Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 144:
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Die Tage auf der unwirtlichen Insel Jan Mayen dort oben an der Grenze des Polargebietes (der Leser wird sich noch auf den vorigen Band „Gespenst von Jan Mayen“ besinnen) hatten Haralds robuster Gesundheit doch geschadet. Gewiß, die Verletzungen durch die Zähne der Bestie waren tadellos verheilt, aber der starke Blutverlust und die körperlichen Anstrengungen sofort hinterher machten sich nun nach unserer Heimkehr in recht unangenehmer Weise bemerkbar.
Außerdem gerieten wir auch in jene Hitzewelle in Berlin hinein, die tagelang die Bewohner der Reichshauptstadt aufs qualvollste peinigte.
In unserem Heim in der Blücherstraße 10 in Schmargendorf ging es denn auch recht still her. Harald lag zumeist in seinem verdunkelten Arbeitszimmer auf dem Diwan und tat absolut nichts. Er schlief, las ein wenig, rauchte kaum fünf Zigaretten am Tage (ein schlechtes Zeichen!) und ließ alle Besucher abweisen. Die alte Köchin Mathilde hatte die strenge Instruktion erhalten: wir sind nicht daheim, sondern noch in Norwegen!
So gingen fünf Tage hin. Am Morgen des sechsten Tages nach unserer Rückkehr (es war der 14. Juni) saßen wir in der Veranda beim Frühstück, freuten uns über den bedeckten Himmel und den Temperatursturz und beobachteten unsere Hühner und Tauben, die auf dem blitzsauberen Hofe eifrig das Futter aufpickten.
Frau Auguste Harst, Haralds Mutter und meine mütterliche Freundin, hatte soeben den frisch gebackenen Sonntagskuchen angeschnitten, als ich drüben in unserem großen Gemüsegarten einen gutgekleideten Herrn bemerkte, der den Hauptweg entlang auf das Haus zukam und uns bereits gesehen haben mußte.
„Eine Frechheit!“ meinte ich. „Er ist über den Zaun geklettert. Die Hinterpforte ist verschlossen.“
Frau Harst und Harald schauten hin.
Der Herr hatte es eilig, grüßte schon von weitem, jagte unsere Hühner und Tauben auseinander und blieb dann unterhalb der Veranda neben der Treppe stehen, grüßte wieder und zeigte uns sein hageres, blasses Gesicht, das deutlich die Spuren starker seelischer Erregungen trug …
„Verzeihen Sie, Herr Harst,“ sagte er atemlos … „Ich konnte aber nicht anders … Zweimal hat mich Ihre Wirtschafterin bereits abgewiesen. Haben Sie Nachsicht mit mir … Mein Name ist Falk – Kommerzienrat Falk …“
Harald hatte sich erhoben und war an das offene Verandafenster getreten …
Bevor er jedoch noch etwas erwidern konnte, geschah etwas Seltsames …
Ich muß noch anführen, daß der Hofraum von dem Gemüsegarten durch eine Anzahl alter Linden und Kastanien sowie Haselnußsträucher abgeschlossen ist.
Plötzlich hörten wir hinter den Büschen hervor eine weibliche Stimme … einen zweimaligen Ruf … Anscheinend war es ein Vorname …
Daraufhin drehte der Besucher sich wie entsetzt um und rannte davon – wieder den Hauptweg hinab und verschwand.
Frau Harst war gleichfalls aufgestanden.
„Unglaublich!“ rief sie … „Schraut, das ist doch …“
Harald fiel ihr ins Wort …
„Liebe Mutter, das ist … das Ende meines Erholungsurlaubs … Ich habe den Kommerzienrat Justus Falk bestimmt erwartet … Mathilde hat mir die Namen der abgewiesenen Klienten nicht genannt, ich ahnte aber, daß Falk mit dabeigewesen.“
Da besann ich mich …
„Ah – die Diebstähle in der Falkschen Villa in Wannsee!“ meinte ich. „Die Zeitungen berichteten darüber …“
Frau Harst nickte eifrig. „Stimmt – drei Diebstähle an drei aufeinander folgenden Tagen …“
Harald setzte sich und nahm ein Stück Mohnkuchen, der geradezu köstlich duftete …
„Lassen wir uns vorerst beim Frühstück nicht stören … Die Sache Falk hat Zeit … – Ich möchte nur wissen, wer ihn zweimal beim Vornamen rief, ihn also von hier …“
Mathildes wie immer recht geräuschvolles Erscheinen zwang ihn, den Satz nicht zu beenden.
Die dicke Köchin rief:
„Herr Harald, ein Herr von der Polizei … Sehr dringend … Ich habe ihn in Ihr Arbeitszimmer geführt … Ein Kriminalbeamter … Er zeigte mir seine Ausweismarke … Sehr dringend …“
„Komm, mein Alter … Es hilft nichts … Wir sind nicht Rentner …“
Wir durchschritten den langen Flur, stießen die Windtür auf und fanden die Haustür weit offen …
„Nanu?!“ meinte Harald. „Sollte Mathilde die Tür nicht wieder geschlossen haben?!“
Dann öffnete er die nach links in sein Arbeitszimmer führende …
Das Zimmer war leer …
Harald schüttelte den Kopf …
„Wo ist der Beamte?! Siehst Du ihn …?!“
„Er wird wieder davongegangen sein … Die offene Haustür …!!“
„Ja – und dann war’s natürlich auch kein Kriminalbeamter …!“
Ich warf die Haustür zu und riegelte ab …
Wir kehrten in die Veranda zurück. Die dicke Mathilde stand noch neben dem Frühstückstisch und kaute mit vollen Backen Mohnkuchen.
„Was sagte der Fremde denn zu Ihnen, Mathilde?“
„Er fragte, ob Sie zu sprechen seien, Herr Harald …“ Unsere Köchin war sehr kleinlaut geworden … „Und fügte gleich hinzu, er sei Beamter und käme vom Polizeipräsidium … Ob Sie vielleicht Besuch hätten … Dann würde er später wiederkommen … Und da sagte ich, denn ich hatte ja vom Küchenfenster den Herrn beobachtet, der denn wieder weglief, – da sagte ich, nein, Herr Harst hat keinen Besuch. Es war jemand da, der ist aber mit ’n Mal wieder umgekehrt, ohne Sie recht gesprochen zu haben …“
„Ah so!!“ Und Harald nickte mir zu … „Du begreifst, mein Alter …: Sache Falk …!!“
Frau Harst fragte rasch: „Du glaubst, daß der junge Mensch …“
„… ja, Mutter, – der junge Mensch war ein Spion, wollte feststellen, ob ich Falk annehmen würde. Es muß wohl so sein …“
Und er griff nach dem zweiten Stück Mohnkuchen …
Mathilde zog sich kauend und geknickt zurück.
Frau Auguste Harst aber seufzte und sagte vorwurfsvoll:
„Du hättest Dir getrost noch ein paar Tage Urlaub gönnen sollen, Harald … Du bist …“
„Aber Mutter – mir wächst ja schon vor Langerweile Unkraut im Hirn …! Tatsache! Ich bin eingerostet … Außerdem: Du siehst ja, daß Falk von uns nichts wissen will! Er ist umgekehrt … – Und wir bleiben vorläufig noch Nichtstuer!“
„Und – – das soll ich Dir glauben, Du Schwindler!!“ lächelte Frau Auguste, die ja doch so stolz auf ihren Sohn war. „Ich kenne Dich doch, mein Junge … In Gedanken beschäftigst Du Dich jetzt schon mit den drei Einbrüchen …“
„Irrtum!!“ schmunzelte Harald. „Ich sinne darüber nach, wer zweimal dort hinter den Büschen den Vornamen Justus gerufen haben mag und wer der … Spion war, der unserer Mathilde so gefallen hat … – Jetzt aber: Schluß damit! Diese Frühstücksstunde wollen wir in Andacht genießen …“ Und er begann von allem Möglichen zu reden. Daß er dabei trotzdem mit dem Falle Falk sich beschäftigte, merkte ich an seinem zerstreuten Blick. –
Um neun Uhr hob Frau Harst die Frühstückstafel auf … Wir beide gingen in Haralds Arbeitszimmer hinüber. Harald suchte die drei Zeitungsnummern hervor, in denen die Artikel über die drei Einbrüche gestanden hatten.
In der Abendausgabe vom 9. Juni war zu lesen:
Großer Einbruchsdiebstahl. Der Villa des bekannten Großindustriellen Kommerzienrat Justus Falk haben Einbrecher in der vergangenen Nacht einen Besuch abgestattet und verschiedene Kostbarkeiten gestohlen. Näheres über den Einbruch war nicht zu erfahren. Die Polizei hüllt sich in Schweigen.
vom 10. Juni:
Abermaliger Einbruch in eine Wannsee-Villa. – Der Großindustrielle Kommerzienrat Justus Falk ist erneut durch Diebe schwer geschädigt worden. Diese benutzen die Abwesenheit des Ehepaares F. und drangen trotz der beiden Wachthunde in die Villa ein, stahlen Brillanten und eine Münzensammlung und entkamen unbemerkt. Wahrscheinlich handelt es sich um dieselben Diebe, die schon gestern mit unbegreiflicher Frechheit den Silberschrank des Kommerzienrats geplündert haben. – Auch diesmal haben die Kriminalpolizei und der Geschädigte alle näheren Angaben verweigert.
vom 11. Juni:
Zum dritten Male eingebrochen! Niemand scheint damit gerechnet zu haben, daß Diebe es wagen würden, dreimal hintereinander ein und derselben Villa einen Besuch abzustatten. Dieser Fall hat sich jetzt ereignet. Vorgestern und gestern mußten wir leider melden, daß dem durch seine Wohltätigkeit und seinen Kunstsinn bestens bekannten Kommerzienrate Justus Falk durch Einbrecher überaus wertvolle Kostbarkeiten und Kunstgegenstände gestohlen worden sind. In der verflossenen Nacht haben die Diebe sich auf genau demselben Wege – über einen Balkon des ersten Stockwerks – Eingang in das vornehme Heim des Großindustriellen zu verschaffen gewußt und mit einer grenzenlosen Gewandtheit und Verwegenheit den Wandsafe im Schlafzimmer des Kommerzienrates ausgeräumt, während dieser fest schlief. – Die Zurückhaltung der Kriminalpolizei den Pressevertretern gegenüber ist nun gleichfalls geklärt: die Beamten glaubten, ein Hausdieb sei hier an der Arbeit gewesen, da mancherlei darauf hinzudeuten schien, daß das Eindringen über den Balkon nur vorgetäuscht sei. Jetzt steht einwandfrei fest, daß die Einbrecher vom Gartenzaun an durch die Baumwipfel ihren Weg genommen haben, indem sie lange Stangen von Baumkrone zu Baumkrone legten. Die hierzu benutzten langen Stangen stammten von einem nahen Neubau. Der anfängliche Verdacht der Kriminalpolizei hatte sich gegen einen der Hausangestellten gerichtet, ist nun jedoch völlig hinfällig geworden. Zweifellos waren zünftige Einbrecher hier an der Arbeit, die das Terrain vorher aufs sorgfältigste ausgekundschaftet hatten. Auch die einzelnen geraubten Wertstücke sind jetzt durch Säulenanschlag dem Publikum zugleich mit einer Belohnung von ein Viertel des Gesamtwertes (etwa 580 000 Mark) bekanntgegeben worden.
Harald hatte die vierte Mirakulum angezündet – die vierte nach dem Frühstück.
Er ging jetzt im Arbeitszimmer hin und her … Ich hatte die drei Artikel bedächtig gelesen, sagte nun:
„Irgend etwas stimmt bei diesen drei Einbrüchen natürlich nicht …!“
Harst war am rechten Fenster stehen geblieben, schaute auf die düstere Straße hinaus. Am Himmel hing schwarzes Gewölk. Jeden Augenblick mußte ein starker Regenguß beginnen …
„Natürlich nicht!“ meinte er, mir weiter seine Rückansicht zeigend … „Aha – der Schofför betritt den Vorgarten … Ein Mann in Schofförtracht … Er zögert … Macht wieder kehrt … Zögert abermals. Jetzt eilt er rasch auf die Haustür zu … Er … läutet …“
Die Flurglocke draußen schlug an …
Ich wollte öffnen gehen. Harald war schon draußen, ließ die Tür weit offen …
Ein junger bartloser Mensch verbeugte sich vor Harst …
„Treten Sie nur näher, Herr Otto Schmiedeck,“ sagte Harald freundlich. „Wundern Sie sich nicht, daß ich Ihren Namen kenne. Ich hatte in der Zeitung von den Einbrüchen bei Ihrem Herrn gelesen und habe mich daher über die Insassen der Villa unter der Hand erkundigt …“
Der Schofför Otto Schmiedeck hatte sich dann kaum gesetzt, als draußen eine wahre Sintflut niederging. Es wurde so dunkel, daß Harst die Fenstervorhänge zuzog und das elektrische Licht einschaltete.
