schlüssel der Villa, den uns Karl der Diener ausgehändigt hatte, zurückgegeben und ihr im Auftrage Harsts bestellt habe, er müsse in ihrer Angelegenheit mehrere Tage verreisen. Sie möchte sich nur gedulden und inzwischen nichts weiter unternehmen, besonders nicht etwa die Polizei benachrichtigen, da dann der ganze Erfolg in Frage gestellt werden würde.
Weiter teilte sie Harst aber auch mit, sie habe heute früh eine Depesche ihres Vaters erhalten, die ihr dem Inhalt nach recht unverständlich sei, da sie wörtlich laute: „Auf Dein Telegramm hin treffe morgen abend acht Uhr dort Stettiner Bahnhof ein. Bin sehr in Unruhe.“ – Sie hätte nämlich keinerlei Telegramm an ihren Vater geschickt, sagte sie recht erregt, und sie begreife nicht, was dies alles bedeuten solle.
Harst beruhigte sie und versprach, abends um neun sich in der Villa Burmeester bestimmt einzufinden.
Als er den Hörer auf die Stützen zurückgelegt hatte, wandte er sich mir zu, berichtete mir genau Hildegards Angaben und sagte:
„Lieber Schraut – schlau sind diese Halunken doch gewesen. Wie fein sie den Schlüssel dazu benutzt haben, Fräulein Burmeester durch unser Verschwinden nicht argwöhnisch zu machen! Den Hausschlüssel! Sie wußten also, daß es gerade der der Villa des Geheimrats war. Beweis genug, daß sie wahrscheinlich schon vorher einen Wachsabdruck des Schlüsselloches genommen hatten. – Und dann die Depesche, die sie an Burmeester sandten. Welche unerklärliche Frechheit, den Namen der Tochter als den der Absenderin darunter zu setzen! – Ach – ich denke, wir werden heute noch recht große Überraschungen erleben.“ –
Endlich war der Abend da. Kurz vor neun langten wir in der Villa an. Hildegard empfing uns. Der Diener war nach dem Stettiner Bahnhof gefahren, um den Geheimrat abzuholen. Das Fräulein führte uns auf Harsts Bitte in den nach der Straße hinaus liegenden Salon. Wir nahmen Platz, und Harst begann sofort:
„Es ist mir lieb, daß ich Sie noch allein – vor Ankunft Ihres Vaters – sprechen kann, Fräulein Burmeester. – Gestatten Sie mir eine Frage: Wie haben Sie in Pyrmont die Bekanntschaft Bela Matsareks gemacht? Zufällig, oder hat er sich an Sie herangedrängt? – Ich nehme das Letztere an.“
Hildegard war leichenblaß geworden. Über ihre Gestalt lief ein Zittern hin. Mit weiten Augen stierte sie Harst ganz entgeistert an, stammelte nun:
„Woher – woher wissen Sie, daß –“ – Sie führte den Satz nicht zu Ende. Sie war eben ein sehr energischer Charakter, überwand schnell den ersten Schreck und fuhr mit einem ebenso liebenswürdigen, wie bewundernden Lächeln fort: „Ich vergesse ganz, wem ich gegenübersitze. Es ist Harald Harst, also ein Mann, dem nichts verborgen bleibt! – Ja – es war eine Torheit von mir, Ihnen gestern vormittag in Ihrer Wohnung etwas zu verheimlichen. Ich hätte mir nach der lehrreichen Lektion, die Sie mir gegeben hatten, sagen müssen, daß Sie auch hinter mein Pyrmonter Abenteuer kommen würden. – Ich will mich kurz fassen. Sehr bald nach unserem Eintreffen dort fiel mir ein eleganter Herr mit schwermütigen Augen auf, der mühsam an einem Stock sich fortbewegte. Er war jung und von so eigenartiger Schönheit, daß die Frauen ihn geradezu anschwärmten. Eines Morgens lernte ich ihn kennen. Er setzte sich neben mich auf dieselbe Bank im Kurpark. Wir kamen ins Gespräch. Ich gebe zu: auch ich war lange wie bezaubert von seiner schwermütigen Art, mit der er über Menschen und Dinge redete. Dann aber fiel mir an ihm so manches auf. Ich bin ja keins von jenen Mädchen, die sich so leicht Sand in die Augen streuen lassen, wenn sie in einem Mann einen ernsthaften Bewerber wittern. Zunächst: er wich meinem Vater ängstlich aus. Dann auch: er übertrieb sein körperliches Leiden. Ich merkte, daß er den Stock als Stütze nur benutzte, um Mitleid – mein Mitleid zu erregen. – Er machte mir dann eines Tages eine sehr leidenschaftliche Liebeserklärung, wünschte aber, ich sollte meinem Vater vorläufig unsere Verlobung geheim halten. – Ich bat mir Bedenkzeit aus. Es war dies aber nur ein verschleiertes Nein. Er war mir nicht nur gleichgültig, nein, sogar widerwärtig geworden. Ich hatte ihn eben als Komödianten durchschaut. – Er gab sich zufrieden, wollte sich dann hier in Berlin meine endgültige Antwort holen. Er ahnte wohl, daß er bei mir verspielt hatte. – Er hatte sich als ungarischer Kunsthändler, Doktor der Philosophie und Mitglied der Budapester Historischen Gesellschaft, eines sehr wählerischen Vereins, ausgegeben. – Bald darauf war Papas Kur beendet. Beim Abschied bat Bela Matsarek mich, ihm doch in Berlin einmal heimlich das Museum meines Vaters zu zeigen. Diese Bitte machte mich etwas stutzig. Ich lehnte sehr entschieden ab und sagte ihm, es sei ganz unmöglich, das Museum heimlich zu betreten. Dann erklärte ich ihm auch, daß ich seine Werbung nicht annehmen könnte. Wir gingen sehr höflich, aber auch sehr kühl auseinander. – Mein Erstaunen können Sie sich wohl vorstellen, Herr Harst, als er dann hier meinen Vater aufsuchte und ihm die Mumie anbot. Er verschwieg dabei seinen Namen. Ich sah ihn vom Fenster aus, wie er die Villa betrat. Sonst hätte ich gar nicht –“
Harst hatte sich verbeugt. „Danke, das genügt. – Wie wurde die Mumie hergeschafft? – Bitte recht eingehend alles, Fräulein Burmeester.“
„Spät abends brachten zwei Männer auf einem Handwagen eine riesige Kiste. Diese trugen sie in Anwesenheit meines Vaters in den Mumiensaal, packten auch gleich den Mumiensarg aus, der sorgfältig in Holzwolle eingebettet gewesen war. Der Mumiensarg erhielt dann sofort seinen Platz angewiesen. Die Leute nagelten die Kiste wieder zu und sagten, sie würden sie morgen abholen. Heute sei es schon zu spät; sie wollten heim. – Mein Vater gab ihnen ein gutes Trinkgeld. Er holte mich und Karl, zeigte uns die Mumie, die er schon vorher genau besichtigt hatte, und gab immer wieder seiner Freude darüber Ausdruck, daß er den König Eneochar nun sein eigen nennen dürfe. – Am nächsten Morgen holten die beiden Männer die große Holzkiste ab.“
„Haben Sie diese Leute gesehen? War der eine nicht schlank, mittelgroß und bartlos, der andere sehr breitschultrig, klein und bärtig?“
„Ja – das stimmt, Herr Harst –“
In diesem Augenblick fuhr draußen vor der Villa ein Auto vor. Hildegard eilte hinaus. Nach zehn Minuten trat sie in Begleitung des Geheimrats wieder ein.
Dieser, ein kleiner, sehr nervöser Herr mit grauem Vollbart und Glatze, tadellos angezogen und von verbindlichstem Wesen, mußte dann nach den ersten, die Sachlage klärenden Sätzen Harst die Depesche zeigen, die er in Schweden erhalten hatte. – Sie lautete: „Kehre umgehend zurück. Hier mit Tresor nicht alles in Ordnung. – Hildegard.“
Harst hielt die Depesche noch in der Hand, sagte nun lebhaft: „So – jetzt weiß ich alles. Dieser Hinweis auf den Stahlschrank lüftet den Vorhang ganz. – Ich werde Ihnen nun ganz kurz schildern, was hier vorgegangen, Herr Geheimrat. – Als die große Holzkiste abends gebracht wurde, enthielt sie nicht nur den Mumiensarg, sondern auch unter der Holzwolle versteckt einen gewissen Bela Matsarek – eben den Mumienverkäufer, der in der Nacht dann die Kiste verließ und sich im Mumiensaal verbarg, wo er sich noch jetzt befindet. Seine Genossen holten die große Kiste also nun als völlig leer ab. – Der ganze Mumienverkauf hatte lediglich den Zweck, Matsarek das Eindringen in den so gut gesicherten Raum des Museums zu ermöglichen. Ein sehr gescheiter Einfall – ohne Frage.“
Der Geheimrat schüttelte den Kopf. „Ich bin geradezu sprachlos, Herr Harst. – Aber – wo – wo soll der Mensch sich im Mumiensaal wohl verborgen halten?! Es gibt dort kein einziges Stellchen, wo auch nur eine Katze sich verkriechen –“
„Halt, Herr Geheimrat!“ lächelte Harst. „Sie behaupten da etwas, das nicht zutrifft. – Als Ihr Diener mich und meinen Sekretär in den Mumiensaal geführt hatte, fragte ich ihn, wie oft er dort Staub wische. Er hätte es vor acht Tagen zuletzt getan, erklärte er. – Ich sah nun, daß die Glastafeln auf den anderen Mumiensärgen eine ganz feine Staubschicht hatten. Nur die Glasscheibe über dem Sarge Eneochars war völlig staubfrei. Schon damals wußte ich – die fehlende Staubschicht hatte es mir verraten –, wo der Eindringling steckte: Unter der Mumie Eneochars in dem Sarge! – Dieser Sarg ist nämlich nur im Oberteil echt. Der Unterteil ist moderne Antiquitätenfälscher-Arbeit. Er mußte tiefer sein als die anderen Mumiensärge, damit Matsarek darin Platz hätte. Die Mumie liegt bekanntlich auf einem dünnen Brett, auf dem sie durch Bänder befestigt ist. Es konnte Matsarek nicht schwer fallen, dieses Brett an einer Seite von unten her zu lüften und dann erst die Glasscheibe zu entfernen, wenn er hinauswollte. Ähnlich machte er’s, wenn er wieder in sein enges Versteck zurückwollte. Zu bewundern ist die Engelsgeduld, mit der er darin aushielt. – Damit nun nicht Spuren in der Staubschicht der Glasplatte, die er doch an den Rändern anfassen mußte, ihn verrieten, wischte er sie stets sauber ab. Diese Vorsicht war recht zweischneidig. Die fehlende Staubschicht ließ mich das Richtige vermuten. – Nun die Frage: wozu verbirgt Matsarek sich in dem Sarge? – Ich könnte sie Ihnen dank der gefälschten Depesche beantworten, möchte den Verbrecher aber auf frischer Tat abfassen. Dazu ist es nötig, daß Sie, wenn wir zu dreien in den Mumiensaal gehen, genau so reden und handeln, wie ich es Ihnen jetzt im einzelnen vorschreiben werde.“ –
Zehn Minuten darauf brannten im Mumiensaal die drei Deckenlampen. Wir schritten im Hauptgang hin und her. Der Geheimrat sagte nun:
„Nein – es ist ausgeschlossen, daß sich hier jemand verbirgt. Meine Tochter muß sich getäuscht haben, was die Gestalt anbetrifft.“
Worauf Harst antwortete: „Ganz recht, Herr Geheimrat. – Wir haben hier abermals umsonst gesucht. Entschuldigen Sie, daß ich mich nun sofort verabschieden muß. Ich will den Leuten nachspüren, die mich gewaltsam entführt[13] haben und denen ich nur mit knapper Not entrinnen konnte. Es dürfte sich um Menschen handeln, die sich an mir rächen wollen. – Gute Nacht, Herr Geheimrat. – Danke, bemühen Sie sich doch nicht. Ihr Diener wird uns unten schon in die Mäntel helfen und hinauslassen.“
„Nochmals herzlichsten Dank, lieber Herr Harst. Auf Wiedersehen. Ich habe hier noch zu tun –“
Wir taten, als verließen wir den Mumiensaal, in dem Burmeester vorher zwei Lampen ausgeschaltet hatte, so daß nur noch die über dem Tresor brannte.
