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Das Gespenst von Jan Mayen

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 143:

 

Das Gespenst von Jan Mayen.

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die acht Toten von Jan Mayen.

Die Depesche erreichte uns im Trafalgar-Hotel in Bombay. Wir waren den Tag über bei den Perlenfischern in der Gondabaar-Bucht gewesen, wo Harald Harst eine kleine Betrügerei aufdeckte, die uns immerhin eine Belohnung von zweihundert Pfund einbrachte. Und als wir abends heimkehrten, fanden wir das Telegramm vor.

Es liegt hier neben mir, während ich mit der Niederschrift dieses Seeabenteuers beginne. Ich sammele jede Kleinigkeit, die mit den von uns erledigten Problemen zusammenhängt.

Die Depesche hat folgenden Wortlaut:

Harald Harst, Indien, über Kalkutta,
Savoy-Hotel, nachsenden.

Bitte sofort wichtige dringende Angelegenheit gegen Honorar in beliebiger Höhe zu übernehmen. Meine Jacht Mandragora wird in Genua für Sie bereitliegen. Keine Kosten scheuen. Alles Nähere an Bord der Jacht. Gleichzeitig Ihnen 25 000 Mark durch Filiale Indra-Bank, Kalkutta, angewiesen. – Fürst Salvani, Rom, Salvani-Palast.

„Salvani – das ist der italienische Pierpont Morgan, der Milliardär mit dem Forscher-Spleen,“ meinte Harst und reichte mir die Depesche. „Übrigens noch ein junger Mann und der letzte seines Geschlechts, bisher unverheiratet …“

Er kramte in den Zeitungen und Zeitschriften, die auf dem Sofatisch unseres gemeinsamen Wohnsalons lagen. „Ich hatte noch gestern in der Bombay-World einen Artikel über Salvanis Tiefseeforschungen gefunden – mit Illustrationen … Aha – hier ist er … Bitte, mein Alter, – ein Bild des Fürsten, zwei Aufnahmen seiner Luxusjacht und zwei Photographien von Riesentintenfischen, die er geangelt hat … – Hm – ein sehr charakteristisches Gesicht … Die starken Augenbrauen und die Falten über der Nasenwurzel geben diesem Antlitz etwas Strenges, fast Finsteres … – Da – schau Dir die Bilder an und dann packe unsere Koffer. Ich werde im Hotelbüro die Fahrgelegenheit feststellen. Ich hoffe, wir können noch heute nacht abreisen.“

Und – es war so …

Um elf Uhr gingen wir an Bord des englischen Passagierdampfers „Connaught“, und um halb zwölf sahen wir bereits hinter uns am Horizont im Mondenschein die Türme des Schweigens auf der Malabar-Halbinsel allmählich entschwinden. –

Über die Reise bis Genua ist nichts zu berichten. Im Roten Meer war es wie immer backofenheiß, und in der Kanalstadt Suez herrschte die Cholera. Im Mittelländischen Meer wurde es dann behaglicher, und vier Tage später begrüßte uns das wohlbekannte Panorama des Hafens von Genua.

Abends neun Uhr lief die „Connaught“ ein. Harst hatte von Suez aus an den Fürsten telegraphiert. Kaum hatte der Riesendampfer am Kai festgemacht, als auch schon eine elegante Motorbarkasse herbeigeschossen kam, die uns abholte und an Bord der weißen Luxusjacht brachte.

Im Salon erwartete uns der Fürst – ganz allein …

Er begrüßte uns sehr gemessen, aber liebenswürdig. Mir schien’s, als ob dieser italienische Aristokrat in uns nur zu sehr die für Geld arbeitenden Privatdetektive sah und die ihm gesellschaftlich fast Gleichgestellten … übersah …! Seine Liebenswürdigkeit hatte etwas Gönnerhaftes und Herablassendes. Einen Mann mit Forscherspleen hatte ich mir anders vorgestellt.

Im Salon war für drei Personen gedeckt. Wir nahmen Platz …

Stewards bedienten … Die Unterhaltung drehte sich um alles Mögliche, nur nicht um den Auftrag, den der Fürst uns erteilen wollte.

Mit einem Male legte Harst dann Messer und Gabel hin …

„Die Jacht verläßt den Hafen?“ sagte er und blickte Salvani fest an.

„Allerdings, Herr Harst …“

Ich hörte jetzt ebenfalls die Schiffsmaschinen arbeiten.

Harald lehnte sich etwas zurück …

„Es wäre besser gewesen, Sie hätten uns vorher erklärt, was wir für Sie erledigen sollen, Durchlaucht …,“ meinte er etwas unwillig. „Ich habe Ihnen von Suez aus mitgeteilt, daß ich mir eine endgültige Entschließung noch vorbehalte. Ich kann nur annehmen, daß Sie bisher absichtlich das für mich wichtigste Thema, Ihren Auftrag, vermieden haben …“

„Es ist so, Herr Harst,“ nickte der Italiener ernst.

„Weil … Sie voraussahen, daß ich den Auftrag ablehnen würde, Durchlaucht, – nicht wahr?!“

„Es ist so, Herr Harst. Ich entführe Sie beide … Sie müssen jetzt mit mir nach Jan Mayen …“

„Wohin?! Jan Mayen?!“ Und Harald dachte nach … „Ah – Jan Mayen, die Insel im nördlichen Atlantik …!“

„Es ist so, Herr Harst …“ Der Fürst blieb ruhig und ernst. „Wissen Sie über Jan Mayen Bescheid?“

„Nicht viel, Durchlaucht …“

„Das ahnte ich … – Bitte – ich werde Ihnen hier einen Artikel aus der Berliner Illustrierten Zeitung zunächst vorlesen …“

Ein Steward erschien und servierte Käsegebäck, verschwand wieder …

Der Fürst, der tadellos deutsch sprach, las vor:

„Halbwegs zwischen Island und Spitzbergen liegt das Inselchen Jan Mayen mit seinen rund 400 Quadratkilometern Grundfläche. „Eigentlich“ hat es dort oben im Eismeer gar nichts zu suchen. Das Meer rings umher hat nämlich eine Tiefe von zweieinhalb- bis dreitausend Metern, und aus dieser Tiefe schießt da mit einem Male ein mächtiger, mehr als fünftausend Meter hoher Berg auf. Zur Hälfte steckt er im Wasser, zur anderen Hälfte ragt er mit 2500 Meter Höhe über die Meeresoberfläche auf, und was da aus dem Wasser herausguckt, ist eben unser Inselchen Jan Mayen. Es ist die obere Hälfte eines gewaltigen Vulkanes. Seine höchste Erhebung – sie ist „Beerenberg“ getauft – trägt eine mächtige Krateröffnung. An einer Stelle wirbelt noch heute unaufhörlich heißer Dampf aus dem Erdinnern auf; sonst ist alles vulkanische Leben hier erstorben – seit langem.

Auf der Insel zu landen ist ein kleines Kunststück. Natürliche Häfen besitzt sie nicht. Die Küsten sind entweder steile Klippen oder flach – aber so flach, daß man im Boot nur hingelangen kann, wenn man zweihundert Meter vorher aussteigt und das Boot schiebt. Mit dem Wachstum ist’s auf dem Inselchen sehr schwach bestellt, ebenso mit dem Tierleben. Seevögel, Grau- und Silberfüchse sind einheimisch, Eisbären kommen ab und zu auf Besuch – von Grönland, nämlich in strengen Wintern, wenn das Packeis eine feste Brücke über diese Riesenentfernungen bildet. Regen (der meist Schnee ist) fällt in erträglichen Mengen; um so häufiger und langwieriger sind dicke Nebel. Kurz, dieses Jan Mayen ist ein herzlich ungemütlicher Aufenthalt.

Wem das Inselchen eigentlich gehört, das steht noch nicht fest, weder völkerrechtlich noch privatrechtlich. Im 17. und 18. Jahrhundert gab Jan Mayen im Sommer einen Stützpunkt für holländische Walfischfänger ab (nach einem von denen ist sie auch benannt). Dann kümmerte sich lange niemand um sie. 1882–83 hauste hier eine österreichische Polarexpedition, die unter anderm eine Karte der Insel aufnahm. Ihr schönes geräumiges Holzhaus steht noch. 1919 erschien das dänische Wachtschiff „Islands Falk“, nahm das Ganze in Besitz und man malte eine große dänische Fahne auf die Haustür. Dies hielt die Norweger nicht ab, ihrerseits zwei Jahre später mit einer Expedition hier aufzutauchen und sich auf Jan Mayen häuslich einzurichten, soweit dies dort möglich. Was die Norweger trieb, war nicht Großmannssucht oder ein Wiederaufleben von Wikingerinstinkten, sondern ein sehr praktischer Grund: Sie haben hier eine meteorologische Beobachtungsstation errichtet, die sie dringend nötig hatten, um ihren Sturmwarnungsdienst zu vervollkommnen. Der ist ja für Norwegen, wo drei Viertel der Bevölkerung vom Fischfang lebt, eine sehr notwendige und ernste Sache. Seit 1921 ist Jan Mayen also nun kein ödes Eiland mehr, sondern „bewohnt“. Von drei Mann – auf 400 Geviertkilometern (an Raum fehlt’s also nicht); von drei Mann und – einem Schwein, das freilich jährlich „erneuert“ werden muß. Nicht, daß es etwa das Klima nicht vertrüge; aber der Mensch ist nun mal ein Raubtier, und die drei Norweger bilden gewiß keine Ausnahme. Diese drei modernen Robinsons werden jedesmal nach Ablauf eines Jahres abgelöst. Die Ablösung muß sich ausstaffieren wie eine Nordpolexpedition, das heißt: sie muß sich alles Nötige mitbringen, einschließlich des Schweines. Solange es lebt, ist’s der erklärte Liebling aller und bringt als einziges Haustier „Leben in die Bude“; und noch im Tode ist’s der erfolgreichste Bekämpfer des Skorbuts.“

Der Fürst legte das Blatt beiseite.

„Sehr interessant,“ meinte Harst da mit einiger Ironie. „Aber – was sollen wir auf Jan Mayen, Durchlaucht?!“

„Sofort, Herr Harst …“

Er erhob sich und trat an eins der Fenster des Salons und schaute hinaus, kehrte dann zum Tische zurück, setzte sich wieder …

„Wir sind bereits weit genug vom Lande ab …,“ sagte er. „Weit genug, daß ich auf keinen Fall mehr umkehren werde …“

Der Steward trat ein und brachte den Mokka …

„Dorthin!“ befahl Salvani und zeigte auf eine behagliche Ecke mit drei Klubsesseln.

Wir erhoben uns …

Ich versank in einem der weichen Saffiansessel … Der Steward reichte Zigarren und Zigaretten, verschwand und kam nicht wieder …

Harst mir gegenüber trank einen Schluck Mokka …

Meinte unvermittelt:

„Die drei Norweger sind also ermordet worden … die drei Robinsons von Jan Mayen …“

Salvani schien verblüfft …

„Woher wissen Sie das, Herr Harst?“

„Ich denke es mir, Durchlaucht. Ich nehme an, Sie sind in diesem Frühjahr mit Ihrer Jacht auf Jan Mayen gewesen, haben die drei Norweger tot aufgefunden und nicht feststellen können, wer sie ermordet hat …“

Salvani nickte. „Herr Harst, das ist richtig … Nur liegen die Dinge doch nicht so einfach … – Ja, ich war im Mai dieses Jahres dort, vor sechs Wochen also. Die Landung war sehr schwierig. Als ich das Blockhaus der drei Leute betrat, fand ich sie tot auf ihren Betten liegen. Jeder hatte ein Dolchmesser im Herzen. Die Leichen waren noch warm. Da ich den Wetterdienst nicht unterbrechen lassen wollte, bediente ich selbst zwei Tage mit meinen Assistenten die Apparate und auch den Funksender, der durch Morsezeichen die Berichte nach Oslo in Norwegen schickt. Ich hatte den Ehrgeiz, die Mörder persönlich ausfindig zu machen und meldete das Vorgefallene nicht. Als ich die dritte Nacht an Bord zubrachte und meine beiden Assistenten und Doktor Gulloni in der Blockhütte zurückgelassen hatte, da …“

„… waren auch diese am nächsten Morgen tot – ermordet …“

„Es ist so, Herr Harst …“

„Sie hatten die Insel durchsucht?“

„Ja, so weit dies möglich ist. Wir fanden nichts …“

„Und dann?“ – Ich merkte: Harst interessierte der Fall … Mich auch.

„Dann, Herr Harst, blieb ich mit zwei Leuten drei Nächte in der Hütte … In der dritten Nacht erwachte ich … Ich sah eine schattenhafte Gestalt neben meinem Bett … Meine Pistole lag bereit … Ich rief – schoß … In dem halbdunklen Gemach verschwand die Gestalt …“

„Und Ihre beiden Gefährten waren tot …“

„Ja – Herzstiche …! Mich hat nur mein leiser Schlaf gerettet. – Das Blockhaus war verschlossen, die Fensterläden zugeschraubt … Wie der Mörder hat eindringen können, blieb ein Rätsel … – Meine abergläubische Besatzung taufte den Mörder … Das Gespenst von Jan Mayen … Keiner der Leute wagte sich mehr auf die Insel. – Ich schickte eine Funkdepesche jetzt nach Oslo und berichtete alles. Die Regierung depeschierte zurück, daß sie mich bäte, meine Nachforschungen zu erneuern. Die Station auf Jan Mayen solle der zu großen Kosten wegen aufgelöst werden. Falls ich nichts fände, würde sich die Absendung einer Expedition erübrigen. – Die Norweger müssen eben sparsam wirtschaften …“

„Und – dann?“

„Habe ich meine Leute durch hohe Belohnungen schließlich doch noch wieder an Land bekommen. Wir durchsuchten Jan Mayen abermals – zwei Tage …“

„Umsonst …“

„Umsonst! – Darauf telegraphierte ich nach Oslo, daß ich mit Ihnen, Herr Harst, dorthin zurückkehren würde … Und jetzt wissen Sie auch, weshalb ich Sie aus dem Hafen von Genua … entführt habe. Ich fürchtete, Sie würden ablehnen …“

„Ein Irrtum …! Ich hätte nicht abgelehnt, Durchlaucht. Im Gegenteil …! Es gilt acht Ermordete zu rächen … Jede Untat muß geahndet werden …“

Mit einem Schlage verwandelte sich da das Benehmen des Fürsten. Er drückte uns fest die Hand …

„Ich danke Ihnen, meine Herren … Ich hatte der norwegischen Regierung zugesagt, diese Verbrechen durch Sie beide aufklären zu lassen. Ich wollte nicht gern wortbrüchig werden. Ich danke Ihnen …“

„Ganz unnötig …!“ Und Harald nahm eine Zigarette … Nach den ersten Zügen dann:

„Nun möchte ich Sie einiges auf meine Art fragen, Durchlaucht … Und schon jetzt bemerke ich: Schraut und ich werden acht Tage allein auf Jan Mayen bleiben!“

 

2. Kapitel.

Die Verbündeten derer von Jan Mayen.

„Fragen Sie,“ meinte Salvani.

