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Die Wachspuppe des Trödlers

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 139:

 

Die Wachspuppe des Trödlers.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Mawesa, der Trödler.

Als wir damals an jenem glutheißen Vormittag durch die Basarstraßen von Haidarabad, Residenz des Fürsten des gleichnamigen indischen Vasallenstaates, wanderten, ahnten wir beide nicht, daß dieser Spaziergang für uns unabsehbare Folgen haben würde.

Eine Depesche eines der hiesigen Großkaufleute, der den poetischen Namen Ali Akba Mansur-Chatta führte, hatte uns hierher gerufen. Wir waren spät abends mit dem Zuge von Madras eingetroffen, hatten im Hotel d’Angleterre gut geschlafen und wollten uns jetzt den interessantesten Teil von Haidarabad, die Basare, ansehen, bevor wir Mansur-Chatta unsere Aufwartung machten.

Harald Harst bog jetzt in ein ganz schmales Gäßchen ein. Er befindet sich ja zumeist auf der Jagd nach Raritäten, und diese trifft man gewöhnlich nur in kleineren Läden an, falls man sich eben nicht einen tadellos imitierten Gegenstand „made in Germany“ anschmieren lassen will.

Die Düfte in diesem Gäßchen waren alles andere als verlockend. Offenbar lag irgendwo in der Nähe eine Gerberei …

Selbst Harst meinte jetzt, indem er rasch eine Mirakulum anzündete:

„Donnerwetter – stinkt das hier!“

Ich lachte …

„Kehren wir um … Es stinkt fürchterlich …!“

Wir wollten umkehren …

Wollten …

Da sagte Harst in gänzlich verändertem Tone:

„Sieh nur, mein Alter … Da lehnt neben der Ladentür eines Trödlers eine Wachspuppe im Kostüm einer Pierrette[1] …! Das ist eigentlich ulkig …! Das Ding stammt doch sicher aus einem europäischen Wachsfigurenkabinett …“

Und er stelzte eiligst weiter …

Ich hinterdrein …

Wir standen nun vor der Puppe, deren Wachskopf überraschend hübsch wirkte und tadellos ausgeführt war. Das rosige Mädchengesicht in der weißen Halskrause und mit der weißen Perücke hatte etwas Unheimlich-Lebenswahres an sich.

Harald, die Zigarette im Mundwinkel, schaute sich nun auch die übrigen Dinge an, die der vorläufig unsichtbare Trödler auf langen Bänken ausgestellt hatte.

Da gab es uralte silberne Teller und Krüge, Steinwaffen, goldgewirkte Stoffe, Elfenbeinkästen, reich geschnitzte Truhen … Dicht dabei Körbe mit frischen Früchten, einen Käfig mit drei Brillenschlangen, einen andern mit einem zahmen Ichneumonpärchen …

Der richtige Trödelkram …

Eine der vergoldeten roten Tonvasen erregte Harsts Interesse. Er nahm sie von dem Gestell herab und betrachtete sie …

„Echt, mein Alter … Und mindestens fünfhundert Jahre gebe ich ihr … Hier siehst Du mitten in allerlei Blüten den Gott Buddha schweben …“

Vielleicht hätte er noch mehr über die Vase zu sagen gehabt, wenn nicht eine rauhe Stimme dazwischengefahren wäre …

„Sahib, tala bansi, ne tochtani …!“

Das hieß: Herr, alles anschaun, nichts berühren!

In der Tür, über der ein schadhaftes Sonnensegel hing, war ein graubärtiger Inder mit mächtiger Hakennase erschienen.

„Was kostet die Vase?“ fragte Harald auf englisch …

Der Trödler musterte uns …

Er überlegte, ob wir Touristen seien, die man übers Ohr hauen könnte.

Harald ahnte das und meinte:

„Ich zahle zwei Pfund (vierzig Mark) …“

Der Alte lächelte verächtlich …

„Du hast Dich versprochen, Sahib … Vierzig Pfund … Dann nimm sie mit …“

Harst hatte die Vase, die unten sehr dickbauchig war und deren schlanker Hals oben einen breiten vergoldeten Ring trug, nochmals genau geprüft.

Zu meinem Erstaunen erklärte er nun, er würde zehn Pfund zahlen – mehr auf keinen Fall.

Der Trödler schüttelte den Kopf und griff nach der Vase …

„Sie ist in Golkonda von mir persönlich ausgegraben worden, Sahib,“ meinte er gereizt. „Ich kenne ihren Wert …“

Und mit einer Rücksichtslosigkeit, wie man sie sonst bei indischen Kaufleuten kaum findet, riß er sie Harst aus den Händen. –

Einer jener Zufälle, die jeden denkenden Menschen immer von neuem an das Walten einer besonderen Vorsehung gemahnen, führte in diesem Augenblick einen reichgekleideten Inder vorüber, dem zwei eingeborene Diener folgten.

Der Inder grüßte den Trödler …

„Dein Tag verlaufe Dir gut, Mawesa,“ lautete sein Zuruf …

Und der Trödler Mawesa entgegnete mit einem Blick, der mir geradezu unbegreiflich war:

„Der Deine desgleichen, Mansur-Chatta …!“

Harst und ich stutzten …

Mansur-Chatta?! – Also unser Mann – der Absender der kurzen und doch inhaltreichen Depesche …

Schon wollte ich den reichen Kaufmann ansprechen, als Harst ihm den Rücken zukehrte und sehr laut sagte:

„Fünfzehn Pfund, Mawesa …! – Packe die Vase ein …“

Mansur-Chatta war weitergegangen, hatte Harsts Worte aber doch noch gehört, wandte sich halb um und rief:

„Verzeihen Sie meine Einmischung … Aber die Vase ist das Doppelte wert …!“

Ich selbst, Max Schraut, beobachtete nur Mawesas, des Trödlers, hageres bärtiges Gesicht … Der Ausdruck in den Augen Mawesas, als er des Kaufmanns Gruß erwiderte, war so merkwürdig gewesen, daß ich hier sofort Beziehungen argwöhnte, die ganz anderer Art sein mußten, als die Begrüßung zwischen den beiden Indern vermuten ließ.

Mansur-Chatta schritt davon …

Mawesa blickte ihm nach …

Hohn, Haß, Feindseligkeit, Tücke, all das strahlte in den Augen des Trödlers abermals auf …

Harald sagte schon: „Gut – dreißig Pfund …! – Hier ist das Geld …“

Mawesas faltiges braunes Gesicht zuckte wie im Krampf …

Noch immer starrte er hinter Mansur-Chatta her …

„Fünfzig Pfund, Sahib … fünfzig!“ kreischte er dann … „Jetzt fünfzig …!“ Und ein diabolisches Lachen kollerte über seine Lippen …

Harst blieb ruhig.

„Du hast vierzig gefordert … Du kannst jetzt nicht aus … irgendwelchen Gründen den Preis willkürlich erhöhen … Hier sind vierzig Pfund …“

Der Trödler warf ihm einen Blick zu, der noch frecher war als vorhin dieses Ansichreißen der Vase …

„Ich habe mich geirrt, Sahib … Ich meinte fünfzig Pfund …“ rief er keuchend. „Fünfzig Pfund habe ich stets gefordert …“

„Jetzt forderst Du sie nur, Mawesa, weil Du Mansur-Chatta haßt und weil Du ergrimmt bist, daß er für Dich eintrat …“ Haralds Stimme war kühl und ohne Groll. „Dein Haß gegen ihn ist größer als Deine Vernunft. Zwar verbirgst Du diesen Haß vor Mansur-Chatta, aber vor uns ging Deine Leidenschaft mit Dir durch … – Behalte Deine Vase …“

Der Trödler hatte Harst verblüfft angeschaut. Er sah, daß hier jemand seine geheimsten Gedanken erraten hatte. Seine Schultern sanken herab. Die ganze hagere Gestalt bekam etwas Hilfloses … Ein fast blödes Lächeln spielte um seinen Mund …

„Sahib … Sahib, Du … Du scherzest … Mansur und ich sind Hindu und gehören derselben Kaste an … Wir sind Freunde. Jeder weiß das hier …“

Er log. Er suchte den Eindruck zu verwischen, als ob er den reichen Kaufmann mit häßlichen geheimen Gedanken umgab …

„Mag sein,“ sagte Harald. „Mansur wohnt hier in der Nähe?“

„Es ist so, Sahib,“ beeilte sich der Trödler zu erwidern. „Dort am Ende der Gasse siehst Du eine Gartenmauer, Sahib … Dahinter liegt Mansurs Haus … Seinen Laden hat er in der breiten Basarstraße …“

Und nach kurzer Pause:

„Da – nimm die Vase, Sahib … zahle dreißig Pfund … Nimm sie … Ich bitte Dich …“

Inzwischen hatte sich um uns und den Trödler eine ganze Schar jener halbnackten indischen Rangen versammelt, die in nichts von der Straßenjugend anderer Erdteile sich unterscheiden. Sie lärmten und johlten und bettelten uns um kleine Münzen an. Aber auch anderes taten sie, was uns bewies, daß Mawesa hier durchaus nicht beliebt war. Einige der hoffnungsvollen Bengel machten dem Alten – genau wie bei uns daheim – lange Nasen und ahmten seine Handbewegungen und seine vorgestreckte Kopfhaltung nach.

Der Trödler geriet plötzlich in Wut, als ihm nun einer der braunen Knirpse sogar ein Stück Ananasschale an den Kopf warf.

Mit einem schrillen Schrei packte er ein neben der Tür lehnendes langes Bambusrohr und lief hinter der flüchtenden Schar drein.

Wir sahen jetzt: Mawesa hinkte stark!

Aber ich sah noch mehr …

Harald war rasch auf die Wachspuppe zugetreten und kratzte mit dem Nagel des Zeigefingers die Oberschicht des Wachses von dem nackten linken Unterarm ab …

Ich wunderte mich …

Und fand doch keine Zeit, eine Frage an den Freund zu richten …

Denn etwas anderes geschah …

Der Trödler war über den langen Stecken gestolpert … Die Vase hatte er noch im linken Arm gehabt … Er schlug lang hin auf das elende Steinpflaster und … blieb liegen …

Die Buddhavase ging in tausend Scherben.

Wir liefen hinzu, ihm wieder aufzuhelfen. Er mußte sich ernstlich verletzt haben, da er sich gar nicht rührte …

Die Kinder hatten inzwischen die Mauer des Gartens Mansur-Chattas erklettert und saßen auf der Mauerkrone aufgereiht wie freche Spatzen …

Zwischen den Scherben der Vase aber blitzte und blinkte es …

Harst hatte sich blitzschnell gebückt …

Schob etwas in die Tasche …

Dann schauten wir uns Mawesa an. Seine Stirn blutete. Er war bewußtlos. Wir trugen ihn in seinen Laden. Obwohl in den Türen der anderen Häuschen der Gasse jetzt überall Leute erschienen waren, hatte auch nicht ein einziger Miene gemacht, dem Trödler beizuspringen.

Wir beide legten den Bewußtlosen auf eines jener niederen Rohrsofas, wie sie im Orient gleichzeitig als Betten dienen.

Harst wollte nach Wasser und einem Tuche sich umsehen, um die Stirnwunde zu säubern …

Er verschwand hinter einem Vorhang … Diese Tür ging offenbar in die anderen Räume des Häuschens.

Ich wartete und wartete …

Harald kehrte nicht zurück …

Ich wurde unruhig …

Endlich erschien er mit einer Schüssel Wasser und einem sauberen Handtuch …

„Wo warst Du?“ platzte ich heraus.

Ein merkwürdiger Blick traf mich …

Dann öffnete er dem Trödler den schmierigen Kittel auf der Brust, holte ein Fläschchen aus der Tasche hervor, nahm sein eigenes bastseidenes Taschentuch, feuchtete es mit dem Inhalt des Fläschchens an und rieb eine Stelle der Haut an den linken Rippen so lange, bis … das Braun der Haut heller und heller wurde.

Ich stand dabei und werde wahrscheinlich den Mund vor Staunen weit offen gehabt haben …

Mawesa – – war kein Inder!

Mawesa war ein alter gefärbter Europäer …!!

 

2. Kapitel.

Das Kind mit dem Käfer-Mal.

Harald zog wortlos den Kittel über der Brust des Trödlers wieder zusammen, steckte sein beschmutztes Taschentuch ein und legte vielsagend den Zeigefinger auf die Lippen …

Zum Glück …

Denn jetzt nahm ich etwas wahr, das dieses Erlebnis noch[2] bedeutsamer machte: hinter dem Vorhang der Türöffnung stand ein Mensch und horchte …! Ich sah unten ein paar dickbesohlte Schuhe, wie die Chinesen sie zu tragen pflegen … Der Vorhang bewegte sich ganz wenig.

Da rief Harald schon:

„Hallo, Tsundsi, – – hallo …!“

Die Schuhe verschwanden …

Eine fette Stimme antwortete aus einiger Entfernung:

„Tsundsi schon kommen, Mister … Tsundsi da sein …“

Und jetzt trat Herr Tsundsi hinter dem dicken Vorhang hervor …

Das heißt: er trat nicht! Nein, er wälzte seine fast drei Zentner Fettmasse keuchend und pustend vorwärts …! –

Es gibt unter den Chinesen ja manchen Fettwanst. Dieser hier war eine Klasse für sich …! Selbst auf deutschen Jahrmärkten dürfte man derartiges nie zu sehen bekommen …!

Herr Tsundsi markierte jetzt einen ungeheuren Schreck beim Anblick des ohnmächtigen, blutigen Trödlers, bei dem er, wie ich dann erfuhr, Koch, Hausdiener und Verkäufer – alles in einer Person – war.

Herr Tsundsi wurde jedoch bei diesem kläglichen Versuch, rührende Teilnahme für den Unfall seines Herrn zu heucheln, durch Harald gestört, der ihn barsch anfuhr:

„Du hast gelauscht … Du standest hinter dem Vorhang … Der Vorhang hat ein Loch. Du sahst, daß ich …“

Herr Tsundsi röchelte dazwischen.

„Mister, – Vorhang keine Loch … Tsundsi ohne Brille blind …“ – Und er zog aus seiner Leinenjacke, in der fünf normale Oberkörper Platz gehabt hätten, eine moderne Hornbrille hervor und setzte sie auf die Stupsnase …

„Hm …!“ meinte Harald bedächtig, „wenn Du ohne Deine Brille so blind bist, weshalb hast Du dann soeben so getan, als ob Deines Herrn Anblick Dich so ungeheuer entsetzt?!“

Herr Tsundsi lächelte schwach …

„Mister mir erzählten, was mit Mawesa geschehen … Für treuen Diener Pflicht sein zu erschrecken …“

„Ah so! – Zeig’ mal Deine Brille her …“

Tsundsi gehorchte …

„Die Gläser sind allerdings sehr scharf,“ meinte Harald …

Und trat hinter den Vorhang, suchte dort nach einem Guckloch, kehrte beruhigt zurück und meinte:

„Mawesa wird sehr bald wieder zu sich kommen … Kühle ihm nur die verletzte Stirn und sorge dafür, daß er sich ein paar Tage schont …“

Herr Tsundsi katzbuckelte, soweit ihm dies bei seiner Dicke möglich war …

„Mister, wollen mir vielleicht sagen, wo Mawesa sich bedanken können, wenn wieder gesund sein …“

„Wir sind … Amerikaner und reisen heute noch ab … Dein Herr braucht sich also nicht zu bemühen … – Hier – übergib ihm diese dreißig Pfund … Es ist der Preis für die Buddhavase … – Leb’ wohl, Tsundsi …“

Wir verließen den Laden …

Und sahen, daß sich in der Gasse jetzt bei den Scherben der Vase die ganze Nachbarschaft versammelt hatte … Man redete da laut und eifrig, verstummte aber bei unserem Erscheinen …

Harst winkte einen kleinen älteren Inder heran, der noch das Zeichen seines Handwerks, den Schusterhammer, in der Hand hielt …

„Ist Mawesas Chinese kurzsichtig?“ fragte er den Hindu, der die Brahmanenschnur um den Hals trug, also der vornehmsten Kaste angehörte.

„Wir kennen weder Mawesa noch seinen Diener,“ erklärte der Inder verächtlich.

„Seit wann wohnt Mawesa in dieser Gasse?“

„Zehn Jahre vielleicht, Sahib …“

„Und weshalb … verachtet Ihr ihn?“

„Weil er die Vorschriften unserer Religion nicht einhält, Sahib … Weil er auch mit niemandem verkehrt … Er lebt ganz allein mit dem Chinesen … Er ist ein Barandi …“

Dieser Ausdruck war selbst Harald neu …

„Barandi? Das bedeutet?“

Der kleine Schuhmacher wurde etwas verlegen …

„Sahib, wir nennen solche Leute Barandi, die es heimlich mit den Mohammedanern halten …“

„Also – ein Abtrünniger?“

Der Schuster schwieg und blickte zur Seite. Er war vorsichtig. Im Staate Haidarabad gibt es zwar unter den elf Millionen Einwohnern nur anderthalb Millionen Mohammedaner. Aber der Fürst, der Nizam, und die höchsten Beamten, sind sämtlich Anhänger der Lehre des Propheten. Und deshalb mochte der kleine brahmanische Schuhkünstler hier nicht so offen über die Barandi sprechen.

Harald dankte ihm nun für die Auskunft und schritt mit mir davon.

Wir kamen in die breiteren Gassen des Basarviertels.

Hier herrschte ein anderes Leben und Treiben als dort in dem stinkenden Gäßchen Mawesas. Hier fluteten zwei Menschenströme aneinander vorüber, hier gaben sich alle die Volksstämme Indiens, all die verschiedenen Vertreter der Nachbarländer und zahlreiche Touristen ein Stelldichein …

Hier lag auch Mansur-Chattas Geschäftshaus – mit drei Fenstern nach der Straße hin, in denen vom einfachsten Stoff bis zum kostbaren Kaschmirschal alle Gewebe ausgelegt waren. –

Mansur-Chatta wurde erst aus den Lagerräumen herbeigeholt, als wir ihn zu sprechen wünschten.

Ich habe bisher absichtlich sein Äußeres nicht näher beschrieben. Es gibt unter den Indern viele mit sehr heller Hautfarbe und mit völlig europäischem Gesichtsschnitt.

Mansur hätte jeder bei flüchtigem Blick für einen Spanier oder Italiener gehalten. Sein grauer Bart war spitz geschnitten, sein Turban klein und unauffällig. Lediglich seine indische Tracht verriet seine Herkunft.

Als er uns nun, ohne aus Höflichkeit nach unseren Namen zu fragen, in sein Privatkontor geführt hatte, als wir hier in dem ganz modern eingerichteten Raume allein waren, reichte Harald dem indischen Großkaufmann die Depesche, die beste Legitimation unserer Persönlichkeiten.

Das Telegramm lautete:

Harald Harst, Madras,

Excelsior-Hotel.

Ich bitte Sie, für mich in dringender Angelegenheit unauffällig tätig zu sein und weise Ihnen gleichzeitig fünfhundert Pfund an.

Mansur-Chatta,
Haidarabad,
Exportgeschäft.

Was dieser Depesche für uns ein besonderes Gewicht verliehen hatte, waren die fünfhundert Pfund und der Ausdruck „unauffällig“ … – Nur ein Mann, dem gleichsam das Feuer auf den Nägeln brennt, wird eine solche Summe so ohne weiteres hingeben. –

Mansur war durchaus nicht überrascht, Harst und Schraut vor sich zu sehen.

„Ich habe mir gedacht, daß Sie es seien, Mr. Harst,“ meinte er mit der Liebenswürdigkeit des gewandten Weltmannes.

„Wollen die Herren bitte Platz nehmen …“

Er läutete und bestellte bei dem eintretenden Diener eisgekühlte Getränke, was uns nur angenehm war, denn die mittlere Jahrestemperatur in Haidarabad beträgt fünfundzwanzig Grad. Heute schätzte ich die Wärme auf etwa zweiunddreißig Grad.

Wir saßen in ledergepolsterten Korbsesseln … Über uns drehte sich ein riesiger Ventilator …

„Ihr Anliegen, Mansur-Chatta?“ fragte Harald höflich.

„Ist sehr seltsamer Natur, Mr. Harst …“

„Was ich erwartet hatte …!“

„Ja – einer Nichtigkeit wegen hätte ich Sie kaum herbemüht …“ nickte der Kaufherr ernst. „Gestatten Sie, daß ich etwas weiter aushole, Mr. Harst … Ich heiratete mit dreißig Jahren eine Europäerin, eine Österreicherin … Sie war die Tochter eines Schiffskapitäns. Ich lernte sie in Madras kennen. Meine Ehe mit Anna Geldern war und ist noch heute die denkbar glücklichste. Leider aber verloren wir unsere beiden Kinder, zwei Töchter, vor zwölf Jahren … Dieser Schlag hat mich vorzeitig altern lassen. Ich bin heute erst fünfzig Jahre alt und sehe fast wie ein Greis aus …“

„Sie irren,“ warf Harald ein. „Ihre Augen sind jung … Der graue Bart konnte mich nicht täuschen …“

„Unsere Töchter waren damals sieben und acht Jahre alt, als sie uns kurz hintereinander durch ein Nervenfieber entrissen wurden … Weitere Kinder blieben uns versagt. Deshalb gingen meine Frau und ich – Anna ist übrigens zu meinem Glauben übergetreten – längst mit der Absicht um, ein Kind zu adoptieren. Vor zwei Wochen fanden nun meine Diener eines Morgens auf der Schwelle meines Wohnhauses einen reich verzierten Kasten, in dem ein Knabe von etwa zehn Monaten in seine Wäsche gehüllt lag. Außerdem war in dem Kasten ein Zettel, der folgende englische Sätze enthielt:

„Dieses Kind soll Mansur-Chatta gehören, wenn er verschweigt, daß das Kind bei ihm ist.“

Der Inhalt dieses Zettels setzte mich in Erstaunen. Denn …“

„Halt – haben Sie den Zettel noch?“ fragte Harald gespannt.

„Bitte …“

Ich rückte mit meinem Sessel näher zu Harst heran.

Wir besichtigten das Blatt Papier. Die lila Maschinenschrift war sehr fehlerhaft. Der Schreiber hatte oft daneben gehauen.

„Weiter …“ bat Harald …

„Meine Frau war überglücklich, Mr. Harst, denn der Knabe war ein kleiner reizender blonder Europäer … Als er zum erstenmal gebadet wurde, ereignete sich etwas sehr Beunruhigendes: meine Frau fiel plötzlich in Ohnmacht! – Ich war dabei, und als ich sie wieder zum Bewußtsein gebracht hatte, sagte sie mir unter Tränen, der unbekannte Knabe hätte genau dasselbe Muttermal zwischen den Schulterblättern auf dem Rücken wie sie selbst: ein Mal in Form eines Käfers mit sechs Beinen! – Und – es war Tatsache, Mr. Harst … Ich sah mir das Muttermal des Kindes an … Es stimmte: genau dasselbe braune Mal in Daumengliedgröße!“

Bisher hatte mich diese Kinderfund-Geschichte nicht allzu sehr interessiert. Jetzt aber spitzte ich doch die Ohren …

Mansur sprach weiter: „Wir haben das Kind behalten, Mr. Harst … Unsere Dienerschaft ist verschwiegen … Und doch können wir nicht recht froh über diese unerwartete Erfüllung unseres sehnlichsten Wunsches werden … Ich bitte Sie daher, feststellen zu wollen, woher das Kind stammt, wem es geraubt wurde, – denn ich kann ja nur annehmen, daß es gestohlen worden ist. Welch europäisches Elternpaar entäußert sich freiwillig eines so reizenden Knäbleins?! – Erst wenn Ihre Bemühungen, Mr. Harst, erfolglos geblieben sind, werde ich mit ruhigem Gewissen der Polizei den Sachverhalt melden und beantragen, daß man mir das Kind beläßt. Ich bemerke noch, daß in den hiesigen Zeitungen nichts von einer Kindesentführung gestanden hat. Ich habe mir auch aus Kalkutta Zeitungen schicken lassen …“

Harald nickte …

„Ich verstehe Sie, Mansur-Chatta … Wenn Sie der Polizei nachher beweisen können, daß ich erfolglos die Eltern des Knaben herauszufinden mich bemühte, kann ihnen niemand den Vorwurf machen, unrecht gehandelt zu haben … – Ich übernehme den Auftrag … Ich möchte sowohl Ihre Gattin als auch das Kind kennen lernen, möchte auch den Kasten und die Wäsche sehen, in die das Kind gehüllt war … – Wenn es Ihnen recht ist, begeben wir uns sofort nach Ihrem Wohnhause. Dieser Fall erregt mein Interesse. Wenn das Muttermal, das doch offenbar eine sehr merkwürdige Form hat, bei Ihrer Gattin und dem Knäblein das gleiche ist, dürften hier Zusammenhänge vorhanden sein, die … – Doch – davon später … Gehen wir, Mansur … Aber getrennt … Es braucht niemand zu wissen, daß ich für Sie tätig bin. Wir sind auch im Hotel d’Angleterre hier unter anderen Namen als Kaufleute abgestiegen. Der Hoteldirektor, der uns allerdings kennt, verrät uns nicht …“

 

3. Kapitel.

Der Mohammedaner-Friedhof.

Mansur-Chattas großer Garten – nein, ein Park …

Ein Märchen von Park … Eine Oase in diesen engen winkligen Gassen …

Mansurs enormen Reichtum bewies dieser Park. Auch seinen vornehmen Geschmack …

Und im Nordwinkel dieses grünen Wunders ein großer Marmorpavillon … Dort wohnte das unbekannte Knäblein mit seinen beiden indischen Wärterinnen tagsüber, damit das Geheimnis gehütet bliebe … –

Wir beide und das Ehepaar schritten dem Pavillon zu. Harst ging mit Frau Annas blonder Frauenschönheit voran.

Diese Österreicherin, die aus reiner Neigung den Inder geheiratet hatte, war noch heute eine reizvolle Erscheinung. Etwas unsagbar Liebliches lag auf diesem Frauenantlitz. Die Augen blickten ein wenig melancholisch, waren aber desto berückender … –

Eine breite Marmortreppe führte zur Terrasse des sogenannten Pavillons empor … Sogenannten: es war mehr ein reizender winziger Palast!

Frau Anna und Harald verschwanden schon hinter der hohen Glastür, als Mansur und ich erst die untersten Treppenstufen erreicht hatten …

Und dann – – dort oben ein Schrei …

Ein Schrei des Entsetzens – der Angst …

Wir stürmen die Treppe empor …

Frau Anna ruht bewußtlos in Harsts Armen …

Auf dem kostbaren Bastteppich der Vorhalle aber liegen zwei Inderinnen – scheinbar tot – zusammengekrümmt … Die beiden Wärterinnen!

Und daneben eine Kinderspielhürde, ein weißes Holzgitterviereck …

Spielzeug darin aller Art …

Aber – leer die Hürde …

Das unbekannte Kind ist geraubt worden.

Mansur-Chatta ist grau im Gesicht … Mit zitternden Händen nimmt er Harald die Bewußtlose ab, trägt sie in eins der drei Gemächer des kühlen Steinpavillons …

Wir sind allein. Harald kniet neben einer der Wärterinnen …

„Betäubt,“ sagt er und deutet auf ein Tischchen, wo noch zwei halb geleerte Gläser stehen.

Limonade der Inhalt …

Harst schmeckt vorsichtig, nickt …

„Es stimmt schon …“ meint er. „Es mußte ja auch stimmen …“

Mansur kehrt zurück … „Sie ist schon wieder erwacht, Mr. Harst … – Sie hat das Kind wie ihr eigen Fleisch und Blut geliebt …“

„Trösten Sie sie, Mansur … – Sie wird das Kind zurückerhalten … – Und – schweigen Sie …! Die Wärterinnen werden ebenfalls wieder zu sich kommen … Sie werden aber kaum etwas aussagen können. Irgend jemand hat heimlich ein Betäubungsmittel in die Limonade getan … Irgend jemand … – Ich möchte Sie noch etwas fragen, Mansur, bevor ich diese Halle hier genau durchsuche …“

„Fragen Sie, Mr. Harst …“

„Hatte Ihre Gattin noch einen anderen Bewerber außer ihnen …“

„Nein …!“

„Das heißt: Sie wissen nichts davon … Ich möchte Ihre Gattin dann besser persönlich fragen – nachher … – Woher kennen Sie den Trödler Mawesa?“

„Eigentlich kenne ich ihn überhaupt nicht … Ich grüße ihn nur, weil ich jeden Tag das Gäßchen mehrmals passiere und weil er mir leidtut … Seine Nachbarn hassen ihn insgeheim …“

Diese Antwort überraschte selbst Harald …

„Haben Sie denn noch nie mit dem Trödler gesprochen, nie etwas mit ihm zu tun gehabt?“

„Nein – nie …!“

„Dann führen Sie uns bitte zu Ihrer Frau …“ –

Frau Anna Mansur saß aufrecht auf dem kostbaren Ruhebett … Sie starrte uns in hilfloser Verzweiflung entgegen, hob flehend die Hände und rief klagend:

„Mr. Harst, ich … ich muß das Kind wiederhaben …! Mein Leben ist zerbrochen, wenn der Knabe mir …“

Harald gab ihr schlicht die Hand …

„Beruhigen Sie sich,“ unterbrach er ihre erschütternden Worte … „Ich pflege niemals etwas zu versprechen, was ich nicht halten kann: der Knabe wird Ihnen zurückgegeben werden. Nur eines verlange ich: volle Offenheit! Hatten Sie außer Mansur noch einen anderen Bewerber?“

„Mehrere, Mr. Harst … Ein paar Seeleute, außerdem in meiner Heimatstadt Triest auch Herren aus anderen Berufszweigen. Wohlverstanden: keiner von ihnen hat mir je einen Antrag gemacht. Aber bemüht haben sich viele um mich …“

„Und war einer darunter, dem Sie sehr viel Leidenschaftlichkeit zutrauen, also ein Charakter, der durch Ihre Heirat zu heißer Eifersucht aufgestachelt worden sein könnte?“

Erst schüttelte Frau Anna im tiefen Nachsinnen verneinend den Kopf. Dann aber sagte sie zaudernd:

„Ja – einer meiner eifrigsten Verehrer in Triest war ein Arzt namens Geßner. Dieser Geßner hat einmal meinem Vater erklärt, er würde jeden töten, dem ich meine Hand zum Ehebunde reichen würde. Mein Vater drang damals sehr in mich, Geßner zu heiraten, denn der Arzt war reich und angesehen. Ich weigerte mich, da der Mann mir unsympathisch war …“

„Wie alt kann dieser Geßner jetzt sein …?“

„Vielleicht fünfundvierzig Jahre, Mr. Harst …“ –

In diesem Moment dachte ich an den Trödler Mawesa … Mawesa war Europäer, – ob er etwa Geßner sein konnte?

Inzwischen hatte Harald das halbe Verhör fortgesetzt …

„Frau Mansur, noch eine indiskretere Frage … – Wie stellte sich Ihr Vater zu Ihrer Heirat mit einem Inder?“

Sie senkte den Kopf, seufzte leise …

„Mein Vater hat … mich verstoßen … Ich war sein einziges Kind … Er hing mit großer Liebe an mir … Aber als ich ihm dann mitteilte, daß ich Mansurs Gattin werden wollte, kam es zu einer schrecklichen Szene zwischen uns in der Kapitänskajüte seines Dampfers. Ich … ich habe ihn nie mehr wiedergesehen … Er starb vor dreizehn Jahren in Triest … als armer Mann … Erst nach einem halben Jahr hörte ich ganz zufällig etwas von seinem Hinscheiden …“

Harst hatte sich an einen Tisch Frau Anna gegenüber gelehnt und die Arme leicht über der Brust verschränkt …

Sein von der Sonne Indiens tief gebräuntes Gesicht hatte jenen weltentrückten Ausdruck angenommen, der ihm stets eigen, wenn nur sein Leib sich gleichsam an Ort und Stelle befindet, sein Geist aber ferne, verschlungene Pfade wandelt …

Und aus diesem tiefsten Nachdenken heraus fragte er nach einer geraumen Weile mit seltsam monotoner Stimme:

„Sind Sie, Frau Anna, schon häufiger durch das Gäßchen gegangen, in dem der Trödler Mawesa wohnt?“

„Noch nie, Mr. Harst …“

„Haben Sie Mawesa schon einmal gesehen?“

„Nein …“

„Hatte Ihr Vater vielleicht einmal einen Chinesen auf seinem Schiff?“

„Nicht daß ich wüßte …“

„Dann – dann werde ich jetzt die Halle durchsuchen … – Mansur, Sie tragen wohl die Wärterinnen in eines der Zimmer hier … Und dann stören Sie uns bitte nicht. Schraut und ich arbeiten niemals in Zeugen Gegenwart. Wir haben unsere besonderen Methoden, die jeden Zuschauer nur zu überflüssigen Fragen verleiten würden …“ –

Zehn Minuten drauf war auch diese unsere Arbeit in der Vorhalle beendet. Wir hatten nichts entdeckt, das auch nur im geringsten auf die unbekannte Person hingewiesen hätte, die hier den Wärterinnen das Betäubungsmittel in die Limonade geschüttet hatte.

Harst rief Mansur herbei …

„Begleiten Sie uns bitte in den Park, Mansur … Ich möchte an der Parkmauer nach Spuren suchen …“

„Die Wärterinnen sind erwacht, Mr. Harst,“ beeilte der Inder sich mit der wichtigen Meldung. „Ich habe sie bereits ausgefragt … Es ist wirklich ein Fremder hier im Pavillon gewesen, ein Europäer … Er hat den beiden Mädchen erklärt, er sei von meiner Frau geschickt und sei Polizeibeamter, der sich den Knaben ansehen wolle. Der Fremde war blondbärtig, trug den üblichen weißen Leinenanzug, Strohhut und hatte eine Hornbrille auf. Er entfernte sich nach kurzer Zeit …“

„Merkwürdig …!“ murmelte Harald. Ihm schien dieser Europäer sehr wenig in seine bisherigen Kombinationen zu passen …

Wir verließen den Pavillon und schritten dem Teile der alten, hohen Parkmauer zu, die dem Pavillon am nächsten, vom Wohnhause aber am weitesten entfernt lag.

Harald winkte Mansur und mir, zurückzubleiben. Tief gebückt ging er dicht an der Mauer entlang. Wir folgten …

Mit einem Male zeigte sich in der verwitterten Steinmauer, die oben noch ein Eisengitter mit schrägen Spitzen hatte, hinter einem von Gebüsch verdeckten Berg welken Laubes und anderer Gartenabfälle eine kleine Holztür, der man das ehrwürdige Alter sofort ansah.

Das noch immer feste Holztürchen war stellenweise mit Zinkblechstreifen ausgeflickt und hatte ein großes Kastenschloß.

„Wohin führt dieser Durchgang?“ fragte Harst den Hausherrn.

„Auf einen uralten kleinen mohammedanischen Friedhof, der mit zu meinem Grundstück gehört …“

„Es stoßen noch andere Gärten an diesen Friedhof?“

„Gewiß – mindestens acht, Mr. Harst …“

„Bitte – noch eine Frage, Mansur … Grenzt auch des Trödlers Häuschen an den Friedhof?“

„Ja … – Verzeihen Sie, Mr. Harst, hegen Sie denn irgend einen Verdacht gegen Mawesa?“

„Vielleicht … – Wir brauchen Sie jetzt nicht mehr, Mansur … kehren Sie nur zu Ihrer Gattin zurück …“

Mansur-Chatta zögerte …

Schaute Harald bittend an …

„Mr. Harst, Sie können es mir nicht verdenken, wenn ich … ja – wenn ich gern erfahren möchte, ob etwa der blonde Europäer, der den beiden Mädchen die Limonade vergiftete, jener Doktor Geßner gewesen sein kann …“

Harald schüttelte den Kopf …

„Das war niemals Geßner… das war … der Vater des Kindes, lieber Mansur … Aber – der tat das Betäubungsmittel nicht in die Limonade … Nein, eine andere Hand ist dafür verantwortlich …“

Ich machte jetzt ein genau so verblüfftes Gesicht wie Mansur …

Wir beide hatten nicht an das Nächstliegende gedacht: an den Vater des Knaben!

Mansur stammelte …

„Also – – also … der Vater hat sich sein Kind zurückgeholt?“

„Nein … So einfach ist das Geschehnis doch nicht zu lösen … Das Kind nahm der mit sich, der das Betäubungsmittel der Limonade beimischte …“

„Aber – aber, – – die Mädchen sahen doch nur den blonden Europäer – sonst niemand …“

„Gewiß … Der Pavillon hat jedoch ein flaches Dach, und in diesem Dach befinden sich über der Vorhalle drei Klappfenster mit matten Scheiben … Wenn jemand auf das Dach geklettert ist, was durchaus nicht schwer sein dürfte, dann konnte er – vielleicht mit einem langen Gummischlauch – bei einiger Geschicklichkeit eine Flüssigkeit in die Gläser fließen lassen …“

Mansurs Gesicht drückte jetzt nichts als Unglauben aus … Ihm kam diese Theorie Harsts offenbar zu phantastisch vor …

Harald wollte dem Gespräch nun ein Ende machen, zog einen Dietrich hervor und sagte nur: „Also später auf Wiedersehen, Mansur …“

Der Wink genügte … Mansur entfernte sich, wenn auch widerwillig.

Das Kastenschloß zu öffnen, war kein Kunststück.

Die Tür ging auf – ganz geräuschlos …

„Gut geölt,“ lächelte Harald mir zu und deutete auf die eisernen Angeln. „Das Öl ist sogar herabgetropft …“

Und nun lag da vor uns der alte Mohammedaner-Friedhof – eine romantische Wildnis mit hohen windschiefen Grabsteinen, mit riesigen Zypressen, mit ernsten Trauerweiden, mit Grabtafeln, die fast senkrecht standen, mit Dornengesträuch, unzähligen Blumen, halbmannshohen Grasbüscheln …

„Wirklich romantisch,“ nickte Harst. „Besonders diese Spuren da … Man könnte sie einen Pfad nennen … Hier ist jemand sehr häufig hin und her gegangen – – jemand! Wer wohl?!“

„Vielleicht Mawesa …“

„Irrtum …! Komm’ mal her … Bitte – hier ist eine einzelne deutlichere Spur … Was sagst Du zu diesen Elefantenfüßen, mein Alter?“

„Herr Gott – der dicke Tsundsi mit seinen Filzschuhen!“

„Allerdings – derselbe!!“

Dann verschloß Harald die Mauerpforte wieder und fügte hinzu: „Gehen wir Herrn Tsundsis Spuren nach … Ich denke, wir werden das Kind sehr bald finden …“

Irrtum …!! Und – welch verhängnisvoller Irrtum sogar!

Wir gingen also – tiefer hinein in die Wildnis – im Zickzack …

Und mit einem Male war es aus mit den Elefantenfährten – gerade vor einer sehr großen Grabplatte …

„Hm – vielleicht unterirdisch weiter …!“ meinte Harald gutgelaunt … „Hilf mal …! Heben wir die Grabplatte empor …“

Umsonst …! Das Ding wog Zentner …

„Nein – so wird das nichts, mein Alter,“ sagte Harst jetzt mißmutig. „Die Sache muß anders angepackt werden …!“

Und er wandte sich um und musterte den Pfad …

Lachte leise …

„Blendwerk der Hölle!! – Kehrt Marsch …! Herr Tsundsi ist so vorsichtig gewesen, stets bis hier an die Grabplatte zu watscheln, dann umzukehren und an einer anderen Stelle unsichtbar abzubiegen …“

Wir schritten den Pfad wieder hinab …

Und Harald zeigte dann auf eine andere Grabplatte …

„Bitte!“

Ich sah, daß die beiden Ranken einer efeuähnlichen Pflanze, die sich über die Platte hinzogen, an einigen Stellen halb zerdrückt waren.

Nun – wir hatten jetzt die richtige Fortsetzung des Weges gefunden: von dieser Grabplatte zu einem umgesunkenen Grabstein, von diesem Stein zu einer zweiten Platte, und von dieser inmitten eines Dornendickichts hinab in eine eingestürzte Gruft, die ausgemauert war und in der eine Leiter von nur sechs Sprossen lehnte …

 

4. Kapitel.

Herr Tsundsi besucht uns …

Harst war in die Gruft hinabgestiegen …

Sie war tief … Unten lag Laub, lagen Sargreste, Knochen, zwei Totenschädel … An der einen Seite hingen über die Mauer Schlingpflanzen hinweg – ein dichter Vorhang. – Als Harald diesen Vorhang lüftete, kam ein Loch zum Vorschein … –

Ich möchte hier nun bereits eine technische Bemerkung einflechten, damit ich sie später nicht etwa an störender Stelle bringen müßte. – Daß die Inder früherer Zeiten sehr geniale Leute waren, beweisen ihre Riesenpaläste, ihre Bewässerungsanlagen, ihre Kanäle, Springbrunnen und sonstigen Wasserkünste.

Haidarabad liegt am Flusse Musi[3], auf einer zum Teil felsigen Hochebene. Zur Bewässerung des alten Friedhofs waren nun vom Flusse ehemals zwei verdeckte Kanäle bis hierher gezogen worden. Einen dieser Kanäle hatte dann einer der Anwohner des Friedhofs für seine besonderen Zwecke benutzt, da der Kanal seit langem am Flusse zugeschüttet worden und daher trocken war – also ein unterirdischer, zum Teil ausgemauerter Gang. – Dies mag genügen. –

In diesen trockenen Kanal drangen wir beide jetzt ein …

Unserer Taschenlampen weiße Lichtstreifen zeigten uns, daß das zu dieser Bewässerungsanlage gehörige Bassin erst acht Meter hinter dem Erdloche sich befand, durch welches wir eingedrungen waren. Der eigentliche Kanal begann erst jenseits des durch Bretter verdeckten Bassins. Diese Bretter untersuchte Harald aufs genaueste, bevor er sich hinaufwagte. Ich war stets drei Schritt hinter ihm, hielt mich jeden Augenblick bereit, zuzuspringen, falls etwas Unvorhergesehenes sich ereignen sollte. Und hiermit schien Harald zu rechnen, da er nur äußerst behutsam sich weiterbewegte und die Augen stets überall hatte.

Nachdem wir das bedeckte Bassin hinter uns hatten, hob Harald zwei der Bretter empor und leuchtete in den breiten gemauerten Schacht hinab.

Anderthalb Meter unter uns dicker schwarzer Morast … Ekelhaftes Getier kroch in dem schmutzigen Brei herum … Auf einem Stück Brett hockte eine knallrote, schwarzgepunktete Feuerkröte. Gestank quoll empor … Rasch legte Harst die Bretter wieder über die Öffnung …

Dann weiter … Mit derselben Vorsicht … Schritt für Schritt … – Zwei Meter breit war der Kanal, etwa drei Meter hoch. Die Fugen des Mauerwerkes mit getrocknetem grünbraunen Schlamm ausgefüllt … Derselbe Schlamm bedeckte als harte Schicht den Boden …

Zehn Meter von dem Bassin war die Kanaldecke eingestürzt gewesen … Man hatte die Trümmer beiseite geschafft und die Decke durch Bretter und Balken abgestützt. Durch die Fugen der Bretter hingen ein paar Schlingpflanzenranken herab … Dünne Streifen Tageslicht grinsten dort oben …

Weiter …

Nach abermals vielleicht fünfzehn Metern eine ähnliche Einbruchsstelle … Auch wieder Bretter und Balken …

Dann eine lange freie Strecke … Die dritte Einbruchsstelle – ausgedehnter als die beiden anderen … Sechs Balken stützten hier die Bretterlage …

Harst blieb stehen, wandte den Kopf …

„Wo nur das Schlupfloch nach Mawesas Grundstück hin sein mag?“ meinte er offenbar etwas beunruhigt …

Ich war dicht bei ihm … Und er fügte ebenso nachdenklich hinzu: „Meinem Augenmaß nach haben wir die jenseitige Grenze des Friedhofs schon hinter uns … Die Geschichte gefällt mir nicht … Trotzdem – – weiter …!“

Und nach wiederum dreißig Schritt machte der Kanal eine scharfe Biegung, lief dann wie vorher geradeaus. –

Zugegeben: auch mir war nicht ganz wohl zu Mute! Auch ich hatte die unklare Empfindung, daß hier irgendwo eine Gefahr lauerte …

Harsts Bewegungen wurden immer behutsamer … Seine Körperhaltung drückte gespannteste Aufmerksamkeit aus … Sein vorgestreckter Kopf, der noch weiter vorgestreckte Arm mit der Taschenlaterne glich einem lebendigen Warnungssignal …

Wieder machte er halt …

„Mein Alter, hier stimmt etwas nicht … Ganz und gar nicht … Kehren wir …“

Jäh schwieg er …

Aus der Ferne – von dort, woher wir gekommen – ein Krachen und Splittern – dumpfes Poltern …

In dem Kanal pflanzte sich der Schall dieser Geräusche vielfach verstärkt fort …

Lärm umgab uns … Luftwellen umbrausten uns …

Und dann Stille …

Grabesstille …

„Zu spät!“ – Harsts Stimme klang dumpf … „Ich ahnte etwas Ähnliches. Vielleicht hätte es in meiner Macht gelegen, dies zu verhindern … Man hat uns den Rückweg abgeschnitten …“

Er eilte vorwärts – den Weg zurück … Bis Schuttmassen den Kanal ausfüllten … Ein Schuttberg, der bis zur Decke reichte … Es war die dritte, die größte Einbruchsstelle … Man mußte die stützenden Balken entfernt haben …

Harald erklomm den schrägen Wall von Sand, Ziegeln und Steinen … Bis oben kletterte er, schmiegte sich an die Kanaldecke, wühlte mit der rechten Hand in dem Schutt, rief mir zu: „Hier kommen wir nicht durch …! Oder doch nur nach stundenlanger Arbeit …“

Er sprang mit zwei Sätzen wieder herab …

„Mein Alter, sehen wir uns das Ende des Kanals, die Einmündungsstelle in den Fluß, an … Vielleicht ist dort etwas zu erreichen …“

Und er setzte sich in Trab …

Wir liefen … Vielleicht hundert Meter … Dann wurde der Boden des Kanals feucht … Kleine Wassergräben blinkten … Die Luft war dick und dumpfig, wurde immer schlechter …

Schlamm quoll unter den Sohlen unserer Stiefel hoch … Zuweilen mußten wir größere Tümpel überspringen …

Und jetzt vor uns das zugemauerte Ende des Kanals … Dünne Wasserrinnsale drangen durch die Fugen der mit Pilzen bedeckten Ziegel … Diese Ziegel waren von jener Art, wie man sie hier im Staate Haidarabad brennt …: glashart, glasiert, Jahrtausende überdauernd!

„Kehrt!“ meinte Harald nur …

Auch hier gab’s für uns keinen Ausweg …

Also … kehrt! – Und was nun?!

Ich fragte nicht … Wir mußten uns eben durch den Schuttwall hindurchzuwühlen suchen …!

Aber es kam anders! – Harald ging langsam, beleuchtete die Decke des Kanals – sehr genau …

Und vielleicht zehn Meter vor dem Schuttwall blieb er stehen …

„Bitte …!!“

Ich schaute nach oben …

Sah, daß die Ziegeldecke des Kanals, die leicht gewölbt war, nach unten zu eine Aufbauchung hatte … Zwischen den Ziegeln klafften breite Lücken … Die Ziegel hingen nur noch lose an einigen Mörtelstücken … – Ich sagte:

„Du meinst, daß wir …“

„… wir hier eine Stelle gefunden haben, wo wir unschwer einen Einsturz der Decke und der sie drückenden Erdmassen herbeiführen können … – Ich werde Dir auf die Schultern steigen, mein Alter … Tritt mehr zurück … Die Ziegelsteine dort dürften bei der ersten Berührung herabpoltern …“

Und – so war’s auch …

Mit unheimlichem Getöse kam die Decke herab … Wir konnten gar nicht schnell genug ausweichen …

Noch etwas anderes kam: eine Woge von Sand, kleinere Ziegel … Und dann … ein paar Schuhe mit dicken Filzsohlen, ein paar Beine … ein dicker Leib – ein Schädel von Eimergröße: Herr Tsundsi gab uns auf diese gewiß überraschende Art die Ehre seines Besuchs …!

 

5. Kapitel.

Das goldene Kettchen.

„Sieh da – Tsundsi!“ meinte Harald ironisch. „Wo kommst Du denn her, mein Sohn …?!“

Der Chinese war noch viel zu vertattert, um an’s Schwindeln zu denken …

„Aus Küche, Mister … Ziegelboden mit einem Male brachen ein … Ich rutschen abwärts,“ erklärte er nach Luft schnappend.

„Ja – Du hast Pech gehabt … Uns aber bist Du durchaus willkommen … – Wie geht es Deinem Herrn?“

„Gut … Sitzen auf Ladenschwelle …“

„Und – wo habt Ihr das Kind gelassen? Und wer brachte die Decke dort drüben zum Einsturz?“

Tsundsis Gesicht bekam bläßliche Braunbierfarbe …

„Kind … Kind?! Welche Kind?! Nichts wissen von …“

Da hatte Harald seine Clement schon in der Hand …

Der Dicke verstummte … schluckte, würgte, stotterte, indem er nur immer die Pistole im Auge behielt:

„Kind … Kind … bei Eltern sein … Wo hingehören … Tsundsi große Reue … große Angst …“

„Aha, Angst!! Mit der Reue wird es wohl nicht so arg sein …! Ich kenne Euch Gelben …! – Also nun erzähle mal … Wenn Du lügst, schieße ich Dir ein drittes Auge in den Kopf … – Weißt Du, wer wir sind?“

„Nein, Mister … Wohl amerikanische Detektive sein …“

„Vielleicht …! – Also wer sind des Knaben Eltern?“

„Mister Godweller, Doktor, Professor, wo leben in Ruinen von Golkonda und Erde umschaufeln, alte Sachen suchen … Mister Godwellers Frau sehr schön …“

„Die Schönheit ist augenblicklich Nebensache … Schweife nicht ab, mein Sohn …! Was weißt Du über diese Kindesentführung?“

„Nicht viel, Mister … Vor drei Wochen mir sagten Mawesa …“

„Halt – wie lange kennst Du Mawesa?“

„Seit Mawesa hier kaufen Laden und Grundstück … Damals ich sein Lastträger am Bahnhof, aber schon zu dick für die Arbeit … Da mich Mawesa nahm zu sich …“

„Nun gut … – Mawesa befahl Dir also vor drei Wochen, das Kind zu stehlen?“

„So sein … Ich kennen Wohnung von Doktor Professor Mr. Godweller … Ich tun wie befohlen … Alles glücken … Und Kind in Kasten und Zettel legen vor Mansur Haustür … Aber viel Reue nachher … Und heute …“

„… bist Du, wie sehr oft schon, in Mansurs Park geschlichen, auf das Dach des Marmorpavillons, und hast mit einem Gummischlauch irgend ein Teufelszeug in die Limonadengläser geträufelt …“

Tsundsi griente unendlich blöde. Seine Augen verrieten, was er dachte: daß diesem Manne gegenüber jede Lüge zwecklos gewesen wäre, daß dieser Europäer sogar gerissener als er selbst war …!

„Wie hast Du das Kind den Eltern zurückgegeben?“ fragte Harst nun in demselben gemütlichen Tone.

„Meine Freund Shamu es hinbringen in seinem Karren und laufen lassen …“

„Es kann also schon laufen – so … so! Schrie es denn nicht, als Du es mit Dir nahmst?“

„Schlafen, Mister … ganz fest schlafen … Gar nicht schreien …“

„Etwas anderes, mein Sohn: Wie lange besitzt Mawesa bereits die Wachspuppe?“

„Hm – zwei Jahre vielleicht …“

„Und woher erwarb er sie?“

„Das nicht wissen, Mister … Wachspuppe war mit einem Male da … Wirklich nichts wissen …“

Harst beugte sich zu Tsundsi herab und schaute ihn durchdringend an … – „Noch eine letzte Frage … Hältst Du Mawesa für einen echten Inder?“

Des Chinesen Kopf sank scheu auf die Brust …

„Oh – – nicht fragen …!“ – und jetzt war helle Angst in seiner Stimme. „Nicht fragen … Mawesa große Zauberer … Mawesa unsichtbare Diener haben … Oft mit ihnen reden … Vielleicht hier sein eine von diese Diener …“

Und sein Kopf schnellte wieder hoch … Seine Augen glitten umher, diese in Fettpolster eingebetteten Pünktchen, suchten Gespenster …

Und merkwürdig: Gerade in dem Moment stand die Szene in dem kleinen übelduftenden Gäßchen mit aller Deutlichkeit in meiner Erinnerung wieder auf, wie Harald so blitzschnell zwischen den Scherben der Buddhavase etwas Blinkendes aufgelesen und in die Tasche gesteckt hatte!

Seltsam: gerade jetzt! Und ich hatte doch genug Gelegenheit in den letzten Stunden gehabt, mich darauf zu besinnen und ihn zu fragen, was es gewesen, das er so mit Taschendiebgeschwindigkeit für sich beschlagnahmte … –

Harsts Stimme rief mich in die ebenso interessante Gegenwart wieder zurück.

„Tsundsi,“ sagte er, „mein Freund und ich werden jetzt in die Küche emporklettern und mit Mawesa ein Wörtlein sprechen. – Nicht wahr, Du hast doch den Einsturz der Decke dort drüben herbeigeführt, weil Du fürchtetest, wir könnten Mawesa verraten, daß Du das Kind zum zweiten Male – diesmal gegen seinen Willen – gestohlen hast … Du brauchst nicht zu antworten. Ihr Chinesen seid uns Europäern stets wandelnde Rätsel … Du bist das größte, das ich je antraf. Und daher ist es gut, daß Du hier unten eingesperrt bist … Auf Wiedersehen, mein Sohn …“

Und er winkte mir …

Ich kletterte auf seine Schultern …

Es war eine ungemütliche Geschichte, bis nach oben in die Küche zu klettern. Des öfteren rutschte ich zurück.

Dann warf ich für Harald eine Leine hinab, die ich in einer Kammer neben der Küche gefunden und die ich an den Türpfosten geknotet hatte.

Er war im Nu bei mir …

„Donnerwetter!“ meinte er. „Diese Sauberkeit hier erinnert an eine Schiffsküche … Herr Kapitän Geldern ist nur als Mawesa, als Trödler, ein Schmierfink … Im übrigen befleißigt er sich der Seeleuten eigenen peinlichen Sauberkeit, was auch das Innere seines Ladens verriet. Diese Ordnungsliebe hatte mich sofort verblüfft. Es war überall Staub gewischt … Gehen wir …“

Und ich – hielt ihn am Ärmel fest … „Harald, Du glaubst wirklich, daß Mawesa Frau Anna Mansurs Vater ist?“

„Man könnte zweifeln, wenn man diesen wilden Haß kennt, den er gegen sein eigen Fleisch und Blut und gegen Mansur-Chatta betätigt hat … betätigt, mein Alter! – Komm’ jetzt … der Fall „Wachspuppe“ ist reif …“

Aus der Küche in einen langen Flur mit vier Türen … Geradeaus ging es in den Laden. Der dicke Vorhang ließ uns geräuschlos durch.

Mawesa saß auf der Schwelle im Schatten des Sonnensegels … Vornübergebeugt … Die Ellbogen auf die Schenkel gestützt … Den Turban hatte er ganz tief über den Kopf gezogen … Vielleicht um die Stirnwunde zu verdecken.

In der Gasse brütete die Glut der Mittagshitze … Kein Mensch war sichtbar … Um diese Stunde erstirbt in Haidarabad alles Leben …

Wir krochen bis dicht an die Türschwelle heran. Ich hielt die Clement bereit … Harald packte zu, riß Mawesa mit so brutalem Ruck nach innen, daß der Alte bis in die Mitte des Ladens flog.

„Herr Geldern,“ sagte Harst und ließ den Trödler los, „Sie dürften uns einiges erklären müssen … Holen Sie die Wachspuppe herein. Versuchen Sie aber nicht zu fliehen …“

Der Alte saß noch auf den Steinfliesen – zusammengekrümmt – mit zuckendem Gesicht … aschfahl …

Und mein Freund fügte hinzu: „Damit Sie im Bilde sind: ich bin der deutsche Detektiv Harst … Das da mein Intimus Schraut. Also immerhin zwei Leute, mit denen man besser im Frieden auszukommen sucht …“

Der frühere Schiffskapitän wurde plötzlich lebendig, erhob sich, verbeugte sich …

„Wir werden uns einigen, Herr Harst … Was soll aber die Wachspuppe?“

„Holen Sie sie herein …!“

Er tat’s sehr zögernd … Legte sie lang auf die Fliesen …

„Herr Harst, ich möchte Ihnen …“

„Später, Herr Geldern …! Jetzt möchte ich erfahren, woher Sie diese lebensgroße Wachspuppe haben …“

Ein halb irres Lächeln … „Ich … ich kaufte sie von … von …“

„Herr Geldern, Wachspuppen wie diese kauft man nicht … Die präpariert man selbst, wenn man einiges davon versteht … Ihre Tochter, Frau Anna Mansur, hat mir mitgeteilt, daß Ihr Vater Wachsfigurenfabrikant in Triest war. Ich nehme an, daß Sie als sein Sohn einiges davon profitierten …“

– Und ich, Max Schraut, ließ jetzt kein Auge von der Wachspuppe, deren geradezu auffallend menschenähnliche Gesichtszüge so gar nichts von der Unvollkommenheit von gewöhnlichen Wachsköpfen an sich hatten … –

Des alten Kapitäns Beine versagten plötzlich. Er tastete nach einem altertümlichen Elfenbeinschemel und fiel schwer auf den harten Tisch …

„Herr Geldern, Sie geben also zu, diese … Puppe präpariert zu haben?“ fragte Harst eindringlich.

„Ja …“

„Und Sie geben zu, daß es sich um die präparierte Leiche eines Mädchens handelt?“

Der Kapitän nickte …

„Es … es war eine Mumie, Herr Harst …“

„So – eine Mumie?! Aber eine aus neuester Zeit, jüngsten Datums?“

„Ja … Eine Tote aus dem sogenannten Höhlenfriedhof von Kantara in den Duscha-Bergen.“

„Eine Tote, die … Sie kannten, die Sie dann aus Haß gegen Ihren Schwiegersohn und Ihre Tochter dort draußen an die Ladentür lehnten, wo Mansur jeden Tag vorüberging, ohne zu ahnen, daß …“

Geldern hatte sich ruckweise erhoben … Die stechenden Augen bohrten sich in Harsts Gesicht …

„… daß … es eine seiner Töchter war, die dort als Wachspuppe lehnte … eine seiner angeblich im Alter von sieben und acht Jahren verstorbenen Töchter …“

Ein blödes Lachen kam über Gelderns Lippen …

„Und zwar hieß das Mädchen wahrscheinlich Fatima,“ sprach Harst unbeirrt weiter und holte aus der Tasche ein goldenes Kettchen mit einem runden goldenen Anhänger hervor …

Das … entschied die Szene …

Geldern warf sich ganz überraschend nach rückwärts …

Ein hohes Gestell mit allerhand Raritäten sauste auf uns herab … Harst hatte sich schützend über den Kopf der unheimlichen Wachspuppe gebeugt … Ich fing das schwere Gestell auf …

Geldern war nach dem Friedhof zu entkommen … –

Ich glaube nicht, daß menschliche Phantasie dazu ausreicht, den zweiten Teil dieses Abenteuers zu erraten … Das Leben ist der ausschweifendste Dichter – eine alte Wahrheit!

 

 

Der Höhlenfriedhof von Kantara.

 

1. Kapitel.

Armer Tsundsi …!

Ich richtete das schwere Holzgestell wieder auf. Wir standen inmitten von Scherben und allen möglichen Dingen. Kapitän Geldern hatte es mit seiner Flucht sehr schlau angefangen. Ihn sofort zu verfolgen, wäre zwecklos gewesen …

Harst ging zur Ladentür und verschloß sie. Durch das Fenster – es war winzig – drang nur wenig Licht herein.

„Nun werden wir uns hier im Hause erst einmal genauer umsehen,“ meinte Harald. „Ich kann mir nicht recht denken, daß Geldern nur diese eine Rolle als Mawesa hier in Haidarabad gespielt hat …“

Ich war überrascht. „Woraus schließt Du auf mehrere Verkleidungen, die er je nach Bedarf anlegte?“

„Der zum geheimen Verbindungsweg ausgebaute Kanal gibt zu denken … – Übrigens – hier, schau’ Dir das goldene Kettchen mal an, mein Alter. Du siehst noch Spuren von Ton daran … Es war mit feuchtem Ton einst im Innern der Vase am Boden festgeklebt worden. Hier ist der Name Fatima auf der Rückseite des Anhängers eingraviert … Nehmen wir an, daß die beiden Töchter des Ehepaares Mansur damals nicht gestorben, sondern von ihrem Großvater Geldern irgendwie noch lebend irgendwo verborgen wurden, daß sie in der Verborgenheit aufwuchsen und daß dann Fatima tatsächlich starb …“

Ich lauschte … Ein ganzes unerhörtes Drama von sinnlosem Haß entrollte sich vor mir …

„Und diese Fatima hat Geldern dann in eine Mumie verwandelt, hat sie nachher in eine … Wachspuppe umgestaltet … Diese unscheinbare Wachsfigur ist die eines erwachsenen jungen Mädchens. Fatima starb also vielleicht erst vor etwa drei Jahren, etwa als Siebzehnjährige … Denn seit zwei Jahren lehnte die Puppe da draußen …“

Und Harst kniete neben der Toten, die den bunten Flitterstaat und die weiße Perücke trug …

„Sie wird es mir verzeihen,“ sagte er leiser, „wenn ich jetzt dem Geheimnis völlig auf den Grund gehe …“

Er öffnete das Mieder des Pierrette-Kostüms …

Und … entfernte auf dem Rücken behutsam die dünne Wachsschicht …

„Bitte!!“

Es klang so triumphierend, daß ich mich hastig bückte.

Haralds Taschenlampe beleuchtete auf der natürlichen, wenn auch stark nachgedunkelten Haut ein Muttermal in Käferform …

„Fatima Mansur – kein Zweifel! Und jetzt wirst Du auch wissen, wer die Mutter des Knäbleins ist: es ist die andere Tochter Frau Annas! Auch sie hat das Muttermal geerbt und vererbte es weiter auf ihr Kind … Sie hat den Professor Doktor Godweller geheiratet, der jetzt nach Tsundsis Behauptung in den Ruinenfeldern der alten berühmten Königsstadt Golkonda, nordwestlich von Haidarabad, wohnt …“

Mir schwirrte etwas der Kopf …

Begreiflich …!!

Tausend Fragen hätte ich stellen können …

Und fragte nur: „Weshalb in aller Welt ließ Geldern das Kind stehlen und es durch Tsundsi den Großeltern bringen?!“

„Aus Haß …! Weil er genau wußte, daß das Muttermal Frau Annas Gemüt aufs tiefste erschüttern würde … Weil er ahnte, daß seine Tochter das Kind liebgewinnen würde, und weil er sie auf’s schwerste treffen konnte, wenn er es ihr dann wieder rauben ließ. Fraglos wollte er so handeln. Tsundsi kam ihm zuvor. Der Chinese ahnt nichts von den wahren Zusammenhängen … Er tat, was ihm die sogenannte Reue eingab …“

Ich mußte meine Gedanken erst sammeln. Wie Sturzbäche flutete all das Neue über mich hin …

Dann eine zweite schüchterne Frage:

„Weshalb nahm Godweller sein Kind nicht mit?! Er war doch vor Tsundsi im Pavillon …“

Und Harst sagte langsam: „Das weiß ich nicht – noch nicht! Aber ich vermute, daß auch da Dinge mitsprechen, die uns noch viel zu raten aufgeben werden … – Jetzt wollen wir uns das Haus ansehen … Ich möchte insbesondere feststellen, wo der Zugang zum Kanal sich befindet …“

Das Haus war unterkellert. Haralds untrüglicher Sinn für Raumgrößen ließ uns ein Kellergelaß entdecken, das eine mit Steinfarbe angestrichene geheime Tür hatte. In diesem Gelaß standen zahllose Kisten, außerdem eine … große Zinkbadewanne. Reste von Wachs am Boden und an den Wänden bewiesen zur Genüge, daß in diesem Behälter die mumifizierte Leiche Fatimas in heißes Wachs getaucht worden war.

Die Kisten aber enthielten – und selbst Harst war über die Maßen erstaunt – goldene uralte Tempelgeräte aller Art …

Reichtümer waren hier aufgespeichert, die das Treiben Gelderns nun in ganz eigenem Licht erscheinen ließen. Ich war überzeugt, daß der alte Kapitän die zweite Rolle als Dieb hier gespielt hatte, vielleicht als Anführer einer Diebesbande.

Bevor ich diesen Verdacht jedoch aussprechen konnte, meinte Harald sehr sicher:

„Geldern muß in den Ruinen von Golkonda diese Schätze gefunden haben … In derartigen Mengen lassen sich Tempelgeräte nicht zusammenstehlen … – Und hier in diesem Raum dürfte auch die Falltür vorhanden sein, die mit dem Kanal in Verbindung steht …“

Er beleuchtete den mit Ziegeln belegten Boden … Zwischen den Stapeln von Kisten gab es nur schmale Gänge. So brauchten wir denn auch nicht lange zu suchen. In einer Ecke waren acht der Steinfliesen durch einen unauffälligen Eisenrahmen zu einem Ganzen verbunden. Das war die Falltür. Als Harst sie öffnete, blickten wir in einen Schacht hinab, sahen unten Bretterstücke … Und diese gehörten zu der Absteifung der zweiten Einsturzstelle der Kanaldecke … Diese Bretter bildeten die zweite Tür zum Kanal.

„Eine feine Einrichtung,“ meinte Harald. „Glänzend in ihrer Art …! – So, nun wollen wir Tsundsi nochmals ins Gebet nehmen.“

Wir gingen in die Küche … Hier gähnte das Loch im Boden, durch das Herr Tsundsi uns vor die Füße gerutscht war …

Hier rief Harst nun in die Tiefe hinab … mehrmals … ohne Antwort zu erhalten … Warf die Leine nach unten … Kletterte abwärts … Kam nach einigen Minuten wieder nach oben …

Sein Gesicht besagte nichts Gutes …

„Was ist?“ fragte ich atemlos …

„Der arme Dicke ist tot …“

Ich hatte es geahnt …

„Also ermordet?“

„Ja … auf sehr merkwürdige Art … Der Anblick ist grauenhaft … Man hat ihn mit einer dünnen, sehr langen Seidenschnur … aufgeknüpft … Er hängt in der Schlinge – dicht vor dem Schuttwall, der uns den Rückweg versperren sollte …“

„Unmöglich! Wer kann ihn denn ermordet haben? Geldern etwa?!“

„Vielleicht … – Komm’ auf den Friedhof … Du wirst sehen …“

Der kleine Hofraum des Grundstückes des Trödlers war nach dem Friedhof zu durch einen baufälligen Bretterzaun abgegrenzt. Wir kletterten hinüber. Harald mahnte zur Vorsicht …

„Geldern liegt womöglich hier im Gesträuch auf der Lauer … Ich werde vorangehen …“ – Er nahm die gespannte Clement in die Rechte …

Aber – es ereignete sich nichts …

Wir fanden die frische Einsturzstelle … Wir beugten uns tiefer … Da waren noch ein paar Steine der Kanaldecke hinabgestoßen worden … Und neben diesem offenen Loch war das eine Ende der Seidenschnur um eine herausragende Baumwurzel gebunden …

Die Schlinge aber lag um Tsundsis Hals …

Ich konnte von dem Chinesen dort unten nur den Kopf erblicken – ganz verschwommen …

Ich prallte trotzdem zurück …

„Hier sind drei deutliche Fußspuren dessen, der den Mord beging …“ sagte Harald ablenkend … „Geldern trug Sandalen … Dies hier sind Sandaleneindrücke. Ich werde sie messen …“ –

Zehn Minuten darauf saßen wir in dem europäisch eingerichteten Herrenzimmer Mansur-Chattas …

Bei offenen Fenstern … Denn gerade vor diesen Fenstern trieb ein Springbrunnen seine vielfachen Wasserstrahlen hoch in die Luft, und die herabfallenden Tröpfchen kühlten die sengende Luft wohltuend ab und täuschten einen frischen Windzug vor.

Das Ehepaar Mansur wagte kaum eine Frage …

Harst schwieg sich über das Erlebte aus und bat nur, uns über einige Punkte Auskunft geben zu wollen …

„Hieß eine Ihrer Töchter Fatima, Frau Anna?“

„Ja … Die jüngere …“ – Ihre Augen schwammen in heimlichen Tränen …

„Hatten beide Kinder dasselbe Muttermal wie Sie, Frau Anna?“

„Beide …“ – Ein leises Aufschluchzen folgte …

„Und würden Sie mir nun noch sagen, ob die Leichen der Mädchen damals nach Hinduart verbrannt worden sind?“

Jetzt antwortete Mansur …

„Nein, Mr. Harst … Auf Annas Wunsch setzten wir die lieben Toten in einer Grabkammer des Höhlenfriedhofs von Kantara bei, wo die Leichen bekanntlich infolge der trockenen Luft nicht verwesen, sondern zu Mumien werden.“

„Wer behandelte Ihre Kinder während der Krankheit?“

Mansur erklärte: „Der beste Arzt, den wir hier in Haidarabad haben: Doktor Bargyn, Doktor Edward Bargyn, ein Engländer …“

„Er wohnt?“

„Am Bahnhof, im Europäerviertel …“

„Und er stellte den Tod der beiden Mädchen zweifelsfrei fest?“

Mansur verstand Harald nicht …

„Wie meinen Sie das, Mr. Harst?“

Der wandte nun den Kopf …

„Ich möchte wissen, ob Bargyn persönlich den Totenschein, der ja auch hier wohl nötig ist, ausfüllte …“

„Nein … Das nicht … Er wurde in einen Ort in der Nähe gerufen an jenem Tage … Deshalb ließen wir einen anderen Arzt kommen, als es mit den Kindern zu Ende ging …“

„Und dieser zweite Arzt?“

„War ein Inder, Tagaro, Mr. Harst …“

„Von gutem Ruf?“

„Nein … Uns blieb aber keine andere Wahl.“

„Lebt Tagaro noch hier?“

„Nein … Er ertrank vor einem Jahr im Musi …“

„Schade …! – Weshalb stand Tagaro nicht im besten Rufe?“

„Er soll dem Opiumlaster verfallen gewesen sein. Er spielte auch und war sehr verschuldet …“

„Mithin zu bestechen …“

Da wurde Mansur aufmerksam.

„Mr. Harst, – verzeihen Sie … Ihre Fragen und Bemerkungen sind so …“

„… so sonderbar, – wollen Sie sagen … – Die Bitte, die ich nun an Sie richte, ist noch sonderbarer: ich möchte die Grabkammern Ihrer Töchter sehen. Sie besitzen ein Auto, wie Sie mir erzählten. Wollen Sie Schraut und mich bitte nach anderthalb Stunden auf dem Wege nach Golkonda, der ja auch zum Kantara-Berge führen dürfte, in den Wagen aufnehmen. Bringen Sie auch Ihre Gattin mit …“

„Sehr gern, Mr. Harst … Also in anderthalb Stunden …“

 

2. Kapitel.

Die Grabkammer.

… Gingen zum Polizeigebäude – für uns bekanntes Terrain …

Zu Detektivinspektor Robbsam, der bei unserem Anblick aus allen Wolken fiel …

Nach den einleitenden Begrüßungsworten fragte Robbsam, was uns wieder mal hierher geführt habe …

„Eine ganze Kleinigkeit, lieber Robbsam … Zu geringfügig, um sie Ihnen aufzutischen. Sie sollen uns nur über den Professor Doktor Godweller Auskunft geben …“

Der Inspektor lachte …

„Sie Schwindler!! Wird ’ne nette Kleinigkeit sein!! – Na, wenn Sie mich nicht einweihen wollen – auch gut! – Also Godweller …! Falls Sie den für einen Schwindler halten, sind Sie im Irrtum … Der kam vor reichlich zwei Jahren mit erstklassigen Empfehlungen der Londoner Regierung hier in das Reich des Nizam und haust nun als Altertumsforscher ganz allein in einer Tempelruine mitten im Ruinenfelde von Golkonda.“

„Verheiratet?“

„Keine Rede! Das heißt: ich weiß nichts von einer Frau …“

„Mit wem haust er dort? Dienerschaft?“

„Wahrscheinlich … Geht mich nichts an … Der Professor läßt sich höchst selten hier in Haidarabad blicken und hat keinerlei Verkehr … Ein Sonderling, obwohl jung und stattlich!“

„Danke, Robbsam … – Etwas anderes … Kennen Sie den Trödler Mawesa?“

„Hm … Ach so – der mit der Wachspuppe neben der Ladentür …! – Was ist’s mit dem?“

„Schicken Sie ein paar ganz verschwiegene Beamte in aller Stille nach dem alten Mohammedaner-Friedhof hinter Mawesas Grundstück … Der Diener Tsundsi hat sich aufgeknüpft … Außerdem gibt es da noch mehr zu sehen … Versiegeln Sie das Haus, Robbsam, und rühren Sie die Wachspuppe nicht an … Es ist nämlich eine … Leiche, eine Mumie mit einer Wachsschicht …“

Daß der kleine Inspektor jetzt aus seinem Schreibsessel hochflog, war ihm nicht zu verdenken …

„Harst – reden Sie …! Was heißt das alles?!“

„Bedauere … Heute nicht. Morgen, lieber Robbsam. Kein Huhn legt ein unfertiges Ei …! – Leben Sie wohl … Wiedersehen …! Und Ihre Beamten sollen das Maul halten …!“

Wir in’s Hotel d’Angleterre … Hinauf in unsere Zimmer … Unsere Rucksäcke gepackt … Und mit einem der leichten Mietswagen sausten wir bis halbwegs Golkonda.

Die alte Prachtstraße von Haidarabad nach der ehemaligen, jetzt nur noch als Ruinenfeld vorhandenen Residenz der mächtigen Könige aus der Dynastie Bardur-Schafir ist zu beiden Seiten von den villenartigen Häusern reicher Inder umsäumt. Nur dort, wo der Nebenfluß des Musi kilometerbreite Sümpfe bildet, zeigt Indien sein wahres Gesicht: dicht neben Europas Kulturerzeugnissen, elektrischem Licht, Straßenbahn und Antennenmasten, eine Wildnis, durch die ein aufgeschütteter Damm führt – eine Sumpfwildnis wie die dichtesten Dschungeln der nördlichen Landesteile.

In dieser Wildnis verschwanden wir, nachdem wir den Wagen zurückgeschickt hatten.

Hier verschwanden Harst und Schraut vollständig … Und auf der Prachtstraße tauchten dann wieder auf zwei sauber gekleidete schwarzbärtige braune Inder, so recht vom Typ der Diener eines besseren Hauses. –

Mansurs Auto nahte … Er steuerte persönlich den großen Tourenwagen. Neben ihm saß seine Frau Anna. Sonst befand sich niemand im Auto.

Harst winkte, rief.

Mansur stoppte …

Nun mußten sie jetzt[4] auf den Rücksitzen Platz nehmen. Wir beide gehörten nach vorn. Harst spielte Schofför.

Vorüber ging’s an dem uralten Fort von Golkonda, in dem der Nizam jetzt seine Schatzkammer und ein Gefängnis eingerichtet hat. Die Keller des Forts sollen acht Stockwerke haben. Ganz unten lagern des Nizam ungeheure Reichtümer, bewacht von arabischen Söldnern …

Vorbei an den achtzehn ebenso alten prachtvollen Mausoleen der früheren Könige von Golkonda …

Sie und das Fort sind die einzigen Zeugen der Macht und Größe Golkondas.

Und nun in langsamem Tempo den Bergen zu …

Auf miserabler Straße …

Bis vor uns aus den bewaldeten Höhenzügen sich ein vereinzelter kahler Berg aus dunklem Gestein hervorschob: der Kantara!

Noch zehn Minuten, und wir mußten aussteigen. An einem Gasthause ließen wir das Auto zurück.

Wir hatten jetzt den Kantara-Berg dicht vor uns. Es war mehr ein breiter, kahler Bergrücken, der seine südliche Schmalseite uns zukehrte. In flachen Terrassen stieg er bis vielleicht achthundert Meter Höhe an.

Mit dem bloßen Auge konnte man erkennen, daß die Rückwände all dieser Terrassen zahlreiche Öffnungen hatten. Es sah aus wie eine Lehmwand, in der Erdschwalben nisten.

Der Weg wand sich jetzt durch Buschwerk und Ruinenreste größerer Bauten bis zu einer großen Steinhütte am Fuße des Berges hin. In der Hütte hausten drei uralte Mohammedaner, Beamte des Fürsten, denen die Aufsicht über den Höhlenfriedhof übertragen war.

Mansur rief einen der Greise herbei und teilte ihm seine Absicht mit, die Grabkammer seiner Töchter zu besichtigen. Harald und ich hielten uns jetzt entsprechend unserer Dienerrolle mehr im Hintergrund.

Der Greis, einer jener fanatischen Moslim, die jeden Hindu als minderwertiges Geschöpf betrachten, erklärte sehr unfreundlich, Mansur solle tun, was ihm beliebe, aber den linken Aufgang zu den Terrassen benutzen. – „Du weißt das bereits,“ fügte der Alte hinzu. – „Du warst oft genug hier. Die mittlere Treppe ist nur für die Gläubigen.“

Das Ehepaar schritt voraus. Wir bescheiden hinterdrein.

Während Harst und ich die Stufen hinanstiegen, teilte ich ihm mein Gespräch mit Frau Anna ausführlich mit. Er billigte mein Verhalten … „Die Ärmste wird seelisch zusammenbrechen, wenn sie je die Wahrheit erfährt,“ meinte er sehr ernst. „Hoffen wir, daß es sich verhüten läßt … Bedauerlich ist ja, daß sie offenbar ihren Vater wiedererkannt zu haben glaubt. Ihre Bemerkung über die „Seemannsbewegungen“ besagt genug. Immerhin: noch habe ich es in der Macht, diesen unseligen Vater, der aus blindem Haß so Ungeheuerliches ersann, nötigenfalls durch Drohungen für immer aus dem Gesichtskreis Frau Annas zu verscheuchen. Geldern gilt ja für tot. Gut – er soll tot sein!“ – Und das sprach er mit solcher Energie aus, daß ich nur vermuten konnte, er wußte schon, wo und wie wir den alten Kapitän stellen könnten.

Das Ehepaar erklomm bereits die zweite Treppe zur zweiten Terrasse. Als auch wir hier oben angelangt waren, wandte ich mich um und schaute zurück. Ein köstliches Landschaftsbild breitete sich zu meinen Füßen aus … In der Ferne, grün umrahmt von Gärten, die große indische Fürstenresidenz mit den zahllosen schlanken Minaretts ihrer Moscheen und mit den beiden hochragenden Prachtbauten: dem Schlosse des Nizam und dem Palast des englischen Residenten …

Näher vor uns die Ruinenfelder von Golkonda – eine buschreiche Wildnis … Dazu das Fort mit seinen Wällen und Gräben, mit verwitterten Mauern und blanken Geschützrohren, die aus dunklen Mauerluken harmlos drohend ins Land schauten – harmlos, weil ganz veraltete Bronzegeschütze …

Und als weitere Umrahmung dieses Bildes tropische Wälder, sauber bebaute Felder, die in allen Farben prangten, und wie ein glänzender Silberstrich quer durch all dies den Blick Labende der Fluß Musi mit seinen ruhigen Fluten …

Hinter mir schon Harsts Stimme:

„Komm’, mein Alter … Wir sind leider keine Touristen …“

Ich folgte ihm …

Das Ehepaar Mansur stand im Eingang einer der Höhlen …

Mansur hatte die mitgebrachte Karbidlaterne angezündet …

Er ging voran …

Ein Felsengang lief in den Berg hinein. Überall zweigten Seitengänge ab. An diesen Abzweigungen waren mit weißer Farbe arabische Zahlen und Buchstaben an die Felswand gemalt, um den Besuchern das Zurechtfinden zu erleichtern.

Mansur war mit dem Wege in diesem Labyrinth voll vertraut. So konnten Harald und ich uns denn in Ruhe hier umsehen, konnten aufmerksam Mansurs kurzen Erklärungen lauschen …

In diesen Gängen befanden sich in kurzen Abständen kastenartige Vorsprünge, aufgemauert aus Felsstücken, jeder mit großen Luftlöchern oben, und vorn mit einem kleinen eingekitteten Fenster.

Je nach den Vermögensverhältnissen der Angehörigen der in diesen Grabkammern Beigesetzten waren die Vorbauten schlichter oder künstlerischer ausgeführt. Manche davon waren aus Marmor oder bunten glasierten Ziegeln, doch hatten alle denselben Unterteil aus dem dunklen Gestein des Berges Kantara …

Wenn ich meine eingeschaltete Taschenlampe dicht an die eingelassene Fensterscheibe hielt, konnte ich die Toten deutlich sehen. Bei den meisten (sie lagen alle auf flachen Gestellen, die mit schwarzem Stoff bespannt waren) war das Gesicht mit einem feinen Seidentuche bedeckt. Wo dies nicht der Fall, erkannte ich eingetrocknete Mumienzüge.

Die Luft in diesen Gängen war erfüllt mit zarten Gerüchen von Ambra, Sandelholz und Kampfer. Von Verwesungsgeruch spürte ich gar nichts.

Aber – ich hörte etwas: jenes Brausen, von dem Mansur bereits gesprochen hatte … – jenes ferne, nie sich verändernde Brausen, das wirklich so klang wie das gleichmäßige Rauschen eines gewaltigen Wasserfalles …! –

Dann – am Ziel …

Mansur hatte vor einer Grabkammer in einem kurzen Seitengange halt gemacht …

Heller Marmor blinkte … Im Bronzerahmen das Fenster …

„Wann waren Sie zum letzten Male mit Ihrer Gattin hier?“ fragte Harald …

„Vor etwa drei Wochen, Mr. Harst … Zur Zeit des Madju-Festes, des Festes der Obstreife …“

Und er leuchtete durch das breite Fenster in die Grabkammer hinein …

Auf dem breiten niederen Gestell, das hier von ganzen Wolken schwarzen Schleierstoffes umhüllt war, ruhten zwei Gestalten mit verdeckten Gesichtern …

Harald wandte sich dem Ehepaare zu …

„Mansur, Frau Anna, – das da sind nicht Ihre Kinder …“ sagte er feierlich und gütig. „Erschrecken Sie nicht …! Fassen Sie sich …! Man hat mit Ihnen ein freventliches Spiel getrieben …!“

 

3. Kapitel.

Die gläserne Wand.

Frau Anna wankte … drohte umzusinken …

Ihr Gatte stützte sie …

Aber diese arme Mutter, der man die Kinder aus besinnungslosem Haß vor mehr denn zwölf Jahren entzogen hatte, bewies jetzt angesichts dieser ihre Seele bis in’s tiefste erschütternden Mitteilung eine Stärke und Energie, wie wohl kaum ein anderes Weib in dieser Lage sie aufgebracht hätte …

Sie machte sich frei aus den Armen ihres Mannes …

„Herr Harst …“ – und in der Erregung sprach sie Deutsch, obwohl ihr Gatte sie nicht verstand … – „Herr Harst, ich will jetzt alles wissen … Schonen Sie mich nicht …! Schon Ihre Fragen nach den beiden Ärzten hatten einen unbestimmten Verdacht in mir geweckt … Wo – wo sind meine Kinder?“

Und dieser letzte Satz, diese für die Mutter wichtigste Frage, schrillte hervor über bebende Lippen mit der ganzen unendlichen Sehnsucht und der ganzen jauchzenden Hoffnung eines Weibes, das nie aufgehört hat, den Verlust ihrer Töchter zu beklagen …

Harald, Menschenkenner, Seelenarzt, hatte ihre Hand ergriffen …

In Rücksicht auf Mansur erwiderte er in englischer Sprache:

„Eines Ihrer Kinder lebt …“

„Oh, mein Gott …!! Lebt – – lebt!! Und – und … der Knabe … der Knabe mit dem Muttermal …! Er muß … mein Enkel sein … muß!“

Diese Szene hier inmitten der kahlen, verschwiegenen Felsenwände – beim grellen Lichte der Karbidlaterne – beim fernen Brausen des unerforschten Wasserfalles – – diese Szene war eindrucksvoll und doch fast unwirklich, wie eine Seite aus einem phantastischen Roman …

Unwirklich klang auch Mansurs Stimme, als er nach Harsts anderer Hand tastete und rief:

„Es ist wahr? Es ist wahr …? Wer lebt? Fatima – – Naida? Wer – wer?“

„Naida, Mansur …! Naida lebt …!“

„Und – – dort in der Grabkammer?“

„Vielleicht Puppen nur … vielleicht fremde Tote … – Läßt sich das Fenster öffnen?“

„Ja … Ohne Mühe …“

Frau Anna drängte sich an Harald heran …

„Herr Harst – was kümmert mich jetzt die Grabkammer! Herr Harst, wenn Naida lebt – wo ist Fatima?!“

„Sie werden Ihre Kinder sehen, Frau Anna – beide … Beruhigen Sie sich! Naida sollen Sie sogar sehr bald in Ihre Arme schließen können …“

Recht laut und eindringlich hatte er gesprochen … Wollte diesem Elternpaar, das sich hier so jäh ganz Unerwartetem gegenübersah, durch die Macht persönlichen Einflusses die Fassung wiedergeben …

Und – fuhr nun selbst zusammen über dem gellenden Hohngelächter, das ganz in der Nähe irgendwo losbrach wie ein Konzert kichernder Teufel …

Und – ebenso jäh verstummte …

Wir vier standen, die Köpfe vorgereckt, und lauschten …

Halb betäubt …

Dann glitt Harst von dannen …

Wie ein Schatten schwand er um die Biegung des Ganges …

Frau Anna lehnte schwer am Marmor der Grabkammer …

„Was … was war das?!“

Sie suchte meinen Blick …

Angst in den Augen, fast Grauen …

Ich sollte trösten … Und war selbst benommen …

Hörte noch immer dieses satanische Hohngelächter … Sah Mansurs verstörtes Gesicht … Und was an Gedanken mein betäubtes Hirn gebar, folgte dem Freunde in das Labyrinth der Seitenhöhlen … suchte den Kapitän Geldern, den entmenschten Vater …

Wieder fragte Frau Anna:

„Was – was war das?!“

Ich mußte antworten … Jetzt noch lügen?! Weshalb?!

Und sagte zaudernd: „Es war Mawesa, der Trödler … Mawesa ist kein Inder, ist Europäer …“

Mansur-Chatta war mit einem Schlage ein Bild besinnungsloser Wut …

„Europäer … Europäer?! Dann ist’s der Mann, der Dich geliebt hat, Anna, der jeden töten wollte, dem Du angehören würdest: Doktor Geßner! Dann hat Geßner unsere Kinder …“

Ich fiel ihm ins Wort …

„Nicht Doktor Geßner, Mansur …!“

„Nicht?! Wer sonst, Mr. Schraut – wer sonst?! Nur dieser Schurke kann …“

Er verstummte … Harald war aufgetaucht …

„Entschlüpft!“ meinte er noch ein wenig atemlos … „Ich möchte Sie jetzt bitten, Mansur, mit Ihrer Gattin zum Gasthause zurückzukehren, wo das Auto untergestellt ist und wo Sie uns erwarten sollen … Um Schraut und mich sorgen Sie sich nicht weiter … Wir haben hier noch etwas zu erledigen – wir beide allein … – Auf Wiedersehen, Mansur … Auf Wiedersehen, Frau Anna …“

„Halt!“ rief der Handelsherr da … „Mr. Harst, ich muß den wahren Namen Mawesas wissen! Wer verbirgt sich hinter der Maske des Trödlers?“

„Ich weiß es nicht, Mansur … Ich weiß es wirklich nicht …“

Log er?! Hatte er seine Ansicht geändert?!

Und Mansur abermals:

„Ist es Doktor Geßner? – Schraut bestritt dies …“

„Ich weiß es nicht …! – Entschuldigen Sie uns … Wir haben es eilig …“

Und er zog mich mit sich fort …

Führte mich – ohne die Taschenlampe einzuschalten …

„Leise!“ warnte er …

Im Finstern tappte ich an seiner Hand vorwärts …

Wohin?! – Wie sollte ich’s ahnen?!

Um Biegungen herum – durch Gangkreuzungen …

Wollte Harald sich hier in dieser Finsternis ohne Licht zurechtfinden?! Hatte er ein bestimmtes Ziel?!

Und nach vielleicht vier Minuten warnte er nochmals:

„Leise …!“

Da gewahrte ich vor uns in der schwarzen Dunkelheit etwas wie ein längliches Viereck – leicht rötlich schimmernd: Das erleuchtete Fenster einer Grabkammer!

Wir schlichen darauf zu …

„Vorsicht …!“ hauchte Harald zum dritten Male …

Ich spähte hinein in die Grabkammer …

Da lag ein alter Inder auf armseligem Holzgestell: eine Mumie!

Da stand am Fußende eine große Öllaterne mit schmierigen Gläsern …

Das – war alles …

Und ich – war enttäuscht …

Flüsterte Harald zu: „Nun – – und?!“

„Und wer Augen hat zu sehen, der sehe …!“

Augen?! – Ich strengte mich an, spähte wieder in die Grabkammer hinein … Sah natürlich nichts …

Dann ein Gedanke: War der Inder dort auf dem Gestell etwa doch keine Mumie, sondern der Trödler, der Kapitän Geldern?!

Ein neuer prüfender Blick …

Unmöglich! Das da war eine vertrocknete Mumie, so wahr ich Max Schraut, nicht vertrocknet bin und meine hundertachtzig Pfund wiege!

Also – was zum Teufel gab’s denn da zu sehen?!

Harald raunte mir zu:

„Hinter dem Gestell – – die Felswand!“

Nun merkte ich’s: Da war eine zackige viereckige Öffnung, die bis zum Boden hinzureichen schien …

„Die Kammer bietet einen Weg irgend wohin …“ meinte ich …

„Ja, mein Alter – wahrscheinlich … in den Tod – ein Weg des Todes! – Als ich Euch vorhin verließ und Mawesa zu erhaschen suchte, floh er stets vor mir her in diese Grabkammer … Die Tür befindet sich an der linken Seite – ein großer Stein in Angeln … – Und nun frage ich Dich, ob Du nicht besser umkehren willst, lieber Alter, denn das eine wird Dir ja ebenfalls klar sein: Mawesa will uns durch das Felsloch da irgend wohin locken, woher es für uns vielleicht kein Wiederkommen mehr gibt … vielleicht! Ich für meine Person wage es! Du aber tätest besser, Dich Mansurs zuzugesellen und …“

„Entschuldige: Du wirst beleidigend! – Also los – hinein in die Grabkammer!“

„Ich warne Dich nochmals … Mawesa wird …“

„Genug davon! Weshalb sagst Du jetzt immer Mawesa?! Unter uns können wir wohl den wahren Namen …“

„… den wir nicht kennen, mein Alter … Denn meine schöne Theorie, Mawesa sei Kapitän Geldern, ist elend an einem Bilde zerschellt …“

„… Bilde?!“

„Ja …! Mansur zeigte mir unterwegs hierher eine kleine Photographie seines Schwiegervaters Geldern, weil ich fragte, ob er vielleicht eine besäße. Und diese Photographie zeigte mir einen Seemann mit Kapitänsmütze, der mit Mawesa auch nicht die Spur von Ähnlichkeit in der Gesichtsform, der Nasenform und der Stirnbildung hat … Ich verstehe mich doch auf solche Vergleiche … Mich täuscht kein Bart, keine Änderung der Augenbrauen … Mawesa ist niemals Geldern … Der ist offenbar wirklich tot …“

„Dann … ist Mawesa Doktor Geßner aus Triest …“

„Was ich ebenfalls bezweifle, denn ich bin jetzt diesem Problem gegenüber sehr vorsichtig geworden … Besser man zweifelt, als daß man Unsinn mutmaßt! – Du willst also durchaus mitkommen?“

„Ja …“

„Gut … Dann vorwärts …“

Und er holte mit dem Ellbogen aus, drückte das Glasfenster ein …

Die Fensteröffnung war gerade groß genug, uns durchzulassen …

Dann die andere Öffnung – das Felsloch … Man konnte sich hinter dem Gestell gerade noch hineindrücken …

Harst natürlich voran … Taschenlampe in der Linken, Clement in der Rechten …

Ich auf seinen Befehl vier Schritt zurück …

Und – vor uns ein schräger Schacht, darin eine endlose, rohe Steintreppe …

Endlos …

Und noch etwas: ein Brausen hier, das mit jeder Minute anwuchs, das nach der achtzigsten Stufe zum donnernden Tosen wurde …

Wir gingen überaus vorsichtig. Harald prüfte jede Stufe durch Betasten, bevor er den Fuß hinaufsetzte …

Zuweilen ließ er sich bei dieser Prüfung so reichlich Zeit, daß ich schon ungeduldig wurde. Ich hielt es für ausgeschlossen, daß hier etwa plötzlich ein paar Stufen nach unten sanken und uns in die Tiefe schickten …

Noch sechzig Stufen …

Ich hatte mitgezählt …

Hundertvierzig im ganzen …

Und dann ein horizontaler Gang – eng, niedrig – sich verengernd noch wie ein Schalltrichter zum Mundstück hin …

Aus diesem Steintrichter kam das Getöse stürzender Wassermassen …

Wer sich hier durch Worte hätte verständigen wollen, würde den Versuch bald aufgegeben haben …

Harald winkte mir zu – eine Geste, die zur höchsten Vorsicht mahnen sollte …

Dann weiter … tief gebückt … Und jetzt … vor uns jenseits des Ausgangsloches im Lichte der Taschenlampen eine gläserne flimmernde Wand …

Nein – ein Wasserfall … stürzende Wasser, die drei Meter tiefer in Gischt zerstäubten …

Gischt flog bis zu uns empor …

Naß war das Gestein ringsum …

Und … Harst schob sich langsam noch mehr nach vorn …

Der Boden war sicher … Auch ich beleuchtete den Fels … Auch ich betastete ihn …

Nun konnten wir die Köpfe über den Abgrund schieben, konnten hinabschaun, konnten emporschaun, sahen, daß die Wassermassen dort oben scheinbar aus dem Nichts hervorkamen … Ein Wasserfall von vielleicht zwanzig Meter Breite senkrecht herabstürzend in unbekannte Tiefen, auf unbekannte Felszacken …

Ein überwältigendes Bild … Gerade deshalb, weil wir diese gläserne glitzernde Wand mit ausgestreckten Händen hätten berühren können …

Überwältigend …

Überwältigend auch die ungeheure Gemeinheit und Grausamkeit dieser Todesfalle …

Der scheinbar so sichere Boden sinkt plötzlich … kippt nach vorn …

Ich schreie auf …

Meine Hand greift ins Leere …

Harsts Lampe erlischt …

Dunkelheit …

Ich falle … falle …

In die Strudel dort unten … in den Abgrund, wo die Wasser toben …

 

4. Kapitel.

Wie Harst arbeitet …

Ich falle …

Aber ein jäher Ruck reißt mich wieder nach oben …

Eine Stimme flüstert, während Harsts Lippen meine Ohrmuscheln pressen, um das Donnern des Falles auszuschalten:

„Verhalte Dich ganz still … Strecke die linke Hand aus – seitwärts … Du wirst die Steinwand fühlen … Taste umher … Es sind dort Eisenhaken eingelassen …“

Und in dieser Finsternis, die kaum dunkler sein kann, erwische ich mit der Linken wirklich einen dicken großen Eisenhaken …

Ich brülle: „Ich habe ihn!!“ – Dann fällt mir ein, daß hier ein Elefant seine meilenweit hörbaren Trompetentöne hinausschmettern könnte und doch nichts gegen den Lärm der Wassermassen ausrichten würde …

Aber ich spüre nun eine Berührung an meinem Gesicht.

Ich ahne: Harst wünscht, daß ich ihm ins Ohr schreie, ob ich Erfolg gehabt und den Haken gefunden habe …!

Es geschieht …

Und er auf dieselbe Weise:

„Wickele Deinen Turban auf … Der Stoff hält … Knote das eine Ende um den Haken … Ich halte mich mit der Linken an ebensolchem Haken …“

Und – – mit der Rechten hatte er mich gepackt – hinten am Kragen meines Kittels … Ich hing wie im Schraubstock …

Und – – all das im Dunkeln …

Umgeben von dem nervenaufpeitschenden Getöse …

All das von Harsts Seite mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, die mir gleichfalls Ruhe gab …

Ich tat, wie er es angeordnet hatte. Mein aus einem vier Meter langen hellen Leinenstoff gewickelter Turban wurde unsere endgültige Rettung. Ich knotete das eine Ende an den Haken …

Verständigte Harst, daß es geschehen …

Und er befahl, daß ich an diesem Ersatztau nun mich festhalten sollte, bis er die Fortsetzung des durch die eingelassenen Haken angedeuteten Weges gefunden hätte.

Gut – – ich hing an der langen Binde … Ich hing in der Luft, berührte selbst mit den Füßen keinerlei Gestein.

Ich bin überzeugt: hätten Harald und ich all die Dinge bei klarer Beleuchtung über dem tosenden Abgrund ausführen sollen, wir hätten’s dann nie zustande gebracht! Unsere Nerven würden angesichts der grauenhaften Gefahr gestreikt haben … –

Ich hing frei in der Luft …

Drei – vielleicht vier Minuten …

Schwitzte … löste mich förmlich in Schweiß auf … Dabei war’s hier über dem Abgrund inmitten des Sprühregens der Wassermassen angenehm kühl …

Dann endlich – endlich ein Lebenszeichen von Harald …

Eine Hand glitt über meinen kahlen Schädel … glitt tiefer … bis zum Kittelkragen …

Eiserne Muskeln zogen mich empor …

Unwillkürlich bewegte ich die Hände … fand einen Halt – – einen eisernen Stab – dergleichen …

Und lag jetzt in einer Aushöhlung der Felswand – – neben Harald, fühlte ihn neben mir …

Plötzlich ein Lichtstrahl: seine Taschenlampe …

Ich sah ihn, sah, daß die Aushöhlung sich als immer breiter werdender Felsengang fortsetzte.

Harst gab mir die Taschenlampe, legte sich flach nieder und beugte sich hinab, knotete mein Turbantuch los und reichte es mir, erhob sich, winkte und schritt den Felsengang empor, der sanft anstieg und schließlich in einer Grabkammer der sechsten Terrasse des Höhlenfriedhofs endete.

Wir hatten bisher kein Wort gesprochen … Wir verließen ebenso stumm die Grabkammer, suchten uns hinauszufinden aus diesem Labyrinth …

Zehn Minuten …

Dann vor uns Tageslicht … Sonne … die sechste Terrasse …

Harst macht halt, gibt mir die Hand …

„Gratulieren wir uns, mein Alter …! Das war etwas atembeklemmend, dieses Wasserfall-Abenteuer …“

Er lächelt schwach …

Und jetzt erst merke ich, daß mir wahrhaftig die Beine zittern …

„Setzen wir uns … Überlegen wir …“ – Und Harald deutet in einen Seitengang …

Hier ruhen wir uns aus.

Harsts Zigaretten sind trocken geblieben. Wir rauchen geradezu mit Andacht …

Unsere Nerven werden wieder vernünftig …

„Die Sache war also folgendermaßen,“ beginnt Harald und streckt die Beine bequem aus … „Daß etwas dort über dem Abgrund geschehen würde, erkannte ich sehr einfach daraus, daß Mawesa verschwunden war … Er war stets vor uns gewesen … In der Nässe des Gangendes, dicht am Abgrund, sah ich zwei verschwommene Flecke: Fußspuren! Sah auch links oben einen ganz unauffälligen Haken in der Felswand … Wußte: dort hinauf ist Mawesa entschlüpft …! – Den Haken merkte ich mir … Wartete … Und als ich plötzlich unter mir eine Bewegung des Steinbodens spürte, schnellte ich hoch, bekam den Haken zu packen, ließ die ausgeschaltete Taschenlampe in den offenen Hemdschlitz gleiten … und erwischte auch Dich gerade noch im letzten Moment. Alles andere ist Dir bekannt. Mawesa hält uns jetzt fraglos für erledigt. Und – das ist das Beste bei alledem. Wir sind tot – mausetot! Wir werden hier warten, bis nachmittags die Höhlengräber hier von zahlreicheren Personen besucht werden … Dann verschwinden wir einzeln … Wir treffen uns in Robbsams Bungalow … Aber Vorsicht … Keine Seele außer Robbsam darf ahnen, daß wir noch am Leben sind …“ – –

Stunden später …

In Detektivinspektor Robbsams weißem Bungalow sitzen zwei blondbärtige Europäer, die sich soeben erst aus zwei braunen Hindus in gebildete Globetrotter in des Inspektors Schlafzimmer zurückverwandelt haben.

Es sind nicht Harst und Schraut. Äußerlich nicht … Blonde Bärte, blonde Perücken und kleine Kniffe der Maskierungskunst geben uns ein völlig verändertes Aussehen.

Wir speisen mit Robbsam im Eßzimmer an gefällig gedecktem Tisch.

Der kleine Inspektor meint:

„Boys, wenn Ihr hier in Haidarabad erscheint, erlebt Ihr auch was! Ich erlebe nie was und wohne nun schon fünfzehn Jahre in der Residenz des Nizam, den Allah erhalten möge, denn er hat mein Einkommen vor acht Tagen anständig erhöht, ohne daß ich zu streiken brauchte …“ –

Harst hat Robbsam alles erzählt – alles! Zuletzt unser Abenteuer vor der gläsernen Wand …

Kein Wunder, daß der Inspektor neidisch ist. Keine Ahnung hat er gehabt, daß der sagenhafte Wasserfall wirklich vorhanden und daß zwei Felsengänge zu ihm hinführen.

Ausgerechnet Harst und Schraut entdecken den Wasserfall! Der Neid ist begreiflich.

Die Unterhaltung dreht sich nun um die Frage, wer Mawesa sein mag.

Nachdem Kapitän Geldern ausgeschieden ist, bleibt doch nur Doktor Geßner übrig …

Und in die Erörterung, wie wir Geßner jetzt fangen könnten, platzt einer der Diener Robbsams mit Professor Doktor Godwellers Visitenkarte hinein.

In Robbsams Arbeitszimmer werden wir Godweller als holländische Kaufleute vorgestellt – als alte Freunde des Inspektors, vor denen er keine Geheimnisse hat.

Der Gelehrte ist eine außerordentlich sympathische Persönlichkeit. Nur jetzt ist er sehr blaß und aufgeregt. Seine Frau ist verschwunden – zusammen mit dem Kinde, dem Knäblein …

Spurlos – seit heute nachmittag ein Uhr …

Wir drei sehen uns an.

Wir wissen: Mawesas Werk!

Nur Robbsam erklärt nun: „Mr. Godweller, unter diesen Umständen werden meine Freunde die Masken lüften … Das ist Harald Harst, und das da Max Schraut, zwei Männer, die Ihnen mancherlei zu sagen haben …“

Godweller strahlt plötzlich. „Mr. Harst – wirklich?! Oh – dann bin ich etwas beruhigt … Sie werden Naida und den kleinen Tom schon finden …“

„Bestimmt!“ nickt Harst zu meiner Überraschung. „Bevor es dunkel ist, dürften Sie Weib und Kind wieder bei sich haben, Mr. Godweller …“

„Selbstvertrauen ist auch eine Tugend,“ brummt Robbsam.

Harald hat es gehört: „Dieses Selbstvertrauen ist in diesem Falle selbstverständlich, lieber Robbsam … Die Sache ist vollkommen klar … Ich habe nur noch einiges zu fragen … – Mr. Godweller, wo lernten Sie Ihre Gattin kennen?“

„Hier – in den Ruinenfeldern von Golkonda. Ich mietete den verfallenen Tempel, in dem ich noch jetzt wohne, von einem alten Hindu, der mit einem tief verschleierten Mädchen dort zusammen hauste … Er übernahm meine Bedienung. Das Mädchen kochte für uns. Es war eine Inderin von so heller Hautfarbe, daß man sie für eine Europäerin hätte halten können. Ich verliebte mich in ihre sanfte Schönheit, und in Madras ließen wir uns dann in aller Stille ehelich verbinden. Sie besaß keinerlei Papiere. Der alte Inder behauptete, Naida sei ein Findelkind.“

„Wie heißt der Inder?“

„Er hieß Sagi Dau … Er ist vor sechs Wochen gestorben … Sein Freund sorgte für seine Beisetzung in dem Höhlenfriedhof von Kantara …“

„Dieser Freund war ein Trödler namens Mawesa – nicht wahr?“

„So ist’s, Mr. Harst …“

„Danke … – Dann etwas anderes … Ihr Söhnchen wurde Ihnen doch vor zwei Wochen geraubt … Weshalb meldeten Sie dies nicht der Polizei?“

Godweller lächelte … „Weil ich genau wußte, daß das Kind in guten Händen war. Naida war damals krank – Malariaanfall. Da kam es mir beinahe gelegen, daß Frau Anna Mansur nun den kleinen Tom hütete … – Wie ich erfuhr, wo Tom geblieben, Mr. Harst? Sehr einfach: ich hatte den Chinesen, der das Kind stahl, von weitem beobachtet … Ich holte ihn erst ein, als er in Mansurs Park verschwand … – Ich könnte Ihnen dies alles noch genauer schildern … Aber … wäre es nicht besser, wenn wir das jetzige Verschwinden Naidas und Toms …“

„Nicht nötig, Mr. Godweller,“ unterbrach Harald den besorgten Ehemann und Vater … „Ich will nur noch Robbsam mit einigen Fragen belästigen … – Also, lieber Robbsam, können Sie mir sagen, ob Mawesa, der Trödler, den ganzen Tag auf der Schwelle seines Ladens hockte und Kauflustige erwartete?“

„Nein – inzwischen habe ich mich über Mawesas Lebenswandel informiert. Jeden Tag um elf Uhr vormittags übernahm der Chinese Tsundsi die Aufsicht über den Laden, und Mawesa ließ sich nicht mehr blicken … Erst am nächsten Morgen tauchte er dann wieder auf …“

„Sehr gut …! Paßt genau!“

„Wozu paßt es?“

„Zu meiner Vermutung … – Mr. Godweller, bitte, erwarten Sie mich und Schraut hier bei Robbsam. In einer Stunde hoffen wir wieder hier zu sein …“

Er stand, verbeugte sich, winkte mir, und wir verließen den Bungalow.

„Wohin?“ fragte ich …

„Zu Mawesa, mein Alter …“

 

5. Kapitel.

„Ich danke Ihnen, Herr Harst …“

Er führte mich in das Basarviertel, aber in die breiteste Straße, bis vor eine Gartenmauer und ein zierliches Gittertor, an dem ein Porzellanschild befestigt war:

Dr. Edward Bargyn,
prakt. Arzt.
7–9.           7–9.

„Er hat jetzt also Sprechstunde,“ meinte Harald. „Er ist der Arzt, der die beiden Mädchen zuerst behandelt hat, der beste Arzt in Haidarabad, wie Mansur betonte.“

„Du willst ihn der Krankheit der Kinder wegen ausfragen?“

„Ja …“ – Und er läutete …

Ein Diener kam und ließ uns ein. Durch einen Vorgarten führte er uns zu einem zierlichen, villenartigen Hause, hinter dem sich noch ein größerer Park hinzog.

„Reicht der Park bis an den alten Mohammedaner-Friedhof?“ fragte Harst den Diener …

Der bestätigte das …

Und Harald murmelte: „Sehr bequem!“

Und ich – fuhr leicht zusammen …

Sollte etwa Bargyn …

Da betraten wir schon die Vorhalle, die als Wartezimmer eingerichtet war.

„Melde Sahib Bargyn zwei holländische Kollegen,“ befahl Harst dem Inder.

Gleich darauf stand Edward Bargyn uns gegenüber …

Bartlos, hager, Brille, etwas runder Rücken …

Ich – ich schaute nur auf seine Hakennase … Es war … Mawesas Nase.

Harst nannte Namen, die es nicht gab …

„Wir möchten hier in Haidarabad Tropenkrankheiten studieren, Herr Kollege …“

So führte er uns ein …

Bargyn bat uns in sein Sprechzimmer, ließ Erfrischungen bringen, war die Liebenswürdigkeit selbst …

„Wie lange sind Sie bereits hier in Haidarabad, Kollege?“ fragte Harst …

„Vierzehn Jahre …“

„So … so … Und vorher?“

„Ohne festen Wohnsitz …“

„Übrigens haben wir hier gemeinsame Bekannte: das Ehepaar Mansur, Kollege … Mansurs erzählten uns, in wie liebenswürdiger Weise Sie seinerzeit Ihre Grabkammern im Kantara-Berge, die Sie sich hatten herstellen lassen, zur Beisetzung der beiden Kinder an Mansurs abtraten, damit die Mädchen sofort dorthin geschafft werden konnten …“

„Oh – das ist doch ganz ohne Bedeutung,“ meinte Bargyn leicht verlegen …

„So?! Ohne Bedeutung?! Sie irren … – Dürfte ich fragen, wie viel Sie damals dem verbummelten indischen Arzt Tagaro zahlten, damit er den Mädchen die schweren Betäubungsmittel einflößte und nachher die Totenscheine ausstellte?“

Edward Bargyn war fahl geworden …

Seine Blicke starrten das Ding an, das Harst in der Hand hielt: die Clementpistole!

„Doktor Geßner,“ fuhr Harst fort, „die Geschichte ist nun zu Ende …! – Schraut, dort ist das Telephon … Rufe Robbsam, Godweller und ein Dutzend Beamte her … – Sitzen Sie still, Geßner! Ich bin Harald Harst, den Sie im Kantara-Berge umbringen wollten …“

Und ich, Max Schraut, telephonierte …

Setzte mich dann wieder …

Geßner lief der kalte Schweiß über die Stirn …

„Sie haben hier Mawesa recht gut gespielt,“ begann Harald wieder. „Nur die Wachspuppe war eine Dummheit … Woran starb Fatima Mansur?“

„An Tuberkulose …“

„Nehmen wir an, es stimmt … – Wo befinden sich Frau Professor Godweller und der kleine Tom?“

Doktor Geßner keuchte hervor:

„Suchen Sie sie, Herr Harst! Suchen Sie nur …! Viel Glück dazu!“

„Bitte – nicht diesen Ton, Geßner … Sie haben Tsundsi ermordet … Sie werden gehängt werden … Sie haben wahrscheinlich auch den Arzt Tagaro ersäuft, Ihren Mitwisser … Und uns wollten Sie in den Abgrund stürzen … – Ich will nun nicht, daß Sie als Europäer hier vor Gericht kommen … Ich will Ihnen gestatten, dort an das Schränkchen zu gehen, das doch sicherlich einige … scharfe Medikamente enthält … Sie verstehen mich … – Wo ist Frau Godweller, wo das Kind?“

Geßner holte tief Atem …

„Ich … ich danke Ihnen, Herr Harst … Die Frau und das Kind sind in einem Keller einer Ruine nordwestlich des Tempels, in dem Godweller wohnt, eingesperrt, aber wohlauf … Mein Ehrenwort …“

„Ich glaube Ihnen … – Noch etwas … Woher stammen die alten goldenen Tempelgeräte, die in dem Geheimgelaß des Trödlerhauses aufgestapelt sind?“

„Aus dem Kantara-Berge, aus dem einen Zugang zum Wasserfall …“

„Sie müssen Anna Geldern sehr geliebt haben, Herr Geßner … Ihr Haß ist nur durch ein Übermaß an Liebe zu erklären …“

„Ja – eine Liebe, die mich nun mitten aus nützlichem Schaffen als angesehener Arzt in … das Grab scheucht … Trotzdem: ich danke Ihnen, Herr Harst …“ –

Robbsam fand nur noch den durch Gift in wenigen Sekunden verschiedenen falschen Doktor Bargyn vor … – –

Wir fuhren mit Godweller nach den Ruinen von Golkonda hinaus …

So lernten wir nun auch Naida und den kleinen Tom kennen …

Und wir alle begaben uns zur Stadt zurück zu Mansurs.

Ich schreibe keine Familienromane. Die Szene zwischen Eltern, Tochter und Enkelkind kann sich jeder Leser unschwer selbst ausmalen … –

Fatima Mansur ruht nun in der Grabkammer im Kantara-Berge an Stelle der beiden Puppen, die Geßners teuflischer Haß dort niedergelegt hatte …

Ruhe sanft, kleine Fatima …

Du gabst meinem Freunde Gelegenheit, Menschen glücklich zu machen, die Dir die Nächsten waren … – –

Und wir beide, Harst und ich, wir ruhelosen Globetrotter, sausten auf rollenden Eisenbahnrädern dem Lande des ewigen Schweigens zu …

Wir hatten eine neue Aufgabe gefunden, anders als diese hier, die ich mit den Worten schließe, die einem Zolaschen[5] Roman entnommen sind:

„Haß und Liebe …?! Wo ist die Grenze zwischen beiden, wenn beides sich um ein Weib dreht?! – Wo ein Weib im Spiel, wird Sanftmut zu Roheit und Brutalität zu Madonnentum … Ein Weib verdreht alle Begriffe …“

 

Nächster Band:

Das Gestade der Vergessenheit.

 

 

Verlagswerbung:

Gelbsternbücher

 

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19:
20:

Die Lahore-Vase.
Der hüpfende Teufel.
Der Tempel der Liebe.
Das Haus am Mühlengraben.
Der Mutter Name.
Komm an mein Herz.
Eine Geldheirat.
Die Brettldiva.
Rittergut Tressin.
Ich liebe Dich.
Das Gift des Vergessens.
Im Schatten der Schuld.
Um Leben und Tod.
Der Universal-Erbe.
Die Stimme des Blutes.
Das Haus des Hasses.
Der grüne Schlüssel.
Der Mann im Sessel.
Der Fall Ahrweiler.
Die blaue Königin.

Preis pro Band: 1M., ab Band 17: 50 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. Bühnenfigur, weibliche Form von Pierrot, französische Übersetzung des Namens Pedrolino, deutsch „Peterchen“ oder „Peterle“. Siehe auch Wikipedia: Pierrot.
  2. In der Vorlage steht: „nach“.
  3. Nördlicher Nebenfluß der Krishna. Siehe auch Wikipedia: Musi.
  4. In der Vorlage steht: „Nun es mußte jetzt …“ – Der Satz ergibt so keinen Sinn. Geändert auf: „Nun mußten sie jetzt …“.
  5. Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840–1902) war ein franz. Schriftsteller, Maler und Journalist. Siehe auch Wikipedia: Émile Zola.