Der Geheimrat öffnete und schloß, wie verabredet, die Eisentür, als wären wir hinausgegangen. In Wahrheit legten wir uns lang hinter einen Mumiensarg rechts von dem Tresor, wo es völlig dunkel war.
Burmeester schloß dann geräuschvoll die Eisentür von innen ab, trat vor den Stahlschrank und begann an dem Kombinationsschloß zu hantieren.
Harst hatte seinen Selbstlader in der Rechten. Nun hauchte er mir ins Ohr: „Geben Sie auf jedes Geräusch acht!“
Ich horchte. – Aber der Geheimrat hüstelte so stark – auch verabredungsgemäß –, daß ich nur einmal etwas wie ein leises Klirren von dort her vernahm, wo der König Eneochar in seinem Sarge lag.
Nun drückte Harst meinen Arm. Ich sah, wie er den Kopf vorschob, wie er sich aufrichtete. Wir hatten vorher schon unsere Halbschuhe lautlos abgestreift.
Ich folgte seinem Beispiel. Schräg vor uns, etwa vier Meter entfernt, stand Burmeester vor dem geöffneten Tresor, dessen Innentüren er soeben gleichfalls aufzog.
Und hinter ihm – ragte eine regungslose Gestalt hoch, die Arme über der Brust gekreuzt – die wandelnde Mumie.
Maske und Kostüm waren glänzend. Man mußte schon sehr genau hinsehen, um einen Unterschied in den leicht bräunlichen Gesichtszügen zu erkennen.
Harst hatte den rechten Arm erhoben, zielte.
Da drehte sich der Geheimrat langsam um. Nun erblickte er die Gestalt, prallte zurück.
Und da – sprang sie ihm auch schon an die Kehle, riß ihn zu Boden.
Harst schnellte sich vorwärts. Zwei Sätze –, und seine Hände umklammerten den Hals des Verbrechers mit einer Kraft, daß dieser sofort von seinem Opfer abließ. – Ich tat meine Schuldigkeit: Stahlfesseln schnappten ein, – und Harst gab den Hals Bela Matsareks frei.
Der Geheimrat stand schon wieder auf den Füßen. Vor ihm auf dem Fußboden lag ein Wattebausch, dem Chloroformdünste entstiegen.
Harst lehnte an dem offenen Tresor, sagte nun zu Matsarek, der auf den Dielen saß und vor Ingrimm zitterte:
„Die Depesche nach Schweden sollte den Geheimrat veranlassen, sofort nach seiner Rückkehr diesen Tresor zu öffnen, dessen Inhalt er niemandem, nicht einmal seiner Tochter, zeigte. – Nur so konnten Sie und Ihre Genossen an die altertümlichen Kleinodien heran, auf die Sie es von vornherein abgesehen hatten. Wäre ich nicht hindernd dazwischen getreten, hätten Sie den Tresor ausgeplündert und eiligst das Haus verlassen, da ja die Schlüssel dort in der Eisentür stecken. Ihre Genossen hätten Sie draußen mit dem Auto erwartet, und Sie wären fraglos mit Ihrer Millionenbeute entkommen. Jetzt aber werden Sie ins Zuchthaus wandern und dort darüber nachdenken können, ob es nicht besser ist, durch ehrliche Arbeit das tägliche Brot zu verdienen, auch darüber, ob es Ihnen wirklich gelungen wäre, eine gewisse Dame durch erheuchelte Liebesschwüre so weit zu betören, daß sie Ihnen Gelegenheit gab, diesen Diebstahl anderswie – ohne den Mumienverkauf – vorzubereiten.“ –
Am folgenden Tage schickte Geheimrat Burmeester jedem von uns einen altertümlichen, ägyptischen Goldring mit je drei prachtvollen Smaragden zu. Es waren Ringe, deren Wert ein Vermögen darstellte.
Die „wandelnde Mumie“ sitzt noch im Zuchthaus. Bela Matsarek hatte noch mehr auf dem Kerbholz. Zehn Jahre diktierte man ihm insgesamt zu. Er wird also nicht so bald wieder Gelegenheit haben, den König Eneochar zu spielen.
Wir waren gerade mit dem Morgenkaffee fertig. Harst stand am Fenster und blätterte in einer Zeitung, rief dann plötzlich: „Schraut, hören Sie, – wieder ein Kapitalverbrechen – das zweite in drei Tagen. – Ich werde vorlesen.“
– „Gestern früh benachrichtigte der im Keller des Hauses Mönchengasse 24 wohnende Schuhmacher Pinzke das zuständige Polizeirevier von allerlei verdächtigen Geräuschen, die er über sich in dem Zimmer des Dekorateurs Weigelt während der Nacht gehört haben wollte. Daraufhin entsandte man zwei Kriminalbeamte, die die verschlossene Tür jenes Zimmers, das nach hinten heraus liegt und einen eigenen Eingang vom Hausflur hat, durch einen Schlosser öffnen ließen. Die Beamten sahen sofort, daß ein Verbrechen begangen sein mußte. Die geschlossenen Vorhänge des einzigen, nach dem Hofe hinausgehenden Fensters ließen genügend Licht durch, um auf dem hellen Bastteppich eine größere Blutlache und ringsum Blutspritzer auf den Dielen und auf den Kissen des Bettes zu erkennen. Weiter wurde dann festgestellt, daß ein großer Schließkorb Weigelts sowie die rote Steppdecke des Bettes fehlten. Die herbeigerufene Mordkommission fand auf dem Teppich einen Fingernagel mit Hautfetzen daran, der glatt vom Finger durch ein scharfes Instrument abgetrennt war. Der Fingernagel war etwas eingerissen, und in dem Riß steckten drei rötlichbraune Haare. Es handelt sich um kurzgeschnittenes Männerhaar. Weitere Anzeichen deuteten darauf hin, daß Weigelt in seinem Zimmer ermordet und die Leiche in dem Weidenkorb fortgeschafft ist. Der Schuhmacher Karl Pinzke hat Geräusche gehört, die diese Annahme bestätigen, so mehrmaliges Aufstampfen mit Füßen, einen kurzen Aufschrei und ein schweres Schleifen auf den Dielen, bald darauf auf der Straße das Rattern eines sich schnell entfernenden Wagens. – Hugo Weigelt, der verschwundene Dekorateur, war 28 Jahre alt, ledig und stand nicht im besten Ruf. Er war klein, mager, hatte ein gelbliches Gesicht, schwarzes Haar, schwarzen Schnurrbart und über der Nase auf der Stirn eine drei Zentimeter lange horizontale Narbe. Der aufgefundene Fingernagel dürfte von seiner linken Hand, Zeigefinger, stammen. Ein Bekannter Weigelts will den Nagel an bestimmten Kennzeichen, besonders an der Breite und Kürze, wiedererkennen. Die Polizei verfolgt bereits eine ganz bestimmte Spur. Erwähnt sei noch, daß der oder die Mörder sich in der Waschschüssel die blutigen Hände gereinigt haben und daß der Mord gegen Mitternacht – nach dem Fortschritt des Eintrocknens des Blutes und den Geräuschen zu schließen – erfolgt sein muß. Der Schuhmacher hat noch erklärt, er hätte sich gerade ankleiden und nach oben gehen wollen, als alles wieder ruhig geworden wäre. Deshalb auch wäre er im Bett geblieben. Er ist gleichfalls Junggeselle und läßt seine kleine Wohnung von der Frau des gleichfalls im Keller wohnenden Müllkutschers Hartwig säubern. Das Essen bereitet er sich selbst zu, wie er unserem Berichterstatter erklärte.“
Harst ließ die Zeitung sinken und schaute nachdenklich zum Fenster hinaus. Dann sagte er:
„Es ist der reine Schulfall eines Verbrechens. Nur der Tote und die Waffen fehlen. Sonst ist alles da: reichlich Blut, ein Fingernagel mit Haaren, blutiges Waschwasser, verdächtige Geräusche, Aufschrei, ein Wagen, der den Korb wegbringt. – Für meinen Geschmack zu viel. Jedenfalls interessiert mich dieser Mord. Wir werden sofort mal versuchen – Ah – wir bekommen Besuch, Schraut. Ein kräftiger Mann. Wohl ein Handwerker der Kleidung nach. Der krumme Rücken deutet auf einen Schuhmacher hin. Den Mann bedrückt etwas. Aber er geht ohne Zögern auf die Haustür los. – Öffnen Sie, Schraut.“
Dann saß der Besucher im Klubsessel neben dem Fenster im vollen Tageslicht.