„Haben Sie das Blockhaus durchsucht?“

„Gewiß … Es gibt dort keinerlei Falltüren oder sonstwie geheime Zugänge, durch die der Mörder hätte eindringen können …“

Harst lächelte ganz wenig …

„Wenn Fenster und Türen fest versperrt waren, muß es wohl einen Zugang geben …“

Salvani schaute zur Seite …

„Wir leben in einem Zeitalter, Herr Harst, wo die alten Geheimwissenschaften wieder erweckt worden sind. Der Okkultismus gewinnt immer mehr Anhänger. Was man vor zwanzig Jahren als Aberglauben belächelte, gilt heute als Evangelium …“

„Hm – glauben Sie an übernatürliche Dinge, Durchlaucht?“

„Bis zu einem gewissen Grade – ja!“

„Also halten Sie es für möglich, daß diese acht Morde von einem Wesen ohne Fleisch und Blut verübt worden sind – – von … dem Gespenst von Jan Mayen?“

Der Fürst hob die Schultern …

„Ersparen Sie mir eine Antwort, Herr Harst … – Wir haben auf der Insel keine lebende Seele gefunden … Wir haben, 24 Mann, gesucht, geforscht, beobachtet – immer wieder …! – Ich weiß nicht, was ich davon halten soll …“

Harst hatte die Augen halb geschlossen …

Sein tief gebräuntes Gesicht war das eines Schlafenden …

Er träumte wachend – seine Träume … fügte logische Gedankenketten aneinander …

Und fragte nach endloser Stille:

„Das Schwein der drei Norweger – lebte es noch?“

Ich war verdutzt …

Die Frage klang so unglaublich banal …

Salvani empfand dasselbe.

„Das ist doch wohl sehr gleichgültig, Herr Harst …!“

„Durchaus nicht. Also – lebte es noch?“

„Ja … Die drei Leute waren ja erst vierzehn Tage auf der Insel.“

„Danke, Durchlaucht … Und – Sie ließen das Schwein dort?“

„Gewiß … Es findet Moos und Schnecken übergenug … Es treibt sich frei auf der Insel umher.“

„Wenn wir es nicht mehr vorfinden, Durchlaucht, dürfte das Gespenst es geschlachtet haben,“ sagte Harald gleichmütig.

Salvani nickte …

„Wenn wir es nicht mehr vorfinden … Aber wir werden es vorfinden … Ein einzelner Mensch hat an den Konserven jahrelang zu zehren … – falls es ein Mensch ist, der … Mörder …“

Harst langte nach einer Zigarette …

„Es sind mehrere, Durchlaucht … – Wir werden zunächst mal den Hafen von Oslo anlaufen …“

„Ah – und weshalb?“

„Verzeihen Sie, Durchlaucht: ich spreche nie über meine Absichten. Sogar mein alter Freund Schraut beklagt sich stets bitter darüber, daß ich so … zugeknöpft bin. – Der Fall Jan Mayen wäre hiermit vorläufig abgetan – bis Oslo … – Sprechen wir von anderen Dingen …“ –

Tage wundervoller Ruhe folgten nun … Eine Seereise auf einer Luxusjacht, wie die „Mandragora“ es ist, dürften wir nie wieder erleben … –

„Mandragora“ – – seltsamer Name. War so recht der Geschmack des Fürsten, der an allem Geheimnisvollen Gefallen fand – bei all seiner ernsthaften Forschertätigkeit.

„Mandragora“ ist bekanntlich eine Wurzel, die von Natur die Gestalt eines Menschen hat. Diesen Wurzeln schreibt man übernatürliche Kräfte zu. – Die Jacht des Fürsten besaß denn auch als Galionsfigur eine kleine echte Mandragora – als Talisman … –

Und Salvani selbst? – Nun, der entwickelte sich immer mehr zu einem guten zwanglosen Kameraden. Der war ein Gastgeber, wie man ihn selten findet …

Jeder tat an Bord der Jacht, was er wollte … Jeder war sein eigener Herr …

Ich habe damals unheimlich viel gelesen: über die Tierwelt der Tiefsee, über die Fortpflanzung der Polypen, über vieles andere …

Harst dagegen tat absolut nichts. Zumeist lag er im Bordstuhl und … döste, wie das schöne vulgäre Wort für den höchsten Grad des Nichtdenkens lautet …

Döste er nicht, dann turnte er, schoß nach der Scheibe, übte sich im Lassowerfen und kletterte in den beiden Masten der Jacht umher …

Die Besatzung verehrte ihn. Es war eben die alte Geschichte: Harald fand für jeden Menschen den passenden Ton – für jeden! Und die Macht seiner Persönlichkeit tat das übrige. – All diese Italiener auf der „Mandragora“ wären für ihn durchs Feuer gegangen! Oft saß er mitten unter den Matrosen im Mannschaftslogis am langen Tisch und erzählte ihnen lehrreiche Abenteuer. Daß er dabei dann auch die Leute über die Ereignisse auf Jan Mayen ausforschte, merkten sie kaum. Und daß für sie ein Detektiv eine Art höheren Wesens vorstellte, ist ebenso selbstverständlich.

Köstliche Tage also … Diners, Soupers – – mein Bäuchlein rundete sich!

Und dann eines Morgens – – der Christiania-Fjord!

Die Norweger haben ihre Hauptstadt Christiania leider vor einiger Zeit umgetauft: Oslo! – Leider! Christiania klang poetisch. In dem Namen war Musik. Oslo, – – ich weiß nicht, – für mich bleibt Christiania eben Christiania.

Und als wir dann von Deck aus über die Stadt und den Fjord mit seinen Felseneilanden und der zartblauen Beleuchtung hinschauten und mit diesem nordischen Paradies ein freudiges Wiedersehen feierten, da bat Harald den Principe (Fürsten), die Mannschaft zusammenrufen zu lassen.

Es geschah. Harald trat vor die Leute hin, bat sie, hier zu verschweigen, daß wir beide an Bord seien …

„Ich habe hier einiges zu erledigen, was mit den Morden zusammenhängt. Ich werde nur Erfolg haben, wenn Schraut und ich hier als harmlose Gelehrte gelten …“

Der Zweite Steuermann trat vor, ein kleiner stämmiger Korse, ein Landsmann des Weltbezwingers Napoleon.

„Signore,“ sagte er feierlich, „für Sie tun wir alles! Ich lege für die Leute meine Hand ins Feuer! Sie werden das Maul halten …“

Und dann machten wir beide uns an die Arbeit … In einer Viertelstunde waren wir zwei ältere würdige Herren mit Brillen und leicht ergrauten Bärten. Ein Boot setzte uns weit außerhalb[1] der Stadt an Land. Zu Fuß wanderten wir gen Oslo.

Und jetzt unterwegs fragte ich den Freund, was er nun zu tun beabsichtige …

Ich rechnete kaum auf eine Antwort. Aber – irrte mich …

„Lieber Alter,“ erklärte Harald leichthin, „wir werden einige Erkundigungen einziehen über die Leute, die bisher auf Jan Mayen die Wetterstation bedient haben …“

„Und – weshalb das?!“

„Weil ich bestimmt annehme, daß das Gespenst von Jan Mayen einer der Vorgänger der drei ermordeten Norweger ist. Wir wenden uns am besten sofort an die zuständige Regierungsstelle …“

„Hm – ich sehe noch immer nicht recht klar …,“ erlaubte ich mir zu bemerken …

„Weil Du Dich an Bord zu stark gemästet hast, mein Alter … Fett lähmt den Verstand …“

Ich lachte herzlich.

Harst jedoch sagte plötzlich in sehr ernstem Tone: „Du unterschätzt die Gefahr, Max Schraut …! Leute, die acht Menschen kaltblütig erstechen, haben allerlei zu verheimlichen – allerlei: natürlich ein äußerst wertvolles Geheimnis! Es geht hier ganz sicher um Millionenwerte …“

Ich war so klug wie vorher … In Harsts Gedankengänge sich hineinzufinden ist nicht ganz einfach.

Wir hatten die Stadt erreicht.

Auf dem großen Schmuckplatz vor dem Theater blieb Harald stehen …

Deutete auf den ernsten würdigen Bau und meinte: „Wir hätten uns die Maskerade schenken können … Die beiden Leute aus dem Boot, das die Jacht beobachtete, sind hinter uns … – Bitte – Blicke Dich nicht etwa um … Es sind zwei Seeleute, ein junger und ein älterer … Natürlich weiß man hier in Oslo längst, daß der Fürst mit uns zusammen Jan Mayen wieder besuchen will. Vor drei Stunden sind wir dann hier eingetroffen. Das Erscheinen der Jacht hat sich rasch herumgesprochen. Auch jene Leute erfuhren es, die mit dem Gespenst von Jan Mayen hier verbündet sind. – Wir müssen sie unbedingt loswerden. Komm – betreten wir das Theater …“

Nur ein Seiteneingang war jetzt um acht Uhr früh geöffnet. Es war der Zugang zur Bühne für die Schauspieler.

Ein endlos langer kühler Korridor … Keine Seele zu sehen … Es brannte nur hier und dort eine elektrische Deckenlampe.

Schwere Schritte hinter uns …

Zwei Arbeiter … offenbar Theaterpersonal …

Harald spricht sie an, fragt, ob sie uns nicht durch eine andere Tür hinauslassen würden … Unterstützt die Bitte durch die Allmacht Geld.

Die beiden mustern uns argwöhnisch. Beruhigen sich, gehen voran …

Über Treppen und Flure – durch das elegante Foyer … Öffnen eine Tür …

Und … – wahrhaftig! – – springen uns an die Kehle, haben Riesenkräfte, die Burschen … haben nur nicht mit einem Harald Harst gerechnet …

Harst versetzt seinem Angreifer einen Boxhieb in die Herzgrube. Der Kerl sackt zusammen …

Und meinem Gegner wird dieselbe Lektion zuteil … Nicht von mir … Nein – – mich hatte der Schuft schon halb erwürgt …

Nun liegen sie da – nach Luft schnappend, stöhnend … winselnd.

Die bunten, von der Sonne bestrahlten hohen Glasfenster des Foyers werfen farbige Lichtstreifen auf die sich krümmenden Gestalten …

Wir schleppen sie zu zwei Sesseln … Stehen vor ihnen … Harst holt die Clement hervor, spannt sie umständlich …

Und die beiden stieren auf die kleine Waffe … – Harst läßt ihnen Zeit, sich zu erholen … Fragt dann …

Die Leute wagen nicht zu lügen …

Beschäftigungslose Hafenarbeiter sind es … Einer war mal aushilfsweise hier beim Theater Kulissenschieber. Zwei Seeleute, ihnen fremd, haben sie auf dem Theaterplatz für dieses Bubenstück angeheuert … Hundert Kronen haben sie erhalten … im übrigen wissen sie nichts … Sie haben uns niederschlagen, fesseln, knebeln und irgendwo einsperren sollen …

Harst nickt … „Ihr seht verhungert aus … Ich glaube Euch … – Geht und sagt Euren Auftraggebern, daß der Streich gelungen. Dann folgt ihnen, stellt fest, wo sie bleiben, was sie sind, und meldet es uns um elf Uhr draußen auf dem Theaterplatz … Fünfzig Kronen sind Euch als Belohnung sicher …“

Die Kerle stammeln Dank – reden von Kindern, Mietschulden – – und verduften … –

Vor einem der hohen Spiegel bringen wir uns wieder in Ordnung. Unseren angeklebten Bärten war der Überfall schlecht bekommen …

Zehn Minuten darauf sind wir wieder im Freien …

Und fragen uns bis zum Meteorologischen Institut durch.

So begann für uns die Jagd auf das Gespenst von Jan Mayen …

 

3. Kapitel.

Das Haus auf der Fjord-Insel.

Professor Jönling, Vorsteher des Instituts, war die Liebenswürdigkeit selbst. Wir hatten uns als Kollegen anmelden lassen. Als Harald dann die Maske lüftete, drückte Jönling uns immer wieder die Hände …

Wir erfuhren von ihm folgendes:

Im Mai 1921 war die Wetterstation auf Jan Mayen eingerichtet worden. Die ersten drei Leute, die bis Mai 1922 dort gehaust hatten, waren der Assistent Tomsö und die Institutsdiener Warken und Simming. Diese drei wurden von einem anderen Assistenten und zwei früheren Studenten, armen Teufeln, abgelöst. Nachdem diese auf Jan Mayen ihr Jahr ausgehalten hatten, traten dort abermals Tomsö, Warken und Simming den beschwerlichen Dienst an. – So hatten sie sich bisher regelmäßig abgewechselt, diese sechs, und dieses Jahr im Mai waren wieder Tomsö und seine Begleiter an der Reihe gewesen und – – ermordet worden.

„Wie heißen die anderen drei, Herr Professor?“ fragte Harald nun und hielt Bleistift und Notizbuch bereit.

„Es sind dies der Assistent Doktor Longby und die verbummelten Studenten Höörlan und Gussol …“

„Wo beheimatet?“

„Ebenfalls hier in Oslo, Herr Harst …“

„Und jetzt hier anwesend?“

„Nein … Die drei sind irgendwo in Schweden …“

„So … so … – in Schweden …! – Und – ihre Wohnungen hier in Oslo?“

„Höörlan und Gussol wohnten bei ihren Eltern. Doktor Longby besitzt ein Häuschen auf der Fjordinsel Sellenby.

Dort führt ihm seine Schwester die Wirtschaft. Aber wie gesagt: er ist verreist, Herr Harst …“

Harald schrieb eifrig – schrieb nur Zahlen. Er notierte niemals etwas in Buchstaben.

Dann schob er das Büchlein in die Tasche.

Professor Jönling fragte nun abermals: „Was halten Sie von diesen Verbrechen, Herr Harst?“

Vorhin hatte Harald die Frage überhört. Nun erwiderte er:

„Entschuldigen Sie, Herr Professor: ich äußere mich nie über meine Theorie hinsichtlich eines geheimnisvollen Falles. Und – andere Fälle erledige ich nicht. Ich bitte Sie, unseren Besuch zu verschweigen. Eins kann ich Ihnen schon jetzt versprechen: die Morde werden gesühnt werden. Das Gespenst von Jan Mayen wird binnen vier Wochen samt Anhang im Gefängnis sitzen!“

Er erhob sich …

Der Professor schaute ihn mit besonderen Blicken an …

„Hegen Sie Verdacht gegen Doktor Longby?“ meinte er zögernd …

„Oh – wie kommen Sie gerade darauf, Herr Professor?!“ Und – er schauspielerte glänzend …

„Nun – – weil Longby genau wie Höörlan und Gussol zu den … gescheiterten Existenzen gehört, weil er … bereits vorbestraft ist … Jugendlicher Leichtsinn freilich – ein Gelegenheitsdiebstahl … – Wir hatten nicht viel Auswahl, Herr Harst … Ein Jahr auf Jan Mayen zählt fünf andere … Schon im September liegt dort alles unter Eis und Schnee … Und erst im Mai wird die Küste eisfrei …“

„Ich weiß …“ nickte Harald nur. „Und – nochmals, Herr Professor … Bitte: Diskretion!“

„Selbstverständlich …“

Wir verabschiedeten uns …

Halb elf war’s jetzt. Wir gingen in das deutsche Wirtshaus und frühstückten. Ich aß mit tadellosem Appetit – wie immer. – Ich konnte nicht anders, ich mußte Harald ein Lob spenden …

„Die Sache hast Du wieder großartig eingeleitet …,“ meinte ich leise. Denn es waren noch andere Gäste da. „Ich möchte nur wissen, wie Du darauf gekommen bist, daß die Leute, die …“

Er winkte ab …

„Vergiß nicht, daß die drei Norweger soeben erst ermordet waren, als der Fürst die Blockhütte betrat … Das heißt also: die Mörder entschlossen sich erst zur Tat, als sie die Jacht bemerkten, als diese ein Boot aussetzte … Mithin …“

„Mithin …?“

„… mithin fürchteten die Mörder Verrat vonseiten der drei Robinsons …“

Ich grübelte … grübelte, mochte nichts mehr fragen … – Zum Teufel, war ich denn wirklich so begriffsstutzig, daß ich noch immer im Dunkeln tappte?!