Harst hatte ihm gegenüber Platz genommen und ihm die Silberschale mit Zigaretten hingeschoben …
„Bedienen Sie sich nur, Herr Schmiedeck … Sie sind leidenschaftlicher Zigarettenraucher … Ihr Blick nach der Silberschale hin war vielsagend genug, ganz abgesehen von Ihren gelblichen Fingernägeln an der linken Hand … Sie sind Linkser, nicht wahr?“
„Ja, Herr Harst … – Ich bin so frei und greife zu.“
„Bitte … Hier ist Feuer … – Sie sind derjenige, den die Polizei zunächst im Verdacht hatte?“
„Leider, Herr Harst … Und dieser Verdacht besteht noch immer … Ich fühle das … Die Polizei hat inzwischen mein Vorleben durchforscht … Ich … ich bin nämlich vor sechs Monaten unter einem Namen und mit Hilfe von Papieren, die mir nicht gehören, bei Herrn Falk Schofför geworden. Herr Falk hat mich heute früh entlassen, und … und … ich bin eigentlich … ein Flüchtling … Wenn die Polizei mich findet, werde ich verhaftet …“
Haralds Gesicht verrät selten eine bestimmte Empfindung. Dazu hat er sich zu gut in der Gewalt … Jetzt schien auch er überrascht …
„Wie heißen Sie denn in Wirklichkeit, Herr Schmiedeck?“ fragte er recht gedehnt …
„Verzeihen Sie, Herr Harst,“ erwiderte der Schofför sehr bestimmt … „Meinen wahren Namen werde ich unter allen Umständen verheimlichen, mag man mich auch verhaften …“
„Weshalb in aller Welt sind Sie dann aber zu uns gekommen?!“
„Weil ich Sie bitten möchte, mich zu verbergen, und weil ich Ihnen Dinge mitteilen kann, die weit seltsamer als diese drei Einbrüche sind … – Glauben Sie denn daran, Herr Harst, daß gewerbsmäßige Einbrecher dreimal hintereinander derselben Villa einen Besuch abstatten werden?!“
„Nein!“
„Ich auch nicht, Herr Harst … Ich noch weniger, denn – ich weiß, daß der Dieb im Hause zu suchen ist!“
„Ah – das wissen Sie?! Woher?!“
„Durch meine Beobachtungen, Herr Harst, – durch das, was ich hier mit … dem Ausdruck „seltsame Dinge“ bezeichnete …“
Er rauchte hastig ein paar Züge …
Dann:
„Ich will erzählen, Herr Harst, ganz kurz … Die Garage der Villa liegt jenseits der Waldstraße, dem Villengrundstück gegenüber … Meine beiden Stuben wieder befinden sich über der Garage. Die Fenster gehen nach der Straße hinaus. Da die Villa selbst auf einem Hügel am Wannseeufer sich erhebt, konnte ich die Vorderseite des Hauses auch nachts überblicken, denn Herr Falk läßt die große Bogenlampe über dem Haupteingang selbst nachts bis zum Morgen brennen – eine Eigentümlichkeit von ihm …“
„Bitte – berichten Sie alles recht genau,“ warf Harald ein. „Mir scheint, die Villa ist nicht nur durch die drei Einbrüche für mich interessant …“
„Die Villa wird erst für Sie interessant werden, Herr Harst. Ich sage nicht zuviel: die Bewohner sind sämtlich … fragwürdig! Sie verstehen mich: jeder der Insassen der Villa bietet überreichlich Stoff zum Nachdenken. – Außer dem Ehepaare Falk – der Kommerzienrat hat vor einem Jahr zum zweiten Male geheiratet – wohnen dort noch die Tochter aus erster Ehe, Fräulein Felizitas Falk, dann der bejahrte Diener Gustav Lorb, der schon zwanzig Jahre bei Herrn Falk ist, ferner die Köchin, das Stubenmädchen und der Gärtner, letzterer im Pförtnerhäuschen. – Ich habe nun folgendes beobachtet, und zwar fingen die merkwürdigen nächtlichen Vorgänge vor etwa zwei Monaten im April an … Mir fielen eines Abends gegen halb zwölf zwei Leute auf, die vor der Gitterpforte auf der Straße hin und her schlenderten. Die Waldstraße ist sehr still und vornehm, Herr Harst …“
„Ich kenne sie …“
„Diese beiden Fremden waren ein Chinese und ein braunhäutiger Mann, vielleicht ein Inder … Ich hatte mein Fernglas zu Hilfe genommen. Beide waren sehr gut angezogen. Dann kam von der Villa her – ich stand im Dunkeln am offenen Fenster – der Diener Lorb den Hauptweg entlang. Seine ganzen Bewegungen waren vorsichtig und scheu – wie die eines Menschen, der auf verbotenen Pfaden wandelt. – Ich wunderte mich, denn der alte Diener ist ein biederer, offener Charakter. Desto sorgfältiger verfolgte ich sein Tun. Es gab jedoch nicht viel zu sehen … Er schritt bis zur Gitterpforte, die beiden Fremden gingen draußen vorüber und – Lorb machte kehrt.“
„Wie – sie sprachen nicht miteinander? Oder vielleicht reichten sie sich etwas zu? Ein Stück Papier – irgend etwas …?“
„Nichts, Herr Harst, nichts … Ich habe ja dieselbe Szene ein dutzendmal beobachtet, nur – die Personen wechselten, das heißt, anstatt des Dieners kamen Herr Falk oder die gnädige Frau oder die Köchin, das Stubenmädchen, der Gärtner … Immer jedenfalls ein Bewohner der Villa und die beiden Asiaten … Nur Fräulein Felizitas machte eine Ausnahme. Sie habe ich niemals bemerkt.“
Harald schüttelte leicht den Kopf …
„Konnten Sie die Personen denn stets so genau erkennen?! Es gibt doch auch im Frühjahr sehr dunkle Nächte! Und – erschienen die Asiaten und je einer aus der Villa stets etwa um dieselbe Zeit?“
„Die Bogenlampe brennt ja regelmäßig, Herr Harst … Und die Stunde – die wechselte allerdings. Manchmal mußte ich bis ein Uhr morgens warten …“
„Ist Ihnen denn nie der Gedanke gekommen, den beiden Fremden nachzuschleichen?“
„Gewiß, Herr Harst! Ich habe es dreimal versucht. Bevor ich jedoch die Straße erreicht hatte, waren die Leute verschwunden …“
Harald stützte die Stirn leicht in die Hand und dachte angestrengt nach.
Eine ganze Weile verging, bevor er wieder fragte:
„Bringen Sie das von Ihnen Beobachtete, das ja in der Tat recht seltsam ist, mit diesen drei Einbrüchen in Zusammenhang, Herr Schmiedeck?“
Der hob die Schultern … „Schwer zu sagen, Herr Harst …“
„Hm – der Gärtner wohnt doch im Pförtnerhäuschen am Gittertor … Kam denn auch der Gärtner von der Villa her?“
„Ja – und das ist auch mir aufgefallen, Herr Harst … Zweimal habe ich den Gärtner in dieser Weise belauscht. Beide Male erschien er von der Villa her und kehrte auch dorthin zurück. Ich nehme an, er hat Herrn Falk etwas gemeldet, was die Asiaten ihm im Vorübergehen zugeflüstert hatten – nur so ist all dies zu erklären …“
„Allerdings … – weshalb hat sich denn nun gerade auf Sie der Verdacht gelenkt, Herr Schmiedeck?“
„Weil ich erst ein halbes Jahr bei Herrn Falk bin … Alle übrigen aber schon weit länger. Sogar das Stubenmädchen dient dort bereits im sechsten Jahre. Da hat denn die Polizei mir so etwas nachgespürt. Man fragte mich aus. Ich verriet mich dadurch, daß ich unrichtige Angaben über die Schofförschule machte, die der wahre Otto Schmiedeck, von dem ich die Papiere gekauft habe, besucht hatte …“
„Und wo befindet sich dieser Schmiedeck jetzt?“
„In Amerika, Herr Harst … Ich gab ihm …“ – Er stockte …, fügte hinzu: „Nein, ich will Sie nicht belügen: ich gab ihm fünfzehntausend Mark für die Papiere … Mit dieser Summe konnte er sich drüben eine kleine Farm kaufen.“
Harald meinte erstaunt: „Wie – fünfzehntausend Mark?! Ja, woher hatten Sie denn das Geld?!“
Der Schofför schaute Harst, mit einem eigentümlichen Blick an …
„Oh – ich habe noch mehr ehrlich verdientes Geld, Herr Harst … Ich biete Ihnen 25 000 Mark, wenn Sie die Diebe entdecken und mich bis dahin hier bei sich verbergen. Und – – ich gebe Ihnen mein Wort: ich bin ein ehrlicher, anständiger Kerl, von kleinen Lumpereien abgesehen, die jeder in seiner Jugend mal bereißt – nichts Ehrenrühriges, Dummheiten mehr …“
Harald lächelte jetzt …
„Wie Sie auch heißen mögen, Herr: Sie sind niemals ein einfacher Schofför! Ich bin so etwas Menschenkenner … weshalb haben Sie, den ich für einen Maschineningenieur halte, sich bei Falk als Schofför verdingt?! – Die Wahrheit bitte …!!“
Der, der nicht Schmiedeck hieß, verbeugte sich jetzt mit der nachlässigen Sicherheit des Weltmannes …
„Im Vertrauen, Herr Harst: weil ich Felizitas Falk liebe und in ihrer Nähe sein wollte …! – Fragen Sie hierüber jedoch nichts mehr … Ich müßte die Antwort verweigern … Ich …“
Er schwieg …
Nebenan in Haralds Schlafzimmer hatte ein Fenster geklirrt …
Harst schnellte hoch …
War schon an der Tür …
Umsonst …
Die Schlafzimmertür war von innen verriegelt …
Und als wir beide jetzt in den Hof hinabeilten, prallten wir fast mit Mathilde zusammen …
Die kreischte:
„Der Kerl ist aus dem Fenster gesprungen … der junge Kerl – – der falsche Kriminalbeamte … Durch den Gemüsegarten ist er entwischt … Ich wollte ihn festhalten … Gestoßen hat er mich, der Lump …“
Als wir in wilder Jagd hinten am Zaun des Gemüsegartens angelangt waren, konnten wir von dem frechen Spion, der sich in Harsts Schlafzimmer verborgen und nur scheinbar das Haus sofort wieder verlassen hatte, nichts mehr entdecken …
Wenn der freundliche Leser nun etwa annimmt, daß wir bei unserer Rückkehr in Haralds Arbeitszimmer den Mann, der nicht Schmiedeck hieß, nicht mehr vorfanden, so ist dies ein verzeihlicher Irrtum. Nach allem Vorausgegangenen hätte man immerhin auf die Vermutung kommen können, der Mann sei mittlerweile gleichfalls verduftet.
Wir waren nicht etwa durch den Flur in das Arbeitszimmer zurückgekommen. Nein, wir hatten eine Leiter vom Hofe aus an das Schlafstubenfenster gelehnt und waren in dieses Zimmer eingestiegen, wo der Spion sich versteckt gehabt und uns natürlich belauscht hatte.
Ein ganz schwacher besonderer Duft hing in diesem schlicht ausgestatteten Raume, dessen Tür Harald nun aufriegelte, öffnete und weit offen ließ …
Ein Duft, der uns beiden fremd …
Es war ein aufdringliches und doch auch wieder sehr eigenartiges Parfüm, – etwa wie feinster chinesischer Tee, der nur mit Handschuhen gezupft wird, und dazu etwas wie … ja, wie Waldmeister und Harzgeruch …
Harald hatte nur prüfend die Luft eingesogen und mir zugenickt …
Setzte sich nun dem angeblichen Schofför wieder gegenüber und schaute ihn an …
Der lächelte noch immer wie verträumt. Sein sympathisches Gesicht bekam dadurch einen ausgesprochenen Zug von Schwärmerei – man könnte sagen: Verliebtheit!
Harst erzählte dann von dem Menschen, der hier bei uns als Kriminalbeamter sich eingeschlichen hatte …
Der Duft aus dem Schlafzimmer, diese flüchtige Erinnerung an den Spion, drang durch die offene Tür immer stärker herein …
„Sie kennen diesen Geruch?“ fragte Harald dann …
Unser Gast nickte. „Ja, Herr Harst … Es ist das Parfüm, das von Fräulein Felizitas Falk benutzt wird … Ein Parfüm aus Mexiko im übrigen … Chuala heißt es … Fräulein Felizitas erhielt es vor zwei Jahren von einem Freunde ihres Vaters geschenkt, der lange Zeit in Mexiko gelebt hat.“ –
„Hat Fräulein Falk Ihnen das erzählt, Herr Schmiedeck?“
Der Mann, der nicht Schmiedeck hieß, wurde verlegen …
„Hm … – ersparen Sie mir besser die Antwort …,“ sagte er dann, und sein Gesicht veränderte sich mit jedem Wort immer mehr ins Tragische … Es war, als ob eine Wolke über sein frisches Antlitz hinzog …
„Sie waren also in Mexiko,“ meinte Harald da, und – dies war der erste Angriff auf des angeblichen Schofförs Geheimnisse. „Sie haben Fräulein Felizitas das Chuala geschenkt, und Ihre Erinnerungen an Mexiko können nur recht trauriger Art sein … Wäre es nicht besser, Sie lüfteten die Maske?“
Aber der Gast wollte nicht. Er starrte in das Schlafzimmer hinein. Die Augen hatte er halb zugekniffen … Sein Gesicht veränderte wiederum den Ausdruck.
Harald meinte da: „Sie überlegen nun, ob vielleicht gar Fräulein Falk hier in einer Verkleidung sich Zutritt verschafft haben könnte … Weil doch ihr Parfüm zurück blieb … – Nun, wir haben im Garten Spuren gefunden – Spuren von Männerstiefeln …“
Und der Schofför sagte kopfschüttelnd:
„Nein, sie hat sehr zierliche Füßchen … Auch winzige Hände … Nein, sie würde nie Derartiges tun … Weshalb denn auch?!“
„Allerdings – weshalb?!“ nickte Harald ernst …
Mir aber wurde immer klarer: dieser Mann war durch eine starke Leidenschaft an Felizitas Falk gekettet … Dieser Mann war auch von der jungen Dame bereits erhört worden … Wie hätte sie sonst das Chuala von ihm angenommen?! Und – er hatte doch in keiner Weise bestritten, daß das Parfüm von ihm stammte …! –
Ein längeres Schweigen entstand. Jeder von uns dreien hing seinen eigenen Gedanken nach …
Bis Harst sich erhob und zum Schreibtisch ging … Den Hörer vom Fernsprecher nahm und im Verzeichnis der Teilnehmer blätterte …
Unser Gast wandte ruckartig den Kopf, als Harald die Nummer 143, Wannsee, verlangte …
„Ah – – Falk!!“ rief er. „Sie wollen ihn sprechen, Herr Harst …?!“
Harald meldete sich schon …
„Hier Harald Harst … Wer?! – So, danke … Also der Diener Gustav Lorb … Ist der Herr Kommerzienrat zu Hause? Nein?! Verreist? – Vor zehn Minuten?! Wohin denn …?! – So – – nach Oberbayern? … – Danke – Schluß …“
Und legte den Hörer weg …
Zu uns dann: „Falk und Frau verreisen … Merkwürdig ist das … Sehr merkwürdig …! – Schraut, wir werden sofort nach dem Anhalter Bahnhof fahren. Ein – Zug nach München geht um elf Uhr ab … Den erreichen wir noch … Bleiben Sie getrost hier, Herr … Schmiedeck.“
Ein Auto trug uns durch den Berliner Westen zum Zentrum …
Harst war schweigsam. Ich überlegte mir vielerlei … Ich war überzeugt, daß Falk und Frau vor uns das Weite suchten …
Und als wir den Bahnsteig dann genau um drei Viertel elf betraten und am D-Zuge entlanggingen, bemerkte Harald die Gesuchten in einem Abteil erster Klasse …
Wir betraten den D-Wagen …
Falks waren allein in dem Abteil … Als Harst die Schiebetür öffnete, als der Kommerzienrat ihn erkannte, wechselte er die Farbe und warf seiner Gattin, die bedeutend jünger war und der man sofort die Ausländerin ansah, einen eigentümlichen Blick zu …
Harst grüßte höflich … „Sie verzeihen, Herr Kommerzienrat … Ich wollte Sie nur einiges fragen …“
Falk erhob sich, stellte uns seiner Frau vor, schon wieder völlig gefaßt …
Und Harald?! Der hatte es weit mehr auf Frau Falk abgesehen …
„Gnädige Frau, Sie geben wohl zu, daß Sie es waren, die heute früh hinter den Büschen hervor Ihren Herrn Gemahl … zurückrief … Wir fanden dort Spuren – von Damenschuhen … nicht wahr, Sie leugnen nicht … Wozu auch?!“
Der Kommerzienrat mischte sich ein …
„Juana war’s in der Tat, Herr Harst … Sie wollte von der ganzen Diebstahlsgeschichte nichts mehr wissen … Sie ist überaus nervös und … und …“ Er bekam plötzlich das Stottern …
„Gnädige Frau sind Mexikanerin?“ meinte Harald sehr liebenswürdig …
„Ja …“ erwiderte die junge reizvolle Frau ablehnend. „Justus hat im übrigen ganz recht: ich mag nichts mehr von der Sache hören, Herr Harst …! Die Kriminalpolizei wird die Einbrecher schon ermitteln, und …“
„Gnädige Frau haben Verwandte hier in Berlin?!“ fiel Harst ihr unhöflich ins Wort … Es war keine Frage, sondern mehr eine Behauptung …
Siehe da: Juana Falk verfärbte sich …
Ihre dunklen Augen flammten auf …
„Wie kommen Sie denn darauf, Herr Harst?!“ sagte sie noch kälter und feindseliger … „Ich habe in ganz Europa keine Angehörigen …“
Und mein alter Harald – mit äußerst respektvoller Verbeugung:
„Oh – entschuldigen Sie, gnädige Frau … Ich weiß nicht, wer es mir erzählt hat: ein Bruder von Ihnen soll sich hier in Berlin aufhalten …“ –
Ich warf einen prüfenden Blick auf des Kommerzienrats Gesicht …
Der Blick verlohnte … Falk achtete nicht auf mich … In seinen Augen lauerte die peinvollste ungewisse Angst … Diese Augen hingen an den feinen Zügen seines Weibes, das mindestens zwanzig Jahre jünger als er sein mußte.
