Harald Harst
Band: 363
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
1. Kapitel
Emmenthal erschrickt…
Im Westen Berlins steht in der stillen Arnoldstraße eine kleine Villa, deren bescheidenes Aussehen kaum verrät, daß in diesem Häuschen sehr oft Dinge beraten und nachher in die Tat umgesetzt werden, von denen die Öffentlichkeit zumeist nur verspätet, und dann durch mich, den Chronikschreiber, etwas erfährt.
Es handelt sich um das Heim meines Freundes Harald Harst.
Was ich hier nun einleitend berichte, gelangte erst später zu meiner Kenntnis. Ich schildere es so, wie mein Freund es mir hinterher in einer Stunde der Muße eingehender als anfänglich berichtete.
– Die Dunkelheit einer lauen Maiennacht lastete noch über Berlin, als ein sehr elegant gekleideter Herr einer Autotaxe an der Ecke Friedrichstraße und Leipzigerstraße entstieg und sehr gemächlich, den Zylinder ins Genick geschoben und die Zigarette im Mundwinkel, in eine der düsteren Seitenstraßen einbog, wo zumeist Geschäftshäuser ihre schmutzigen Fassaden einander wie alte, runzlige Gesichter halbverhungerter Bankerotteure verzweifelt grinsend entgegenhalten.
Der Herr war schlank, etwas über mittelgroß, trug eine Aktentasche unter dem Arm und machte einen so vornehmen Eindruck, daß der Wächter eines der Geschäftspaläste, in dessen Hintergebäuden noch kleinere Firmen hausten, sofort sehr devot die Mütze zog und den neuen Mieter der kleinsten Hofräume mit deshalb respektvollst durch die Haustür einließ, weil der Herr ihm gestern früh ganze zwanzig Mark in die Hand gedrückt hatte, – und das wollte bei denen geldknappen Zeiten etwas heißen!
„Na, haben Sie Ihren Rundgang schon beendet?“ fragte der Herr gemütlich und hielt dem Wächter sein Zigarettenetui hin. „In dieser hellen Mainacht werden die Gauner und Spitzbuben wohl lieber mit ihren Bräuten im Grunewald lustwandeln als auf Diebesfahrten ausgehen…“
Der Wächter grinste vertraulich. „Was sollen sie hier bei uns stehlen, Herr?! Die Firma Emmenthal handelt mit Radioapparaten, – wer kauft heute Radioapparate?! Und hinten neben Ihren neu gemieteten drei Räumen die Pappkartonfabrik?! Wer klaut Pappe? – Nee, Herr, hier könnten sich höchstens Geldschrankknacker betätigen! Für die aber ist Emmenthals Tresor viel zu fest! Außerdem bin ich ja noch da!! Ich fackele nicht lange, Herr! Bei mir knallt’s sofort!“
Der Herr lachte leise. „Außerdem hat Herr Emmenthal wohl so eine Art Geheimmittel gegen unerwünschte Besucher‥!“
„Geheimmittel?!“ staunte der Wächter. „Wie meinen Sie das, Herr?! Das beste Geheimmittel, das ich kenne, ist eine Pistole!“
„Unbedingt,“ nickte der Herr ganz ernst. „Immerhin gibt es außer Gaunerzinken, also außer geheimen Verständigungszeichen zwischen Ganoven, auch ebenso geheime Abwehrzeichen…“
„Nicht möglich,“ verwunderte sich der Wächter, der in diesen Dingen doch auch einige Erfahrung besaß. „Davon habe ich noch nie etwas gehört.“
„Mag sein,“ nickte der Herr gleichgültig. „Ich bin Deutschamerikaner, wie ich Ihnen gestern sagte. Bei uns drüben ist der Aberglaube in kriminellen Dingen weit stärker als hier. Zum Beispiel malen drüben viele Geschäftsleute an versteckten Stellen eine 3 X 3 an die Wand. Ob es hilft, weiß ich nicht. Vielleicht tut dies auch Herr Emmenthal.“
Der Wächter kratzte sich den Kopf.
„Möglich wär’s schon,“ meinte er nachdenklich… „Der Chef ist sehr furchtsam, das stimmt… Obwohl ich noch nie eine 3 X 3 irgendwo gesehen habe.“
Der Herr mit dem Zylinder gähnte. „Die Frühlingsluft macht müde,“ wechselte er das Thema. „Ich werde nun zu Bett gehen… Also… Gute Nacht. – Hier, nehmen Sie noch ein paar Zigaretten… Es ist allerdings eine englische Marke und etwas kräftig…“
Der Wächter griff dankend zu. „Ich vertrage schon einen starken Tobak… Schlafen Sie gut, Herr…“
Dann verschloß er die Haustür, lehnte sich leicht an die Wand und schaute zum bereits sich lichtenden Himmel empor, rauchte und brummte nach einer Weile: „Die Dinger sind wirklich schwer‥!“
Durch sein müdes Hirn zog nur noch nebelhaft die Erinnerung an die Worte des Fremden…
‚3 X 3‥!’…
Komische Geschichte!
Dann vergaß er die ganze Sache, da sein Kollege von nebenan erschien und ihm die neuesten Stammtischwitze verzapfte… –
Inzwischen war der Deutschamerikaner Herr Arnold nicht etwa in seine neu gemieteten Räume, sondern in den ersten Stock des Hauptgebäudes emporgestiegen, hatte die Patentschlösser der Türen mit erstklassigen Dietrichen geöffnet und hinter sich wieder verschlossen, war weiter bis in das Vorzimmer des Chefs Sigurd Emmenthal vorgedrungen, schaute sich hier beim Scheine seiner Taschenlampe in aller Ruhe um und begann nun die Schreibmaschinen der beiden Sekretärinnen genau zu untersuchen, wobei er eine Schriftprobe benutzte, die aus einem anonymen Briefe bestand.
Er besaß sogar die Unverfrorenheit, auf beiden Maschinen einige Zeilen zu tippen, – als er zweite derart prüfte, pfiff er leise durch die Zähne…
„Also doch!“ murmelte er befriedigt. „Ich dachte mir gleicht, daß derartige Beobachtungen nur durch eine der Vorzimmerdamen gemacht worden sein könnten…“
Er verschloß die Schreibmaschine wieder, durchsuchte nun die Schieblade desselben Tisches und erfuhr auf diese Weise den Namen der Sekretärin:
Erna Morgan
Ohne alle Hast trat er den Rückweg an, horchte an der verschlossenen Haustür, hörte den Wächter mit den Kollegen sprechen, klopfte kräftig gegen das Holz der Tür, wurde hinausgelassen und erklärte dem Mann, er habe soeben in seinem noch unmöblierten Kontor ein Telegramm vorgefunden, das alle seine Dispositionen umwürfe…
„Hier, nehmen Sie die eine Monatsmiete in Empfang… Sie wissen ja, daß ich mit Herrn Emmenthal die Vereinbarung getroffen habe, zunächst nur unter Vorbehalt die Räume zu benutzen… Stellen Sie mir eine Quittung aus…“
Er schenkte dem Wächter noch fünf Mark, faßte an den Hutrand und schlenderte davon…
Die beiden Kollegen schauten ihm kopfschüttelnd nach…
Daß jemand so gleichgültig hundertfünfzig Mark opferte, war selbst ihnen noch nicht vorgekommen. So großzügig konnte auch nur ein Amerikaner sein… –
Der bestieg eine Taxe, nachdem er sich in einem Hausflur den falschen Spitzbart abgenommen hatte, und fuhr heimwärts.
Sein wahrer Name war Harald Harst…
Er hatte dem Wächter nicht etwa präparierte Zigaretten angeboten, – nein, zu solchen Mitteln griff er nur im äußersten Notfall. Aber gewisse englische Marken enthalten so viel Opium, daß ein daran nicht Gewöhnter die einschläfernde Wirkung rasch verspürte.
*
Es war aus, alles aus…
Als Heinz Gerling das feudale Privatbüro des Chefs verließ und durch die Säle voller schreibender Kollegen seinem Arbeitsplatz zuschritt, fühlte er die höhnischen, gehässigen Blicke wie ungezählte Nadelstiche.
Er war bleich, er sah die Gesichter nur als verschwommene Fratzen. Eine ungeheure Bitterkeit erfüllte ihn, und aus diesem Gefühl der Wehrlosigkeit gegen die unbegründete Abneigung, die er überall und stets verspürte und verspürt hatte, quoll wie so oft der ohnmächtige Haß gegen die ganze Menschheit in ihm empor.
Er war entlassen. Ein Versehen in einer Abrechnung hatte dem stets so lächerlich aufgeplusterten Chef, der den schlanken, verschlossenen Gerling stets nach Möglichkeit schikaniert hatte, das formelle Recht gegeben, ihn ohne weiteres unter Einbehaltung des restlichen Gehalts zu entlassen.
„Seien Sie froh, daß ich Sie nicht wegen Unterschlagung anzeige,“ hatte Herr Sigurd Emmenthal verächtlich erklärt. „Sie können gehen… Sofort, für immer!“ Und dann noch eine großartige Handbewegung nach der Türe hin. Hinauswurf!
Heinz Gerling verschloß sein Pult, lieferte das Büromaterial dem Abteilungsvorsteher ab, der ihn wortlos und hochmütig anblinzelte. Dann schritt er auf die Straße hinaus, wurde umfangen von dem Lärm der engen Geschäftsgasse, von dem Gestank der Lastautos, Taxen und Privatwagen und blieb trotzdem noch einmal stehen und drehte sich um, überschaute die schmutzige Fassade des Geschäftshauses von Emmenthal und Komp. und hoffte insgeheim, daß Erna Morgan doch noch an einem der Fenster des ersten Stocks erscheinen und ihm zuwinken würde.
Seufzend und enttäuscht wollte er sich wieder abwenden, als sein Blick zufällig das elegante, vor der Tür haltende Privatauto des Chefs streifte. In sein finsteres, eigentümlich grob gehauenes Gesicht trat sofort ein Ausdruck erhöhter Spannung.
Der ärmlich gekleidete, alte Bursche mit der Schiebermütze und dem fusseligen Schifferbart hatte blitzschnell mit Kreide etwas auf die Tür der Limousine geschrieben und war dann weitergeschlurft.
Gerling schaute schärfer hin. Die Zahlen waren deutlich zu erkennen:
3 X 3
hatte der betagte Mann auf die Wagentür gemalt.
Für Heinz Gerlings grüblerisches Hirn war dieser seltsame Vorgang Anlaß genug, sofort zu einem entscheidenden Entschluß zu gelangen. Er überlegte blitzschnell. Sollte er abwarten, welche Wirkung dies 3 X 3 auf den Chef, der sofort zur Börse fahren würde, ausübte, oder sollte er dem Alten folgen und feststellen, wer dieser fragwürdige Kunde sei? Er entschied sich für das letztere, hatte jedoch ganz unverhofft ein ihm sonst wahrlich fremd gebliebenes Glück. Soeben verließ Emmenthal tänzelnden Schrittes mit blitzblankem Zylinder das Geschäftshaus und – blieb stehen. Sein rundes, rotes Gesicht erstarrte, verlor jede Spur von Farbe, seine hellen Fischaugen quollen hervor, hafteten stier auf der 3 X 3.
Gerling entfernte sich schnell, fand hinter Lastautos Deckung, bemerkte den alten Mann mit der Schiebermütze und blieb geduldig und unauffällig hinter ihm.
Die Verfolgung endete im Westen Berlins in der Bachstraße, wo der Alte im Torweg einer Möbeltransportfirma verschwand.
Gerling gehörte nun zu jenen vom Mißgeschick stets und ständig heimgesuchten Naturen, die mit der Zeit eine solche Fülle von Bitterkeit und heimlichem Haß gegen alle Glücklicheren in sich aufgehäuft haben, daß ihr Verhalten und Auftreten hierdurch unwillkürlich ungünstig beeinflußt wird. Ihr Benehmen verliert an Sicherheit, aus den Augen spricht ihnen ein fortwährendes mißtrauisches Forschen, sie werden verschlossen, unausgeglichen, und der heimliche Menschenhaß und die Menschenverachtung suchen stets irgendwo und irgendwie nach einer Gelegenheit, es dieser jämmerlichen großen Menge der rückhaltlosen oder vom Geschick mit Recht begünstigten Lebenskämpfer irgendwie heimzahlen zu können, daß an der eigenen Wiege keine Göttin Fortuna, sondern nur finstere Nornen gestanden haben.
Heinz Gerling war ein Entwurzelter. Er besaß keine Verwandten, keine Freunde. Er war dreißig geworden und trotz umfassender Vorbildung ein kleiner Angestellter geblieben. Nie hatte ihm das Glück gelächelt. Nur zwei Geschöpfe kannte er, die ihn verstanden: Sein Hund – – und vielleicht Erna Morgan, zweite Sekretärin des Chefs Emmenthal, Seniorchef von Emmenthal und Komp., Radiovertrieb en gros.
Nun stand dieser schlanke, sehnige Gerling mit dem fast auffallend mageren, sonnengebräunten Charakterkopf in der Bachstraße an einer Plakatsäule im warmen Maisonnenschein der Mittagsstunde und betrachtete die verwahrloste Einfahrt der Möbeltransportfirma, über deren kaum noch lesbarem Firmenschild große Zettel ‚Garagengrundstück zu vermieten’ geklebt waren.
Gerling wartete eine geraume Weile. Dann überquerte er die stille Straße und wollte dieselbe Seitenpforte öffnen, hinter der jener Graubart verschwunden war.
Es war seltsam, er empfand geradezu Sympathie für diesen Alten, der durch das 3 X 3 dem Herrn Emmenthal einen so furchtbaren Schreck eingejagt hatte. Es war keinerlei Abenteuerlust gelesen, die ihn zu dieser Verfolgung des Alten verleitet hatte. Nein, er wollte lediglich an Emmenthal irgendwie dafür Vergeltung üben, daß dieser ihn unter einem gesuchten Vorwand vor dem ganzen Personal zum Betrüger gestempelt und hinausgeworfen hatte. Jener heimliche Haß des Entwurzelten, den er selbst so oft schmerzlich als seiner Wesensart fremde Seelenbelastung spürte und den er doch nicht zurückdrängen konnte, war die einzige Triebfeder seines Handelns.
Die Pforte war verschlossen. Er rüttelte daran, trat bald zur Seite und schaute durch eine Ritze in den langgestreckten Hof hinein. Was er sah, enttäuschte ihn: wracke alte Möbelwagen, baufällige Stallungen und Schuppen, keine lebende Seele… –
Kopfschüttelnd entfernte er sich. Er wohnte in nächster Nähe in der Pariser Straße. Als er im Gartenhaus die Treppen emporstieg, horchte unten derselbe Graubart, auf den er es abgesehen gehabt hatte, auf das Geräusch der verhallenden Schritte. Der Alte trug jetzt eine Brille und einen Gebirgshut. Nachdem Gerling im zweiten Stock die Flurtür geöffnet hatte, verschwand der Kreidezeichner des 3 X 3.