Harst ließ ihn gar nicht zu Worte kommen, begann sofort: „Was führt Sie her, Herr Karl Pinzke? – Ist’s der mutmaßliche Mord an Ihrem Hausgenossen Weigelt?“
Der Mann, der glattrasiert und etwa fünfzig Jahre alt war, eine Nickelbrille und einen nicht mehr ganz sauberen Umlegekragen trug, riß den Mund auf und schnappte förmlich nach Luft vor Erstaunen. Er hatte uns bisher nicht gesagt, wer er war. Da konnte man seine Verwunderung begreifen. Dann lächelte er plötzlich ein wenig, schüttelte den ziemlich kahlen Kopf und meinte:
„Jott – nadierlich – ick bin ja hier bei ne Berihmtheit. Det verjaß ich janz –“
„Ihr etwas runder Rücken, dann weiter Ihre Hände, von denen sich die Spuren Ihrer Schuhkünstlertätigkeit nicht mehr recht entfernen lassen, schließlich der Zeitungsbericht über den neuesten Mord machten mir es leicht, in Ihnen Herrn Pinzke zu vermuten. Und ich vermute aus Ihrem gedrückten Wesen außerdem noch, daß das Verschwinden Weigelts Ihnen Ungelegenheiten gebracht hat. Obwohl ich nun, wie Sie aus den Zeitungen wissen werden, infolge meiner Wette sehr in Anspruch genommen bin, will ich Ihnen doch helfen, wenn ich’s vermag. Also erzählen Sie. Was bedrückt Sie?“
Pinzke strahlte jetzt förmlich. „Oh, Herr Harst, wenn Sie mir beistehen wollen, dann habe ich keine Angst mehr. – Die Sache ist sehr einfach.“ (Er berlinerte stets stark.) „Offenbar hat die Polizei mich im Verdacht, Weigelt beseitigt zu haben. Seit gestern nachmittag werde ich heimlich von zwei Kriminalbeamten überwacht. Sie sind auch jetzt hinter mir her, als ich zu Ihnen kam. Mögen sie! Nun bin ich ganz ruhig. Wem ein Harald Harst helfen will, der wird nicht unschuldig eingesperrt. – Ja – die Polizei glaubt, ich könnte der Mörder sein, weil ich verschiedentlich mit Weigelt hart aneinander geraten bin, aber nur der Miete wegen, denn ich bin auch gleichzeitig Portier in dem alten Hause. Weigelts Zimmer gehört eigentlich zu dem Laden links, dem Buttergeschäft Höffke. Aber Höffkes haben das Zimmer nicht mitgemietet, und daher hat Weigelt die Miete an mich zu zahlen. Der Hauswirt wohnt nämlich im Westen. Und dann – nur ich habe jene Geräusche gehört, obwohl doch Hartwigs, die die andere Kellerwohnung haben, noch bis 2 Uhr morgens auf waren, da er Geburtstag und Verwandte eingeladen hatte. Aber Hartwigs werden wohl etwas laut gewesen sein, denk’ ich mir, und deshalb nichts gehört haben. Der Kriminalkommissar Bechert – es ist der bekannte Bechert – hat es wohl auch etwas sonderbar gefunden, daß ich im Bett geblieben bin, anstatt aufzustehen und oben nach dem Rechten zu sehen. Mein Gott – ich bin doch kein Jüngling mehr. Wer verläßt in meinem Alter nachts gern das warme Bett! – Nun – jedenfalls droht mir irgend ein Unheil. Und deshalb, Herr Harst, kam ich zu Ihnen. Untersuchen Sie doch den Fall mal. Vielleicht finden Sie den oder die Mörder. Was nützt mir mein gutes Gewissen! Wenn die Polizei erst mal Verdacht geschöpft hat, ist’s schwer, sich reinzuwaschen –“
Harst stand dicht vor Pinzke und deutete nun zum Fenster hinaus. „Sie haben recht. Jene beiden Kanalisationsarbeiter, die sich dort am Gully zu schaffen machen, sind Kriminalbeamte und warten auf Sie.“
„Na – hab’ ich’s nicht gesagt, Herr Harst! Schrecklich – man wird ganz krank bei dem Gedanken, daß stets zwei solche Schnüffler hinter einem herschleichen!“
Er schaute auf die Straße hinaus, fuhr dann zögernd fort: „Herr Harst – Ihnen will ich nun man die volle Wahrheit sagen. Ich – ich könnte einen Zeugen benennen, daß ich’s unmöglich gewesen sein kann, – ich meine der Mörder! Ich habe nämlich gar nicht im Bett gelegen. Ich – hatte Besuch von 10 Uhr abends bis 3 Uhr morgens, – einen feinen Herrn. Aber – ich kann dessen Namen nicht nennen, wenigstens der Polizei nicht, Herr Harst. Ihnen ja – im Vertrauen! Es war der Regierungsrat Malzahn, Helmut Malzahn aus der Ansbacher Straße 2. Wir – wir haben so kleine Geschäfte miteinander – ganz harmlose. Man will doch mit seinen Spargroschen etwas mehr verdienen als nur vier Prozent. Aber Wucherer bin ich nicht. Ich nehme sechs Prozent bei Ratenzahlung. Sonst nichts. Sie werden verstehen, daß ich den Regierungsrat schonen muß. Sein Name kommt sonst womöglich in die Zeitungen.“
Harst nickte. „Ich verstehe Sie durchaus. – Gut, ich will zusehen, ob ich die Sache schneller als die Polizei aufklären kann. Ich komme nach einer Stunde nach der Mönchengasse.“
Pinzke verabschiedete sich. Und dann verschwanden auch die beiden Kanalisationsarbeiter.
Harst rauchte eine Mirakulum, ging auf und ab und murmelte allerlei vor sich hin. Ich verstand nur: „Da steckt was ganz Besonderes dahinter –“
Dann fuhren wir ins Patentamt, wo der Regierungsrat Malzahn angestellt war. Harst ging ohne Umschweife auf den Kernpunkt der Sache zu. Malzahn bestätigte zögernd, daß er allerdings bei Pinzke gewesen; er hätte sich in großer Geldverlegenheit befunden und war auf eine Zeitungsanzeige hin zu Pinzke gegangen, in der „ein anständiger Handwerker“ sicheren Leuten Darlehen anbot. Pinzke hätte ihn für vorgestern abend zehn Uhr zu sich bestellt, dann auch die 3000 Mark bereit gehabt, wäre aber doch überaus ängstlich gewesen, ob er das Geld auch riskieren solle, so daß Stunden vergangen wären, bis er es ihm endlich gegen einen Schuldschein zu 6 Prozent ausgehändigt hätte. – Malzahn bat noch dringend, ihn in den Fall Weigelt nicht mit hineinzuziehen. Die Geräusche hatte auch er gehört. Dann verließen wir ihn, nahmen ein Auto und fuhren nach dem Polizeipräsidium. Kommissar Bechert, Harsts alter Bekannter, war anwesend und erklärte, er hätte allerdings Verdacht gegen Pinzke geschöpft, weil dieser sehr jähzornig sein solle und dem Weigelt schon einmal auf dem Hofe mit einer Schaufel zu Leibe gegangen wäre. – „Ich denke aber gar nicht daran, ihn zu verhaften, lieber Harst. Dazu fehlt ja bisher jeder Grund. Der Mann hätte sich den Gang zu Ihnen sparen können. – Hier haben Sie einen Zettel, daß Sie das Mordzimmer betreten dürfen. Oder besser – ich komme selbst mit. Vielleicht finden Sie was Besonderes.“
Doch Harst fand nichts. Wenigstens tat er so. Bechert mußte dann noch in der Nähe einen schweren Einbruch untersuchen, so daß wir allein zu Pinzke hinabstiegen.
Vom Kellereingang links neben der Haustür führte ein langer Gang auf den Hof. Linker Hand ging’s in Pinzkes Wohnung hinein. Der erste Raum war die Werkstatt, der zweite nach rechts zu das Wohn- und Schlafzimmer, und links daneben lag die kleine Küche mit Nebengelaß.
Harst hatte Bechert gegenüber den Regierungsrat nicht erwähnt, was Pinzke offenbar sehr lieb war, der uns einen guten Kornbranntwein anbot und sich in Dankesworten wegen Harsts freundlichem Interesse erschöpfte. Harst setzte sich in der Werkstatt auf einen Schemel, suchte nach seinem Zigarettenetui, fand es nicht und bat Pinzke, ihm doch ein Päckchen Soliman 6 zu holen. Pinzke wurde verlegen, meinte, er habe einen Kunden bestellt, er könne schlecht weg. Dann ging er doch, als Harst etwas ungehalten wurde.
Kaum war Pinzke hinaus, als Harst hinten in dem Wohnraume verschwand. Als er zurückkehrte, war seine rechte Hand ganz schwarz, und er zog schnell seine Handschuhe an.
Pinzke war bald wieder da, und Harst unterhielt sich nun mit ihm über alles Mögliche. Dann brachen wir auf, fanden ein Auto, dessen Chauffeur Harst eine Straße am Rande der Jungfernheide als Ziel angab, stiegen dort aus und gingen noch zu Fuß bis zu einer Laubenkolonie, wo Harst eine Frau nach der Laube Pinzkes fragte. Sie wies uns dorthin und meinte, wir würden den Garten gleich an dem schmucken Häuschen mit den grünen Läden vor den Fenstern erkennen.
Harst hatte nämlich Pinzke gegenüber von seiner Vorliebe für Laubenkolonien gesprochen und so auf Umwegen herausgebracht, daß der Schuhmacher eine Laube besaß. – Wir gingen jetzt an dieser vorüber, und Harst sagte: „Merken wir uns den Weg. Wir werden nachts uns hier mal genauer umsehen.“
Wir kehrten sodann heim. Harst fragte plötzlich:
„Welche Verkleidung wählen wir? – Ich denke, wir arbeiten getrennt und doch vereint. Mönchengasse 24 sind im ersten Stock bei einer Frau Krüger zwei möblierte Zimmer frei. Sie, Schraut, können sofort hin – vielleicht als Kaufmann von auswärts. Ich werde einen Lehrer spielen. Das wirkt am harmlosesten. Wir kennen uns natürlich nicht. Hoffentlich liegen die Zimmer nebeneinander und haben eine nur verstellte Verbindungstür. – Los, Schraut, – Maske machen und dann – auf Wiedersehen!“ – Ich war das Gehorchen gewöhnt. – Beargwöhnte er etwa Pinzke?! Das war doch wohl ausgeschlossen! Bei dem Alibibeweis, den der Schuhmacher beibringen konnte. –
Das Haus Nr. 24 war sicherlich eines der ältesten Gebäude Berlins. Es hatte zwei kurze Seitenflügel, die nachträglich errichtet waren, und fraglos hatte es einst einer einzelnen großen Familie als Eigenheim gedient, wie die vielen Treppen, Verschläge und Flure bewiesen.
Wir kamen beide bei der Krüger unter, und um halb zehn schob mir Harst durch das Schlüsselloch unserer Verbindungstür einen Zettel zu, auf dem mit Bleistift stand: Um elf auf dem Hauptflur 2. Etage – pünktlich. – Verbrennen!
Das war ja recht vielverheißend! – Ich war rechtzeitig zur Stelle, hatte aber gehört, daß Harst bereits um halb elf sein Zimmer verlassen hatte.
Ich stand nun oben in dem stockdunklen Flur. Ich hatte Lederhausschuhe an und eine Reisemütze aufgesetzt. Dann blitzte plötzlich rechts von mir ein feiner Lichtstrahl auf. Er kam aus einer Flurtür, die nur eine Handbreit geöffnet war. Und nun Harsts Flüstern:
„Hier hinein. Schnell – leise!“
Ich huschte in einen fremden Flur, und Harst drückte die Tür wieder zu, schloß sie mit einem Dietrich ab und sagte beruhigend: „Keine Sorge – diese Dreizimmerwohnung ist zur Zeit leer. Sie gehört einem Rentier Hobrecht, über den mir die redselige Frau Krüger so manches erzählt hat. – Kommen Sie!“
Er öffnete geradeaus eine Tür. Wir waren in einem altmodisch eingerichteten Wohnzimmer. Am Fenster links war eine Kleiderecke mit geblümtem Vorhang. Harst zog mich hinein. Es hing dort nur ein Lodenumhang. Der Vorhang war in der Mitte geteilt. – Harst erklärte sehr leise, wir würden vielleicht umsonst hier stundenlang stehen müssen. – „Aber es geht nicht anders, Schraut. Ich muß Gewißheit haben.“
Er irrte sich. Wir hatten kaum zehn Minuten ausgeharrt, als ganz plötzlich im Zimmer rechter Hand schwere Schritte erklangen.
„Aha – also doch! Und nicht durch die Flurtür! – Sehr unvorsichtig!“ flüsterte Harst.
Ich begriff nichts von alledem – nichts! Aber – mir war nicht ganz behaglich zumute.
Dann öffnete sich die Tür rechts. Jemand trat ein, strich ein Streichholz an. Schon vorher hatte Harst für mich ein Loch in den Vorhang geschnitten. Ich spähte hindurch, sah einen graubärtigen Herrn mit goldenem Kneifer, der langsam auf und ab ging, sich nun an einen altmodischen Schreibtisch setzte und die Rollplatte hochschob. Dann hantierte er in dem Mittelfach herum.
Gleich darauf schrillte im Flur die Glocke. Der alte Herr verschloß den Schreibtisch, eilte hinaus und kehrte mit einer verschleierten, eleganten Dame zurück, bat sie, Platz zu nehmen, war sehr süßlich, wobei seine krächzende, heisere Stimme geradezu widerlich wirkte.
Die Dame schlug den Schleier hoch. Ein schönes, aber vergrämtes Frauenantlitz kam zum Vorschein. Sie hob flehend die Hände. – „Herr Hobrecht – haben Sie doch Erbarmen mit uns! Mein Mann verliert ja seine Stellung, wenn Sie den Wechsel einklagen –“ Sie bat, weinte. Aber er blieb unerbittlich, blieb aber dabei zuckersüß, warf mit dem „liebe, verehrteste gnädige Frau“ nur so um sich und gab sich endlich – endlich mit 1000 Mark Teilzahlung zufrieden.
Dann verabschiedete die Dame sich. Der neue Wechsel, den sie unterschrieben hatte, lag auf dem Mitteltisch. – Harst war blitzschnell dort, sah sich die Unterschrift an, schlüpfte wieder in unser Versteck. – Hobrecht hatte die Dame hinausbegleitet, brachte sie nun auch wohl bis zur Haustür, da er geäußert hatte, er müsse den Hausschlüssel zurückhaben, den er ihr geliehen.
Nach einer geraumen Weile erschien er wieder, verwahrte den Wechsel im Schreibtisch, löschte die Gaslampe aus und ging ins Nebenzimmer, wo er noch einige Minuten zu hören war. Dann wurde es totenstill.
Harst flüsterte mir zu: „Auf dem Wechsel stand: Angelika Malzahn, geborene von Printz. – Ganz interessant, Schraut, nicht wahr? Ich sage Ihnen, wir haben hier in diesem alten Gebäude ein nettes Wespennest entdeckt. Nie hätte ich geahnt, daß der Fall Weigelt sich zu einem so spannenden Problem auswachsen würde. Dem Weigelt scheint der Hals abgeschnitten zu sein, und hier treibt jemand gleichfalls Halsabschneiderei. – So, nun können wir’s wagen. Herr Hobrecht dürfte auf und davon sein.“
„Aber – er ist doch noch dort drinnen!“ warnte ich.
Harst lachte leise. „Nein – Sie sollen sich sofort selbst überzeugen.“ Er verließ unser Versteck. Gleich darauf standen wir in dem ärmlich möblierten Schlafzimmer. Es war leer. Aber das Bett war zerwühlt, als wäre es benutzt worden. – Harst ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die Kissen hingleiten, sagte: „Schwindel – er schläft kaum jemals hier. – Suchen wir jetzt nach dem geheimen Ausgang.“
Rechts stand in der Ecke neben der Tür ein Kachelofen. Harst leuchtete die Tapeten neben diesem Ofen sehr sorgfältig ab. Dann winkte er mir, zeigte mir in dem dunklen Blumenmuster etwa ein Meter über der Erde links vom Ofen einen kaum wahrnehmbaren Metallknopf. Als er daran zog, kam ein kurzer Eisenstab zum Vorschein, und dann öffnete sich eine niedrige, schmale Tapetentür nach innen. Dahinter gähnte ein viereckiger, rußgeschwärzter Schacht.
„Die Kaminesse aus früherer Zeit,“ meinte Harst. „Da ist der moderne Schornstein eingebaut, und da sehen Sie die Steigeisen, die eingemauert sind und eine Leiter oder Treppe ersetzen.“
Er leuchtete in den Schacht hinab. „Wollen prüfen, wo er endet und wo die zweite Geheimtür ist,“ flüsterte er und kletterte abwärts. Ich mußte wohl oder übel folgen, obgleich mich plötzlich ein Gefühl beschlichen hatte, daß dieses Abenteuer ein böses Ende nehmen würde.
Doch nichts geschah. Wir fanden einen zweiten Mauerdurchbruch und die dazu gehörige Tür, kehrten nach oben zurück, schlossen die Geheimtür und schlichen in Hobrechts Arbeitszimmer, wo Harst sich an den Schreibtisch setzte und ein paar winzige Dietriche aus der Tasche zog.
Ich stand und sah ihm zu. Er probierte sie nacheinander, sagte dann gerade: „Ein Kunstschloß – ohne –“
Weiter kam er nicht. Gleichzeitig wurden wir von hinten gepackt, am Halse, und gleich so fest, daß ich in kurzem das Bewußtsein verlor. Ich fühlte nur noch, daß auch meine Beine festgehalten wurden und hörte, wie jemand sagte: „Hau’ ihm über den Schädel!“ Das konnte nur Harst gegolten haben.
Als ich das Bewußtsein wiedererlangte, war ich sitzend an einen Stuhl gefesselt, hatte einen Knebel im Munde und ein Tuch vor den Augen. Nach einer geraumen Weile vernahm ich dann Hobrechts krächzende Stimme:
„Aha – Sie sind nun beide erwacht. – Na, verehrter Herr Harst, – was sagen Sie nun?! Das haben Sie Obergenie von Detektiv wohl nicht erwartet! Ja – es gibt Leute, die eben noch klüger als Sie sind. Leider sind Sie und Ihr Gehilfe diesmal an sehr rücksichtslose Widersacher geraten. Auf Schonung haben Sie nicht zu rechnen. Wir werden uns nicht an Ihnen vergreifen, nein, – wir werden Sie nur in den Kamin hängen, unten nasse Lumpen verbrennen, und der Qualm wird das besorgen, was ein guter Messerstich schneller aber auch offenkundiger herbeiführen würde. Ihre Kadaver packen wir in einen Kleiderschrank, bringen sie so aus dem Hause, werfen sie in eine alte Bretterbude, stecken das Ding an, und dann kann sich ja Ihr Freund Bechert den Kopf zerbrechen, wer Sie umgebracht hat. – So, das sind Ihre Zukunftsaussichten.“ Ein scheußliches Kichern folgte.
Gleich darauf wurde ich hochgehoben, fortgetragen. Man zog mir einen Strick unter den Armen durch. Und dann hing ich tatsächlich in der Esse. Ich fühlte es an der kühleren Luft und roch es auch an dem leichten Rußgeruch.
Was aus Harst geworden, konnte ich nur aus Geräuschen schließen. Ich vermutete, er hing über mir in derselben verzweifelten Lage.
Ich gebe zu: ich hatte damals mit dem Leben abgeschlossen.
Nun wurde es still ringsum. Dann drangen schwache Geräusche von unten herauf: Knistern, leise Stimmen, leises Poltern.
Und dann – dann drangen die ersten Rauchschwaden hoch. Beizender Qualm stieg mir in die Nase. – – Todesangst trieb mir kalten Schweiß aus allen Poren. Ich verwünschte den Schuhmacher, der doch an allem schuld war. Hätte er nicht Harst aufgesucht – hätte – hätte! – Was half alles Denken! Und trotzdem: mein Hirn klammerte sich noch immer an die schwache Hoffnung mit tausend wirren Gedanken, Harst könnte eine Möglichkeit ersinnen, uns zu retten.
Stärker und stärker wurde der Qualm. Ich sog durch die Nase nur noch stinkenden Rauch ein. Feuerräder sprühten vor meinen Augen auf, die noch die Binde trugen, – ganze Raketenbüschel schossen hoch: – das Feuerwerk des langsam schwindenden Bewußtseins.
Da – täuschte ich mich? – an mir kletterte ein Mensch vorüber.
Nun eine Stimme – und ich erkannte die Pinzkes – nun Worte, Sätze, hastig geraunt:
„Herr Harst – ich kann Sie retten, aber nur mit höchster eigener Lebensgefahr. Geben Sie mir Ihr Wort, daß weder Sie noch Schraut etwas gegen Hobrecht unternehmen. Dann befreie ich Sie beide, obwohl es mich das Leben kosten kann. – Nicken Sie, dann weiß ich, daß ich Ihr Ehrenwort habe –“
Für mich folgten Sekunden höchster Qual. Würde Harst nicken, würden wir gerettet werden?
Ah – dem Himmel sei Dank! – Pinzkes Stimme wieder: „Gut – ich habe Ihr Wort! Ich schneide Sie los –“
Der Qualm hatte fast ganz aufgehört. Auch ich wurde meine Fesseln los; auch die Binde vor [den][14] Augen fiel. Ich sah den Schuhmacher im Alltagskittel mit einer Petroleumlaterne unter mir. Er kletterte abwärts. Nun kamen wir an den Mauerdurchbruch, an die zweite, von uns bereits festgestellte Geheimtür. Sie lag dicht über dem Boden der Esse, führte in einen durch Bretter abgeteilten Kellerraum hinter einen Stapel leerer Kisten.
Pinzke ermahnte uns, ja recht leise zu sein. Er öffnete die Lattentür des Verschlages. Draußen an der Tür war mit schwarzer Farbe der Name Hobrecht angemalt.
Weiter ging’s in den Vorkeller; ein paar Stufen aufwärts, hindurch durch die eigentliche Kellertür und dann in Pinzkes Wohnung hinein, – in das Hinterzimmer, wo eine Gaslyra brannte.
Harst sank matt auf den nächsten Stuhl. Noch nie hatte ich ihn so vollständig kraftlos und erschöpft gesehen.
„Einen – Kornschnaps!“ hauchte er.
Auch ich trank – ebenfalls gleich zwei. Aber ich fühlte mich offensichtlich weit besser als Harst, der noch immer nicht recht zu sich kam.
Pinzke war ganz dankbare Fürsorge. Dann setzte er sich gleichfalls, begann zu sprechen:
„Herr Harst, ich gebe zu, daß Hobrecht mich gezwungen hatte, ihm, der ein erbarmungsloser Wucherer ist, neue Opfer zuzuführen. Er hat noch mehr solche Schlepper. Sie beide sind heute beobachtet worden, als Sie den Regierungsrat vormittags aufsuchten. Da hat Hobrecht Verdacht geschöpft, es sollte ihm an den Kragen gehen. Er hat Sie weiter überwachen lassen, und als Sie beide nacheinander bei der Krüger mieteten, war er ganz sicher, daß Sie es auf ihn abgesehen hätten. Als Sie seine Wohnung betraten, steckten schon zwei seiner Helfershelfer in dem großen Schrank im Wohnzimmer, und als Sie aus dem Kamin in das Zimmer zurückkehrten, war alles zu Ihrer Festnahme vorbereitet. Ich selbst war nicht dabei. Erst als Sie in der Esse hingen, kam Hobrecht zu mir und drohte mir, mich durch seine Helfershelfer beseitigen zu lassen, wenn ich Sie etwa befreite. Dann ist er geflohen. Und er wird nicht mehr hierher zurückkehren. Der Boden ist ihm hier doch zu heiß geworden. Er will nach der Schweiz zunächst. Ich soll seine Möbel und alles andere verkaufen und den Erlös als Sündenlohn dafür behalten, daß ich Ihre Leichen im Keller verscharre. Ich hab’s ihm schwören müssen. – Nun – meine Dankbarkeit gegen Sie ist größer. Ich werde alles so einrichten, daß es scheint, Sie beide wären wirklich tot, und ich hätte Sie auch verscharrt. Hobrechts Mitwisser, zwei ganz gefährliche Verbrecher, wollen ihm in drei Tagen nach der Schweiz folgen. Von da wollen sie zusammen nach Südafrika verschwinden. Sie beide müssen sich also drei Tage unbedingt gut verborgen halten. Haben die Schufte erst Europa verlassen, so ist die größte Gefahr für mich vorüber. – So – ich bin ganz ehrlich gewesen. Und nun bitte ich Sie nochmals: denken Sie an Ihr Ehrenwort! Mag Hobrecht entkommen! – Es geht wirklich um mein Leben!“
Harst streckte ihm die Hand hin. „Ich werde alles tun – alles!“ sagte er sehr herzlich. – Mir kam dies „alles tun“ etwas zweideutig vor. Aber er fuhr schon fort: „Wie soll ich Ihnen nur danken, lieber Pinzke?! Wie nur?! Ich bin Millionär! 100 000 Mark sind nicht zu viel für Sie! Ich werde das Geld, sobald ich mich wieder öffentlich zeigen kann, sofort flüssig machen –“
Pinzke wehrte ab. „Aber Herr Harst! Dann bin ich ja ein reicher Mann!“
„Das sollen Sie auch werden. Sie erhalten Ihren Lohn bestimmt. – Abgemacht – kein Wort mehr darüber.“
Pinzke war fast zu Tränen gerührt.