Und der kecke Schwindler Harst lächelte weltmännisch-verbindlich … Spürte in Frau Juanas Antlitz nach jeder Veränderung …
Deren Wangen von leichtem Bronzeton (ob sie wohl ein wenig indianisches Blut in den Adern hatte?!) spielten mit einem Male ins Grünlich-Blasse …
Ihr Bruder!! – Harst hatte da lediglich so etwas auf den Strauch geschlagen. Aber – um im Bilde zu bleiben – es hatte im Strauche verdächtig geraschelt!
Und ich, Max Schraut, war nun felsenfest überzeugt, daß einer der beiden Orientalen unbedingt ein Mexikaner sei, eben tatsächlich ein Bruder der verführerischen Juana!
Dann verbeugte sich Harald schon von neuem, bat um Verzeihung, die Herrschaften hier belästigt zu haben …
Wir verschwanden …
Ließen in dem Abteil erster Klasse zwei Menschen zurück, die ohne Frage jetzt einander nicht anzusehen wagten …
Noch im Gange des Wagens flüsterte Harald mir zu:
„Sie sind draußen auf dem Bahnsteig – jeder einzeln.“
Und wieder dann: „Wir trennen uns, mein Alter … Du nimmst den Chinesen aufs Korn, ich den Mexikaner … Wiedersehen …! Und … Vorsicht …! Der Chinese ist ein kleiner quittengelber Kerl mit einem pechschwarzen Strauchbesenschnurrbart …“
Ich mußte lange suchen, bis ich meinen Chinamann fand. Der Kerl saß wahrhaftig mit im Zuge – Raucherabteil dritter Klasse …
Harst hatte ich aus den Augen verloren …
Aha – – der Chinese wollte also offenbar das Ehepaar getreulich begleiten …!! Gut – ich tat dasselbe …! Ich hatte gerade noch Zeit, mir eine Fahrkarte zu holen … bis München zunächst … Und ohne Gepäck, ohne alles – mit nur noch sechzig Mark in der Tasche begann ich diese … Vergnügungstour, die … bis zu fernen Inselgestaden des Weltmeeres sich ausdehnen sollte.
Der Zug verließ den Anhalter Bahnhof …
Ich hatte im Abteil nebenan noch einen Platz erwischt, war also dem Chinamann dicht auf … der Pelle, wie der Berliner sagt … Und ich ließ ihn nicht aus den Augen … Sehr bald merkte ich: der Gelbe kannte mich nicht einmal von Ansehen! Ich war nun noch kühner … Ich wollte den anderen Burschen suchen, den Mexikaner … Ob der etwa in Berlin zurückgeblieben war?! Wohl kaum anzunehmen …
Ich schlenderte durch den Zug …
Da versperrte mir ein Fahrkartenrevisor den Weg … Ein Mann mit Dienstmütze, Rotweinnase, Klemmer und struppigem Schnurrbart …
„Geh in den Gepäckwagen …,“ flüsterte der Beamte …
Ich riß den Mund vor Staunen auf, klappte ihn aber schnell wieder zu …
Harst – – mein Freund Harald!!
Und – ich ging …
Freute mich diebisch, daß auch er mit von der Partie war …
Im Gepäckwagen, im Postraum, fragte mich der eine Beamte nach prüfendem Blick:
„Herr Schraut?“
„Max Schraut …“
Die anderen Beamten schauten mich an … Harsts Ruhm warf ein paar Strahlen auf meine Wenigkeit …
„Hier – ein Brief für Sie, Herr Schraut, – und diese Dinge, die Herr Harst noch schnell aus dem nächsten Friseurladen am Anhalter Bahnhof holen ließ …“ – Er gab mir Brief, Perücke, Bart, Tube mit Klebstoff und zwei Schminkstifte …
Ich öffnete den frisch zugeklebten Briefumschlag, las den Zettel – Bleistiftzeilen:
„Verändere Dich Juanas wegen … Auch ihr Bruder im Zuge … Große Sache …!! H.“ –
Große Sache!! – Woher in aller Welt wußte Harald das so plötzlich?! – Große Sache …!! Das klang verheißungsvoll …!!
Und – ich veränderte mich … Einer der Beamten hielt mir einen Taschenspiegel … Die anderen waren andächtige Zuschauer. Und – waren verblüfft, wie schnell ich alter früherer Schmierenkomödiant meine Visage total umknetete.
„Unglaublich!“ meinte der Postassistent … „Ich habe all das bisher für Romanhumbug gehalten …!“
Dann schlenderte ich wieder durch den Zug …
Und in der Nähe des Abteils des Chinesen mußte ich mich an einer Dame vorbeidrängen, die hier im Wagengang einen Roman las – eine ältere Dame mit schwarzem Schleier.
Zwei Schritte weiter stand ein greisenhafter Herr und rauchte eine Zigarette …
Und – – dieser Fremde packte rasch meine Hand, schob mir ein Zettelchen zwischen die Finger …
Teufel – war das etwa Harald in neuer Aufmachung?!
Nein – ausgeschlossen! – Und ich nun schleunigst in einen Waschraum … Entfaltete den Zettel …
Eine ganz unbekannte energische Schrift:
„Achtung! Juana Falk wird den Zug heimlich verlassen …! Die ganze Sache dreht sich um das Floß Mr. Harry Baldwins …“
Hol’s der Geier – unsereiner ist doch wahrhaftig an Überraschungen aller Art gewöhnt …!
Daß mir hier aber im D-Zug ein wildfremder alter Herr einen Zettel zusteckt, auf dem etwas von einem Floß eines Mr. Harry Baldwin zu lesen war, – das ging denn doch über die sogenannte Hutschnur!
Ein Floß?! – Was Teufel hatte ein Floß mit den Vorgängen in der Wannsee-Villa zu schaffen?! Man denke – ein Floß – – und drei Einbrüche, zwei sogenannte Asiaten und der Schofför, der viel Geld hatte, der nicht Otto Schmiedeck hieß und der Felizitas Falk liebte, die Tochter aus der ersten Ehe des Kommerzienrats! Das war doch in der Tat so allerhand …!! Das war ein netter Knäuel von bunten Fäden!! Wie wir uns da herausfinden würden, mochte ein anderer wissen! Und – – dieser andere würde Harald sein …!!
Ich also raus aus dem Waschraum …
Ich wollte zweierlei: erstens Harst den Zettel geben und ihm das Nötige zuflüstern; zweitens den alten Herrn sprechen. Der mußte mir sagen, wer er war – unbedingt!
Ich suchte Harald im Vorderteil des Zuges … Fand ihn auch … Er unterhielt sich mit einem Schaffner …
Ich winkte … Er kam … Rasch den Zettel ihm gereicht, rasch geraunt, was ihm die Herkunft der Nachricht erklären sollte …
Er las … zerriß das Papier …
Meinte leise: „Der alte Herr?! – Grüße ihn von mir … Es ist ein Kollege … Es ist der Gast, es ist der Mann, der angeblich Schmiedecks Papiere kaufte …“
Donnerwetter – eine nette Überraschung! Der Schofför ein Detektiv!! Nun – ich zweifelte kaum mehr, daß es so war …
Und schlenderte davon – nach hinten zu …
Bemerkte plötzlich die Dame mit dem schwarzen Schleier, die vorhin im Gange den Roman gelesen … Es machte auf mich den Eindruck, als ob sie Harald und mich beobachtet hatte. – Wer war das nun wieder?! Und ich nahm mir vor, auch sie fortan scharf zu beäugen …
Zunächst aber der Kollege … Der sollte nun endlich die Maske lüften. Leider – – er war spurlos verduftet … Spurlos … Zweimal durchsuchte ich den Zug … Traf zweimal Harald, der jedoch keinerlei Notiz von mir nahm, sah den Chinamann, sah nun auch den Mexikaner im Speisewagen sitzen … – tadellos angezogen … mit schwarzem Spitzbart, Bronzegesicht, Brille, – sehr harmlos … Und zweimal kam ich auch an der grauhaarigen Verschleierten vorüber. Sie trug einen langen Seidenmantel, war schlank, fast zierlich … beachtete mich scheinbar nicht …
Der Kollege war wie weggeblasen. Natürlich hatte er die Maske also gewechselt. Jeden musterte ich nun – jeden männlichen Zuginsassen. War vergebliche Liebesmüh …
Weiter jagte der D-Zug …
Nichts geschah … Ich war in den Gepäckwagen gegangen … Stunden verrannen. Auf jeder Station, wo der Zug hielt, gab ich genau acht, ob einer der Herrschaften etwa ausstieg …
Dann – – Bamberg … Vier Minuten Aufenthalt …
Falks gingen auf dem Bahnsteig auf und ab … Er kaufte Zeitungen … Und Frau Juana – – ah – – sie … drückte sich heimlich … Und da … waren ja auch die beiden sogenannten Asiaten … Ebenso die grauhaarige Verschleierte …
Also – so ziemlich allgemeiner Auf- und Ausbruch …! Da war auch Harald mit der Rotweinnase und dem Strauchbesenschnurrbart …!
Ich schleunigst gleichfalls hinaus …
Hier im Gedränge des Bahnsteigs (man denke Juni, Reisezeit!!) war es weiter nicht gefährlich, dicht hinter den vier Herrschaften zu bleiben …
Frau Juana lief fast …
Ihr folgten einzeln die beiden farbigen Ehrenmänner China und Mexiko … Dann kam die Dame mit dem Schleier … Dann ich – zwei Schritt neben mir Harald …
Hinaus zur Sperre … durch das Bahnhofsgebäude …
Autos töfften davon …
Vorn Juana …
Eigentlich zum Lachen, diese Jagd … Man stelle sich vor: sechs Autos, die eins dem andern nachjagten …
Doch – das leise Lächeln über diese Hetze verging mir.
Mein Esel von Schofför mußte ausgerechnet an einer Straßenecke gegen die Bordschwelle rasen … Ein Krach – ein Knall … Der eine Hinterreifen hatte die Puste verloren.
Ich raus aus dem Benzinkarren … Steckte dem Esel drei Mark zu … Rannte weiter, suchte Ersatz …
Harald war mit seinem Auto weit voraus …
Und – kein anderes in der Nähe …
Solch ein Pech …!!
Da – eine Stimme vom Fahrdamm …
Da saß in einer Autotaxe ein blonder Herr mit Monokel …
Rief, winkte …
Ich hinein zu ihm … Ahnte … Es stimmte: es war der Kollege, der nicht Schmiedeck hieß …
„Gott sei Dank!“ stöhnte ich keuchend …
Weiter … weiter …
Der Kollege drückt mir die Hand …
„Ich wollte Sie nicht in der Patsche sitzen lassen, Herr Schraut …!“
„Sehr nett von Ihnen! Sie sind unser Gast – der Falksche Schofför, sind Kollege … Harald behauptet es …“
„Und hat recht, Herr Schraut … Eigentlich sollte ich ja mein Inkognito noch nicht gelüftet haben … Bin Angestellter der Pinkerton-Filiale in Mexiko … Wollte mir durch diesen Fall die goldenen Sporen verdienen …“
„Landsmann sind Sie doch, Deutscher!“
„Und ob – abgesägter Offizier … Tolle Geschichte, das alles … Werde nicht klug daraus … Sie etwa?!“
„Wie sollte ich?! Noch dazu, wo Sie uns das Floß Mr. Harry Baldwins servieren! Was ist’s mit dem Floß?!“
„Keinen Schimmer …!“
Ich starre ihn an …
„Nanu?! Keinen Schimmer?! Sie haben doch auf dem Zettel …“
„Stimmt, – aber ich weiß zu wenig … Ist verflucht verzwickt, die Chose, Herr Schraut …“
„Und die grauhaarige Verschleierte?! Etwa Kollegin?!“
„Nein – niemals! Weiß nicht, wer es ist … – Aha – – dort hält Harsts Auto … Da – – er winkt …! – Schofför, ran zu den Wagen da vor uns …!“
Wir drei stehen auf dem Bürgersteig … Harst sagt leise: „Einer muß zu Fuß weiter …! Ich! Wartet hier.“
Und geht hastig davon …
Wir sind in einer breiten Straße … Ich kenne Bamberg nicht … Der Kollege meint:
„Übrigens heiße ich Winfried von Rutar, Herr Schraut … Mecklenburger … Kleinere Ausgabe eines Odysseus … Habe mich überall in der Welt umhergetrieben – war alles, nur noch nicht im Gefängnis …“ –
Harst erschien nach fünf Minuten …
Die Autos rollten weiter … Frau Juana hatte lediglich in einem Warenhaus sich ausstaffiert: kleiner Handkoffer, Schirm, Gummimantel … –
Nun – ich kann hier unmöglich all die Einzelheiten der weiteren Jagd wiedergeben …
Jedenfalls: wir landeten nach anderthalb Tagen in Bremen!! Wir drei, Rutar und wir beide, hatten gemeinsam weiter operiert, hatten uns zweimal gründlich verwandelt und konnten hoffen, daß die anderen Herrschaften nichts von unserer Nähe ahnten …
Inzwischen hatte Winfried von Rutar uns auch über das Floß mancherlei berichtet, das heißt, so viel er davon wußte. Auf Kombinationen ließ er sich nicht ein. Er war dazu doch noch zu sehr Neuling. – Ich will, bevor unser Abenteuer nun den Schauplatz gänzlich wechselt, des jungen Kollegen Mitteilungen hier wiedergeben.
Die Filiale des Detektivinstituts Pinkerton in Mexiko hatte von der Holzgroßhandlung Baldwin u. Co., Inhaber Harry Baldwin, den Auftrag erhalten, sich nach den Vermögens- und sonstigen Verhältnissen des Kommerzienrates Justus Falk, Berlin, zu erkundigen, da Falk mit der genannten Firma vor anderthalb Fahren größere Lieferungsverträge über kalifornische Kiefern abgeschlossen hatte. Diese Kiefern werden ihres Harzreichtums wegen zu besonderen Zwecken verarbeitet und stets in Form von Riesenflößen unter Vorspann eines Schleppdampfers über den Ozean geschafft. Zwei der für die Firma Falk bestimmten Flöße waren während der Überfahrt verschollen. Das dritte hatte während eines Sturmes die Verbindungstaue mit dem Schlepper kappen müssen und war dann gleichfalls verloren gegangen. – Mr. Harry Baldwin aber hatte als smarter Amerikaner daraufhin Verdacht geschöpft. Die Geschichte mit den drei Riesenflößen kam ihm nicht ganz sauber vor. Er hatte große Verluste durch diese Lieferungen erlitten und vermutete, Falk müsse bei alledem die Hand im Spiele haben, da hohe Konventionalstrafen zu zahlen waren, wenn die Rundhölzer nicht zu einem bestimmten Termin in Hamburg eingetroffen waren. Diese Konventionalstrafen betrugen rund eine halbe Million Mark, und das Geld war inzwischen dem Kommerzienrat auch angewiesen worden. – Rutar wieder hatte sich dann in Berlin als Schofför bei Falk verdingt, weil er so am schnellsten zum Ziele zu kommen hoffte. Als Schofför verliebte er sich in Felizitas Falk, die im übrigen auch nur ein adoptiertes Kind war. – Was er dann beobachtete, ist bekannt: die beiden Asiaten, die mit allen Bewohnern der Wannsee-Villa heimlich sich am Gittertor trafen, mit einer Ausnahme: Felizitas Falk!
Das war’s, was der Landsmann und Kollege uns erzählte.
Der Leser sieht: die ganzen Dinge hingen sozusagen noch in der Luft. Die drei Einbrüche und alles andere hatten gleichsam weder Anfang noch Ende. Nirgends war von einem der Vorgänge zum andern eine Brücke zu schlagen.
Hierüber unterhielten wir drei uns jetzt zum so und so vielten Male, als wir Frau Juana Falk nachgeschlichen waren, die sich heute vormittag zum ersten Male am Hafenkai in Bremen mit ihrem Bruder und dem Chinesen ein Stelldichein gegeben hatte.
Mitten zwischen Stapeln von Kisten und Fässern begrüßten sie sich …
Wir drei hatten einen sehr guten Beobachtungsplatz gefunden: oben auf der Plattform einer Dampferwinde, eines jener modernen riesigen Türme, die jeder Last gewachsen sind …
Wir erlebten aus achtzig Meter Entfernung diese Begrüßung mit … Wir sahen, wie Frau Juana flehend vor dem Bruder die Hände erhob, wie sie zu weinen begann, wie der schwarzbärtige Sennor Gustavo Dardero (Juanita-Juana war eine geborene Dardero) unverschämt grinste, wie der kleine Chinamann noch stärker grinste …
Und da war’s, daß Harald (wir drei waren als Arbeiter verkleidet) plötzlich meinen Arm mit hartem Griff umspannte …
„Ich … ich bin blind gewesen bisher!“ sagte er mit rauher Stimme. „Erzählten Sie nicht, Rutar, daß Falk und Tochter persönlich in Mexiko waren, daß Falk dort mit Baldwin die Lieferungsverträge abschloß und daß er dort auch Juana Dardero kennenlernte …?! – Ja, so war’s …! Und – – wir tun jetzt einer Ärmsten bitter unrecht …! Wir raten hin und her, suchen nach den Verbindungsgliedern der einzelnen Geschehnisse und … – Ah – – Juana … Juana …“
Wir stierten hinüber …
Frau Juana Falk hatte eine winzige Pistole in der Rechten … vor ihr lag Gustavo Dardero auf den Knien … neben ihm im Schmutz und Staub des Hafendammes der Chinese – – auf dem Bauche … Und beide schienen von entsetzlicher Angst gefoltert, beider Handbewegungen waren die von Leuten, die irgend etwas beteuern … Bis Dardero die rechte Hand zum Schwur hochreckte … und in dieser Stellung eine Weile verharrte. – Dann wandte Frau Juana sich mit einer Geste unendlichen Ekels ab, schob die Waffe in die Tasche ihres leichten Gummimantels und schritt davon.
Sie wohnte in einem Fremdenheim. Eine halbe Stunde drauf standen Harald und ich ihr gegenüber – jetzt als Harst und Schraut. Der Kollege Rutar war hinter Dardero und dem Chinesen her.
Wir hatten uns durch ein Stubenmädchen bei Frau Falk anmelden lassen, und sie hatte uns ohne weiteres angenommen.
„Herr Harst,“ begann sie ohne Umschweife in ihrem etwas gebrochenen Deutsch, „ich weiß jetzt, daß Sie und Ihr Freund von Bamberg an hinter mir her sind. Sie befinden sich jedoch im Irrtum, wenn Sie, wie auch ich es tat, meinen Bruder und den Chinesen für die Einbrecher halten … Leider glaubte ich es, leider beging ich dann in meiner Verstörtheit die große …“
Harald unterbrach sie … „Verzeihung, gnädige Frau. Schraut und ich haben sehr wenig Zeit … – Würden Sie mir einige Fragen beantworten …“
„Gern – jetzt sehr gern, denn Gustavo, mein Bruder, hat mir beim Andenken an unsere toten Eltern geschworen, daß weder er noch der Chinese Singlu die Diebe gewesen sind … Und dieser Schwur ist keine Lüge … Mag mein Bruder auch noch so verkommen sein: ein Mexikaner schwört in dieser Form niemals falsch! – Also – fragen Sie …“
„Wußten Sie, daß Ihr Bruder in Berlin weilte?“
„Nein … Ich bin seit Jahren völlig mit ihm auseinander, Herr Harst …“
„Er war aber in Mexiko, als Herr Falk nebst Tochter dort weilten?“
„Ja … Er hat Falks jedoch nie kennengelernt …“
„Haben Sie eine Ahnung davon gehabt, daß Ihr Bruder häufig nachts vor der Villa hin und her schlenderte?“
„Nein – wirklich nicht! Erst Ihre Fragen in unserem Wagenabteil auf dem Anhalter Bahnhof machten es mir zur Gewißheit, daß Gustavo die Hand im Spiel gehabt haben müßte. – Vermutet hatte ich es schon an jenem Morgen, als mein Mann zu Ihnen gefahren war … Ich hatte ihn begleitet. Als er das Auto verlassen hatte – es hielt in Ihrer Straße weit vor Ihrem Hause, da – glaubte ich meinen Bruder in der Ferne zu erkennen, und da bin ich Justus nachgeeilt, habe ihn zurückgerufen …“
Harst nickte … „Danke, gnädige Frau … Das wäre geklärt … – Und im D-Zuge sahen Sie Gustavo dann wieder?“
„Ja …“
„Und trennten sich heimlich von Ihrem Gatten, aus Scham darüber, daß Ihr Bruder der Dieb gewesen …“
„Es ist so, Herr Harst … Bedenken Sie, daß Justus mich in Mexiko gleichsam von der Straße auflas … Ich war bettelarm, hatte freilich eine gute Erziehung genossen … Die Existenz meines Bruders hatte ich ihm verschwiegen. Durch Gustavos Auftauchen stürzte gleichsam alles um mich her zusammen … Ich bin auf gut Glück hier nach Bremen gereist … Ich wollte verschwinden – für immer …“
„Und jetzt werden Sie Ihrem Gatten depeschieren, daß Sie zurückkehren, gnädige Frau … Ich werde Ihnen ein paar Zeilen mitgeben. Falk wird meiner Menschenkenntnis trauen …“
Juana reichte ihm die Hand …
„Ich danke Ihnen,“ sagte sie schlicht. „Ich liebe Justus trotz des großen Altersunterschiedes … Er wird mir verzeihen …“
Harst küßte respektvoll ihre Finger …
„Ja, er wird verstehen und verzeihen … – Noch eins, gnädige Frau: wissen Sie irgend etwas über die drei Riesenflöße?“
„Nein …“ Sie war sichtlich erstaunt und beunruhigt.
„Was ist’s mit den Flößen, Herr Harst? Gibt es da etwa …“
„Gnädige Frau, – es gibt da leider noch andere Dinge, die mit in diese Einbruchssache hineinspielen … Ich sehe in diesem Punkte noch nicht vollkommen klar …“
„Ah – – die Einbrecher aber kennen Sie?“
„… Ja … ich kenne sie …“ Er betonte dieses „sie“ ein wenig … „Unter Ihren Antworten war mir am wichtigsten, daß Sie nie am Parktor der Villa nachts mit Gustavo zusammenkamen …“
„Nie …!!“
„Dann leben Sie wohl, gnädige Frau … Den Brief für Ihren Gatten schicke ich Ihnen in einer Stunde zu … – Alles Gute …“
Er drückte ihr kräftig die Hand … –
Und als wir draußen im Junisonnenschein durch die Straßen unserem kleinen Hotel zuwanderten, blieb er vor einem großen Hause stehen, neben dessen Portal zu beiden Seiten flache Zeitungskästen angebracht waren …
Deutete auf eine Stelle der in dem Kasten ausgespannten Zeitung …:
Schiffsnachrichten.
Der seit fünf Tagen überfällige Dampfer Hektor der Reederei Bremensia ist heute hier mit schwerer Havarie eingelaufen. Unweit der Fär-Öer-Inseln[1] rannte der Dampfer im dichten Nebel gegen ein Floß von Rundhölzern und drückte sich den Bug ein. Die Behauptung einiger Matrosen des Hektor, die auf dem Floß Löwen bemerkt haben wollen, klingt sehr unglaubwürdig und unwahrscheinlich. Immerhin ist das Auftauchen des Riesenfloßes in jener Meeresgegend insofern beachtenswert, als vor einiger Zeit aus Mexiko der Verlust von drei Flößen Kalifornischer Kiefern gemeldet wurde.
„Dies, mein Alter,“ sagte Harald, als er mich jetzt weiterzog, „las ich schon morgens beim Frühstück und machte mir meine besonderen Gedanken darüber. – Beeilen wir uns … Wir müssen sehen, was Kollege Rutar an Nachrichten mitbringt …“
Und – er schwieg sich nunmehr völlig aus … Ich konnte anfangen, was ich wollte: es war nichts mehr aus ihm herauszupressen.
Im Hotel schrieb er an Falk. Ein Dienstmann brachte den Brief Frau Juana. Die reiste abends ab. Wir sahen sie erst nach Wochen wieder.
Gegen sechs Uhr nachmittags erschien der Kollege – sehr aufgeregt …
„Dardero und der Chinese haben Dampferplätze nach Bergen in Norwegen genommen,“ meldete er … „Es ist ein Frachtdampfer … Er geht abends elf Uhr in See …“
„Und Felizitas Falk?“
Rutar glotzte Harald verständnislos an …
„Wer?! Felizitas Falk?! Was soll denn …“
„Oh – damit Sie es wissen, lieber Rutar: die grauhaarige Dame ist Felizitas Falk …“
Der Kollege sank in den nächsten Sessel …
„Unmöglich …! Sie scherzen, Herr Harst!“
„Mit solchen Dingen niemals! Es ist Fräulein Falk.“
Rutar strich sich wie blöde über die Stirn …
„Aber … aber … weshalb und wie … wie kommt Fräulein Falk dazu, ein …“
„Davon später, lieber Rutar … – Also – was macht sie jetzt?! Sie wohnt doch unter dem Namen Frau Müller in einem Pensionat hier ganz in der Nähe – genau gegenüber dem Hause, wo Dardero und Singlu ein Zimmer gemietet haben …“
„Ich habe nichts von ihr bemerkt, Herr Harst …“ – Der gute Rutar war noch vollkommen verstört …
„Dann werden Schraut und ich einmal zu ihr gehen … – Wo sind die beiden Halunken jetzt?“
„In einer Kneipe … Wenigstens saßen sie dort noch vor fünf Minuten …“
„Dann rasch, mein Alter …! Flink ein wenig Maskerade …“
Der Kollege sagte da sehr bestimmt:
„Ich komme mit – auf jeden Fall …! Ich …“
„Sie werden hierbleiben, Rutar! Auf jeden Fall! Oder – wir trennen uns! Ich pflege mir meine Dispositionen nicht verderben zu lassen …!“
Rutar wandte sich ärgerlich ab …
Vier Minuten später eilten wir beide aus dem bescheidenen Hotel in die nächste Querstraße, in das Pensionat Liebemühl …
Fragten nach Frau Therese Müller … Sprachen mit Frau Liebemühl, der Pensionsinhaberin, persönlich …
„Bitte – eine Treppe höher, meine Herren … Frau Müller ist unpäßlich und …“
„Danke … Wir sind alte Bekannte …“ –
Wir klopften oben an. Das Zimmer hatte Flureingang.
Ein schwaches Herein …
Harst öffnet … Die beiden Fenster sind verhängt … Halbdunkel … Auf dem Diwan links … – Frau Müller …
Ich drücke die Tür zu …
Leider …
Da ist rechts vor dem Bett ein Wandschirm … Und wir sind … zu sicher …
Ein kleiner Kerl springt mich an, drückt mir etwas Feuchtes auf Mund und Nase …
Ein Taumel reißt mich in die Abgründe tiefster Bewußtlosigkeit …
Ich falle um – wie ein Klotz …
Vom Diwan her ein schrilles Lachen …
Das letzte, was ich höre … –
Und – – ein Schrei weckt mich[2] …
Ein gellender Schrei, – nachdem der Stoß mit einem Besen mich ins Gesicht getroffen hat …
Ein Besen, mit dem ein Stubenmädchen Frau Liebemühls am anderen Morgen unter dem Diwan den Staub fortkehren will …
Unter diesem Diwan liegen Harst und Schraut – seit dreizehn Stunden … ohne Besinnung …
Das Mädchen hat uns entdeckt, rennt davon, erfüllt das ganze Haus mit ihrem Kreischen …
Ich bin noch zu benommen, um mich regen zu können.