In Gerlings einfenstrigem Stübchen ertönte das Freudengebrüll seines strammen Sichelhaarterriers Pollux. Der Hund sprang winselnd an seinem Herrn empor. Da öffnete sich die Tür und Frau Schniefkes zwei Zentner schoben sich drohend ins Zimmer.
„Den Radau mit dem Köter verbitte ich mir, Herr Gerling‥! Überhaupt, – ich kündige zum Ersten, verstanden! Ich weiß Bescheid, Ihr Chef hat Sie rausgeschmissen! Man hat’s mir soeben durchs Telephon gemeldet… Bei mir wohnen nur ehrliche Leute!“
Gerling saß in dem elenden Plüschsessel, hatte seinen Pollux auf dem Schoß und war sehr blaß geworden. Der Hund knurrte die zwei Zentner grimmig an.
„Ganz recht,“ sagte Gerling etwas heiser. „Nur ehrliche Menschen‥!“ Er lachte hart. „Ich ziehe sofort aus… Heute haben wir erst den vierzehnten. Ich schulde Ihnen keine Miete mehr… In einer Stunde räume ich das Zimmer.“
Seine graublauen Augen, die zuweilen bedrohlich flimmern konnten, scheuchten das Weib hinaus.
Versonnen streichelte er seinen Hund.
„Pollux, ein Glück, daß wir noch ein paar Spargroschen und unser Zelt und unser Boot haben… Wir werden Robinson spielen. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist so, daß dein Herrchen jetzt nirgends mehr Stellung findet… – Packen wir also unsere Habseligkeiten zusammen…“
Pollux leckte seinem Herrn die Hand und winselte zustimmend. – –
Zur selben Zeit, als Gerling sein bisheriges Heim für immer verließ, saß in einer Dunkelkammer eines kleinen villenartigen Hauses in Berlin W., Arnoldstraße, ein Mann bei rotem Licht über eine Entwicklerschale gebeugt.
Ein zweiter Mann mit magerem Gesicht, scharfer Nase und eigentümlich kühlen, durchdringenden grauen Augen schritt im selben Hause in einem büroartig ausgestatteten großen Raum zigarettenrauchend auf und ab.
Dann trat der anderen mit fünf wohlgelungenen Momentfilmen ein.
„Tadellos scharf,“ sagte er freudig. „Hier siehst du Emmenthal im ersten Schreck vor der 3 X 3 wie versteinert stehen, – hier fragt er seinen Schofför nach dem Kreidezeichner aus, hier wischt er die 3 x 3 mit dem Taschentuch weg, – hier rennt er ins Haus zurück, – und hier kehrt er mit seinem hoffnungsvollen Sprößling zurück und zeigt ihm die letzten Spuren der 3 X 3. An dieser Aufnahme ist mir das wichtigste der Mädchenkopf, der hinter den Scheiben der Glastür zu erkennen ist. Dieses Mädchen beobachtete die beiden so vorsichtig und so interessiert, daß ich fast vermute, sie könnte die anonyme Briefschreiberin sein.“
„Sie ist’s,“ erwiderte mein Freund Harst mit stillem, unergründlichem Lächeln. „Ich war heute früh im Zimmer der beiden Sekretärinnen, besichtigte und prüfte die Schreibmaschinen. Das Mädchen, das uns auf die 3 X 3 aufmerksam machte, heißt Erna Morgan. Es lag sehr nahe, daß eine Privatsekretärin die gewissen Beobachtungen gemacht haben müßte. Meine Annahme traf zu.
Jetzt beginnt für uns die eigentliche Arbeit, mein Alter. Sie ist nicht ganz ungefährlich. Hinter diesem 3 X 3 steckt meines Erachtens eine Geheimorganisation, vor der, wie nun erwiesen, Vater und Sohn Emmenthal scheußliche Angst haben. Und mit Recht! Denke an den Kompagnon Smith, Allan Smith. Er starb unter recht sonderbaren Umständen. – Zunächst müssen wir nun den Namen des Angestellten erkunden, der in der Pariser Straße 31, Gartenhaus links zwei Treppen, wohnt. Das kannst du besorgen…“
„Und du?!“
Harald blickte mich groß an.
„Ich?! Ich werde das Notwendigere in Angriff nehmen und Fräulein Morgan zufällig kennenlernen…“
– So trat denn der Fall der 3 X 3 oder besser das Problem der 3 X 3 – denn es wurde ein Problem – in ein neues Stadium ein. Ich hätte, daß sei hier gleich vorher vermerkt, diesem und unseren folgenden Abenteuern, die sämtlich die 3 X 3 zum Mittelpunkt hatten, vielleicht einen anderen Gesamttitel geben können, etwa: Harst, der Geistersucher(1). Aber ich wollte die Linie des guten Geschmacks nicht verlassen. Ich will auch die seltsamen, mystischen Geschehnisse, die in den folgenden Monaten uns wie eine schwarze Wolke, durch die nur zuweilen ein schwacher Blitz in matter Zickzacklinie fährt und lediglich die verhüllenden Vorhänge zu zerreißen verspricht, in keiner Weise in sensationeller Art als Ausflüge in das Reich des Übersinnlichen mit groben Mitteln herauszuarbeiten mich bemühen. Die Ereignisse sprechen für sich selbst.
Tatsache bleibt, daß die 3 X 3 Zeiten von einst wieder zu neuem Leben weckte, in denen wir im Wunderlande Indien verschiedentlich die Erfahrung gemacht hatten, daß es noch immer Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen läßt.
2. Kapitel
Wir sehen Emmenthal sterben…
Sir John Hobbard, Professor an der berühmten Universität von Oxford, saß fünf Tage später, also in der Nacht vom 19. zum 20. Mai 19‥, in seinem Privatlaboratorium und blickte durch die offenen Fenster hinab auf die grünen Hügel und den im Mondlicht funkelnden Fluß. Sein Haus stand auf der Spitze einer bewaldeten Anhöhe weit außerhalb der Stadt in völliger Einsamkeit und wurde weit und breit nur ‚The Ghost-Castle’ – das Gespensterhaus – genannt. Das Gebäude war uralt, noch vor hundert Jahren hatte hier ein kleines Mönchskloster existiert, dessen Insassen einst aus Prag zugewandert waren und dem längst verschollenen Orden der Rosenkreuzer angehört haben sollten. Die Regierung Englands hatte Anlaß, die fremden Gäste schließlich des Landes zu verweisen, und die Geheimakten über diese Gewaltaktion gegen die fragwürdigen frommen Brüder wurden später – das ist unbestreitbar – auf Befehl von höchster Stelle verbrannt, um unter ein sehr unerfreuliches Kapitel der Geschichte völligen Versagens der damaligen englischen Polizei einen endgültigen Schlußstrich zu ziehen.
Sir Hobbard, oder besser Lord John Hobbard-Terlamoore, saß im Dunkeln unweit des einen geöffneten Fensters und beobachtete nun, wie das schiefe Viereck der hereinfallenden Mondstrahlen langsam über die Steinplatte des Dielenbelags weiterwanderte.
Hobbard war noch jung. Er, der Erbe des Lordtitels derer von Terlamoore, hatte mit kaum dreißig Jahren als Elektrophysiker einen Lehrstuhl in Oxford erhalten.
Aber, – – er sah wie sechzig aus. Sein Haar war fast schneeweiß. Er trug es über der hohen, klugen Stirn mit den vielen Falten und Fältchen dicht gescheitelt, und auch sein frisches, durchgeistigtes Gesicht wies ein förmliches Faltennetz auf.
Hobbard hielt die Arme über der Brust gekreuzt und hatte das kräftige Kinn in die schmale, nervöse Hand gestützt.
Er atmete hastig und unregelmäßig, und seine innere Erregung steigerte sich bis zur Unerträglichkeit, je mehr das Mondlicht sich der bestimmten hellen, ausgetretenen großen Steinfliese näherte.
Die Stelle lag zwischen zwei Streifen dunkler Fliesen, und in ihrer Mitte befand sich eine bereits stark verwischte Figur, deren ursprüngliche Form nicht mehr zu erkennen war. Es konnte ein grob eingemeißeltes Gesicht, es konnten aber auch nur Ornamente oder Zahlen sein.
Der Professor mit dem glanzlosen grauweißen Scheitel horchte plötzlich gespannt in die Nacht hinaus. Er vernahm das Surren eines Autos, das bereits die Allee heraufkam.
Er sprang auf, lief die Treppen hinab, öffnete die schwere Haupttür und rief den beiden Insassen des Wagens zu:
„Schnell, – – wir haben keine Sekunde zu verlieren… Der Schofför mag warten.“
Hierauf stürmte er mit seinen deutschen Gästen wieder die Steinstiegen empor und führte sie im Dunkeln durch das Laboratorium bis dicht vor die bewußte Stelle.
Keuchend sagte er nun, wobei seine Worte sich förmlich überstürzten:
„Dort, – – dort… – Geben Sie acht!! Ich sah Allan Smith sterben! Es war Smith‥! Und es war damals wie heute Vollmond… – Was werden wir heute sehen?! Es ist … ein entsetzliches Haus, Herr Harst! Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich fürchtete schon, Sie könnten unterwegs einen Motordefekt gehabt haben…“
Harald betrachtete prüfend des Professors vom Mondlicht beschienene Züge.
„Bleiben Sie ruhig, Mylord,“ meinte er mahnend, „Ihre Nerven sind in einer kläglichen Verfassung…“
Dann blickte er auf die Steinfliesen, bückte sich und betastete die unkenntliche Figur mit den Fingerspitzen. Nur mir verriet sein unmerkliches Zurückwerfen des Kopfes, daß er eine überraschende Entdeckung gemacht hatte.
Er richtete sich wieder auf.
Der Mondenschein wanderte weiter, wurde schmaler und schmaler, und die Steinfliesen versanken für Sekunden in die gleiche Dunkelheit wie alles ringsum.
Dann geschah’s…
Urplötzlich erschien auf den alten Steinplatten ein runder hellerer Kreis mit verschwommenem Rand, und inmitten dieses Kreises schienen leuchtende Nebel hin und her zu wallen, die sich allgemach zu einem bewegten Bild formten.
In stark verkleinerten Maßen gewahrten wir ein Stückchen Heideland mit einzelnen Kiefern, und genau so deutlich war ein altes Gemäuer, offenbar eine Turmruine, zu unterscheiden, vor der ein Mann hin und her schritt.
„Genau dieselbe Szenerie wieder!“ flüsterte Lord Hobbard heiser und wischte sich trotz der lauen Mainacht den eiskalten Schweiß von der Stirn.
„Kennen Sie den Mann, Herr Harst?“ fügte er ängstlich hinzu.
Ich sah, daß seine Hand, die auf den dicken Mann im hellen Sommeranzug deutete, wie im Fieberfrost zitterte.
Harald erwiderte nur:
„Es ist Smith’s Kompagnon Sigurd Emmenthal… Auch die Ruine kennen wir…“
… Meine Augen stierten wie gebannt auf den Seniorchef der großen Firma, der immer noch auf und ab schritt und auf jemand zu warten schien.
Gewiß, Emmenthal wäre für einen Uneingeweihten als Sigurd Emmenthal schwer zu erkennen gewesen. Dazu war die Figur auf dem unheimlichen Bilde zu unscharf. Aber da der Seniorchef der Weltfirma sehr korpulent war und noch dazu einen gewölbten Rücken und ein sehr kurzes Genick und einen mächtigen Schädel hatte, konnte kein Zweifel darüber bestehen, wen wir hier vor uns hatten.
Es war Emmenthal.
Und er befand sich genau an derselben Stelle, wo vor Wochen Allan Smith tot aufgefunden worden war.
Ein eigentümliches Unbehagen beschlich mich.
Scheu blickte ich den Lord von der Seite an. Sein Gesicht war bleich, die Fäuste hatte er gegen die Brust gepreßt, seine Lippen zuckten, seine Augen waren herausgequollen und glänzten matt wie trübe rundliche Opale.
Dann schrie er gellend auf…
Ich drehte den Kopf…
Ein Eiseshauch krochen mir über den Rücken. Emmenthal hatte die Arme in die Luft geworfen, taumelte, schlug nach hinten über in das Heidegras und lag still.
Neben mir ein Krach, ein Poltern. Lord Hobbard war ohnmächtig geworden und hatte den Stuhl, auf dem er gesessen, mit umgerissen. Harst konnte den Umsinkenden gerade noch auffangen, sonst würde der Ärmste sich auf den Steinplatten des Bodens übel zugerichtet haben.
Wir trugen ihn auf einen in einer Ecke stehenden Diwan. Hobbards Puls war sehr schwach, und es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er wieder zu sich kam.
Inzwischen war das unheimliche Bild längst von den Steinfliesen verschwunden.
Nachdem der Lord sich völlig erholt, und Harst sich im Laboratorium sehr sorgfältig alles angesehen hatte, begaben wir uns in Hobbards Bibliothek hinab, saßen in einer gemütlichen Klubecke und sprachen eifrig den bereitstehenden Erfrischungen zu, während ein uralter Diener uns die Gläser mit feurigem Malaga füllte, der vielleicht noch älter als diese Mumie von Diener sein mochte.
Der Lord stürzte zwei Gläser hinab, griff dann nach einer Zigarre und schickte den mumienhaften Inder, der bereits dem Großvater Mylords ein treuer, ergebener Vertrauter gewesen, mit freundlichen Worten zu Bett.
„Praßwati, geh schlafen… Diese Herren…“ er wies mit dem Kopf auf uns, „werden auch dies Geheimnis ergründen und mir meine Ruhe wiedergeben.“
Der Inder mit dem kurzen, weißen Vollbart verneigte sich tief.
„Mylord, auch diese Herren werden nichts ergründen… – Gute Nacht…“
Langsam wandte er sich der Tür zu.
Er war groß, hager und schmal in den Schultern, hielt sich überraschend straff und schritt fast elastisch lautlos dahin.
Harald blickte ihm gleichgültig nach, legte sich dann Kaviar auf den Keller und aß mit bestem Appetit trotz des für die Magennerven nicht gerade zuträglichen Eilfluges von Berlin nach Oxford und trotz des unerklärlichen Erlebnisses droben im Laboratorium.
Hobbard hüstelte verlegen.
„Sie dürfen Praßwati diese Zweifel an Ihrer Unfehlbarkeit nicht verargen, lieber Herr Harst.“
„Ich bin nicht unfehlbar, Mylord. Wahrscheinlich wird Ihr altes Faktotum auch richtig prophezeit haben. Ihr Brief gab mir schon in Berlin wenig Hoffnung, hier etwas ausrichten zu können. Und nun hat das von mir vorhin mit eigenen Augen Geschaute meine Bedenken noch verstärkt, ob ich eine Deutung für diese Vorgänge werde liefern können.“
Der Lord lehnte im weichen, tiefen Sessel, rauchte nervös und allzu hastig und starrte Harald dabei unverwandt an.
„Es muß eine Lösung geben!“ stieß er dumpf hervor. „Eine natürliche Lösung! An Übernatürliches glaube ich nicht.“
Harst blickte von seinem Teller auf.
„Weshalb wies die Regierung die kleine Mönchskolonie aus dem Lande, – weshalb wurden damals der Abt und fünf Mönche hingerichtet, wie man sich’s erzählt? Weshalb, Mylord?“
„Das – – weiß niemand,“ sagte Hobbard festen Tones. „Ich schrieb Ihnen ja, die Prozeßakten wurden alle verbrannt, und man ist nur auf Gerüchte angewiesen…“
Mein Freund füllte sein Glas und ebenso das unseres neuesten Klienten, der einer der reichsten Männer Englands sein sollte.
„Trinken Sie, Mylord. Ihre Gesichtsfarbe läßt noch viel zu wünschen übrig.“
Hobbard hob sein Glas… –
Fünf Minuten später schlief er in seinem Sessel wie ein Toter. Das winzige Kügelchen, das mit in seinen feingeschliffenen Römer geglitten war, hatte seine Schuldigkeit getan.
3. Kapitel
Gerling wird verhaftet.
Harst erhob sich, legte umständlich seine Serviette zusammen und tat dies mit den abgezirkelten Bewegungen eines Menschen, dessen Gedanken weithin in die Ferne schweifen und durchaus nicht bei der Sache sind.
„Die experimentelle Ätherstrahlenforschung ist ja sehr weit vorgeschritten,“ meinte er mehr zu sich selbst. „Aber eine Theorie bewußter Ferntötung durch sogenannte Todesstrahlen lehne ich unbedingt ab.“
Er nahm eine Zigarette und griff genau so automatenhaft nach dem elektrischen Zigarettenanzünder.
Ich war sofort im Bilde. Seine Anspielung auf die Ätherwellen bezog sich auf den Inhalt des Eilbriefes Lord Hobbards, der uns gestern früh erreicht hatte, als wir bereits wußten, wo Heinz Gerling nunmehr Robinson spielte und in welchem Verhältnis er zu der hübschen, nur allzu ernsten und schwerblütigen Erna Morgan stand. Der Lord hatte uns mitgeteilt, wie er bereits vor einem Jahr zufällig auf die seltsame Fernbilderscheinung auf den Fliesen in Vollmondnächten aufmerksam geworden sei und wie er im Laufe dieses Jahres viermal den Tod eines Menschen stets an derselben Stelle – Heidekuppe mit Turmruine – auf diese Weise mitbeobachtet und später erfahren habe, daß dieser Ort in der Nähe von Berlin liege und dort tatsächlich vier ungeklärte Todesfälle vorgekommen seien. Das letzte Opfer des unheimlichen Platzes war Allan Smith gewesen.
Damit der Leser hier auch sofort darüber Klarheit gewinnt, wie wir auf die 3 X 3 hingewiesen wurden, und wie ich die fünf Momentaufnahmen machen konnte, während Harst von Gerling bis zur Bachstraße verfolgt wurde, gebe ich kurz den Inhalt des anonymen getippten Schreibens Erna Morgans wieder. Dieser Brief erreichte uns am 12. Mai abends und besagte, daß sowohl Sigurd Emmenthal wie sein Sohn Siegfried von Unbekannten durch kurze Telephonanrufe in Schrecken gesetzt wurden, wobei der Anrufer stets nur mit tiefer Stimme nichts weiter als ‚Achtung, hier 3 X 3’ in schlechtem Deutsch in die Muschel sprach und dann abhängte. Wahrscheinlich sei der Anrufer ein Amerikaner oder Engländer gewesen. Eines dieser kurzen einseitigen Gespräche habe der Briefschreiber (also Erna Morgan) mit abgehört, und Sigurd Emmenthal sei darüber derart in Wut geraten, daß er den schweren Löscher aus Marmor in den Zierspiegel über dem Kamin seines Privatbüros geschleudert habe. –
Diese Anregung genügte uns, das Problem der 3 X 3 in aller Stille in Arbeit zu nehmen. Dann fanden wir Heinz Gerling auf der schilfumkränzten Insel Kälberwerder auf der Havel in seinem Wohnzelt vor, lernten auch den strammen, bissigen Pollux kennen und erfuhren von dem verbitterten Menschenhasser Gerling die näheren Umstände seines Hinauswurfs bei Emmenthal. Über die 3 X 3 konnte er nichts angeben. Harst verschwieg, daß er selbst die 3 X 3 am 14. Mai mittags auf die Limousinentür mit Kreide gemalt, und daß ich mit der Momentkamera in der Nähe gelauert hatte.
Dann kam, als der Fall 3 X 3 im Sande zu versickern drohte, Lord Hobbards Brief nebst Einlage von fünfhundert Pfund Sterling als Honorar für uns.
Daß wir Hobbard etwas beschwindelt hatten, war entschuldbar. Wir hatten bereits zwölf Stunden in Oxford geweilt und ‚The Ghost-Castle’ heimlich beobachtet und vorsichtig allerlei Erkundigungen bei alten Leuten, zumeist Farmern, eingezogen.
Harald rauchte ein paar Züge und blickte den schlafenden Lord unverwandt an.
„Er weiß natürlich weit mehr, als er eingesteht,“ meinte er gedämpft. „Wie gefiel dir die Mumie von Inder? Dieser Praßwati muß mindestens hundert Jahre alt sein…“
Um es ehrlich einzugestehen, dieses uralte Gebäude und die ganzen Umstände, wie wir es kennen gelernt hatten, lasteten als schwerer Druck auf meiner Seele und meinem Hirn. Meine Gedanken flossen träge, und selbst der schwere Malaga hatte das leise Grauen nicht verscheucht. Das ganze Haus duftete intensiv nach Sandelholz. Es war kostbar eingerichtet, die Mönche hatten für die Holztäfelung exotische Hölzer, dazu auch viel Marmor und Basalt verwendet.
Im Gegensatz der Gedankenschwere für Gegenwärtiges waren in mir all die Abenteuer in Indien mit Yogis und ähnlich rätselvollen Menschen umso lebendiger geworden.
Harst drehte den Kopf und schaute mich still an.
„Ungemütlich hier, mein Alter‥! Das stimmt!“
Er nickte mehrmals, als wollte er andeuten, ihm erginge es ähnlich.
„Am unangenehmsten ist mir der Inder. Ich möchte gern das Laboratorium gründlichst durchsuchen. Ich fürchte nur, Praßwati schläft nicht und ist sehr wachsam. Er spricht das Deutsche mit stark englischem Akzent. Ein Wunder überhaupt, daß er unsere Muttersprache beherrscht. Seine Sätze klangen wie eine Warnung – oder Drohung. In seiner Stimme schwang ein Unterton, der mir ein Frösteln über die Haut jagte… Dir wohl auch?“
„Ja,“ sagte ich heiser. –
Das Empfinden, wir hätten hier den Kampf gegen übersinnliche Mächte aufgenommen, steigerte sich bis an die Grenze zur Furcht. Um dies zu begreifen, rate ich dem Leser, sich einmal näher mit der Geschichte des Geheimordens der Rosenkreuzer zu beschäftigen. Ich selbst muß mich im Rahmen dieser Chronik auf knappste Hinweise beschränken.
Immerhin sind sie interessant und in mancher Beziehung sogar äußerst aufschlußreich.
Es gibt wohl kaum einen Geheimorden, der seine Entstehung einem Manne verdankt, dessen Bestreben ursprünglich dahin ging, alle Alchimisten, Astrologen, Mystiker und Geisterseher gründlichst zu verspotten.
Dieser Mann war der protestantische Theologe Andreä. Er schrieb drei satirische Büchlein, das erste erschienen 1614 in Kassel. Mithin ist der schuldlose Gründer der Rosenkreuzer ein Preuße gewesen.
Die Wirkung seiner Schriften hatte er nicht voraussehen können. Sie war verblüffend und bewies gleichzeitig den Tiefstand des kritischen Denkens der damaligen Zeit. Besonders in Holland entstand ein Orden, der viele Anhänger fand, der in Amsterdam ein Ordenshaus besaß und sich mit alchimistischen Spielereien abgab, nebenher auch politisch sich betätigte und, bei einem Kolonialvolk wie die Holländer kein Wunder, den Orden auch in die Kolonien verpflanzte.
Seltsamerweise fanden die ersten Rosenkreuzer in Goa in Vorderindien bei einer brahmanischen Sekte, die ihren Ursprung auf eingewanderte Ägypter zurückführte, ebenfalls als Symbol ein Kreuz und eine Rose vor. Dieses Symbol, daß der satirisch veranlagte Pfarrer Andreä seinem Familienwappen entnommen hatte, war in Indien allerdings durch zwei arabische Ziffern ergänzt worden, und zwar durch 3 X 3, also durch zwei Dreien, die durch ein liegendes Kreuz, ein Malzeichen ergänzt waren.
Wie diese 3 X 3 als Ergänzung des Rosenkreuzersymbols gerade in Indien auftauchen konnte, ist nie völlig aufgeklärt worden. Ein einziges ernstzunehmendes Werk über Geheimgesellschaften beschäftigt sich mit dieser Frage, aber auch dessen Verfasser kommt zu keiner befriedigenden Lösung. Seine Annahme, es handele sich um keine Ziffern, sondern um ägyptische Geheimzeichen aus der Epoche des Isis- und Osiriskultes, hat vieles für sich.
Jedenfalls bleibt es Tatsache, daß das Wappenzeichen des Satirenschreibers Andreä (Rose und Andreaskreuz) später, als der Orden auch in Prag um das Jahr 1618 kurz vor der endgültigen Niederwerfung der Hussiten Fuß gefaßt hatte, das ursprüngliche Symbol die oben erwähnte Ergänzung durch die 3 X 3 erhalten hatte und daß viele Taboriten(2) sich insgeheim ihm anschlossen und als Ersatz für ihren religiösen Fanatismus sich auf das eng verwandte Gebiet der Mystik warfen.
Bei den damaligen Zuständen in Prag war es nicht weiter erstaunlich – die blutige Schlacht am Weißen Berge bei Prag hatte die Hussiten vollends vernichtet –, daß die dortigen Rosenkreuzer nur in aller Heimlichkeit ihre Zusammenkünfte abhalten konnten und gezwungen waren, ihre R.K.R.–Abende einander nur auf unauffälligste Weise bekannt zu geben.
Gerade hierüber existieren nur spärliche Urkunden. Es steht fest, daß die Ordensbrüder an die Seiten der Schwellen ihrer Häuser mit Kreide eine 3 X 3 malten und dahinter das Datum der Zusammenkunft.
Vergleicht man nun das RKR mit 3 X 3, so fällt sofort die Ähnlichkeit der beiden Buchstaben– und Zahlenbilder auf, wenn man bei 3 X 3 das Mal groß schreibt, also 3 X 3. Die Brüder nannten denn auch das R die ‚geschlossene 3’ und das K das ‚heilige Mal’, – abgeleitet von Malzeichen und mit Hinweis auf das Wundmal Christi. Das K heißt nebenbei noch das ‚ungebeugte X’, weil sich aus einem K nur durch Einknicken ein X herstellen läßt. Es sind dies Zusammenhänge, die fast unbekannt sein dürften und die um so interessanter sind, als sie hier zum ersten Male eine tiefsinnigere Verbindung zwischen K (Kreuz) und X = Malzeichen, heiliges Zeichen, nachgewiesen wird.
Auch die Bezeichnung ‚ungebeugtes X’ enthält einen Hinweis auf Christi Leiden und Sterben. Ungebeugt schreitet Christus zum Richtplatz, ungebeugt, das heißt lebend, ersteht er vom Tode wieder auf.
Über Ordenstracht, Rituale, Versammlungsorte und geheime Erkennungszeichen der Rosenkreuzer ist wenig bekannt. Die Prager RKR-Brüder schlossen sich auch fernerhin, als sie Verfolgungen aufgehört hatten, von aller Welt ab. Sie häuften große Schätze auf, aber gerade dies lockte Abenteurer vom Schlage eines Grafen Cagliostro herbei, die sich als Agenten des Ordens ausgaben und einträgliche Schwindeleien verübten. Andererseits muß betont werden, daß die Prager Rosenkreuzer insofern sehr viel für die vergleichende Geschichtsforschung geleistet haben, als sie als erste auf die Ähnlichkeit altägyptischer und indischer Kulturgebräuche hingewiesen und auch indische Brahmanenpriester zu sich eingeladen haben, von denen sie vielfache neue geistige Anregungen erhielten.
Im Rahmen dieser Erzählung will ich nicht näher auf dieses Thema eingehen. Jedenfalls behalte ich mir ausdrücklich die Erlaubnis vor, obige Ausführungen zur auch nur auszugsweise Veröffentlichung anderen zu gestatten.
Eines muß ich noch nachholen. Das Symbol der Rosenkreuzer oder besser das Zusatzsymbol, die 3 X 3, war von einem Kreis umgeben, von einer Schlange, die sich selbst in den Schwanz biß. Wer in der altgermanischen Götter- und Heldensaga einigermaßen vertraut ist, wird dabei sofort an die Midgardschlange(3) denken, an das Kennzeichen des Kreislaufs allen Weltgeschehens. Daß der Kreis schlechthin nicht nur bei den religiösen Gebräuchen aller Völker, sondern auch bei den volkstümlichen Festen und den Gerichtsitzungen eine große Rolle spielte, dürfte allgemein bekannt sein. Sogar die primitivsten Naturvölker saßen und sitzen bei ihren Beratungen im Kreise auf dem Boden. Der Kreis der ‚Alten’ als die höchste Instanz findet sich überall.
Man sieht also, daß die Rosenkreuzer von Prag ihr Symbol aus den verschiedensten Grundelementen zusammengesetzt hatten.
Abschließend sei betont, daß auch ihre chemischen Spielereien durchaus nicht wertlos waren. Viele ihrer Entdeckungen auf diesem Gebiet, besonders die genaue Kenntnis von Pflanzengiften, waren für die damalige Pharmazie von größter Bedeutung. – –
Ich hatte mit einem heiseren ‚Ja’ geantwortet.
Mein Freund zuckte die Achseln. „Was hilft’s?! Gehen wir nach oben. Das Gebäude ist zu groß, als daß wir Praßwatis Zimmer suchen und ihn etwa einschließen könnten.“
Er füllte nochmals sein Weinglas, auch das meine, und wir tranken uns schweigen zu und blickten einander etwas scheu in die Augen.
Dann gingen wir die mit kostbaren Läufern belegten Flure entlang bis zur Haupttreppe. Überall brannte Licht unter Milchglasglocken von bläulichem Schimmer. Überallhin verfolgte uns der Geruch des Sandelholzes, und das Knistern und Knarren im dicken Eichengebälk des alten Hauses. Hinter den Wandtäfelungen, die reich geschnitzt waren, trieben Mäuse ihr Unwesen. In den Korridoren begegneten wir mindestens acht Katzen, die alle von gelber Farbe und ungewöhnlich groß waren.
Das Laboratorium, das Lord Hobbard erst für sich hatte ausbauen lassen, lag im obersten Stock, hatte nur eine einzige schwere, neue Eisentür mit Patentschlössern und stark vergitterte Fenster.
Der Vorraum war dunkel. Als Harald seine Taschenlampe einschaltete, sahen wir vor der Eisentür eine dicke Bastmatte, auf der der Inder mit untergeschlagenen Beinen kauerte und sitzend schlief. Er trug jetzt einen weißen, wollenen Leinenkittel, dazu halblange Hosen, um den dürren, faltigen Hals hing die weiße Brahmanenschnur, und auf der Stirn glänzte das ebenfalls weiße Signum der selben Kaste in frischer Farbe.
Wie sehr Praßwati an den Äußerlichkeiten seiner Kaste, obwohl er doch im übrigen völlig europäisiert schien, noch immer festhielt, bewiesen die abgenutzten Schnabelsandalen an den nackten mageren Füßen.
Der Inder schlief ganz fest. Sein Kopf war gegen die Eisentür gestützt, der Unterkiefer war herabgesunken, in dem zahnlosen Mund gewahrte ich die zurückgeklappte Zunge. – Wer je den Versuch gemacht hat, seine Zungenspitze nach hinten zu drücken, wird merken, wie schwierig dies ist. Die ersten sicheren Nachrichten über diese besondere Art, den Schlund durch die Zunge zu versperren, gelangten aus Ägypten nach Europa. Tanzende Derwische waren es, die von jeher diese ungewöhnliche Übung für ihre ekstatischen Tänze zur Erhöhung der Ausschaltung äußerer Einflüsse mit vornahmen. In Indien waren es die Yogis, richtige die Yogin, die die Zunge als Hilfsmittel für die schnellere Herbeiführung des Starrkrampfes benutzten.
Praßwati befand sich also zweifellos nicht im Zustand echten, sondern künstlichen Schlafes, in dem nach alter Yogibehauptung die Seele sich vom Körper zu lösen vermag.
Harald flüsterte mißtrauisch: „Das gefällt mir gar nicht, mein Alter… Hier ist irgendeine Teufelei im Gange… Besinne dich, Erna Morgan schrieb uns, der Anrufer, der den alten Emmenthal so sehr erschreckt hätte durch das geheimnisvolle 3 X 3, hat das Deutsche mit englischem Akzent gesprochen… – Hilf mir mal… Wir wollen die Bastmatte samt dem Schläfer vorsichtig beiseite ziehen… Faß mit an.“
Der Inder, der die Unterarme auf die Knie gestützt hatte, behielt seine Haltung unverändert bei, als wir die Matte mehr zur Seite zogen. Er glich einer Holzpuppe. Sein fast kahler Kopf mit den mumienhaften Zügen und dem offenen Munde wirkte abstoßend.
Harst hatte dem Lord vorhin den Schlüsselring aus der Tasche genommen und öffnete nun die Eisentür, nachdem er zur Vorsicht dünne Gummihandschuhe zum Schutz gegen elektrische Schläge übergestreift hatte. Wir traten ein. Der Raum war sehr groß und ganz modern eingerichtet. Da Lord Hobbard als Elektrophysiker der exakten Wissenschaft weit voraus war, gab es hier Apparate, die selbst uns unbekannt waren. An der weißen Saaldecke hingen drei starkkerzige Lampen mit weißen Glocken, auch an den Wänden waren Wandleuchter verteilt. So war das Laboratorium blendend hell, und diese Lichtverteilung ließ nirgends Schatten entstehen.
Harald hatte hinter uns die Tür wieder versperrt. Er blieb vor der bewußten Stelle der Steinfliesen stehen und flüsterte eigentümlich rauh: „Die verschwommene Figur dort auf der mittelsten Platte ist eine 3 X 3, die von einem Kreis umgeben ist. Mögen nun über den Orden der Rosenkreuzer auch noch so viel unsinnige Gerüchte kursieren, eines steht fest: Das Symbol der 3 X 3 im Kreis hatte für die Brüderschaft eine nie völlig aufgeklärte, aber eine sehr ernste Bedeutung. Es kann kein Zufall sein, daß wir in Berlin gleichfalls auf die 3 X 3 stießen. Die Ermordung Allan Smiths und der übrigen Leute neben der Turmruine muß irgendwie mit diesem Haus hier, in vielleicht sehr lockerer, vielleicht aber auch sehr enger Verbindung stehen.“
Ich fand nun endlich Gelegenheit, an Harst die entscheidende Frage zu richten.
„Glaubst du, daß Emmenthal tot ist?“
Er schaute mich flüchtig an.
„Wir sahen es doch‥! – Auch der Lord weiß, daß ein neuer Mord verübt wurde. – Warte einen Augenblick… Hobbard täuschte seinen Ohnmachtsanfall ja sehr geschickt vor, aber…“
„Wie, – er war nicht bewußtlos?!“ rief ich dazwischen.
„Nicht in dem Sinne, wie man sonst von einer ‚Ohnmacht’ spricht. Er ist nicht nur Elektrophysiker, sondern auch Mystiker… – Hier, – bitte. Als Harvard umsank, streifte er wie zufällig mit der rechten Hand die Tischkante. Es sollte wie eine ganz natürliche Bewegung des Armes aussehen – sollte… – Paß auf. Ich schalte ein…“
Er hatte sich gebückt… Ein leises Knacken…
Dann erschien auf den Fliesen der verschwommene Kreis mit den wallenden Nebeln, aus denen sich langsam das Bild der Anhöhe der Heide mit den Resten der Turmruine und einer Anzahl Personen herausschälte.
„Polizei!!“ hauchte ich entgeistert.
„Ja, – und der Herr da ist unser alter Freund Bechert. Emmenthals Leiche ist sehr schnell gefunden worden…“
Ich stierte auf die sich bewegenden Gestalten, die Hunderte von Meilen von hier entfernt waren. Urplötzlich ging mir eine in gewissem Sinne ernüchternde, trotzdem verblüffende Erkenntnis auf.
„Hobbard hat einen erstaunlich vervollkommneten Fernseher konstruiert‥? – Ist es so?“
„Ja. Und es handelt sich um einen Apparat, der alles auf diesem Gebiet bisher Bekannte unendlich übertrifft, es handelt sich eben um einen perfekten Fernseher. Du mußt nun nicht annehmen, daß das Problem 3 X 3 durch unsere Aufdeckung der Verschleierungskünste des Lords auch nur das geringste von seiner unheimlichen Färbung eingebüßt hat. Keineswegs. Ich möchte nur auf einen Punkt hinweisen. Weshalb hat Hobbard seine großartige Erfindung seit Monaten der Öffentlichkeit vorenthalten?! Weshalb meldete er sie nicht zum Patent an?! – Der Grund ist klar! Er selbst weiß am besten, wozu er seine Erfindung vorläufig nur für sich verwerten will! Mit den Morden dürfte er nichts zu tun haben, im Gegenteil, sie haben seine Nerven schwer zerrüttet, und er steht hier sicherlich vor einer unfassbaren Tatsache. Andererseits kann er nicht vollkommen schuldlos sein. Wollte ich dir, mein Alter, meine Vermutungen über die inneren Zusammenhänge des geheimnisvollen Fragenkomplexes auseinandersetzen, würdest du mich für… – halt, was ist das?! Schau hin, – bei Gott, es ist Heinz Gerling, den man…“
Das weitere hörte ich nicht…
Das Bild auf den Fliesen nahm alle meine Gedanken in Anspruch.
Gerling war verhaftet worden! Zwei Kriminalbeamte führten ihn ab und hinterdrein schlich mit eingekniffener Rute sein treuer Pollux.
Während wir beide noch die deutlich zu verfolgenden Vorgänge, die dort unweit eines Berliner Vorortes sich im Mondlicht abspielten, wie gebannt beobachteten, vernahmen wir im Garten von ‚The Ghost-Castle‘ den schrillen, hellen Schrei einer Frauenstimme…
Erst nur einen einzelnen, unverständlichen Ruf… Dann klar und durchdringend den Hilfeschrei:
„Herr Harst, retten Sie mich… Er … erwürgt nicht…“
Da nochmals ein schrilles Kreischen…
Und … Stille…
Nur die Baumkronen rauschten wispernd und friedvoll…
„Es war Erna Morgans Stimme!“ –
Und Harst eilte zur Tür…
4. Kapitel
Ernas Großvater.
An dem Tage, der dieser Nacht vorausging, hatte sich Erna Morgan für den Nachmittag von Sigurd Emmenthal Urlaub erbeten.
Als sie vor dem Riesenschreibtisch, hinter dem Emmenthal wie ein scheußlicher Polyp mit lüsternem Grinsen herausfordernd selbstbewußt wie immer thronte, mit einem ihr sonst ungewohnten Gefühl von Befangenheit und leichtem, begreiflichem Widerwillen gegen diesen unangenehmen Menschen abwartend und unter seinen taxierenden Blicken immer stärker angewidert dagestanden hatte, fragte sie sich abermals, weshalb wohl ihr greiser Großvater, den sie so über alles liebte und vor dem sie doch auch wieder eine gewisse Scheu empfand, ihr wohl zugemutet haben mochte, gerade hier eine Stellung anzunehmen, die doch alles andere als erfreulich war.
Der Seniorchef Sigurd mochte ja noch hingehen. Er verdiente es kaum, ihm seine Anzüglichkeiten zu verargen. Er war eben seiner Wesensart nach so grundgemein, daß er für diese niedere Gesinnung persönlich nicht verantwortlich zu machen war.
Anders sein Sohn Siegfried.
Dieser strohblonde, äußerlich recht annehmbar wirkende Lebemann, bei dem nur geringe Körpermerkmale auf die väterliche Ahnenreihe hinwiesen, während er alles andere seiner Mutter, einer englischen Tänzerin dritten Ranges, verdankte, war der Typ jener nach 1918 neu erstandenen Pseudokavaliere. Siegfried Emmenthal war friedliebend bis zur Hinnahme gepfefferter Ohrfeigen. Anderseits versuchte er allzeit mit wohlgespickter Börse den Schürzenjäger zu spielen. Wo er abgeblitzt wurde, und dies war ihm bei Erna Morgan sehr eindeutig passiert, wurde er rachsüchtig und gemein. Auch Heinz Gerlings Entlassung war sein Werk. Er wollte Erna indirekt dadurch treffen.
Heute hatte nun Vater Emmenthal seinen gönnerhaften Tag. Dieses schlanke Mädel da, das so seltsam fremdartig und vornehm ausschaute, würde vielleicht durch einen Tausender zu ködern sein.
Emmenthal spitzte die Wulstlippen und fragte ölig:
„Also Ihr Großvater ist krank… Nun, es wird wohl nicht so schlimm sein… Ihm fehlt es wahrscheinlich nur an guter Pflege… Bitte, – nehmen Sie dies, Fräulein Morgan, – als Anerkennung für Ihre Arbeitsfreudigkeit…“
Und er hielt ihr die Banknote über den Tisch hin.
Erna warf den rassigen Kopf mit der eigentümlich olivfarbenen Haut jäh in den Nacken.
„Ich bedaure, Herr Direktor‥! – Habe ich Urlaub?“
„Ja‥!“ grunzte der Koloß tückisch. „Ja – – für immer. Ich kann so impertinente Angestellte nicht brauchen. Lassen Sie sich ein Monatsgehalt auszahlen, und dann … verschwinden Sie!“
Unter dem eisigen, verächtlichen Blick des Mädchens flammte in ihm die Wut auf.
„Raus!!“ brüllte er… „Raus!!“
Seine Faust hieb dröhnend auf die Tischplatte.
„Oh, ich bin nicht schwerhörig,“ sagte das Fräulein Morgan mit verfängliche Ruhe. „Aber Sie haben heute den Anruf Ihres 3 X 3-Freundes verpaßt, Herr Direktor… Er erinnert Sie nochmals an das nächtliche Stelldichein, er glaubte wohl, Sie wären am Apparat… – Ich gehe.“
Sie wandte sich um. Die Tür knallte zu. Sie hatte gerade noch gesehen, wie Emmenthal aschfahl wurde und kraftlos zusammensackte.
Als sie um ein Uhr mittags das Geschäftshaus verließ und in den strahlenden Sonnenschein hinaustrat, im Arm die Mappe mit den Entlassungspapieren und anderen Dingen, hatte ihr Antlitz wieder jenen verschlossenen, ernsten und nachdenklichen Zug, der ihre seit langem eigentümlich war. Sie fuhr mit einem Autobus aus der City gen Westen und betrat draußen am Rande der Vororte ein Eckhaus, stieg die Hintertreppe im Gartenhaus empor und öffnete die Flurtür einer sehr bescheidenen Zweizimmerwohnung, hielt sich hier jedoch nur wenige Minuten auf und betrat durch eine von einem Schrank verkleidete Mauertür eine der großen eleganten Etagen des benachbarten Vorderhauses, wo ein älterer Diener, zweifellos ein Asiate, ihr Mantel, Schirm und Mappe abnahm und in fließendem Englisch mit ergebener Vertraulichkeit meldete, der Sahib Gordamoore befinde sich in der Bibliothek.
„Es ist gut, Patur,“ nickte Erna ihm freundlich zu. „Denke dir, auch mich hat Emmenthal nun hinausgeworfen…“
Patur verneigte sich. „Herrin, deine Zeit war vorüber,“ erklärte der Inder einfach.
Erna warf ihm einen forschenden Blick zu. Aber sie fragte nicht, sie wußte ja, sie erhielt doch nie eine befriedigende Antwort.
Arthur Gordamoore, der sich seit Jahrzehnten nur noch Gordam nannte und Deutscher geworden war, war ein hagerer Greis mit feinen, verträumten Zügen. Er hielt sich sehr aufrecht trotz seiner fast achtzig Jahre, trug sich stets tadellos gekleidet, und so, wie er nun seine einzige Enkelin sehr galant erst durch Hand- und dann durch Stirnkuß begrüßte, stellte er einen Vertreter jener Epoche dar, in der das Wort ‚englischer Gentleman’ wirklich noch etwas gegolten hatte.
Genauso vornehmen wie der greise Herr war die Bibliothek, in der Großvater und Enkelin nun Platz nahmen. Gediegener Geschmack verband sich hier mit den Anzeichen ungewöhnlichen Reichtums und mit der Vorliebe für Andenken an exotische Kulturepochen.
Gordamoore betrachtete seine Enkelin eine Weile mit weichem Lächeln.
„War der Mann sehr grob, mein armes Kind?“ fragte er halb scherzend.
Erna lächelte zurück.
„Es ging an, Großvater… – Wußtest du, daß er mich entlassen würde? Patur jedenfalls wußte es.“
Er überhörte die Frage. Seine dunklen Träumeraugen glitten irgendwohin in eine Ecke.
„Du mußt Gerling aufsuchen, mein liebes Kind,“ erklärte er leise.
„Gerling?!“ Erna errötete. Was wußte der Großvater von Heinz Gerling?! Würden denn diese kleinen und großen Geheimnisse, von denen sie seit Jahren umgeben war, denn niemals ein Ende nehmen oder ihr wenigstens erklärt werden?!
Gordamoore vermied es auch weiter, sie anzusehen.
„Wundere dich über nichts! – Die Mahnung kann ich nur immer aufs neue wiederholen,“ meinte er so gedämpften Tones, als scheute er sich, dieses Thema abermals anzuschneiden. „Wir sind eben keine alltäglichen Menschen, mein Kind… Damit mußt du dich abfinden. Wir haben eine Mission zu erfüllen. Wohl dem, der von sich sagen darf: Ich habe eine Mission! – Das prächtige Maiwetter begünstigt einen Ausflug nach der Insel Kälberwerder zu deinem … Freunde Gerling. Und wenn du bei ihm bist, Erna, so bringe ihm irgendwie bei, daß er heute Nacht ab halb zwölf mit seinem Hund in der Nähe der Ruine der uralten Ziegelei westlich von Sakrow sich verbergen, jedoch um keinen Preis der Ruine weiter als bis auf zweihundert Schritt sich nähern soll… – Alles hat seinen Zweck, mein Kind. Wir sind Missionare der heiligen…“ – Er brach plötzlich ab, drehte den Kopf und schaute in Ernas tränenumflorte Augen.
„Großvater,“ stieß sie leidenschaftlich hervor, „Verzeih mir, – – aber dies alles ertrage ich nicht länger! Dies alles zermürbt mich. Woher deine Kenntnis von der Existenz Gerlings, den ich vor dir nie erwähnt habe, – woher deine Kenntnis von der Ruine des Schornsteins der alten Ziegelei?! Dorthin hat der Unbekannte heute Nacht auch Emmenthal bestellt, und…“
Der Greis hatte ihre Hand ergriffen. Erna gewahrte in seinen Zügen neben dem Ausdruck tiefsten Schmerzes den einer finsteren, drohenden Entschlossenheit.
„Mein Kind, wir haben nichts zu fragen, wir haben nur zu gehorchen…“ sagte er trotzdem mit tröstender Güte. „Gehorche auch du! Du bist das liebe Andenken an meine einzige Tochter, deine Mutter, und auch die hatten niemals etwas zu wissen verlangt, worüber ich selbst ihr vielleicht kaum hätte Auskunft geben können.“
Patur trat ein und meldete, daß die Mahlzeit angerichtet sei.
Der Nachmittag brachte Erna ein paar glückselige, gleichsam erlösende Stunden. Daß sie Gerling liebte, darüber hatte sie längst Klarheit gewonnen. Und als er ihr nun vor seinem Robinsonzelt, endlich seine ängstliche Scheu überwindend, seine Liebe erklärt hatte und im Glücksrausch das so leicht eroberte, angebetete Mädchen immer wieder geküßt hatte, da war er wie verwandelt.
„Du ahnst ja nicht, was du mir durch deine Liebe schenkst und wovon du mich befreist, mein Liebling,“ flüsterte er ihr in heißer Zärtlichkeit zu, während er sie auf dem Schoß hielt und sie ihr Köpfchen an seine Brust gebettet hatte. „Ich war so namenlos verbittert, Erna… Nie, nie habe ich im Leben Erfolg oder eine freudige Minute gehabt… – Freilich, – – die Zukunft für uns beide?!“
Er seufzte schwer.
Erna lachte leise und übermütig.
„Die Zukunft?! – Ich bin reich, sehr reich, und es wäre töricht von dir, wenn…“
„Du – – reich?!“
„Ja, es ist so…“ Plötzlich wurde sie sehr ernst. „Ich … hätte noch eine Bitte vorzubringen, Heinz…“ – Es wurde ihr unendlich schwer, ihn zu belügen. „Jemand, den ich nicht nennen darf, verlangt von dir, daß du heute nacht…“ sie stockte, und sie entledigte sich nur sehr zögernd ihres Auftrages, ohne zu erwähnen, daß Emmenthal sich gleichfalls bei dem alten, einsamen Gemäuer einfinden würde.
Gerling nahm die Sache sehr leicht.
„Ein Wunsch, den du mir übermittelst, ist mir Befehl, mein Liebling…“
Er küßte sie, dann bestiegen sie sein Faltboot, ruderten auf den belebten Fluß hinaus und schauten sich immer wieder glückselig in die strahlenden Augen.
Erst um neun Uhr abends kehrte Erna heim. Es war eine Eigentümlichkeit ihres Großvaters, die Abende stets außer Haus zu verbringen. Erna hatte sich längst daran gewöhnt. Sie ging früh zu Bett. Der Aufenthalt im Freien hatte sie müde gemacht. Sie bewohnte eine Flucht von drei überaus eleganten Räumen. Ihr Schlafzimmer hatte Ausblick über endlose Gärten und Parkanlagen. Sie schlief sehr bald ein, begann zu träumen, wurde im Traum an den Brief erinnert, den sie anonym an den bekannten Privatdetektiv geschickt hatte, und sah plötzlich den Großvater neben ihrem Bett stehen.
„Kind,“ sagte er vorwurfsvoll, „weshalb hast du mir verschwiegen, daß du gerade den Mann auf Emmenthals Furcht vor der 3 X 3 aufmerksam gemacht hast?!“
Ihre seltsamen Traumgesichte wurden immer verworrener… Ein Auto raste mit ihr zu einem Flugplatz, eine große Maschine erhob sich in die Lüfte, – dann sah sie sich in einem fremden, verwilderten Park, bemerkte vor sich ein altertümliches, fremdartiges Gebäude, dessen oberste Fensterreihen strahlend hell waren…
Flüchtig erkannte sie droben am Fenster das Profil des Mannes, der zumeist beim Lösen dunkle Rätsel Erfolg hatte…
Und jäh ward da ihr Hals von knochigen Fäusten umklammert…
Sie glaubte zu ersticken…
Sie schrie um Hilfe…
Und Angst und Entsetzen raubten ihr für lange Stunden das Bewußtsein. Als sie erwachte, war’s heller Vormittag.
Aber unheimlich deutlich lebte in ihr noch die Erinnerung an die grauenvolle Traumvision. Sie griff nach einem Spiegel…
Sie erbleichte, ihre Augen weiteten sich. An ihrem Halse gewahrte sie die Spuren der Krallenhände, von denen sie gewürgt worden war. –
Als sie beim Frühstück dem Großvater all das Schreckliche dieser Nacht berichtete, schaute er geistesabwesend ins Leere.
„Wir haben eine Mission, mein Kind!“ sagte er hart.
„Großvater, – du kennst die Bedeutung der 3 X 3!“ rief sie flehend. „Gibt es nur zu, du kennst sie!“
„Nein!!“ Er blickte sie wehmütig an. „Würde ich sie kennen, Erna, dürften wir unsere Mission als beendet betrachten…“
Das Mädchen erschauerte…
Wieder fühlte sie um sich her das Wehen geheimnisvoller Mächte wie finstere Wolken, durch die sie hindurchschreiten mußte, – mußte, ob sie wollte oder nicht … einem fernen, unbekannten Ziele entgegen…
5. Kapitel
Der Verdacht gegen Arthur Gordam.
Am Abend des nächsten Tages war’s. Im Amtszimmer des Kriminalkommissars Bechert saßen drei Herren, rauchten und erörterten Dingen, an die selbst ihr geübter Spürsinn nicht herankonnte, als ob eine eherne Mauer diese Rätsel umschlösse.
„Und dann?“ fragte unser Freund Bechert sinnend.
„Dann durchsuchten wir den Garten des Geisterhauses und fanden – nichts,“ erwiderte Harald leise und blickte den Wölkchen seiner Zigarette nach. „Von Erna Morgan entdeckten wir nirgends eine Spur, und doch war es bestimmt ihre Stimme gewesen, die ich hörte. Gewiß, ich habe mit dem jungen Mädchen nur zweimal am Fernsprecher mich kurze Zeit unterhalten und von ihr Gerlings neuen Aufenthaltsort erfahren. Aber ihre Stimme besitzt einen so eigentümlichen Wohllaut, daß man sie sich leicht merken kann.“
Bechert schien diese Einzelheiten wenig interessant zu finden. „Und was sagte der Lord dazu, als Sie vormittags schon wieder abreisten?“ munterte er Harst zu einem beschleunigteren Erzähltempo auf.
„Hobbard?! Der schien sehr einverstanden, daß wir erst einmal hier in Berlin über Emmenthals Tod Einzelheiten zusammentrügen, lieber Bechert. Noch zufriedener schien der uralte Inder Praßwati zu sein. Der Segenswunsch, den er uns auf den Weg mitgab, lautete: ‚Auch Zahlen können töten, Herr Harst!!’ Das flüsterte er mir zu, als er unsere Koffer mit verblüffender Kraft in das Auto hob.“
Bechert wurde lebhaft. „So, so‥: Zahlen können töten!! – Und was erwiderten Sie, lieber Harst?“
Harald lachte. „Ich machte das dümmste Gesicht, das ich irgend fertigbrachte, und fragte arglos: ‚Welcher Art Qualen meinst du, weiser Praßwati? Etwa die Qualen des Gewissens?’ – ‚Ja, Herr,’ nickte er, indem er mich fortgesetzt beobachtete… ‚Ja – Gewißensqualen!’.“
„Mithin wollte die Mumie nur auf den Busch klopfen?“
„Gewiß. Er wollte dadurch, wie ich auf das Wort ‚Zahlen’ reagieren würde, feststellen, ob ich etwa in den Steinfliesen die 3 X 3 und dem Kreis herausgefühlt habe. Mithin kennt er die 3 X 3 bestimmt. Er hatte sich verraten, ich nicht. Er grinste uns freundlich nach, als ob eine große Last von seiner Seele genommen sei. Was an dieser seiner Seele daran ist, wird die Zukunft lehren.“
Freund Bechert rieb sich nachdenklich das Kinn.
„Halten Sie Praßwati für einen indischen Yogi, Harst?“
„Ja. Und sogar für noch mehr als nur einen Yogi. Die geheimen Wissenschaften der echten Yogi, zu denen ich nicht die Schlangenbeschwörer und ähnliche Jahrmarktskünstler rechne, sind eng begrenzt. Die Brüder vom Orden der Rosenkreuzer betrieben alle schwarzen Künste – alle, waren erstklassige Chemiker, Giftmischer, Edelmetallfälscher und vieles andere. Ich behaupte, die Vorfahren Praßwatis waren Rosenkreuzer. Der Orden hatte in allen Ländern Mitglieder.“
„Eine kühne Behauptung… – Aber lassen wir das jetzt. Was sagen Sie zu Gerlings Angaben und zu den Erna Morgans? Das Mädchen hat nichts verschwiegen in ihrer Verzweiflung, als sie heute mittag bei mir war, nachdem sie in den Mittagsblättern von Gerlings Verhaftung gelesen hatte. Macht es nicht den Eindruck, daß Ernas Großvater den armen Gerlingen geradezu ins Verderben locken wollte?! Weshalb mußte Erna ihn in die Nähe der Turmreste der alten Ziegelei bestellen?! Weshalb?!“
Harst hob die Schultern. „Das weiß ich – – noch nicht. Wir werden es aber herausbringen. – Wie kam es übrigens zu Gerlings Verhaftung?“
„Auf die einfachste Weise der Welt! Die Polizeihunde stöberten ihn und seinen Pollux in dem Gebüsch auf. Herr und Hund … schliefen dort!!“ Bechert schmunzelte dazu ironisch. „Beide schliefen so fest, daß sie erst wachgerüttelt werden mußten.“
Harst beugte sich überrascht ganz weit über den Tisch.
„Wie?! Sie schliefen beide?! Und dazu lächeln Sie, Bechert?! Ich hätte Ihnen mehr Spürsinn zugetraut.“
„Inwiefern?“ Bechert wurde etwas verlegen.
„Insofern, als die Behauptung Gerlings dann schon stimmen wird, daß er Emmenthal lebend vor der Ruine gar nicht mehr gesehen habe und daß er in dem Gebüsch sofort von einer unerklärlichen Müdigkeit befallen wurde.“
Bechert zog zweifelnd die Nase kraus. „Harst, wenn ich auch Gerling für unschuldig halte, – das mit der unbegreiflichen Müdigkeit ist Schwindelei! Eingeschlafen mag er sein. Aber infolge natürlicher Müdigkeit.“
„Das werden wir sofort feststellen. Lassen Sie ihn vorführen,“ sagte Harald recht schroff.
Bis zum Erscheinen Gerlings schwiegen wir. Ich überflog nochmals das Protokoll, das Erna Morgan unterzeichnet hatte. Nach diesem Protokoll und den Aussagen Gerlings habe ich das vorige Kapitel zusammengefügt und nichts ausgelassen. –
Gerling nahm mit am Tisch Platz, rauchte sich sofort die von Harst gespendete Zigarette an und erzählte dann auf Haralds Bitte nochmals ganz genau, wie er gegen halb elf mit seinem Boot und Pollux die Insel verlassen habe, wo er gelandet sei, und so weiter
„In Ihrer Schilderung fehlt etwas, lieber Herr Gerlingen,“ meinte Harald hinterher. „Sie haben eine Kleinigkeit vergessen, die Sie für unwichtig halten. Als Sie Ihr Boot im Röhricht versteckt hatten und zur Ziegelei wanderten, begegnete Ihnen jemand.“
Gerling nickte. „Allerdings… Es war jedoch nur ein alter Hausierer, der mich flehentlich bat, ihm etwas abzukaufen.“
„Und Sie taten’s, nicht wahr? Er handelte auch mit den üblichen Süßigkeiten. Vielleicht nahmen sie ihm eine Stange Pfefferminztabletten ab.“
Gerling bestätigte es. „Ich bin verblüfft, Herr Harst. Wie konnten Sie dies vermuten?!“
„Weil Ihre und Ihres Hundes Müdigkeit, wie ich mir sagte, auf sehr natürliche Ursachen zurückgeführt werden müßte. Frißt Ihr Pollux Pfefferminz?“
Gerlings kantiger Charakterkopf nickte eifrig. Über seine verschlossenen Züge flog ein Lächeln hin. „Und ob!! – Er frißt alles.“
Auch Bechert lachte. „Das stimmt. Ich habe Pollux nämlich in Pflege genommen, lieber Harst.“
Harald blieb unberührt durch Bechers Heiterkeit.
„Wie sah der Hausierers aus, Herr Gerlingen?“ wandte er sich sehr ernst an den jungen Menschen, der seine Verhaftung mit aller Ruhe hingenommen hatte „War der Mann ein Inder?“
„Inder?! Nein. Bestimmt ein Europäer. Er trug einen kurzen weißen Bart und eine höchst unmoderne Nickelbrille…“
„War er etwas über Mittelgröße und hager?“
„Ja…“
Harald wechselte einen raschen Blick mit mir und Bechert. Wir hatten schon vorhin über Arthur Gordamoore-Gordam, Ernas Großvater, gesprochen. Der Hausierer konnte Artur Gordam gewesen sein.
Bechert, der nun alle Gleichgültigkeit abgestreift hatte, erklärte, daß man bei Gerling noch fünf in Staniol gewickelte Pfefferminztabletten gefunden habe. Er würde sie durch den Gerichtschemiker untersuchen lassen.
Harst hatte sich erhoben.
„Gut. – Noch eine Frage, Bechert, bevor wir zum Tatort hinausfahren. Was ergab die Obduktion der Leiche Emmenthals?“
„Genau denselben eigentümlichen Befund wie bei den anderen Toten. Ätzungserscheinungen der Luftwege und der Lunge, die jedoch mit dem klinischen Bild von Gasvergiftungen nicht übereinstimmen.“
Harald griff nach Mantel und Hut.
„Gerlingen kommt mit… Fahren wir nach Sakrow hinaus.“
6. Kapitel
Mißglückte Mordversuche.
Das Dienstauto Becherts, von ihm selbst gesteuert, jagte durch die mondhelle Nacht. Bevor wir das Präsidium jedoch verlassen hatten, waren wir noch in die Abteilung hinübergegangen, die für die Beamten in dringenden Fällen die Gasmasken ausgibt. Harst hatte die modernsten Gasmasken mit Patronen gegen das gefährliche Kampfgas, das sogenannte Pfeffergas, ausgewählt.
Die Fahrt verlief überaus schweigsam. Harald saß vorn neben Bechert, – Gerling und ich hinten auf den Rücksitzen. Gerling fragte mich nur ein einziges Mal in vorsichtigem Flüsterton, ob etwa Ernas Großvater der Hausierer gewesen sei. Ich antwortete etwas ablehnend, Bestimmtes ließe sich hierüber vorläufig nicht sagen.
Gerling seufzte bedrückt. Er besaß doch so viel Kombinationstalent, das er zu einer leider sehr wahrscheinlich zutreffenden Schlußfolgerung über den Hausierer gelangt war.
Das Auto hielt.
„Legen wir die Gasmasken an,“ meinte Harst und spähte scharf zur Ruine hinüber, die wieder im vollen Mondlicht verträumt auf der Heidekuppe die Reste ihres dicken Schornsteins in den klaren Nachthimmel reckte.
Wir schlichen durch die dünnen Buschstreifen näher heran und machten plötzlich auf Haralds leisen Zuruf Halt.
Zweierlei bemerkten wir jetzt: Erstens eine Frauengestalt, die zwischen den Sträuchern am Fuße des Turmes stand, und einen Mann, der von Norden langsam und offenbar sehr mißtrauisch herbeikam.
Die Frau war Erna Morgan, der Mann ihr Großvater, wieder in Hausierertracht mit umgehängtem Kasten.
Harst flüsterte schnell: „Wartet auf mich!“
Er huschte davon.
Da geschah etwas so Ungewöhnliches, völlig Unerklärliches, daß wir drei wie erstarrt in die Ferne schauten. Auch Harst hatte sich lang ins Heidekraut gedrückt.
Irgendwoher war jählings ein Blitz aufgezuckt, ohne jedes Geräusch, – ein Blitz, der parallelen zum Erdboden in etwa zwanzig Meter Höhe erschien und aus einer dünnen, gewellten Linie von bläulichen Punkten bestand. Die seltsame Lichterscheinung erlosch sofort wieder, der Hausierer hatte kehrtgemacht und flüchtete in eine Waldzunge, die der alte Forst bis dicht an die Ruine von Norden her vorschickte.
Erna Morgan wieder hat ihr Versteck verlassen und trat nun ins Freie auf den wenig begangenen Fußpfad hinaus, den die Umwohner nach den geheimnisvollen Todesfällen ängstlich mieden.
Harst sprang empor, rannte mit weiten Sätzen auf das junge Mädchen zu und rief mit voller Lungenkraft:
„Zurück!! Zurück!!“
Er hatte die Gasmaske abgenommen.
Erna gehorchte zögernd. Wir sahen, wie Harald in langem Sprung über den Pfad hinwegsetzte, Erna am Arm packte und sie im Bogen zu Becherts Auto führte.
Auch wir kehrten um. Gerling war nicht mehr zu halten. Er stürmte voraus. Als das Mädchen ihn erkannte, lief sie ihm entgegen und sank ihm weinend an die Brust, umklammerte ihn und drohte ohnmächtig zu werden.
Harst winkte uns beiseite. Er war sehr bleich, und seine Stimme klang ganz rauh, als er atemlos hervorstieß: „Erna Morgan muß uns die Wahrheit sagen! Sie wird sich wieder beruhigen, da Gerling den größten Einfluß auf sie hat.“
Bechert betupfte sich die Stirn. „Verdammt, Harst, – was für eine Sorte Blitz war denn das?! Allmählich ergeht es mir wie Schraut im Geisterhaus des Lords. Mir kriecht das Frösteln über den Rücken!“
Harald nickte ernst. „Ich fürchte, wir werden dieses Grauen noch mehrfach verspüren, bevor wir den Dingen bis auf den tiefsten Grund gekommen sind, – – falls es uns überhaupt gelingt. – Jetzt wollen wir Erna mit aller Zartheit ins Verhör nehmen.“
Erna Morgan saß neben Gerling auf dem Trittbrett der Limousine. Der junge Mann hielt sie eng umschlungen. Sie war bereits wieder völlig gefaßt.
„Nein, – ich will nichts verschweigen, Herr Harst,“ erklärte sie freimütig. „Den ganzen Umständen nach mußte ich nach Heinz’ Verhaftung gegen meinen Großvater Verdacht schöpfen. Denn der hatte Heinz hierher bestellt. Mein Großvater ist abends bis spät in die Nacht nie daheim oder doch für mich nicht zu sprechen. Unser Leben, stets von Geheimnissen umwittert, hat mich vor der Zeit reif und scheu und verschlossen gemacht. Heute abend nun bin ich den Großvater heimlich gefolgt, nachdem er sich in der Nebenwohnung verkleidet hatte. Als er in einer Autotaxe den Weg nach Sakrow einschlug, folgte ich in einer zweiten Taxe, eilte ihm dann voraus und wollte feststellen, was er hier vorhätte. Auch ich sah den sonderbaren Blitz, Herr Harst, ich sah den Großvater fliehen, – – ich finde mich in alledem nicht mehr zurecht,“ schloß sie ihre mit wachsender Erregung hervorgestoßenen Sätze. „Wenn ich jetzt Heinz nicht an meiner Seite wüßte, würde ich dieses schreckliche Dasein von mir geworfen haben…“
Ihre Stimme schwankte, und aufschluchzend lehnte sie sich noch enger an den Mann, der ihrem Dasein nun einen neuen beglückenden Inhalt gegeben hatte.
Harst raunte Gerling zu, die Umgebung sorgfältig im Auge zu behalten, und drückte ihm mit vielsagender Geste eine Pistole in die Hand.
Wir drei schritten der Ruine wieder zu.
„Gasmasken überstreifen!“ befahl Harald kurz. „Nun werde ich, so hoffe ich, lieber Bechert, Ihnen zeigen können, wie die Männer hier ermordet wurden, deren Tod Lord Hobbard mitbeobachten mußte, weil eine höhere Macht es so wollte.“
Wir betraten den Fußpfad, den Pfad des Todes. Harald deutete auf das Heidekraut, das neben dem Weg wucherte. Es war abgestorben, es sah wie verbrannt aus, ohne daß dies weiter auffiel, da es ringsum noch mehr derartige Stellen gab, an denen die Pflanzen verdorrt waren.
Harst blieb stehen. Er hatte sich vorhin eine dicke Haselnußrute zurechtgeschnitzt und unten angespitzt. Bechert trug den kleinen Handspaten aus dem Werkzeugkasten seiner Limousine. Nachdem Harald den Stock tief in den lockeren Sandboden gebohrt hatte, winkte er dem Kriminalkommissar zu. Bechert begann zu graben. Schon nach den ersten Spatenstichen stieß er auf Widerstand, legte ein verrostetes Drahtnetz frei, das scheinbar zufällig hierher geraten war.
Ich will mich kürzer fassen. – Wir entdeckten so an vier Stellen des Pfades folgende teuflische Einrichtung. Die Drahtnetze lagen hohl, das heißt unter ihnen gab es eine mit Felssteinen umgrenzte, scheinbar auch sehr harmlose Vertiefung. Schritt nun jemand wartend auf dem Pfad vor der Ruine auf und ab, so mußte unweigerlich Folgendes eintreten: Der arglose Wanderer drückte die Erdschicht über dem Netz etwas nieder, das Netz bog sich nach unten durch und preßte gleichzeitig ein Aststück herab, das den Verschluß einer Giftgasstahlflasche öffnete. Das Gas strömte aus, durchdrang die lockere Erdschicht und tötete den ahnungslos Wartenden.
Harst hatte die Verschlüsse der Stahlflaschen wieder zugedrückt, winkte uns, und wir verließen die gefährdete Zone, nachdem wir den Sandboden wieder geglättet hatten.
Der Nachtwind wehte so, daß das bereits ausgetretene Giftgas auf die Ruine zugetrieben wurde und uns nicht weiter verderblich werden konnte. Wir nahmen also getrost die Gasmasken ab und blieben fünfzig Meter vor dem Auto im Schutz des Buschwerks stehen. Hier verbarg Harst die Stahlflaschen, hier sagte er mit einem Grimm, der verständlich war:
„Erna Morgan und ihr Großvater sollten ermordet werden‥! – Ich habe Erna noch etwas zu sagen…“
Das junge Mädchen blickte uns scheu entgegen.
„Was fanden Sie?“ meinte sie schnell. „Etwa Beweise gegen meinen Großvater?!“
„Nein, nichts,“ erwiderte Harst zweideutig. „Beantworten Sie mir bitte zwei Fragen. Erstens: Wie kamen Sie auf den Gedanken, Ihren Großvater heute zu verfolgen?“
Erna dachte eine Weile nach. „Ich war nach dem Besuch im Polizeipräsidium heute Nachmittag sehr erschöpft, deshalb ruhte ich mich daheim etwas aus und schlief ein…“
„Und wie nahm Ihr Großvater Ihre Mitteilung hin, daß Sie bei Kriminalkommissar Bechert gewesen waren?“
„Ihm war es gleichgültig. Die Freude darüber, daß ich mich mit Heinz verlobt hatte, nahm all seine Gedanken in Anspruch. – Ich war also eingeschlafen. Ich träume regelmäßig sehr lebhaft. Besonders häufig sitzt im Traum mein Großvater neben mir und teilt mir seine meist recht sonderbaren Befehle mit…“
Harst betrachtete sie forschend. Der Mond schien ihre gerade ins Gesicht. „Und sie träumten also, daß er Ihnen befahl, heute nacht die Ruine hier aufzusuchen?“ fragte er leise und eigentümlich gedehnt.
„Ja,“ erwiderte sie bedrückt. „Und dies gab mir den Anstoß, Großvater heimlich zu folgen, denn heute nach dem Erwachen aus dem traumerfüllten Schlaf kamen mir zum ersten Male allerlei Bedenken, ob es wirklich mein Großvater wäre, der mir beständig im Traum erschien.“
Ich sah, wie sie leicht erschauerte und sich schutzsuchend noch enger in Gerlings Arme schmiegte.
Mir selbst erging es ähnlich wie diesem jungen Mädchen mit dem dunklen Teint und dem exotischen, rassigen Gesichtsschnitt… Auch ich empfand irgendwie ein Grauen, für das ich keine rechte Erklärung hatte. Meine Erinnerung überflog Hunderte von Meilen und zauberte mir das ehemalige Kloster der Rosenkreuzerbrüder dort in England vor Augen… Ich hörte wieder Erna Morgans Hilferufe im Park…
Erna hatte dasselbe … geträumt. Aber die Würgemale an ihrem Hals bewiesen … das Gegenteil.
Und wieder lief mir ein Eiseshauch über den Rücken hin. Ich begann das 3 X 3 allen Ernstes zu fürchten…
7. Kapitel
Harst, der Geistersucher.
Auf der Heide rings um das Auto herrschte nun minutenlang beklemmendes Schweigen. Die Stille wurde nur unterbrochen durch einen Schwarm Krähen, der von der Waldzunge her, durch irgendetwas aufgescheucht, schreiend und krächzend über die Ruine in niederem Flug hinwegstrich, – nein, hinwegstreichen wollte.
Es mochten ungefähr dreißig Saatkrähen sein, – – arme Vögel, – nicht eine einzige blieb verschont.
Urplötzlich verstummte ihr Geschrei…
Urplötzlich vernahmen wir helles, schrilles, qualvolles Todesgeschrei, und leblos sausten die Tiere drüben in das Heidekraut hinab.
Erna Morgan war aufgesprungen.
Entsetzen flackerte in ihren weit aufgerissenen Augen.
„Was – – bedeutete das?!“ hauchte sie heiser und packte Haralds Arm. „Sagen Sie mir die Wahrheit, – – ich bin fähig, auch das Schlimmste hinzunehmen! Ich bin erfahren genug, – – handelt es sich um ein Giftgas, sollte ich getötet werden?!“
„Nicht Sie allein…“ Harald ergriff tröstend und aufmunternd ihre beiden Hände. „Auch Ihr Großvater sollte sterben! – Sie sehen also, er ist schuldlos. Hinter diesen bereits begangenen Morden und Mordversuchen steckt eine treibende Kraft, die ich bisher nicht kenne, die aber kaum durch meine gewohnten Untersuchungsmethoden gefunden werden kann. Ich werde eben … Geistersucher spielen müssen, Fräulein Erna. Beginnen wir sofort damit. Nehmen Sie uns mit in ihre Wohnung. Dort will ich beginnen.“ –
– Patur Singh Dagna, der indische Diener, Vertraute und Sekretär des greisen Privatgelehrten Arthur Gordamoore, lag in seinem Schlafzimmer, bekleidet mit weißen heimatlichen Gewändern und versehen mit der weißen Brahmanenschnur und dem weißen Symbol seiner Kaste mitten der Stirn, mit verschränkten Armen regungslos auf dem Diwan.
Das Licht im Zimmer brannte. Neben dem Diwan stand ein Tischchen, auf dem ein geöffnetes winziges Achatfläschchen und ein langes Schriftstück lagen.
Fünf Personen, darunter ein blasses junges Mädchen, schauten dem Toten schweigend ins Gesicht.
Der Körper des Inders war bereits eiskalt. Der Tod mußte vor langen Stunden eingetreten sein. Harald trat vor, beugte sich über das Schreiben, das in zierlichen lateinischen Buchstaben aufgesetzt war, und verlas mit gedämpfter Stimme den Inhalt:
Berlin, den 20. Mai 192.
Ich, Patur Singh Dagna, scheide freiwillig aus dem Leben, nachdem meine Mission hier auf Erden erfüllt ist. Ich habe mich mit Hilfe eines Pflanzengiftes auf Geheiß dessen, dem ich blindlings gehorche, in das Nirwana hinüberbegeben. Der Zustand, den die unwissenden Europäer ‚Tod’ nennen, kenne ich als Brahmane und Yogi nicht. Mein von mir ehrfürchtig geliebter Sahib Arthur Gordam wird dies bestätigen. Auch er gehört zu den Wissenden.
Er wird dafür sorgen, daß mein Leib nicht den Messern europäischer Gerichtsärzte ausgeliefert wird. Ich verbiete ausdrücklich jeden ärztlichen Eingriff an meinem Leib, und meine Rache wird die treffen, die es wagen, der heiligen 3 X 3 aus blinder Torheit den Gehorsam zu verweigern.
Das Gift in dem Achatfläschchen war ein nur den Yoghis meiner Sekte bekannter Pflanzenwurzelextrakt.
All mein Eigentum hinterlasse ich meinem Sahib.
Dies ist mein Wille, aber nicht mein letzter Wille.
Patur Singh Dagna
3 X 3
… Neben mir ertönte ein schwerer Seufzer. Erna Morgan war einer Ohnmacht nahe. Gerling stützte sie.
Harst hatte sich aufgerichtet.
„Bechert,“ sagte er dumpf, „ich warne Sie als Kriminalkommissar davor, den Körper dieses Mannes irgendwie anzurühren. Es liegt ja zweifellos in gewissem Sinne Selbstmord vor. Veranlassen Sie, daß der Inder zur Einäscherung freigegeben wird und daß sonst nichts geschieht – nichts!“
Bechert nickte stumm.
Wir verließen das Zimmer und begaben uns alle in Arthur Gordamoores Bibliothek hinüber. Hier erholte Erna sich schnell, brachte Erfrischungen herbei und beobachtete dann genau so stumm wie wir meinen Freund, der ruhelos durch den weiten Raum an den hohen, dicht gefüllten Bücherregalen entlangschritt und sich wie ein Tiger im Käfig unaufhörlich im Kreise bewegte.
Plötzlich blieb er stehen, schob mit dem Fuß die Perserbrücken, die den Parkettboden dicht bedeckten, vor einem schmaleren Regal beiseite und enthüllte so eine in das Parkett eingelassene blanke, gebogene Messingschiene.
Er packte die Kante des Regals und zog es wie eine Tür lautlos auf. Nur die Metallrädchen, die auf der Schiene entlangglitten, quietschten leise.
Er winkte uns. Wir traten näher und blickten in eine erleuchtete Nische hinein, in der ein ganzen moderner Kurzwellensender samt drahtloser Telephoneinrichtung montiert war.
Erna Morgan flüsterte wieder sehr scheu:
„Davon ahnte ich nichts‥!“
„Das glaube ich Ihnen, mein Kind,“ nickte Harald gütig und wärmsten Tones. „Sie ahnen vieles nicht.“
Er hob den Arm, drehte an dem Einschalthebel, die Senderröhren leuchteten auf, und sehr bald ertönte aus dem eleganten Lautsprecher ein sanftes Summen.
Harald bedeutet uns durch eine Geste, wir sollten uns still verhalten.
Das Summen verstärkte sich, verklang wieder, und dann hörten wir eine Stimme, die wir, Harald und ich, genau kannten.
Es war die Lord John Hobbards.
„Drei mal drei im Kreis‥!“
Mit diesem Anruf meldete sich die Gegenstation des jungen, grauweißen Gelehrten.
Harst rief gedämpft in das Mikrophon hinein:
„Drei mal drei im Kreise… – Ich muß vorsichtig sein…“
„Ist etwas geschehen?“ lautete die Gegenfrage.
„Ja. Patur wandelte in das Nirwana hinüber…“
„Das habe ich beobachtet, Arthur. Es ist keine Stunde her… Er leerte das Achatfläschchen. Seine Fenster standen offen, und der volle Mond beleuchtete ihn…“
„Harst spürt uns nach,“ erklärte Harald und ließ seine Stimme in erkünstelter Erregung schrillen.
Ein hartes Lachen war die Antwort. „Harst?! Was bedeutet Harst?! Er ist ein Blinder, ein Uneingeweihter…“ Dann folgten ein paar Sätze in Hindostani, die sehr schnell gesprochen wurden.
Obwohl mein Freund das Hindostani nur leidlich beherrscht – wie ich, hatte er die Sätze doch dem Sinne nach erfaßt. Er zuckte etwas ratlos die Achseln und erwiderte – ein Notbehelf – in das Mikrophon hinein: „Das ist wohl wahr, John… Trotzdem muß ich vorsichtig sein…“
John Hobbard schwieg nun sekundenlang. Dann ertönte seine empörte, drohende Stimme:
„Sie selbst sind Harst! Sie sollen ihre plumpen Methoden nicht…“
… Jäh brach die Stimme ab… Allerlei Geräusche kamen durch den Lautsprecher: Stöhnen, Ächzen, Stampfen, – dann ein Schrei, der uns erbleichen ließ:
„Patur mordet mich… Hilfe, – – es ist…“
… Ein scharfes Knacken im Lautsprecher…
Nichts mehr.
Erna Morgan lag bewußtlos in den Armen ihres Verlobten.
8. Kapitel
Patur meldet sich.
Von der Tür her das volle, etwas verträumte Organ Arthur Gordamoores-Gordam. „Ich habe alles mit angehört… Meine Herren, verlangen Sie von mir keiner Aufklärung. Ich habe eine Mission zu erfüllen, und diese Mission verpflichtet mich zum Schweigen. Machen Sie mit mir, was Sie wollen, von mir erfahren Sie nichts!“
Harst entgegnete nur: „Ich hätte mich auch nie bemüht, von Ihnen über Ihre Mission etwas herauszulocken. Ich weiß, daß Sie ein Nachkomme eines der seinerzeit aus England vertriebenen Rosenkranzbrüder sind – genau wie Lord Hobbard noch heute der Brüderschaft angehört.“
Gordamoore starrte ihn seltsam an und preßte nur die Lippen fester zusammen.
Harald wandte sich an Gerling. „Sie bleiben hier, ebenso Bechert, der noch einige Beamte telephonisch herbeordern und die Wohnung und dem Körper des Inders Patur bewachen lassen wird. Schraut und ich empfehlen uns… – Halt, noch … Becher, bitte, folgen Sie uns in den Flur…“
Dort flüsterte er Bechert zu: „Ich weiß nicht, wie lange Schraut und ich in England zu tun haben werden. Lassen Sie Paturs Körper nicht aus den Augen und überzeugen Sie sich, daß der Sarg mit Paturs Leiche auch wirklich mit Inhalt im Krematorium eingeäschert wird! Sie verstehen mich wohl!“
Bechert biß sich auf die Unterlippe und schüttelte ärgerlich den Kopf. –
– Am folgenden Nachmittag hatte der Untersuchungsrichter für den Bezirk Oxford sich den alten Mann vorführen lassen, den die Kriminalbeamten morgens in der Nähe von Ghost-Castle ohne Ausweispapiere aufgegriffen hatten.
Richter Seymour war einer der fähigsten Köpfe der Grafschaft und gehörte mit zu Lord Hobbards heimlichen Widersachern. Das geheimnisvolle Treiben des Professors mit dem so früh ergrauten Kopf war ihm längst verdächtig erschienen, und es hatte ihn daher keineswegs überrascht, daß eine Polizeistreife, die auf Wilddiebe fahndete, in der vorigen Nacht aus dem offenen Fenster des Laboratoriums Hilferufe vernommen hatte, daraufhin in das alte Gebäude eingedrungen war und den Lord mit einer schweren, wenn auch nicht tödlichen Stichverletzung vorgefunden hatte.
Der alte Mann, der sich bisher mit viel Geschick taubstumm gestellt hatte, begann jetzt, da der Richter einen Taubstummendolmetscher hinzugezogen hatte, urplötzlich zu reden. „Schicken Sie den Mann hinaus, Mr. Seymour… Ich habe Ihnen Dinge mitzuteilen, die nur für Sie bestimmt sind.“
Nicht einmal der gespannt lauschende Richter ahnte, daß der Alte schon ganz andere Rätsel gelöst hatte, als etwa hier den Überfall auf Lord Hobbard, bei dem es keinen Täter zu geben schien.
Als Seymour mit dem Weißbart allein war, fragte er kurz: „Wer sind Sie nun eigentlich, und wie kommt es, daß Sie mehrere Patentdietriche bei sich trugen – Setzen Sie sich… Bitte… – Wer sind Sie also?“
„Harst, aus Berlin, bisher Privatdetektiv, jetzt Geistersucher…“
Seymour stutzte. „Geistersucher?! – Harst kenne ich wohl… Aber nicht als Geistersucher.“
„Ich fürchte,“ erwiderte Harald, während er zur Tür ging, sie öffnete und mich, der gleichfalls verkleidet war, einließ… „ich fürchte, daß die Umstände mich zwingen werden, meinen Beruf umzutaufen.“ Er sprach voll tiefsten Ernstes, und der englische Richter wurde noch stutziger. „Hier mein Freunden Schraut wird Ihnen bestätigen, Mr. Seymour, daß wir in Berlin den Überfall auf Lord Hobbard mit angehört haben. Sie werden ja den modernen Kurzwellentelephoniesender und -empfänger in Hobbards Laboratorium gefunden haben, genau wie die Polizeistreife im Geisterhaus dort auch den uralten Inder Praßwati scheinbar entseelt, durch eigene Hand vergifte und mit einem leeren Achatfläschchen und einem Testament neben sich bereits steif und kalt in seinem Zimmer vorfand, übrigens eine Art Selbstmord, wie wir in Berlin fast um dieselbe Stunde feststellen konnten… Um Praßwati zu sehen, dessen Übergang in das Nirwana, in das Nichts, in die Ewigkeit, ich vorausahnte, drang ich in das Geisterhaus ein.“
Seymour hatte sich weit über den Tisch gebeugt und starrte Harst fast fassungslos an. „Entschuldigen Sie, Mr. Harst, aus Ihren Andeutungen werde ich wirklich nicht klug… Scheinbar entseelt soll Praßwati sein, wie Sie sagten, – – scheinbar?! Ich bitte Sie, der Mann ist tot!“
Harald lehnte sich leicht an den Tisch des Richters und begann. –
„Ich will Ihnen eine Art Kriminalfall erzählen, der mit einem anonymen Brief eines jungen Mädchens an mich einsetzte. Diese Ärmste ahnte nicht, daß sie einen Stein ins Rollen brachte, der auch sie und ihren Großvater fast zermalmt hätte…“
Er schilderte dann in großen Zügen die bisherigen Ereignisse und schloß mit den Sätzen: „Ich habe einen Teil dieses Rätsels jetzt gelöst. Was an Ungeklärtem noch übrig bleibt, wird wahrscheinlich ewig dunkel bleiben. Begeben wir uns nach ‚The Ghost-Castle’, Mr. Seymour. Dort erfahren Sie alle Einzelheiten.“ –
– Der Richter und wir beide so wie der Chef der Kriminalpolizei von Oxford standen in des Lords Laboratorium. Draußen senkte sich bereits die Dämmerung über die grünen Hügel. Auf den Steinfliesen drüben vor dem einen Tisch zeichnete sich ein großer dunkler Fleck ab: Lord Hobbards Blut! Daß der Lord mit dem Leben davongekommen, dankte er nur dem schnellen Eindringen der Polizeistreife, die, obwohl sie Suchhunde mit sich geführt hatte, nichts von einem Täter hatte aufspüren können.
Harst, so ernst wie selten und immerfort mißtrauisch umherspähend, deutete auf den Steinboden, wo Hobbard mit Hilfe seines Fernsehapparates die verschiedenen Mordtaten mit beobachtet hatte. „Die eingemeißelten Zeichen dort, die so stark verwischt sind, stellen das Symbol der Brüderschaft der Rosenkreuzer dar. Die 3 X 3 im Kreis… Sie, meine Herren, kennen die Geschichte dieses Hauses. Vor etwa zweihundert Jahren wurden die Rosenkreuzer des Landes verwiesen, nachdem der Prior und der Schatzmeister und noch einige hingerichtet worden waren. Die wirklichen Gründe für dieses Verhalten habe ich herausgefunden. Die damalige Regierung brauchte Geld. Man wußte, daß die Rosenkreuzer ungeheure Schätze aufgehäuft hatten, man wollte sie ihnen nehmen, aber die, die das Versteck kannten, schwiegen und starben…“
„Also haben Sie die Schätze gefunden, Mr. Harst?“ fragte Seymour gespannt.
„Ja‥! Ich habe…“
Er brach ab…
Hinter uns war ein grelles Hohnlachen ertönt, das etwas so Teuflisches an sich hatte, daß wir herumfuhren und den Lautsprecher der Kurzwellentelephonieapparatur entsetzt anstarrten…
Aus dem Lautsprecher kam nunmehr ein leises Summen, dann eine klare, harte Stimme:
„Hüte dich!! Du weißt, wer hier spricht!“
Es wurde still… Ein Knacken, – – auch das Summen erstarb…
Seymour und der hohe Kriminalbeamte waren bleich.
„Es … war der tote Inder Patur,“ sagte Harald ganz leise.
9. Kapitel
Wer ist der Trias?!
Seymour trocknete sich den kalten Schweiß von der Stirn. „Berichten Sie weiter, Mr. Harst‥,“ bat er heiser und hielt Harald und uns sein Zigarettenetui hin. „Bitte… Zur Nervenberuhigung,“ lächelte er verzerrt.
„Whisky wäre besser!“ murmelte der Kriminalchef.
Harst rauchte und begann wieder: „Unter den vertriebenen Rosenkreuzern, die sich in alle Welt zerstreuten, gab es auch einige Inder. Die heilige Zahl 3 wird auch in Indien hoch geehrte. Davon spreche ich später. Diese Vertriebenen blieben unter einander in loser Verbindung. Zu ihren Nachkommen gehörten die an der Ziegeleiruine bei Berlin Ermordeten, so auch Allan Smith und Emmenthal, ferner Arthur Gordamoore, seine Enkelin, der mumienhafte Praßwati und Patur Singh Dagna. Diese Personen – eine fehlt, der unbekannte große Dritte –, die in die Gegenwart hineinreichten, wußten nichts von der Lage des Verstecks der Schätze der Brüderschaft. Nur einst verband sie, ein unauslöschlicher Haß gegen England. Aber die Habgier trennte sie in drei Gruppen: Erstens, die beiden Inder und der große Dritte, – zweitens, Lord Hobbard und Arthur Gordamoore nebst Enkelin, – drittens, Emmenthal, Allan Smith und Leute ähnlichen Schlages, also die Ermordeten. Diese dritte Gruppe hatte es gewagt, auf eigene Faust nach den Schätzen zu suchen, war verwarnt worden, mißachtete die Warnungen und wurde gerichtet. Die zweite Gruppe, also hauptsächlich Hobbard und Gordamoore, wurden von der ersten Gruppe als intelligentere Werkzeuge ausgenutzt, ohne daß Praßwati und Patur je verrieten, wie sie ihre scheinbar ehrfürchtig geliebten Sahibs am Narrenseil gängelten. Als Erna Morgan mich auf die 3 X 3 aufmerksam gemacht hatte, sollte auch Gruppe zwei sterben, ebenso Gerling, der mittlerweile zuviel wußte. Patur war genau so Gordamoores heimlicher Regent, wie Praßwati den Lord vollständig beherrschte. Den Begriff der Suggestion oder Hypnose wollen wir hierbei ausschalten. Die Macht der Inder über die beiden Europäer entspringt anderen Quellen, für die unsere europäische Wissenschaft keinen Namen gefunden hat. Jedenfalls hat Gordamoore die Giftgasstahlflaschen montiert – – und nichts davon gewußt, – jedenfalls kommen auf das Konto dieser geheimen Macht, die in dem ‚großen Dritten’ verkörpert ist, all die andern an das Übernatürliche gemahnenden Vorgänge, so auch Ernas ‚Traum’, als sie fast erwürgt wurde.“
Harst blickte sinnend hinaus durch das Fenster in die rasch zunehmende Dunkelheit… Dann ging er zum Lichtschalter, und das Laboratorium wurde blendend hell.
Er fuhr noch leiser fort: „Der scheinbare Tod der beiden Inder – natürlich hat Praßwati den Lord zu erstechen gesucht – ist lediglich als eine Maßnahme zu werten, sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Ich spreche über diese Dinge möglichst nüchtern. Die beiden schienen seit Stunden tot zu sein, waren steif und kalt. Und doch war Praßwati der, der den Lord angriff, – und doch war Patur der, der den seltsamen Blitz in der Nähe der Ruine erzeugte, um Gordamoore zu warnen. Patur wußte eben, daß wir in den Büschen lauerten. Ich komme nun zu der heiligen Zahl 3. In allen alten Kulturen maß man ihr Zauberkraft bei und brachte sie mit den Gottheiten in Verbindung, daß Alte Testament weist auf sie hin, das neue Testament schuf die Einheit der heiligen Dreieinigkeit: Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die Rosenkreuzer, im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit der einzige Orden, der unter den Brüdern wahre Genies zu verzeichnen hatte, übernahm als Symbol die heiligen 3 in der Form der 3 X 3 im Kreis, hergeleitet von ursprünglich drei, dann drei mal drei Musen. Obwohl nun Patur, Praßwati und der bestimmt noch vorhandene ‚große Dritte’, in der Ordenssprache der Trias genannt, über geheimnisvolle Kräfte verfügten, waren sie doch nicht im Stande, das Versteck der Schätze zu finden. Ich – – fand es… Und auf sehr einfache Art. – Folgen Sie mir…“
Er schritt voran in den langen Flur des Erdgeschosses hinab. „Bitte, schauen Sie sich die gewölbte Decke an, zu der Marmorplatten verwandt wurden. Dort jene Platte zeigt unklar die 3 X 3 im Kreise, aber die zweite 3 zeigt die obere Schleife als Pfeil ausgebildet, und der Pfeil weist in den Hinterflur… – Folgen Sie mir… – So, hier sehen Sie droben an der Decke wieder dasselbe Symbol, aber hier zeigt ‚der Pfeil’ auf das Seitenstück… – Klettern wir ins Freie hinaus… – Bitte, über dem Fenster im Gemäuer wieder das Symbol, der Pfeil weist auf die uralte Ulme… – Kommen Sie…“
Aber hier wurden wir gestört. Ein Kriminalbeamter auf einem Motorrad raste herbei…
„Eine Depesche für Mr. Harst‥!!“
Harald öffnete sie:
Paturs Körper aus Leichenhalle verschwunden. Meine beiden Leute waren eingeschlafen und kaum zu wecken. Schrauts Telegramm erhalten. Gebt auf Praßwati acht. –
Bechert
Seymour rannte ins Haus. Wir folgten… In dem Erdgeschoßzimmer Praßwatis fanden wir drei schlafende Detektive.
Praßwati war ebenfalls verschwunden.
10. Kapitel
Weshalb wir den Trias suchen…
Drei Tage später saßen wir zusammen mit dem Brautpaar und mit Arthur Gordamoore in dessen Bibliothek spät abends bei einer Maibowle beieinander.
Draußen tobte ein schweres Gewitter, und das Dröhnen des Donners ließ die Fensterscheiben immer aufs neue klirren.
Gordamoore hatte ebenso wenig wie der Lord, der seiner Genesung entgegenging, irgend etwas über seine ‚Mission’ noch sonst etwas verraten. Trotzdem wußten wir, daß diese Mission sich auf den Schatz in der hohlen Ulme bezogen hatte, der nun verschwunden war. Die Baumhöhle war der leer gewesen. Es unterlag keinem Zweifel, daß wir damals von den Indern oder dem großen Trias beobachtet worden waren und daß man die Truhe weggeschafft hatte, während wir die Detektive ausfragten, nachdem wir sie wachgerüttelt hatten.
Die Stimmung, die heute hier in der Bibliothek herrschte, war ernst, nur das Brautpaar machte sich um die Zukunft keine Sorgen, entfernte sich jetzt unter einem Vorwand und ließ uns drei allein – uns … drei.
Gordamoore schaute uns an – lange, unsicher, zweifelnd. Dann erhob er sich feierlich. „Meine Herren, ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet, weil Sie meine Schuldlosigkeit nachgewiesen haben… Ich will Ihnen etwas eingestehen: Ja, es gibt den Trias, dem großen Trias, die Verkörperung der heiligen Dreizahl.“
Der alte Herr schaute geistesabwesend ins Leere.
Er sprach weiter, – leise, monoton, ohne innere Anteilnahme.
„Ich möchte zunächst eine irrige Legende über die Rosenkreuzer zerstören… Vielfach wird behauptet, der Orden reichte bis in die Zeiten der Hussitenkriege zurück. Das ist falsch. Erst kurz vor der Schlacht am Weißen Berge bei Prag gründete ein holländischer Flüchtling in Prag eine Brüderschaft, die dann durch die Taboriten ihr besonderes Gepräge erhielt. – Was nun die heilige Zahl 3 angeht, so dürften Sie, meine Herren, denen das Thema ferner als mir, dem Eingeweihten, liegt, hierüber nicht genügend im Bilde sein. Denn die Dreizahl als die erste, die mit der Vorstellung einer Menge, einer Mehrzahl, verknüpft ist, galt von jeher als heilige Zahl. Die Trias, die Dreizahl, spielt schon in der Bibel eine Rolle. Aristoteles läßt alles aus Anfang, Mitte und Ende bestehen. Überall trifft man auf die drei: Lehrling, Geselle, Meister, – Glaube, Liebe, Hoffnung. Der Dreifuß war das Attribut des orakelspendenden Gottes, das Dreibein bei den Indern das des Krishna, bei den Ägyptern das des Isis und Osiris-Kultes. Die Brahmanen verkehrten Trias in der Verschmelzung des Brahma, Wischnu und Shiwa(4). Die Dreieinigkeit des Christentums erinnert an älteste Religionen. Ursprünglich gab es nur drei Musen. Wohin man blickt, stößt man auf die 3. Auch in der Logik: Begriffs- Urteils- und Schlußbildung, ebenso kennen wir drei Geschlechter, männlich, weiblich, sächlich.“
Der alte Herr machte eine kurze Pause, um dann noch geistesabwesender fortzufahren.
„Das sind schließlich Dinge, die mehr allgemeinwissenschaftliches Interesse haben. Was die 3 dem Orden bedeutete, darüber bin ich nicht befugt, mich irgendwie auszulassen. Jedenfalls war das Oberhaupt der Prager Brüder der TRIAS… – Wenn meine Enkelin behauptet hat, ich hätte nachts an ihrem Bett gesessen und ihre Träume beeinflußt, so trifft das nicht zu. Der Trias, der auch die beiden Inder völlig beherrscht, war der Schuldige, falls hier von einer Schuld überhaupt gesprochen werden kann. Von seinem Standpunkt aus handelte der Trias nur pflichtgemäß. Die Würgemale an Ernas Hals sind nichts als Einwirkungen erhöhter Einbildungskraft…“
Harst hüstelte ein wenig. „Also Hysterie‥!“
Gordamoore schwieg dazu und fuhr dann fort:
„Erna, die einen Tropfen asiatisches Blut in den Adern hat, ist gewissen Suggestionen weit leichter zugänglich wie etwa reinblütige Europäerinnen. Wenn ich den Ausdruck Suggestion benutze, so drücke ich mich bewußt vorsichtig aus… Ich bin dem Orden nach wie vor verpflichtet, obwohl es hier um Mordtaten geht…“
Eine peinliche Pause trat ein…
Der alte Herr starrte ins Leere…
„Trotzdem,“ fügte er mit einer jähen, energischen Kopfbewegung hinzu, „will und kann ich als Mensch schlechthin nicht dulden, daß die Verbrechen ungesühnt bleiben. Ich darf Ihnen allerdings nur gewisse Fingerzeige geben, die…“
Er atmete hastig und unregelmäßig, sein Kopf war zur Seite gesunken, und es machte ganz den Eindruck, als ob er irgend wohin in die Ferne lauschte.
Dann ermannte er sich. Man merkte, wie er gewisse innere Widerstände gewaltsam zurückdrängte, wie er sich absichtlich kerzengerade aufrichtete und nun zu einem offenen Geständnis sich anschickte, soweit er überhaupt sprechen durfte.
„Meine Herren,“ begann er noch leiser, „ich will im Interesse einer ausgeglichenen Gerechtigkeit und entsprechend meiner Charakterveranlagung, die das bewußt Böse ablehnt, Ihnen folgendes erklären… Der Rosenkreuzerorden existiert als geschlossene Gemeinschaft nicht mehr… Geldgier als schäbigste Triebkraft hat die letzten des Bundes zersprängt. Immerhin bleibt eine unlösbare Verpflichtung bestehen, die sich darauf gründet, daß unser Oberhaupt genau wie der oberste Priester der Lamaisten in Lhassa niemals nach den Ordensgesetzen stirbt… Die Gläubigen in Tibet nennen dies Inkarnation…“
Harst fiel ihm hier ins Wort.
„Gestatten Sie eine Zwischenbemerkung… Der Taschi-Lama in Lhassa bleibt stets Jüngling, das heißt, er stirbt immer so früh, daß ein bereits erkorener Nachfolger, ein Knabe, regelmäßig noch im Kindesalter an die Stelle seines Vorgängers tritt. – Eine solche Art der Auswahl eines neuen Oberhauptes läßt sich wohl in Tibet durchführen, nicht aber hier, wo die Polizei sofort Ermittlungen anstellen würde, wie der Vorgänger gestorben ist, denn daß in Tibet der Taschi-Lama, stets ein Jüngling, keines natürlichen Todes stirbt, muß man leider mit aller Bestimmtheit annehmen…“
Gordamoore zuckte leicht die Achseln…
„Das ist alles nebensächlich gegenüber dem Prinzip, niemals eine Dynastie von Oberhäuptern aufkommen zu lassen… Die Asiaten wissen schon, was notwendig ist, eine ideelle Gedankenwelt unverfälscht durch persönliche Bindungen aufrecht zu erhalten… Der jetzige Trias, den auch ich als meinen Herrn in gewissem Sinne anerkenne, ist…“
Und da trat die Katastrophe ein…
… Ein ohrenbetäubendes Krachen, – der Raum war unnatürlich hell geworden, und von dem über Gordamoore hängenden Kronleuchter aus Bronze fuhr ein feuriger Strahl herab, hüllte den Leib des Engländers in blendenden Lohen und … erlosch…
Gordamoore schlug tot zu Boden… –
Am Morgen erreichte uns daheim Seymours Depesche:
Lord Hobbard gestern abend halb Elf durch Blitzschlag im Bett getötet, als er mir verraten wollte, wer der große Trias ist.
Harald kniff etwas die Lippen zusammen.
„Und wir?!“ meinte er dumpf. „Und wir, mein Alter?! Hättest du noch Lust, den großen Trias zu suchen?!“
Ich schwieg…
Harst lachte leise, drohend…
„Ich habe Lust dazu‥! Und wenn dieser Trias ein Gespenst sein sollte, ich finde ihn! Ich bin Geistersucher geworden, ich bleibe es! Denn eins kann ich schon jetzt beweisen: Daß der Lord und Gordamoore nicht etwa durch Blitzschlag sondern durch Starkstrom absichtlich getötet wurden! Und das genügt mir, dem Geistersucher, für den ersten Anfang!!
Nächster Band:
Der Mann, der alles wußte…
Anmerkungen:
(1) Der Gesamttitel wurde im vorherigen Band auch für die Ankündigung genutzt.
(2) Anhänger der radikalen Richtung der Hussiten
(3) Midgard = nach germ. Mythologie ein von den Göttern erzeugtes einer Schlange gleichendes Ungeheuer, das die Erde als Kreis umschließt.
(4) Schöpfer, Erhalter, Zerstörer