Harst zahlte unsere Zeche …

Und zehn Minuten darauf standen wir vor den beiden Hafenarbeitern, die sich tatsächlich auf dem Theaterplatz eingefunden hatten …

Unter den Alleebäumen standen wir … Der eine der Leute sagte hastig:

„Hier, Herr, – ich habe alles aufgeschrieben … Es ist geglückt …“

Harst überflog den Zettel, gab dem Mann fünfzig Kronen …

„Da – teilt es Euch …!“

Die Kerle schluckten, würgten, weinten fast …

„Herr, Sie haben uns gerettet,“ murmelte der eine wieder. „Jetzt können wir auf Abzahlung ein Fischerboot kaufen …“

Wir schritten weiter …

Bis zur Endstation der Holmenkollen-Zahnradbahn … Fuhren zum Holmenkollen empor … Der Wagen war leer.

Lasen in Ruhe den Zettel, dessen Inhalt Harald mir ins Deutsche übersetzte … Ich selbst finde mich im Norwegischen nur auf der Speisekarte zurecht. – Der Inhalt lautete:

„Die beiden sind weggejagte Matrosen von einem englischen Kohlendampfer. Sie wohnen bei Fräulein Senta Longby auf der Fjordinsel Sellenby. Sie haben uns ohne weiteres geglaubt, daß wir die Herren niedergeschlagen und irgendwo im Theater eingesperrt haben. Jetzt gaben sie uns nochmals fünfzig Kronen, damit wir auf die Jacht aufpassen sollen … Wir werden aufpassen, aber nichts sehen. Das ist selbstverständlich. Nun können wir das Boot gleich zu einem Drittel bezahlen. – Uwe Kolling.“

„Wußte ich’s doch!“ meinte Harald und zerriß den Zettel, streute die Stückchen zum Fenster des Aussichtswagens hinaus … „Sie wohnen bei Senta Longby …! Und – weggejagte Matrosen …!! Oh – die Sache macht sich!“

Dann bot er mir eine seiner Mirakulum an. Wir rauchten … Schwiegen … Zuweilen öffnete sich zwischen den Baumkronen ein Ausblick auf den Fjord …

Höher und höher trug uns die Zahnradbahn … Hier oben wehte ein frischeres Lüftchen als in der Stadt …

Ich fröstelte leicht …

Harald lächelte mich merkwürdig an …

„Dich friert … mit Recht …! Sie sind doch hinter uns her … Nur jetzt in anderer Aufmachung …!“

Mein träges Hirn ermunterte sich …

„Wer?“ fragte ich … Und sah das Törichte dieser Frage sofort ein … „Also die beiden Matrosen, Harald?“

„Sind keine Matrosen, mein Alter … Weiß Gott, was sie sein mögen … Jedenfalls sind sie schlau und im Verkleiden uns gewachsen … Im Wagen vor uns sitzen sie, – Herr und ältere Dame …“

„Donnerwetter …!“

„Ja – haben sich anders kostümiert … Ich kann sie durch die Glasfenster beobachten … Operieren mit einem Hohlspiegel – – die Dame … Läßt uns nicht aus den Augen … Fielen mir schon so etwas in der Allee am Theaterplatz auf … etwas … Spielten die Touristen – lasen in einem Reisehandbuch … Der Hohlspiegel hat sie jetzt entlarvt …“

„Und woraus schließt Du, daß es dieselben Leute sind?! Es können doch auch …“

„Stopp, Alterchen, – es können nicht … nein, es sind dieselben … Der eine hatte nur vier Finger an der rechten Hand … der Graubart … Er spielt jetzt die würdige Dame, trägt Handschuhe … Der Zeigefinger des rechten Handschuhs ist ausgestopft und steif. Ich sehe das ganz genau …“

„Meine Hochachtung …!“

„Danke – gern geschehen … – Der Fall wird komplizierter … Leute ohne Vorkenntnisse verkleiden sich nicht. Es sind vielleicht Gauner erster Klasse oder …“

„Oder …?!“

„Na – das kannst Du auch allein herausfinden … – So – wir sind angelangt … Nun werden wir den Herrschaften eine Nase drehen …“

Und – wir stiegen aus, Harald fragte einen Beamten, wann der nächste Zug abwärts ginge …

„In drei Minuten …“

Wir verließen den Bahnhof … Das Paar war dicht vor uns. Ich sah ihre Rückansichten: tadellose äußere Aufmachung!

Und wir machten kehrt, sprangen in den kleinen Zug …

Harald lachte … –

Als wir wieder in Oslo waren, nahmen wir ein Auto – bis zum Hafen, mieteten ein Segelboot. Die beiden Besitzer waren ganz auf Fremdenverkehr eingestellt, zeigten uns die Sehenswürdigkeiten, nannten den Namen jeder Fjordinsel …

Wer den Christiania-Fjord kennt, vergißt sie nicht, diese Felseneilande mit dem dürftigen Baumwuchs, dem weidenden Vieh, den blitzsauberen Häuschen, den Anlegebrücken, den schwankenden angeketteten Booten …

Die meisten sind flach … Nur eine war da, abseits gelegen, mit hohem nördlichen Felsufer, Büschen und alten Eichen … Ein hellgrün gestrichenes Haus lugte durch das dunklere Grün …

Der eine Schiffer erklärte:

„Das ist Sellenby, meine Herren … Dort wohnt das schönste Mädchen von Oslo …“

Wir beide, entsprechend Graubärten und Brillen, legten auf Schönheit wenig Wert … schwiegen …

„Senta Longby heißt das Mädchen,“ fügte der Schiffer hinzu – etwas ärgerlich über unsere Gleichgültigkeit … „Aber sie ist arm und stolz, meine Herren … Sie könnte längst verheiratet sein … Sie wartet …“

„Auf wen?“ fragte Harald da …

„Nun, auf einen ganz reichen Bewerber … Sie hat nur noch einen Bruder … Und vier Kühe und viele Hühner … Davon lebt sie … Manchmal wohnen bei ihr auch Fremde – zur Erholung … Jetzt zwei Matrosen und zwei feine Leute, Mutter und Sohn … Der Sohn ist Maler – aus London … Er malt die Senta …“

Das Boot umrundete die Insel halb …

Die Südseite war flacher. Wir sahen eine Wiese, vier weidende Kühe … Und ein blondes Mädchen, auf einem Schemel sitzend, melkte das eine Tier …

„Senta …!“ sagte der Schiffer ehrfurchtsvoll …

Das Boot glitt rauschend weiter … –

Um zwei Uhr nachmittags landeten wir wieder am Hafen, bestellten die beiden Schiffer zu zehn Uhr abends zu einer Mondscheinfahrt, gingen in ein Privathotel und blieben dort bis zur Dunkelheit. Inzwischen hatte Harald den Professor Jönling angeläutet. Er brachte uns, was wir wünschten. – Unsere beiden biederen Schiffer waren nicht schlecht erstaunt, als um zehn Uhr zwei waschechte Jan Maate ihr Boot bestiegen …

„Wir sind’s …,“ sagte Harald nur. „Wir pflegen abends nur anders auszusehen …“

Die beiden waren nicht dumm. Ihnen ging ein Licht auf …

„Ach so – von der Polizei sind die Herren,“ grinste der Gesprächige …

Dann fuhren wir in den Fjord hinaus …

 

4. Kapitel.

„Der Bestellte“.

Die Mondscheinfahrt ging ohne Mondschein vor sich. Uns war’s nur angenehm. Ein kräftiger Wind stieß den Fjord hinab. Unser Boot schoß dahin wie ein Renner … Und kühl war’s … Der Juni in Oslo hat noch seine bedenklich kalten Nächte …

Eine halbe Stunde … Harst hatte den Schiffern Bescheid gesagt … Aus einer schwarzen Wolke begann’s zu tröpfeln.

Hart am Steilufer strich das Boot entlang … Wir sprangen, erreichten einen mächtigen flachen Stein …

Das Boot verlor sich in der Finsternis … Um Mitternacht sollte es uns wieder abholen …

Zwischen dem flachen Felsblock und dem Ufer lag noch ein Wasserstreifen von gut drei Meter. Schäumend und gurgelnd wogten die Spitzen der Wellen um den Stein. – Harst musterte mißtrauisch die schroffe Wand … viel war davon nicht zu erkennen …

Dann ein kräftiger Satz – und er hing drüben am kahlen Fels, kletterte höher, kam mir aus den Augen. Er wollte zunächst einmal die Umgebung absuchen …

Das dauerte mir denn doch schließlich zu lange. Auch ich wagte den Sprung, rutschte ab – – lag im Wasser … Bis zum Halse reichte es mir, war verdammt kalt, trieb mich schleunigst an der Steilwand empor …

Zwei Hände streckten sich mir entgegen … Ein Schwung – – oben, aber pudelnaß …

Harald lachte lautlos …

„Ein Schnupfen ist Dir sicher … Es sei denn, daß meine Vermutung zutrifft …“

„Welche?!“ – Ich war gereizt … Ich fror …

„Daß das Haus leer ist, mein Alter … Ich war schon dort … Alles dunkel, totenstill … – Komm, wir werden ja sehen …“

Er trabte. Ich neben ihm. Mir wurde wieder leidlich warm … leidlich.

An der Haustür standen wir unter Wind … Die Fensterladen sämtlich zu … Im Stalle nebenan meldeten sich die Kühe … Die Wetterfahne auf dem Dache kreischte.

Harst umschlich das kleine Haus, kehrte zurück, holte den Patentdietrich hervor …

„Licht!“

Ich beleuchtete das Schlüsselloch …

Das Schloß knackte … Die Tür ging auf … –

Ich will hier gleich bemerken, daß Harst recht gehabt: die Vögel waren ausgeflogen! Allerlei Anzeichen sprachen für eiligen Aufbruch. In der einen Vorderstube lag im mächtigen Kachelofen noch ein Berg warme Papierasche. Auf einem Schrank fanden wir einen eleganten leeren Lederkoffer. In Doktor Longbys Stube nach hinten heraus entdeckten wir im Schreibtisch fünf Photographierahmen …

Harst nickte mir zu … „Senta hat alle Bilder von sich und ihrem Bruder vernichtet … In der Ofenasche kannst Du noch Reste der Photographien feststellen … Senta und die sogenannten Engländer sind nach Jan Mayen unterwegs …“

Dasselbe hatte auch ich mir schon gedacht …

„Als Warner,“ meinte ich …

„Natürlich …“

Harald saß im einfachen Schreibsessel vor Longbys Schreibtisch …

„Dort im Schrank ist trockene Wäsche … Zieh einen Anzug Longbys an, mein Alter,“ fügte er hinzu …

Unsere eingeschalteten Taschenlampen standen auf der Platte des Schreibtisches und warfen helle Lichtkreise auf die weiß getünchte Decke …

Ich begann mich schleunigst zu entkleiden …

Und als ich dann ausgerechnet ohne jede Hülle mich präsentierte und soeben ein Wollhemd über den Kopf streifen wollte, ertönte an der Haustür der dröhnende Schlag des altehrwürdigen Türklopfers.

„Alle guten Geister …!“ rief ich leise …

Harald hatte im Nu die beiden Taschenlampen ausgeknipst …

„Zieh wenigstens das Hemd über,“ meinte er trocken …

Dann schlich er hinaus …

Und ich im Dunkeln … – fand natürlich die Ärmellöcher nicht – fluchte … Hatte endlich doch Erfolg … Tastete nach den Unterhosen … Schlüpfte hinein … Strümpfe an … Beinkleider – – dann ebenfalls in den Flur …

Harald sprach … rief durch die Tür:

„Wer sind Sie?“

Ich tappte näher … Hörte die Antwort:

„Der Bestellte!“

Auch der Mann draußen bediente sich des Englischen.

„Gut – ich öffne,“ rief Harald wieder. Und zu mir – flüsternd: „Zünde in Longbys Stube die Hängelampe an. … Ich bin Longby …“

Ich eilte zurück in das kleine Zimmer … Fand mein Feuerzeug in den durchweichten Hosen … Es brannte … Die Petroleumlampe glühte auf … Rötliches Licht füllte den bescheidenen Raum.

Im Nu raffte ich meine Kleider zusammen und verschwand im Nebenzimmer. Es war das der schönen hellblonden Senta …

Flink die Jacke über … Und wieder hinein zu Harst und dem Fremden …

Ich war platt … Ein älterer Herr war’s … Typ des englischen Großkaufmanns …

Harald stellte mich vor …

„Mein Freund Gussol … Mister … – oh, nun habe ich Ihren Namen vergessen, Mr. …“

„Garrison … Edward Garrison, Mr. Longby …“

Und Harst schlug sich gegen die Stirn …

„Natürlich – – Garrison …! – Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Garrison … Es ist also alles in Ordnung …?“

So leitete er die Unterhaltung mit dem „Bestellten“ ein, von dem wir absolut nichts wußten – nur jetzt den Namen. Aber ein Harst lockt schon heraus, was nötig ist. Und Edward Garrison war uns gegenüber absolut harmlos.

Wir saßen um den Sofatisch herum. Harald hatte einem Schränkchen eine Flasche Kognak, Gläser und Zigarren entnommen und spielte den Hausherrn mit blendender Frechheit …

„Ich habe mich ganz genau an Ihre Instruktionen gehalten, Mr. Longby,“ erklärte Garrison jetzt. „Sie können ganz ohne Sorge sein. Bei solchen Geschäften muß man jede Vorsichtsmaßregel anwenden. Niemand weiß, daß ich hier nach Oslo gereist bin. Mein Personal vermutet mich in Paris …“

„Wie gehen die Geschäfte, Mr. Garrison?“ fragte Harst-Longby und füllte die Spitzgläschen …

„Danke … Die Konjunktur ist leidlich … Für große Steine ist in Amerika viel Nachfrage … Nur der Zoll – – der Zoll!“

Aha – Edelsteinhändler, Juwelier war dieser Garrison! – Und ich verhielt mich weiter ganz still, machte nur den Zuhörer und tat dem Kognak alle Ehre an … Die Erkältung sollte mir fernbleiben … Dafür sorgte ich schon …

Harst nahm eine Zigarre. Garrison desgleichen. Ich hatte mich schon bedient. Ein tadelloses Kraut übrigens … Importe – mindestens sechzig Pfennig das Stück.

„Sie fanden also am Hafen ein Boot, Mr. Garrison,“ begann Harst abermals …

„Mit Leichtigkeit … Und erklärte dem Bootsmann, ich sei der Gatte der alten Dame, die bei Fräulein Senta Longby wohne, – sagte also genau das, was Ihre Schwester mir brieflich vorgeschrieben hatte …“

„Meine Schwester ist verreist,“ warf Harald hin.

Der Engländer verbeugte sich. „Was ich bedauere, Mr. Longby …“ – Er hatte ein Gesicht, das kühl und undurchdringlich war. Die Augen blickten etwas unstät. Ich gewann den Eindruck, daß Mr. Garrison häufiger seine wohlgepflegten Hände an dunklen Dingen teilnehmen ließ. – „Ich glaubte, ich würde mit Ihrer Schwester unterhandeln müssen,“ fügte er hinzu. „So ist es mir lieber … – Würden Sie mir jetzt die Steine zeigen, Mr. Longby?“ Sein Gesicht bekam plötzlich etwas Fuchsähnliches …

„Bedauere, Mr. Garrison … Das ist heute nicht möglich … Ich mußte meinen Vorrat leider hier von der Insel entfernen, da die Sachlage etwas unsicher geworden …“

„So?! Unsicher?! Inwiefern?“

„Hm – kennen Sie den deutschen Detektiv Harst, Mr. Garrison?“

Der Juwelier erschrak. „Gewiß – dem Namen nach … – Was ist’s mit Harst?“

„Er ist hier in Oslo …“

„Oh – – etwa … etwa der Diamanten wegen?! Das kann doch nicht sein …! Sie ließen mir doch mitteilen, daß die Steine aus einer Mine stammten, die nur Sie und ein paar Ihrer Freunde kennen …“

„Das stimmt auch, Mr. Garrison … Immerhin: ich habe bereits eine Anzahl ungeschliffener Diamanten anderswo abgesetzt … Und die Abnehmer mögen nun vielleicht gern ausspionieren wollen, woher ich sie habe … Deshalb mag Harst hier in Oslo weilen …“

„Ach so … – verstehe …! – Nun, Sie werden Ihr Geheimnis wohl zu hüten wissen, Mr. Longby …“

„Allerdings … – Dennoch muß ich vorsichtig sein … Die Steine sind jetzt an Land gut versteckt. Morgen vormittag treffen wir uns, Mr. Garrison … Tageslicht wird Ihnen als Juwelier zur Prüfung der Steine lieber sein.“

Garrison lächelte dünn. „Wenn Ihr Vorrat den mir übersandten Proben entspricht, werden wir beide ein gutes Geschäft machen …“

Harald legte jetzt plötzlich die Zigarre weg und holte aus der Brusttasche seiner blauen Seemannsjacke eine Schachtel Mirakulum hervor …

Sagte zu seinem Gast:

„Bitte – eine Zigarette gefällig, Mr. Garrison …? – Sie werden dergleichen nicht oft rauchen … Es ist meine Spezialmarke, die ich mir in Berlin nur für mich herstellen lasse …“

Garrison griff zu …

„Ah – – Miraku…“ – Die letzte Silbe verschluckte er …

Ihm blieb dann der Mund offen … Stierte Harst-Longby an …

Leckte die Lippen … Glotzte wieder auf den Aufdruck der Zigarette …

Und quetschte hervor …

„Mirakulum …?! Das … das … soll doch … Harsts Marke sein … Letztens noch las ich’s in einer Londoner Zeitung, die über Harsts letzte Abenteuer in Indien berichtete …“

„Stimmt auffallend, Mr. Garrison … Harsts Marke – meine Marke …! – Sie sind nun wohl im Bilde, Mr. Garrison … Ich bin Harald Harst, und der Herr dort ist mein Freund Max Schraut, der leider die Schreibwut hat … Er schriftstellert und macht Reklame für uns, womit ich durchaus nicht einverstanden bin …“

Der Juwelier hatte sich verfärbt …

„Sie … Sie … haben … mich … hineingelegt!“ rief er ganz fassungslos …

„Scheint so, Mr. Garrison … – Und jetzt werden Sie uns ehrlich erzählen, wie Sie zu dieser Verbindung mit Longby gekommen sind – ehrlich, Mr. Garrison! Dann werden wir Sie schonen. Andernfalls …!!“

Garrison goß sich schnell einen Kognak ein … trank.

Schüttelte den Kopf … „Unglaublich, Mr. Harst …! Das haben Sie glänzend gemacht! Im übrigen können Sie mir nicht viel anhaben, möchte ich gleich bemerken …“

„So?! Haben Sie denn die drei Probesteine verzollt, Mr. Garrison?!“

„Hm … nein, – allerdings nicht …“

„Na also …! – Und nun – erzählen Sie …“

Garrison hatte sich wieder beruhigt. Er rauchte die Mirakulum an und legte los …

„Die Geschichte fing mit einem Brief vor drei Monaten an, Mr. Harst … Senta Longby fragte an, ob ich ungeschliffene erstklassige Diamanten unter der Hand erwerben wolle … – Antwort meinerseits: Ja, wenn es sich nicht um Diebesgut handele. – Darauf ein neuer Brief, daß es ehrlich erworbene Steine seien – aus einer Mine, die Doktor Longby entdeckt habe. In einem altertümlichen Kästchen, das mir zugehen würde, lägen im Doppelboden drei Probesteine, Preis dreihundert Pfund Sterling. – Das Kästchen kam. Die Steine waren erstklassig. Ich zahlte und erhielt drei Wochen darauf einen neuen Brief, der mich hier nach Oslo rief. Ich sollte auf keinen Fall verraten, wohin ich führe, sollte hier unter anderem Namen absteigen und tausend Pfund Sterling bereithalten …“

„Haben Sie etwa diese Unsumme in bar bei sich?“

„Bewahre …! Ich hatte sie bei mir, habe sie aber sofort im Safe des Christian-Hotels niedergelegt …“

Harald blickte Garrison nachdenklich an …

„Gegen die übliche Quittung?“ meinte er sinnend …

„Ja … natürlich …“

„Und die Quittung haben Sie bei sich?“

„Gewiß, Mr. Harst …“

Harald formte vier, fünf Rauchringe … Seine Stirn war kraus … Seine Gedanken arbeiteten offenbar mit Hochdruck …

Dann – ganz unvermittelt:

„Mußten Sie vielleicht Senta Longby eine Photographie von sich einschicken, damit das Mädchen Sie nach dem Bilde hier wiedererkenne?“

Der Juwelier war überrascht …

„Allerdings – sogar drei Bilder, Mr. Harst … Drei Aufnahmen – ganz neu …“

„Dann …,“ sagte Harald, „dann … werden Sie einer großen Gefahr entronnen sein, Mr. Garrison … Durch uns! Man hätte Sie hier ermordet … Man hätte einen Menschen als Garrison herausstaffiert und Ihre tausend Pfund holen lassen – aus dem Hotel … Die drei Photographien sollten es den Schurken erleichtern, die Maske recht genau zu gestalten … – Wir werden Sie zurückbegleiten … Ihr Boot wartet wohl …“

 

5. Kapitel.

Kampf im Regen.

Das Gesicht des Juweliers war bei diesen kühl-sachlichen Eröffnungen Harsts geradezu versteinert. Fahle Blässe überzog die Wangen. Und erst nach einer Weile rief er keuchend:

„Oh – ich war mit Blindheit geschlagen …!!“

„Durchaus nicht, Mr. Garrison,“ schwächte Harald diese Bemerkung ab. „Der Plan der Schurken war schwer zu durchschauen. Sie hatten die Geschichte sehr fein eingefädelt. Wenn ich nicht von vornherein an dieser Diamantenmine Doktor Longbys gezweifelt hätte, würde ich kaum auf die Frage nach den Photographien gekommen sein. Zufällig ist mir aber bekannt, wo Longby die letzten Jahre zugebracht hat. Und dort kann er keine Diamanten gefunden haben …“

Ich horchte auf. Ich hatte fest angenommen, daß Longby auf Jan Mayen Edelsteine entdeckt hätte, eben eine Mine. Und nun erklärte Harald hier mit größter Bestimmtheit, daß hiervon keine Rede sein könne. Und doch hatte er heute vormittag geäußert, Longby müsse auf Jan Mayen Wertvolles vorhaben, – – so ähnlich hatte er sich ausgedrückt …

Jedenfalls: ich war bitter enttäuscht. Der Fall „Gespenst von Jan Mayen“ hätte auf diese Weise eine tadellose Lösung gefunden – meines Erachtens! Nun war es nichts damit. Nun mußte man das Geheimnis doch in einer anderen Weise zu ergründen suchen.

Dies alles schoß mir so durch den Kopf, während Harald bereits weitersprach …

„Die drei Diamanten, die man Ihnen als Probe zuschickte, Mr. Garrison, sind irgendwo gestohlen worden … Ich vermute in Kopenhagen, denn ich entsinne mich eines Einbruchs bei dem Juwelier Lörkin in Kopenhagen, der etwa ein Jahr zurückliegt. Lörkin wollte mir damals die Nachforschungen nach den Dieben übertragen, Schraut und ich waren aber gerade in Afrika. Damals wurden auch ungeschliffene Diamanten geraubt, und vielleicht hat der Erlös aus dieser Diebesbeute Longby und Genossen erst die Mittel zu größeren Unternehmungen verschafft …“

Harst drückte den Rest seiner Zigarette in der Aschenschale breit und erhob sich …

„Es wird Zeit … Sie werden vorangehen, Mr. Garrison … Wir folgen Ihnen – – unsichtbar … Hören Sie nur, wie draußen der Regen plätschert. Es gießt … Sehr günstig für uns, wenn wir auch etwas naß werden … Die letzte Strecke bis zum Bootssteg werden wir kriechen, Schraut und ich … Niemand darf sehen, daß wir Ihr Boot besteigen. Spione sind bestimmt in der Nähe …“

Garrison zauderte: … „Ich … ich habe nicht einmal eine Waffe bei mir … Nur eine Taschenlampe und meinen Regenschirm …“

Harald lächelte flüchtig. „Schalten Sie Ihre Lampe ein und spannen Sie Ihren Schirm auf … Gehen Sie getrost. Ich garantiere Ihnen dafür, daß Ihnen nichts zustoßen wird …“

Der Juwelier erblickte jetzt in Harsts Hand die Clementpistole …

„Ah – dann ist es gut … Ich gehe …“

Harald schraubte schnell die Hängelampe aus …

Garrison schritt in die feuchte Finsternis hinaus … Es goß in Strömen …

Wir beide benutzten die Hintertür … Ein mit hellem Kies bestreuter Pfad lief zum Bootssteg hinab. Wir sahen den Lichtkegel von Garrisons Taschenlampe als hellen Streifen zehn Schritt rechts von uns und blieben mit ihm auf einer Höhe. Tief geduckt glitten wir vorwärts … Hinter uns erklang das dumpfe Brüllen der Kühe im Stalle …

Nichts geschah …

Wir krochen auf allen Vieren den Bootssteg entlang – ins Boot hinein. Der Schiffer saß im Ölmantel am Heck. Die Bootslaterne war nur wie ein Pünktchen in dieser alles verschleiernden Regenflut …

Wir lagen lang im Boote … Garrison flüsterte mit dem Schiffer … Die Bootskette klirrte …

Ein Windstoß schien die vom Himmel herabstürzenden Wassermassen noch zu verdoppeln … Man sah kaum die Hand vor Augen …

Der Schiffer ruderte … Das leichte Boot kam in Fahrt …

Und – – nach kaum drei Minuten dann ein heftiger Stoß … Das Boot zitterte, prallte zurück … Wir hatten die Köpfe über die Bordwand gehoben … Wie ein langer Schatten da neben uns ein größeres Fahrzeug …

Und – vom hohen Bord dieses Gegners Lichtblitze … – Laternen, die man plötzlich enthüllte …

Bootshaken sausten herab …

Alles blitzschnell … zu schnell, um sich wirksam verteidigen zu können …

Ein Hieb krachte auf meinen Kopf … Traf mich, als ich gerade aufgesprungen war …

Mit schwindendem Bewußtsein sah ich den Schiffer und Garrison über Bord taumeln …

Dann … nichts mehr …

Ich hatte das Gefühl, in unermeßliche Tiefen zu versinken …

Mir war’s, als ab die Krallen eines Ungeheuers sich in mein Genick einschlugen …

Das war die letzte Empfindung …

Und die erste nach endloser Zeit – für mich endloser Zeit – war Bohren, Brennen und Stechen unter der Hirnschale … – Schmerzen …

Das Nächste: mein Gehör arbeitete ebenfalls … Eine bekannte Stimme sprach dicht über meinem Gesicht …

Es war die des Schiffsarztes der „Mandragora“, des Signore Doktor Fallatti …

„Wir flicken ihn schon wieder zurecht, Herr Harst … Die Kopfwunde ist vernäht … Die Folgen der Gehirnerschütterung dürfte Ihr Freund bei seiner robusten Schädelbauart leicht überstehen, und das überreich geschluckte Seewasser hat er von sich gegeben …“

Ich hatte die Augen noch geschlossen … Jetzt riß ich sie auf … Alles verschwamm jedoch in rötlichen Nebeln …

Lallend fragte ich: „Harald, – – ich … lebe?!“

„Scheint so, mein Alter …! Halte jetzt aber gefälligst das M…undwerk … Wir haben ungeheuren Dusel gehabt, damit Du es weißt … Mich trafen die Halunken nur leicht … Und ich konnte Dich beim Genick und Garrison beim Mantelzipfel erwischen … zog Euch an Land – auf die Insel Sellenby … Fand das angetriebene Boot des leider umgekommenen Schiffers … brachte uns so auf die Jacht, die bereits den Christiania-Fjord hinter sich hat … Wir sind im Atlantik … Es ist zehn Uhr vormittags. Und nun schlafe und liege still … Garrison geht es ebenfalls leidlich … Die Halunken, die uns überfielen, haben wir nicht weiter behelligt … haben nicht mal Anzeige erstattet … Die Hauptsache für uns ist jetzt Jan Mayen … – Schlafe …!!“

Und ich schlief …

Aber nachmittags sechs Uhr lag ich neben Garrison auf dem Achterdeck sorgsam gebettet … Eisbeutel auf dem Schädel …

Um uns herum saßen Harald, Fürst Salvani, Doktor Fallatti und der Kapitän der „Mandragora“ …

„Das Fahrzeug der Schufte war ein Motorkutter,“ meinte Harald. „Fraglos ein Schifflein, das über erhebliche Geschwindigkeit verfügt … Wer sich dort an Bord befindet, ist leicht zu beantworten: Senta Longby, die beiden sogenannten Engländer und noch ein paar ähnliche Halunken … Die Bande will uns voraus nach Jan Mayen … Das nehme ich mit aller Bestimmtheit an … Ob sie’s schaffen werden, steht dahin …“

„Ausgeschlossen!“ rief Salvani. „Ganz ausgeschlossen! Meine Jacht läuft jetzt neunzehn Knoten … Kein Motorkutter leistet das … Wir überholen die Schurken …!“

„Werden sie trotzdem kaum sichten …,“ nickte Harald. „Dazu ist der Atlantik nun einmal zu groß … Aber – Schraut und ich werden vor ihnen nachts in aller Heimlichkeit auf Jan Mayen landen … werden dort bleiben, bis … die Sache erledigt ist …“

„Ich bin mit von der Partie …!“ meinte der Fürst mit Nachdruck. „Sie dürfen mir das nicht abschlagen, Herr Harst … Ich möchte auch einmal mit Ihnen und Schraut zusammen etwas erleben …“

„Bitte – wenn Sie das Leben riskieren wollen …! Sie werden es bereuen, Durchlaucht …!“

Salvani zuckte nur die Achseln …

 

 

Die fünf Tage auf Jan Mayen …

 

1. Kapitel.

Die erste Nacht.

Die „Mandragora“ näherte sich bei starkem Nebel nachts elf Uhr der Westküste von Jan Mayen …

Alle Lichter an Bord waren abgeblendet … im Nebel huschten die Matrosen wie Gespenster an Deck hin und her … jedes lautere Geräusch wurde vermieden …

Von der Insel war nichts zu sehen. Wir hörten nur das Brandungsgeräusch … –

Vier Tage hatte die Jacht nur gebraucht, – eine ungeheure Leistung. Wir mußten den Motorkutter weit hinter uns gelassen haben.

Und jetzt waren wir drei bereit: Harst, Salvani und ich!

Unsere Bündel waren gepackt. Sehr sorgfältig: Proviant, Trinkwasser, Spirituskocher – –, die Bündel waren verdammt schwer und als Rucksäcke hergerichtet.

Das Boot, das uns an Land bringen sollte, wurde lautlos ausgeschwungen …

Wir verabschiedeten uns …

Die ganze Besatzung stand am Fallreep … Jeder sagte uns ein paar Worte, die aus dem Herzen kamen …

Harald mußte jedem die Hand drücken …

Und einer der Matrosen meinte:

„Signore Harst, – wir hauen Sie heraus, sobald Sie das Notsignal geben … Wir haben uns zugeschworen: die Schufte lynchen wir, wenn Ihnen etwas zustößt!“

Für Salvani mußte es etwas peinlich sein, daß seine Person so ganz in den Hintergrund gedrängt war. Aber er besaß zum Glück einen Charakter, dem jedes Neidgefühl fremd … Er war ein italienischer Nobile in des Wortes bester Bedeutung. –

Das Boot stieß ab … Die See ging ziemlich hoch. Schon diese Landung im Finstern war ein Wagnis …

Glückte trotzdem … Zwischen zwei Riffen hindurch kamen wir in stilles Wasser … Wir drei wateten die letzte Strecke, die Bündel auf dem Rücken …

Und als so hinter uns das Boot mit leisem Plätschern wendete und zur Jacht zurückkehrte, hatte ich das Gefühl, als ob wir drei nun für alle Zeit jede Verbindung mit der Außenwelt verloren hätten.

Wer neblige Nächte kennt, wer jemals im dicksten Nebel durch unbekannte Gegend gewandert ist, der wird leicht begreifen, welche Stimmung uns drei beherrschte, zumal wir ja genau wußten, daß hier auf Jan Mayen irgendwo in der Verborgenheit Leute hausten, denen ein Menschenleben nicht mehr galt als eine Schnecke, die man am Strande mit schwerem Stiefel zertritt …

Selbst Harald war ungewöhnlich ernst. – Wir drei standen nun oben am Rande des Felsgerölls der Küste und lauschten, … suchten die Nebelschleier mit spähenden Blicken zu durchdringen … hatten für alle Fälle die Pistole bereit.

Harst wartete so mindestens fünf Minuten. Dann legte er seinen Rucksack ab und flüsterte:

„Ich werde die Umgebung erst einmal absuchen …, Schraut – also, wie vereinbart: helle Möwenschreie!“

Er verschwand … Der Nebel verschluckte ihn …

Der Fürst setzte sich auf einen Steinblock …

„Meine nassen Füße sind bereits wie Eis,“ brummte er.

Aha – – es fing schon an!! Seine Durchlaucht würde sich wundern!! Er würde kalte Füße sehr bald als Nichtigkeit erkennen lernen!

„Harst hatte Sie gewarnt,“ meinte ich nur …

Um uns herum hingen die Schleier der Nebelnacht …

Wie unheimliche Geisterstimmen war das Lärmen der Seevögel in den Klippen …

Aus dem Nichts kamen die Vogelstimmen – zerrannen in Nichts – kamen wieder … Und zuweilen noch andere Töne: überlautes Schnauben, Grunzen, Quäken – – Robben lagen in der Nähe, Kinder der Polarzone …

Ich begann meine Kunst als Tierstimmenimitator zu beweisen …

Helle Möwenschreie.

So hell, daß sie Harald den Weg zu uns wiesen … daß sie sich abhoben von dem nächtlichen Konzert der düsteren Einsamkeit … –

Harst erschien aber erst nach einer halben Stunde …

Wie ein dunkler Fleck tauchte er auf, nahm Formen an, wurde Harald, flüsterte, indem er sein Bündel schulterte:

„Ich habe eine Wohnung für uns gefunden … Vorwärts!“

Salvani fragte: „Wohnung?“

„Ja – ein Palais, Principe … Nämlich ein Versteck … Kommen Sie nur … In zehn Minuten können wir trockene Strümpfe und Schuhe anziehen, können einen Schluck Rum trinken und … schlafen … Wenigstens Sie, Principe …“

Er ging voran …

Einen flachen Abhang empor … An riesigen Granitblöcken vorüber … Immer höher …

Bis wir vor einer Felswand standen, die im Nebel unendlich erschien …

Am Fuße dieser Steilwand war ein großes, schmales Stück abgesplittert und bildete so einen schmalen Gang zwischen sich und Wand, verband gleichzeitig eine Aushöhlung im Felsen, die vielleicht vier Meter im Geviert, aber ziemlich niedrig war.

Harst hatte eine Laterne angezündet …

„Unser Palais, Durchlaucht …! Passen Sie auf, wenn wir vor den Eingang erst zwei Wolldecken gehängt, unsere Schätze ausgepackt und den Spirituskocher angezündet haben, wird es recht gemütlich werden. Für unsere Zwecke ist dies Felsloch wie geschaffen. Es ist nur durch Zufall zu entdecken … Wir können Licht brennen, kochen, rauchen … Die Schutzmauer des abgeplatzten Steinstückes bietet uns volle Sicherheit, dahinter vermutet niemand eine Höhle … – Also ans Werk …! Zwei Decken her … Tummeln Sie sich, Durchlaucht …! Wer rastet, der rostet und friert …!“

Und der Principe tummelte sich … Nein – ein unpraktischer Mensch war er nicht … Er hatte auf seinen Forschungsreisen mancherlei erlebt … Er griff tüchtig mit zu. Nur große Ausdauer besaß er nicht. Er war etwas verweichlicht. Seine wissenschaftliche Betätigung blieb für ihn letzten Endes doch Spielerei …

Harst befestigte die beiden Wolldecken mit Holzpflöcken in den Ritzen des Gesteins. Salvani packte die Rucksäcke aus, breitete die übrigen Wolldecken auf den Boden, blies die Luftkissen auf …

Ich hatte eine zweite Karbidlaterne angezündet und kümmerte mich um den Tee …

Der Spirituskocher erwärmte die feuchtkalte Luft in unserem Unterschlupf …

Genau halb eins war es, als wir ganz behaglich auf unseren Decken saßen und Strümpfe und Schuhzeug wechselten.

„Hier halte ich es wochenlang aus …,“ meinte Salvani vergnügt. „Ich gebe zu: Derartiges erlebe ich zum ersten Male … Es macht mir Spaß!“

Harst schaute ihn sehr ernst an. „Der Reiz der Neuheit schwindet, Durchlaucht … Und dann – kommt der Katzenjammer …!“

Salvani nahm nichts übel. „Warten Sie ab, bester Harst … Und tun Sie beide mir einen Gefallen: lassen Sie diese offizielle Anrede …! Ich nenne Sie beide Harst und Schraut, und Sie nennen mich Salvani – fertig!“

„Sehr verständig,“ nickte Harald … „Und nun fülle die Teebecher, mein Alter – halb Rum, halb …“

Er wollte „Tee“ sagen … wollte …

Das Wörtchen blieb ihm zwischen den Lippen hängen.

Draußen – offenbar in nächster Nähe – erklang ein langgezogenes klagende Geheul … endete in einer Art schrillen Schrei …

Schön war diese Musik nicht …

Im Gegenteil: sie ging einem an die Nerven, erinnerte an Menagerie, Urwald, Tropen …

„Teufel, was war das?!“ flüsterte Emanuele Salvani …

Harst hatte in die Tasche seiner dicken Wolljacke gegriffen …

Die Sicherung der Clementpistole schnappte zurück.

Dann legte er den linken Zeigefinger auf die Lippen, hob den einen Vorhangzipfel empor und kroch hinaus …

Der Fürst und ich hatten nun gleichfalls die Pistolen zur Hand genommen …

Wir saßen wie die Statuen …

Stierten auf den Vorhang …

Unsere Ohren mühten sich, das geringste Geräusch von draußen aufzufangen …

Alles blieb still …

Das heißt: der Strand war ja kaum dreihundert Meter entfernt … Wir hörten die Brandung, die Seevögel, zuweilen auch das seltsame Bellen von Walrossen …

Nach bangen Minuten in weiter Ferne nochmals das Heulen … dieses halbe Winseln, anschwellend zu schrillem Kreischen …

Dann nichts mehr …

So … verging eine halbe Stunde …

Und da erst merkte ich, daß ein besonderes Geräusch draußen verstummt war: das Rauschen des Regens, das vorhin urplötzlich eingesetzt hatte …

Salvani beugte sich zu mir hinüber …

„Die Karbidlaternen stinken …,“ sagte er leise … „Ich bekomme Kopfschmerzen … Ob wir nicht ein wenig lüften können?“

Er hatte recht … unser Felsloch stank nach Acetylengas. Und nicht gerade schwach.

Freilich, ich hatte andere Sorgen … Ich schaute auf meine Uhr … Fünfunddreißig Minuten war Harst jetzt abwesend … Ich wurde unruhig …

„Laternen aus!“ meinte ich gedämpft …

Und Salvani: „Trinken wir erst noch rasch!“ – Auch das war vernünftig. Wir tranken – halb auf halb. Es tat uns gut … – Dann erloschen die beiden Laternen. Ich hob den Deckenzipfel … Stutzte … Jan Mayen zeigte uns die Unbeständigkeit seiner Witterung … Der Nebel war verschwunden, der Regen hatte aufgehört. Mondlicht schimmerte in dem schmalen Felsengang zwischen Wand und Steinstück … Der Vollmond stand gerade über der Insel.

Salvani drängte mich vorwärts …

„Raus aus dem verwünschten Loch, lieber Schraut … Ich habe mir’s überlegt: die gräßlichen Töne stammten von dem Schwein, – Sie wissen, dem Schwein der drei Robinsons …!“

Weiß der Himmel – mir war nicht nach Lachen zumute.

„Haben Sie denn noch nie ein Schwein schreien hören, Salvani?!“ sagte ich prustend … „Es quiekt, grunzt …! Aber es heult nicht!!“

Und Durchlaucht, ganz ernst: „Nein, Schraut … Ich habe wirklich noch nie ein Schwein vernommen, wirklich nicht! Lachen Sie mich nicht aus!“

„Ich lache nicht mehr … Ich habe Angst um Harst …“ – Ich schlich weiter, lugte um die steinerne Schutzmauer …

Das milde Dämmerlicht verschönte die traurige Felswildnis dieses Küstenstriches …

Salvani schob mich zur Seite …

„Schraut, hören Sie denn nicht?!“

Und da … hörte auch ich etwas …

Ein Stöhnen … ein verhallender leiser Ruf:

„Schraut … Schraut …!!“

Wir rannten plötzlich vorwärts …

Halbrechts bewegte sich da etwas auf dem Steingeröll … Wir standen vor Harst … vor Harsts blutigen traurigen – – beinahe hätte ich „Überresten“ geschrieben …

Nun, ganz so schlimm war es nicht. Trotzdem schlimm genug …

Ein blutiges Antlitz … Die Jacke zerfetzt – bis aufs Hemd … Blutig die Brust … Das eine Hosenbein nur noch Lumpen … Das Schenkelfleisch mit Rißwunden bedeckt …

Und dieser Mann, den irgendeine Bestie so übel zugerichtet hatte, – dieser Mann, der sich auf die Ellenbogen stützte und uns mit glasigen Augen anstierte, flüsterte mühselig:

„In … die … Höhle … Dann … dann hier … draußen erst … das Blut abwaschen … alle Spuren tilgen …“

Seine Kraft verließ ihn … Ohnmächtig sank er zurück.

Der Fürst hatte Harald eine halbe Stunde darauf sorgfältig verbunden … Ich draußen das Geröll gesäubert … Steine über die Stelle des Kampfes geschüttet … – Als ich damit fertig, verschwand der Mond … Nebel kam … Regen tropfte, wurde zu kurzem Schneetreiben … –

Harst lag in tiefer Ohnmacht in der kleinen Höhle. Salvani und ich hielten Krankenwacht …

Wir sprachen leise, rieten hin und her: Eisbär!! Es konnte nur ein Eisbär gewesen sein! Aber – weshalb hatte Harald die Bestie nicht erschossen – ein Schütze wie Harst – – und sieben Patronen in der Clement! – Es blieb unbegreiflich, ganz abgesehen von dem Geheul …!! Kein Eisbär heult in solcher Weise …!! – Also – was für ein Tier war’s gewesen?! –

Salvani fühlte immer wieder Haralds Puls … Um vier Uhr morgens meldete sich das Wundfieber … Wir erneuerten die Verbände der tiefen Kratzwunden. Der Fürst suchte aus der Reiseapotheke Tabletten hervor …

So ging uns die erste Nacht auf Jan Mayen hin …

Um vier Uhr war’s draußen taghell … Die Sonne schien … Wir waren ja an der Grenze des Polargebietes.

 

2. Kapitel.

Jan Kikuwait.

Ich war für Minuten im Freien gewesen. Ich hatte einen Teil Jan Mayens bei Tage gesehen – über dem Küstenrand das blaugrüne Meer, die weißen Wolken von Möwen … von der Jacht nichts … Nein, die „Mandragora“ sollte ja im Westen der Insel kreuzen und nur nachts die Barkasse herübersenden. So war’s vereinbart worden.

Als ich unser Felsloch wieder betrat, war der übermüdete Salvani eingenickt, hatte sich auf die Decken hingestreckt und schnarchte leise …

Ein Blick auf den Kranken …

Harsts fiebrige glänzende Augen waren weit offen … Seine Lippen bewegten sich …

Ich kniete neben ihm …

„Mein Alter …“ – und jedes Wort zwang er einzeln über die Lippen, „mein Alter, – für alle Fälle möchte ich Dir meine Vermutungen mitteilen … Man kann nicht wissen … es kann Blutvergiftung hinzutreten … Es war ein schwarzer Panther, der mich angriff … Ich … ich habe ihn halb erwürgt … Er flüchtete … Ich wollte nicht schießen, unsere Anwesenheit nicht verraten … – Also – meine Vermutungen … Doktor Longby ist mit seinen Verbündeten hier auf Jan Mayen … Er … ist der … der Führer, der Schuldige … Er muß hier etwas entdeckt haben, das er nur mit Hilfe größerer Geldmittel ausbeuten kann … Daher wurde Garrison nach Oslo gelockt … Schleiche in der nächsten Nacht zur Südküste, zum Blockhaus … Es muß einen geheimen Eingang haben – muß … Salvani sagte, es lehne mit der Rückseite an einer glatten Steilwand … Beachte diese Wand …“

Die Stimme versagte ihm …

„Wasser …!!“ lallte er noch …

Ich gab ihm zu trinken … Gab ihm nochmals eine Tablette, fühlte den Puls und erschrak …

Er schlief ein, warf sich hin und her …

Salvani schnarchte …

Ich saß da und grübelte … grübelte …

Ein schwarzer Panther …?! – Wie kam ein solches Raubtier nach Jan Mayen?!

Und … die Laternen stanken … Ich lüftete den Vorhang, steckte ihn fest, löschte die Laternen … wagte mich wieder bis an den Eingang, lugte um die Schutzmauer …

Das Bild war dasselbe wie vordem … genau dasselbe.

In tiefen Zügen atmete ich die frische Salzluft …

Mein Herz war schwer … Harst dachte an Sterben … Pantherkrallen – Blutvergiftung …!! Nun – der Fürst hatte die Wunden mit Lysoformlösung gewaschen … Die Verbände waren sachgemäß … Und Harald hatte eine Bärennatur …

Ich lehnte an der Felswand …

Jan Mayen …!! – Oh – ich hatte mir unsere Arbeit hier anders gedacht, ganz anders … Wir waren eigentlich besiegt, bevor wir den Kampf noch eröffnet hatten …!

Jäh preßte ich da die Lider zusammen …

Drüben – – zwischen dem Geröll – – ein Mann!

Wahrhaftig – – ein graubärtiger kleiner Kerl im Schafspelz … Er kroch zwischen den Steinen dahin … Drüben am Ufer – am Küstenrand …

Hob etwas auf, führte es zum Munde …

Ein … Möwenei …

Der Mann suchte Möweneier, trank sie aus …

Und bewegte sich wie einer, der sich nicht sehen lassen will, der Angst hat …

Über ihm kreisten wütende Vögel … Stießen herab auf den Plünderer ihrer Nester …

Der Graubart stach mit dem Messer nach ihnen …

Ein Totenkopfgesicht, dieser Alte – verhungert, matt, elend …

Sollte das etwa einer von Doktor Longbys Leuten sein?! – Ausgeschlossen …!

Und – – ich riskierte es …

Ich tat dasselbe wie er: ich kroch vorwärts – auf ihn zu – stets in Bergung bleibend – stets bereit, meine Clement das letzte Wort sprechen zu lassen …

Kam hinter ihn … Sah die Gier, mit der er seinen Hunger stillte … – rohe Möweneier – – viele warf er als angebrütet weg …

Und vernahm sein keuchendes Selbstgespräch, wenn die Möwen wieder frecher wurden …

Horchte … spitze die Ohren …

Da …:

„Verdammte Biester …!!“

Deutsch – – deutsch …!! Ein Landsmann!!

Und – – rief ihn leise an – deutsch:

„Hallo, Kamerad …!!“

Er fuhr herum … Sein Totengesicht ward gelbfahl … Er sah meine Pistole …

„Schieß, Du Aas …, schieß nur!“ – – seine Stimme schnappte vor Wut über …

Und – – er sprang mich an – wie ein Wahnsinniger.

„Mensch – – Sie sind verrückt! Ich bin Deutscher!“ – und warf mich rückwärts, wehrte den Messerstoß ab …

Er stand still … Etwas Blödes trat in seine Züge …

„Was … sind … Sie?“ fragte er unsicher … „Deutscher?! Sie … Sie … lügen …!! Sie … sind einer von den Schurken, die …“

„Gestatten Sie, Landsmann: ich heiße Max Schraut, bin Detektiv und habe es auf die Schurken abgesehen, die, so scheint’s, auch Ihnen verhaßt sind. Sie können mir getrost Glauben schenken … Wir sind zu dreien hier … – Jetzt aber wollen wir uns doch besser nicht länger noch in voller Größe zeigen … – Folgen Sie mir, Landsmann …“

Sein Gesicht hellte sich auf … – Er trug die derbe Tracht der Hochseefischer … Und streckte mir nun die Hand hin …

„Gott sei Dank – – ein Landsmann!! Ich habe Furchtbares erlebt … Furchtbares …!!“

Ich drückte seine[2] Hand … warnte:

„Verschwinden wir …!! Schnell!“

Er kam hinter mir drein … Wir krochen – – bis zur kleinen Höhle … Ich hatte mich wiederholt umgeschaut, nichts Verdächtiges bemerkt …

Dann saß Jan Kikuwait, geborener Memeler, letzter Überlebenden des Hochseekutters Bremen XX, neben mir, neben Haralds Lager …

Trank Rum mit Tee, kaute Konservenfleisch. Ich störte ihn vorerst nicht. Nachher bat er um eine Zigarre …

„Jetzt bin ich wieder Mensch!“ erklärte er leise … „Und nun soll ich wohl erzählen, Herr Schraut … Wird geschehen …“

Er rauchte mit Andacht. Es war eine von des Fürsten Importen. Der Fürst schlief, schnarchte …

Ich hatte wiederum Harsts Puls geprüft … Ich sah auf seiner Stirn feine Schweißperlchen … Er atmete tief und ruhig … Die Gefahr war vorüber …

Der alte Jan Kikuwait erzählte. – Schade, daß ich hier nicht Wort für Wort genau sein „Garn“ in ostpreußischem Dialekt wiederholen kann …

„Also, Herr Schraut, – – Sturm, tagelang … Unser Hochseekutter wurde wrack … Zwei von uns schlug der krachende Mast tot … Ich, Steuermann Hinnerk und der Schiffsjunge Pieter strandeten hier an den Südriffen … Der arme Bengel ersoff in der Brandung … Hinnerk und ich schluckten literweise Seewasser, kamen zerschunden an Land … – Das war vor drei Tagen morgens so gegen drei Uhr … – Wir hatten keine Ahnung, wo wir uns befanden … Wir wanderten landeinwärts, stießen auf ein großes Blockhaus mit Steinfundament, über dem oben auf der Felswand zwei Antennenmasten standen, deren Drähte in das Blockhaus hinabführten. Vor dem Blockhaus waren allerlei meteorologische Instrumente aufgestellt …“

„Und – Sie betraten das Haus?!“

„Und ob, Herr Schraut …! Wir hatten Hunger … waren pudelnaß, und es war ja offen. Keine Seele darin … Aber die Vorratskammer gefüllt …“

„Sie schliefen dort?“

„Ja … ja …“ sein Gesicht wurde düster … „Wir schliefen … leider! Wir hatten … zu viel getrunken, Herr Schraut … Steuermann Hinnerk war … besoffen … Das kommt vor, Herr Schraut … Wir feierten eben unsere Rettung … Wußten, daß wir auf Jan Mayen waren, hofften …“ – er zitterte plötzlich …

„Und – Hinnerk wurde ermordet?“ fragte ich atemlos …

„Ja … – Aber das muß ich genauer schildern, Herr Schraut … – Da war eine Stube und drei Betten … Aber auf den bunten Bettbezügen sah ich so merkwürdige Flecke – schwarzbraun – – Blut, dachte ich, und … legte mich auf das Sofa in der Nebenstube … – zum Glück … – Das war so gegen elf Uhr vormittags … Damit ich besser schlief, hatte ich die Läden der beiden Fenster angelehnt … Es war Dämmerung in der Stube …“

„Sie … erwachten … und sahen eine Gestalt vor sich …“

Er stutzte …

„Das … das stimmt … – Woher wissen Sie’s, Herr Schraut? Ist Ihnen dasselbe passiert?“

„Nein …“

„Nun – also ich erwachte, weil Hinnerk schrie … entsetzlich schrie … Ich richtete mich schlaftrunken auf … Da … sah ich … den … – ja – was es eigentlich war, ob Mann, Weib, – ich weiß es nicht … – ein Mensch in langem Mantel, um den Kopf so einen Schleier … Und … erstechen wollte er mich … Ging nicht so schnell … War auf den Beinen, schmiß ihm den Sofatisch gegen die Brust … Da … kniff er aus – huschte weg – – wie … ein Gespenst, Herr Schraut … Und ich zu Hinnerk … Der war tot … Ich raus ins Freie … Taumelte über ein Schwein, das vor der Tür vergnügt grunzte … Lief in die Berge, versteckte mich …“

Er griff nach dem Becher … Trank … zitterte …

„Und … und … seitdem sind die Schufte wie ein Rudel Wölfe hinter mir her, Herr Schraut … Gehetzt haben sie mich, Tag und Nacht …“ – Er ballte die braunen Fäuste … „Und das Tollste: nie habe ich einen der Kerle zu Gesicht bekommen … nie …! Aber die Felsblöcke und Steine flogen mir um die Ohren … Daraus ersah ich, daß es mindestens ihrer drei sind … Eingekreist hatten sie mich … Trieben mich dem Vulkan zu … Der ist ja erloschen … Aber an den Abhängen treten noch stinkende Gasquellen zu Tage, verpesten weithin die Luft … In ein solches Tal jagten die unsichtbaren Banditen mich … Wollten mich ersticken … Wenn ich nicht trotz meiner dreiundsechzig Jahre ein so vorzüglicher Kletterer wäre, würde ich gestern dort fraglos elend verreckt sein … Welche Todesangst ich ausgestanden, brauche ich wohl nicht zu betonen, Herr Schraut …“

Da – mischte eine andere Stimme sich ein … Von Harsts Krankenlager …

 

3. Kapitel.

Die Zickzacktreppe.

Harald hatte offenbar den letzten Teil von Jan Kikuwaits Erzählung mit angehört …

Kein Wunder, daß er Schmerzen und Mattigkeit vergaß …

Sagte nun: „Gratuliere Ihnen, Landsmann … Wie ich heiße, wissen Sie ja bereits. Ich möchte Sie nur eines fragen, was für uns von Wichtigkeit: Haben die Leute Ihre Spur seit gestern verloren?“

„Ja … bestimmt, Herr Harst! … Ich bin seit gestern unbelästigt geblieben … Nur …“

„Nur …?“

„Ja – – Sie werden’s mir kaum glauben, Herr Harst … (Ich hatte ihm von dem schwarzen Panther bisher nichts mitgeteilt) … Nur … ein Raubtier hatten Sie auf meine Fährte gehetzt – – – einen Panther, Herr Harst … ein schwarzes Katzenvieh, dem ich nur deshalb entkam, weil ich zweimal nach den Klippen schwamm …“

„Oh – – sehr gut, Landsmann Kikuwait … Dann hatte der Panther es also auf Sie abgesehen … Dann sind wir vorläufig hier sicher … Dem Panther habe ich derart die Kehle zugedrückt, daß der Bestie der Hals wohl für Tage zuschwellen dürfte …“

Kikuwait rief entsetzt: „Wie – – Sie haben mit der Bestie gekämpft, Herr Harst …?! Und Sie …“

Plötzlich verstummte da das Schnarchen Seiner Durchlaucht … Er gähnte, schaute uns stier an … Sagte verwundert:

„Ah – haben Sie einen der Banditen erwischt, lieber Schraut …?!“

Das ging dem Memeler denn doch wider die Ehre …

„Ah nee,“ meinte er treuherzig, „Herr Fürst, ich bin man bloß ein einfacher Matrose, ein Deutscher, Herr Fürst.“

Ich weihte Salvani in die Sachlage ein … Und er gab Kikuwait die Hand … „Sehr erfreut … und sehr interessant … Das wäre dann also der neunte Ermordete, der Steuermann Hinnerk … Armer Mensch! Den Wellen entronnen, und nun diesen Mördern zum Opfer gefallen! – Sie haben also tatsächlich nie einen der Verbrecher gesehen, Herr Kikuwait?“

„Nie …! Nicht mal ’n Mützenschirm oder ’ne Nasenspitze, Herr Fürst …“

Salvani schob sich näher an den Spirituskocher heran … „Ich habe Hunger und Durst … Wir könnten nun eigentlich ein warmes Frühstück herrichten … Ihnen, lieber Harst, geht es ja Gott sei Dank so vortrefflich, daß man auch für Sie eine kräftige Fleischbrühe …“

Nun – ihm sollte der Appetit gründlich vergehen … So gründlich wie uns allen …

Daß wir damals mit dem Leben davonkamen, hatten wir nur den beiden wollenen Decken vor dem Eingang zu danken …

„… Fleischbrühe …“ – – und dann war draußen im Gang ein ungeheurer Knall ertönt … Die Wolldecken flogen zu uns herein … Bedeckten uns … Wir selbst waren durcheinandergeworfen … Ich flog quer über Harald … Der Spirituskocher war umgekippt … Kikuwait brüllte … Seine Kehrseite schmorte … Salvani krabbelte als erster hervor …

Es war eine unbeschreibliche Verwirrung …

Dann Harsts Stimme …:

„Ins Freie …! Hinaus auf das Geröllfeld …! Hier sind wir keine Sekunde unseres Lebens sicher …“

Also – – raus aus dem Felsloch … Ich trug Harald … Und kaum waren wir zwanzig Meter von unserem Schlupfwinkel entfernt – – ein neuer Knall …!!

Von oben hatten die Schufte die Sprengkörper herabgeworfen – irgendwo von der Felswand …

Aber – – wir sahen niemand … Wir standen mit halb erhobenen Pistolen da …

Harst saß auf einem Stein …

Sagte: „Holt unsere Sachen aus dem Loche … Einer genügt … Dann – auf zum Blockhaus! Jetzt werden wir die Taktik ändern … Wir sind unserer vier … Und … wir werden zunächst einmal den Mörder abfassen, der da regelmäßig sich in das Blockhaus wagt …“

Ich eilte schon in langen Sprüngen zu unserem Versteck zurück …

Qualm schlug mir entgegen …

Erst mußte ich die schwelenden Decken auslöschen … Dann packte ich in Windeseile unsere ganze Habe in zwei Decken …

Mit einem Male tauchte der Fürst auf …

Er blutete … hatte einen Streifschuß an der linken Wange …

Rief keuchend: „Jetzt feuern sie, Schraut …! Und liegen so gut gedeckt oben auf einer Terrasse der Wand, daß ihnen nicht beizukommen ist … in keiner Weise … – Harst schickt mich … Sie sollen mit mir dicht am Fuße des Abhangs entlangschleichen … Wir müssen den Schuften in den Rücken … Wenn wir irgendwo die Steilwand erklimmen können, werden wir …“

Nun – es … wurde nichts daraus …

Kikuwait erschien …

„Die Halunken sind jetzt ausgekniffen …! Die Gefahr ist vorüber …!!“ Er brüllte es … Er war ein ganz anderer geworden … Geradezu jugendlich-frisch. Famos hatte er sich für seine Jahre gehalten. Offenbar hatte ihm nur der Schuß Rum im Blute gefehlt. Als Seebär war er eben an steifen Grog gewöhnt.

„Und gesehen haben wir die Lumpen nun auch …“ fügte er hinzu … „Freilich nur ihre Schatten, wenn sie eine sonnige Stelle passierten – ihre Schatten auf den Felswänden … Drei waren es, bestimmt drei … – Herr Harst will nun sofort zum Blockhaus … Wir sollen uns beeilen … Den Weg kenne ich. In einer Viertelstunde sind wir dort …“ – Er packte eins der beiden Bündel und warf es über die Schulter. Ich wollte das andere nehmen. Aber Emanuele Salvani ließ das nicht zu …

„Ich bin jünger als Sie, lieber Schraut,“ meinte er kameradschaftlich …

Das Tragen wurde ihm nachher doch verdammt sauer, zumal wir viel zu klettern hatten. Wir hielten uns dicht am Strande, um nach Möglichkeit heimtückischen Kugeln zu entgehen …

Salvani stützte Harst. Dem ging es bereits staunenswert gut. „Kleine Aufregungen sind die beste Medizin,“ meinte er.

Eine schroffe Hügelreihe schloß das flache Plateau, auf dem die Wetterstation sich befand, nach Süden zu gegen das Meer vollkommen ab. Nach Norden, etwa zwei Kilometer vom Ufer, erhob sich ein langgestreckter Berg, der an einer Stelle etwa zwanzig Meter tief senkrecht abstürzte. An dieser Stelle war das große Blockhaus mit zwei kleineren Nebengebäuden errichtet. Wie ich schon erwähnte, stützte sich das Blockhaus mit der Rückseite an die schroffe Wand.

Die Station machte einen sauberen Eindruck. Und – jemand begrüßte uns hier denn auch mit freudigem Grunzen: das Borstentier! – Es war ein riesiges Exemplar, unheimlich fett und sehr zutraulich.

Daß wir uns den Baulichkeiten äußerst vorsichtig näherten, brauche ich kaum zu betonen. Meine Gefährten blieben zunächst hinter ein paar Steinen zurück. Ich lief auf das Haus zu, die Clement schußbereit … Die Vordertür stand weit offen … Trat ein … Horchte … – Diese vier Stuben, Küche und Nebenräume enthielten nichts Verdächtiges. Alles war für starke Kälte eingerichtet. Die kalte Jahreszeit auf Jan Mayen währt ja bis in den Mai hinein.

Dann winkte ich den Freunden.

Wir durchsuchten nun erst einmal ganz gründlich das Haus. Jan Kikuwait hatte überall die Fensterladen geöffnet. Die Leiche des Steuermannes Hinnerk war verschwunden. – Das Schwein folgte uns und mußte erst mit Gewalt hinausgejagt werden.

In dem Arbeitszimmer des jeweiligen Assistenten und Leiters der Station standen auch die ganz modernen Funkapparate. Harst prüfte sie, stellte fest, daß die Lampen[3] entfernt waren … Die Apparate waren also unbrauchbar.

Wir richteten uns häuslich ein. Um vor jeder Überraschung sicher zu sein, sollte ständig einer von uns oben auf dem Felsvorsprung Wache halten, wo die Antennenmasten standen. Dort hinauf führte eine Zickzacktreppe aus Holz, deren eine Windung sich über das Dach des Blockhauses in etwa fünf Meter Höhe hinzog.

Harst und ich erstiegen die Treppe. Als wir das Wohnhaus gerade unter uns hatten, kniete Harald nieder und besichtigte den Stützbalken des Geländers. „Bitte, mein Alter, – hier sind Druckstellen eines Taues … Hier ist ein Tau befestigt gewesen. Der Mörder hat sich an diesem Tau auf das Dach hinabgelassen, ist durch die Dachluke in die Bodenräume gelangt und von da über die Bodentreppe nach unten … Das Rätsel seines Verschwindens ist also gelöst …“

Wir erreichten dann den breiten langen Felsvorsprung. Von hier konnte man die Umgebung weithin überblicken. Der Ort eignete sich tadellos zur Aufstellung eines Postens. Wir hatten unsere Ferngläser mitgenommen. Aber – wir sahen nur Felsen, Hügel, Berge, dürftige Bäume und Sträucher, einige grüne Flächen und … das Schwein und Seine Durchlaucht vor der Haustür. Er fütterte es … also ein Bild des Friedens …

Da sagte Harst in seiner unvermittelten Art: „Ja – – das Schwein …!! Es gibt zu denken – – sehr!“

„Weil es lebt …“

„Weil der Panther es nicht angefallen und längst verzehrt hat …“

„Hm – – allerdings …!“

„Das ist doch merkwürdig, mein Alter …“

„Sehr sogar …“ Und ich beobachtete Salvani und das Borstentier. Fragte nach einer Weile: „Was soll nun werden?!“

„Die Nacht wird uns klüger machen, mein Alter …“

„Du meinst …“

„Ich meine, daß das Gespenst von Jan Mayen nachts im Blockhaus erscheinen wird … Nachts ziehen wir natürlich den Posten hier oben ein …“

„Hm – – und wenn sie wieder Sprengkörper auf das Dach etwa werfen?“

„Ich glaube, ihr Vorrat ist erschöpft … Es waren Bomben, die sie selbst angefertigt haben … Die Kraft der Sprengkörper war nicht allzu groß, sonst wären wir in dem Felsloch nicht so glimpflich weggekommen …“

Das leuchtete mir ein …

„Wir werden den Schurken hoffentlich erwischen,“ meinte ich. „Ich glaube, Jan Kikuwait prügelt ihn windelweich …“

„Dazu wird er keine Gelegenheit haben, mein Alter … Der Schurke wird entwischen – soll entwischen …“

„So …?!“

„Natürlich … Damit ich ihm folgen kann … Einen Posten werden wir nicht nach Dunkelwerden oben belassen, aber … ich werde mich dort verbergen, und Ihr im Hause verscheucht ihn …“

Da begriff ich … „Sehr gut, Harald. Nur – Dein Gesundheitszustand …!! Und – weshalb wollen wir die Geschichte nicht zu zweien erledigen?!“

„Weil Salvani und der grogfrohe Jan unmöglich allein bleiben dürfen … Sie machen sonst Dummheiten …“

„Allerdings …“ – Und dann blieb ich als Wache hier oben bei den Antennenmasten, und Harst stieg die Treppe wieder hinab – sehr langsam … Er sah aus wie ein bayrischer Bua nach einer handfesten Kirchweihprügelei …

 

4. Kapitel.

Tomsös Tagebuch.

Der Tag verging. Es ereignete sich nichts. Um drei Uhr nachmittags löste Salvani mich ab. Inzwischen hatte mir Jan auch Mittag gebracht und Zigarren.

Der Fürst war seelenvergnügt …

„Schraut, Ihr berühmter Freund hat vorhin die Lampen zu den Apparaten gefunden – die Ersatzlampen, in einer Kiste … Denken Sie, wir haben Verbindung mit der „Mandragora“ … An Bord ist alles wohl …“

Ich schaute zu der Antenne empor …

„Tadellos ist das, Salvani …!“

„Und ob – und ob!! Wir können die Jacht nun jederzeit herbeirufen. Immerhin eine Beruhigung …“

Ich lächelte selbstbewußt. „Wir werden mit den Kerlen in dieser Nacht abrechnen … Dann ist’s mit der Beunruhigung vorbei und die Beruhigung unnötig. Hat Ihnen Harst nicht das Nachtprogramm mitgeteilt, Salvani?“

„Gewiß … Ich habe nur kein rechtes Vertrauen zu dem Plan … Die Sache mit dem Geländerpfosten, dem Tau und der Dachluke leuchtet mir ja ein … Aber der Lump wird sich hüten, uns …“

„Warten Sie nur ab … Der Lump ist ungeheuer verwegen, wie er bereits bewiesen hat … So verwegen, daß …“

Durchlaucht hatte sein tadelloses Fernglas soeben eingestellt …

Unterbrach mich …

„Schraut – – dort draußen auf See – – ein großer Kutter …!!“

Ich war sofort im Bilde …

„Holen Sie Harst, Salvani … Galopp …!!“

Und er rannte davon … die Treppe hinab …

Ich fand den Kutter … Mein Fernglas zog nicht so gut wie das Salvanis … Ich erkannte nur einen dunklen Punkt … mindestens noch fünf Seemeilen entfernt …

Aber das Schifflein näherte sich schnell … Immer deutlicher wuchsen die Konturen in den Linsen … Ja – es war ein Motorkutter, es waren ohne Zweifel Senta Longby und die beiden fragwürdigen Engländer …

Harst kam – allein …

Er humpelte die zahllosen Holzstufen empor … Als er neben mir stand, schaute er nur wenige Sekunden durch das Glas nach dem Kutter aus …

Drehte sich dann um …

Spähte zu dem hohen Bergmassiv des erloschenen Vulkans, des Beerenberges, hinüber …

Und – auch ich wurde so auf eine dünne Rauchsäule aufmerksam, die aus einer der Schluchten dort emporwirbelte, rasch dichter und stärker wurde … Die schwarzen Qualmwolken mußten von einem bedeutenden Brande herrühren.

„Moos und Petroleum … – ein Signal …!“ meinte Harald …

Und wandte sich nach See … Äugte zum Kutter …

„Aha – sie machen kehrt … – ein Warnungssignal … Dachte ich mir!“

Tatsache – der Kutter lief davon … Nach fünf Minuten war er verschwunden …

„Mein Alter, sie werden nun nachts landen,“ erklärte Harst. „Dann haben wir sie beieinander. Ganz gut so, wenn sich auch das Stärkeverhältnis etwas verschiebt: sechs und ein Panther gegen uns vier und das Schwein!“

Das klang so komisch, daß ich laut herausprustete … Auch Harald lachte …

Dann verabschiedete er sich. „Ich schicke Dir nun wieder Seine Durchlaucht, Alterchen … Dann will ich Dir unten im Hause etwas zeigen … Wiedersehen …“

Salvani kam …

„Schlaue Hunde sind’s, Schraut …,“ meinte er. „Die Geschichte mit dem Signal imponiert mir … Wenn man nur erst wüßte, was die Halunken hier treiben … Mit Diamantenmine ist es nichts. Das lehnt Harst glatt ab. Also – was sonst?!“

Ich hob die Schultern … „Keine Ahnung …! Harald scheint selbst noch nicht ganz klar zu sehen …“

Ein Händedruck, und ich verließ die Anhöhe, beeilte mich, ins Haus zu kommen … – Denn – was mochte es sein, das Harst mir zeigen wollte?! Was mochte er Neues entdeckt haben?!

Vor der Haustür saß Jan Kikuwait und … schälte Kartoffeln, eine Zigarre im Mundwinkel …

„Sind gut, Herr Schraut …“ nickte er …

„Allerdings – schöne große Kartoffeln …“

„Ach so … Na – ich meinte des Fürsten Zigarren … Aber auch die Kartoffeln sind prima, das stimmt … Zum Abendbrot gibt es Bratkartoffeln und Rührei mit Speck …“ – Er schielte zu dem Schwein hinüber, das in der Sonne lag und schlief … „Schweinebraten wär auch nicht übel, Herr Schraut …“

Harst befand sich im Arbeitszimmer des Assistenten … Saß an dem einfachen Schreibtisch …

„Da bist Du ja, mein Alter …“

Nickte mir zu …

„Du wolltest mir etwas zeigen, Harald …“

„Gewiß … Etwas, das die Sachlage noch dunkler gestaltet … Dieser billige Fichtenschreibtisch besitzt nämlich ein Geheimfach …“

„Und dieses enthielt?!“

„Langsam, langsam …!! – Hier ist es …“ Er drehte an dem linken dicken Zierknopf des Aufsatzes, und gleichzeitig drehte sich auch ein viereckiges Stück der Seitenwand türähnlich nach außen …

Ich schaute in das sehr schmale hohe Geheimfach hinein. Es war leer …

„Ja – es war leer,“ meinte Harald da. „Und doch nicht leer … Denn Assistent Tomsö, der hier mit den Institutsdienern Warken und Simming ermordet und von dem Fürsten aufgefunden wurde, hat das Fach ein wenig verbessert. Als ich es vorhin entdeckt hatte, befühlte ich die Innenseiten. Das Bodenbrettchen gab dem Druck meiner Finger nach, und – – ich fand in dem unteren noch kleineren Hohlraum Tomsös Tagebuch … – Hier ist es …“

Er nahm ein unscheinbares Quartheftchen mit blauem Deckel vom Schreibtisch auf. „Ich will Dir das Wichtigste vorlesen. Tomsö hat das Büchlein völlig gefüllt. Er schrieb sehr zierlich, wie Du siehst, und sehr eng. Die Erlebnisse eines langen einsamen Jahres sind es – eines Jahres, das sein vorletztes werden sollte … – Armer Kerl! Er hatte dieses Schicksal nicht verdient … – Setz Dich nur …“

Dann begann er:

3. Mai 1923. – Soeben ist der Regierungsdampfer, der uns drei hier nach Jan Mayen gebracht hat, wieder in See gegangen. Zwölf Monate werden wir drei nun zum zweiten Male hier hausen müssen. Ich werde meine Ausflüge nach dem vereisten Gipfel des erloschenen Vulkans wieder aufnehmen. Vielleicht habe ich diesmal Glück.

8. Juli. – Der Beerenberg ist spröde wie eine tugendsame Jungfrau. Er läßt sich nicht ins Herz schauen. Seine mit Eismassen gefüllte Krateröffnung ist von unzähligen engen Spalten durchzogen, die im Sonnenschein unten so geheimnisvoll blaugrün schimmern. Heute habe ich mich abermals an einem Tau in zwölf dieser Eisschlünde hinabgelassen. Aber – es waren wieder nicht die richtigen. Ich werde meine Bemühungen fortsetzen …

2. August. – Endlich – – endlich!! – Heute nach meiner Rückkehr vom Gipfel habe ich in aller Stille das Geheimfach verbessert. Meine Aufzeichnungen sollen eben ganz sicher verwahrt werden. – Mein Geruchssinn hat mich nicht getäuscht. Schon im Jahre 1921 fiel mir bei bestimmter Windrichtung in der Nähe des Beerenberges stets ein schwacher Geruch nach Erdöl auf. Und oben am Krater war dieser Geruch noch intensiver. Jetzt weiß ich: der Berg ist zum größten Teil hohl, und in diesem gewaltigen Höhlenraum gibt es einen Erdölsee von gewaltiger Ausdehnung, – heute habe ich die richtige Eisspalte entdeckt, die mich zu dem Felsenschacht führte, aus dem einst die flüssige Lava hervordrang und die Abgründe dann mit schillernden, schnell erstarrenden Massen anfüllte … – Ich bin noch völlig erschöpft. Unter steter Lebensgefahr bin ich in dem erstickenden Geruch, in dem Dunst des Erdöls hinabgestiegen bis zum Rande meines Petroleumsees – meines Sees! Denn ich bin der Entdecker … Ich habe das erste Anrecht auf dieses ungeheure Erdölreservoir, das vollkommen genügt, die skandinavischen Länder mit diesem Brennstoff für alle Zeiten zu versorgen. – Ich will mir in Ruhe überlegen, was ich jetzt tun muß, damit ich auch die Vorteile meiner Entdeckung genießen kann. Am besten ist wohl, ich teile unserer Regierung den Sachverhalt mit. Man wird mich nicht betrügen oder beiseite schieben. – Ich will mir die Dinge doch erst noch ein paar Tage durch den Kopf gehen lassen.

19. August. – Ich habe heute einem Robbenfangschiff, das auf der Rückreise nach Bergen hier vor der Insel ankerte, einen Brief an meinen Kollegen Dr. Longby mitgegeben. Longby ist ein vielerfahrener Mensch. Er soll mir raten, wie ich meine Entdeckung am besten ausnutzen kann. Drahtlos soll er mir in Chiffren Antwort geben. Ich bin gespannt, ob nicht auch er den geraden Weg für den besten hält: Nachricht an die Regierung!

3. September. – Longbys Antwort ist soeben eingetroffen. Ich soll abwarten, nichts überstürzen. Er sei so etwas Sachverständiger. Wahrscheinlich enthalte der See nur eine dünne Oberschicht Erdöl, deren Ausbeutung nicht lohne. – Ich bin niedergeschlagen, meine Hoffnungen zerrinnen. Wenn nur erst das Frühjahr da wäre …! Dann kommt Longby mich ablösen. Dann werden wir gemeinsam in den Krater eindringen und den See untersuchen.

9. Mai 1924. – Der Regierungsdampfer und die Ablösung sind da. Ich war heute mit Longby im Krater. Der Kollege bewies mir, daß tatsächlich nur zehn Zentimeter Erdöl über dem Wasser des Sees vorhanden. Longby meint aber, man müßte Bohrversuche anstellen, vielleicht fände man eine Ölquelle. Wir werden also vorläufig schweigen … Mag dieses Tagebuch liegen bleiben, wo es lag. Ich kann nicht mehr. Meine Träume von Reichtum sind zerronnen. Morgen kehre ich nach Christiania für ein Jahr zurück, und erst im Mai 1925 sieht mich Jan Mayen wieder, falls ich dann noch lebe. –

Harald legte das Büchlein wieder auf den Tisch …

Sagte: „Ja – er lebte noch … Aber er … fuhr in den Tod … Er, Warken und Simming lösten in diesem Mai Longby, Höörlan und Gussol ab. Diese drei sind dann heimlich nach Jan Mayen zurückgekehrt, denn der verräterische, betrügerische Longby hatte Tomsö belogen: der See enthält nur Erdöl …!“

Ich schüttelte leicht den Kopf … Mir erschien die Lösung außerordentlich unpoetisch, wenn ich diesen Ausdruck hier benutzen darf. – Nur Petroleum!! Und deshalb … neun Morde!!

Harald aber fügte hinzu: „Petroleum – gewiß sehr prosaisch!! Was jedoch ein ergiebiges Petroleumlager für die nordischen Länder bedeutet, scheint Dir nicht voll verständlich. Wenn es Longby und seinen Genossen geglückt wäre, den Juwelier auszuplündern und verschwinden zu lassen, dann hätte niemand gewußt, wo Garrison geblieben, und dann hätten diese Verbrecher die nötigen Geldmittel zum Ankauf eines Petroleumtransportdampfers besessen und würden schwerreich geworden sein. Jetzt sind all ihre Pläne durch uns zu Wasser geworden. Jetzt wird der Motorkutter mit Senta Longby und den beiden Oslo-Kerlen nachts hier landen und die ganze Bande wird … fliehen – zu fliehen versuchen! Unsere Dispositionen ändern sich gleichfalls. Wir müssen diese Flucht verhindern, können die Nacht nicht abwarten … – Das ist’s, was ich Dir hauptsächlich mitteilen wollte, mein Alter …! – Stärken wir uns! Und dann – – auf – die Jagd nach den Burschen, so lange es noch hell ist! Mit aller Rücksichtslosigkeit gehen wir vor – genau wie sie selbst uns bekämpft haben!“

Nun – ich hatte meine sehr großen Bedenken gegen diese „Jagd“ …!! Ein paar heimtückische Kugeln aus dem Hinterhalt, und wir waren erledigt! Anderseits vertraute ich auf Haralds Schlauheit. Er würde schon wissen, wie wir gefahrlos diese Räuberbrut ausheben konnten.

 

5. Kapitel.

Der Krater des Beerenberges.

Man sollte sich, wenn man einen Beruf unserer Art hat, nie etwas Bestimmtes vornehmen. Zumeist kommt es ja doch ganz anders …

So auch heute – hier auf Jan Mayen.

Wir holten uns aus der Vorratskammer kalte Speisen, aßen im Stehen … Tranken einen Schluck Kognak dazu, und – sahen plötzlich durch die Fenster eines der Vorderzimmer, daß von Nordost her eine dicke Nebelbank über den Ozean hinwegzog, – eines jener Nebelgebilde, wie sie in diesen Breiten infolge der plötzlichen Temperaturunterschiede so oft auftauchen und mit dem Winde wieder davonsegeln. – Zehn Minuten lang war Jan Mayen in graue Schleier gehüllt, die Sonne spurlos verschwunden. Dann lag wieder greller Glanz über der Insel … Aber Harald meinte mit einiger Besorgnis: „Wenn die Leute im Kutter klug gewesen sind, haben sie sich in dieser Dämmerung an die Insel herangeschlichen und sind gelandet. – Brechen wir auf, mein Alter … Wir haben alles mit, was wir brauchen. Für schwierigere Kletterpartien nehmen wir die Leine mit … Jan Kikuwait wird wohl noch vor der Tür Kartoffeln schälen … Sagen wir ihm Bescheid … Der Fürst braucht dann auch nicht mehr oben auf der Felsterrasse Posten zu stehen … Jan mag ihn herabholen …“

Aber – der brave Kikuwait war nicht vor der Tür … Die Schüssel mit den geschälten Kartoffeln stand auf dem Holzstuhl. – Und – noch etwas fehlte: das Schwein!!

Harald schaute sich um …

„Hm – merkwürdig …! Sollte unser Jan etwa auf denselben Gedanken gekommen sein wie ich?!“ meinte er unruhig. „Ich habe mir nämlich vorhin folgendes überlegt, mein Alter … Jedes Haustier hat Sehnsucht nach Gesellschaft. Auch ein Schwein bildet da keine Ausnahme. Und gerade weil Longby und Genossen das Tier geschont haben, steht es ihnen gleichsam näher, besucht sie vielleicht in ihrem Schlupfwinkel, kehrt dann wieder hierher zurück … Und – vielleicht gibt es deshalb so eine Art Fährte, hervorgerufen durch das Borstentier – – bis zum Versteck der Verbrecher, eine Fährte, die durch zermalmte Steinchen, abgerupfte Gräser, aufgewühltes Moos und anderes erkennbar sein dürfte. Möglich also, daß unserem Jan derselbe Gedanke gekommen, daß er das Borstentier davonwandern sah, ihm folgte … Suchen wir die Fährte … Gehen wir im Kreise um den Rand dieses Plateaus herum – Du nach rechts, ich nach links … Wer etwas findet, winkt …“

Und – – Harald fand …

Winkte sehr bald … – Da war eine Schlucht, und da war tatsächlich etwas wie eine oft begangene Fährte …

Vor uns ein Steinhügel … Harst springt hinauf – von Felsblock zu Felsblock, hofft auf einen Rundblick von oben …

Und … stutzt …

Ich bin neben ihm …

Er hat plötzlich die lange Leine von der Schulter genommen … macht eine Schlinge … Schwingt den Lasso.

Und da sehe ich … sehe auf der anderen Seite des Hügels Jan auf dem Bauche liegen … über ihm ein pechschwarzer Hund, der merkwürdig einem Panther gleicht[4]

Das war der schwarze Panther aus der vergangenen Nacht! Also doch nur ein Hund … Nur?! – Nein – die Bestie sieht gefährlich genug aus … Schießen ist unmöglich … Also – muß die Schlinge Jan helfen …

Sie schwirrt durch die Luft …

Die Schlinge fliegt dem Hunde über den Kopf …

Im selben Moment, als Harald sie mit einem starken Ruck zuzieht und die Bestie zur Seite reißt, ertönt eine Frauenstimme …

Eine angsterfüllte flehende Stimme:

„Schonen Sie ihn …! Oh – schonen Sie ihn …!!“

Senta Longby …!! Natürlich Senta Longby …!! – Und wir zur anderen Hügelseite hinab … Wir sehen das Mädchen … Wir sehen sie zum zweiten Male … Sind erstaunt … Edle reine Züge … Tränen in den Augen … Dann springt sie zu, löst die Schlinge vom Halse des halb erwürgten Hundes … Die Bestie gehorcht ihr … Kriecht durch das Loch in den Steinhügel hinein, in den Schlupfwinkel der Mörder … – Jan Kikuwait erhebt sich … Blickt umher … Stiert uns an … Stammelt wie entschuldigend: „Das Schwein riß aus, Herr Harst …“

Harald spricht mit dem Mädchen … Und da bemerke auch ich in ihrem Blick etwas, das die Unschuldslarve Lügen straft …

„Jan – Sie nehmen das Weib mit … Binden Sie nur die Hände …“ – Jan zieht seine Pistole … Der Hund schießt plötzlich abermals hervor … Im Sprunge trifft ihn meine Kugel …: Kopfschuß!

Senta Longby wird zur winselnden Verräterin … Will retten, was für sie noch zu retten ist …

„Mein Bruder und die anderen sind zum Krater empor … Sie wollen den Petroleumsee anzünden … Niemand soll einen Vorteil davon haben … Dann wollten wir mit dem Kutter fliehen …“

Emanuele Salvani, der uns von der Terrasse aus beobachtet hat, kommt herbei …

Wir nehmen ihn mit – empor zum Beerenberg, wir drei … Senta Longby hat uns den Weg beschrieben …

Eine Kletterpartie, die unsere Kräfte verbraucht … Und doch quälen wir uns vorwärts …

Höher – – höher …

Anderthalb Stunden … Wir rasten … Das Schwerste kommt noch …

Salvani ist der munterste von uns. Er hat etwas erlebt – wird noch mehr erleben – – oben auf dem Gipfel … Das Erleben ist ihm die Hauptsache …

Dann weiter … weiter …

Die dünne, kalte Luft erleichtert den Anstieg …

Bis wir dann glücklich oben sind … Eine Bergkuppe – mindestens fünfhundert Meter lang, ebenso breit und schüsselartig vertieft …

In dieser Schüssel nichts als Eis, von tiefen Spalten durchzogen – unzähligen Spalten …

Die Sonne läßt die Eisschlünde farbig leuchten … Ein Bild, das bezaubert … Und unter uns die öde Insel, rundum das Meer …

Da ruft Salvani schon:

„Dort – – ein Pfahl im Eise – – ein Tau daran!!“

Und wir hinab – über Spalten und Schlünde mit vorsichtigen Sprüngen … Wir drei, die wir genau wissen: die Verbrecher stecken noch dort unten im Krater …!

Leichte Petroleumdünste umwehen uns …

Werden stärker … – Harst hat den in eine Ritze getriebenen Pfahl erreicht …

Salvani hilft mir über eine breite Kluft …

Wir sehen: Harald bückt sich …

Ruft hingab: „Doktor Longby, werfen Sie Ihre Waffen weg …! Anders lassen wir Sie und …“

Und … taumelt zur Seite …

Wirft sich nieder, rollt aus dem Bereiche des Unheils.

Von unten aus den Tiefen des Berges ist ein dumpfes Grollen emporgestiegen … Dann ein Knall … Der Gipfel scheint zu zittern … Eine Feuersäule bricht aus jener Eisspalte hervor … wie eine Fontäne …

Brennendes Erdöl – brennende Gase …

Wir drei stürmen davon – zur Ostseite … Von dort kommt der Wind. Dort sind wir sicher …

Rauchmassen verhüllen alles ringsum …

Hinter uns sinkt die Fontäne zusammen … Aber die Spalte bleibt Riesenesse des unten wütenden Brandes … –

Wir beginnen den Abstieg. Doktor Longby und die anderen vier sind gerichtet … – durch eigene Schuld … haben nicht mit den Gasen gerechnet, die über dem Erdölsee lagerten … –

Ein Funkspruch ruft die „Mandragora“ herbei. Noch vier Tage bleiben wir auf Jan Mayen … Vier Tage brennt das unterirdische Feuer. Dann erlischt es … –

In Oslo haben wir Senta Longby den Behörden übergeben. Das blonde Weib wanderte für lange Zeit ins Zuchthaus.

Das Schwein von Jan Mayen aber hat der Principe mit nach Italien genommen, als Erinnerung an die – wie er sich ausdrückte – unvergeßlichen Stunden auf der Insel am Rande der Polarzone. Das Schwein von Jan Mayen sollte auf Salvanis Gütern das Gnadenbrot fressen und dem üblichen Schicksal aller Borstentiere entgehen.

Auch Landsmann Kikuwait blieb als Matrose auf der schönen Jacht und dürfte bis an sein Lebensende ebenso gut versorgt sein wie das fette Rüsseltier …

Wir beide kehrten nach Berlin zurück. Harald mußte sich erst einmal ausruhen und erholen …

Er … „gab sich Urlaub,“ wie er sagte …

Dieser Urlaub endete durch ein Floß – durch ein Riesenfloß! – Freilich, dieses neue Abenteuer begann gänzlich auf dem „Trockenen“ …

Doch – das mögen meine Freunde und Leser im folgenden Band selbst prüfen …

Vielleicht lohnt es …

 

Nächster Band:

Das geheimnisvolle Floß.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































1–6:
7:
8:
9:
10:
11:
12:
13:
14:
15:
16:
17:
18:
19:
20:
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23:
24:
25:
26:
27:
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29:
30:
31:
32:
33:
34:
35:
36:
37:
38:
39:

vergriffen.
Zwei Taschentücher.
Die Jagd auf einen Namen.
Die Augen der Jolante.
Der Fluch eines Geschlechts.
Die verschwundene Million.
Die Festung des Ali Azzim.
Die tote Lady Rockwell.
Der Fakir von Nagpur.
Der blinde Brahmane.
Das Auge der Prinzessin Singawatha.
Das Löschblatt von Amritsar.
Die leuchtende Fratze.
Schattenbilder.
Der Löwe von Flandern.
Der ewige Jude.
Das Armband der Lady Mellville.
Die Rätselbrücke.
Der Einsiedler von Tristan da Cunha.
Das Siegellacktröpfchen.
Die Gesellschaft der roten Karten.
Die Uhrkette des Bill Hamilton.
Der Tempel der Kali.
Nur ein Tintenfleck.
Der Stern von Siam.
Eine leere Streichholzschachtel.
Der sprechende Kopf.
Das Geheimnis des Scheiterhaufens.
Die Gefangene von Trawalkor.
Die Eishöhle in Nepal.
Der Mord im Warenhause.
Der Spielklub W W.
Ein gefährlicher Auftrag.
Der sterbende Fechter.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „außerhalt“.
  2. In der Vorlage steht: „sein“.
  3. Gemeint sind hier Elektronenröhren. Deren Bauform erinnerte in der damaligen Zeit tatsächlich noch an Glühlampen.
  4. In der Vorlage steht: „gleiche“.