Polizei erscheint. Man zerrt uns hervor … Man flößt uns Kognak ein … Ein Arzt bemüht sich um die beiden noch immer Halbtoten … Unsere Schlundmuskeln sind wie gelähmt … Keine Möglichkeit, ein Wort hervorzubringen … –
Erst abends in einer Privatklinik werden wir wieder durch Sauerstoffzufuhr langsam zu Menschen mit Muskeln und Hirn …
Ein Kriminalkommissar sitzt neben unseren Betten …
Und als er nun endlich unsere Namen hört (wir hatten keinerlei Papiere bei uns gehabt, und man hatte uns für ganz gefährliche Gauner gehalten!), da – – verlangt Harald … nochmals Kognak …
Sagt zu dem Kommissar:
„Besorgen Sie uns ein schnelles seetüchtiges Fahrzeug … Und – fragen Sie gar nichts … Ich muß in einer Stunde unterwegs sein …“
Der Beamte macht Einwendungen … Er kennt Harald nicht … Der steht taumelnd auf, geht zum Tisch und … führt die Kognakflasche zum Munde … –
Dreißig Minuten später sind wir in dem kleinen Hotel … Rutar ist nicht mehr dort … Keiner weiß, wo er geblieben ist … Gestern abend hat man ihn telephonisch angerufen. Dann ist er ausgegangen …
Harst sagt zu mir: „Dardero hat ihn geschnappt – wie uns!!“ – –
Und hiermit schließe ich den ersten Teil des geheimnisvollen Floßes …
Nun – mit unserer schnellen Abreise war es nichts …
Harald merkte sehr bald, daß selbst ein halbes Wasserglas Kognak die Folgen einer so schweren Betäubung, wie wir sie hatten durchmachen müssen, nicht beseitigen kann. Außerdem galt es ja auch, einwandfrei festzustellen, wohin sich Dardero, der Chinese Singlu und Felizitas Falk geflüchtet hatten. Und – die Hauptsache: es war unsere Pflicht, dem Verbleib des Kollegen Rutar nachzuforschen. Auch galt es, den Kommerzienrat vorsichtig und zartfühlend darauf vorzubereiten, daß seine Adoptivtochter von dem Mexikaner bereits in Mexiko damals umgarnt worden war und daß sie ihm bei seinen Gaunereien aus Liebeshörigkeit nicht nur Beihilfe geleistet, sondern die Diebstähle wahrscheinlich selbst ausgeführt hatte …
Die drei Einbrüche und das nächtliche Auftauchen der beiden „Asiaten“ in der Waldstraße in Wannsee und deren scheinbare Zusammenkünfte mit den Bewohnern der Villa waren ja nun restlos geklärt – durchs Haralds geistige Regsamkeit.
Denn: Felizitas Falk hatte all die verschiedenen Rollen gespielt, hatte sich jedesmal anders maskiert: als Gärtner, Stubenmädchen, Frau Juana, Falk – und so weiter! Nur als „Felizitas“ war sie niemals an der Pforte erschienen! Und gerade das war Harald aufgefallen … Gerade das hatte ihn schon in Berlin bei Rutars Schilderung der nächtlichen Vorgänge stutzig gemacht … So war sein erster Verdacht gegen die junge Dame entstanden … Und dieser Verdacht war dann bereits bei uns daheim durch das Chuala-Parfüm im Schlafzimmer zur Gewißheit geworden.
Und ich – ich müßte mich eigentlich schämen. Denn mir, ganz offen gestanden, war nichts von alledem aufgestoßen …!
Felizitas Falk – man denke!! – Tochter eines Mannes, der in der Berliner Gesellschaft eine führende Rolle spielte, hatte sich mit einem Verbrecher eingelassen … hatte den eigenen Adoptivvater bestohlen, hatte ihre Instruktionen von ihrem Liebhaber und bösen Geist nächtlicherweile, aufs geschickteste und verschiedenartigste maskiert, entgegengenommen!
Adoptivvater!! – Wer mochten ihre Eltern sein?! Woher mochte sie diesen Hang zum gefährlichen Abenteurertum geerbt haben?! Falksches Blut floß nicht in ihren Adern … Welches Blut sonst wohl?! –
Jedenfalls – wir blieben … blieben in Bremen bis zum nächsten Mittag. Schliefen uns erst einmal gründlich aus …
Und morgens acht Uhr gingen wir an die Arbeit – an unsere Arbeit …
Bis elf Uhr hatten wir folgendes festgestellt: Gustavo Dardero und sein Anhang hatten den norwegischen Dampfer nicht benutzt. Über Winfried von Rutars Verbleib war nichts zu erfahren. Dafür hatten wir aber die drei Matrosen des Dampfers Hektor gesprochen, die auf dem Riesenfloß die Löwen erkannt haben wollten …
Sie behaupteten auch uns gegenüber, daß sie bestimmt trotz des Nebels die Bestien genau gesehen hätten, da diese durch den Scheinwerfer des Hektor einen Moment grell beleuchtet wurden.
Und – noch etwas: dieselben Leute behaupteten weiter, das Floß habe einen Schlepper als Vorspann gehabt! Dabei war doch der eigentliche Schleppdampfer dieser dritten Holzfracht der Firma Baldwin heimgekehrt, nachdem die Schlepptaue hatten gekappt werden müssen …! –
Um halb zwölf erklärte Harald, daß ein fernerer Aufenthalt in Bremen zwecklos sei.
Um ein Viertel eins betraten wir das Deck des nach Edinbourgh[3] bestimmten Dampfers Hekuba, denn von Edinbourgh hatten wir die beste Verbindung nach den öden einsamen Fär-Öer-Inseln … Dort in der Nähe war das geheimnisvolle Floß gesichtet worden. Inzwischen hatte Harald noch einen längeren Brief an Kommerzienrat Falk geschrieben und ihn auf die Verfehlungen seines Adoptivkindes hingewiesen und weitere Nachrichten für später zugesagt. –
Ich möchte hier nun einen Zeitraum von acht Tagen überspringen …
Es war eine neblige, kalte Nacht, als ein sehr großer Motorkutter, der mit halber Kraft die Riffe der kleinen Fär-Öer-Insel Göstöla passierte, von der Spitze eines mächtigen, im Nebel wie ein drohendes Gespenst sich hochreckenden Felsblockes angerufen wurde …
An Deck des Kutters befanden sich zwei Herren mit Seglermützen und dicken gefütterten Sportjacken.
Als die Männerstimme aus dem trüben feuchten Dunst sich geisterhaft hallend meldete, hatte der schlanke Herr am Steuer gerade durch den Maschinentelegraphen nach unten Befehl gegeben, die Motoren des Kutters abzustellen …
„Hallo – – Hallo …!“ kam die Stimme zum zweiten Male …
Und dann – – folgte ein Schrei – – überlaut … überlaut …
Jäh abbrechend …
So jäh, als ob die Kehle des Mannes urplötzlich den Dienst versagte …
Urplötzlich …
Dann war der Kutter schon vorübergeglitten …
Hinein in eine Bucht der unbewohnten Insel …
Stoppte hier vollends …
Aus der Luke des kleinen Maschinenraumes tauchte ein bärtiger stämmiger Fischer auf … Die Hecklaterne beleuchtete sein von Falten zerrissenes, wie gegerbtes Gesicht …
In einem Englisch, das als solches kaum zu verstehen war, sagte er zu dem Herrn am Steuer:
„Mr. Harst, ich wußte es ja … Die Einfahrt in diese Bucht ist ganz ungefährlich …“
Harald nickte dem alten Fär-Öer-Fischer nur zu …
Ich wußte, woran er ausschließlich dachte …
An die Stimme – an den Schrei …
Denn die Stimme war uns nicht fremd gewesen … Es war … Winfried von Rutars Stimme …
Und der alte Seebär meinte dann: „Mir war’s doch so, als ob ich einen Schrei gehört hätte … Haben Sie denn nichts Derartiges vernommen, Mr. Harst?!“
Harald schüttelte den Kopf … „Eine Möwe, Sollerby … Nur eine Möwe …! Was sonst wohl?!“
Der Alte zuckte die Achseln … „Hm – es ist ja überhaupt hier auf Göstöla nicht alles so, wie es sein soll, Mr. Harst … Das sagte ich Ihnen schon gestern, als Sie mich in meinem Häuschen besuchten … Von jeher wurde gerade Göstöla … stets gemieden. Wunderliche Dinge erzählt man sich von diesem Haufen schroffer Felsen … Gewiß, wir Insulaner der Fär-Öer sind alle etwas abergläubisch. Wir haben unsere alten Sagen … Wir halten daran fest, genau wie an unseren althergebrachten Sitten … Mein Schwiegersohn Darb bleibt dabei, er habe zweimal oben auf den Steilufern dieser Insel große Tiere gesehen …“
Der Kutter schrammte jetzt leicht an einer Felsplatte entlang …
Ich sprang hinüber, ein Tau in der Hand. Sollerby, der Fischer, half mir. Wir vertäuten den Kutter, den wir in Edinbourgh gemietet hatten. Zu vieren waren wir an Bord. Der vierte Mann war der Kutterbesitzer, ein junger Schotte, der durch Frachtfahrten nach den Küstendörfern in der Nähe von Edinbourgh seinen Lebensunterhalt verdiente.
Er hieß Learat, war jung verheiratet und ein braver, stiller Mensch von etwas melancholischer Gemütsart.
Er kam jetzt gleichfalls an Deck. Wir hatten ihm und Sollerby, bei dem wir in Thorshavn, dem Hauptort der weit zerstreuten Inselgruppe, Erkundigungen eingezogen hatten, nichts von unseren wahren Absichten mitgeteilt, hatten so getan, als ob wir nach Schiffbrüchigen suchten. Und da hatte der alte Fischer gemeint, wenn sich irgendwo auf den Fär-Öer wirklich Schiffbrüchige befinden sollten, dann könnte es nur auf Göstöla sein, weil diese Insel unbewohnt und auch meilenweit von der übrigen Gruppe entfernt sei. – So waren wir denn spät abends von Thorshavn abgefahren, hatten Sollerby als Lotsen mitgenommen und bei stillem nebligen Wetter diese einzige größere Bucht der unwirtlichen Insel angelaufen. –
Der Leser ist nun wieder im Bilde … Wird auch wissen, daß die Fär-Öer-Inseln gleichsam die Fortsetzung der Orkney- und Shetland-Inseln hoch im Norden Englands bilden und den größten Teil des Jahres in undurchdringliche Nebel gehüllt sind, falls nicht wütende Stürme ungeheure Wogenberge gegen die schroffen Felsgestade treiben.
Unser Kutter lag jetzt also in der großen Bucht vertäut … Es war ein Uhr morgens, als Harald Sollerby und Learat nach vorn in ihre kleine Kabine schickte …
„Schlafen Sie sich aus,“ meinte er … „Bei diesem Nebel können wir doch nichts unternehmen …“
Unsere Gefährten ließen sich das nicht zweimal sagen und verschwanden.
Wir waren allein an Deck, allein inmitten dieser kalten feuchten Schleier, die uns kaum die nahe Steilküste der Bucht wie eine in die Unendlichkeit emporwachsende dunkle Mauer zeigten.
Mich fror … Ich stand neben Harald am Heck. Und Harald schaute vor sich hin, meinte dann: „Es war Rutars Stimme … Wir wollen etwas Warmes zu uns nehmen, mein Alter, und dann – – ins Boot!“
Wir gingen in die kleine Kajüte hinab … Viel Raum war für Behaglichkeit in diesem Kutter nicht vorhanden. Er war eben für Frachtfahrten eingerichtet. – Neben der Kajüte lag die winzige Kombüse. Nach zehn Minuten tranken wir einen steifen Grog und aßen dazu kalten gebratenen Fisch, den Frau Sollerby uns mitgegeben hatte. Wir hatten uns gar nicht erst gesetzt, sondern tafelten im Stehen. Harald sprach über diese Insel … über Göstöla, die sagenumwobene …
„Die drei Riesenflöße sind gestohlen worden,“ erklärte er … „Man hat sie hier irgendwo verborgen … Die Insel besitzt vielleicht ein Versteck, das räumlich groß genug für solche Zwecke ist …“
Mir wollte die Lösung nicht recht einleuchten …! Drei Riesenflöße!! Wo brachte man derartige Mengen von Baumstämmen unter?!
Ich schwieg …
Harst trank sein Grogglas leer und fügte hinzu …
„Gewiß – ich kann mich irren … Die Löwen passen mir nicht so recht in diese Theorie hinein … Nun, zunächst einmal Rutar …“
Und wir gingen wieder an Deck. Das kleine Beiboot des Kutters hatten wir im Schlepp gehabt. Wir stiegen ein. Wir konnten den Kutter getrost unbewacht zurücklassen. Bei diesem Nebel fand ihn niemand. Die Laternen hatten wir ausgelöscht.
Harald ruderte. Die Dollen waren gut geschmiert. Lautlos glitt das Boot davon – dem Ausgang der Bucht zu …
Der Grog hatte all meine Lebensgeister angefeuert … Vielleicht zu sehr … Rutar war in Gefahr … Rutar war den Verbrechern vielleicht entflohen … vielleicht wieder ergriffen worden …
Ich saß am Steuer und starrte in die graue Finsternis … Meine Brillengläser beschlugen immer wieder … Immer wieder mußte ich sie säubern …
Harst ruderte langsam, lautlos, wie eine Maschine …
Das Boot begann leicht zu schaukeln. Kleine Wellen klatschten gegen die Bordwände … Wir waren bereits zwischen den Riffen, die hier vor der Bucht eine breite Lücke hatten.
Dann erblickte ich den einzelnen Felsblock … wie einen dunkleren Schatten … turmhoch – ein zackiger Steinwürfel … rundum freies Wasser …
Harald beugte sich vor, flüsterte:
„Wir sind angelangt … Umrunde die Klippe … Vorsicht …“
Und wir kreisten zweimal um den Würfel, suchten nach einer Stelle, wo wir vielleicht emporklettern könnten …
Fuhren beide gleichzeitig von den Bänken hoch …
Über uns ein Schrei …
Ein Schrei wie vorhin – die Nerven vibrieren machen, daß der Herzschlag einen Moment stockte …
„Hilfe – – Hilfe …!!“ – und jetzt verstanden wir auch die Worte …
Rutars Stimme …!!
Harst drückte das Boot an das Gestein, schlang die Leine um eine Zacke …
Wir hatten Glück … Da war in dem Granitwürfel ein Riß, der sich bis zur Spitze hinzog – ein Felskamin …
Wir kletterten empor … Unsere Finger bluteten … Unsere Beinkleider gingen in Fetzen … Schweiß rann mir in die Augen …
Und abermals über uns der klagende Hilferuf – schnell verhallend im Nebel …
Ein neuer Ansporn …
Harst stößt mich, schiebt mich …
Endlich die flache Kuppe … endlich oben … Steine, Geröll, – eine Fläche von acht Meter im Quadrat … In der Mitte eine Vertiefung …
Haralds Taschenlampe blitzt … Der weiße Kegel trifft die Gestalt eines Mannes …
„Rutar – wir sind’s …!“ sagt Harst und kniet neben dem armseligen Menschlein …
„Gott sei Dank …!“ stöhnt der Landsmann … Sein Oberkörper sinkt zurück … Er ist ohnmächtig geworden, – – Wohltat für ihn, der hier mit zerschmetterten Gliedern liegt …
Harst untersucht ihn. Das linke Bein ist zweimal gebrochen, der rechte Arm einmal. Gesicht und Hals sind mit einer Blutkruste bedeckt …
Harald klettert zum Boote hinab. Zum Glück haben wir für alle Fälle zwei Taue mitgenommen.
So können wir Rutar denn vorsichtig von der Spitze des Felsens hinablassen – ins Boot legen …
Wir kehren zum Kutter zurück. Spielen Samariter, waschen, verbinden … Harst schient die Brüche …
Ich habe die Gefährten geweckt. Sie helfen, so gut es geht. Rutar bleibt ohne Bewußtsein, ist aber fieberfrei.
Gegen drei Uhr morgens erwacht er für Sekunden …
Lallt nur: „Mein … mein Taschenbuch …“
Sinkt wieder zurück in das Dunkel unnatürlichen Schlafes …
Wir vier sitzen um den kleinen Tisch der Kajüte … Harald hat Rutar das Büchlein aus der Jacke gezogen und weiht nun Sollerby und Learat in die wahre Sachlage ein, erzählt von den drei Flößen der Firma Baldwin, die für Justus Falk nach Hamburg unterwegs gewesen und verschollen … Erwähnt auch die Löwen …
Die beiden schütteln nur die Köpfe …
Der Fischer meint: „Hier auf Göstöla kann man keine Flöße verbergen, Mr. Harst … – ausgeschlossen! Und – wozu das?!“
Harald hat eine Mirakulum im Mundwinkel … „Langholz läßt sich zerschneiden und dann verfrachten, lieber Sollerby … Gustavo Dardero würde schon jemand finden, der es von hier mit einem Dampfer abholt – – billige Ware!“
„Schon recht … schon recht,“ nickt der Alte … Sinnt vor sich hin, brummt dann: „Ja – solch ein gelbes Affengesicht habe ich in Thorshavn gesehen … Mag zwei Jahre her sein … War ein chinesischer Händler … Stimmt schon, war ein Chinese, ein kleiner Kerl, häßlich wie des Satans Schwiegermutter …“
Harald starrt Sollerby an. „War der Gelbe damals allein?“ fragt er gedehnt …
„Nein, nein, – war noch so einer mit ihm, so’n Kerl, der wohl Mexikaner gewesen sein kann … – also unser Dardero vielleicht …“ – Er spricht halb geistesabwesend, der vertrocknete Fischer, den die Salzluft des Atlantik förmlich ausgedörrt hat … Denkt offenbar noch an andere Dinge … Und murmelt vor sich hin: „Es gibt da eine Sage, Mr. Harst … Göstöla soll hohl sein – die ganze Insel … Eine große Grotte, Mr. Harst, mit Wasser gefüllt … Und in dieser Grotte soll der Wikingerkönig Frithjof bei einem Orkan Zuflucht gesucht haben, soll dort gefangene Feinde ertränkt haben … Eine Sage, Mr. Harst … Jedes Kind der Fär-Öer kennt sie … Man hat sie ausgeschmückt … Die Jahrhunderte haben allerlei hinzugedichtet …“
Um uns her ist’s wie das Wehen einer sagenreichen Vergangenheit … Frithjof, der Wikingerkönig … Ersäufte Gefangene …
Und dort drüben im Bett liegt einer, der leise stöhnt in seiner Bewußtlosigkeit: Rutar! –
Harald hat das Notizbuch jetzt aufgeschlagen …
Da hat der Landsmann, mit müder linker Hand etwas hineingekritzelt – kaum lesbar …
Harst buchstabiert, rät die Hälfte:
„Wer dies findet, Nachricht an Detektiv Harst, Berlin, – Harald Harst … Dardero und andere hier auf Insel … Mein Segelboot durch Sturm an Klippen zerschellt … Brandung warf mich auf die Klippe … Ostseite der Insel Einfahrt …“
Das Weitere war nicht mehr zu entziffern …
Der alte Sollerby hat gespannt zugehört … nickt …
„Vor drei Tagen herrschte hier ein wütender Orkan – Nordsturm, Mr. Harst … Dann steigt die See um sechs bis sieben Meter. Es ist schon möglich, daß der Herr von der Brandung auf den Felsblock geschleudert wurde … – Aber – – eine Einfahrt an der Ostseite?! Nein, Mr. Harst, – dort lagern drei Reihen von Riffen vor dem Gestade … Dort gibt es keine Bucht, also auch keine Einfahrt … Und das kann der Herr doch nur gemeint haben.“
Harald blickt auf das bekritzelte Blatt …
„Rutar würde nichts behaupten, was er nicht gesehen hat, lieber Sollerby … – Ich möchte mit Schraut im Beiboot doch mal die Ostküste absuchen … Es ist so windstill … Man könnte …“
Vom Bett her eine Stimme …:
„Es … gibt … dort eine …“
Die Stimme versagt dem Ärmsten … Harst ist zu ihm geeilt … Aber Rutar hat die Augen schon wieder geschlossen …
Harald kommt zum Tisch zurück …
Sagt nur: „Wir nehmen Lebensmittel und Trinkwasser mit, mein Alter …“
Die Entscheidung ist also gefallen: diese Nacht wird keine Nacht, sondern – – Arbeit, unsere Arbeit!
Und gegen ein Viertel vier Uhr morgens rudern wir beide davon. Learat wird bei Rutar wachen, und später wird Sollerby ihn ablösen. Harald hat den beiden genaue Verhaltungsmaßregeln gegeben. Falls Fieber bei dem Verletzten eintreten sollte – oder falls Unvorhergesehenes sich ereignet. An alles hat er gedacht. –
Langsam gleitet unser Fahrzeug … Schattenhaft tauchen die Riffe auf … Ich steuere durch enge Wasserstraßen, ich muß jeden Moment bereit sein, den Bootshaken zu ergreifen, um einen Anprall gegen ein heimtückisches niederes Felsgebilde zu mildern …
Harst zieht die Riemen gleichmäßig durch – – wie eine Maschine. Seine eisernen Muskeln spotten der Anstrengungen … Er ist körperlich und geistig wieder ganz auf der Höhe. Was wir auf Jan Mayen erlebten, liegt als überwunden hinter uns … – Und hier nun: wieder eine Insel …!! Aber ein anderes Motiv! Dort auf Jan Mayen feige Morde, hier andere Verbrechen, andere Verbrecher … – Und ich habe Zeit zum Grübeln … Gebe trotzdem auf alles acht … – Verbrechen hier – – welche?! Hatte Gustavo Dardero wirklich so zahlreiche Verbündete, daß er die drei Riesenflöße entführen konnte?!
Da – – ruft Harald mich leise an …
„Achtung – wir sind an der Ostküste …!“
Es stimmte …: Hier sind die Riffe höher, ausgedehnter, die Wasserwege schmaler, zuweilen wieder so breit, daß man auf offener See zu sein glaubt …
Aber das Meer, das freie Meer liegt dort drüben, wo die Brandung leise rauscht – heute so leise und bescheiden … Heute nur …
Harald sagt abermals: – „Mein Alter, näher an die Steilufer heran … Unser Boot windet sich schon überall hindurch …“
Ich drücke das Steuer herum …
Wir gleiten an Ufermauern dahin … Wir sehen vor uns einen Wald von Klippen … Finden einen schmalen Durchschlupf …
Und – – merken, daß nach rechts zu der dunkle Schatten der Steilküste zurückweicht, biegen um ein schmales hohes Vorgebirge … biegen wieder nach rechts …
Das Brandungsgeräusch verklingt … Wir sind in einer Bucht … Nicht einen Lufthauch spüren wir hier …
„Immer am Ufer entlang,“ raunt Harald …
Ich verstehe: wir wollen diese Bucht umrunden …!
Plötzlich ein dumpfer Schlag gegen die Bordwand …
Harst läßt die Ruder schleifen, beugt sich über den Bootsrand und … betastet irgend einen Gegenstand im Wasser …
Flüstert: „Ein Baumstamm!!“
Und – zieht unser Boot weiter, die Finger in die rissige Borke des Langholzes einkrallend …
Flüstert wieder:
„Hier – eine kurze Kette … ein zweiter Baumstamm … Das sieht wie eine Sperre aus … Halb unter Wasser liegen die Stämme …“
Und ringsum Nebel … Stille …
Aus der Höhe zuweilen ein Vogelschrei … Ganz fern die Brandung …
Und hier: Baumstämme, durch Ketten verbunden …! – Sperre, vermutet Harald …
Ich … denke wieder ganz unwillkürlich an die Sage von der hohlen Insel Göstöla … an den Wikinger Frithjof … an die Ersäuften …
Plötzlich – – mich überläuft es kalt – – plötzlich die ungewisse Ahnung unsichtbarer naher Gefahr … Jenes Gefühl, das uns schlummernde Instinkte vermitteln …
Und … auch Harald sitzt regungslos auf der Ruderbank …
Aus dem grauen Nichts kommt irgendwoher ein Ton … ein Geräusch … Unendlich leise … Und doch vernehmbar … Ein Ton, der nicht zu der Einsamkeit dieser öden Insel paßt … Ein gleichmäßiges Geräusch … Ein Rattern …
„Ein Motor …!“ flüstert Harald …
Und ich lausche weiter …
Ein feines Singen mischt sich ein …
Ein Singen, wie wenn eine Kreissäge das Holz zerfrißt.
Harst regt sich …
„Ich werde mit dem Bootshaken diesen Baumstamm tiefer drücken … Dann gleitet unser Boot über die Sperre …“
Es gelingt …
Das Boot schaukelt leicht … Wir stehen aufrecht …
Aber – – die Geräusche sind jäh verstummt …
Bleiben tot … Als ob … als ob die Leute gewarnt worden wären, die den Motor und die Säge bedienen …
„Die Sperre!!“ raunt Harald mir zu und greift zur Pistole … „Ein Warnungssignal – irgendwie, mein Alter.“
Wir lauschen, schauen rundum … Die grauen Schleier verhüllen alles …
Bis … bis … an einer Stelle der Nebel gleichsam bestimmte Formen annimmt …
Ein … Boot taucht dicht vor uns auf … Ein Kahn – schmal und lang … In meiner Heimat nennt man diese Dinger Seelenverkäufer, in meiner Heimatstadt Danzig, die jetzt Ausland geworden und die einst Jahr aus Jahr ein unzählige Holzflöße als Gäste aus Polens Waldreichtum erhielt …
Ein Seelenverkäufer …
Aufrecht darin ein Weib … ein einzelnes Ruder handhabend …
Lautlos kam der Nachen heran … Man hörte das Wasser leise schäumen, wenn das Weib das Ruder eintauchte und langsam durchzog …
Harald bückte sich, bekam die Spitze des Bretterkahns zu packen …
Und behielt doch die Clement schußbereit …
„Fräulein Falk?“ fragte er leise …
„Felizitas Falk …,“ erwiderte das Mädchen ebenso leise. „Wer sind Sie? – Deutsche – das höre ich …! Fliehen Sie …! Was wollen Sie hier?! – Wie sind Sie hierher gelangt?!“
Ihre Fragen waren berechtigt … Die grauen Schleier hüllten uns wie in Rauchwolken …
Dann trat Felizitas Falk in ihrem schmalen Nachen zwei Schritt nach vorn. Gleichzeitig hatte Harst sich wieder aufgerichtet …
Und – – griff abermals zu … Brutal gegenüber einem Weibe … Notwendig in dieser Lage …
Ein halb erstickter Ausruf …:
„Harst …!“
Dann war sie wehrlos, rang nach Atem, wurde emporgehoben … Fiel in unser Boot …
Ich nahm sie in Empfang, hatte schon mein Taschentuch zum Knebel geschlungen …
Der Schreck lähmte das Weib … Für uns zum Glück … Mit uns hatte sie nicht gerechnet … Sie war gefesselt, geknebelt, bevor sie noch recht wußte, was geschah.
Harald lockerte den harten Griff um den zarten Hals.
„Warte hier!“ befahl er. „Ich werde den Nachen besteigen … Und …“
Ihm schien etwas anderes einzufallen … Er beugte sich zu unserer Gefangenen hinunter … Flüsterte drohend:
„Wir werden keinerlei Rücksichten nehmen, Fräulein Falk … Ich kenne Sie zur Genüge … Sie waren als Spionin bei mir, Sie haben in der Villa Ihres Adoptivvaters nächtlich Maskenscherze getrieben … Und Ihr Hohnlachen im Pensionat in Bremen vergesse ich ebenfalls nicht … – Sie wissen jetzt, woran Sie sind …“ – Er wollte noch mehr hinzufügen …
Ein leises, wehes Schluchzen ließ ihn verstummen …
Felizitas weinte … Felizitas trug noch Mantel, Perücke und Reisehut der grauhaarigen älteren Dame … Und ein ganz feiner Duft nach Chuala-Parfüm entströmte der zusammengesunkenen Gestalt …
Sie weinte … es war wie das klägliche Wimmern eines bei einer Missetat ertappten Kindes …
Harst blieb in seiner gebückten Haltung …
„Tränen können Lügen sein,“ meinte er kalt. „Was ich bisher von Ihnen erfahren, läßt die Wahrscheinlichkeit vollendeter Heuchelei zur Gewißheit werden …! Sparen Sie sich die Komödie …!“
Und noch schärfer: „Stehen Sie auf!“
Das Wimmern versiegte …
Das Mädchen erhob sich matt …
„Mache ihr die Hände frei,“ sagte Harald. „Aber sei vorsichtig … Ich muß den Mantel haben …“
Seine Hand zog bereits die lange Nadel aus dem schlichten, von einem dunklen Schleier umschlungenen Lederhut …
Felizitas Falk widersetzte sich nicht. Ich sah ihr Gesicht aus nächster Nähe … Und doch war’s zu dunkel. Die Züge verschwammen …
Ich hielt ihre Handgelenke … Als Harst den Mantel über dem Arm hatte, knotete ich den Strick wieder zusammen. Felizitas ließ sich auf die Ruderbank sinken. Sie war wehrlos, ergab sich in ihr Schicksal … –
Der Seelenverkäufer verschwand mit Harald, der nun Mantel, Perücke und Lederhut trug.
Ich hatte unser Boot an dem schwimmenden Baumstamm der Sperre befestigt, hatte die Bootsleine nur unter dem Langholz durchgezogen, damit ich jeden Moment wieder abstoßen könnte …
Nahm Felizitas gegenüber auf der anderen Ruderbank Platz …
Ein Blick ringsum zeigte mir nach Osten zu in den Nebelmassen eine lichtere Stelle. Der Morgen kam … Der neue Tag brach an …
Ein Windhauch strich über die Insel und die Randhöhen dieser Bucht hin … In die grauen Vorhänge kam Bewegung … Leben … Lange Nebelstreifen täuschten Rauchsäulen vor … Und mit einem Male erschien da schräg über mir wie ein blasser Opal die Sonne, die mit aller Macht die feuchten Schleier bekämpfte …
Es wurde zusehends heller …
Und mir gegenüber, daß unsere Knie sich berührten, dieses Rätsel von Weib … Felizitas Falk …! Mir gegenüber jetzt ein zartes, frisches Mädchengesicht, von aschblondem Haar umrahmt … Graublaue große Augen musterten mich.
Und ich … prüfte diese jungen Züge … In den Augenwinkeln schimmerten noch Tränen … – Lügen! – Es mußten Lügen sein … Lüge war auch der jammervolle flehende Blick, diese ruckartige Kopfbewegung, als ob Felizitas den Himmel als Zeugen ihrer Schuldlosigkeit anrufen wollte …
Ich schaute zur Seite … Mich widerte diese Heuchelei derart an, daß ich lieber den prachtvollen Kampf der Sonne gegen die Nebelmassen beobachtete …
Auch der Wind frischte immer mehr auf … Einzelne Windstöße rissen klaffende Lücken in die feuchten Vorhänge. Aber diese Risse schlossen sich sofort wieder, und nur für Sekunden sah ich den blauen, sonndurchleuchteten Himmel.
Gerade als abermals ein solcher Riß in der grauen Nebeldecke entstanden, gerade da schnellte das Weib sich vorwärts, traf mit dem Kopf meine Schulter – kräftig genug, um mich über Bord zu werfen …
Ich fiel ins Wasser …
Packte den Bootsrand … Ahnte, daß es hier um Sein oder Nichtsein ging …
Mit den Füßen bearbeitete das Weib meine krallenden Finger … Das Boot neigte sich, schwankte …
Felizitas Falk verlor das Gleichgewicht … Die gefesselten Hände machten es ihr unmöglich, den Sturz über Bord zu mildern. – Sie schlug mit der Stirn auf den Baumstamm auf, wäre untergesunken, wenn ich nicht ihren Arm gepackt hätte … Mühsam schob ich die Bewußtlose ins Boot zurück, konnte nicht verhindern, daß eine Menge Wasser über den Rand flutete, – schwang mich selbst hinein … keuchend, heiß vor Anstrengung und doch pudelnaß …
Japsend saß ich auf der Ruderbank …
Ein neuer Windstoß …
Wieder ein Riß im Nebelschleier … Diesmal siegte die Sonne … Der Riß schloß sich nicht wie bisher, klaffte weiter und weiter …
Mit einem Schlage saß ich im Sonnenschein … Und neben mir noch die grauen Mauern, aber langsam jetzt zurückweichend, wankend und wogend, immer mehr zerflatternd …
Bis ich drüben ein Felsgestade erkannte – dort, woher der Nachen mit Felizitas gekommen und wohin Harald gerudert …
Minuten noch – und die halbe Bucht war nebelfrei …
Eine Bucht, weit größer als die, in der unser Kutter lag … Sollerby hatte jene Bucht auf dreihundert Meter Länge und achtzig Meter Breite geschätzt. Diese hier maß das Fünffache … Hatte Steilufer, die senkrecht ins Wasser tauchten …
Dann erblickte ich auch Haralds Seelenverkäufer, ihn selbst, stehend rudern …
Die letzten Nebelgebilde schwanden …
Harst näherte sich rasch …
„Nichts!“ sagte er und warf nur einen flüchtigen Blick auf die Bewußtlose … „Du siehst ja, mein Alter, hier gibt es nichts als himmelhohe Wände, nirgends eine Seitenbucht.“
Die Sonne lachte auf uns herab … Und doch fror ich.
„Aber – die Baumsperre!!“ meinte ich nur …
Er hob die Schultern …
„Und … die Geräusche!!“ fügte ich hinzu …
Er nahm den Bootshaken, zog sich mit seinem Nachen an den zusammengeketteten Langhölzern entlang …
So stellte er fest, daß die Sperre den tiefsten Winkel der Bucht gleichsam abgrenzte …
Und ruderte abermals herbei, meinte mit einer kurzen Handbewegung: „Es war ein Irrtum … Die Balkensperre hat keinerlei Einrichtung, die Warnungssignale geben könnte.“
Ich begriff ihn nicht recht …
Aber ein Blinzeln klärte mich auf: Harald schauspielerte! Felizitas Falk war nicht mehr bewußtlos … Sie sollte alles hören …
Und er dann – in derselben Weise:
„Wir können das Mädchen nicht mitnehmen … Wir müssen schon das Boot über die Riffe tragen … Am besten ist, wir binden ihr noch die Füße und legen sie in den Nachen. Sie wird schon wieder zu sich kommen. Den Nachen binden wir an die Sperre fest. Nachher holen wir sie mit dem Kutter ab und durchsuchen diese Bucht genauer …“ –
So geschah’s denn auch …
Felizitas Falk lag im Nachen …
Unser Boot entfernte sich nach Osten … Dort war die Einfahrt, dort schob sich das schmale Vorgebirge wie eine Kulisse vor die Bucht, und draußen ragten die Riffe in drei unregelmäßigen Gürteln über das brandende Meer …
Der Morgenwind kam von Nordost … Die Wogen wuchsen … Der Lärm an den Riffen, diese gewaltige Musik des Atlantik, schwoll immer mehr an … Die Sonne stach … Eine seltsame Schwüle lastete über Insel und Meer … Heiße Luftwellen schienen gegen den Wind anzurennen … Hoch im Äther segelten Wolkenfetzen in verschiedener Richtung. Zwei Luftströmungen prallten aufeinander … – alles recht bedrohliche Anzeichen … –
Harald winkte …
Unser Boot glitt nach Süden am Inselgestade hin, bog in einen engen Wasserlauf ein, auch eine Bucht, kaum drei Meter breit … Zwei kurze Biegungen – und wir sahen eine steile Geröllhalde vor uns. Hier zogen wir das Boot an Land und verbargen es zwischen größeren Steinblöcken … –
Es war inzwischen sieben Uhr geworden …
Wir kletterten die Halde empor, krochen nach Norden über ein steiniges Plateau …
Beeilten uns …
Ich ahnte, was kommen würde …
Wir krochen wie Karl Mays berühmte Westmänner … Jede Deckung benutzten wir … Wir machten Umwege … Liefen, wenn wir in einer Mulde waren … Krochen dann abermals …
Und schließlich schoben wir uns in einen Steinhaufen hinein, Steine, von denen keiner unter fünf Zentner wog.
Hier hatten wir ein Versteck, wie es besser nicht sein konnte …
Von hier aus – denn der Hügel von Granitstücken lag dicht am Rande der Buchtwand – sahen wir vierzig Meter schräg unter uns den Nachen und … Felizitas Falk …
Sie saß aufrecht in dem schmalen Kahn, das Gesicht nach einer Stelle des Steilufers gerichtet, wo das Gestein in einer Breite von zwanzig Meter durch lange Risse wie unregelmäßig gekerbt erschien … Sie wandte uns den Rücken zu … Ihr Kopf bewegte sich dauernd, ruckte nach hinten.
Sie … winkte mit dem Kopfe …
Wir beide, durch enge Spalten lugend, waren sicher, hier nicht bemerkt zu werden … Warteten … Es mußte etwas geschehen … sich ereignen, etwas Ungeahntes – von mir Ungeahntes …
Harald mochte voraussehen, was Felizitas bezweckte … Er schwieg nicht umsonst so beharrlich. – Er wollte mir die Überraschung nicht verderben – so hatte er vorhin im Boot gesagt …
Und das Mädchen ruckte mit dem Kopf – in kurzen Pausen … Mühte sich ab, die Fesseln loszuwerden …
Ein dumpfes Grollen kam von fernher … Die Sonne tauchte hinter Wolken unter … Der Wind schlief ein. Nur die Schwüle blieb …
Im Westen zog ein Gewitter auf … Noch war es taghell … Aber diese Helle hatte etwas Fahles, Unnatürliches … Man spürte die Elektrizität der Luft in den Nerven.
„Achtung …!!“ – und Harald stieß mich an …
Ich strengte meine Augen über Gebühr an …
Und sah – nichts Neues … Das Bild blieb dasselbe: das Mädchen im Nachen – Gewitterstimmung über der Insel …
„Er ist unter dem Tor hinweggeschwommen,“ sagte Harst leise …
„Wer?!“
„Hast Du denn keine Augen?!“
Und da – hatte ich Augen …
Sah einen Kopf – den Kopf eines Schwimmers … des Chinesen …
Der Kerl schoß vorwärts wie ein Fisch … Die verzerrten Umrisse seines nackten Körpers waren im Wasser als heller Fleck sichtbar … Im Munde hatte der Schlitzäugige ein langes leicht gekrümmtes Messer.
So hielt er auf den an der Balkensperre festgebundenen Nachen zu …
Jedenfalls ein Bild, das in dieser düsteren Umgebung einen gewissen Reiz nicht entbehrte.
Und doch war mir anderes weit interessanter. Harst hatte von einem Tor gesprochen, unter dem der Chinamann hinweggeschwommen sein sollte …
Von einem Tor …!!
Wo in aller Welt war hier ein Tor – hier inmitten dieser in Fels erstarrten Umgebung?!
Ich fragte denn auch – und mit einigem Recht: „Was für ein Tor, Harald?!“
„Selbst Tor …!!“ meinte er bissig, und er gebrauchte diesen Ausdruck jetzt in der anderen Bedeutung …
Meine Aufmerksamkeit wurde nun jedoch durch die Szene auf dem stillen Wasser der Bucht abgelenkt …
Der Chinese hatte den Seelenverkäufer erreicht, schwang sich hinein …
Er war nur mit einem Hüfttuch bekleidet, das die Schwimmhose ersetzen sollte. Er befreite Felizitas Falk von dem Knebel und den Fesseln …
Sie sprachen miteinander – hastig, erregt … Das Mädchen deutete nach dem Buchtausgang … Die Handbewegung galt uns … Felizitas erzählte fraglos, daß wir sie später hatten holen wollen, daß wir jetzt aber auf und davon seien …
Dann löste der Gelbe die Bootsleine von dem Baumstamm, nahm das Ruder und trieb den Kahn mit raschen Schlägen jener Stelle der Steilwand zu, die durch unregelmäßige Längsrisse wie gekerbt erschien …
„Achtung!!“ – – und Harald stieß mich abermals an.
Hätte er sich schenken können … Ich war ohnedies aufs äußerste gespannt, was sich nun ereignen würde … –
Der Seelenverkäufer hatte die Steilwand erreicht …
Zweierlei geschah …
Ein stärkerer Donner dröhnte nachhallend über die öde Insel hin … Der Blitz, der ihn hervorrief, flammte über die finstere Wolkenwand wie ein grell leuchtendes verschlungenes Tau …
Das war das Eine …
Und das Andere: Ein Zauberer schien die Felsmassen drüben zu bewegen … Ein Zauberer aus dem bekannten Märchen: Sesam, öffne Dich!!
Meine Augen wurden weit …
Langsam – unendlich langsam schob sich drüben das Gestein auseinander …
Gestein?! – Nein – jetzt erkannte ich, was es war …
Ein ungeheures Tor – zwei ungeheure Torflügel, hergestellt aus Baumstämmen, benagelt mit dünnen Steinplatten. Und deshalb die Risse dort, deshalb hob sich die eine gekerbte Stelle dort so scharf von der Umgebung ab …
Ein Tor, das vielleicht zehn Meter hoch war, gut zwanzig Meter breit …
Immer weiter öffneten sich die Flügel …
Leider wurde es jetzt auch immer dunkler … Das Gewitter stand nun über Göstöla … Blitz auf Blitz fuhr herab …
Bevor dann die Regenfluten herabzuprasseln begannen, sah ich noch, wie der Kahn in der Grotte verschwand …
Sah auch noch die Umrisse eines kleinen Dampfers und die Stirnseite eines gewaltigen Holzfloßes …
Dann … nichts mehr …
Das war kein Regen, der jetzt aus den Wolken herabstürzte … Das waren die Schleusen des Himmels, aus denen ununterbrochen Gießbäche herabstürzten … Das war in der Tat ein Wolkenbruch …
Zum Glück hatten wir ein Dach aus Steinen über uns … Um uns her tropfte und rieselte es … Unaufhörlich flammte der Himmel im Lichtschein elektrischer Entladungen auf … Und wenn ein ganzes Bündel von Blitzen unter ohrbetäubendem Krachen selbst die dichten Massen der stürzenden Regenfluten mit fahler Helle durchflammten, dann konnte ich unklar wie in weiter Ferne drüben das geöffnete Tor der Frithjof-Höhle erkennen – der sagenhaften Grotte des Wikingerkönigs, die jetzt aus Sage Wirklichkeit geworden.
Diesen sekundenlangen fahlen, unheimlichen Bildern folgte stets wieder tiefe Finsternis …
Bis ein neues Bündel Blitze abermals das Seltsame, Unfaßbare zeigte: das Versteck der Flöße …
Bis nach endlosen Minuten ein Neues zu sehen: der kleine Dampfer, der jetzt auf der Bucht schwamm, der ein Floß schleppte … der Einfahrt zu …
Da zog Harst mich rückwärts, brüllte mir unter dem Getöse des Donners in die Ohren:
„Zum Kutter zurück!! Sie fliehen!! Zum Kutter …!“
Wir also heraus aus dem Steinhaufen …
Hinein in das Unwetter …
Im Nu waren wir bis auf die Haut durchnäßt …
Fanden unser Boot … Schleppten es ins Wasser … stießen ab, waren draußen zwischen den Riffen …
Und – urplötzlich, wie ja zumeist bei Gewittern, hörte die Sintflut auf … Nur die Blitze und der rollende Donner blieben …
Harst ruderte, daß sich die Riemen bogen …
Zweimal schrammten wir haarscharf an einem Riff vorüber …
Ich schwitzte vor Aufregung … Ich hatte die Verantwortung, steuerte – steuerte mit feuchten Brillengläsern, die mir das genaue Sehen erschwerten …
Endlich unsere Bucht …
Der Kutter … Der alte Sollerby ruft uns an …
„Hallo – gut, daß Sie wieder zurück sind!“
„Loswerfen die Taue!“ brüllt Harald … „Wir müssen …“
Ein ungeheurer Donnerschlag übertönt seine Stimme …
Gleich darauf gleitet der Kutter seewärts …
Draußen an den äußeren Riffen tobt eine böse Brandung …
Sollerby steht am Steuer – Statue aus Erz … die Augen verkniffen …
Gischt spritzt mir ins Gesicht …
Der Kutter torkelt, bäumt sich, schießt weiter …
Die Brandung liegt hinter uns …
Gen Osten geht’s …
Und bald – eine Feuerlinie zerreißt das schwarze Firmament … wir sehen den Dampfer, das Floß …
Und fiebern …
Der Schotte Learat selbst verliert seine stumpfe Ruhe …
Näher kommen wir …
Finsternis wieder …
Wieder ein Blitz …
Hundert Meter vor uns das Floß …
Das Riesenfloß … träge schaukelnd auf den langen Wogen …
Oben darauf eine Blockhütte …
Daneben ein kleiner stämmiger Kerl mit wirrem Bart und Haar …
Rechts von ihm – – man traut den eigenen Augen nicht mehr!! – – drei Löwen … mächtige Tiere – drei männliche Löwen …
Dann wieder Dunkelheit …
Ein heulender Windstoß fährt über den Ozean …
Der Gewittersturm bricht los … Man merkt förmlich, wie die Wellenberge anschwellen … Sturzseen kommen über Bord … Solchem Unwetter ist der Kutter nicht gewachsen.