Dann fragte er, wo wir nun die drei Tage bleiben würden.
Harst überlegte, meinte: „Am besten, wir fahren irgendwohin nach auswärts. Etwa nach Dresden, machen eine Tour durch die Sächsische Schweiz –“
Pinzke lobte die Idee. Wir verabredeten dann noch, daß er bei unserer Vermieterin, der Krüger, alles unauffällig in Ordnung bringen solle.
Eine Stunde später ließ er uns unter allerlei Vorsichtsmaßregeln zum Hause hinaus. Wir schieden mit herzlichen Händedrücken.
Harst hängte sich in meinen Arm ein. Er war noch sehr schwach. Wortlos schritten wir die Straße entlang. Dann trafen wir eine leere Taxameterdroschke.
„Anhalter Bahnhof!“ rief Harst. Wir stiegen ein, rumpelten davon.
Harst befühlte seine Taschen. „Alles noch da, nur die Pistole fehlt,“ meinte er. Er hielt mir sein Zigarettenetui hin, fuhr fort – und ich erstarrte zur Salzsäule:
„Oh – dieser, dieser geriebene Halunke! – War das eine widerliche Komödie! Aber – er soll mich kennen lernen! Ja – er wird seinen Lohn erhalten!“
Er war ganz verändert – urplötzlich! Munter, frisch, voller Leben.
„Wen – wen meinen Sie?“ stotterte ich.
„Hobrecht natürlich!“
„Aber – Ihr Ehrenwort?!“
„Werde ich nicht brechen, lieber Schraut.“
Ich konnte nur den Kopf schütteln. – Er schwieg jetzt, rauchte voller Behagen. Nur einmal entfuhr es ihm halblaut: „Müssen die mich für dämlich halten!“ Und dann wieder: „Schraut, ich fühlte mich niemals so sehr körperlich und geistig frisch als in Pinzkes Wohnstube vorhin – nein, niemals. Meine Schlappheit war Absicht – jedes Wort war genau berechnet!“
Wie – beargwöhnte er Pinzke noch immer?! –
Da waren wir auch schon am Anhalter Bahnhof. Und eine Stunde später – der Morgen graute bereits – bestiegen wir mit Fahrkarten nach Dresden einen Personenzug – mit Fahrkarten 4. Klasse; ich noch immer auf meinen Morgenschuhen. Wir sahen eben für eine höhere Wagenklasse zu schmierig aus. – Harst raunte mir kurz vor der Abfahrt zu:
„Wir werden beobachtet! Dort der Pockennarbige ist’s, der mit dem rötlichen Schnurrbart –“
Dieser Mann blieb jedoch auf dem Bahnsteig zurück. Harst rieb sich die Hände. – „Sie glauben uns. – Sie glauben, daß wir die Sächsische Schweiz besuchen werden! – Nein, sind diese Leute nur dumm!“
Und wieder eine Stunde später stiegen wir auf einer größeren Station aus. Aber nicht etwa nach den Bahnhofsgebäuden zu! Nein! Neben unserem Wagen 4ter hielt auf dem Nachbargleis ein leerer Güterwagen. Wir schlüpften unbemerkt hinein. – In der Stadt mietete Harst ein Auto, das uns nach Berlin brachte. – Einzelheiten will ich mir schenken. Ich erinnere nur daran, daß ich einst Schauspieler, Komiker, gewesen, und daß Charleys Tante eine meiner Glanzrollen war. – Nun – jetzt verwandelte ich mich in eine ältere, grauhaarige Dame, während Harst meinen ebenso würdigen, kurzsichtigen und schwer an einem Stock daherhinkenden Gatten spielte. –
Um elf Uhr vormittags fuhr ein Taxameter vor Mönchengasse 81 vor. Dort hatte das Stettiner Ehepaar Meier im Parterre bei der Witwe Knittel zwei möblierte Zimmer für acht Tage gemietet.
Unsere Fenster gingen nach der Straße hinaus. Schräg gegenüber lag Nr. 24. Unsere Wirtin war so schwerhörig, daß man ihr alles in die Ohren schreien mußte – für uns sehr angenehm, da wir uns bei Gesprächen unter uns nicht so in acht zu nehmen brauchten. Sie war auch alleinstehend. All das hatte Harst bestimmt, gerade diese Zimmer zu wählen. Er dachte eben stets selbst an den geringfügigsten Umstand, der von Vorteil sein könnte.
Wir hatten unsere neuen billigen Handkoffer ausgepackt und Frau Knittel nach dem nächsten Restaurant geschickt, uns Mittagessen zu holen. Harst saß am Fenster unseres Wohnzimmers und studierte eine Zeitung, die er vorhin gekauft hatte, was einige Umstände gemacht hatte, weil es eine ältere Nummer war. Er winkte mir, zeigte auf einen Artikel. – „Lesen Sie, Schraut. Vielleicht begreifen Sie dann verschiedenes.“
Da stand: „Mord in der Laubenkolonie „Volksfreude“ in der Jungfernheide. – Heute früh fanden Kinder auf einem großen Kehrichtberg der genannten Laubenkolonie eine männliche Leiche, deren Gesicht durch Schnitte vollständig verstümmelt war. Die herbeigerufene Mordkommission stellte fest, daß zweifellos Mord vorliegt. Dem Toten war der Hals von einem Ohr zum andern bis auf die Wirbelsäule glatt durchschnitten worden. Der Polizeiarzt behauptet, diese furchtbare Todeswunde rühre von einem einzigen Hieb mit einem schweren, haarscharfen Säbel her. Die Taschen des Toten waren vollständig leer. Er trug nur Hose und Jacke, keinerlei Unterwäsche. Da die Jacke nur geringe Blutspuren aufweist, wird angenommen, daß man dem Toten seine Kleider ausgezogen und erst nach seiner Ermordung ihm eine Jacke und Hose übergestreift hat, um ein Wiedererkennen des Mannes zu erschweren. Auf diese Absicht deutet auch das zerfetzte Gesicht hin. – Wo der Mord begangen worden ist, dürfte kaum zu ermitteln sein. In der Nacht vorher hatte es ja stark geregnet, und Polizeihunde versagten daher vollständig. Jedenfalls dürfte die Leiche vielleicht von weither nach dem Kehrichtberg verschleppt worden sein. – Wir erinnern unsere Leser bei dieser Gelegenheit an einen ähnlichen, ein halbes Jahr zurückliegenden Mord, bei dem der im Grunewald in der Nähe der Station „Heerstraße“ aufgefundene Tote gleichfalls durch einen Hieb durch die Kehle hingeschlachtet worden war und bis heute noch nicht seiner Persönlichkeit nach festgestellt ist, ebensowenig wie man den oder die Täter hat entdecken können. Damals tauchten Gerüchte auf, die dieses Verbrechen der etwas sagenhaften sog. Klosterbande zuschreiben wollten. Die „Klosterbande“ soll eine geheime Verbrechervereinigung sein, die mit ganz großzügigen Mitteln arbeitet. Unserer vortrefflichen Kriminalpolizei ist es auch gelungen, zwei Leute festzunehmen, die man für Mitglieder dieser Bande hielt. Sie sind damals jedoch auf bisher völlig unaufgeklärte Weise aus dem Untersuchungsgefängnis entkommen. Ob die Klosterbande wirklich existiert hat, weiß niemand mit Sicherheit. Sie „soll“ einen Mann aus studierten Kreisen zum Anführer gehabt haben, „soll“ sehr straff organisiert gewesen sein und vom Taschendiebstahl bis zum Raubmord „alles gemacht“ haben. Soll! Was Wahres daran ist, vermag keiner zu sagen.“
Ich ließ die Zeitung sinken, blickte auf, sah in Harsts ernste, aber vor innerer Erregung strahlende Augen.
„Schraut,“ meinte er leise, und seine Stimme vibrierte leicht, „Schraut – der Tote in der Laubenkolonie „Volksfreude“ wurde heute vor sechs Tagen gefunden. Es ist jenes Kapitalverbrechen, das ich Ihnen gegenüber kurz erwähnte, bevor ich Ihnen den Artikel daheim bei uns über den Fall Hugo Weigelt vorlas. Gleich darauf erschien ja Pinzke bei uns – Sie entsinnen sich. – Und nun zu der – Klosterbande. Sie interessiert mich seit langem. Aber ich hatte ja bisher infolge der Wettaufgaben keine Zeit, mich ihr zu widmen und nachzuprüfen, ob sie in das Reich der Fabel gehört. Seit der verflossenen Nacht weiß ich, daß – etwas Wahres daran ist, mehr noch, ich habe jetzt die Gewißheit, daß es Mitglieder dieser geheimnisvollen Verbrechervereinigung waren, die uns gestern – räuchern wollten. – Woher ich diese Gewißheit gewonnen habe? – Sehr einfach! Als man uns gestern in Hobrechts Wohnzimmer überfiel, als mir unter dem würgenden Griff das Bewußtsein zu schwinden begann, da hörte ich, wie Hobrechts krächzende Stimme einem unserer uns unsichtbar gebliebenen Angreifer zurief: „Eusebius, – auch die Füße binden!“ Und gleich darauf: „Bring’ das Holz und die nassen Lumpen in die Esse, Bonifatius.“ – Also Eusebius und Bonifatius – zwei ausgesprochene Mönchsnamen! – Geht Ihnen ein Licht auf, Schraut? – Und – habe ich nicht einiges Recht zu vermuten, daß diese Namen schon allein die Bezeichnung „Klosterbande“ begründen?“
Ich nickte. „Dann – dann kämpfen wir also diesmal gegen ein vielköpfiges Ungeheuer, Herr Harst,“ sagte ich ein wenig beklommen.
Seine Augen leuchteten geradezu auf. „Wir kämpfen gegen die Klosterbande,“ flüsterte er. „Und – halb haben wir sie schon besiegt. – Fragen Sie nichts, Schraut! Ich rede schon noch zur gegebenen Stunde. – So, jetzt will ich nach der nächsten Waffenhandlung und für jeden von uns zwei kleine Mauserpistolen erstehen. Unsere Selbstlader haben uns die Schufte ja als einziges von unserem Tascheninhalt abgenommen.“ –
Nachmittags war Harst allein in der Stadt. Ich mußte derweil Nr. 24 vom Fenster aus genau beobachten. Viel sah ich nicht. Pinzkes kräftige Gestalt erschien einmal vor der Haustür. Das war alles. – Um acht Uhr kam Harst zurück, brachte allerlei zum Abendessen mit, auch einen großen Karton. Darin befanden sich zwei dunkelgraue Joppenanzüge, zwei dunkelgraue weiche Mützen und eine lange Hanfleine sowie ein starker eiserner Haken.
„Ich habe mir noch ein zweites Quartier besorgt, Schraut,“ berichtete er, während wir zu Abend aßen. „In Nr. 26, 3. Stockwerk. Ich tat’s nur, um dort zu dem Hausschlüssel zu gelangen.“ Dann wickelte er ein Paket aus, das er in der Brusttasche bisher stecken gehabt hatte. Es enthielt ein kleines Brecheisen, zwei kleine Stahlsägen mit anschraubbarem Handgriff und mehrere kleine Dietriche sauberster Arbeit. – „Nun sind wir gerüstet. Um elf Uhr geht’s los,“ lächelte er.
Um halb elf zogen wir die praktischen Joppenanzüge an, streiften die Mützen über, steckten die geladenen Pistolen und die anderen notwendigen Dinge zu uns und schlürften dann kurz nach elf in das Haus Nr. 26 hinein, erbrachen die Bodentür, stellten die Leiter an die Dachluke und waren nun hoch oben über dem nächtlichen Berlin auf dem flachen Pappdach von Nr. 26.
Die Hanfleine, an deren einem Ende der Haken festgebunden war, diente dazu, uns auf das niedrigere Dach von Nr. 25 hinabzulassen, und sehr bald hatten wir dann auch die Bodenluke von Nr. 24 vor uns. Harst hatte zuerst den Weg durch den alten Kaminschornstein nehmen wollen. Der aber war oben durch einen schweren eisernen Deckel verschlossen, dessen Schloß Harst nicht zerstören mochte. – „Es könnte Argwohn erregen,“ meinte er.
Und wieder zehn Minuten später öffnete er ganz geräuschlos mit einem Dietrich die Flurtür Hobrechts. Wir standen dann wohl fünf Minuten regungslos auf demselben Fleck, die entsicherten Pistolen in der Hand, und lauschten. Doch in Hobrechts Wohnung regte sich nichts. Nun durchsuchten wir auf Strümpfen zunächst sämtliche Räume mit größter Sorgfalt, bauten dann vor der Geheimtür im Schlafzimmer ein Hindernis aus Tischen und Stühlen auf und kehrten in das Vorderzimmer zurück, wo mein Herr und Meister sich eifrig über den alten Schreibtisch hermachte. Und – er fand auch wirklich im Mittelfach des Aufbaus ein Geheimfach, in dem jedoch nichts als eine Anzahl ausgefüllte Wechselformulare und ein Bogen Papier mit einer Reihe von Namen darauf lagen. Er zeigte mir den Bogen, beleuchtete ihn mit seiner Taschenlampe und flüsterte: „Die Mitgliederliste der Klosterbande, – fünfzehn Mönchsnamen – weiter nichts. Neben drei dieser Namen ist ein rotes Kreuz gemalt. Hinter den Namen stehen Notizen in einer Chiffreschrift. – Ich weiß genug. Die Namen der rot Angekreuzten sind: Dionysius, Kornelius, Hieronymus. Merken wir sie uns.“
„Hobrecht ist[15] sicher der Anführer der Klosterbande,“ erklärte ich nun. „Schade, daß er uns entkommen ist. Er hat fraglos viel auf dem Kerbholz.“ – Harst zuckte die Achseln. „Entkommen?! Nein! Wir werden ihn fangen, Schraut, so wahr ich Harald Harst heiße und so einiges von der Verbrecherjagd verstehe!“
Wir brachten in der Wohnung wieder alles in Ordnung. Die Wechsel und die Liste blieben, wo sie waren. Dann ging’s wieder nach dem Dach hinauf. Harst hatte vorher nach der Uhr gesehen. Es war kurz nach Mitternacht. Als er die Dachluke anhob, hörten wir das Rauschen eines kräftigen Regengusses. – „Warten wir,“ meinte er da. „Wozu sollen wir naß werden.“ – Wir standen am Fuße der Holztreppe, die hier zu Luke emporführte. Der Regen trommelte immer stärker auf dem Pappdach.
Dann war’s mir, als hörte ich über uns schleichende Schritte, als knirschte der Sand der Pappe ein wenig. – „Hören Sie’s?“ raunte ich Harst zu.
„Ja. – Die Sache gefällt mir nicht,“ klang’s aus der Finsternis zurück.
Mir trat kalter Schweiß auf die Stirn. Ich dachte an die verflossene Nacht, an den Qualm, den drohenden Erstickungstod.
Nun wieder ein Geräusch – genau auf dem Lukendeckel. Und dann – ein Fauchen, Kreischen, Miauen. – Also Katzen! – Ich atmete auf.
„Katzen!“ drang Harsts Stimme an mein Ohr. Aber mir schien’s, als betonte er das Wort so sonderbar.
Plötzlich wieder ein Geräusch. Aber jetzt von der Bodentreppe her. Und dann ein leises Knarren.
Harst packte meinen Ärmel. „Hinlegen – hier hinter die Lukentreppe. Und – tun Sie genau, was ich vormache, Schraut. Nehmen Sie all Ihre Kräfte zusammen. Wenn’s zwei sind, müssen sie lautlos erledigt werden.“
Gleich darauf vor uns ein dünner Lichtstrahl, der sofort wieder erlosch. Dann Knarren von Dielen. Wieder der Lichtstrahl. Jetzt blieb er, irrte hin und her. Ich konnte durch die offenen Stufen der Treppe hindurchlugen, sah zwei dunkle Gestalten.
Nun eine Stimme: „Sie sind nicht hier. Ich sagte ja gleich, sie werden in eine Wohnung geschlüpft sein.“
„Scheint so, – sie müßten längst auf dem Dach sein, wenn sie hier hinaufgegangen wären. Geben wir denen oben Bescheid.“
Eine zweite Taschenlampe blitzte auf. Die Kerle trugen schwarze, falsche Bärte, sahen wie Gorillas aus. Nun näherten sie sich der Treppe. Und da merkte ich erst, daß Harst von meiner Seite verschwunden war. Kaum hatte ich dies erkannt, als er sich auch schon hinter den beiden hochreckte. Seine Arme fuhren blitzschnell hoch. Ich hörte zwei dumpfe Schläge, zwei halblaute Aufschreie, dann andere Geräusche.
Die Lampen waren den beiden aus der Hand gefallen, leuchteten am Boden weiter. Und daneben lagen regungslos die bärtigen Gesellen, die Harst mit den Metallkolben der Mauserpistolen durch Schläfenhiebe niedergestreckt hatte.
Ich verließ das Versteck. Harst hatte schon die Hanfleine hervorgeholt, zerschnitt sie gerade, als über uns der Lukendeckel knirschte. Im Nu hatte Harst die Lampen ausgeschaltet.
Da – von oben eine Stimme: „Habt Ihr sie? Wir hörten zwei Schreie –“
Harsts gepreßte Stimme erwiderte: „Ja – ich hab’ ’n Boxhieb vorn Magen bekommen. Kommt leise herab.“
Über uns war ein heller, viereckiger Fleck sichtbar. Der Regen tropfte durch die nun offene Luke herein. Und dann erschienen erst ein Paar Beine, dann ein Körper.
Ich sah nichts von dem, was dann geschah. Konnte nur aus den Geräuschen auf die Vorgänge schließen.
Harst ließ den ersten Mann bis nach unten, packte ihn bei der Gurgel, schmetterte ihm den Pistolenkolben gegen die Stirn, ließ ihn zu Boden gleiten.
Der zweite schien doch Verdacht geschöpft zu haben. Er saß jetzt auf dem Lukenrand, die Beine in der Luke, beugte sich vor, fragte: „He, Alexius, – wie steht’s? Bringt sie doch nach oben. Der Wagen wartet schon eine Stunde. Das wird auffallen –“
Kaum war das letzte Wort verklungen, als Harst mit einem Satz oben war, den Kopf des Mannes zu packen bekam, den ganzen Kerl nach unten riß, daß er nun vor ihm auf den Stufen lag. Ich sprang zu. Ich hatte von Harst gelernt. Mein Pistolenkolben traf den Hinterkopf des Mannes. Ein Ächzen – ein Klirren. Ein offenes Messer war ihm aus der Hand gefallen. Und Harst flüsterte: „Gerade zur rechten Zeit kam Ihr Hieb, lieber Schraut. Der Kerl wollte mir das Messer in die Brust stoßen.“
Zehn Minuten drauf hatten wir die vier gebunden und geknebelt. Sie trugen sämtlich falsche Vollbärte einfachster Art, mit Draht hinter den Ohren befestigt.
Der, den ich betäubt hatte, erwachte sehr bald. Aber Harst fragte ihn umsonst aus. Der Mensch – er war noch sehr jung, blieb stumm.
Harst gab die Sache auch bald auf. „Wir dürfen[16] nicht zu lange hier verweilen,“ meinte er. „Jetzt aber – Wurst wider Wurst. Wir hängen die vier oben in die Esse. Dort haben wir sie ganz sicher. Ich werde das Schloß des Eisendeckels zerschneiden. Dann schaffen wir sie einzeln in den Kamin.“
Es dauerte doch eine gute Viertelstunde, ehe wir damit fertig waren. Dafür hatten wir nun aber auch die Gewißheit, daß die vier besser als in einer Zelle verwahrt waren.
Harst stieg dann durch den Kamin bis in den Keller hinab. Die Tür nach der Straße hin öffnete uns ein Dietrich. – Der Regen hatte aufgehört. Vor dem Hause Nr. 25 hielt ein sogenannter Fleischerwagen, ein Einspänner, mit einem verdeckten Kasten hinten. Es war ein sauber lackiertes Gefährt. Auf dem Bock saß zusammengesunken der Kutscher.
Ganz leise kamen wir von hinten heran. Dann ein schneller Schritt Harsts, und er hielt dem bärtigen, verschlafenen Burschen eine Pistole dicht vors Gesicht.
„Keine Bewegung! Kriminalpolizei! Herunter vom Bock!“
„Nanu – wat jibt’s denn? Wat is denn los? Sie überfallen hier ’n friedlichen Menschen?! Noch besser! Ick setz’ mir ja jar nich zur Wehr –“
„Arme hoch!“ befahl Harst. „Sofort! – Schraut – binden!“ – Ich schwang mich hinauf.
Dann fuhren wir nach der nächsten Polizeiwache, unsern Gefangenen in der Mitte. Dort zeigte Harst seinen Ausweis vor. Das genügte. Der Mann kam in eine Sonderzelle. Wir durchsuchten dann den Wagen, der auf den Hof des Hauses gebracht war. Der Wagenkasten zeigte am Boden verwaschene Blutspuren. – Harst bat den einen Beamten, sofort etwas von diesem Blut auf dem Präsidium untersuchen zu lassen. „Es dürfte Menschenblut sein. In diesem Wagen ist ein Toter mal nach dem Grunewald gebracht worden,“ sagte er kurz. „Dann bestellen Sie Kommissar Bechert von mir, daß er sofort mit zehn Beamten in aller Stille nach der Jungfernheide hinauseilt und dort mit größter Vorsicht in der Laubenkolonie Volksfreude ein Häuschen umstellt, das so und so aussieht. Sobald er einen Schuß hört, soll er schnellstens die Tür erbrechen und hineinstürmen. Vielleicht trifft er mich auch schon vorher draußen. Es handelt sich um die Klosterbande.“
„Klosterbande?!“ entfuhr es dem Schutzmann ungläubig. „Das ist doch wohl nur –“
Harst faßte an die Mütze. „’n Abend – auf Wiedersehen. Sorgen Sie für das Pferd.“
Ein Auto nahm uns auf. Das Ziel war eine Straße in der Nähe der Laubenkolonie Volksfreude.
Harst begann im Auto sehr bald zu sprechen.
„Pinzkes Besuch bei uns hat merkwürdige Folgen gezeitigt, Schraut. Wer hätte das alles vorausgesehen! – Schon als er bei uns war, fiel mir freilich an ihm so manches auf. Darüber jedoch erst später, denn – die Hauptsache, den Kernpunkt, will ich mir als größte Überraschung noch vorbehalten. – Also – manches fiel mir an ihm auf. Die Begründung, unter der er mich um meine Unterstützung bat, erschien mir etwas schwach, etwas erkünstelt. Gewiß – die Polizei war hinter ihm her. Aber – wer ein gutes Gewissen, dazu noch einen solchen Zeugen für sein Alibi hat wie der Regierungsrat es ist, braucht doch nicht zu Harald Harst zu laufen. Der kann die Dinge an sich herantreten lassen!“
„Allerdings – auch mir will jetzt –“
Er ließ mich nicht ausreden. „Dann kamen wir zu Pinzke in die Kellerwohnung. Ich sah sofort, daß seine Werkstatt nur zum Schein da ist. Und die Frau Krüger aus der ersten Etage, bei der wir nur ein paar Stunden Mieter waren, erklärte mir später, Pinzke wäre sehr wenig zu Hause und nehme auch nie Arbeit an, angeblich weil er zu kranke Augen hätte. Eine Brille trägt er ja allerdings. Als Pinzke die Zigaretten holte, wühlte ich die Ofenasche in seinem Wohn- und Schlafgemach durch. Wozu? – Nun – ich hoffte Reste eines verbrannten Schließkorbes und einer roten Steppdecke zu finden. Aber – ich fand nichts. – Dieses Durchsuchen des Ofens war ein schwerer Fehler von mir. Pinzke hat’s gemerkt, und deshalb hat er die ganze Meute der Klosterbrüder auf uns gehetzt, zu denen er natürlich auch gehört.“
Mir entschlüpfte ein etwas zweifelndes „Hm!“
„Er gehört zu ihnen, Schraut! Sie werden schon gläubig werden! – Nehmen wir uns nun mal den Mord an Hugo Weigelt vor – den Mord ohne Toten! Ich nannte ihn einen Schulfall – besinnen Sie sich! Die Mörder, die ihr Opfer angeblich in dem Weidenkorb, in die Steppdecke gehüllt, weggeschafft haben sollen, lassen ausgerechnet einen abgehauenen Fingernagel mit drei rotbraunen Männerhaaren darin am Tatort zurück! Ausgerechnet mit rotbraunen Haaren! Zum Lachen ist’s. Denn diese Haare waren natürlich nur in den Fingernagel eingeklemmt worden, um die Polizei auf eine falsche Spur zu führen – nur! Ein Köder also! Doch – ich biß darauf nicht an. Ich untersuchte flüchtig im Mordzimmer das blutige Wasser in der Waschschüssel, merkte sofort, daß sich darin nie ein Mensch die Hände gesäubert, sondern daß man lediglich etwas Blut in das reine Wasser gegossen hatte, um den Anschein einer Reinigungsprozedur zu erwecken –“
„Unglaublich!“ meinte ich. „Also scheint –“
„Ja – eine unglaubliche Dummheit war dies!“ unterbrach Harst mich. „Eine Dummheit, die im Verein mit dem abgehauenen Fingernagel alsbald in mir den Verdacht auftauchen ließ, daß – Weigelt anderswo abgeschlachtet worden ist und daß nur der Eindruck hervorgerufen werden sollte, er sei in seinem Zimmer ermordet. – Weshalb die Mörder dies wollten? Weil ein zweiter Toter, irgendwo im Freien aufgefunden, ihnen zu gefährlich dünkte, zumal die auf dem Kehrichthaufen entdeckte Leiche Weigelts Bruder Ernst ist, was durch einen Zufall hätte herauskommen können.“
„Bruder? Ja – woher –?“
„Das habe ich heute nachmittag herausgebracht. Ich erfuhr, daß Hugo Weigelt einen Bruder besaß, der genau seit sechs Tagen bei seinen Mietsleuten sich nicht mehr hat blicken lassen. Denken Sie nun an die drei rot angekreuzten Mönchsnamen der Liste und an den Zeitungsbericht über den nur mit Jacke und Hose bekleideten Toten, schließlich an den ähnlichen Mord von einem halben Jahr!“
Harst preßte plötzlich meinen Arm.
„Schraut,“ – seine Stimme klang so erregt wie selten, – „Schraut – diese drei Morde sind nichts als – ein Strafvollzug der Klosterbande an Genossen, denen man nicht mehr traute! Die roten Kreuze! – gerade drei – sollte das ein Zufall sein?! – Nein – es ist keiner! Doch weiter. Zurück zu Pinzke. Ich habe heute ferner festgestellt, daß Pinzke noch nie bisher sich als Geldgeber durch eine Anzeige angeboten hatte. Denn: er bestellt den Regierungsrat, der als Mann in tausend Geldnöten sofort auf diese Anzeige hin zu ihm eilt, für den Abend zu sich und hält ihn unter dem durchsichtigen Vorwand, Angst um sein Erspartes zu haben, volle fünf Stunden bei sich fest. Doch nur zu dem Zweck, um einen Alibi-Zeugen von gutem Namen zu haben! Und – weil er für diesen Zeugen gesorgt hatte, wußte er notwendig auch, daß er ihn vielleicht brauchen würde, daß damals gerade seine Genossen in Weigelts Zimmer die verdächtigen Geräusche machten, daß sie das – in einem Gefäß mitgebrachte Blut ausgossen und verspritzten, den Fingernagel hinlegten – und so weiter. Natürlich ist das Gefäß angewärmt gewesen, damit das Blut nicht gerann. – Kurz: Pinzke ist Mitwisser des Mordes. Daher gehört er auch zu der Klosterbande. Und seine Rettungsaktion für uns war dann nichts als – eine verschleierte Erpressung. Die Herren Mönche rechneten damit, daß ich eine gehörige Summe für diese Befreiung aus Lebensgefahr freudig verschenken würde. Das Geld war ihnen mehr wert, als unsere Beseitigung, zumal sie sich der Hoffnung hingaben, daß ich Pinzke vollkommen wieder traute und nichts von der Existenz ihrer Verbrechervereinigung ahnte. – Nun – jetzt haben sie ihre Meinung geändert. Das beweist unser Erlebnis auf dem Boden von Nr. 24. Und dieses Erlebnis beweist wieder, daß die Bande doch nicht so ganz ungeschickt ist, denn – sie haben uns ohne Frage, seit wir nach unserer „Errettung“ durch Pinzke dessen Wohnung verließen, nicht mehr aus den Augen verloren, haben uns als „Ehepaar Meier“ erkannt, haben uns dann auf dem Boden von Nr. 24 überwältigen und – mit dem Fleischerwagen dorthin schaffen wollen, wo wir jetzt meines Erachtens die ganzen Mönchsbrüder versammelt vorfinden werden, um uns zu – richten! Man wartet dort auf uns; auch Pinzke und Hobrecht. Dieser hat natürlich nie daran gedacht, Berlin zu verlassen. Nur seine Wohnung hat er aufgegeben, um irgendwo unter anderm Namen eine neue zu mieten. Er ist ja überhaupt eine seltsame Persönlichkeit. Sie werden staunen! Wenn Sie die Wechsel sich genau angesehen hätten, Schraut, würden Sie darauf einen Namen – Doch nein, ich will noch nicht zu viel verraten. – Ah – da sind wir schon!“
Wir gingen nun zu Fuß auf weiten Umwegen nach der Laubenkolonie Volksfreude, so daß wir sie von der offenen Jungfernheide aus betraten.
Es regnete wieder leicht. Hin und wieder tauchte die Mondsichel hinter jagenden Wolkenfetzen auf. Ein frischer Wind schüttelte die Obstbäume der kleinen Gärten, deren Zäunen wir überstiegen, um nicht einen der Wege benutzen zu müssen. – Harst war stets mehrere Schritte voraus. Dann winkte er mir zu. Ich kroch auf allen Vieren neben ihn.
„Dort steht Pinzkes Häuschen,“ flüsterte er. „Sie sollen nun auch erfahren, weshalb es mir damals sofort auffiel, als wir nur daran vorübergingen. Auf dem Wege sah ich Räderspuren eines Wagens – mehrere Spuren, ältere, neuere. Und alle reichten nur bis vor Pinzkes Gartenpforte. Dort hatte der Wagen stets gewendet. – Dann noch seine Laube. Es ist ein richtiges Sommerhaus, viel zu elegant für einen einzelnen Schuhmacher, einen Junggesellen. Es hat Läden, und es hat auch ein hohes, gemauertes Fundament. Mithin muß es Kellerräume besitzen. Aber – jedes Kellerfenster fehlt! – Das alles machte mich stutzig. Ich wußte ja: ein Wagen sollte damals vor Nr. 24 gewartet haben, als der Regierungsrat bei Pinzke war. – Jedenfalls eignet sich ja auch so ein Häuschen in einer Laubenkolonie tadellos zum Verbrecherschlupfwinkel. Wir werden nun gleich sehen, ob ich richtig vermutet habe. Haben wir uns die Gewißheit verschafft, daß die Bande dort versammelt ist, so warten wir auf Bechert und seine Leute und heben das Nest aus. Zunächst aber müssen wir uns noch nach der Wache umschaun, die die Mönchsbrüder fraglos ausgestellt haben. Jetzt also ganz lautlos. Sie steht sicher auf dem Wege nach der Stadt zu.“
Harst dachte eben stets an alles! – Und – wir fanden den Mann. Er lag lang auf dem Bauche, dicht an einen Zaun geklemmt. Harst bekam ihn von hinten zu packen. Das Ringen war kurz. Wir fesselten und knebelten ihn und banden ihn an den Zaun fest.
Ich schreibe dieses Kapitel ungern nieder. Man frischt nicht gern Erinnerungen auf, die so entsetzlich sind wie diese. –
Wir näherten uns dem Häuschen von hinten. Harst horchte an den geschlossenen Läden. Nichts – kein Laut! Wir krochen nach vorn auf die Tür zu. Zwei Stufen führten nach oben. Vor den Stufen gab’s ein Viereck von Fliesen. Alles sah so sauber und nett aus.
Harst kniete auf der unteren Stufe; ich dicht hinter ihm.
„Hören Sie?“ raunte er mir zu.
„Ja – etwas wie Stimmengemurmel –“
Er stützte sich mit den Händen auf die obere Stufe, brachte den Kopf dicht an die Tür.
Da – nie werde ich diesen Augenblick vergessen! – da löste der Druck auf die obere Stufe den Riegel einer teuflischen Einrichtung aus.
Das Fliesenviereck samt den Stufen klappte urplötzlich nach unten und wir stürzten hinab – über drei Meter, hinein in einen finsteren, gemauerten Raum, während die fein erdachte Falltür oben sich wieder von selbst schloß.
Wir lagen noch übereinander, und zwar ich auf Harsts Brust, – da wurde eine Tür aufgerissen.
Blendende Helle drang zu uns herein. Fünf Kerle sprangen zu. Ich wurde gepackt, gebunden. Auch Harst riß man hoch. Aber – er mußte sich schwer bei dem Sturz verletzt haben. Er war ohnmächtig und das Triumphgelächter der hier versammelten Bande galt wohl hauptsächlich dem Umstand, daß Harst nun wie ein schwerer Sack in den Nebenraum geschleppt und dort auf den Boden geworfen wurde.
Dieser Raum war quadratisch, enthielt nur einen langen Tisch und eine Menge Stühle, außerdem einen Schrank. Oben an der Decke zeichnete sich eine Falltür ab. Zigarrenrauch schwamm in der Luft; auf dem Tische standen Weinflaschen, Gläser, Likörflaschen, Sardinenbüchsen, Teller und anderes.
Acht Leute zählte ich. Hobrecht befand sich wirklich darunter. Aber Pinzke fehlte.
Und Hobrecht versetzte dem regungslos mit geschlossenen Augen daliegenden Harst jetzt einen Fußtritt, rief:
„Wach’ auf, Schnüffler! Wach’ auf! Wir wollen Dir eine kleine Freude bereiten, Du genialer Detektiv! – Schade, daß ein paar von uns Dir nun in Nummer 24 umsonst aufgelauert haben. Sie hätten sicher gern Eurer Hinrichtung beigewohnt! – Der Schuft scheint bei dem Fall wirklich ordentlich was wegbekommen zu haben. – Bindet ihm die Beine zusammen. Das genügt. Nehmt den Halunken auch die Pistolen ab. Sie haben ja sicher welche bei sich –“
Daß wir in der inneren Westentasche jeder noch eine zweite bei uns führten, entging den Verbrechern.
Man flößte Harst dann Kognak ein. Er stöhnte leise, regte sich aber nicht, blieb wie tot.
Hobrecht war wütend. „Verdammt! Gerade er!“ schimpfte er. „Er sollte als erster heran! Hoffentlich kommt er noch zu sich! – Wir dürfen uns nicht lange aufhalten, Brüder,“ wandte er sich an die Kerle, die zum Teil elegant gekleidet waren – also so eine Art Gentleman-Verbrecher. „Fangen wir mit seinem Sekretär an. – Setz’ Dich aufrecht, Du Gehilfe des Oberschnüfflers! Wird’s bald!“
Ich bekam einen Tritt in die Seite, gehorchte.
Meine Gedanken waren bei Kommissar Bechert. Wenn er nur noch zur rechten Zeit erschien. Aber – wie sollte er uns hier finden?! Wir wollten ihn ja durch einen Schuß zu Hilfe rufen! – Meine Hoffnung sank auf den Nullpunkt.
Hinrichtung! Und diese Männer hier, von denen kein Erbarmen zu erwarten war! –
Hobrecht stand vor mir und grinste mich höhnisch an.
„Du – nicht wahr, Dein superkluger Herr hat wohl gemerkt, daß der Hugo Weigelt, der Verräter, gar nicht in jenem Zimmer ermordet ist und daß wir dort nur für die „Greifer“ die feine Sache aufgebaut hatten? – Stimmt’s?“
Ich nickte. – Es war ja doch alles verloren! Nur ein Wunder konnte uns retten.
„Aha – also er hat’s gemerkt! Aber was er wohl kaum herausgefunden hat, ist, daß der Hugo Weigelt Nummer drei ist, den wir hier in diesem Raume abgeurteilt haben. Wie? – Das wirst Du sofort sehen. – Noch eins, bevor Dein letztes Stündlein geschlagen hat: wie ist Harst auf die Vermutung gekommen, daß er uns hier in Pinzkes Häuschen finden würde? Hat er nur nach Pinzke gesucht – nach eurem Retter?! Schade um die 100 000 Mark! Wir hätten sie erst gern in den Fingern gehabt. Dann hättet Ihr doch dran glauben müssen. Mit einem der Klosterbande sich einzulassen, ist nicht ratsam! – Sprich’, Halunke!“
Abermals ein Fußtritt.
Und ich sprach. Ich sagte so ziemlich alles, was Harst mir über seine Kombinationen mitgeteilt hatte. Nur das Geheimfach im Schreibtisch vergaß ich zu erwähnen.
„Wirklich – es war Zeit, daß wir diesen Menschen beseitigten,“ meinte Hobrecht dann mit einer gewissen Hochachtung. „Er hätte früher oder später doch Jagd auf uns gemacht. – Ja, Du Lump, – nur deshalb schickten wir Pinzke zu Euch, damit wir Gelegenheit fanden, Euch in eine Falle zu locken! Nun weißt Du’s. – So – und nun, Brüder, – Platz für die Hinrichtung! Weg mit dem Schrank!“
Ein paar Kerle schoben ihn von der Wand ab. Diese, eine getünchte Mauer, zeigte in etwa ein Meter Höhe vom Boden ein Brett mit einem langen Einschnitt in der Mitte.
„Da – schau’ Dir nur das Brett gut an!“ höhnte Hobrecht. „Siehst Du hier im Boden dieses Loch? – Da kommt ein Pfahl hinein. An den wirst Du festgebunden, kniend, und der Kopf wird Dir gleichfalls angeschnallt! Und wenn wir dann den Pfahl stark nach unten drücken, dann – Aber nein – Du sollst die Vorrichtung selbst erst begutachten! – Her mit dem Pfahl!“
Man reichte ihm ein gerades, über und über blutbeflecktes Stammstück einer Birke.
Er nahm’s, stieß es in das Loch in den Dielen hinab, rammte es nun hart auf.
Und in demselben Augenblick schnellte aus dem Einschnitt des Brettes eine schmale, leichtgekrümmte Klinge im Bogen heraus, glitt dicht an dem Pfahl vorbei und fuhr wieder in die Öffnung zurück.
Jeder Blutstropfen war mir aus dem Gesicht gewichen. Haltlos sank ich um.
Brüllendes Gelächter. Und Hobrecht rief: „Aha – er hat Nerven!“ Dann beugte er sich über Harst: „Verflucht – die Augen sind jetzt ganz verdreht. Und er keucht, als ob –“
Er griff nach der Kognakflasche, goß Harst den Alkohol zwischen die Zähne.
Dann winkte er den anderen. „Bindet den Herrn Sekretär nun an den Pfahl. Wir müssen vor Tagesanbruch fertig sein und die Leichen unten verscharrt haben, wo sie dem Weigelt Gesellschaft leisten können –“
Ich war bereits halbtot, als sie mich hochzerrten und an den Pfahl fesselten, mir einen Riemen um die Stirn schlangen und den Pfahl nun aufrecht stellten, dicht neben das Loch. Zwei Kerle hielten den Pfahl. Aller Augen waren auf mich, den Delinquenten, gerichtet. Hobrecht stand grinsend daneben, sagte nun:
„Ihr wißt Bescheid. Ich zähle bis drei. Auf drei stoßt Ihr den Pfahl ins Loch und – die Klinge hat wieder mal ihre Schuldigkeit getan! – Also Achtung: Eins –“
Und da – da geschah das Wunder! Harst, der wieder nur die Ohnmacht simuliert, der die Hände frei, der die Mauser in der Westentasche hatte – Harst vollbrachte das Wunder.
Urplötzlich dicht hinter mir ein Schuß – noch einer.
Die beiden Kerle ließen den Pfahl los, sanken nach vorn über – Kopftreffer.
Und wieder ging’s: peng – peng.
Geheul – Wutgebrüll.
Die Lampe an der Decke zersplitterte. Hobrecht hatte mit einem Stuhl nach ihr geworfen.
Dunkelheit. Einen Moment Stille.
Und dann im Nebenraum mehrere dumpfe Geräusche. Bechert und vier Beamte waren durch die Falltür wider ihren Willen hinabgestürzt, rissen aber sofort die Verbindungstür auf.
Lampen blitzten.
„Hände hoch! Kriminalpolizei!“ – Wieder Schüsse, Handgemenge. –
Die Klosterbande war erledigt. Fünf lagen tot da, zwei waren schwer verwundet.
Aber Hobrecht fehlte!
Harst hatte mich schnell losgeschnitten, drückte mir die Hand: „Armer Schraut! Das waren böse Minuten für Sie. Doch – ich mußte ja mit dem Überfall warten, bis niemand auf mich aufpaßte. – Hier, trinken Sie! Der Kognak ist gut!“ –
Als Bechert hörte, daß gerade der Anführer entronnen sei, ließ er den Keller sofort genau durchsuchen. Man fand jedoch nur eine verborgene Tür und einen mit Brettern abgestützten, unterirdischen Gang, der in einer entfernten Laube mündete.
„Hobrecht dürfte kaum so leicht zu erwischen sein!“ brummte der Kommissar enttäuscht. „Gerade dieser Kerl ist –“
„Ich werde ihn in einer Stunde haben,“ unterbrach Harst seinen alten Bekannten. „Kommen Sie, Bechert, nehmen Sie drei Beamte noch mit – für alle Fälle!“
Wir eilten durch den bereits heraufdämmernden Morgen der Stadt zu. Wir trafen ein Auto, stiegen ein. Harst hatte dem Chauffeur leise etwas zugeflüstert.
Während der Fahrt klärte er dann Bechert über die Vorgänge dieser Nacht auf, fügte zum Schluß hinzu:
„Das Haus Mönchengasse 24 gehört einem Rentier Robert Schmidt, der in Berlin W., Augsburger Straße 7 wohnt, und der ebenfalls als Halsabschneider einen üblen Ruf hat. Zu dem wird Hobrecht geflüchtet sein –“
„Na – na!“ meinte Bechert. „Das möchte ich bezweifeln.“
Harst blieb stumm. –
Das Auto hielt vor Augsburger Straße 20. Wir sechs gingen zu Fuß weiter, teilten uns dann. Ein Schließer öffnete uns Nr. 7, und die drei Kriminalschutzleute besetzten die Ausgänge ganz unauffällig.
Harst läutete bei Robert Schmidt, 2. Etage rechts, an. Nach einer Weile kam dessen Wirtschafterin. Schmidt sei nicht zu Hause, der alte Umtreiber, schimpfte sie. Wir sollten uns davonscheren.
Wir drangen ein. Die Wirtin wurde in ihr Zimmer eingeschlossen.
Wir standen nun im Flur der Wohnung und warteten. Harst war seiner Sache ganz sicher.
Dann kam jemand die Treppe hoch. Schlüssel klirrten. Die Flurtür ging auf, und – Harst und Bechert packten den Eintretenden, während ich die Flurampel einschaltete.
Schmidt hatte einen graumelierten, dicken Schnurrbart und trug Brille.
„Was fällt Ihnen ein,“ schnauzte er sofort los.
Da sagte Harst kalt:
„Ihre Rolle ist ausgespielt! Ihre dreifache Rolle als Schmidt, Hobrecht und Pinzke!“
Er riß ihm den Schnurrbart ab. Der war nur sehr geschickt angeklebt.
Und jetzt – war es Pinzkes glattrasiertes, faltiges Gesicht.
„Daß Hobrecht und Pinzke ein und dieselbe Person sein mußten, verriet mir Hobrecht, als er sein Bett zerwühlte, damit es benutzt aussah,“ erklärte Harst gelassen. „Auch andere Kleinigkeiten deuteten darauf hin. So fehlte Pinzke heute bei – unserer Hinrichtung! Und daß Robert Schmidt, der wegen Betrügereien aus dem Dienst entlassene und mit Gefängnis bestrafte Amtsrichter, der jetzige Besitzer von Mönchengasse 24, gleichzeitig auch wieder je nach Bedarf Hobrecht und Pinzke darstellte, bewiesen mir die Wechsel in Hobrechts Schreibtisch, die zur Hälfte auf Schmidt als den Geldgeber ausgestellt waren, ferner auch die beiden Geheimtüren im Kamin von Nr. 24, die ohne Wissen und Willen des Hauseigentümers kaum hätten angelegt sein können. – So – wir sind nun quitt, Herr Pinzke! Sie haben mich in eine Falle locken und beseitigen wollen, – es ist etwas anders gekommen!“ –
Ich halte diese Leistung für Harsts allerbeste. Der Leser mag selbst urteilen, ob sich meines Herrn und Lehrers Kombinationstalent, Geistesgegenwart und Schlauheit hier nicht aufs glänzendste bewährt haben.
Anmerkungen: