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Das Gestade der Vergessenheit

 

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 140

 

Das Gestade der Vergessenheit

 

Erzählt von

Max Schraut

(Walther Kabel)

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Das Hundehalsband.

Am Nordrande des indischen Kaiserreichs, des Märchenlandes Indien, liegt der Staat Nepal, das Einfallstor für das geheimnisvolle Tibet.

In der Hauptstadt Catmandu trafen eines Abends zwei Europäer in Begleitung von drei nepalesischen Dienern zu Pferde ein und fanden bei einem Verwandten eines der Diener ein Unterkommen, weil sie angeblich eine Abneigung gegen Hotels und öffentliche Gasthäuser hatten.

Der gastfreundliche Nepalese wies den beiden blondbärtigen holländischen Kaufleuten das beste Zimmer im Erdgeschoß seines bescheidenen Hauses an und bewirtete sie auf’s beste, zumal sie für mehrere Tage im voraus bezahlten.

Am Morgen aber fand der Nepalese vor dem einen Fenster des Zimmers eine Blutlache und die blutbefleckte Reisemütze eines der Europäer. Er weckte sofort die Diener der Fremden, und gemeinsam drang man durch das Fenster in das von innen versperrte Gemach ein.

Die Holländer waren verschwunden. Blutspuren und andere Anzeichen, besonders die beiden gewaltsam erbrochenen und ausgeplünderten Koffer ließen ein Verbrechen vermuten.

Man rief die Polizei herbei, die denn auch mit dem englischen Polizeidirektor Thomas Longerpeek an der Spitze alles nur irgend Erdenkliche tat, um die Leichen der beiden Holländer – Longerpeek rechnete bestimmt mit einem Doppelmorde – zu finden.

Die drei Diener der Europäer konnten nicht einmal deren Namen mit Sicherheit angeben. Sie hatten die beiden Herren in einem Dorfe an der indischen Grenze getroffen und waren dort als Diener gemietet worden. Die Namen – so sagten sie aus – hätten wie van Haarten und Schrooten geklungen.

Jedenfalls vergingen vier Tage, ohne daß dieser Kriminalfall irgendwie aufgeklärt worden wäre.

Da meldete sich am fünften Tage bei dem Polizeidirektor ein buddhistischer Mönch, der im Nordosten der Hauptstadt in einem kleinen alten Tempel hauste.

Dieser fromme Mann, der nebenbei noch ein paar Bergponys besaß, die er zum Transport der Früchte seines großen Gartens nach Catmandu benutzte, erstattete Anzeige gegen zwei unbekannte Nepalesen, die ihm in derselben Nacht, als die Holländer ermordet worden waren, drei seiner Pferdchen geraubt, bei der eiligen Flucht aber eine Brieftasche verloren hatten, in der sich lediglich fünfundsiebzig englische Pfund befanden – sonst nichts.

Da der Mönch von dem Verschwinden der Holländer gehört hatte, vermutete er, daß die beiden Pferdediebe vielleicht die gesuchten Übeltäter seien, weil diese prall gefüllte Säcke sich auf den Rücken gebunden hatten, in denen sie womöglich den Inhalt der geplünderten Koffer untergebracht hatten.

Mr. Thomas Longerpeek nahm diese neue Spur mit Feuereifer auf und fuhr sofort in seinem Dienstauto mit dem Mönch und einigen Beamten nach dem eine Meile entfernten Tempel hinaus.

Der fromme Alte hatte die Brieftasche, die für ihn geradezu Reichtümer enthielt, in dem kleinen Heiligtum sorgfältig versteckt und zeigte sie nun dem Polizeidirektor, der sie nun mit Detektivaugen einer sehr genauen Musterung unterzog und dabei feststellte, daß unter dem Seidenfutter der im übrigen recht eleganten Tasche ein Zettel mit einer Aufschrift in indischen Buchstaben steckte:

„Fünfundsiebzig englische Pfund als Bezahlung für drei Pferde.“

Eine Unterschrift fehlte … –

Mr. Thomas Longerpeek war jetzt fest überzeugt, daß die beiden Pferdediebe auch die Mörder der Holländer seien und daß dieses Geld eben aus der Beute stammte, die die Nepalesen durch ihre Untat sich verschafft hatten.

* * *

Wenn ich diese Einleitung zu unserem Abenteuer an den Gestaden der Vergessenheit in anderer Form als sonst gebracht habe, so geschah es nur, um dem Leser von vornherein klar zu machen, welche Vorsichtsmaßregeln wir anwandten, um jede Fährte zu verwischen und um ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, die beiden Holländer könnten vielleicht die deutschen Detektive Harst und Schraut sein.

Jedenfalls: wir waren es! Wir hatten sehr triftige Gründe gehabt, diese Komödie zu inszenieren, denn die beiden Holländer sollten lieber für tot gelten und Mr. Thomas Longerpeek einige Aufregungen bereiten, als daß Harst und Schraut denen zum Opfer fielen, die am sogenannten Godwira-See in den Himalaja-Vorbergen abscheuliche Verbrechen begangen hatten und zusammen mit ihrem Anhang nichts unterlassen würden, sich der strafenden Gerechtigkeit zu entziehen.

Also wir beide lagerten an jenem Tage, als Longerpeek mit seinen vier Beamten durch den jähen Temperatursturz zur Umkehr gezwungen wurde, etwa zweihundert Meter oberhalb des Tales, wo der Polizeidirektor einsehen mußte, daß er für einen Marsch in die Eis- und Schneewüsten doch nicht genügend ausgerüstet sei.

Wir begaben uns wieder in die flache Grotte hinein, wo wir unsere drei Ponys und das Gepäck vorläufig untergebracht hatten.

Harst hatte schon vorher bestimmt, daß die Tiere hier bleiben sollten, während wir zu Fuß den Rest des Weges zum See zurücklegen wollten.

Wir waren überzeugt, daß wir bisher von denen, auf die wir es abgesehen hatten, nicht bemerkt worden sein konnten. Hatten wir es doch wahrlich an Vorsichtsmaßregeln nicht fehlen lassen.

Wir packten nun die große geölte Zeltbahn aus, die wir schon in Indien nebst anderen Dingen für dieses Hochgebirgsabenteuer besorgt hatten.

Diese Leinwand spannten wir vor den Eingang der Grotte, um den eisigen Wind abzuhalten. – Es war nun fünf Uhr nachmittags. Wir saßen in der kalten Grotte, in unsere Lederjacken gehüllt, auf dem Kopfe nepalesische Schaffellmützen und warteten darauf, daß der Spirituskocher uns eine warme Mahlzeit liefere.

Behaglich war dieser Aufenthalt wirklich nicht. Draußen heulte der Sturm und jagte die Leinwand klatschend hin und her. Zuweilen schneite es. Dann trieb der Wind die Schneeflocken bis in unsere kleine Höhle hinein.

Hinter uns im tiefsten Winkel stampften und schnoben die drei Ponys. Die Pferdchen hatten rasch mit uns Freundschaft geschlossen. Wir behandelten sie gut, was sie so gar nicht gewöhnt waren, denn die Nepalesen sind alles andere als tierlieb.

Harald rauchte und rührte behaglich im Kochtopf. Ich saß da und grübelte …

Wer konnte wissen, was bei diesem Abenteuer herauskommen würde?! Alles, was diesen Fall „Claire Margall“ betraf, war ja noch so sehr dunkel und ungeklärt.

„Fertig!“ meinte Harst und füllte die Aluminiumteller …

Dann horchte er hinaus auf das Toben des Sturmes …

Und gerade, als er mir meinen Teller reichte, erklang draußen ein heiseres Bellen, dem ein klägliches Heulen folgte …

„Ein Hund!!“

Und Harald sprang empor und kroch an der Seite zwischen Leinwand und Fels ins Freie …

Ich dicht hinter ihm …

Draußen war nicht die Hand vor Augen zu sehen …

Ganze Schneewolken fegten über die wilde Berglandschaft hinweg …

Frau Holle schüttelte ihre Betten denn doch zu eifrig …

Und da – wieder das kurze Bellen und Heulen …

Harst eilte vorwärts über das schmale Plateau … Entschwand mir … Kehrte gleich darauf mit einem langhaarigen Hunde von der Größe eines deutschen Wolfspitzes zurück … In den Armen trug er das leise stöhnende Tier … Und in der Grotte sahen wir dann beim Lichte der Karbidlaterne, daß der Hund am linken Hinterschenkel eine Schußwunde und außerdem noch eine Kopfverletzung hatte, beide jedoch ungefährlich und leicht zu verbinden, was sich das Tier auch geduldig gefallen ließ. –

Woher kam nun dieser Hund? Wer hatte ihn zu töten versucht? Wer war sein Herr?

Und Harald schnallte ihm nun das breite Lederhalsband ab und nahm es genauer in Augenschein.

An dem Leder waren zwei Messingplättchen durch Niete befestigt. Auf dem einen Schildchen konnte man „Douglas“ entziffern, auf dem andern „H. R. Lewis“. Douglas war zweifellos der Name des Tieres, und H. R. Lewis sein Herr und Besitzer.

Harst meinte jetzt zu mir, indem er das Halsband beiseite legte:

„Claire Margall hat in ihrer Depesche an uns nichts von einem Hunde erwähnt, ebensowenig den Namen Lewis … Vielleicht hat Douglas mit diesen Leuten gar nichts zu tun … Es ist zwar kein nepalesischer Hund … Immerhin kann er einem Engländer gehören, der hier in Nepal wohnt … Lewis klingt englisch und amerikanisch. Und Douglas erinnert an Schottland und …“

… Ein zweites ereignete sich da …

Draußen ertönte ein gellender Pfiff …

Und auf diesen Pfiff hin schnellte Douglas von der Wolldecke zu Haralds Füßen hoch und … machte sich aus dem Staube …

Wir kehrten nach längerem Suchen in die Grotte zurück und wärmten auf’s neue unser inzwischen kalt gewordenes Abendbrot. Harst spielte den großen Schweiger. Das Hundeintermezzo ging ihm durch den Kopf …

 

2. Kapitel.

Was Lewis zu sagen weiß …

In Haidarabad, der gartenumgebenen Residenz des Nizam von Haidarabad, hatte uns im Hotel d’Angleterre Claire Margalls Depesche erreicht, und zwar gerade an dem Tage, als die Wachspuppe des Trödlers feierlich in den Höhlengräbern beigesetzt worden war … Der Leser wird sich auf die Wachspuppe noch besinnen …

Die chiffrierte Depesche lautete in deutscher Übersetzung:

Catmandu, Nepal,

14. Juni 1924.

Harald Harst, Deutschland.

Im Vertrauen auf Ihre bekannte Findigkeit habe ich für den Text der Depesche eine einfache Chiffreschrift gewählt, die Sie mühelos bewältigen werden. – Heute vor einem Jahr verließ mein Verlobter, der Ingenieur Colin Roß, Neuyork[1], zusammen mit zwei anderen Mineningenieuren, die in Nepal am Godwira-See im Auftrage einer Aktiengesellschaft nach Edelmetallen schürfen sollten. Zwei Monate später trafen Colin und seine Begleiter in Catmandu ein, mieteten Arbeiter und Träger und brachen nach dem Godwira auf. Colins letzter Brief an mich war vom 18. September datiert und in einem Dorfe am Rande der Vorberge des Himalaja einem Boten übergeben worden. Seitdem hat niemand mehr etwas von der achtzehn Köpfe starken Expedition gehört.

Abermals vier Monate später folgte ich, Claire Margall, bis dahin Korrespondentin bei einer Neuyorker Exportfirma, meinem verschwundenen Verlobten nach Nepal, ausgestattet mit recht knappem Reisegeld, aber voll Vertrauen auf meine körperliche und geistige Ausdauer.

Ich habe nun hier in Nepal und am Godwira-See nichts erreicht, habe nur festgestellt, daß ich von Spionen umgeben bin und daß man mir auf jede erdenkliche Art nach dem Leben trachtet. Furcht kenne ich nicht. Ich habe hier Freundschaft mit einem älteren Nepalesen geschlossen, der mich auch jetzt zum zweiten Male nach dem See begleiten will.

Honorar kann ich Ihnen nicht geben, Mr. Harst. Ich bin arm. Aber wenn Sie auf das Urteil einer praktischen amerikanischen Miß etwas geben: hier liegen fraglos Geheimnisse vor, die Ihrer Detektivarbeit würdig sind. – Ich warne Sie im übrigen, Mr. Harst, falls Sie wirklich die lange Reise hierher antreten sollten. Schon in den indischen Grenzdörfern stecken Spione, die mir seitdem kaum von den Fersen gewichen sind. Es muß sich hier um ganz große Dinge handeln. Vielleicht um … – Doch nein, ich will mich nicht in Phantasien ergehen. Nun nochmals: die Schurken, die meinen Verlobten und all die anderen beseitigt haben, verfügen über ungeheure Hilfsmittel! – Ich grüße Sie … – Claire Margall.

Dieses Telegramm hatte Harald durch seine Mutter nachgeschickt erhalten und dann auch in kurzem entziffert.

Er fand diese Depesche für die Absenderin außerordentlich kennzeichnend …

„Ein Mädchen, das weiß, was es will …“ hatte er damals gesagt.

Und abends saßen wir im Zuge, der gen Norden dampfte.

Und jetzt saßen wir in der eisigen Grotte und löffelten unsern dicken Brei aus …

Jetzt meinte Harald, indem er den Teekessel auf den Spirituskocher setzte:

„Nach Dunkelwerden brechen wir auf … Wir nehmen nur das Nötigste mit. In drei Stunden können wir am See sein. Dort suchen wir einen neuen Lagerplatz, holen dann die Ponys und das übrige Gepäck und bleiben in dem neuen Versteck, bis wir irgend etwas bemerken.“

Der Tee war fertig … Wir füllten die Thermosflaschen, packten zusammen, was wir sofort mitnehmen wollten, und fütterten nochmals die drei Ponys.

Inzwischen war es draußen Nacht geworden. Der Sturm hatte etwas nachgelassen. Es krümelte ganz fein mit Schnee.

Wir brachen auf. Wir hatten uns zur Vorsicht aneinandergeseilt – mit acht Meter Abstand. Wir besaßen jeder einen fünf Meter langen Bergstock aus Bambus.

Das Schneelicht genügte vollauf, um sich orientieren zu können. Der Marsch gestaltete sich weit gefahrloser, als ich zunächst gefürchtet. Wir kamen rasch vorwärts.

Schon nach zwei Stunden standen wir zwischen Felsmassen hart am Ufer des Godwira-Sees, dessen ovale Form bei vielleicht fünfhundert Metern Länge inmitten der weißen Umgebung deutlich hervortrat.

Der See war trotz der Kälte nicht zugefroren.

„Heiße Quellen,“ sagte Harst kurz …

Jetzt hatte das Schneetreiben völlig aufgehört …

Wir standen gedeckt, nahmen unsere Ferngläser vor und musterten die Seeufer.

Drüben am Nordufer ragten Felsmassen in die Sternenpracht hinein – ungeheure Blöcke, kleine Berge …

Und da sagte Harst abermals:

„Das Gestade der Vergessenheit …!“

Ich wußte, was er meinte …

Es gibt ein sehr bekanntes Bild, das fälschlich stets Böcklin[2] zugeschrieben wird: „Das Gestade der Vergessenheit …“

Die düstere Melancholie dieses Gemäldes fand ich hier in der Natur wieder …

Und zwar mit einer auffallenden Ähnlichkeit der Einzelheiten.

Wie wir noch so dastanden und schauten und spähten, bückte sich Harst mit einem Male und hob einen blanken runden Gegenstand auf: eine Gewehrpatrone aus Messing, eine abgeschossene Patrone!

„Vielleicht galt die Kugel dieser Hülse dem Hunde Douglas … dem Hunde des Kollegen H. R. Lewis oder Hektor Richard Lewis, Detektiv aus Neuyork, der einen leidlich bekannten Namen hat …“

Ich blickte Harst scharf ins Gesicht. „Wie kommst Du auf einen Detektiv?!“

„Nun, die Aktiengesellschaft wird doch nach ihren Ingenieuren suchen lassen …“

„Allerdings … – Aber – weshalb zeigte sich Lewis uns nicht?!“

„Weil er uns für Nepalesen hielt, weil er das Polizeiaufgebot gesehen haben wird und weil er uns somit für flüchtige Verbrecher hält … – Komm’ jetzt … Am Nordufer, am Gestade der Vergessenheit, wird es wohl ein Versteck geben …“

Und wir pirschten uns dorthin, benutzten jede Deckung, fanden inmitten der Felskolosse auch wirklich eine schwer zugängliche schmale und zehn Meter lange Höhle, die allerlei Vorteile bot.

Harald lebte auf …

„Famos ist dieser Platz … Aussicht nach dem See, ferner angenehm warm, schließlich leicht zu verrammeln … – Holen wir die Ponys …“ –

Auch der Rückweg ging glatt vonstatten. Weniger glatt verlief das Wiedersehen mit unseren Pferdchen …

Als wir die Zeltbahn lüfteten und in die Grotte schlüpften, kam urplötzlich aus der Dunkelheit ein greller Lichtstreifen hervorgeschossen …

„Hände hoch …!“ rief jemand in unverfälschtem Yankeenglisch …

Worauf Harst lachte und erwiderte:

„Mr. Lewis, bemühen Sie sich nicht … Wir sind Harst und Schraut …!“

Lewis trat rasch hinter den Pferden vor …

„Beim General Jackson – das nenne ich eine Überraschung …!!“

Und er drückte unsere Hände, während Douglas uns freundlich umwedelte …

„Wir scheinen auf derselben Fährte zu liegen,“ meinte Harald vergnügt. „Nun erzählen Sie mal, Lewis: was ist am Godwira-See eigentlich los?“

„Oh – der Teufel ist los, Mr. Harst …! Teufel, von denen man nie etwas zu sehen bekommt, die nur heimtückisch Schüsse abfeuern und im übrigen nicht einmal Spuren hinterlassen …“

„Sind Sie allein hier?“

„Bewahre …! Habe mich mit Miß Claire Margall zusammengetan … Außerdem ist noch der Kollege Halport mit von der Partie …“

„Und wo stecken die?“

„Eine Meile näher dem See zu – auch in solch einer Grotte … – Wenn’s Ihnen recht ist, brechen wir sofort auf … Die Teufel dort am See hatten mir heute meinen Douglas niederknallen wollen und ihm auch einen Stein gegen den Kopf geschleudert … Das arme Tier raste halb betäubt von dannen … – Ich danke Ihnen, daß Sie ihn verbunden haben … Ich wollte mich Ihnen nicht zeigen, weil ich Sie beide für Nepalesen hielt, die etwas auf dem Kerbholz haben …“

„Gern geschehen … – Hat denn der Hund nie das Versteck dieser Leute dort am See auffinden können?“

„Das ist’s ja eben, Mr. Harst …! Das ist’s ja eben …! Es gibt dort keine Fährten …! Die Schufte fliegen rein durch die Luft …!“

„Na, na …! Wir werden sie abfassen … – Also dann vorwärts …! Ich bin sehr gespannt auf Miß Claire Margall …“ –

 

3. Kapitel.

Der Schalltrichter.

Das geruhsame Tempo des bisherigen Verlaufes dieses Abenteuers, das meiner Bequemlichkeit recht gut bekam, sollte jetzt jedoch mit einem Schlage sich wandeln …

Der Marsch zu unserem neuen Quartier verlief allerdings ohne jede Störung und bot uns beim Lichte des inzwischen aufgegangenen Vollmondes wahrhaft entzückende Winterbilder dieser großartigen Bergeinsamkeit.[3]

Nach knapp einunddreiviertel Stunden hatten wir die Höhle am Gestade der Vergessenheit erreicht. Jetzt im Mondenglanz wirkte der stille ovale Bergsee noch bezaubernder. Diese grandiose Hochgebirgseinsamkeit weckte geradezu allerlei Gedanken an ein höheres Wesen, das dort irgendwo im Weltall über den Sternen thronen mußte.

Eine Weile hielten wir zwischen den kolossalen Felsblöcken und bewunderten das Landschaftsbild. Selbst Harald schien ergriffen …

Schien …

Man täuscht sich leicht, wenn man wie ich einen kleinen Schuß Poetenblut in den Adern hat …

Denn ganz unvermittelt bewies er mir, daß seine gespannte Aufmerksamkeit anderen Dingen galt.

„Beobachte mal die Silberbahn des Mondes auf dem Wasser,“ erwiderte er in jener geistesabwesenden Art, die bei ihm stets höchste Gedankenkonzentration vermuten läßt.

Ich tat es …

Das Mondlicht verwandelte einen Teil der Wasseroberfläche in ein silbernes Viereck …

Aber außerhalb dieses glänzenden Streifens gewahrte ich nun ebenfalls noch einen hellen Fleck … Es sah so aus, als ob auf dem Grunde des Sees sich eine Lichtquelle befände, die bis nach oben hin das Wasser durchstrahlte. Daneben lagerten leichte Nebelgebilde, die fraglos auf die heißen Quellen zurückzuführen waren.

„Was hältst Du davon?“ fragte Harst leise und stieg aus dem Sattel, nahm sein Fernglas und stellte es auf die betreffende Stelle ein.

Ich folgte seinem Beispiel …

Und gerade als die Linsen des Fernglases mir den hellen Fleck auf der Wasseroberfläche, dessen Lichtstärke nach dem Rande des erleuchteten Kreises beträchtlich schwächer wurde, ganz nahe gebracht hatten, verschwand das seltsame Phänomen mit einem Schlage.

„Merkwürdig!“ flüsterte Harald … Und sah nach der Uhr … „Es ist jetzt genau ein Uhr morgens … Merken wir uns das …“

Dann begannen wir möglichst geräuschlos die Ponys in die schmale Grotte zu schaffen, was nicht ganz einfach war, da der Eingang etwa anderthalb Meter über dem Boden lag. Erst als wir aus Felsstücken eine Art Treppe aufgehäuft hatten, konnten wir die Pferdchen hineinbringen. Die Treppe warfen wir dann wieder auseinander. Inzwischen hatte der Wind neues Gewölk herbeigeführt, das jetzt eine Menge Schnee über diese Eis- und Felswildnis ausstreute und all unsere Fährten handhoch bedeckte.

Die neue Grotte erwies sich als ideale Unterkunft. Sie lag in dem größten der Felskolosse, und ihre Wände waren leicht durchwärmt, der Steinboden sogar an einzelnen Stellen fast heiß.

„Vulkanische Einflüsse – genau wie die heißen Quellen,“ meinte Harald vergnügt. „Unser Thermometer zeigt elf Grad … Dabei hält man es schon aus …“

Unsere drei Ponys schienen gleichsam sehr zufrieden zu sein. Wir hatten sie in einer geräumigen Ausbuchtung des tiefsten Höhlenwinkels untergebracht, wo sie sich sehr bald friedlich und faul niedertaten.

Wir beide richteten uns dicht daneben unsere Lagerstätten her. Harst hatte den Spirituskocher, der mit Hartspiritus benutzt wurde, angezündet und wollte Tee aufbrühen. Ich selbst arbeitete vorn am Eingang, wo eine Menge Geröll umherlag. Es war mehr zeitraubend als schwierig, den Eingang so zu versperren, daß niemand zu uns hereinkonnte, jedenfalls nicht ohne uns durch das Herabpoltern von Steinen rechtzeitig zu warnen.

Ich war nun mit der Barrikade fertig und kehrte zu Harald zurück. Die schmale Höhle beschrieb einen Bogen. Als ich diese Biegung hinter mir hatte, konnte ich unser Quartier überblicken. Da stand die große Karbidlaterne, dort dampfte der Teekessel, dort links lagen unsere treuen Ponys …

Aber … Harald fehlte …

Mit ein paar raschen Schritten war ich neben den Wolldecken, unseren Lagerstätten und Sitzplätzen …

Von Harald nirgends eine Spur …

Was bedeutete das?! Machte er es etwa den Schurken nach, die hier am Godwira-See als unsichtbare Teufel hausten und keinerlei Fährten zurückließen?!

Ich rief leise …

„Hallo – – Harald!“

Und da – – von oben her seine Stimme …

Von oben, von der Höhlendecke, wo eine breite Felsspalte als schwarze Kluft gähnte. In dieser Spalte nun sein Gesicht …

Und seine merkwürdig erregte Stimme dazu, die mir zuraunte:

„Mein Alter, das Gestade der Vergessenheit hat noch andere Geheimnisse …! Dort links kannst Du an den Felszacken emporklettern. Ich reiche Dir dann die Hand und ziehe Dich vollends empor …“

Sehr bald war ich in der Felsspalte, die sich nach oben zu kugelförmig erweiterte und uns beiden übergenug Raum bot …

Kaum hatte ich hier nach ein paar tiefen Atemzügen meine Lungen wieder beruhigt, als ich auch schon irgendwoher merkwürdige Töne vernahm …

„Bitte – stecke den Kopf nur dort in das Felsloch,“ flüsterte Harald … Und er deutete auf eine enge Spalte, die er nun mit der elektrischen Taschenlampe beleuchtete. Die Spalte setzte sich offenbar nach unten zu fort, und kaum hatte ich den Kopf hineingesteckt, als die seltsamen Töne sich zu einem plärrenden Gesang verdichteten, der von einem gleichmäßigen Geklapper begleitet war.

„Gebetmühle – eine buddhistische Gebetmühle,“ sagte Harst hinter mir mit vorsichtig gedämpfter Stimme …

Und ich zog den Kopf zurück …

„Dann ist’s auch Mönchsgesang,“ meinte ich entschieden …

„Allerdings … – Du kennst ja die Gebetmühlen … Auf der Welle der Mühle sind die rätselhaften Glaubensworte: Om mani padne hum angebracht. Der fromme Buddhist dreht die Welle mit einer Schnur, und mit jeder Umdrehung hat er den frommen Spruch zum Heile seiner Seele Buddha zugerufen … Das geht flink und schont die Stimme …“

„Ja – – aber der Gesang?!“

„Nun, Teile des Seeufers sind hohl. In diesen Höhlen hausen Mönche. Den Stimmen nach sind es ein Dutzend. Sie mögen dort einen unterirdischen Tempel besitzen … Wir befanden uns hier oben bereits dicht an der Grenze des heiligen Berglandes Tibet, das noch weit mehr ein Land der Geheimnisse ist als Indien …“

„Hm – und die Leute, die Colin Roß und die siebzehn Mitglieder der Expedition verschwinden ließen?! Hausen diese Schurken hier in voller Eintracht mit den Mönchen?!“

„Es gibt da drei Lösungen, mein Alter. Erstens: die sogenannten unsichtbaren Teufel, wie Kollege Hektor Richard Lewis sie bezeichnet, haben sich mit den Mönchen friedlich geeinigt und leben mit ihnen in den Höhlen, die wir noch nicht kennen …“

„Leben?!“

„Ja – leben und arbeiten …! Es ist doch klar, daß es sich hier wahrscheinlich um Goldfunde handelt. Nepal führt in allen Flüssen Goldkörner. Und Gold sollten Colin Roß und die Ingenieure suchen …“

Es dämmerte jetzt bei mir …

„Dann zweitens …“ fuhr Harald fort, „zweitens: die unsichtbaren Teufel haben die Mönche zu Gefangenen gemacht und bewachen sie dort unten. – Und drittens: die Schurken wissen noch nichts von dieser Mönchskolonie. Was ich jedoch als kaum möglich streichen möchte. Es bleiben also nur Fall eins und zwei übrig, von denen ich persönlich Nummer zwei den Vorzug gebe …“

„Also … Gefangene dieser Banditen!“

„Ja …“

Und er schob nun seinerseits den Kopf in die Felsspalte und horchte …

Ich vernahm den Gesang, nun neben der Spalte stehend, ganz deutlich … Offenbar hatte Harald, unten in unserem Quartier neben dem Spirituskocher sitzend, gleichfalls mit seinen feinen Ohren einzelne Laute des plärrenden Gesanges vernommen und war so veranlaßt worden, hier nach oben zu klettern …

Urplötzlich führte uns da der Schalltrichter der engen Felsspalte aus den unbekannten Tiefen anderes zu …

Der Gesang war verstummt …

Eine überlaute scharfe Männerstimme brüllte drohend abgerissene Worte in nepalesischer Sprache … Und ebenso plötzlich änderte der Mann das Nepalesische in fließendes Englisch …

Manches von dem, was er in seiner Wut hervorschrie, entging uns …

„Wir werden Euch die verdammten Mäuler zu stopfen wissen … Glaubt Ihr, daß wir Lust haben, uns durch Euch verraten zu lassen …?! …“

Und in dieser Tonart ging es weiter …

Jedenfalls: wir wußten nun Bescheid. Wir waren doch beobachtet worden! Der Mann fürchtete, der Gesang könnte durch die Gesteinmassen bis in unser Quartier dringen … Daß es hier einen Schalltrichter, ein Sprachrohr, bis zu uns hinauf geben könnte, ahnte er nicht. –

Es wurde jetzt wieder still …

Die enge Spalte schwieg …

„Gut, wir sind gewarnt,“ meinte Harald. „Trotzdem bleibt unsere Lage höchst ungemütlich … Steigen wir wieder abwärts …“

Unten in unserer Höhle war noch alles in Ordnung. Ich eilte bis zu dem verrammelten Eingang. Die Barrikade war unversehrt. Harald brühte Tee auf. Wir stärkten uns, rauchten und erörterten die Gefangennahme des Kollegen Halport und Claire Margalls … Harald war ein wenig bedrückt …[4]

„Wir kämpfen hier gegen Gespenster,“ meinte er und sog verdrossen an seiner Mirakulum. „Wagen wir uns am Tage ins Freie, knallt man uns nieder. Und nachts – wie sollen wir nachts nach dem Eingang zu dem Höhlengebiet suchen, den nicht einmal Douglas, der Hund, gefunden hat. Es ist eine ganz verwünschte Geschichte, und dieses Gestade der Vergessenheit wird …“

Da brach er jäh ab …

Vom Grotteneingang ein Poltern …

Wir die Pistolen zur Hand …

Wir zum Eingang …

Ein Tierkörper schnellt herein: Douglas!

Und Hektor Richard Lewis’ Stimme:

„Ich bin’s – Lewis!! Ich … ich habe Halport gefunden … Er ist tot – – ermordet …!“

Wir halfen ihm …

Er zitterte, war halb von Sinnen …

Ein Schluck Whisky gab ihm leidlich das innere Gleichgewicht zurück. Matt lag er auf der Wolldecke. Sein hageres, von einem Stoppelbart umrahmtes, typisches amerikanisches Gesicht zeigte eine Verstörtheit ohnegleichen.

Dann berichtete er …

 

4. Kapitel.

Claire Margall.

„Nachdem Sie mich allein gelassen hatten[5], überlegte ich mir, daß ich mir eine andere Unterkunft suchen müßte, da die Schufte ja meinen Lagerplatz kannten. Ihre Anwesenheit hier, Kollegen, hatte mir Mut gemacht und meinen Unternehmungsgeist verdoppelt. Ich wollte nicht hinter Ihnen beiden zurückstehen und mich näher an den See heranwagen. Ich packte unsere Sachen zusammen, stellte aus einem Stück Leinwand eine Art Schleife her und zog so das Gepäck bis zum Südufer des Sees – bis zu dem einzelnen langen Felsen, der von den Randbergen wie ein spitzer Wall bis dicht ans Wasser reicht. Mein braver Douglas machte den Kundschafter und sicherte den Marsch. An jener Stelle des Felsenwalles, wo auch von hier aus die Steintrümmer zu erkennen sein müssen, warnte mich des Hundes Knurren. Es schneite leicht. Ich konnte daher kaum zehn Schritt weit sehen. Douglas heulte dann kurz auf. Das kannte ich: ein Toter! Und banger Ahnung voll schlich ich näher an die Stelle heran, wo Douglas jetzt kläglich winselte … – Da … fand ich denn meinen alten Tim Halport … tot … an einen senkrechten Felsblock gefesselt – aufrecht – – ein nepalesisches Dolchmesser im Herzen – – noch warm die Leiche …

Und wie ich so starr und entsetzt den armen Kollegen anstarrte, dessen Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verzerrt war – vielleicht vor Todesangst! –, da prallte dicht neben mir ein mächtiger Stein auf den Boden … ein zweiter, dritter folgten, und nur meine Geistesgegenwart und zwei Sprünge zur Seite retteten mich vor sicherem Tode … Ich hetzte davon – floh … bis hierher … Ließ das Gepäck liegen … – Eigentlich … eigentlich habe ich wie ein erbärmlicher Feigling gehandelt …“ Und diesen Nachsatz sprach er scheu und schuldbewußt …

Aber Harald streckte ihm die Hand hin …

„Reden Sie keinen Unsinn, Lewis … – Wollten Sie sich zerschmettern lassen?!“

Er war erregt, und in seinen grauen Augen leuchtete jene Tatkraft, die unseren Gegnern noch stets verderblich geworden.

„Dieses Steinbombardement, lieber Lewis, war im übrigen von den Burschen eine ungeheure Dummheit … Jetzt weiß ich, daß dieser gut sieben Meter hohe, spitze Felsenwall, der auch mir schon aufgefallen ist, den Schlüssel der Geheimnisse dieses Bergsees enthält … Dort muß es einen Zugang zu dem unterirdischen Kloster geben …“

„Kloster?!“ rief Lewis …

„Ja – Hohlräume, von deren Ausdehnung wir nichts ahnen …!“ Und er erzählte dem Neuyorker Kollegen nun, wie wir den Gesang der Mönche belauscht hatten – von der wütenden Männerstimme und dann auch von dem Lichtschein, der aus den Tiefen des Sees empordrang.

Hektor Richard Lewis fluchte …

Wirklich – er fluchte …

„Verdammt!! Sollte man’s glauben …! Halport, die Miß und ich spionieren hier nun bereits wochenlang umher und entdecken nichts! Und Sie, Mr. Harst, kommen als Nepalesen verkleidet und finden gleich in der ersten Nacht Dinge heraus, die so abenteuerlich und doch auch so über jeden Zweifel erhaben sind, daß …“

Harald hatte abgewinkt …

„Stopp, lieber Lewis …! Wir haben Glück gehabt, nichts weiter …! Jetzt aber werden Sie beide und Douglas hier unser Quartier bewachen und ich …“

„Nein – wir beide!“ fiel ich ihm ins Wort. „Wir beide werden den Felsblock untersuchen! Niemals lasse ich Dich allein gehen! Niemals!“

„Gut, mein Alter …! Obwohl es höchst unzweckmäßig ist, daß wir beide unsere Haut zu Markte tragen … – Gehen wir …“

Lewis wollte nun gleichfalls mit. Harst blieb fest.

„Sie bewachen unser Quartier … Abgemacht … Wiedersehen …“

Hektor Richard Lewis spielte den Gekränkten … – „Halport steht mir näher als Ihnen, Mr. Harst … Wenn wir Douglas hier einsperren, wird er …“

„Wiedersehen …“

Wir gingen, kletterten ins Freie …

Es schneite wieder … aber nur kurze Zeit … Dann kam der Mond hinter dem schwarzen ziehenden Gewölk hervor … Mit einem Schlage wurde es hell …

Wir hatten über unsere Lederjacken hellgraue lange Wollhemden gestreift … Unsere Gestalten konnten sich so von dem frischgefallenen Schnee kaum merklich abheben.

Harst näherte sich in großem Bogen dem Felsenwall. So vorsichtig wie damals sind wir selten vorwärtsgeschlichen.

Abermals regte sich in mir der Dichter … Abermals spürte ich das Erhabene dieser Gebirgslandschaft … Drüben nach Norden zu stiegen die Berge immer höher an: Stufen zum Gipfel der Welt, zum Gaurisankar, zum Strahlenden, dem nüchterne Wissenschaft jetzt den Namen Everest aufzwingen will …

Harst begann auf allen Vieren zu kriechen …

So näherten wir uns dem einzelnen Felsen neben dem Walle …

Der Mond blieb unverhüllt … Der Schnee glitzerte …

Von einer aufrecht festgebundenen Leiche war nichts zu sehen … nirgends …

„Sie haben sie weggeschafft,“ flüsterte Harald …

Ich hatte die Augen anderswo …

Ich packte Harsts Arm …

„Ein Boot …!!“

Es war so: dort auf dem See glitt ein kleines, mit drei Männern besetztes Boot durch die gleißende Mondbahn …

„Ein Zinkboot …“ meinte Harald atemlos … „Zwei Europäer und ein Nepalese sind darin … Sie kommen hier auf das Südufer zu …“

Wir schmiegten uns ganz tief in den Schnee …

Beobachteten … Sahen die Gesichter ganz deutlich … Blonde Bärte, ungepflegt … Der Nepalese, ein kleiner Kerl im Schafpelz …

Und der sprang nun, als das Boot das Ufer erreicht hatte, auf einen hohen Stein, von da auf den Wall … Hatte zwei Leinen in der Hand … Die Europäer folgten auf demselben Wege … Und mit Hilfe der Leinen rissen sie das Boot zu sich empor, trugen es oben auf der schmalen Spitze des Walles davon, kamen so an uns vorüber, die wir kaum zehn Meter entfernt waren …

Bemerkten uns nicht …

Tauchten plötzlich unter – verschwanden in dem Steinwall …

Harst hatte wieder einmal recht gehabt: der Wall enthielt den Schlüssel der Geheimnisse des Godwira-Sees! –

Nun waren sie uns aus den Augen …

„Sie fühlen sich sehr sicher …“ flüsterte Harald … „Sie nehmen uns beide als Gegner nicht ernst … Weil sie uns fraglos für flüchtige nepalesische Verbrecher halten … Und mit Lewis gedenken sie schon fertig zu werden … – Folgen wir ihnen …“

Er kroch weiter dem Seeufer zu …

Ich glaubte ihn warnen zu müssen …

„Harald, wir sollten lieber nicht so vorschnell handeln …“

Er hatte sich schon aufgerichtet …

Sprang – erreichte die flache Spitze des Steines – sprang zum zweiten Male, erkletterte die Höhe des Walles und … winkte …

„Kehre zu Lewis zurück, mein Alter …!“

Aber – ich dachte nicht daran! Mit verzweifelten Anstrengungen suchte auch ich die Spitze des Steinblockes zu gewinnen … Prallte mit der Brust auf, klammerte mich fest, krabbelte empor …

Ein zweiter ebenso verzweifelter Satz brachte mich in die Reichweite von Haralds Händen …

„Du bist ein Narr, mein Alter!“ sagte er grob und zog mich empor. „Wenn uns beiden nun etwas zustößt, so ist auch Lewis und ebenso Claire Margall geliefert …!“

„Redensarten!“ meinte ich japsend. „Ich will mit von der Partie sein …!“

„Unverbesserlich! – Legen wir jetzt die Schneehemden ab … Her damit, ich schiebe sie in dieses Loch …“

Dann weiter …

Vor uns her liefen die Spuren im Schnee, die Spuren der drei Männer, die hier das leichte Zinkboot geschleppt hatten …

„Nimm Deine Brille gefälligst ab,“ grobste Harst mich an …

„Bitte – in Catmandu sah ich viele Nepalesen mit Hornbrillen …“ – Ich behielt sie auf …

Und dann ein breites Loch in der Krone des Felsenwalles … ein schräger Schacht …

Hinein – – hinab … nach dem See zu …

Wärme schlug uns entgegen … Dunkelheit hüllte uns ein … Wir tasteten uns vorwärts … Viele Biegungen machte der Gang … Wurde breiter … Die Finsternis war vollkommen …

Dann rechter Hand ein ganz schwacher heller Strich – ganz tief am Boden …

„Wasser!“ raunte Harald … „Ein Kanal, der vom Seegrunde hierher führt … Wir befinden uns also erst in Höhe des Wasserspiegels …“

Und … seine Taschenlampe blitzte auf, glitt mit weißem Kegel rasch über diese Ausbuchtung des Ganges hin …

Tatsächlich – dort ein zackiges Loch, wassergefüllt – ein kleiner Teich zu unseren Füßen … Und dicht daneben … eine vollständige Taucherausrüstung, eine Luftpumpe … Zwei große Laternen mit Akkumulatoren: Taucherlaternen!

Die Lampe erlosch …

„Weiter, mein Alter …“

Also – weiter abwärts, wieder in scharfer Biegung – im Dunkeln …

Dann Haralds gedämpfte Stimme:

„Hier teilt sich der Gang … Wählen wir die rechte Abzweigung …“

Schritt für Schritt, tastend, horchend – Schritt für Schritt in völliger Stille …

Bis wiederum der Freund raunte:

„Hier ist eine Holztür … Ich fühle die Eisenbeschläge … Riegel …“

Die Lampe blitzte …

Eine Balkentür, hoch und breit, uralt … Drei Riegel aus Eisen, die in ebenso dicke Eisenkrampen im Gestein eingriffen, mit Blei eingegossen …

„Hm – ob das etwa hier der Eingang zum Tempel ist …?!“ meinte Harald leise. „Wir könnten’s ergründen … Aber sicherer ist, wenn …“

Wir beide prallten leicht zurück …

Da war ein Loch in der Tür, kaum faustgroß … Da kam die Mädchenstimme hervor …

„Wer sind Sie …?! Retten Sie mich! Sie sind doch keine Nepalesen …!“

So lernten wir Claire Margall kennen …

So unerwartet …

Und Harst erwiderte:

„Miß Margall? – Wir sind Harst und Schraut … Wir öffnen …“

Und er schob die Riegel zurück …

Vor uns stand die schlanke, aschblonde Amerikanerin, die ausgezogen war, ihren Verlobten Colin Roß am Gestade der Vergessenheit zu suchen …

Blaß und schmal das pikante Gesichtchen … Braune, matte Augen, – jetzt matt vor Angst, Aufregung und Übermüdung …

Beide Hände streckte sie Harst hin … Mit wankender Stimme sagte sie: „Wie soll ich Ihnen danken, Mr. Harst …! Sie sind wirklich gekommen …!“

Und Harald – ernst, höflich: „Miß Margall, diese Salongespräche für später … Jetzt nur eine Frage: ist dies der Zugang zu dem Buddhistentempel?“

„Ah – Sie wissen …?! Ja – ja, dort hinten in der großen Höhle liegt der Tempel … Vierzehn Mönche sind Gefangene wie ich …“

„Nicht lange mehr … – Und die Feinde?!“

„Ich bekam nur Nepalesen zu Gesicht, Mr. Harst … Ich kann Ihnen sonst nichts berichten … Ich hatte mich mit zwei anderen amerikanischen Detektiven neuerdings …“

„Mir bekannt … Sie wurden überfallen, weggeschleppt … Halport ist tot, ermordet …“

„O mein Gott … der Ärmste …!“

„Wo ist Ihr früherer Begleiter, der Nepalese, den Sie in Ihrer Depesche erwähnten?“

„Erschossen – hier am See … Vor acht Wochen … Ich gelangte ganz allein wieder in die Ebene, in bewohnte Gegenden …“

„Bleiben Sie vorläufig noch hier bei den Mönchen und … schweigen Sie … Wir kehren zurück … Ihr Leben ist nicht bedroht … Ich möchte diese Schurken beobachten. Nichts von ihren Geheimnissen soll mir entgehen … Auf Wiedersehen, Miß Margall … Seien Sie tapfer …!“

„Ich bin es. Ich fürchte mich nicht … Nur möchte ich dabei sein, wenn Sie diejenigen gefangen nehmen, die meinen Verlobten töteten …“ – Ihre braunen Augen glühten. Mit einem Schlage war sie eine andere. Diesem Mädchen, wie es jetzt vor uns stand, traute man sehr wohl die Energie zu, ganz allein ohne jeden Begleiter durch die Schneeregion und die Bergwildnis den Weg hinab ins Tal zu finden …

Noch ein Händedruck, ein leichtes zustimmendes Nicken Haralds, und wir verriegelten die Tür wieder …

Durch das Loch in der Tür Claire Margalls Stimme:

„Viel Glück …!“

Wir gingen …

 

5. Kapitel.

Überraschungen.

Aus Vorsicht tasteten wir uns im Dunkeln den Weg zurück …

Lauschten angestrengt … Kamen zu der Gabelung des Ganges … Wagten uns nun in den anderen Gang hinein …

Doppelt behutsam hier das Vordringen … Doppelt scharf das Lauschen auf jedes verdächtige Geräusch …

Stille … Finsternis …

Zuweilen ein weißer Blitz: die Taschenlampe – schnell wieder erlöschend …

Dann Harald – mehr ein Hauch als Worte: „Hier hat der Gang ein Ende … Vor uns eine Höhle … Ich spüre verschiedene Gerüche … Man hat hier gekocht …“

Minutenlang nichts …

Und wieder Harst: „Sie werden jetzt schlafen … Und doch erscheint mir die Ruhe hier verdächtig … sehr verdächtig … Warte an dieser Stelle …“

Er entfernte sich offenbar … Ich hörte und sah nichts …

Plötzlich weit vor mir der Lichtkegel der Taschenlampe …

Ein Ruf: „Hierher, mein Alter … hierher!“

Und jetzt sah ich, jetzt hatte auch ich meine Lampe angeknipst …

Sah, daß diese zwanzig Meter lange und etwas schmälere Grotte alles enthielt, was zum längeren Aufenthalt von Menschen notwendig ist: primitive Lagerstätten, einen Herd, einen Tisch mit einer Steinplatte, leere kleine Kisten, Haufen von Moos …

Doch sonst: nur wir beide hier in der Höhle … Kein lebendes Wesen außer uns …!

Ich stand vor Harald …

„Bitte …!“

Und er reichte mir einen Zettel …

„Der lag auf dem Steintisch … Lies nur …!“

Bleistiftzeilen – sehr flüchtig hingeworfen – englisch:

Mr. Harst, unsere Spione in Catmandu waren schlauer als die Polizei. Die beiden ermordeten Holländer erschienen uns sofort verdächtig. Claire Margalls Depesche an Sie lag uns in Abschrift vor. – Die Höhle, die Sie jetzt bewohnen, hat eine Verbindung zur Tempelgrotte, wie wir längst wußten … Und das Sprachrohr, Mr. Harst, wirkt in entgegengesetzter Richtung noch besser, pflanzt sogar geflüsterte Worte fort. – Kurz – vor Ihnen räumen wir das Feld, zumal unsere Arbeit hier vollendet ist. Während Sie im Nebengang mit Claire Margall sprachen, haben wir das Freie gewonnen. Geben Sie sich keine Mühe, uns zu finden … Wir trennen uns … – Sie werden auch nie herausbekommen, was wir hier getrieben haben. Wir sind auch nicht Mörder, wie Sie annehmen. Claire Margalls Nepalese fiel im Kampf Mann gegen Mann, und der Detektiv Halport desgleichen, weil er fliehen wollte … – Sollten Sie so leichtsinnig sein, uns weiter nachzuspüren, so werden wir Sie beide nicht schonen. Unsere Macht reicht über den ganzen Erdball. Sie sind gewarnt.       Einer der sieben Weisen.

„Na, was sagst Du nun, mein Alter?“ fragte Harald, als ich den Zettel sinken ließ. „Diese Kerle spielen jetzt die Geheimnisvollen … Die sieben Weisen …!! Ein ganz netter Witz!“

Ich wunderte mich, wie kühl er die Flucht dieser Schurken hinnahm …

„Jedenfalls sind Harst und Schraut die Blamierten!“ meinte ich ärgerlich. „Claire Margall wird uns kaum mehr so respektvoll als Wundertiere ansehen, nachdem ihr die Mörder des Colin Roß entwischt sind … Sie hatte mit den Herrschaften abzurechnen, und …“

„Hm – hm …!!“

Da schwieg ich …

Fragte gespannt: „Was soll dieses ironische Grunzen – he?! Wieder nicht mit meinen Worten einverstanden?!“

„Nein – durchaus nicht! Die ganze Sache mußt Du auf einen anderen Dreh bringen, lieber Alter … Mit einiger Phantasie und unter Berücksichtigung dessen, was wir wissen, wird es Dir auch gelingen …“

„Anderen Dreh bringen?! Und … inwiefern?“

„Nun, ich habe schon immer stark daran gezweifelt, daß die Expedition von achtzehn Leuten von anderen kalt gemacht worden ist! Achtzehn Mann, darunter drei Europäer, lassen sich doch nicht so einfach niederknallen, ersäufen, vergiften und dergleichen …“

Ich war starr. „Du meinst also, daß …“

„… daß das Gestade der Vergessenheit in der Tat insofern diesen Namen verdient, als Colin Roß seine Braut hier … vergessen hat über anderen Dingen, daß er und seine beiden Kollegen hier gehaust haben und daß die arme Claire nur deshalb den vielen Attentaten entging, weil es sich eben stets nur um Scheinattentate handelte, um sie zu verscheuchen …“

Ich … lachte … – Wahrhaftig: ich lachte! Dieser neue „Dreh“ kam mir geradezu albern vor …

Harst blieb kalt. „Komm’, suchen wir die Buddhisten und Claire auf. Du wirst dieses Lachen einst bereuen, Max Schraut!“ –

Zurück also in den Gang, der zur Balkentür führte …

Hinein in das unbekannte Reich frommer Mönche …

Eine Höhle hier … vielleicht achtzehn Meter hoch … Mitten darin das seltsamste Tempelchen, das ich je geschaut habe … Erbaut aus farbigen Steinen, verziert durch Muscheln, Edelsteine … Beleuchtet durch etwa fünfzehn Öllampen primitivster Art … Umwogt von dem wohlriechenden Qualm dieser Lampen …

Und dann nebenan ein kleinerer Höhlenraum: die Wohnung der frommen Vierzehn … – Ein dritter Raum: der Schafstall, der auch Milchziegen enthielt. – Ein vierter, die Vorratskammer!

Und überall als Beleuchtungsmittel dieselben flachen Ölschalen mit den wollenen Dochten … –

Im Nu hatten sich hier die Mönche um uns versammelt … Claire Margall mußte erst aus einer Kammer des Tempels geholt werden, wo sie vor Erschöpfung eingeschlafen war.

Der Oberbonze der frommen Herren (keiner zählte unter sechzig Jahren) radebrechte das Englische zur Not …

Was er berichtete, war wenig, war alltäglich …

Vor sieben Monaten seien drei Europäer und fünfzehn Nepalesen hier am See erschienen, aber nach acht Tagen wieder abgezogen. Wohin, wüßte er nicht. Drei Tage später hätte dann ein Europäer mit langem schwarzen Bart mit Hilfe von Nepalesen die Tempelgrotte ausgeplündert, die goldenen Geräte weggeschleppt und den Mönchen befohlen, sich nicht mehr aus ihren Grotten herauszuwagen. Die Balkentür sei seitdem verschlossen gehalten. Die Mönche hatten stets nur den Schwarzbärtigen zu Gesicht bekommen. Die Nepalesen dieses Mannes schätzte der Oberbonze der Zahl nach auf zehn bis zwölf Leute.

Damit war’s mit der Weisheit des würdigen Alten aus.

Also wenig – sehr wenig, abgesehen davon, daß die Mönche betonten, Gold oder dergleichen gäbe es hier nicht. Was der Schwarzbärtige hier mit dem Taucheranzug begonnen, konnten sie in keiner Weise aufklären. – Über ihre Höhlenkolonie gaben sie an, daß sie vor zwanzig Jahren aus Lhasa[6] in Tibet als Abtrünnige vertrieben worden waren, weil sie verschiedene religiöse Einrichtungen nicht anerkannten. Sie hatten dann hier in aller Stille sich niedergelassen und ihr Geheimnis bisher sorgsam gehütet. In Nepal, betonte der Oberbonze, ahne niemand etwas von der Existenz dieses Tempels.

Harst zeigte für all dies wenig Interesse.

Nachdem er den Leuten versprochen, auch seinerseits ihr Geheimnis nach Möglichkeit zu wahren, verließen wir die Tempelhöhle in Begleitung Claire Margalls und begaben uns in die Wohngrotte der jetzt Geflüchteten hinüber. – Auf dem Steintisch lag noch der Zettel des einen der „sieben Weisen …“

„Bitte, lesen Sie, Miß Margall …“ sagte Harald merkwürdig hastig …

Es schien, als ob er sich von diesem Zettel noch Besonderes verspräche …

Und – er hatte recht …

Die Amerikanerin las …

Plötzlich weiteten sich ihre Augen …

Ihr Blick hing starr auf der Unterschrift …

Dann … wankte sie … fiel Harst ohnmächtig in die Arme …

Harald hatte sie aufgefangen, meinte ohne Erregung:

„Also doch!! – Suchen wir Lewis auf …“

Er trug Miß Margall …

Wir kamen nach oben auf den Felsenwall … Der Mond stand tief … Am Ufer, unterhalb des Walles, lag das Zinkboot. Wir benutzten es, um schneller die Nordseite zu erreichen, das Gestade der Vergessenheit …

Landeten … Sahen Seltsames: dort im Schnee vor den mächtigen Felsmassen lag … ein Eisbärenfell … Dort drüben aber waren zwei Nepalesen an große Steine sitzend gefesselt …!

Während Harald die Ohnmächtige in die Höhle brachte, ging ich zu den beiden Leuten hin … Sie schauten mir angstvoll, flehend entgegen …

Der eine hatte durch den Verkehr mit Europäern doch ein paar Worte englisch aufgeschnappt … Kläglich bat er, ich solle sie schonen … Sie seien Gefangene des schwarzen Masters gewesen, der nun auf und davon sei … –

Ich will hier zum Schluß des ersten Teiles nur noch eins erwähnen: als wir Miß Margall glücklich wieder ins Bewußtsein zurückgerufen hatten, galt ihre erste Frage dem … Zettel …

Und da war’s, daß Harald fragte:

„Sie wissen etwas über die sieben Weisen, Miß Margall …? Was wissen Sie?“

Sie erwiderte zögernd:

„Mein … mein Vater gehörte mit zu dieser merkwürdigen Vereinigung … Ich will nichts verschweigen …! Denn Colin Roß soll gerächt werden!“

… Gerächt werden …?! – Nach Haralds Theorie lebte Colin Roß …!!

 

 

Die sieben Weisen.

 

1. Kapitel.

Das chinesische Kästchen.

Ich hatte die beiden Nepalesen in die Höhle geführt. Einer von ihnen trug das Eisbärfell. Da es nun hier in den Bergwüsten keine Eisbären gibt, da andererseits doch kaum jemand sich mit einem solchen schweren Fell behängen wird, war es eine recht interessante Frage, wie dieses zottige Kleid eines Polarbewohners ausgerechnet hier an den Godwira-See gelangt sein mochte.

Aber dies alles trat gegenüber Claire Margalls Erzählung völlig in den Hintergrund.

Bevor unser weiblicher Schützling jedoch seinen Bericht begann, der in der Tat wie ein Kapitel aus einem Abenteuerroman wirkte, nahm Harald den einen der Nepalesen, der sich zur Not mit uns verständigen konnte, ins Gebet.

Der Mann gab an, daß er und sein Bruder seit Jahren diese Berge als Türkisensammler durchstreiften. – Der Türkis wird in den Vorbergen des Himalaja an ganz bestimmten Stellen gefunden, zumeist nach schweren Regengüssen oder nach der Schneeschmelze, wenn größere Rinnsale die tiefsten Spalten der Felsen durchdringen und die Edelsteine mit ins Freie tragen. – Diese beiden Nepalesen waren vor drei Monaten hier an den See gelangt und dann nachts überfallen und gefangen genommen worden. Sie hatten stets nur den schwarzbärtigen Europäer zu Gesicht bekommen, waren in einer Nebengrotte streng bewacht, aber gut behandelt worden. Nur jetzt hatte der Schwarzbärtige sie vor dem Aufbruch erschießen und ihre Leichen im See versenken wollen. Lediglich ihr inständiges Bitten hatte den Mann bestimmt, von seinem Vorhaben abzusehen.

Als Harald wissen wollte, was dieser Europäer dort unten wohl getrieben haben mochte, schüttelte der Türkisensucher den Kopf und meinte, das könnte er doch nicht wissen … Er sei ja Gefangener gewesen und hätte sich nie frei in den Höhlen bewegen dürfen … –

Hiermit war das Verhör zu Ende.

Es hatte sowohl auf Hektor Richard Lewis als auch auf Miß Margall und mich durchaus den Eindruck gemacht, als ob Harald den beiden harmlosen und dabei reichlich stupide dreinschauenden Kerlen jedes Wort glaubte. Später wurden wir eines besseren belehrt. –

Und nun kam Claire Margall an die Reihe …

Wir vier Europäer saßen auf Wolldecken um den fauchenden Spirituskocher herum … Neben Lewis lag der brave Douglas. Claire Margall hatte den Ehrenplatz und lehnte an der durch ein Sattelkissen gepolsterten Felswand.

Die beiden Nepalesen wieder hatten sich in der Nähe der Ponys niedergestreckt und schienen zu schlafen.

So begann denn nun die junge Amerikanerin ihre Erzählung …

„Mein Vater, John Margall, wurde sehr früh Witwer. Von Hause aus war er Steward bei einer Schiffahrtslinie nach China. Aber Abenteuerlust bewog ihn, sich als Koch – auch hiervon verstand er etwas – bei Forschungsreisen anwerben zu lassen: Oft war er so jahrelang von Neuyork abwesend, und meine Erziehung lag ganz in den Händen einer Schwester meines Vaters, der nebenbei eifriger Sammler ausländischer Kuriositäten war.

Als ich neunzehn Jahre alt wurde, begleitete mein Vater den englischen Forscher Lord Grimlay nach Alaska. Die kleine Expedition kam in einem Schneesturm um. Die Nachricht hiervon erreichte mich erst acht Wochen später. Wie ich dann die Sachen meines Vaters, besonders seinen Schreibtisch, nach Papieren durchsuchte, die ich für meine Mündigkeitserklärung brauchte, fand ich in einem primitiven Geheimfach des Schreibtisches eines jener schmalen, langen chinesischen Kästchen, die mit allerlei Verzierungen versehen sind und die einen sogenannten Vexierdeckel haben, das heißt sie lassen sich nur öffnen, wenn man nacheinander verschiedene der Zierknöpfe verschiebt.

Ich habe mich dann tagelang, mehr aus Sport, bemüht, das Geheimnis des Kästchens herauszufinden. Schließlich gelang es mir. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich darin zwei durch Seidenband zusammengehaltene Papierröllchen. Ich wickelte sie auseinander und sah, daß sie mit Zahlen beschrieben waren. Nur das eine Papier enthielt unter den Zahlen eine Unterschrift, die folgendermaßen lautete:

John Margall, der Dritte der sieben Weisen.

Ich ahnte, daß die Zahlen eine Chiffreschrift seien, und abermals plagte ich mich jetzt wochenlang mit allerlei Lösungsversuchen – ohne Erfolg!

So legte ich denn schließlich das Kästchen mit den beiden Papieren wieder beiseite …

Meiner Tante hatte ich bisher nichts von diesem Fund erzählt. Als ich eines Abends dann darauf zu sprechen kam und auch die … sieben Weisen erwähnte, rief das alte Fräulein entsetzt:

„Ah – dann waren die sechs Kerle, die Deinen Vater nachts heimlich besuchten, sicherlich ebenfalls Mitglieder dieser Geheimgesellschaft … Claire, Claire, daß Du ja niemandem jemals von diesen Dingen etwas erzählst! Schände nicht das Andenken Deines abenteuerlustigen Vaters! Diese „sieben Weisen“ waren letztens in einen Prozeß verwickelt, und mehrere erhielten langjährige Zuchthausstrafen.“

Daß diese Worte meiner sonst sehr kühl-verständigen Tante großen Eindruck auf mich machten, wird jeder verstehen. Ich richtete mich auch später nach dieser Warnung, und als ich mich mit Colin Roß sechs Monate darauf verlobt hatte, und er mir gelegentlich von dem Strafprozeß gegen eine Geheimgesellschaft erzählte, die den merkwürdigen Namen „Die sieben Weisen“ geführt hatte, da blieb ich stumm und verriet auch nicht durch ein Wimperzucken, daß mein Vater mit zu diesem Bunde gehört hatte. Nur etwas blaß mag ich geworden sein. Colin kam nie wieder auf diese Dinge zu sprechen. Nach einem Monat starb meine Tante. Ich mußte abermals Papiere hervorsuchen und öffnete wieder seit langem einmal das Geheimfach. Es war leer. Ich glaube bestimmt, Tante wird das Kästchen mit den beiden Papierröllchen verbrannt haben. Erst heute nacht bin ich dann wieder an die sieben Weisen erinnert worden. Nun wissen Sie, weshalb ich in Ohnmacht fiel. Meine Nerven waren angegriffen, und wohl nur aus diesem Grunde wirkte die Unterschrift unter dem Zettel des Schwarzbärtigen so stark auf mich.“

Harald richtete keine weitere Frage an Miß Margall.

Nur der Kollege Lewis meinte:

„Auf den Prozeß gegen die sechs Verbrecher besinne ich mich noch sehr gut … Ich kann mir gar nicht denken, Miß Margall, daß Ihr Vater mit solchen Schurken etwas gemein hatte. Nach Ihren Angaben war er doch höchst selten daheim, meist irgendwo in unerforschten Ländern. Die sechs dagegen waren berüchtigte Einbrecher und Diebe, die vor keiner Gewalttat zurückscheuten …“

„O – ein Verbrecher war mein Vater niemals!“ rief Claire leidenschaftlich. „Nein – zu mir war er die Güte selbst, und seine Brotherren, die verschiedenen Expeditionsleiter, haben ihm stets das allerbeste Zeugnis ausgestellt …“

„Ob er auch Indien kannte?“ fragte Harald nun ohne besonderes Interesse und füllte die Teebecher …

„Ja, allerdings … Er war sogar mit dem Engländer Sandor ein Stück in Tibet eingedrungen …“

„So … so … – Tibet!“ nickte Harst und reichte Claire den Teebecher. „Darf ich Ihnen dazu auch ein paar Kekse[7] reichen, Miß Margall? Bevor wir uns zum Schlafe niederlegen, müssen wir uns etwas stärken … – Ich übernehme die erste Wache … Es ist jetzt vier Uhr morgens. Um sieben mag Schraut mich ablösen …“

Und so geschah’s …

Harald weckte mich, zog mich zum Eingang der Höhle, den wir wieder halb verrammelt hatten.

Hier flüsterte er:

„Sei vorsichtig …! Die Dinge liegen ernster als Du denkst …“

Dann ging er und ließ mich mit meinen rebellischen Gedanken allein.

Vorsichtig sollte ich sein?! Und – ernst lagen die Dinge?! – Das begriff ich nicht …

Draußen war es längst hell geworden … Aber ein neuer Schneesturm fegte über die Berge dahin …

Ich beobachtete die tanzenden Flocken … Ich rief mir all das Erlebte nochmals ins Gedächtnis zurück …

Was – was wohl hatten wir zu fürchten?! Die Feinde waren … ausgekniffen! Und die Mönche dort unten?! Sollten die etwa gefährlich sein?! – Ich mußte lächeln …

Harald hatte heute offenbar seinen schlechten Tag … Erst der – Pardon! – Unsinn, daß Colin Roß noch lebe und seine Braut durch Scheinattentate in Angst und Schrecken gesetzt habe!! Welch absurde Idee!! Und jetzt tat er so, als ob wir von Gefahren umlauert seien …!

Nun – trotzdem paßte ich gut auf. So lange ich hier den Eingang bewachte, sollte niemand uns belästigen …!

Aber – es passierte nichts – natürlich nicht! Eine Stunde später drehte der Wind, und strahlender Sonnenschein zauberte neue Reize der Gebirgslandschaft hervor.

Drüben am See hatten fünf Buddhistenmönche eine Anzahl Schafe ins Freie getrieben damit die Tiere einmal wieder frische Luft schöpften. Es war eine Freude, die Tiere im Schnee umhertollen zu sehen …

Von Gefahr, von Feinden keine Spur!

Und als gegen zehn dann unsere Gefährten sich erhoben, als Harald mich aufforderte, ihn hinab in die Höhle zu begleiten, da konnte ich nicht anders: ich machte eine ironische Bemerkung über den … „Ernst der Lage.“ …!!

Wir hatten das Zinkboot bestiegen. Harald ruderte. Harald schaute mich an und erwiderte:

„Glaubst Du wirklich, daß Claires Tante[8] das Kästchen samt dem Inhalt verbrannt hat?! Ich behaupte, Colin Roß hat es gestohlen. Colin Roß hat sich nur deshalb mit dem Mädchen verlobt, um das Kästchen sich anzueignen. Er wußte, daß es Wert hatte. Er ist ein Lump ohnegleichen.“

Nun – jetzt machte ich ein recht betretenes Gesicht. Diese Angaben hatten Hand und Fuß, zumal der Ingenieur ja Claire von dem Prozeß gegen die „sieben Weisen“ erzählt hatte und dadurch Claire nur hatte aushorchen wollen …

Harald sprach schon weiter.

„Abgesehen von alledem: John Margall war in Tibet. Und sicherlich auch in Nepal. Und vielleicht hier am Godwira-See … Wir werden den Oberbonzen fragen …“ –

Wir trafen das Oberhaupt der Mönchskolonie im Tempel an, wo er gerade die Weihrauchschalen füllte. Er begrüßte uns sehr freundlich und erklärte dann auf Haralds Fragen nach einigem Nachdenken, daß allerdings vor drei Jahren etwa zwei Europäer einige Tage bei ihm hier zu Gast gewesen. Der eine sei ein Engländer, der andere ein Amerikaner gewesen. Auf die Namen besinne er sich leider nicht mehr. Der Amerikaner habe aber Tag für Tag die Höhlen durchgeforscht, sei in alle Spalten geklettert und habe auch in dem unterirdischen Kanal, der mit dem See in Verbindung steht, mehrmals gebadet.

Harald warf mir einen langen Blick zu …

Ich schlug beschämt die Augen nieder. Auch ich war nun überzeugt, daß Colin Roß seine Braut schändlich betrüge und noch lebe … –

Dann durchsuchten Harst und ich die Höhle, wo der Schwarzbärtige gehaust hatte. Die Taucherausrüstung war nicht mehr da. Die Flüchtenden hatten sie mitgenommen. Wir entdeckten nichts Neues, und bereits mittags trat unsere kleine Reisegesellschaft, die aus sechs Personen, drei Ponys und dem Hunde bestand, den Rückmarsch an.

Abends langten wir in einem Tale an, wo ein Nepalese, ein Bauer, ein armseliges Gehöft besaß. Die Schneegrenze lag längst hinter uns. Hier brachten wir die Nacht zu. Und drei Tage darauf waren wir wohlbehalten in Catmandu. –

Hiermit nehme ich und mit mir der Leser Abschied von der Bergwelt und kehre in eine andere Welt ein – in die Welt verfeinerter Kultur – in ein modernes Luxushotel in … Kalkutta …

 

2. Kapitel.

Der Mann mit den dicken Augenbrauen.

Es ist nicht ganz einfach mit Harald Harst zu leben und seine Absonderlichkeiten zu ertragen. Das sollten nun auch Hektor Richard Lewis und Miß Claire erfahren.

Über unseren kurzen Aufenthalt in Catmandu brauche ich nichts nachzuholen, höchstens das eine, daß wir die Pferdeangelegenheit in Ordnung brachten, das heißt, dem Buddhistenmönch seine Ponys zurückschickten, obwohl wir sie anständig bezahlt hatten. Diesen Auftrag führten unsere beiden Diener Lampa und Sapu aus, und das waren die beiden Türkisensucher, von deren absoluter Harmlosigkeit ich nach wie vor fest überzeugt war, da sie mir für irgend eine Heimtücke viel zu dämlich erschienen.

Im übrigen gaben wir uns in Catmandu als Touristen aus, um allen Scherereien mit der Polizei zu entgehen. Wir erkundigten uns natürlich insgeheim, ob hier vielleicht ein schwarzbärtiger Europäer vor kurzem geweilt habe. Die Auskünfte lauteten überall verneinend.

So brachen wir denn nach Rotamar, der indischen Grenzstadt auf, wo wir die Eisenbahn benutzen konnten.

Unsere Dienerperlen Lampa und Sapu begleiteten uns. Miß Margall war in trübster Stimmung. Die Erfolglosigkeit ihrer monatelangen Bemühungen konnte sie kaum verwinden. Harald verriet ihr gegenüber nichts von dem, was er vermutete: daß Colin Roß lebe und ein ganz übler Schurke sei! – Auch Kollege Lewis befand sich in trübster Laune. Der Verlust seines Freundes Halport ging ihm sehr nahe. Kurz – wir waren eine äußerst schweigsame Reisegesellschaft. Nur Lampa und Sapu brachten zuweilen etwas Heiterkeit in unseren stillen Kreis, wenn sie mal wieder irgend eine Riesendummheit sich geleistet hatten. Daß braune Schnürschuhe mit braunem und nicht mit schwarzem Schuhkrem zu putzen seien, begriffen sie noch immer nicht. Und daß unsere Zahnbürsten nicht als Einreibebürsten Verwendung finden dürften, ging gleichfalls über ihren Horizont.

In Rotamar, einem elenden Bergnest, verweilten wir zwei Tage. Harst hatte sich ein Gewehr geliehen und war volle achtzehn Stunden abwesend, um einen Tiger zu erlegen, den er dann gar nicht zu Gesicht bekam.

Kollege Lewis schimpfte auf Harst in allen Tonarten. Er fand es empörend, daß Harald die Verfolgung der flüchtigen Verbrecher vom Godwira-See so vollständig vernachlässigte. Ich konnte ihm nur recht geben. Harst war mir unverständlich.

Als er von der famosen Tigerjagd in das öffentliche Gasthaus zurückkehrte, wo wir Quartier bezogen hatten, nahm ich ihn denn auch gehörig ins Gebet.

Wir standen abseits vom Hause auf einem Hügel. Nie werde ich das Lächeln vergessen, mit dem er erwiderte: „Lieber Alter, wenn Du glaubst, daß ich die Verfolgung der drei Schurken aufgegeben habe, irrst Du gewaltig! – Tigerjagd …?! – Ich hatte als Begleiter Leute, die verschwiegen sind. Ich habe mich keine halbe Meile von der Stadt entfernt und habe nachts hier auf der Lauer gelegen …“

Mein Gesicht muß wenig geistreich gewesen sein …

Er drehte sich um, ging nach dem Postamt und gab eine Depesche an Polizeidirektor Longerpeek in Catmandu auf und unterrichtete ihn über den wahren Sachverhalt hinsichtlich der beiden „ermordeten“ Holländer …

Nachmittags bestiegen wir den Zug. Lampa und Sapu hatten so flehentlich gebeten, daß wir sie doch mit nach Kalkutta nehmen möchten, daß Harald schließlich nachgab.

In unserem Abteil erster Klasse herrschte Kampfstimmung. Lewis und Miß Margall taten, als wäre Harald so ungefähr Luft für sie.

Wir vier waren allein.

Harst rauchte nach der Abfahrt zwei Mirakulum. Dann sagte er zu den beiden Gekränkten:

„Sie kennen mich noch zu wenig. Ich bin den Verbrechern auf der Spur. Ich wußte schon in unserer Höhle am Godwira-See, wie ich diese Spur einzig und allein aufnehmen könnte …“

Jetzt – machten Lewis und Claire ähnliche Gesichter wie ich vor vier Stunden auf dem Hügel.

Ein Schwall von Fragen ergoß sich über Harald.

Ich mußte lachen. Harald und sich ausfragen lassen …!

Natürlich erwiderte er nur:

„All das hätte wenig Zweck … Wozu sollte ich Ihnen meine Vermutungen auftischen?! Warten Sie ab …! Und erwähnen Sie nie hiervon etwas in Lampas und Sapus Gegenwart. Die beiden spielen nur die blöden Nepalesen, die beiden sprechen fertig englisch und französisch, waren lange Zeit Fremdenführer in der Sommerresidenz des indischen Vizekönigs, in Srinagar, und sind schlauer als mancher Europäer!“

Bei dem letzten Satz warf er mir einen langen Blick zu, der geradezu beleidigend war. –

Am folgenden Abend dann … Neun Uhr …

Gartenterrasse des Hotels King Edward in Kalkutta … Aussicht auf einen wunderbaren Hotelpark, in dem bunte elektrische Lämpchen glühten …

Ringsum ein internationales Reisepublikum …

Wir vier an einem winzigen Tischchen, umgeben von schnatternden Amerikanern, einer Horde, die das Cooksche Reisebüro durch Indien führte …

Kultur – Überkultur ringsum …

Parfüm aller Arten in der Luft … Herren im Abenddreß … Damen in dekolletierten[9] Roben wie zum großen Ball … Auf der Estrade eine ungarische Zigeunerkapelle, die einfach hinreißend spielte …

Lautlose braune Kellner bedienten …

Vor drei Stunden waren wir hier eingetroffen. Das Hotel King Edward hatte nur noch Zimmer im Gartenhause frei … Wir vier wohnten im Erdgeschoß nebeneinander …: Nummer 6, 7, 8, 9.

Und jetzt soupierten wir … Claire Margall machte große Augen … Vieles hier war ihr neu. Ihre Kasse hatte ihr stets nur Hotels dritten Ranges gestattet …

Hektor Richard Lewis machte ihr ein wenig den Hof. So ganz zart … Zu verdenken war es ihm nicht, daß er Feuer fing. Claire hatte verdammt hübsche Augen … – Wir beide kümmerten uns um das Paar nicht viel … Vorhin, als der Kellner den Braten servierte, hatte Harald mir „Achtung!“ zugeflüstert …

Und[10] da hatte ich zwei Herren mit blonden Spitzbärten und dunkel gebräunten Gesichtern bemerkt, die drei Tische weiter Platz nahmen. Nur auf sie hatte sich dieses „Achtung!“ beziehen können …

Ich saß so, daß ich sie bequem beobachten konnte …

Sie waren vollendete Gentlemen, trugen Smoking und zeigten die ruhige Sicherheit der Zugehörigen guter Gesellschaftskreise.

Wieder beugte sich Harald zu mir hin.

„Pellham und Smitson …!“[11] flüsterte er …

Ich … fiel aus allen Wolken.

Das waren ja die beiden Kollegen des Colin Roß …!! Das heißt: die Namen waren’s! Ob auch deren Besitzer?! – Aber ich wagte kaum zu zweifeln. Harald behauptet nichts, was er nicht beweisen kann.

Also … Pellham und Smitson …!! Also doch hier in Kalkutta!! Dann war auch Colin Roß nicht fern …!

Ein leichtes Jagdfieber bemächtigte sich meiner …

Dann stand Harald auf, sagte laut:

„Ich will mal im Büro nach den Abfahrtzeiten der Dampfer mich erkundigen …“

Verschwand … –

Uniformierte braune Knirpse brüllten die Abendzeitungen aus …

Lewis nickte mir zu …

„Hören Sie, Schraut!! Die Boys schreien Harsts Namen …!“

Wir kauften zwei Blätter …

Und darin stand lang und breit die Geschichte der „ermordeten“ Holländer aus Catmandu mit der Überschrift:

!!Geheimnisvolles Auftauchen Harsts in Nepal!!

Wir lächelten …

Vom Godwira-See keine Silbe …

Ja – wir hatten zu schweigen gewußt, und Lampa und Sapu ebenfalls!

Harst kam zurück … mit einem Heftchen, einem Fahrplan der Dampferlinien …

„Ein für Sie passender Dampfer geht morgen vormittag elf Uhr ab,“ sagte er zu Claire und Lewis. „Über Singapore, Hongkong, Yokohama, Panama … In zwölf Tagen sind Sie daheim in Neuyork …“ – Und ganz leise: „Sie werden abreisen … Wir ebenfalls eine Stunde später nach Bombay … Aber wir kommen wieder …“

Die Zigeuner spielten einen Straußschen Walzer …

Lewis und Claire ahnten nicht, daß Colin Roß’ Freunde drei Tische vor uns saßen …

Wir schwammen wieder mitten im aussichtsvollsten Erleben … Kalkutta ließ sich gut an …

Um elf Uhr suchten wir unsere Zimmer auf. Um halb zwölf schwangen sich zwei Kulis aus unseren Fenstern in den stillen Garten: Harst und Schraut!

Wir verließen den Park durch eine Seitenpforte, zu der Harald vom Hoteldirektor in aller Stille den Schlüssel besorgt hatte.

Wohin es gehen sollte? – Ich wußte es nicht …! – Wir kannten Kalkutta.

Nördlich von dem ausgedehnten Maidan, dem Riesengarten mitten in der Stadt, liegt an der Kreuzung zweier Hauptverkehrsstraßen der Polizeipalast.

Der Pförtner wollte uns zurückweisen.

„Keine Dienststunden …!“

„Harst,“ sagte mein Freund.

Das Zauberwort wirkte …

Der Pförtner dienerte: „Sahib, Sir Codanoor erwartet Euch …“

Sir Godwin Codanoor, Polizeichef der Stadt von 900 000 Einwohnern, drückte uns die Hände. Wir waren alte Bekannte …

„Habe alles erledigt, lieber Harst … Nehmen Sie Platz …“

Und die beiden armseligen indischen Kulis saßen in kühlen Klubsesseln und rauchten wundervolle Zigarren …

„Schraut ist nicht ganz im Bilde,“ meinte Harald zu Codanoor. „Er weiß nicht, daß ich mit Ihnen telephoniert habe, als ich den Dampferfahrplan holte … Sie haben also drei tüchtige Leute den beiden Herren an die Fersen geheftet?“

„Gewiß. Ich habe auch bereits Meldung erhalten … Diese Pellham und Smitson benahmen sich jedoch verteufelt schlau … Sie gingen zum Hugli hinab (Kalkutta liegt am Hugli-Fluß) und stiegen hier in ein Motorboot, das sie schnell entführte.“

„Schade …!“ sagte Harald gleichgültig. „Immerhin – sie sind in Kalkutta …“

Sir Codanoor hüstelte:

„Verzeihung, lieber Harst, was ist’s mit den beiden?“

„Mörder sind’s, Verbrecher größten Stils … – Haben Sie schon einmal von dem Neuyorker Verbrecherbund „Die sieben Weisen“ gehört?“

„Nein – bedauere …“

„Nun, das ist eine Gaunerbande, die sich aus Berufsverbrechern und Mitgliedern der gebildeten Stände in guten Lebensstellungen zusammensetzt. Diese sieben Weisen haben überall … Filialen sozusagen … Wahrscheinlich ist es die bestgeleitete Organisation dieser Art … Vielleicht existiert auch hier eine solche Filiale …“

Sir Codanoor schüttelte den Kopf …

„Ausgeschlossen, lieber Harst …!“

„So?! – Sollten denn hier keine Vergehen gegen fremdes Eigentum vorgekommen sein, die unaufgeklärt blieben?! Ich besinne mich, noch vor zwei Wochen in Madras in einer Zeitung gelesen zu haben, daß hier im Hafen von dem englischen Dampfer „Golden Law“ eine ganze Ladung Barrengold gestohlen worden ist.“

„Hm – allerdings … Ein Objekt von zwei Millionen … – allerdings … Die Diebe hat man noch nicht erwischt …“

„Nun also …! Mit Kleinigkeiten gibt sich dieser Verbrecherbund nicht ab …!“

Dann begann Harst dem Polizeichef unsere Erlebnisse in Nepal zu berichten – alles – zeigte ihm auch den Zettel, den wir auf dem Steintisch in der Höhle gefunden hatten.

Sir Godwin Codanoor saß da und staunte …

„Und – und was taten die Schurken dort?“ fragte er nun atemlos. „Wozu der Taucheranzug?!“

„Natürlich haben sie etwas vom Grunde des Sees geholt – vielleicht Gold, vielleicht Edelsteine … Bestimmt weiß ich es noch nicht …“

„Und Sie glauben, daß die drei Ingenieure Mitglieder der sieben Weisen sind?“

„Ganz sicher! Ich glaube sogar, daß Claire Margalls Vater das Oberhaupt dieser Bande ist, daß er stets nur angeblich sich bei Forschungsreisenden verdingte und daß er … noch lebt, genau wie Colin Roß …“

Codanoor und ich starrten Harst verblüfft an …

„Bitte …!“ fügte er kühl hinzu, „als ich scheinbar auf der Tigerjagd war, habe ich in Wahrheit Lampa und Sapu beobachtet. Sie trafen nach Mitternacht in einem Gehölz mit einem Manne zusammen, der als Inder verkleidet war. Sein Englisch hatte amerikanischen Akzent. Er war mittelgroß, sehr breitschultrig und hatte dicke graue Augenbrauen, die über der Nase fast zusammenstießen. Die Nepalesen kannten ihn genau und redeten ihn mit dem malaiischen Ausdruck Tuwan an, was doch so viel wie „hoher Herr“ bedeutet … – Ich konnte leider nicht alles verstehen, was sie miteinander flüsterten. Jedenfalls erfuhr ich, daß der „Tuwan“ in Kalkutta mit den beiden wieder zusammentreffen wollte und daß die Nepalesen ihm erklärten, ich hätte die Verfolgung der Leute vom Godwira-See so gut wie aufgegeben. – Ich wollte dem Tuwan dann nachschleichen, mußte hiervon jedoch Abstand nehmen, da er zu vorsichtig war. Und nun ist festgestellt, daß auch Pellham und Smitson hier in Kalkutta weilen …“

„Wie konnten Sie denn wissen, lieber Harst, daß es sich bei diesen Herren um die beiden Ingenieure handelte?“

Ein Lächeln huschte über Harsts gefärbtes Gesicht …

„Weil … sie den … Tuwan mit Blicken grüßten, Sir Codanoor … Der Tuwan saß rechts von uns allein an einem Tisch an der Rampe: ein graubärtiger würdiger Herr mit Brille! Und doch verrieten ihn die dicken Augenbrauen, die sich fast über der Nase berührten …“

„Ah – – und …“

„… und Claire Margall hat mir einmal ihren Vater beschrieben und diese Augenbrauen erwähnt … – Im übrigen habe ich die beiden Hoteldetektive Robertson und Britton gebeten, den Tuwan und unsere Diener Lampa und Sapu nicht aus den Augen zu lassen … Das Netz, das ich jetzt schon um die sieben Weisen ausgespannt habe, dürfte sich bewähren, Sir Codanoor. – Morgen vormittag reisen wir ab. Ein von Ihnen besorgtes Motorboot wird uns vier von den Dampfern dann wieder abholen …“

Der Polizeichef, dem man leider das ungesunde Klima Kalkuttas an der gelbgrauen Gesichtsfarbe nur zu sehr ansah, wiegte langsam den Kopf hin und her …

„Es ist fabelhaft, lieber Harst …! Wenn man Ihnen zuhört, glaubt man einen Roman zu lesen …“

„Diesmal einen sehr blutigen, Sir Codanoor, und einen sehr traurigen. John Margall hat Colin Roß auf seine Tochter gehetzt … Das chinesische Kästchen sollte durch Roß verschwinden. Margall hatte es vergessen, als er seinen Tod inszenierte – seinen Tod in Alaska …! Es sind Schurken größten Kalibers. Und wehe uns, wenn wir ihnen je in die Hände fallen sollten. Die kennen kein Erbarmen. Die sind weise: Tote reden nicht mehr!“ –

Gleich darauf verabschiedeten wir uns …

 

3. Kapitel.

Die Schifferkneipe.

Am folgenden Nachmittag sechs Uhr …

Auf der über den Hugli-Fluß führenden Schiffsbrücke, welche die Industrievorstadt Howrah mit dem eigentlichen Kalkutta verbindet, saßen im Sonnenbrand mit untergeschlagenen Beinen zwei indische Bettler – schmierige alte Kerle von jener Art, die dem Fremden einen Schauer über den Rücken jagen …

Zottige, verfilzte Haare hingen ihnen unter den schmutzstarrenden Turbanen in die von Pockennarben zerrissenen Gesichter … Verfilzte Bärte erhöhten noch den abschreckenden Eindruck dieser elenden, in Lumpen gehüllten Gestalten. Dicht vor ihnen lagen ebenso zerlumpte kleine Tücher, auf denen zerbeulte Blechbecken standen …

So jämmerlich auch diese beiden Kerle ausschauten: die übrigen Bettler, die hier auf der Brücke ihre Stammplätze hatten, maßen die Neulinge mit wütenden Blicken … –

Als dann um halb sieben die Brücke wie stets für eine Stunde geöffnet wurde, damit der Frachtverkehr auf dem Flusse in dieser Zeit erledigt werden könnte, verzogen sich die anderen Bettler, da die Fußgänger für diese eine Stunde ausblieben.

Die beiden Neulinge blieben sitzen …

Ihre Augen glitten unaufhörlich über das nahe linke Hugliufer hin – über die Warenspeicher und Häuser, über die Seemannskneipen und Teestuben mit den kleinen überdachten Vorgärten, die zumeist Chinesen gehörten …

Die beiden alten zottigen Schmierfinken waren Harst und ich.

Nachmittags drei Uhr hatte das Motorboot uns an einsamer Uferstelle weit südlich der Stadt abgesetzt. Ein geschlossenes Auto hatte uns erwartet. In diesem Auto hatten wir vier Verbündete uns gründlich verwandelt. Auch Kollege Lewis und Claire Margall waren zu Indern geworden. Ein einsames leeres Häuschen auf einem unbebauten Parkgrundstück, das einem Freunde Sir Codanoors gehörte, wurde unser Quartier. Es lag in der Vorstadt Sibpur südlich von Howrah.

Codanoor hatte für Harald dem Schofför einen Brief übergeben. Dieses Schreiben besagte, daß die von uns entlassenen Nepalesen Lampa und Sapu sich in einer Schifferkneipe letzten Ranges unweit der Pontonbrücke eingemietet hätten.

Diese Nachricht war für uns überaus wertvoll, da auch die beiden Hoteldetektive in der vergangenen Nacht nichts ausgerichtet hatten. Lampa und Sapu waren in ihrem Dienerzimmer im Hotel geblieben, und der „Tuwan“ hatte sich genau wie Pellham und Smitson sehr geschickt unsichtbar gemacht, nachdem er das Hotel King Edward verlassen hatte.

Jetzt beobachteten wir die Schifferkneipe …

Freilich – da ich meine Brille in der Tasche hatte, konnte ich nicht gerade viel von den Leuten erkennen, die dort drüben ein- und ausgingen …

Die Kneipe war eine elende Lehmbude, die fraglos noch aus jenen Zeiten stammte, wo Kalkutta nur als Fiebernest berüchtigt war. Der einstöckige Bau mit dem turmartigen Ziegeldach nahm sich inmitten der modernen Häuser recht sonderbar aus. Zwei Fenster und eine breite Tür hatte die Front, davor standen ein Dutzend Tische unter einem Sonnendach … Sie waren bis auf einen unbesetzt. Der Betrieb in der Kneipe schien überhaupt recht mäßig zu sein. Der hagere Chinese, der Herr Wirt, lungerte meist vor der Tür umher. –

Harald seufzte …

„Eine Geduldsprobe …!!“

„Und die Hitze!“ stöhnte ich …

„Trotzdem müssen wir aushalten,“ flüsterte Harst. „Denn nur durch Lampa und Sapu werden wir …“

Er schwieg …

Auch ich sah den Nachen, der soeben an der Treppe des Bollwerks unweit der Kneipe angelegt hatte …

Ein Inder saß darin, außerdem ein gut gekleideter Chinese …

Dieser stieg aus, wandte den Kopf und rief dem Ruderer etwas zu …

Da konnten wir sein Gesicht trotz des tief in die Stirn gedrückten Hutes genauer mustern …

„Der Tuwan!!“ – und in Haralds Stimme war Leben und Eifer …

Ich kniff die Augen zusammen … Und erkannte diese auffälligen Augenbrauen … Wußte: wir hatten uns hier in der Sonne nicht umsonst braten lassen!

Der Tuwan betrat die Kneipe … Er ging sehr rasch … Hinter ihm schlüpfte der hagere Wirt ins Haus. –

Das Boot lag noch an der Treppe. Harst erhob sich:

„Komm’, wir müssen der Polizei einen Wink geben …“

In der Nähe lag ein kleines Motorboot vertäut – zu unserer Verfügung, besetzt mit vier indischen verkleideten Geheimagenten …

Und als wir an der Kneipe vorüberhumpelten, flatterte uns plötzlich ein Stück Papier vor die Füße, das mit einem Steinchen beschwert und an dem mit einer Nadel ein indischer Geldschein befestigt war …

Es wäre auffallend gewesen, wenn zwei Bettler diesen Geldschein unbeachtet gelassen hätten …

Harst spielte tadellos Komödie, schaute sich scheu um, bückte sich rasch und hob das Papier auf …

Wir humpelten weiter …

„Verspielt!“ sagte Harald …

Ich ahnte Böses …

„Wir sind erkannt, mein Alter … Die sieben Weisen geben uns Nachricht, daß wir die Geschichte doch nicht schlau genug angefangen haben …“

Und als wir hinter einem Stapel Fässer das Papier prüften, fanden wir folgendes:

„Mr. Harst, wir haben Claire Margall und Lewis sicher untergebracht. Falls Sie Kalkutta nicht endgültig noch heute verlassen, werden die beiden morgen früh als Leichen den Hugli hinabschwimmen. Auch der Polizei dürfen Sie nichts melden. Wir sind allmächtig, Mr. Harst.“

Diesmal fehlte eine Unterschrift.

Diesmal war selbst Harald ein wenig außer Fassung geraten …

„Eine nette Bescherung …!“ meinte er sehr gedehnt … „Wir hätten uns eben niemals mit der offiziellen Polizei verbünden sollen …! Wir beide allein – dann brauchen wir keine Verräter zu fürchten … – Vorwärts – nach unserem Quartier!“

Wir ließen uns über den Fluß setzen … In einer Viertelstunde waren wir in dem verwilderten Garten vor dem Häuschen …

Die elende Brettertür stand offen …

Wir traten ein …

Zwei mit geistiger Blindheit Geschlagene … Zwei, die sich hätten denken können, was unser wartete …

Zwei, die jetzt von einem halben Dutzend Kulis angesprungen wurden – niedergerissen – – bald nur zwei wehrlose Bündel, eingepackt in jene großen Körbe, mit denen hier die indischen Bauern ihr Gemüse zu Markte bringen …

Man trug den Korb, in dem ich, auch mit einem dicken Knebel im Munde, verstaut worden war, von dannen …

Ein Karren ratterte davon …

Erst durch belebtere Straßen, dann durch Einsamkeit – Felder – Wälder – Holzbrücken … – stundenlang …

Und schließlich wurde mein Korb emporgehoben, wurde Treppen emporgeschafft, wurde hart niedergestellt …

Schritte entfernten sich …

Stille … Ungeheure Hitze … Erstickungsanfälle …

Mir drohten die Sinne zu schwinden … Und – – doch wurde ich mit einem Schlage lebendig …

Eine dumpfe Stimme …

„Auch da, mein Alter?!“

Antworten?! Mit dem Knebel zwischen den Zähnen?!

Aber – bewegen konnte ich mich …

Warf mich nach hinten … Der Korb wippte, fiel langsam um …

Und als ich mich dann mühsam unter den stinkenden Decken hervorgewühlt hatte, als ich sehen konnte, da erkannte ich beim bleichen Schimmer des Mondlichts, das durch ein trübes Dachfenster fiel, vor mir auf dem Bretterboden ein ähnliches menschliches Bündel: Harst!

„Schafsköpfe!“ meinte er leise.

Und das klang so unendlich verächtlich und doch so komisch, daß ich lächeln mußte, trotz der doch wahrlich ernsten Lage …

Er rollte sich näher heran … Seine guten Zähne zerrissen die Schnur, mit der mir der Knebel im Genick befestigt war … Dieselben Zähne lösten die Knoten meiner Stricke …

Minuten später waren wir frei …

Von unseren Bärten und Perücken war nichts mehr vorhanden … Unsere Taschen, die in die Lumpen eingenäht waren, hatte man geleert … Die Pistolen fehlten – alles …!

Harst schritt zur Tür dieses Dachbodenverschlages …

Und – fuhr herum …

„Sie kommen …!“

Ein Satz zu dem Dachfenster …

Es hatte einen Holzrahmen, ließ sich hochklappen …

Harst zog sich nach oben.

Half mir … Und wir saßen auf einem steilen, turmartigen Dach …

Unter uns schimmerte der Hugli …

Es war das Dach der Schifferkneipe …

Harald ließ sich abwärts gleiten … Sechs Meter tiefer ein zweites Dachfenster …

Ich rutschte hinterdrein … Er fing mich auf …

Hinein in das Fenster … Ich zuerst … Eine ähnliche Bodenkammer … Über uns Schritte – – Poltern …

Und wir durch die Tür auf die dunkle Treppe …

Huschten nach unten … Hörten wütende Stimmen … Kamen in einen langen Flur, in dem eine Petroleumlaterne mehr stank als leuchtete …

Fünf Türen …

Und Harald auf gut Glück die eine geöffnet …

Dunkelheit – – aber rechts ein helles Viereck, ein durch eine Gardine verhängtes Fenster, das in die Kneipe mündete …

Unsere Augen gewöhnten sich an das spärliche Licht …

Das Gemach war offenbar des chinesischen Kneipwirtes Wohnstube … Neben dem Guckfenster ein billiger Schreibtisch, ein Rohrsofa, zwei Schränke, ein paar Stühle …

Plötzlich richtete sich aus dem Sofa eine Gestalt auf …

„He – wer sind Sie?!“ grunzte eine tiefe Stimme, die bedenklich schwankte …

Harst war im Nu um den kleinen Sofatisch herum …

Ich hörte ein Ächzen … einen dumpfen Schlag …

Dann wandte er sich um …

„Pellham oder Smitson …!“ flüsterte er … „Vorläufig erledigt … Her mit irgend etwas, daß ich ihn binden und knebeln kann …!“

Als ich mich bückte und mir die Schnüre von den zerrissenen Sandalen löste, fühlte ich, daß der Fußboden unter mir wippte …

Das konnte nur eine Falltür sein … Ich bückte mich, betastete die rissigen Dielen …

„Harald!“

„Was gibt’s?!“

„Eine Falltür …“

Harst hob den Bewußtlosen sofort empor … Ich öffnete die meterbreite Fußbodenklappe … Eine Treppe lief hinab … Harald stieg nach unten … Und mit raschem Griff brachte ich vom Schreibtisch des Chinesen eine Schachtel Zündhölzer und einen Porzellanleuchter mit fingerlanger Kerze in meinen Besitz …

Die Falltür schloß sich … Das erste Zündholz flammte auf …

Wir standen in des Chinesen Warenkeller …

 

4. Kapitel.

Angeklebt!!

Das Licht flackerte … Es gab hier genug Verstecke … Wir krochen hinter ein paar leere Kisten, die offenbar Flaschen enthalten hatten. Die Holzwolle und die Strohhülsen bildeten nebenbei einen ganzen Berg.

„Licht aus!“ befahl Harst …

Die Flamme erlosch knisternd …

Wir hatten den Gefangenen uns über die Schenkel gelegt …

„Binden und knebeln, mein Alter,“ meinte Harald wieder … „Ich besorge das … Wir sind hier vorläufig sicher … Man wird uns hier niemals vermuten …“

Er bewegte sich andauernd … Ich reichte ihm die Schnüre meiner Sandalen …

Und plötzlich …

„Hallo – der Kerl hat ja unsere Pistolen in der Tasche …! Wahrhaftig …!! – Mache doch nochmals Licht …“

Die Kerze flackerte wieder …

Der blondbärtige Mann lag mit geschlossenen Augen da …

Harst gab mir meine Clement, nahm dem als Matrose Verkleideten aus der Innentasche der blauen Leinenjacke ein elegantes Juchtenportefeuille …

Papiere, Geld waren darin …

„Aha – Edward Pellham ist’s …! Und hier – das ist eine Skizze des Sees von Godwira – der Höhle …! – Armer Pellham, ich fürchte, man wird Dich …“

Verstummte …

Poltern über uns … Schwere Schritte …

Ich blies das Licht aus …

Im selben Moment knarrte auch schon die Falltür …

Lichtschein fiel herab … Mehrere Männer kamen die Treppe hinunter …

Eine tiefe energische Stimme:

„Wo nur der verdammte Säufer stecken mag!!“

Eine echt chinesische Kastratenstimme dann: „Vielleicht ist er vorausgegangen, Tuwan …!“

Wir hielten den Atem an …

Eine dritte Stimme:

„Los doch …! Weg von hier! Und dann Feuer in die Bude … Mag brennen was da brennen will … Du bist ohnedies als Kneipwirt nicht mehr möglich, Tsin Li!“

Der Lichtschein der Laterne verlor sich nach der andern Kellerseite …

Wir reckten die Köpfe hoch … Es war ungefährlich … Wir sahen fünf Männer drüben an der Kellerwand vor einem großen Fasse stehen …

Mit einem Male klappte der Deckel des auf dicken niederen Böcken liegenden Fasses herab …

Einer nach dem anderen krochen die fünf hinein … Der letzte – es war Smitson – warf ein brennendes Zündholz in einen mächtigen Berg Holzwolle, neben dem ebenfalls Kisten aufgeschichtet waren …

Der Faßdeckel klappte zu …

Die Flamme schoß empor … Wie Zunder brannte die Holzwolle …

Roter Lichtschein füllte den Keller …

Qualm sammelte sich unter der Holzdecke …

„Drei Minuten Vorsprung gebe ich ihnen …“ sagte Harald … „So lange halten wir es hier schon aus … Vielleicht kehrt auch einer der fünf zurück, um nachzusehen, ob das Feuer auch weiterfrißt …“

Er hatte wieder einmal recht …

Es kehrte einer zurück: der hagere Tsin Li!

Wie ein Pfeil schoß er aus dem Fasse hervor … Jagte die Treppe hinan … Hatte sicherlich oben etwas Wertvolles vergessen …

Und – – da – als er die Falltür heben wollte – – ein hartes Peng … vom Fasse her …

Der Chinese schlug schwer nach hinten, kollerte abwärts, lag still …

Der Mörder verschwand … Es war … John Margall … Ganz deutlich hatte ich ihn gesehen … –

Harst erhob sich … Glitt aus dem Versteck hervor … zu der Leiche …

„Kopfschuß …!“

Der Qualm und die Hitze wurden bereits lästig …

Harald kniete vor dem Fasse … Fand den Nagel, der den Deckel hielt …

Wir krochen hinein, zogen und schoben Pellham mit uns … Hatten vorher noch die Kisten über den brennenden Berg gestürzt, hatten leere Säcke darüber geworfen … Das Feuer mußte am eigenen Qualm ersticken …

Ich schloß den Faßdeckel …

Wir kamen durch die Kellermauer in einen mit Brettern verkleideten Gang, in dem wir zur Not gebückt gehen konnten …

Der Gang war gut dreißig Meter lang und endete in einer ausgemauerten Müllgrube, in der eine Leiter lehnte. Oben war die Grube völlig von Schlingpflanzen überwuchert. Nur wo die Leiter sich befand, gab es eine Öffnung in dieser grünen Decke.

Ich hatte die Kerze wieder angezündet. Harst trug den noch immer bewußtlosen Pellham die Leiter empor … Ich folgte, löschte das Licht aus … Wir standen im dichten Gebüsch in der Ecke eines großen, von hoher Mauer umfriedeten Gartens mit sehr alten Bäumen …

Der Mond lugte durch die Zweige: vor uns ein weiter Rasenplatz, zwei Marmorspringbrunnen mit dünnen, sanft plätschernden Strahlen … Jenseits des Rasens eine Zierhecke aus weißblühendem Indiadorn, dahinter, von Bäumen beschattet, eine moderne helle Villa mit großen Fenstern und spitzem Schieferdach …

„John Margalls Heim, vermute ich …“ meinte Harald …

Dann schleppten wir Pellham bis zur Mauer, banden ihn hier an einen Baumstumpf, indem wir seine Jacke zu Streifen zertrennten … Der Schurke stank widerlich nach Spirituosen …

„Und jetzt?!“ fragte ich zögernd …

Ich ahnte ja: Harald würde niemals den einfachsten Weg wählen und die Polizei holen – niemals!

„Jetzt, mein Alter …?! Jetzt werden wir mal John Margall ein wenig auf den Zahn fühlen, was er denn eigentlich am Godwira-See getrieben hat. Vielleicht finden wir auch Claire und Hektor Richard Lewis … Vielleicht auch das, was die Schufte in Nepal mit Hilfe der Taucherausrüstung fischten … Komm’ nur, die Geschichte ist nun gänzlich ungefährlich … Wir haben jeder neun Schuß zur Verfügung … Und für gewöhnlich schießen wir nicht vorbei, schätze ich …!“

„Halt – hast Du Dir auch schon überlegt, daß die arme Claire, wenn ihr Vater und Colin Roß entlarvt werden, unendlich leiden muß …?! Was wird sie …“

„Beruhige Dich …! In solchen Fällen pflege ich die Leute zur Selbstjustiz zu zwingen … – Also vorwärts …!“

Er schritt voran, immer an der Mauer hin …

Wir hatten jedoch noch keine zehn Meter zurückgelegt, als vom Hause zwei Männer angelaufen kamen … Zwei, die unsere Zahnbürsten zum Stiefelschmieren benutzt hatten. Lampa und Sapu …!

„Oh – – auf die habe ich gerade gewartet!“ meinte Harald … Und in seiner Stimme war etwas, das für die beiden Nepalesen nichts Gutes verhieß.

Wir erwischten sie denn auch gerade vor der Grube … Unser plötzliches Auftauchen ließ sie zu Bildsäulen erstarren. Sie hatten Spaten und andere Geräte bei sich und wollten offenbar den Mauerdurchbruch im Keller der Kneipe nach dem unterirdischen Gange hin zuschütten, damit dieser Verbindungsweg nach dem Villengrundstück hier auf keinen Fall entdeckt würde.

Unserer Pistolen im Mondlicht matt schimmernde Läufe hatten eine verblüffende Redseligkeit der beiden verängstigten Schurken zur Folge.

Es war so recht Nepalesenart, daß sie winselnd in die Knie sanken und weinerlich alles eingestanden, was Harald ihnen drohend vorhielt …

Ja – sie ständen seit Jahren mit dem Tuwan im Bunde … Sie sollten jetzt das Mauerloch zuschütten und einen Teil des Ganges zum Einsturz bringen …

Der Tuwan hatte sie auch nur deshalb gefesselt am Godwira-See zurückgelassen, damit sie uns dauernd beobachten könnten … –

Nur eins wußten sie angeblich nicht: den Namen des Tuwan! Sie behaupteten auch, daß nur drei Europäer am Godwira-See gewesen seien. Diese drei hatten sich jedoch nie mit Namen angeredet, sondern stets nur mit anderen Bezeichnungen.

„Und wozu die Taucherausrüstung?“ forschte Harald weiter … „Ihr habt doch vom Grunde des Sees etwas geholt … Was also?“

Lampa, der bisher hauptsächlich den Sprecher gespielt hatte und dessen blödes Gesicht weniger scharfe Beobachter noch immer über seine geistigen Fähigkeiten getäuscht hätte, dieser schlaue Fuchs Lampa winselte auch jetzt händeringend:

„Nichts wissen wir, Master … gar nichts wissen wir …“

Haralds Geduld war zu Ende …

Es gibt Situationen, in denen eine kräftige Ohrfeige Wunder tut …

So auch hier …! – Ich erlebte es zum ersten Male, daß Harald einen Menschen in dieser Weise schlug … Lampa fiel wie betäubt zur Seite … Und sein Freund Sapu, eingeschüchtert bis zur schlotternden Angst, stieß jetzt hervor:

„Der Tuwan heißt Colin Roß … Auf dem Grunde des Sees lagen in rötlichem Ton Diamanten …“

Harst starrte den Nepalesen an …

Colin Roß?! Nicht John Margall?! War das denn möglich?!

In diesem Moment, wo wir beide vor etwas völlig Neuem standen, das den Geschehnissen doch wieder eine andere Deutung gab, bewährte sich Haralds geistige Regsamkeit abermals aufs beste. Eine einzige Frage von ihm klärte die Dinge …

„Der Tuwan hat auffallend starke graue Augenbrauen … Sind sie echt …?“

„Angeklebt …!“ heulte der jämmerliche Sapu kläglich …

„Ah so …! Angeklebt!! Welch ein Schurke …!! Welche Gemeinheit, gleichsam die Maske des Vaters seiner betrogenen Verlobten anzulegen …! – Schraut, binden und knebeln …! Jeden an einen Baum … Zerschneiden wir ihre Kittel …“

Die Nepalesen waren wie Schafe, die man zur Schlachtbank schleppt. Alles ließen sie mit sich machen … – alles … Mucksten nicht … Winselten nur um Gnade …

Und als wir sie dann sicher hatten, als Harald die Fesseln nochmals prüfte, da gab der größere Feigling von beiden, der elende Sapu, durch allerlei Bewegungen und Grimassen zu verstehen, daß er noch etwas verraten wollte …

Harst lächelte geringschätzig …

„Wenn Du uns etwa noch mitteilen willst, daß Lewis und Miß Margall irgendwo dort in der Villa gefangen gehalten werden, so kommst Du damit einen Posttag zu spät … – Stecken sie im Keller?“

Sapu schüttelt den Kopf, schneidet noch wildere Gesichter …

Harald nimmt ihm den Knebel ab …

„Die Miß und der Master liegen gefesselt in einem großen Schrank in der Vorhalle der Villa …“ jammert Sapu … „Oh – Sie sollten uns laufen lassen, Master Harst … Wir haben sonst nichts Böses getan … Nie gemordet … Nur der Tuwan war unser Verführer …“

Harst überlegt … fragt etwas anderes:

„Wart Ihr beide vielleicht mit unter den Teilnehmern der Expedition Sandor? Befand sich auch ein Amerikaner John Margall dabei – als Koch?“

Sapu nickt … „Ja, Master Harst …“

„Hat Margall vielleicht des öfteren in dem durch die heißen Quellen erwärmten Wasser gebadet?“

„Ja, Master … Mehrmals … Und er tauchte dann stets … Master Sandor war vom Zinkboot aus ein Revolver ins Wasser gefallen …“

„Also so entdeckte Margall das Geheimnis des diamantenhaltigen Tonlagers!“ sagte Harald zu mir in deutscher Sprache. „Es bleibt jetzt nur noch zweierlei aufzuklären: erstens: wie erfuhr Colin Roß, der jetzt schon als Oberhaupt der sieben Weisen entlarvt ist, daß Margall seine damaligen Erlebnisse niedergeschrieben und in dem chinesischen Kästchen verwahrt hatte? – Zweitens: war Margall wirklich Mitglied des Bundes?! – Ich bezweifle es fast … Es gibt da noch einige dunkle Punkte, die Colin Roß wird lichten müssen …“ – Und zu Sapu: „Wieviel Leute befinden sich in der Villa?“

Sapu sann nach … – „Colin Roß, Smitson, drei Nepalesen und vier indische Diener …“

„Wem gehört die Villa?“

„Einem der Inder, einem Kaufmann! … Sawaru heißt er …“

„Und Sawaru ist … Mitglied der sieben Weisen?“

„Ja …“ was sehr zögernd klang …

„Hat Sawaru die Goldladung des Dampfers hier im Hafen stehlen lassen?“

„Ja, Master Harst … Lassen Sie uns laufen …! Wir … wir … werden auch noch etwas verraten: das Gold ist hier im Garten vergraben … In der Nordecke befindet sich ein großer Ameisenhügel … Unter diesem liegt das Gold … – Master Harst, lassen Sie uns …“

Harald wandte sich zu mir … „Im Grunde sind diese Kerle tatsächlich nur die Verführten …!“ Und – – er schnitt sie los …

„Verschwindet! Lauft zur Polizei und sagt, daß ich Euch schicke … Die Polizei soll Sawarus Villa sofort umzingeln …“

Die beiden stammelten vor Freude allerlei Unverständliches … Dann kletterten sie wie die Katzen über die Mauer …

Ich mußte lachen … „Die werden sich hüten, die Polizei zu holen …!!“

„Wollen sehen …!“

 

5. Kapitel.

Der Tote auf dem Ameisenhügel.

Es kam alles ganz anders, als wir uns das Ende dieses Kriminaldramas vielleicht ausgemalt hätten …

Ganz anders …! So unerwartet waren die folgenden Ereignisse, daß wir beim besten Willen nicht hindernd eingreifen konnten …

Wir waren näher an die Villa herangeschlichen. Harst hatte die Absicht gehabt, zunächst einmal Claire Margall und den Kollegen Lewis zu befreien.

Und da, als wir hinter der Ecke vor dem Seiteneingang des Hauses lagen, da … erschienen aus dieser Tür drei Männer: Colin Roß, noch in der Verkleidung des wohlhabenden Chinesen, ferner ein ebenso tadellos angezogener Inder und drittens der spitzbärtige Smitson in einem praktischen Sportanzug. – Sie schauten sich mißtrauisch um. Unsere Flucht schien ihnen doch sehr auf die Nerven gefallen zu sein …

Colin Roß trug einen Ledersack in der Hand, während Sawaru, der Inder, einen noch umfangreicheren auf dem Rücken hatte. Sie schlugen die Richtung nach der Nordecke des Gartens ein und verschwanden unter den Bäumen.

„Hm – ob sie etwa die Edelsteine und die den Mönchen geraubten Tempelgeräte unter dem Ameisenhügel gleichfalls verscharren wollen?!“ meinte Harald. „Wir werden jedenfalls zunächst mal in die Vorhalle schleichen … Die Tür haben sie offen gelassen … Vorwärts!“

In der Villa war es totenstill …

Ein langer Flur lief nach vorn … Zwei elektrische Lampen brannten hier … Die Marmorfliesen, die kostbaren Läufer, die geschmackvolle Einrichtung der Vorhalle bewiesen Sawarus Reichtum, der ja fraglos aus sehr unlauteren Quellen stammte …

Und hier in der Vorhalle ein riesiger dunkler Schrank mit Glastüren und verschiedenen Querbrettern, auf denen allerlei altertümliche Vasen, Gläser, Zinngegenstände und anderes zur Schau gestellt waren … Aber – die eine Tür des Schrankes war offen … Und unten, wo die Querbretter fehlten, schauten wir in einen Raum hinein, der sich bis in die Mauer fortsetzte … Er war leer … Und dieser Teil der Rückwand lag herabgeklappt nach vorn. – Nein – doch nicht ganz leer … Drei, vier Strickenden sahen wir, dazu zwei Leinwandkugeln mit Schnüren daran: Knebel!

„Sie sind bereits entwischt,“ flüsterte Harst … „Lewis wird es gelungen sein, die Fesseln abzustreifen … – Das ist merkwürdig …!“

Er schien mit einem Male etwas beunruhigt …

Und zog mich plötzlich hastig mit sich fort …

In den Garten – in die Büsche … zur Nordecke …

„Clement heraus, mein …“

Wir prallten da beide leicht zurück …

Beide – vor dem harten vielfachen Peng – Peng von Pistolenschüssen …

Der Freund begann zu laufen …

Wir hetzten weiter … Die Clement in der Hand …

Brachen durch Gestrüpp … Hörten Rufe – Stimmen … drohende Schreie …

Und platzten auf eine kleine Lichtung hinaus, wo ein einsamer halb vertrockneter Riesenbaum stand, an dessen Fuß ein anderthalb Meter hoher Hügel jener rotbraunen indischen Ameisen sich befand, die jeder Parkbesitzer sorgsam behütet, da sie die besten an Ungeziefervertilger sind …

Quer über dem Hügel lag ein Mann –: Colin Roß …

Daneben ein zweiter: Smitson …!

Und drei indische Polizisten hielten den Inder Sawaru fest, während Kollege Lewis die halb ohnmächtige Claire zärtlich stützte … Noch vier weitere Beamte waren zur Stelle …

Und wir beide in unseren Lumpen, Teile der angeklebten Zottelbärte noch im Gesicht, wurden von den Beamten mißtrauisch gemustert, bis Hektor Richard Lewis mit merkwürdig brüchiger Stimme rief:

„Harst – ich konnte es nicht verhindern … Claire riß mir die Pistole aus der Hand … Dann kamen die Beamten auch schon über die Mauer …“

Claire Margall machte sich aus Lewis’ Armen frei … Sie war unnatürlich bleich …

„Ich … habe Colin Roß erkannt,“ rief sie überlaut, fast schreiend … „Ich wußte nun, wie er mich hintergangen hat … Und – er hat alles zugegeben, Mr. Harst, hat mich noch verhöhnt … Mein Vater hatte durch einen Zufall von Colin Roß’ Zugehörigkeit zu der Verbrecherbande erfahren und eine ihrer schriftlichen Mitteilungen in seinem Besitz … Colin Roß wieder wußte, daß er ungeschliffene Diamanten in Neuyork veräußert hatte und daß diese nur aus dem Godwira-See stammen könnten …“

Ein Weinkrampf warf die Ärmste plötzlich nieder … Ihre Nerven versagten … –

Eine Stunde darauf hatte Edward Pellham, unser Gefangener, vor Sir Codanoor, um die eigene Haut als Kronzeuge zu retten, so überreiche Einzelheiten über die sieben Weisen zu Protokoll gegeben, daß die weitverzweigte Bande, die stets nur Millionengeschäfte „erledigt“ hatte, völlig kaltgestellt werden konnte. – –

Der unterirdische Buddhistentempel am Godwira-See ist heute kein Geheimnis mehr. In der Gerichtsverhandlung gegen Claire Margall wegen doppelten Totschlags kamen auch diese Dinge zur Sprache und fanden so den Weg in die Presse. Claire wurde freigesprochen: momentane Unzurechnungsfähigkeit! – Claire ist heute Frau Lewis und offenbar sehr glücklich. Sie brachte ihrem Gatten ein Riesenvermögen mit in die Ehe: die Diamanten aus dem Godwira-See die man ihr als ihr Eigentum – als Erbin ihres Vaters, des Entdeckers der Fundstelle – überließ.

Wir besitzen von diesen Edelsteinen ein Dutzend in unserer Raritätensammlung. Mehr wert als diese Steine sind für mich die Erinnerungen an die verschneiten Berge – an eine der Stufen zum Gipfel der Welt – an den Godwira-See und seine bezaubernde Umgebung – an das Gestade der Vergessenheit! –

Und jetzt lege ich die Feder beiseite, nehme für heute Abschied von meinen Freunden und Lesern, sage – – auf Wiedersehen beim

Maskenball der Toten,

denn so will ich das folgende unserer indischen Erlebnisse betiteln …

 

 

Anmerkungen:

  1. „Newyork(er)“ / „Neuyork“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Neuyork(er)“ geändert.
  2. Arnold Böcklin (1827–1901 war ein Schweizer Maler, Zeichner, Grafiker und Bildhauer. Von ihm stammt das Werk „Die Toteninsel“. Dagegen stammt das Gemälde „Das Gestade der Vergessenheit“ von Eugen Bracht (1842–1921), was tatsächlich gern verwechselt wird. Siehe auch Wikipedia: Arnold Böcklin und Die Toteninsel sowie Eugen Bracht und Das Gestade der Vergessenheit.
  3. Wieso sind Harst und Schraut jetzt auf einmal in ihrer Höhle und nicht bei Halport und Claire Margall? Am Ende des 2. Kapitels hieß es doch noch: „Wenn’s Ihnen recht ist, brechen wir sofort auf …“ und „Ich bin sehr gespannt auf Miß Claire Margall …“. – Siehe dazu Anmerkung 4 und 5.
  4. Bisher ist im vorangegangenen Text noch nie etwas von der Gefangennahme Halports und Claire Magalls erwähnt worden. Woher also wissen Harst und Schraut das? – Siehe dazu Anmerkung 5.
  5. Wo und wann trennten sie sich von Lewis?
    Hier fehlt eindeutig an verschiedenen Stellen Text. Und nicht nur eine Zeile, sondern jeweils ein ganzer Handlungsstrang. Das heißt, Harst und Schraut müssen, bevor sie ihre eigene Höhle aufgesucht haben, zusammen mit Lewis in dessen Höhle gewesen sein und dort festgestellt haben, daß Halport und Claire Margall gefangengenommen wurden. Darauf verließen Harst und Schraut (sicherlich erst nach gründlicher Untersuchung der Höhle) Lewis. Und dieser wollte (vielleicht) erst einmal allein nach Halport und Claire Margall suchen.
    Eine denkbare Möglichkeit wäre, daß der Setzer den Text des eingereichten Manuskripts eigenmächtig gekürzt hat, da das Heft drucktechnisch tatsächlich fast voll ausgereizt ist. Und dabei sind – leider – handlungsrelevante Teile weggefallen. Aber das ist nur eine Vermutung.
  6. In der Vorlage steht: „Lasa“.
  7. In der Vorlage steht: „Keks“.
  8. In der Vorlage steht: „aTnte“.
  9. In der Vorlage steht: „dekollorierten“. Mit „dekolletierten Roben“ sind hier (tief) ausgeschnittene einteilige Frauenkleider gemeint.
  10. In der Vorlage steht: „nUd“.
  11. Woher weiß Harst diese Namen? Sie sind im vorangegangenen Text noch nie erwähnt worden. Es sind fraglos die beiden Mineningenieure, aber es geht nirgends hervor, wo und wie Harst diese Namen erfahren hat. Durch Nachfrage bei der Aktiengesellschaft? Durch Claire Margall oder Hektor Richard Lewis? Auch hier fehlt leider wieder Text.