Wir haben das Floß inzwischen umrundet … Schießen an dem Schleppdampfer vorüber …
Ein fernes Loch in den schwarzen Vorhängen des Himmels läßt Dämmerlicht hindurch …
An Deck des Schleppers fünf – sechs Gestalten … Ein Weib darunter …
Die Schufte schießen, haben Gewehre … Eine Kugel zerschlägt die Steuerbordlaterne …
Der Kutter taumelt, schießt in Wogentäler …
Wir klammern uns an die Reling – ducken uns …
Der alte Sollerby am Steuer bleibt Statue …
Der Kutter wendet, kommt unter Wind des Riesenfloßes, in stilles Wasser …
Der stämmige Kerl steht noch neben der Blockhütte, neben den drei prachtvollen Bestien …
Hat jetzt eine Flinte in der Hand …
Sollerby stoppt den Motor …
Immer toller wird der Orkan …
Wir beobachten den Schlepper … Der scheint die Taue gekappt zu haben … Scheint flüchten zu wollen …
Der Mann mit den Löwen reißt plötzlich die Waffe hoch …
Schießt … nicht auf uns – – auf den kleinen Dampfer.
Muß ein Repetiergewehr sein, das er da an der Schulter hat …
Und der Dampfer treibt mit einem Male quer gegen die anstürmende See … –
Ein Wogenberg begräbt ihn, gibt ihn wieder frei …
Der nächste reißt ihn mit fort …
Oben auf dem Wellenkamm tanzt das armselige Schifflein …
Auf die Stirnseite des Floßes zu …
Unser Kutter – unter Wind … Und wir Zeugen der Katastrophe … Wir sehen die Menschen an Deck – – Verbrecher … Sehen weiße Dampfwölkchen aus den Luken hochquellen … Glauben die Verzweifelten schreien zu hören … glauben …
Dann … prallt der Schlepper gegen das Floß, fällt zurück …
Eine neue Woge packt ihn …
Wirft ihn abermals gegen die Stirnseite …
Und schäumt auf … hüllt alles in Gischt, flutet zur Seite …
Der Dampfer ist verschwunden …
Die Tragödie ist aus …
Aber der Sturm nimmt an Stärke zu … Das Gewitter zieht davon. Der Orkan bleibt …
Sollerby hält den Kutter stets auf der dem Winde abgekehrten Seite des Floßes.
Das Floß dreht sich … Wir müssen vorsichtig manövrieren … Bekommt die See uns zu packen, ist auch der Kutter verloren …
Der Mann mit den Löwen tauscht mit uns Zeichen. Eine Verständigung von Mund zu Mund ist unmöglich … Selbst durch ein Megaphon hätte man sich bei diesem Heulen und Brausen des Sturmes nichts zurufen können.
Der Mann wünscht Frieden mit uns … Winkt immer wieder … Deutet zuweilen zur Insel Göstöla hinüber …
Wir verstehen, was er meint: der Orkan treibt das Floß nordwärts, und dort fängt die hohe Insel die Hauptwucht der Sturmstöße ab …
Noch eine Viertelstunde …
Dann wirft der Mann uns eine Stahltrosse zu …
Wir befestigen sie am Bug des Kutters. Der Kutter versucht das Floß unter Wind von Göstöla zu bringen …
Harte Arbeit …
Unser Schifflein – – und dieses Riesenfloß! Aber – – es gelingt …
Langsam glätten sich hier die Wogen … Langsam nähern wir uns den Außenriffen …
Noch zwei Stahltrossen schleudert der Mann …
Wir finden zwei Klippen, die wie Pfähle am Rande eines Hafenbollwerks sind …
Vertäuen das Floß … den Kutter …
Dann kommt der Verwilderte an einer Strickleiter zu uns an Bord …
Ein Mensch von vielleicht fünfzig Jahren … Harte Augen, eigentümlicher Blick …
„Dallison,“ nennt er seinen Namen. „Edward Dallison aus New Orleans …“
Harst gibt ihm die Hand …
„Der Tierbändiger Dallison – ich weiß …“
„Dann werden Sie auch überzeugt sein, daß ich mit diesen Verbrechern nichts gemein hatte, meine Herren …“
Wir vier stehen um ihn herum …
„Ich kenne Sie beide,“ sagt er wieder zu Harald und mir. „Der Lump von Dardero hatte Angst vor Ihnen beiden … Harst und Schraut, die deutschen Detektive …“
Harald, meint, wir könnten besser in die Kajüte hinabgehen … Rutar würde mit anhören wollen, was der Tierbändiger zu erzählen hätte …
Rutar geht es leidlich. Wir haben uns in der letzten Stunde nicht um ihn kümmern können …
Wir sitzen dann an seinem Bett, wir fünf …
Edward Dallison, der berühmte amerikanische Dompteur, erzählt:
„Ich hatte in letzter Zeit schlechte Engagements gehabt. Das Geld war mir knapp. In Mexiko hörte ich, daß die Firma Baldwin ein Floß über den Ozean schicken wollte. Ich machte mich an den Kapitän des Schleppdampfers heran, die Überfahrt nach Europa sollte nicht viel kosten. Der Kapitän war einverstanden. In aller Stille verlud ich meine drei Löwen und zwei Tiger auf das Floß. – Alles ging zunächst gut …“
„Befanden sich Dardero und der Chinese unter der Besatzung?“ warf Harald ein.
„Ja … Dardero als Steward, Singlu als Koch … – Wie gesagt, – wir hatten prächtiges Wetter … Das Floß besaß zwei Masten und zwei Segel. Bei günstigem Wind halfen die Segel, erleichterten die Arbeit des Schleppers. Meine Tiere waren in ihren Käfigen hinter der Blockhütte gut untergebracht. – Als wir zehn Tage unterwegs waren, meuterte die Mannschaft. Dardero hatte sie aufgehetzt, hatte ihnen hohen Lohn versprochen. Aber der Kapitän und der Steuermann hatten wohl Verdacht geschöpft, knallten fünf der Burschen nieder, bevor man sie mit eingeschlagenen Schädeln in die See schleuderte … – Mich ließen die Kerle in Ruhe. Ich hatte mich gut mit allen gestanden … Außerdem fürchteten sie wohl auch meine fünf Bestien …“
„Und dann wurde das Floß hier nach Göstöla geschleppt?“ kürzte Harst des Bändigers Angaben ab …
„Ja – so war’s … Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich eines Morgens erwache und das Floß in einer Riesenhöhle vorfinde – in einer Wassergrotte …“
Abermals unterbrach Harald den Dompteur:
„Ihr Floß war das erste, das die Firma abschickte?“
„Nein, das dritte, Herr Harst …“
„Der Schleppdampfer kehrte dann zurück?“
„Ja … Mit dem Rest der Besatzung, aber ohne Dardero und Singlu … Es war jedoch noch ein Schleppdampfer in der Höhle …“
„Ah – der Schlepper eines der beiden ersten Flöße …“
„Ganz recht …“
„Und auch die beiden Flöße waren in der Grotte?“
„Nicht mehr als Flöße, Herr Harst … Die Langhölzer waren bereits zu Grubenholz zerschnitten, außerdem zum Teil für das Tor der Höhle verwendet worden … Zwei von Darderos Kumpanen und ich mußten in der Höhle ständig die Motorkreissäge bedienen. Dardero und der Chinese waren längere Zeit abwesend …“
„Ja – in Berlin … Und erschienen dann vor kurzem wieder in der Höhle – mit dem jungen Mädchen …“
„Der Geliebten Darderos,“ nickte der Bändiger. „Felizitas Falk – Sie kennen den Namen ja … Ein merkwürdiges Geschöpf, Herr Harst … Junge Dame und doch mit den Instinkten einer Verbrecherin belastet … Sie hatte längst heimlich ermittelt, wer ihre wahren Eltern gewesen: ein Hamburger Einbrecher und eine Hafendirne …! – Die Frau, die dann das Kind an Falks abgab, hat den Kommerzienrat belogen, hat diese Herkunft des Mädchens verschwiegen …“
„Was ich vermutet habe …,“ meinte Harald ernst. „Man sieht an diesem Beispiel wieder einmal, daß die allersorgfältigste Erziehung das ererbte Blut, die vererbten Charaktereigenschaften niemals ändern kann. Felizitas stammte aus dem Sumpf und … versank im Sumpf …“
Ich blickte scheu zu Winfried von Rutar hinüber …
Er hatte Felizitas geliebt … ehrlich geliebt …
Und jetzt lag er dort auf dem Bett mit gebrochenen Gliedern … hatte den Kopf der Wand zugekehrt …
Armer Landsmann …! –
Der Bändiger sprach weiter:
„Dardero hat große Mengen Holz mit Hilfe des Dampfers nach England verkauft … Teilweise wurde das Grubenholz auch abgeholt … – Als Ihre Anwesenheit hier auf der Insel den Schurken dann durch das Mädchen bekannt wurde, wollte Dardero wenigstens dies eine Floß retten … Und – mich wollten die Halunken beseitigen – fürchteten Verrat von mir … Ich hatte mich jedoch rechtzeitig in der Blockhütte auf dem Floße verrammelt … Und sie wieder hatten nicht die Zeit, mich auszuräuchern, wie sie drohten. Ich war bewaffnet … So ließen sie mich in Ruhe … Alles andere haben Sie miterlebt, meine Herren … Meine Tiere – mein Vermögen! Haben zwar nur Möwen gefressen, sind aber wohlauf …“ –
Vormittags zehn Uhr war der Orkan vorüber …
Wir vier, Harst, Sollerby, Learat und ich, ruderten im Beiboot an Land, zwischen den Klippen hindurch zur großen Bucht – zur Frithjof-Grotte.
Das mächtige Flügeltor stand voll offen …
Unser Boot glitt in die mit Wasser gefüllte Höhle hinein.
Wir waren verblüfft über deren Ausdehnung … Wir fanden im Hintergrunde flachen Strand, zwei Bretterhütten, den Motor, die Säge, ganze Stapel von zurechtgeschnittenen Grubenhölzern …
Ein Vermögen lagerte hier noch. Ein zweites Vermögen stellte das gerettete Floß dar … –
Unser alter Fär-Öer-Fischer war einfach sprachlos … Er hatte nie im entferntesten vermutet, daß die Sage von der Frithjof-Höhle einen tatsächlichen Hintergrund haben könnte … –
Wir kehrten zum Kutter zurück. Als wir durch die Riffreihen ruderten, meinte der stille Schotte Learat bedächtig:
„Sie gestatten mir wohl eine Frage, Herr Harst …“
„Gewiß … Ich weiß auch, was Sie fragen wollen …“
„So?!“
„Ja – Sie möchten gern wissen, wie ich … das Tor entdeckt habe … trotz des Nebels …“
„Allerdings …“
„Nun – die Felswände der Bucht waren überall ziemlich glatt … Nur an der einen Stelle sah man die Risse … Als ich mit dem Nachen, als Felizitas zur Not verkleidet, dort entlang ruderte, kratzte ich mit dem Fingernagel in einer der Ritzen entlang und … spürte Holz, das mit Ölfarbe gestrichen war … Die Farbschicht ließ sich wegkratzen … Nachher besah ich mir das, was noch unter dem Fingernagel haften geblieben: dunkle trockene Ölfarbe! Da wußte ich Bescheid …“
Learat nickte …
„Freilich – Ölfarbe …!!“ – Und sein Blick hing an Haralds Gesicht … „Ölfarbe – ja, – so mußten Sie wohl darauf kommen, daß … es künstliche Felswand war … Ich … ich möchte gerade Ihnen, Herr Harst, der Sie doch so leicht dunkle Geschehnisse aufdecken, gelegentlich etwas von einem alten Schloß in Schottland erzählen – etwas, das noch kein Mensch aufgeklärt hat … gelegentlich … Jetzt werden wir uns wohl alle erst einmal ausschlafen …“
„Und ob, bester Learat, und ob …! Und dann werden wir nach Thorshavn fahren, werden Sollerby nach Hause bringen und ein paar Depeschen aufgeben – Kabeltelegramme …“ –
Das eine dieser Telegramme lautete:
Kommerzienrat Falk,
Berlin-Wannsee.
Tochter tödlich verunglückt. Brief folgt. – Harst.
Das zweite an die Firma Baldwin:
Drittes Floß geborgen. Wird nach Thorshavn, Fär-Öer, geschleppt. Dispositionen dorthin an Fischer Sollerby. – Harald Harst.
Und zwei Tage später waren dann alle englischen Zeitungen voll von Berichten über die Frithjof-Grotte … Eine schneidige Reederei in Edinbourgh schickte einen Touristendampfer dorthin … Hunderte haben seitdem die Höhle besucht …
Wir aber – besuchten etwas anderes …
Uns hatte Learat auf der Rückfahrt nach Edinbourgh die Geschichte des Darlington-Schlosses erzählt …
Ein Honorar winkte uns nicht, und doch reisten wir dort nach dem einsamen Hochmoor, wo das uralte, halb verfallene Stammschloß der Lords Darlington seine Steinmauern trotzig und geheimnisvoll gen Himmel reckt …
Wir haben diese Reise nicht bedauert …
Und meine Freunde und Leser werden im folgenden Bande die Geschichte hören von der
Familientruhe der Darlingtons.
Verlagswerbung:
Der Detektiv Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen: |
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Band |
108: |
Die Motorjacht ohne Namen. |
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– Preis pro Band 20 Pf. – Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26, Elisabeth-Ufer 44. |
Anmerkungen: