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Der Mann, der alles wußte

 

Harald Harst

 

Band: 364

 

Der Mann, der alles wußte

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel

Aenne Bernd und der Verdächtige.

Da das Problem der 3 X 3 so ziemlich zu Anfang der von allen Journalisten so überaus gefürchteten sauren Gurkenzeit gelöst oder besser nicht gelöst worden war, hatten sich sämtliche Zeitungen gewisser mystischer Einzelheiten des Falles bemächtigt. Die Frage, ob der geheimnisvolle ‚Trias’ als Oberhaupt eines modernisierten Rosenkreuzer-Ordens wirklich existiere, wie mein Freund Harst dies behauptet hatte, erregte die Gemüter der sonst so schnell nach neuen Sensationen gierenden Öffentlichkeit derart, daß sich auf unserem Riesenschreibtisch ganze Berge von Briefen häuften, deren Beantwortung einfach unmöglich war.

Mein Freund erledigte trotzdem all diese Anfragen in der Weise, daß er einen ‚Aufruf’ drucken ließ, diesem jedem Briefschreiber als Drucksache zuschickte und in dem Rundschreiben das Problem der 3 X 3 nochmals kurz auseinandersetzte, auf die ungeklärten Punkte, besonders auf das Verschwinden der beiden Inder Praßwati und Patur Singh Dagna hinwies und die Allgemeinheit zur Mitarbeit bei der Suche nach dem ‚Trias’ aufforderte.

In diesem Aufruf hieß es:

‚Meines Erachtens wird es sich bei dem ‚Trias’ um einen Mann handeln, der ein Doppelleben oder gar ein dreifaches Dasein führt. Es ist dies allerdings eine bloße Vermutung von mir, die ich durch nichts beweiskräftig belegen könnte. Wenn Sie sich also und mit Ihnen Ungezählte aus allen Teilen Deutschlands für diesen ‚Trias’ interessieren und meine und meines Freundes Arbeit unterstützen wollen, halten Sie nach einer Persönlichkeit Umschau, deren Lebensführung gewisse Verdachtsmomente aufweist …’

Dieser Aufruf wurde am 15. Juni verschickt. –

Am 18. Juni während eines spätabendlichen Gewitters saß die Familie des Klostergutpächters Heinrich Hinrichsen in der Wohnstube beim Schein von fünf Kerzen, die in einem uralten Eisenleuchter brannten – die Überlandzentrale hatte den Strom des Gewitters wegen abgeschaltet –, um den Mitteltisch beieinander, und Vater Hinrichsen, dessen Vorfahren einst von den friesischen Inseln nach der Mark Brandenburg gekommen waren, las aus einem Andachtsbuch ein Kapitel über ‚Fürbitte bei Naturerscheinungen’ vor.

Die ganze Familie gehörte einer kleinen christlichen Sekte an, deren Ursprung auf die Hussitenkriege zurückgeleitet wurde. Die frommen Leutchen nannten sich ‚Die Gläubigen vom Scheiterhaufen’, hielten fest zusammen, unterstützten sich gegenseitig nach Kräften und waren fleißig, freundlich und überaus abergläubisch. Heinrich Hinrichsen wurde weit und breit nur der ‚Spökenkieker’, der Gespensterseher, genannt, obwohl seine knorrige Gestalt und sein verbittertes, verschlossenes und energisches Gesicht nicht gerade auf einen leichtgläubigen Charakter hinwiesen.

Um den Tisch saßen sechs Personen: Hinrichsen, seine Frau, seine drei Söhne, ebenfalls kernige Burschen, und die Verlobte des Ältesten, die Schullehrerstochter aus dem nahen Dorf.

Während gerade das Rollen des Dorners nach einem starken Blitzschlag langsam abflaute, wurde derb gegen den einen der hölzernen Fensterläden geklopft.

Die beiden großen Hunde Hinrichsens, äußerst bissige Tiere, pflegten sonst bei dem geringsten Geräusch anzuschlagen. Sie lagen auf dem als Kaminvorleger benutzten großen Ziegenfell eines schwarze Ziegenbockes, der jahrelang im Klosterhof als Zuchtbock verwendet worden war. Sie hoben nun zwar lauschend die Köpfe, aber meldeten sich nicht, obwohl der Einlaß begehrende noch kräftiger gegen das Holz hämmerte, und krochen schließlich mit eingeklemmten Schweifen leise winselnd unter die Ofenbank.

Hinrichsen beobachtete mit finster gerunzelten buschigen Brauen die beiden Tiere, schüttelte verwundert den Kopf und schob das Andachtsbuch zur Seite.

„Geh’ öffnen, Wilhelm!“ sagte er zu seinem Ältesten …

Wil Hinrichsen stand halb auf.

Da drückte ihn Aenne Bernd mit hastiger, ängstlicher Bewegung auf den Stuhl zurück.

„Geh nicht, Wil,“ flüsterte sie scheu und blickte nach den Hunden hinüber. „Ich … fürchte mich …“

Die Kerzen knistert und flackerten …

In dem uralten Gemach mit den dunklen Wandtäfelungen war es drückend schwül.

Der alte Hinrichsen warf seiner Schwiegertochter gereizt ein einziges Wort zu.

„Närrin!“

Er hatte mit der schlanken, zierlichen, feinen Aenne nicht viel im Sinn. Sie war ihm zu zart, zu gebildet, zu … ungläubig. Alle seine Versuche, sie für die kleine Sekte zu bekehren, waren gescheitert. Aenne hatte stets mit der Begründung abgelehnt, sie besäße ihren eigenen Glauben. Aber über diesen Glauben sprach sie nie.

Der Klosterhofpächter erhob sich, zündete eine Laterne an und schritt in den Flur hinaus, öffnete die schwere, eisenbeschlagene Haupttür nur handbreit und rief in Regen und Finsternis hinaus:

„Hallo, – wer dort?“

Im Lichtschein der Laterne erschien unter dem weit überhängenden Dach eine armselige, gebückte Gestalt, die sich in ein großes Stück Ölleinwand eingehüllt hatte. Über diesem löchrigen Umhang glänzte ein regennasser Filzhut mit drei langen, gekrümmten Hahnenfedern als Schmuck, und unter dem Hut geisterte ein bräunliches Gesicht mit grauem, wildem Bart und die blanken Gläser einer Nickelbrille.

Hinrichsen kannte den Mausfallen-Janki seit etwa einem Jahr. Janki pflegte mit einem Eselskarren seine ‚Kundschaft’ jeden Monat zu besuchen. Er war ungarischer Zigeuner, besaß einen Wandergewerbeschein, war sehr geschickt als Klempner, Elektromonteur, Kunstschmied und verstand eigentlich von allem etwas.

„Kommen Sie herein, Janki,“ meinte der knorrige Pächter wenig beglückt. „Wo haben Sie Ihr Wägelchen untergestellt?“

„Draußen im leeren Schuppen, Herr Hinrichsen.“

„Na, ist gut,“ murmelte der Klosterhofer. „Legen Sie Ihr nasses Zeug dort auf den Stuhl.“

Als Janki die Stube betrat, rief Aenne Bernd ihm feindselig entgegen:

„Ich ahnte es, daß Sie es waren, Janki … Unsere Hunde haben ebenfalls Furcht vor Ihnen.“

Der Zigeuner warf seinen nassen Filz mit den drei Hahnenfedern auf die Ofenbank, setzte sich bescheiden daneben und blinzelte kurzsichtig zu Aenne hinüber.

„Mich fürchtet niemand, Fräulein,“ meinte er achselzuckend. „Die Hunde haben vor dem Gewitter Angst – das ist’s!“

Aenne lachte ironisch.

„Weshalb erscheinen Sie immer nur bei so schlechtem Wetter?! Weshalb sind Sie überhaupt …“ – Sie brach plötzlich ab und lauschte nach draußen, wo soeben ein Blitz krachend herniederfuhr … –

– Am Abend drauf erhielten wir einen Brief, der folgendermaßen begann:

‚Sehr geehrter Herr Harst, auch mir ist Ihr Aufruf zur Mitarbeit zugegangen und hat sofort in mir den Entschluß aufreifen lassen, Ihnen einige Winke zu geben, die einen gewissen Zigeuner, Mausfallen-Janki genannt, betreffen,’ … usw…. –

Und abermals vierundzwanzig Stunden später stiegen in dem Gasthaus des kleinen Dorfes, daß ich hier Kressen nennen will, zwei Viehhändler ab, die diese Gegend zum ersten Male beehrten und bis nach Mitternacht mit dem trunkfesten Lehrer Bernd, dem Landjäger, dem Förster und dem redseligen Krämer beisammen saßen, viele Runden Schnäpse spendeten und anscheinend recht ungläubig sich von Aennes Vater die seltsame Geschichte von der Schlange mit dem leuchtendem Krönchen erzählen ließen.

 

 

2. Kapitel

Von einer Schlange, einem Fingernagel und einem toten Esel.

Kehren wir nochmals nach dem Klosterhof zurück.

Der Mausfallen-Janki hatte auf Aennes feindselige Äußerungen nichts weiter erwidert, hatte aus seinem zerschlissenen Rock etwas Speck und trocken Brot hervorgeholt und seine bescheidene Mahlzeit stillschweigend eingenommen, während der stämmige Pächter abermals aus dem alten Andachtsbuch vorzulesen begann, und die Hunde unter der Ofenbank andauernd ganz leise winselten und schließlich in die andere Stubenecke schlichen.

Als Hinrichsen die Sätze: „Dann, du armseliges Menschlein, erhebe deine Hände flehend zur heiligen Dreifaltigkeit,“ mit besonderem Nachdruck über die bärtigen Lippen gebracht hatte, ertönte aus dem Winkel, wo die Hunde lagen und den Zigeuner fortgesetzt anstarrten, eine fremde, schrille Stimme:

„Und der Scheiterhaufen, auf dem die Hexe mit den drei krähenden Hähnen zusammen verbrannt wurde, ließ alles zu Asche werden …“

Die Mitglieder der Familie Hinrichsen schauten blaß und verängstigt in den halbdunklen Winkel, aus dem die beiden Augenpaare der Rüden wie vier feurige Kohlen glühten.

Nur Aenne sprang auf und rief dem Zigeuner leidenschaftlich zu, indem sie den eisernen Leuchter ergriff und hoch emporhielt: „Ihre Bauchrednerkünste täuschen mich nicht, Janki! Damit können Sie nur abergläubische Bauern einschüchtern!“

Janki lächelte etwas blöde und nahm die Speckschwarte aus dem Munde, an der er gerade gekaut hatte.

„Fräulein, – – ich?! Ich soll …“

„Sie haben’s getan! Sie unheimlicher Mensch!“ fuhr das Mädchen ihn feindselig an.

„Ruhe!!“ gebot der alte Hinrichsen und las weiter.

Eine halbe Stunde später war die Gewitterwolke vorübergezogen, der Vollmond leuchtete am sommerlichen Firmament, Janki hatte sich still und bescheiden verabschiedet, und das junge Brautpaar schritt den Feldweg entlang dem Dorf zu.

Wil Hinrichsen, ein schlanker junger Mensch, der über angenehme Manieren und eine mehr als durchschnittliche Bildung verfügte, war versonnen, gereizt und verdrossen und empfand die geistige Kluft, die ihn von seiner Verlobten trennte, heute mehr denn je. Aenne sprach über Dinge, die der Ideenwelt Wils völlig fernlagen: Mystik, altgermanische Sternenkunde, Runenzeichen und altindische Grabdenkmäler, auf denen die zweimal geschweifte Rune gleichfalls gefunden worden sei. Sie sprach dies alles in Bezug auf Janki und erklärte schließlich: „Die Hahnenfedern auf Jankis schäbigen Filz sind genau so angeordnet – als dreimal geschweifte Rune, die das Sinnbild des Orion-Sternes ist; Triangel oder Trias, die Trias, die heilige Dreizahl!“

Sie sagte die Trias, aber sie dachte dabei an den Aufruf des Herrn Harst, in dem von dem Trias die Rede war. Heute hatte sie gegen Janki Verdacht geschöpft.

Wil Hinrichsen, der mit unbehaglichen Empfindungen und gesenktem Kopf neben ihr herging, während Aenne nach rechts auswich und hierbei am Wegrand an ein paar großen, grob zugehauenen Steinen vorüberkamen, die die Gelehrten als altgermanischen ‚Kalender’ deuteten. Ich kann hier, was den ‚Kalender’ betrifft, nicht näher auf Einzelheiten eingehen. Tatsache ist, daß unsere germanischen Vorfahren das Sonnenjahr bereits in gleiche Teile, ähnlich unseren Monaten, zerlegt hatten.

Diese Steingruppe, in Kreise geordnet und mit zwei ähnlichen Felsblöcken als Mittelpunkt, stellte noch heute für die Bewohner der umliegenden Ortschaften eine Art Hexentanzplatz dar und war von zahlreichen Legenden geheimnisvoll umwittert, die alle auf die spätere religiöse Bedeutung dieser ‚Kalenderkreise’ zurückzuführen waren. Uralte Gebräuche wurden noch heute als Volksfeste an diesen Plätzen gepflegt, und gerade die Kressener Bauern hielten zäh an diesen Überlieferungen fest.

Als Aenne Bernd im hellen Mondlicht an dem äußersten Stein dicht am Wegrand vorüberschritt, warf sie wie von ungefähr einen Blick über den Steinkreis, gewartet dabei auf der rauen Oberfläche des Granitblockes eine hellgrüne Schlange, die, mit einem leuchtenden Krönchen auf dem Kopf, urplötzlich vorschnellte und das Mädchen in den Oberarm biß.

Aenne fühlte den Schmerz der eindringenden Zähne, schrie laut auf und sprang zur Seite.

Auch Wil hatte das Reptil bemerkt, flog über die Pfütze hinweg und schlug mit seinem Stock nach dem Reptil, das jedoch blitzschnell verschwand.

Er wandte sich hilfsbereit seiner Braut zu, schnitt ihr den Ärmel der dünnen Bluse auf, sah auf der weißen Haut die beiden roten Punkte des Bisses und führte schnell über die Bißstelle einen doppelten Kreuzschnitt, saugte die Wunde gründlich aus, band den Arm ab und streute in die Wunden übermangansaures Kalipulver, daß er in einem Fläschchen der vielen hier in der Gegend hausenden Kreuzottern wegen stets bei sich trug.

Dann nahm er Aenne in die starken Arme, lief mit ihr zum Dorfarzt, und das Mädchen, seine Jugendgespielin, empfand bei dieser Gelegenheit zum ersten Male wirklich etwas wärmer und inniger für den jungen Menschen, mit dem sie sich lediglich verlobt hatte, weil er ihr als Jugendvertrauter am nächsten stand.

Der Arzt stellte fest, daß es sich um eine giftige Schlange und nicht etwa um eine grün-gelb gezeichnete harmlose Ringelnatter gehandelt hatte, obwohl Wil dazu zweifelnd den Kopf schüttelte und fest dabei blieb, es sei eine Ringelnatter mit einem leuchtenden Krönchen gewesen.

Aennes Arm schwoll etwas an, die Bißstelle verfärbte sich, aber am anderen Morgen war sie wieder wohl auf und schickte insgeheim einen Eilbrief an Harst und bestellte ihn für nachts zwölf Uhr nach den Kalendersteinen am Feldweg. –

– Wir erschienen verspätet zu diesem verschwiegenen Stelldichein, da wir uns im Wirtshaus zu lange aufgehalten hatten.

Aenne Bernd saß inmitten des Steinkreises auf dem Mittelblock, der unten eine Art Bank bildete, – in Wahrheit ein Opferaltar.

Das Mädchen betrachtete uns erstaunt, da unsere Masken als Viehhändler sehr echt waren.

Sie war überraschend zart und von jener durchgeistigten Schönheit, die man auf dem Lande selten antrifft.

Harsts ganze Art gewinnt rasch das volle Vertrauen unserer Klienten, und auch Aenne Bernd erzählte uns in voller Offenheit alles, was irgend von Wichtigkeit war.

Dann geleiteten wir sie in die Nähe des Schulhauses, verabschiedeten uns und kehrten bei Mondschein zu den Kalendersteinen zurück.

Mein Freund war sehr nachdenklich gestimmt, und mir ging’s nicht anders. Aenne hatte da auf Dinge hingewiesen, die zumindest sehr sonderbar waren.

An Ort und Stelle begann Harald nun die ganze Umgebung des Kalenderkreises aufs sorgfältigste abzusuchen. Zuletzt kam der Stein an die Reihe, auf dem die Ringelnatter mit dem leuchtenden Krönchen aufgetaucht war.

Ich selbst hielt von der Spitze des höchsten Granitblockes aus Wache. Harst hatte mir allergrößte Vorsicht eingeschärft. Für ihn stand es fest, daß der alte Mausfallen-Janki ein wohlüberlegtes Attentat auf Aenne ausgeführt hatte, die er zweifellos haßte, genau wie sie ihn verabscheute.

Harald hob Aufmerksamkeit erweckend den Arm und dann zeigte er mir einen abgebrochenen Fingernagel, unter dem noch eine Schmutzschicht haftete.

„Das fand ich auf dem Stein, und der Nagel dürfte von Jankis Hand stammen …“ – Das sagte das mit ganz eigentümlicher Betonung.

„Hm – und der Beweis, daß Janki sich hier den Fingernagel abbrach?!“ fragte ich recht gedehnt.

„Später … – Nun wollen wir einmal die weitere Umgebung absuchen …“

– Ich muß mich kurz fassen. Wir sahen den Klosterhof, ein uraltes, verbautes, romantisches Wahrzeichen von Kressen, – wir entdeckten fünfhundert Meter gen Süden neben der Hauptchaussee einen Torfbruch, der halb mit Wasser gefüllt war.

Von einem Waldstück her lief eine noch deutlich erkennbare Radspur eines zweirädrigen Karrens bis zum Rande des im Mondlicht trübe glänzenden Gewässers. Der Rand war abgebröckelt, und für geübte Augen war es ein leichtes, festzustellen, daß hier der Karren samt dem Zugtier in die Tiefe gestürzt war.

Auf Umwegen gelangten wir, in braunschwarzem Schlamm watend, an das Ufer des nassen Torfbruchs, und mit Hilfe einer Stange mit Eisenhaken, die wohl zum Emporfördern der gefüllten Torfeimer diente, zerrten wir schließlich einen toten, ertrunkenen Esel halb aufs Trockene, stießen den Kadaver dann wieder ins Wasser zurück und angelten nach Teilen des mitversunkenen Karrens. Harst holte so aus der Tiefe eine Menge blecherner Topfdeckel hervor, die mit Draht zusammengebunden waren.

„Genug!“ meinte Harald wortkarger denn je. „Janki hat sein Handwerk als umherziehender Mausfallen Händler aufgegeben … Janki war der Trias, mein Alter. War ‥! Nun ist er verschwunden, nun wird er eine seiner anderen Rollen spielen – welche?! Jedenfalls, wir sind ihm auf der Spur.“

Trotzdem sprach er ohne viel Hoffnung, daß es uns wirklich gelingen könnte, diese Spur bis zum Endziel zu verfolgen.

Seine Bedenken waren berechtigt gewesen. Wir blieben noch drei Tage als Viehhändler in Kressen, wir lernten auch den Klosterhof und die Familie Hinrichsen kennen, hatten auch mit Aenne noch zwei Unterredungen, und mußten letzten Endes nach Berlin zurückkehren, ohne auch nur den geringsten weiteren Erfolg buchen zu können.

Wenigstens nahm mich dies an.

Daß Harald noch immer einige Hoffnungen hegte, verschwieg er. Ich erfuhr davon erst später.

In unserem Heim in der Arnoldstraße, Berlin W., empfing uns unsere Hausdame, eine freundliche Witwe namens Magda Stahl, mit der Meldung, daß unser alter Freund Kommissar Bechert wiederholt angerufen habe.

Abends zehn Uhr fand sich Bechert dann bei uns ein.

Er hatte Wünsche sehr diskreter Art …

 

 

3. Kapitel

Der zweite Janki stirbt.

„Das ist ein Leckerbissen für euch,“ betonte er und sog nachdenklich an seiner Zigarre. „Da – lest! Ich weiß mit der verrückten Geschichte nichts anzufangen.“

Bevor ich diese ‚verrückte Geschichte’ meinen Lesern zur Begutachtung unterbreitet, möchte ich auf folgendes hinweisen. –

Daß der Aberglaube in mannigfachster Form noch heute nicht nur auf dem Lande, sondern auch in Großstädten zu finden ist, und daß diese abergläubischen Vorstellungen zum Teil mit Religion oder religiöser, seelischer Einstellung aufs engste verknüpft und zum Teil recht gefährlich sind, entzieht sich der Kenntnis der Öffentlichkeit, die zumeist derartige Nachrichten belächelt. Die unheimliche Sage vom Vampir oder Nachtmar habe ich einst in diesen Bänden eingehend schildern können. Seit mein Freund Harst den Geistersucher spielte, hatte ich mich sorgfältiger mit all diesen dunklen Fragen beschäftigt und war dabei zu dem Endergebnis gelangt, daß der jedem Menschen anhaftende Hang für mystische, übernatürliche Dinge bereits im Kinde schlummert.

Man denke an die Märchen von Grimm, Anderson, Hauff und anderen. Die Schlange mit dem silbernen oder goldenen Krönchen spielt überall eine Rolle, Geister treten auf, und die poetische Fassung des Andersen’schen Märchens von der Schneekönigin streift bereits das Gebiet sehr ernst zu nehmender Seelenprobleme. Auch die Märchen aus ‚Tausend und einer Nacht’ darf man nicht vergessen, ebensowenig unseren germanischen Sagenschatz. Es ist nun grundfalsch, etwa anzunehmen, daß durch diese Märchen im Kinde der Hang zum Mystischen erst erweckt würde. Die größten Philosophen aller Zeiten betonen, daß unser Innenleben von Geburt an dem Gebiet des Übersinnlichen deshalb zuneigt, weil wir von unseren Urvätern durch vererbte Eigenschaften die Mystik als Wahrheit suchenden Faktor blutmäßig übernommen haben. Die moderne Zeit, gekennzeichnet durch einen öden, alles regierenden Materialismus – obwohl die ‚Erfinder’ dieser Geistesrichtung gerade selbst an alten Überlieferungen und religiösen Vorschriften ebenfalls blutgemäß am stärksten festhalten!, – diese Zeit des Versuchs der Umstanzung aller sittlichen Begriffe fand mit die größten Widerstände in jenen Mittelschichten des Volkes, die sich instinktmäßig gegen die Zerstörung der Grundgefüge der Moral wehrten und die schließlich in das religionsverwandte Gebiet der Mystik, des Spiritualismus, Okkultismus, der Sterndeuterei, Handlinienwahrsagung und ähnlicher, zumeist doch übersinnlicher Formen von Wahrheitssuche und innerer geistiger Befriedigung flüchteten. Daß in Deutschland der indische Brahmanismus und der ostasiatische Buddhismus, ferner Gesundbeterei und auch die Heilslehren von Quacksalbern so große Verbreitung finden konnten, war auch nur eine Gegenerscheinung wider den alles regierenden Materialismus. Wenn hochgebildete Männer, sowohl Politiker wie Gelehrte, sich bereitfanden, zweifelhafte Wahrsager aufzusuchen und ihren Ratschlägen zu folgen, beweist auch das nur eine sittliche und seelische Entwurzelung bedenklichsten Grades. Gewiß, – bei alledem läßt sich ein Körnchen Positives herauskristallisieren. Und diese Körnlein des Tatsächlichen sollen hier Schritt für Schritt durch Harst freigelegt werden. –

Bechert überreichte uns mürrischen Gesichtes ein amtliches Schreiben des Landrats des Kreises Kressen.

21. Juni 192.

Der Kriminalpolizei Berlin zur gef. weiteren Veranlassung.

Bericht. Unweit des Dorfes Kressen hat der Bauerngutesbesitzer Heinrich Hinrichsen vom Kreise den alten Klosterhof zu seinem Anwesen dazu gepachtet. Die Familie gehört einer kleinen christlichen Sekte an, den ‚Gläubigen vom Scheiterhaufen’, die eine umgeformte Fortsetzung des Ordens der Rosenkreuzer sein soll. Die Sektierer sind an sich harmlose, fleißige, hilfsbereite Leute, und ihre hiesige Gemeinde mag etwa fünfzig Gläubige zählen. Anderseits aber sind mir Gerüchte zu Ohren gekommen, daß die Sektierer bei ihren Andachtsübungen im ehemaligen Weinkeller des Klosterhofs, der zur Kapelle ausgebaut ist, Gebräuche pflegen, die ein Einschreiten der Behörden erfordern dürften. Sie sollen auf dem Steinaltar Hühner oder Hähne lebend verbrennen und dies angeblich zum Gedächtnis der ersten christlichen Märtyrer, die in Rom dem Feuertod preisgegeben wurden. Ferner sollen sie einen Propheten als Oberhaupt haben, der seit Jahren insgeheim bei der Familie Hinrichsen im ältesten Teil des Hauses wohnt und sich nie öffentlich zeigt. Der hiesige Landjäger Sturm hat in meinem Auftrag den Klosterhof nachts wiederholt beobachtet und behauptet, er habe häufig zwei Ausländer, wahrscheinlich Asiaten, in den alten, unbenutzten Seitenflügel schleichen sehen. Daraufhin ließ ich vorgestern nacht das Gebäude umstellen und mit Einwilligung Hinrichsens durchsuchen. Es wurde nichts verdächtiges gefunden, obwohl Landjäger Sturm eine Stunde vorher die beiden Fremden abermals im Haus verschwinden sah … (Das weitere ohne Belang!

Unterschrift)

Bechert fragte uns: „Was haltet ihr davon?!“

„Bisher nicht viel, zumal uns das alles genau bekannt war und wir sogar noch mehr wissen,“ erwiderte Harald und blickte nur auf das Papier, das Bechert noch in seiner Hand hielt.

„Ihr kennt die Geschichte?!“

„Ja. Wir waren in Kressen, und nicht, wie ich Ihnen vorhin erklärte, in dem Obststädtchen Werder.“

Bechert pfiff mit einem ‚Aha!!’ laut durch die Zähne.

„Dann lest mal diese Depesche, bitte … Heute fünf Uhr morgens eingegangen.“

Polizeipräsidium Berlin, Kommissar Bechert. –

Zu Vorgang Ji. Nr. III, 39/6

Landjäger Sturm hat im hiesigen Dorf zwei verdächtige Viehhändler persönlich kennengelernt, die mit Aenne Bernd, Tochter des Lehrers und Braut des ältesten Sohnes Hinrichsens, wiederholt nächtliche Zusammenkünfte hatten. Beide plötzlich abgereist. Aenne Bernd erklärt, zufällig mit ihnen zusammengetroffen zu sein. Sturm hält sie für die beiden als Farbige verkleideten Leute, die im Klosterhof verschwanden. Sturm erfuhr immerhin von Aenne Bernd, daß diese den Zigeuner Janki für verdächtig hält. Durch Runddepesche Janki gestern Abend verhaftet bei Dorf Schönwiese samt Hausiererkarren und Esel …

„Selbst Esel …“ murmelte Harald.

Janki verstarb auf Transport nach Landratsamt durch Biß einer sehr großen Kreuzotter, die von Sturm totgeschlagen wurde. Bitte Beamte senden oder persönlichen Besuch. – Emil Träber Landrat.

„Also Ihr wart die Asiaten!! Nun erzählt mal gefälligst.“

Harst besorgte das in aller Kürze.

Bechert schmunzelte. „Die Aenne Bernd wird von einer grüngelb gezeichneten Schlange attackiert, die ein leuchtendes Krönchen trägt. Und nun ist Janki durch eine Kreuzotter umgekommen!“

„Oder nicht,“ vollendete Harald bitter ernst. „Rufen Sie mal von hier aus den Herren Landrat an und stellen Sie ihm folgende Fragen, lieber Bechert …“

Bechert tat’s. Er bekam sehr bald Verbindungen, und seine erste Frage an den Landrat lautete:

„Wo haben Sie die Leiche des toten Zigeuners Janki untergebracht?“

Die Antwort? – Zunächst eine ellenlange Verwünschung … Dann: „Der Tote ist aus meinem Garagenanbau verschwunden!“

„Wann?“ flüsterte Harald.

„Wann?“ fragte Bechert sehr laut.

„Heute Abend gegen halb zehn während eines kurzen Gewitters – trotz der eisernen Tür und der Patentschlösser.“

„Ich komme mit zwei Beamten im Auto zu Ihnen“, flüsterte Harald.

Bechert wiederholte dasselbe und fügte noch hinzu: „In zwei Stunden sind wir dort!“

„Nun gut, Herr Kriminalkommissar … Dann werden wir so lange Skat spielen, – der Kreisarzt, Rentner Mackenrot und ich … Der Teufel hole alle Schlangen! – Schluß!“

Bechert hängte ab und grinste.

„Ihr kommt mit!“ bestimmte er energisch. „Die Sache erinnert verdammt an die Geschichte mit den beiden ‚toten’ Indern Praßwati und Patur. Auch die verdufteten als Leichen ‥!“

Harst und ich trafen unsere Vorbereitungen, während Bechert gedankenvoll im Zimmer auf und ab schritt. Harald erklärte plötzlich: „Die Schlange, von der Aenne gebissen wurde, war natürlich ein nachgeahmtes Reptil mit Beißvorrichtung, das von Janki an einem Eisendraht dirigiert wurde. Hätte Wil Hinrichsen nicht so klug und tatkräftig die Bißwunde erweitert und ausgesogen und das Gift durch das Übermangan neutralisiert, wäre es dem Mädchen übel bekommen. Der Arm war ja tagelang leicht gelähmt.“

Bechert blieb stehen, kaute an seiner Zigarre und schaute Harst forschend an.

„Und Janki?!“

„Janki? – Hm, – es gab zwei Jankis!“

Bechert warf den Kopf zurück.

„Was heißt das?!“

„Das heißt, daß Schraut und ich den Karren und den toten Esel des echten Janki, also des Trias, in einer Torfgrube gefunden haben, was ich vorhin nicht erwähnte ‥!“

„Trias?!“ staunte Bechert.

„Ja, Freund Bechert: der große Trias!! Der vielgesuchte!! Er war eben in doppelter Aufmachung vorhanden.“

„So?! Und wie das?!“ Bechert massierte sich die Stirn.

Harst schob eine graue Perücke über seinen lichten Scheitel. „Das es zwei Jankis geben mußte, wußte ich schon in Kressen. Aenne erzählte uns als gute, scharfe Beobachterin, daß ihres Schwiegervaters Hunde sich beim Besuch des Mausfallen-Janki nicht regelmäßig ängstlich verkrochen hätten, sondern nur dann, wenn Janki sich spät abends einfand und um Nachtquartier bat … Am Tage bellten die Hunde ihn wütend an.“

Bechert warf seine Zigarre in den Aschbecher.

„Sagte ich’s nicht!! Eine verrückte Geschichte!! Mithin zeigte sich der Trias – Janki, den die Köter fürchteten, nur bei Dunkelheit und …“

„… war verkleidet,“ ergänzte Harald. „Der andere, der harmlose Janki, steckte natürlich mit dem Trias unter einer Decke, wurde von ihm bezahlt und mußte sterben, als Aenne Bernd ihrem Verdacht gegen den Trias bei Hinrichsens während des Gewitters zu offen Ausdruck verlieh, und der Trias es vorzog, seine Rolle aus persönlichen Sicherheitsgründen zu wechseln.“

Bechert hob zweifelnd die Schultern.

„Vermutungen, lieber Harst!“

„Ach nein, – hier ist der Beweis, ein Fingernagelstück! Ich habe es gesäubert, und Sie sehen, daß daran noch Fingernagellack haftet. Ein Zigeuner lackiert sich nicht die Nägel!“

Bechert nahm eine Lupe. „Allerdings, es ist Lack, und das besagt alles! – Wo fanden Sie dies Beweisstück?“

„Auf dem Kalenderstein, wo die Schlange mit dem Krönchen erschienen.“

Bechert nickte ernst. „Also ein Mordversuch und ein Mord … – Wie denken Sie über die Kreuzotter, die Sturm totschlug?“

„Die Kreuzotter hat der Trias vorher halb getötet und so hingelegt, daß sie gefunden werden mußte. Das Werkzeug zur Beseitigung des harmlosen ‚Janki’ – ich betone: der Beseitigung!, nicht der Ermordung! – war eine künstliche Schlange, deren ‚Giftzähne’ vielleicht kein tödliches Gift, sondern nur … ein Betäubungsmittel enthielten, ähnlich dem, durch das vor Wochen die beiden Inder anscheinend den Tod gefunden hatten … – Wenn ich absichtlich von Beseitigung spreche, so habe ich meine guten Gründe dafür, die ihr später erfahren werdet. – Wir wollen jetzt hinauszufahren und den Tatort dieses … Mordes besichtigen …“

Bechert erwiderte kein Wort mehr.

Er fühlte genau wie ich, daß es hier um Dinge ging, die viel zu ungeklärt waren, als daß man sie hätte langen Erörterungen aussetzen dürfen …

Erörterungen, die angesichts der einen Tatsache, der unbegreiflichen Furcht der Hunde vor dem Trias! – fruchlos bleiben mußten …

Vorläufig …

 

 

4. Kapitel

Roland Born, ein Enterbter …

Becherts großes Dienstauto brauste mit neunzig Kilometer Geschwindigkeit die halbdunkle Chaussee entlang.

Ein leichter Regen rieselte herab … Wir hatten die Gummimantelkragen hochgeklappt und die Mützen tiefer ins Gesicht gezogen. Dort, wo die Chaussee nach Kressen die scharfe Biegung macht, bremste unser Fahrer so kräftig, daß der offene Wagen ins Schleudern geriet.

Ein gellender Schrei ertönte – – erstarb weit hinter uns.

Der Wagen hielt, wir liefen eine Strecke zurück, fanden in einer Pfütze des Sommerweges einen stoppelbärtigen Vagabunden mit blutender Stirn bewußtlos liegen, trugen ihn zum Auto und brachten ihn zum Arzt nach Kressen, setzten dann unsere Fahrt fort und gelangten nach wenigen Minuten zu dem neuen Prunkbau des Landratsamtes, das auf einer Anhöhe unweit des Kressen-Sees liegt.

Wir wurden von dem Landrat empfangen, der uns noch einmal eine genaue Schilderung der Ereignisse gab.

Auch Landjäger Sturm war zur Stelle.

Wir verabschiedeten uns sehr bald wieder und nahmen nur den wackeren Sturm mit, der uns mit den Schlüsseln zum Garagenanbau vorausschritt, aber nur bis zehn Schritt vor die Eisentür. Hier blieb er stehen.

„Herr Kommissar, lachen Sie mich nicht aus,“ meinte er mit gepreßter Stimme. „Aber … ich fürchte mich … Ich habe dem Herrn Landrat ja gar nicht die volle Wahrheit gesagt … Der Janki ist nicht verschwunden, er ist … – lachen Sie mich nicht aus! – er ist zu Asche zerfallen …“

„Zu Asche?! Wie meinen Sie das?!“

„Nun, Sie werden ja sehen … Aber … Gehen Sie allein hinein … Ich bin kein Feigling, aber mit solchen Dingen befasse ich mich nicht mehr … Ich habe schon übergenug von den Nachtwachen vor dem Klosterhof …“

„Das kann ich verstehen, Herr Sturm,“ nickte Harst einsichtsvoll. „Übrigens bin ich kein Kriminalbeamter, sondern der eine der beiden Viehhändler von neulich … Schweigen Sie darüber. Und nun geben Sie mir die Schlüssel …“

Sturm starrte uns mit offenem Mund nach, aber er zeigte auch jetzt nicht die geringste Lust, den zementierten Raum zu betreten, der nur zwei Pritschen mit Strohsäcken und ähnliche bescheidene Einrichtungsgegenstände für eine Zelle enthielt.

Harald schaltete das Deckenlicht ein. Das einzige Fenster war stark vergittert und hatte fingerdicke, gerippte Milchglasscheiben. Beide Pritschen waren mit hellen Wolldecken belegt. Auf der einen zeichnete sich noch der Abdruck einer menschlichen Gestalt ab, – nein, mehr als das! Auf der Wolldecke lag eine graue Aschenschicht wie ein unendlich feiner Hauch.

In meinem Hirn spielte sich in diesem Augenblick ein seltsamer Vorgang ab.

Blitzartig geschah’s …

Die Wirklichkeit versank …

Die Zelle wurde zu einer luxuriösen Schiffskabine, und auf dem blütenweißen Damast des Bettes lag ebenfalls eine Staubschicht in Menschenform. Ich fühlte die Schwankungen der Jacht, auf der sich damals vor Jahren in indischen Gewässern ein ähnliches Ereignis abgespielt hatte … Ich hörte das Klatschen der Wogen gegen den Schiffsrumpf, ich vernahm das Surren der Turbinen …

Von … damals …

Und dann ging’s durch meinen Körper wie ein schmerzhaftes Zucken. Die Vision verblaßte … Ich war in die kalte Wirklichkeit zurückgeschleudert worden … – War sie kalt, diese Wirklichkeit?! War sie nicht genau so unheimlich-romantisch – unwirklich wie das Einst ‥?!

Sie war’s …

Ich fühlte den eisigen, klebrigen Schweiß auf meiner Stirn und das kühle Rieseln und Kriseln auf dem Rücken … Ich sah Harsts fahles Gesicht mit den fest zusammengepreßten Lippen, ich hörte Bechert ungewöhnlich heiser sagen:

„Verdammt … Ich hatte soeben eine Vision!! Ich war in einer …“

„… Schiffskabine,“ vollendete Harald leise …

Becherts Kopf fuhr herum.

„Auch Sie, Harst?!“

„Ja, wir drei! Schauen Sie mal Schraut an! Wir alle drei sind gleichmäßig farblos – wie Kinder, die ein Gespenst gesehen haben!“

Dann griff er in die Tasche und brachte sein Zigarettenetui zum Vorschein, das berühmte Etui mit der Bleikugeln im Deckel …

„Da, raucht! Wir müssen Herr über unsere Nerven bleiben. Wir dürfen doch nicht wie Sturm vor dem Unerklärlichen Fersengeld geben!“

Er ließ sein Feuerzeug aufflammen, rauchte drei Züge und beugte sich über die Pritsche, prüfte mit den Fingerspitzen die Staubschicht, roch daran und sagte halblaut:

„Asche!! Und die Wolldecke darunter ist ganz schwach versengt …“

Er zuckte die Achseln. „Mein lieber Bechert,“ fügte er versonnen hinzu, „entweder ist dieser Trias ein Taschenspieler ganz großen Formats oder ein Buddhist aus Lhassa, also ein Lamapriester, der jeden indischen Yogi weit übertrumpft. Das Seltsamste, das Schraut und ich je erlebt haben, hing mit der Person eines Buddhistenmönches zusammen und spielte sich zum Teil auf einer Jacht ab… – Ich will mich hier nur noch flüchtig umschaun, denn mir scheint, der Trias ist denn doch mehr als ein bloßer Betrüger …“

Er fand nichts von Wichtigkeit, wir entfernten uns, schlossen ab und wanderten mit Sturm der Stelle zu, wo die ‚Kreuzotter’ den Zigeuner gebissen hatte.

Inzwischen hatte sich das Nachtgewölk verzogen und der freundliche Mond leuchtete uns. Sturm deutete auf ein Gebüsch neben der schmalen Straße.

„Hier war’s, Herr Harst, genau hier ‥!“

Unsere Laternen funkten auf.

„Und wo blieb die Kreuzotter?“

„Ich warf sie dort ins Gebüsch …“

Harald trat vorsichtig über den Straßengraben auf einen großen flachen Feldstein. Aber jählings warf er sich zurück, riß, obwohl halb taumelnd, die entsicherte Pistole aus der Manteltasche und feuerte alle neun Schuß des gefüllten Patronenrahmens in die grünen Büsche.

Ich selbst hatte nur wahrgenommen, daß etwas wie eine feurige Linie von dem Stein her auf Harst losgeschnellt war …

Bechert rief mir zu: „Flink, – fassen wir den Schuft ab ‥! Schraut, links um das Gebüsch herum, – ich nach rechts! – Sturm, Sie warten hier!“

Harsts schrille Stimme warnte.

„Bleibt, wo ihr seid! Rührt euch nicht! Hinter die Bäume! Duckt euch!“

Ich schmiegte mich an eine dicke Pappel …

Ich hielt diese ganzen Vorsichtsmaßregeln für überflüssig, denn es erschien mir widersinnig, daß ein einzelner Mann die Frechheit besitzen sollte, mit vier Leuten wie uns anzubinden.

Harst hatte den Nachbarbaum belegt.

Zunächst blieb alles still …

Bechert, einer der tollsten Draufgänger, die ich kenne, rief von seiner Buche aus, die genauso dick war wie meine Pappel:

„Zum Teufel, Harst, – was stehen wir hier herum?! Ran an den Kerl!!“

Er wollte offenbar noch mehr Schmeicheleien für den unechten Janki hinzufügen, aber der große Trias meldete sich jetzt seinerseits.

Aus den Büschen erscholl eine Stimme, deren Ton verriet, das sie verstellt wurde.

„Hier der Trias ‥! – Ich gewähre Ihnen drei Minuten zum Verschwinden! Wenn Sie bis dahin nicht das Feld geräumt haben, greife ich zu anderen Mitteln ‥!“

Diese Herausforderung war so recht ein gesundes Fressen für Fritz Bechert.

„Bitte, genieren Sie sich nicht!“ brüllte er zurück. „Auch ich werde meinen Mittel anwenden … Bleinudeln mit Pulvergewürz ‥!“

Er feuerte dorthin, wo auch ich ein Rauschen in den Büschen vernommen hatte.

Ein gellender Schrei ertönte.

Zweige knickten und krachten, – ein schwerer Körper schlug anscheinend zu Boden …

„Getroffen!“ jubelte Bechert und wollte seine Deckung verlassen.

Landjäger Sturm, wohl ähnlichen Schlages wie der Kommissar, hatte leider bereits einen Sprung über den Graben gewagt …

Wie von einer unsichtbaren Faust geschleudert oder zurückgerissen, flog er hintenüber, schlug im Sturz mit dem Kopf hart gegen einen Chausseestein und lag still.

„Da haben wir die Bescherung,“ wetterte Harald ärgerlich. „Ich hatte euch gewarnt. Der Bursche ist doch schließlich kein gewöhnlicher Verbrecher!“

„Allerdings nicht,“ meldete der Trias mit seiner verstellten Stimme sich von neuem, freilich von einer ganz anderen Stelle aus. „Wer mich mit einem Verbrecher vergleicht, beweist nur, daß er ein Narr ist.“

Dann regte sich nichts mehr …

Nur Sturm stöhnte leise und kroch wieder auf allen Vieren hinter seinen Baum.

Bechert, dessen Übereifer merklich abgekühlt worden war, rief dem Landjäger besorgt zu:

„Was war denn eigentlich mit Ihnen los, Sturm?!“

„Weiß ich nicht,“ knurrte Sturm bissig. „Eine unsichtbare Kraft schleuderte mich zurück …“

„Ja, ein dünnes Drahtseil,“ erklärte Harst etwas ironisch, indem er seine Pistole von neuem lud. „Die unsichtbaren Gewalten des Herrn Trias sind nichts als sehr kluge Vorkehrungen, uns zu irritieren …“

Abermals da der Mann, den wir gern fangen wollten …:

„Sie werden noch Gelegenheit genug haben, meine Gewalten kennenzulernen … Falls Sie hier überhaupt mit dem Leben davonkommen … Warten Sie nur erst ab ‥!“

Dann trat abermals Stille ein.

Für uns war die Lage geradezu blamabel. Wir waren hier zu vieren, und ein einzelner wagte es, uns einfach nach seinem Willen festzuhalten …

Mein Freund mochte diese unmögliche Situation genau so beschämend empfinden wie ich.

„Wer Sie nun auch in Wahrheit sein mögen,“ rief er in die Sträucher hinein, „daß eine steht fest. Auch Sie sind nur sterblich, und wer den Platz hier lebend verlassen wird, bleibt abzuwarten. Sie mögen Ihre Vorbereitungen auch noch so schlau getroffen haben, denn Sie wußten eben, daß wir kommen würden, – doch auf die Dauer ist Ihre Stellung unhaltbar …“

„Abwarten!“ lautete die gelassene Antwort …

Und dann wurde es abermals still.

Landjäger Sturm band sich ein Taschentuch um sein blutendes Kinn. Bei dem hellen Mondlicht war alles genau zu erkennen, nur von dem Trias war in dem dichten Unterholz nichts zu bemerken.

Die Zeit schlicht. Wir horchten mit Anspannung all unserer Sinne. Sehr bald waren wir am Rande unserer äußersten Geduldgrenze angelangt.

Bechert begann laut zu fluchen.

„Hallo, Harst, – wie lange soll das Theater hier noch dauern?!“

„Zehn Minuten …“ erwiderte mein Freund mit größter Ruhe. Nur er hielt seinen Nerven im Zaum.

Aus den Büschen erscholl ein heiseres Gelächter …

„Wer zuletzt lacht, lacht am besten,“ rief Harald dem Trias zu. Ich sah, daß er sich auf einen Chausseestein setzte und eine Zigarette anbrannte.

Bechert war über diese Gleichgültigkeit empört.

„Harst, ich begreife Sie nicht! Sie tun gerade so, als ob …“

„… als ob es in jedem Fall das einzig Richtige wäre, gar nichts zu unternehmen, bis es hell wird,“ vollendete mein Freund den Satz mit aller Entschiedenheit … „Wenn es hell wird, dürfte der Herr Trias wie alle anständigen Gespenster sich selbst zurückziehen … Weshalb also irgend etwas riskieren?!“

„Hm, – das ist allerdings ein vernünftiger, aber sehr anfechtbarer Standpunkt,“ gähnte Bechert und nahm gleichfalls auf einem Stein Platz.

„Ich werde mal ein paar Alarmschüsse abgeben,“ meldete sich Sturm. „Im Dorf müssen die gehört werden …“

„Von mir aus, – bitte …“ erwiderte Harst ohne viel Interesse.

Ich begriff ihm immer weniger. Es machte auf mich ganz den Eindruck als ob für seine Gleichgültigkeit doch ein tieferer Grund mitspräche.

Sturm verfeuerte das ganze Magazin seiner Pistole.

Der Schall pflanzte sich am Waldrand in vielfachen Echos fort und mußte sehr weit zu hören sein.

Wir horchten und warteten…

Plötzlich aus der Ferne eine überlaute Stimme…

„Hallo … hallo ‥!! Hier Roland Born … Der verletzte Vagabund … Ich komme ‥!“

Eine Gestalt erschien auf dem Feldweg … Es war der Strolch, den wir überfahren hatten.

Bechert brüllte ihm entgegen: „Laufen Sie nach dem Dorf und holen Sie Leute herbei! Kehren Sie um, hier ist’s gefährlich …“

Der Mann, der sich Born nannte, lachte …

„An meinem Leben ist wirklich nichts gelegen …“ – Und er kam ruhig näher.

Nichts geschah …

Der Trias hatte das Weite gesucht …

Fünf Minuten später wanderten fünf sehr schweigsame Männer Becherts Dienstauto wieder zu. Bevor wir einstiegen, fragte Harald nur noch:

„Sturm, der zweite Karren und der zweite Esel sind bestimmt die des Mausfallen-Janki?“

„Bestimmt!!“

„Ein schlauer Bursche!“ murmelte Harald.

Der junge Vagabund, der Roland Born hieß, war bereits wieder genügend bei Kräften und erzählte uns nachher seine Leidensgeschichte. Zunächst fuhren wir jedoch zum kleinen Postamt. Harst trommelte den Vorsteher heraus und fragte ihn sehr kurz angebunden:

„Strengen Sie bitte Ihr Gedächtnis einmal gründlich an … – Haben Sie in letzter Zeit einen postlagernden Brief unter ‚T.R.3.’ jemandem ausgehändigt?“

„Ja … Der Brief war seit Monaten die erste postlagernde Sendung …“

„Und wer holte ihn ab?“

„Ein fremder, sehr eleganter Herr mit Monokel, der mit einem Auto vorgefahren kam … Der Herr sah wie ein Marineoffizier in Zivil aus, war sehr sonnengebräunt und trug blonden Spitzbart. Mehr weiß ich nicht.“

„Ich leider ja,“ meinte Harald mehr zu sich selbst.

Wir traten wieder ins Freie. „Bechert,“ erklärte Harst leise, „jeder geistig regsame Mensch hat einmal Augenblicke, in denen seine Spannkraft nachläßt. Und einen solchen Augenblick des Versagens hatte ich, als ich mein Rundschreiben, meinen Aufruf hier nach Kressen in zwei Briefen verschickte. Der eine ging an Aenne Bernd, der zweite postlagernd an ‚T.R.3.’ … – zu spät ist mir eingefallen, daß ‚T.R.3.’ eine freche Verhöhnung war. Der Trias war der Empfänger von: ‚T. … R. … 3.’!!“

„Bei Gott!!“ flüsterte Bechert. „Welche Unverschämtheit ‥! Genau wie vorhin die Attacke mit Hilfe der künstlichen Schlange auf Ihrer Person, Harst!“

Harald schritt bereits still dem Auto zu. –

Um drei Uhr morgens waren wir daheim und saßen noch in Gesellschaft Roland Borns eine Stunde beieinander.

Harst begann die Unterhaltung mit der berechtigten Frage, weshalb Born das Haus des Dorfarztes mitten in der Nacht verlassen habe.

Unser Gast erwiderte zu meinem lebhaften Erstaunen:

„Meine Herren, das hat einen Grund, den Sie erst voll begreifen werden, wenn Sie meine Lebensgeschichte gehört haben … Ich leide an … Wahrträumen … Ich träumte, Sie befänden sich in Gefahr …“

Harald musterte ihn nachdenklich.

„Sind Sie etwa auch Schlafwandler?“

„Auch das – zuweilen,“ entgegnete Born zögernd. „Es sind das Dinge, über die ich begreiflicherweise nicht gern spreche, meine Herren …“

„Hier werden sie schon aus Dankbarkeit und in Ihrem eigenen Interesse ganz offen reden müssen,“ meinte Haus freundlich.

Der Vagabund zauderte …

„Ich möchte das, was meine unglückselige Veranlagung betrifft, lieber schriftlich zu Papier bringen … Die Dinge sind so ungewöhnlich, daß dazu eine gewisse geistige Sammlung gehört, sie übersichtlich darzustellen.“

„Wie Sie wollen …“

Unser Gast erklärte wie entschuldigend: „Mein sonstiges Dasein, eine einzige Kette von Enttäuschungen, sollen Sie sofort hören, Herr Harst …“

Born erzählte uns seine Lebenstragödie. Er war dreißig Jahre alt, hatte Philosophie studiert, seine Eltern starben, er blieb mittellos zurück, er mußte aus Not Schriftsteller werden, hungerte, darbte, verkam, bis er den Entschluß faßte, als Vagabund das Stromerleben aus ureigenster Erfahrung kennenzulernen und darüber eine Artikelserie zu schreiben …

Vor fünf Tagen hatte er Berlin verlassen …

Heute kam der Wendepunkt seines Daseins.

Wir oder besser Harald nahm ihn bei uns auf … aus Mitleid … aus reiner Menschengüte …

Ein Enterbter des Schicksals hatte wieder eine Heimat gefunden.

 

 

5. Kapitel

Von hier an berichtet Roland Born.

Ein Biß in Schrauts Hand.

Mir ist die Ehre zuteilgeworden, vorläufig für Herrn Schraut als Berichterstatter und Chronist einzuspringen.

Weshalb, ergibt sich aus diesem Kapitel.

Ich heiße Roland Edgar Friedrich Born und bin in Kalkutta als einziges Kind des deutschen Konsulatsekretärs Friedrich Born geboren, lebte bis zu meinem siebzehn Jahre in Indien und sodann in Berlin-Charlottenburg, Schillerstraße 19, bis zum Tode meiner Eltern, der gleichzeitig der Beginn meines verzweifelten Existenzkampfes war.

Hier in der bescheidenen, behaglichen Harst’schen Villa bewohne ich droben im ersten Stock das Balkonzimmer mit Aussicht auf die alten Kastanien des Vorgartens, die ihre Äste bis zum Dach hinüberrecken. Wie ich dieses Asyl, anständige Kleider, neue Wäsche und gute Kost und freundliche Behandlung gefunden habe, hat Herr Schraut bereits erzählt.

Ich selbst habe hierzu nur nachzuholen, daß ich, als mich das Polizeiauto überfuhr, sowohl völlig entkräftet vom Dorfe Kressen weiterwandern wollte, als auch seelisch mich in einer nie gekannten Stimmung befand. In Kressen war ich Aenne Bernd begegnet, und ihre Erscheinung hatte auf mich einen so nachhaltigen Eindruck gemacht, wie mir dies bei anderen Mädchengestalten bisher nie zugestoßen war. Man spricht von Liebe auf den ersten Blick. Als ich Aenne Bernd im Abendrot erblickte, glaubte ich die Vision einer gütigen Fee vor mir zu haben. Ihre mitleidigen Augen streiften mich, mit bezauberndem Lächeln reichte sie mir eine Münze hin, ich stammelte ein Wort des Dankes und entfloh voller Scham über meine äußere Verkommenheit querfeldein, ohne das Geld anzunehmen, warf mich am Wegrain ins Gras und – – weinte vielleicht … Ich weiß es nicht mehr.

Daß das Mädchen Aenne Bernd heißt, habe ich erst durch Herrn Harst erfahren, der mich in alle Einzelheiten des Trias-Falles eingeweiht hat. –

– Ich beginne meine Tätigkeit als Chronist.

Am Abend des Tages, der mir ein Heim und ein sauberes Bett bescherte, fuhren wir nach Eintritt der Dunkelheit in einem Mietauto, das Harst steuerte, bis in die Nähe des Klosterhofes. Er lenkte den Wagen in den Wald, und wir drei schlichen dem ältesten Flügel des Pachthofes zu. Während ich draußen Wache hielt, schlichen Harst und Schraut sich in die leeren Räume ein und begannen sie gründlichst zu untersuchen.

Was sich dort dann in den halb verfallenen Räumen, die nur noch als Kartoffelkeller benutzt werden, abgespielt hat, wird nie geklärt werden, fürchte ich.

Schraut hatte sich von Harst getrennt und durchstöberte in einem engen Gelaß einen Berg fauligen Strohs mit einer Harke, als er irgendwo einen dumpfen, rasch verklingenden Hilferuf vernahm.

Er glaubte, Harst befände sich irgendwie in schlimmer Bedrängnis, bückte sich nach seiner Laterne und wollte dem Freund zu Hilfe eilen.

Unter dem Strohhaufen schloß urplötzlich ein Etwas hervor, das blitzschnell die Laterne beiseite schleuderte, nach Schrauts Hand schnappte und so kräftig zubiß, daß die Spitzen der drei Mittelfinger der rechten Hand bis zum Knochen durchbohrt wurden.

Dem derart Angegriffenen war es im Halbdunkel unmöglich – die Laterne war hinter einen Kartoffelberg geflogen –, über die Art des Geschöpfes, das nach seiner Hand geschnappt hatte, irgendwie Gewißheit zu erlangen. Er glaubte, es sei ein menschlicher Kopf ohne Rumpf mit wirrem langen Haar gewesen, aber diese Annahme beruhte auf einer Sehtäuschung, wie Harst hinterher feststellte.

Außerdem war auch der Schmerz des Bisses so stark, daß Schraut für Sekunden die Sinne schwanden. Tatsache bleibt, daß Schraut vor Schmerz und Schreck laut aufschrie, daß Harst herbeigeeilt kam und seinen Freund halb ohnmächtig und stark blutend an der Mauer lehnend vorfand.

Inzwischen hatte ich selbst ein Erlebnis gehabt, das ich genauer schildern möchte. –

Ich stand draußen im großen Obstgarten Wache. Die Nacht war kühl, und von den Wiesen stiegen leichte Nebel auf, und breiteten sich bis zum Garten aus.

Meine Gedanken weilten anderswo. Ich rief mir die Erinnerungen an meine Jugendjahre in Indien zurück. Ich war ein sehr schwächlicher Knabe gewesen, hauptsächlich infolge eines Lungenleidens, und meine Eltern hatten mich für Jahre, damit sich meine Lungen in der Bergluft kräftigten, nach dem Städtchen Srinawir dicht an der Grenze von Nepal zu einem englischen Kolonialbeamten in Pflege gegeben. In Srinawir gab es nun ein Buddhistenkloster, das recht berühmt war. Neugierige trieb mich sehr oft den steilen Berg hinan bis zu den unzugänglichen Mauern dieses Klosters. Eines Tages begegnete mir der Oberlama, denn die frommen Buddhisten waren einst aus Tibet zugewandert und waren Lamaisten geblieben. Der Oberlama nahm mich als ersten Europäer mit in die Tempelräume, ich wohnte einem Gottesdienst bei, schlief ein und fand mich morgens wohlbehalten im Bett in meinem Zimmerchen vor. Wie ich dorthin gelangt war, weiß ich noch heute nicht.

Dies wiederholte sich nun häufiger, stets schlief ich im Tempel ein, halb betäubt durch den schweren Räucherdüfte, ganz fest ein.

Morgens lag ich regelmäßig in meinem Bett, und zu meinem Erstaunen behaupteten meine Pflegeeltern ebenso regelmäßig, daß ich ganz artig vor Einbruch der Dunkelheit heimgekehrt sei.

Dies war nun unmöglich, denn der Weg bis zum Kloster erforderte drei Stunden steilen Anstiegs, und vor sechs Uhr abends war ich nie mit meinen Schularbeiten fertig.

Das Allerheiligste des Tempels barg eine Menge von seltsamen, geheimnisvollen Geräten.

Unter diesen fielen mir besonders zahlreiche Gebetmühlen kostbarster Art auf, die uralt und von Lhassa mitgebracht waren. Einige dieser heiligen Geräte vermochte mein damals unreifer Verstand in ihrer Bedeutung niemals voll zu erfassen, und heute habe ich längst vergessen, wie sie im einzelnen beschaffen waren.

Nur auf ein Instrument besinne ich mich noch genauer, – falls man ihre hierfür überhaupt den Ausdruck Instrument anwenden darf –, – auf einen grünen Glasgegenstand, der mir stets geheimes Grauen eingeflößt hat …

Ich entsinne mich dunkel, daß mir der Oberlama einmal diesen Gegenstand in die Hand gab, daß er mich aufforderte, meine Gedanken ausschließlich auf einen bestimmten Vorfall zu konzentrieren und daß ich nach Kräften bemüht war, seinen Befehl zu befolgen.

… Niemals aber werde ich die eine Szene vergessen, die nun im Allerheiligsten sich abspielte … Inmitten der betäubenden Weihrauchdüfte erblickte ich in dem Glas – Einzelheiten sind mir wie ich betone entfallen – mein väterliches Haus in Kalkutta und meine Eltern, die ich Monate lang nicht gesehen hatte …

Das stille Grauen in meiner Seele verstärkte sich derart, daß ich das Bewußtsein verlor …

… Ich erwachte …

… Daheim bei meinen Pflegeeltern in Srinawir in meinem Bett – wie immer …

Niemandem habe ich je von diesem Erlebnis Mitteilung gemacht …

Trotzdem sehe ich das grüne Glasgefäß noch heute verschwommen vor mir …

Vielleicht wird man nun begreifen, daß ich an meiner Jugend verblaßte Erinnerungen nur ungern zurückdenke. Ich fühle mich als Ausnahmewesen und bin es leider auch. Ich habe unzählige Beweise dafür …

Soll ich noch einen weiteren anführen?!

… Nur einen …

Meinen letzten Traum im Doktorhaus im Dorfe Kressen …

Ich habe meinem gütigen Gastgeber, Herrn Harst, hierüber nicht die volle Wahrheit mitgeteilt. Mag er sie hier lesen … Dies alles ist ja für die große Öffentlichkeit bestimmt – für einen Leserkreis, der sich aus allen Volksschichten zusammensetzt …

Also mein gestriger Traum …

… Falls es ein Traum war …

… Ich habe den Trias im Gebüsch gesehen!

Im Traum … So, wie meine Träume sind …

Ich sah ihn, wie man eben im Mondlicht im Schatten einen Menschen erkennen kann – nur ganz undeutlich …

Er ist groß, hager, etwas bucklig, hat eine sehr fleischige, lange Nase, sehr lange Arme und als Haupterkennungszeichen einen verkrüppelten Fuß.

Harst wird natürlich auf diese Beschreibung nichts geben, denn man kann ein Gebrechen auch vortäuschen, und das mag hier stimmen …

Zurück zu mir …

All dies und vieles andere noch, was noch seltsamer gewesen, rief ich mir greifbar deutlich ins Gedächtnis zurück, als ich, an einen Birnbaum gelehnt, im Klostergarten bei Kressen Wache hielt. Ich hatte mich so stark in meine Erinnerungen eingesponnenen, daß ich mich vollkommen nach Srinawir in den Lamatempel zurückversetzt fühlte, wie ich denn überhaupt ein so gutes Gedächtnis für alle Eindrücke und Erlebnisse von frühester Kindheit an besitze und alles, alles weiß, was mir je an Rätselvollem begegnet ist.

Leider weiß ich alles zu genau. Viele dieser Erinnerungen möchte ich aus meiner Seele wegzaubern, denn sie ängstigen mich. Ich habe mich auch Harst und Schraut hierin anvertraut, und gerade Harst hat mich immer wieder gefragt, ob ich denn so gar nichts mehr über die Stunden wüßte, die ich – anscheinend schlafend – im Allerheiligsten der frommen Mönche zugebracht habe. – Nein, darüber weiß ich nichts. Ich weiß nur, daß ich träumte …

Ich träume noch heute sehr lebhaft.

Wie von ungefähr wurde ich dann auf eine Gestalt aufmerksam, die sich mir durch den dünnen Nebel näherte und in der grauen Schicht riesengroß erschien: eine Frau!

Erst als sie mir bis auf drei Schritte nahegekommen war, erkannte ich sie. Es war Aenne Bernd!

Sie stand vor mir, schwieg und starrte mich an.

Ihr Gesicht blieb verschwommen und schien sich in das jenes Oberpriesters zu verwandeln, der mein väterlicher Freund in Indien gewesen.

Dieselbe seltsame Müdigkeit von eins befiel mich.

… Harst rüttelte mich. Ich lag am Fuße des Birnbaumes in tiefem Schlaf. Ich fuhr empor, und verlegen und schuldbewußt erzählte ich Harst, weshalb ich so pflichtwidrig in Schlummer gesunken war.

„Aenne Bernd?“ fragte er erstaunt. „Haben Sie sich auch nicht getäuscht, lieber Born?“

„Nein,“ entgegnete ich. „Entweder war sie es selbst oder ihr zweites Ich, ihre materialisierte Seele.“

Er leuchtete den Boten nach Spuren ab, denn Aenne trägt zierliche Schuhchen mit hohen Absätzen, und in dem weichen feuchten Erdreich hätten die Absätze tiefe Eindrücke hervorrufen müssen.

Er fand nichts.

Wir geleiteten den armen Schraut, der unter unerträglichen Schmerzen litt, zum Auto und fuhren heim, wo Harst die Bißwunden nochmals säuberte und anschließend verband und dabei erklärte, sie rührten von einem Hamster her, – wahrscheinlich habe ein Hamster in den Kellern ein Schlupfloch für seinen Bau und sei, durch das grelle Licht der Laterne gereizt, unter dem Stroh hervor zum Angriff übergegangen. –

Als ich dann droben in meinem Balkonzimmer eingeschlafen war – es war draußen längst heller Tag geworden – träumte ich, daß ich mein Bett wieder heimlich verließ, die Treppe hinabschlich und an Schrauts Schlafstubentür horchte, da ich drinnen Stimmen vernahm. Harst teilte seinem Freund mit, daß er nachmittags in der Stadt all meine Angaben über meine Person genau nachgeprüft hätte, und daß ich in keinem Punkt über meine traurige letzte Vergangenheit die Unwahrheit gesagt habe. –

Als ich mittags zum Frühstück unten im Büro erschien, fand ich Harst und Schraut bereits am appetitlich gedeckten Tisch vor, setzte mich zu ihnen und erzählte ihnen meinen Traum.

„Weiß Gott, lieber Born, Sie sind in der Tat ein Born der Weisheit … Sie wissen alles, Sie sind der Mann, der alles weiß!“

Er meinte das offenbar vollkommen ernst.

Da überkam mich wiederum jenes seltsame Gefühl von Unbehagen und Hilflosigkeit, und ich erwiderte seufzend ‥:

„Ich wünschte, ich wüßte alles, Herr Harst! Dann würde ich Ihnen bestimmt den Schurken, der Aenne Bernd vergiften wollte und der den armen Janki verschwinden ließ, in die Hände liefern. – Ich – – liebe Aenne Bernd! Diese Liebe ist mir angeflogen wie eine … Krankheit … Aenne ist verlobt …“

Harst schaute mich merkwürdig versonnen an.

„Lieber Born, ich glaube, Sie können uns helfen, den Trias zu finden … – Beantworten Sie mir eine Frage zunächst. Haben Sie im Lamatempel auf den Bergabhängen von Srinawir irgendwo in den Wandreliefs dieses Zeichen bemerkt?“

Er nahm ein Stück Papier und Bleistifte und zeichnete das heilige Symbol der Rosenkreuzer, die 3 X 3 im Kreise.

Ja, ich hatte dieses Symbol in Srinawir gesehen!

Harst nickte. „Ich dachte es mir…“

Dann sprach er von anderen Dingen. Schraut saß blaß und matt dabei, seine verletzte Hand in einem leichten Verband.

 

 

6. Kapitel

Das Heim des Trias.

Es ist ein köstliches Gefühl, zwei so liebenswürdige, kluge und gütige und dabei so bescheidene Menschen wie Harst und Schraut zu vertrauten Freunden zu haben. Ich bin unter ihrem Dach wieder aufgelebt, ich bin wieder kultivierter Mitteleuropäer geworden, soweit ich mich nach meiner in Indien verbrachten Zeit überhaupt noch Europäer nennen kann. Ich besitze gute Anzüge, auch meine Hände sind durch sorgsame Pflege wieder ‚salonfähig’ geworden, es fehlt mir an nichts, ich beziehe als Sekretär meiner Freunde ein fast überreiches Gehalt, nur etwas trübt und beeinträchtigt meine Zufriedenheit: Die nie zur Ruhe kommenden Gedanken an Aenne Bernd!

Vielleicht bin ich als Chronist zu aufrichtig und spreche zu viel über mich selbst. Aber Schraut schob als Berichterstatter das Persönliche ebenfalls in den Vordergrund und stellte gerade dadurch den seelischen Kontakt mit seinen Lesern her. –

Unsere erste gemeinsame Frühstücksstunde zu dreien schloß mit einer weiteren Bitte Harst an mich. Er erklärte wörtlich: ‚Lieber Born, ich deutete bereits an, daß Sie zweifellos an Wahrträumen leiden. Diese besonders gearteten Träume, in denen der Träumende tatsächliche Begebenheiten miterlebt, werden heute von den Fachgelehrten kaum mehr bestritten und gehören in das dunkle Gebiet der Vorgänge, die sich in unserem Unterbewußtsein abspielen. Ich bin überzeugt, daß Sie, wenn Sie sich vor dem Schlafengehen aufs stärkste auf bestimmte Dinge geistig konzentrieren, über diese Dinge auch träumen werden. Mir liegt daran, den neuen Schlupfwinkel des Trias auf diese Weise durch Sie zu ermitteln. Beschäftigen Sie sich heute abend ganz intensiv mit Folgendem: Der Trias war der zweite Janki, der Trias hat im leeren Flügel des Klosterhofs gehaust und dort die verschwundenen Inder Praßwati und Patur empfangen. Er hat weiter an mich ein getipptes Schreiben, freilich anonym, wie unzählige andere gerichtet und darin um Antwort nach Kressen unter Chiffre ‚T.R.3.’ gebeten und meinen ‚Aufruf’ als eleganter Herr im Auto abgeholt. Das von mir gefundene Fingernagelstück wies bereits auf des Trias zweite Rolle oder Verkleidung als – sagen wir – vornehmen Lebemann mit Luxuswohnung hin. Rufen Sie sich dies alles vor dem Schlafengehen immer wieder ins Gedächtnis zurück. Hoffen wir dann auf den erwarteten Erfolg.’

Harst hatte diese Sätze, die mich ganz seltsam berührten, kaum beendet, als das Telephon anschlug. Er hob den Hörer ab und meldete sich. Der Apparat spricht ungewöhnlich laut an. Schraut und ich verstanden jedes Wort.

Kommissar Bechert war’s.

„Morgen, Harst … Ich habe Ihre Anweisungen genauestens befolgt. Mein Assistent hat die Aschenschicht auf der Pritsche im Garagenbau Träbers photographiert und stark vergrößert. Die Photographie zeigte, daß die Aschenschicht hellere Streifen enthielt: die Rückstände des Knochengerüstes! Dann wurde die Asche chemisch untersucht. Es ist die Asche des Körpers eines Warmblütlers. Ob die eines Menschen, läßt sich nicht feststellen. Die helleren Stellen sind Knochenasche. Am seltsamsten ist, daß dort, wo die Asche des Kopfes, die besonders gesammelt wurde, lag, sich Spuren von Gold zeigten, also wahrscheinlich von den kleinen goldenen Ohrringen, die der echte Janki trug. Unsere Autoritäten hier im Präsidium stehen mithin vor einem wissenschaftlichen Rätsel allererster, seltenster Art. – Dann haben meine Beamten weiter festgestellt, nachdem sie den Karren und den toten Esel aus dem Torfloch hervorgeholt hatten, daß der Karren und der Esel denen des Trias-Janki vollkommen glichen – bis in die kleinsten Kleinigkeiten. Schließlich haben sie Jankis elende Hütte genau durchsucht und dabei insgesamt fünftausend Mark in Banknoten und verschiedene getippte Zettel in einem Herdloch vorgefunden. Die Zettel enthalten genaueste Anweisungen für Janki, welche Wege er für bestimmte Tage zu wählen habe, also: seine Marschroute! – – Was sagen Sie dazu?! Toll, nicht wahr?!“

„Es überrascht mich gar nicht, lieber Bechert. Sobald es um den Trias geht, überrascht mich nichts …“

Ihre fernere Unterredung enthielt nichts von Belang. Harst erwähnte nur noch, daß er sich heute ausruhen und alle Einzelheiten nochmals überprüfen würde.

– Nach dem Mittagessen wurde ich müde und legte mich in meinem Zimmer droben auf den Diwan. Getreulich befolgte ich Harsts Anweisungen und dachte immer nur vor dem Einschlafen an den Herrn mit Spitzbart, Monokel und Auto, der den Brief ‚T.R.3.’ abgeholt hatte.

Ich schlummerte ein.

Um sechs Uhr erwachte ich und stürmte die Treppe hinab. Ich flatterte vor Aufregung, ich fürchtete mich fast vor mir selbst und vor meinen übernatürlichen Gaben.

Harst und Schraut saßen bei dem Nachmittagskaffee. Ich muß sehr bleich gewesen sein, denn die Freunde starrten mich erschrocken an. Ich war kaum im Stande, ein Wort hervorzubringen, stammelte nur:

„Ich kenne die Wohnung des Trias!“

Schraut schnellte empor, Harst betrachtete mich eigentümlich mitleidig und schenkte mir schnell einen Kognak ein.

„Trinken Sie, lieber Born! Ich wußte ja, daß Sie der Mann sind, der alles weiß und wissen muß!“

Ich trank, setzte mich und erzählte meinen … Traum … meinen Wahrtraum …

„… Ich befand mich plötzlich in einem sehr großen, sehr eleganten Herrenzimmer mit kostbaren Perserteppichen … Die Türen nach einem Balkon standen weit offen. Ich blickte in einen parkartigen Garten mit blendend weißen Marmorstatuen hinab, unter denen ich eine einzige Bronzefigur, die des berühmten Bogenspanners, bemerkte. Am Schreibtisch saß ein Herr, den ich nur im Profil sah. Er tippte auf einer Schreibmaschine einen Brief, trug Spitzbart und Monokel und hatte wundervoll gepflegte Hände. Er sah vornehmen und sympathisch aus. Dann trat ein älterer indischer Diener mit mumienhaftem Gesicht ein …“

„Praßwati!“ rief Schraut heiser …

„… Der Diener verneigte sich tief und sprach in fließendem Hindostani, daß auch ich leidlich beherrsche: ‚Oh Erhabener, die Mem Sahib wünscht dich zu sehen, die blonde Mem Sahib Aenne Bernd …’ – nachdem der Diener Fräulein Bernd auf diese Weise angemeldet hatte, schreckte ich vor Erregung über dieses Traumgesicht aus dem Schlaf auf und erwachte jäh. Meine Erregung war begreiflich, – es handelte sich um das Mädchen, das ich liebe, Herr Harst … – Mehr weiß ich nicht.“

Harst rauchte still, schwieg und blickte vor sich hin.

„Bogenschütze …“ murmelte er nach einer Weile. „Das wäre der einzige Anhaltspunkt, die Villa des Trias zu finden.“

„Ein sehr geringfügiger Anhaltspunkt,“ wagte ich zu bemerken.

„Allerdings …“

Dann füllte Harst meine Kaffeetasse und fragte:

„Nehmen Sie Zucker, Born?“

„Wenn ich bitten darf …“

Er nahm die Zuckerzange und tat ein Stückchen grobkörnigen Zuckers in meine Tasse.

Nur eins … Es genügte auch.

Er erklärte hinterher, er sei heute zu abgespannt, um noch irgend etwas zu unternehmen, er wolle auch nichts übereilen.

Ich schlenderte dann im Vorgarten auf und ab. Schraut fütterte auf dem Hof die Hühner und Tauben, und Harst säuberte den Taubenschlag.

Ich sah zufällig, wie er eine blaugraue Brieftaube aufsteigen ließ. Nachher begab ich mich auf mein Zimmer, machte mir Notizen über das Trias-Problem und lehnte mich sehr bald im Sessel zurück, meine Gedanken verwirrten sich …

Ich schlief abermals ein …

 

 

7. Kapitel

Ein Fehlschlag gegen den Trias.

Es ist und bleibt ein beklemmendes Gefühl, sich mit der Tatsache abfinden zu müssen, zu den von irgendeiner höheren Macht gezeichneten Ausnahmewesen zu gehören.

Ich träumte … die Wahrheit. Ich will hier als Chronist nicht stets andeuten, wann ich diese Wahrträume hatte. Das würde den Leser ermüden. Ich beschränke mich auf die Wiedergabe der Geschehnisse. Ich bin der Mann, der alles weiß, – – und das ist wie ein Fluch.

Harst und Schraut haben meine Angaben über meine Vergangenheit genau nachgeprüft. Sie mußten vorsichtig sein. Aber – sie mißtrauten mir noch immer. Harst hat mir beim Nachmittagskaffee zugleich mit dem Stückchen Zucker ein Schlafmittel in die Tasse getan, und ich habe – im Traum – ein Gegenmittel genommen und bin … gewandelt …

Ich kam in die Villa des Trias, die draußen im Vorort Schlachtensee mitten im Grünen liegt, aber abseits von den übrigen Gebäuden. Neben der Parkmauer zieht sich eine Kiesgrube hin, und der Kies wird mit einer Seilbahn aus der Grube zu den Gleisen der Feldbahn emporgefördert.

Ich war im Arbeitszimmer des Trias – zum zweiten Mal heute, und das Oberhaupt des neu erstandenen Rosenkreuzer-Ordens – denn das ist der Trias, der Erhabene – hatte seine Maske gewechselt und glich einem schlichteren Mann aus dem Volk. Er schritt auf und ab, und seine Bewegungen verrieten ungeduldigste Erwartung. Dann trat wiederum der Inder ein …

„Oh Erhabener, die Mem Sahib ist gekommen …“

Der Diener öffnete die Tür ganz weit, und Aenne erschien.

„Sie haben mich telephonisch hierher gebeten, Herr Professor,“ sagte sie festen Tones. „Ihre Andeutungen über die Familie meines Verlobten und Wil Hinrichsen zwangen mich, Ihrer Aufforderung Folge zu leisten.“

Der Trias bat sie Platz zu nehmen, stand vor ihr und erklärte tief bewegt:

„Wil Hinrichsen ist Ihrer unwürdig, Aenne Bernd … Ein Mädchen wie Sie darf nur einem Mann gehören, der Ihnen geistig ebenbürtig ist … Ich liebe Sie … Sie müssen mein werden … um jeden Preis. Ich, Professor Rolf Assahl, habe …“

Aenne war empört aufgesprungen.

Im selben Moment ertönte ein besonderes Klingelzeichen im Zimmer, der Trias eilte zum Balkon, und ich, gepackt von grenzenloser Wut und Eifersucht, folgte ihm, sprang wie er in die Büsche des Parkes hinab und stürmte hinter ihm drein, überkletterte wie er die Parkmauer und kam gerade noch zur rechten Zeit, mich ebenfalls in den Transportkasten der Seilbahn zu schwingen, der bereits mit ihm in die Tiefe glitt.

Wortlos griff er mich an. In seinen Augen funkelte die Mordgier. Ein verzweifeltes Ringen begann, ich wußte, daß er mich töten wollte, er würgte mich, er besaß Riesenkräfte, denn für ihn ging es hier um weit mehr als nur ums Leben, denn ich, sein Gegner, kannte sein Geheimnis, und er mußte mich vernichten, um sich die eigene Freiheit zu bewahren.

Grauenvolle Sekunden waren’s, wir kämpften wie die brünstigen Tiger miteinander. Doch ich war der Flinkere, meine Jugend siegte, ich kam frei, packte ihn und schleuderte ihn samt seinem Schlapphut über den Rand des hinabsausenden Kastens ins Leere …

… Und erwachte in Schweiß gebadet in meinem Schreibsessel.

Mein Hals schmerzte … Übelkeit würgte mir in der Kehle …

Dann schlug das Telephon an …

Ich wußte, daß unsere Hausdame in die Stadt gefahren war … Ich meldete mich … Harst war am Apparat … irgendwo.

„Lieber Born, kommen Sie sofort nach Schlachtensee hinaus …“ – Er nannte die Straße … „Nehmen Sie eine Autotaxe … Hier ist wahrscheinlich ein Mord verübt worden … Bechert ist gleichfalls hier … Ich hatte ihn durch Brieftaubenpost auf den ‚Bogenschützen’ aufmerksam gemacht, – ich selbst kenne die Villa von früher her, sie gehörte einmal einem kunstliebenden Kommerzienrat, der infolge der Inflation verarmte … Beeilen Sie sich, Born!“

– Wenn ich den Namen Born vernehme, durchzuckt es mich stets wie ein schmerzhafter Schreck. Born bedeutet Quelle … Ich bin eine Quelle der Wahrheit, der Erkenntnis. Ich wünschte, ich wäre es nicht.

Ich fuhr nach Schlachtensee hinaus, fand die Villa und die Kiesgrube in weitem Umkreis durch Kriminalpolizei abgesperrt und wurde durch die Kiesgrube geleitet, wo Harst, Schraut, Bechert und mehrere andere Beamte anwesend waren. Neben dem Kasten der Seilbahn lag die Leiche des Mannes, der sich hier Professor Assahl genannt hatte. Der Kopf war halb zerschmettert.

Ich erzählte meinen Traum, und Harst ergänzt meine Schilderung in seiner knappen übersichtlichen Art.

„Es ist richtig, daß ich Ihnen ein Schlafmittel in den Kaffee tat. Es kam mir darauf an, lieber Born, zu erproben, ob sich Ihre Träume in derselben Richtung fortsetzen würden. Schraut und ich verließen unser Heim, als wir Sie im Sessel eingenickt vorfanden und begaben uns hierher. Leider waren die beiden Inder bereits entwischt, nur Aenne Bernd trafen wir noch an, und dann hörten wir den gellenden Todesschrei dieses Ärmsten dort, der nicht der Trias sein kann …“

„Weshalb nicht?“ fragte ich erstaunt … „Hat Fräulein Bernd denn nicht bestätigt, daß der Mann ihr eine leidenschaftliche Liebeserklärung machte, und daß ich ihn verfolgte?!“

Harst lächelte eigentümlich. „Lieber Born, Sie vergessen, daß Sie nur … träumen … Der Mann da ist der Gärtner des Professors, nichts weiter. Die Zusammenhänge sind klar. Der Professor war der Trias, aber dieser wußte eben, daß sein Heim entdeckt war und flüchtete eilends mit den beiden Indern, nachdem er – vielleicht – den Gärtner ermordet hatte … Es kann auch ein Unfall vorliegen.“

Ich blickte Harst verdutzt an. „Verzeihung, Sie widersprechen sich selbst … Wenn ich Wahrheitsträume habe, wie Sie behaupten und wie ich selbst befürchte, muß doch ich den Mann in der Notwehr getötet haben …“

Harst zuckte die Achseln. Ich spürte wiederum sein noch immer waches Mißtrauen gegen mich.

Schweigend schritten wir der Villa zu, deren luxuriöse Einrichtung arg vernachlässigt war.

Ich erwartete klopfenden Herzens das Wiedersehen mit Aenne Bernd.

Es widerstrebt mir, allzu viel über mich selbst zu reden, aber hier muß erwähnt werden, meine äußere Erscheinung, meine Stimme, mein gewandtes Benehmen sind ganz dazu angetan, Eindruck zu machen.

Aenne Bernd begrüßte mich zwanglos und herzlich im Herrenzimmer, wo ihr zwei Beamte Gesellschaft geleistet und gleichzeitig alle Schränke durchsucht hatten. Harst hatte Aenne bereits eingeweiht.

„Ich freue mich,“ sagte sie schlicht, „daß Sie bei Herrn Harst so herzliche Aufnahme gefunden haben, Herr Born … Wir kennen uns ja bereits …“ –

Ihren warmen Händedruck werde ich nie vergessen.

Harst bat, wir sollten Platz nehmen. Einer der Beamten reichte ihm ein dünnes Schreibmaschinenmanuskript …

Es enthielt tagebuchartige Aufzeichnungen des Trias, die dieser in einem Geheimfach wohl sicher geborgen geglaubt hatte.

 

 

8. Kapitel

Das Tagebuch und der Heizkessel.

Harst las es auszugsweise vor. Bei manchen Stellen wurde Aenne Bernd sehr verlegen und wechselte die Farbe. Ich beobachtete sie ganz scharf.

„… Ich habe diese Villa hier gekauft, nachdem mir der Auftrag erteilt worden, um jeden Preis die Schätze des Rosenkreuzer-Ordens, den wir heute verkörpern und der stets Verbindungen nach Indien unterhalten hat, zurückgewinnen. Harst ist mir hierbei als Gegner erstanden, den selbst ich völlig ernst nehme. Sein Freund hat unter dem glücklich gewählten Titel ‚Das Problem der 3 X 3’ diese Schatzsuche zu Papier gebracht und dabei zum Schluß die Fortsetzung des Kampfes gegen den Trias angekündigt.

Seitdem fühle ich mich nicht mehr so ganz sicher wie einst und habe danach meine Gegenvorkehrungen getroffen.

… Entscheidend für meinen einstigen Entschluß, den Zigeuner Janki anzuwerben und selbst ‚Janki’ zu spielen, war meine Bekanntschaft mit Aenne Bernd.

So flüchtig ich das Mädchen auch zunächst als Professor Rolf Assahl (falsche Pässe und Papiere kosten zwar Geld, werden dafür aber auch vollkommen ‚echt’ geliefert) kennen lernte, – dieser erste Eindruck war entscheidend und nachhaltig und steigerte sich noch bei späteren Begegnungen. Ich liebe sie, und ich habe noch stets erreicht, wonach ich trachtete … …

… … Janki mußte sterben. In diesem Punkte hat Harst sich halb geirrt, als er die Vermutung aussprach, daß Schlangengift könnte nur ein Betäubungsmittel gewesen sein. Aber auch ich beging Fehler. Ich hätte den Karren und den Esel sorgsamer verschwinden lassen sollen. Nur dadurch und durch das verschiedenartige Benehmen der Hunde Janki gegenüber fand Harst heraus, daß Janki doppelt vertreten war.

Anders verhielt es sich mit Aenne Bernd, und vielleicht hat Harst mit deren Anspielung auf das Betäubungsmittel nur das Mädchen gemeint und die Wahrheit geahnt.

Ich wollte Aenne ‚sterben’ lassen, wie schon viele vorher gestorben sind, – einen Scheintod, und dann wollte ich sie entführen, zum neuen glanzvollen Leben erwecken und sie teilnehmen lassen an der Fülle meiner Macht. Denn – – ich liebe sie. Ich liebte nie, jetzt liebe ich. Auch ich bin in der Beziehung nur Wesen von Fleisch und Blut. … …

… … Mein anscheinend geheimnisvolles Treiben erforderte einen intelligenten Gehilfen, der nicht ahnte, daß er von mir zu mancherlei Handreichungen ausgenützt wurde. Ich habe daher …“

– „Hier fehlen zwei Blätter,“ sagte Harst und blickte mich flüchtig an. „Der Trias scheint es doch für zu gefährlich gehalten zu haben, seine Arbeitsmethoden einem Geheimfach bis ins letzte anzuvertrauen.“

Dann las er weiter, wobei er gleichgültige Stellen übersprang.

„… Einen Gegner wie Harst gegenüber tut man gut, ein sehr ausgedehntes Spionagenetz zu verwenden. Ich bin über jeden seiner Schritte bereits in kürzestem genau unterrichtet und werde den richtigen Zeitpunkt zu seiner und seines Freundes Vernichtung wählen.

Daß ich Aenne gestern ebenfalls durch einen Telephonanruf als Harst in den Obstgarten des Klosterhofs bestellte, hatte seine guten Gründe, die mit dem verliebten, unreifen Menschen zusammenhängen, der sich einbildet, ein Erwählter zu sein, weil er einige Jahre als Knabe von Lamaisten in Srinawir in den Geheimkult von Lhassa eingeweiht wurde und ursprünglich zu Höherem ausersehen war. Aennes Erscheinung genügte, diesen Roland Born auszuschalten, und es hätte gestern durchaus in meiner Macht gelegen, meine beiden Gegner für ihre unerlaubte Einmischung in meine Angelegenheiten zu bestrafen. Schrauts Handverletzungen werden Harst vielleicht warnen, fernerhin mir in den Weg zu treten. Hätte Harst nicht sofort die Wunden gründlich desinfiziert, so würde der Biß des mit Tollwutgift geimpften Hamsters Schraut erledigt haben. Daß Schraut einen Menschenkopf zu sehen glaubte, der aus dem Stroh hervorschoß, wundert mich nicht. Ich lächle überlegen dazu.

Hiermit komme ich auf die Sekte der Gläubigen vom Scheiterhaufen zu sprechen. Die Sektierer sind im Grunde nichts anderes als eine Hilfstruppe der Rosenkreuzer. Die Weltmacht des Ordens war allezeit weit größer, als jemand ahnte, und ist es heute noch. Während sich der Orden im Hintergrund hält, zersetzt er in Wahrheit christliche Urlehren und ersetzt sie durch halb heidnische, halb sehr tiefsinnige asiatische Kultgebräuche.

Würde man mich, der ich heute Oberhaupt der europäischen Rosenkreuzer bin, fragen, was unser endgültiges Ziel ist, so darf ich selbst in diesen Aufzeichnungen nur die Antwort offen lassen.

… Ich erhalte soeben die Nachricht, daß Harst zum neuen … Fehlschlag ausholt …

Ich schließe vorläufig. Mein Gärtner, ein verkommener Schmierenkomödiant, wird mich vertreten und hinterher sterben …“

Hiermit schloß das Tagebuch, dessen Wirkung ich genau auf den Gesichtern der Zuhörer ablesen konnte. Nur Harst hatte einen deutlich ausgeprägten ironischen Zug um den Mund. Ich bewunderte ihn … Seine Aktivität war größer denn je. Er schob das Tagebuch wortlos in die Tasche und zog den anonymen Brief des Trias (T.R.3.) hervor, jenen getippten Brief, auf den hin er die Antwort postlagernd nach Kressen gesandt hatte – seinen ‚Aufruf’. Er verglich die Schrift mit einer Schriftprobe der Maschine des Trias.

„Es ist dieselbe Schriftart,“ sagte er kurz. „Gehen wir nun in den Heizkeller hinab.“

Auch Aenne schloß sich uns an. Ich war über ihre Unerschrockenheit erstaunt und erfreut. Aber mein Versuch, mich mit ihr abzusondern und sie unter vier Augen zu sprechen, wurde von Harst vereitelt.

Die Villa hat Zentralheizung. Harst öffnete die Feuerungstür des Heizkessels und leuchtete hinein. Auch Bechert schaltete eine Polizeilaterne ein. Wir sahen, daß der Feuerungsraum vollkommen leer und glatt gefegt war. Nur in der Mitte zeigte sich, als Harst mit den Fingern Reste von Asche wegstrich, ein blankes Klümpchen in einer Fuge, ein winziger Überrest geschmolzenen Goldes.

„Von Jankis Ohrringen,“ meinte Harst sehr bestimmt. „Wir wissen nun, wo Jankis Leiche verbrannt wurde. Der Trias hat hinterher die Asche sorgfältig auf der Pritsche des Garagenanbaus des Landratsamtes verteilt, – – ein billiger Taschenspielertrick, könnte man sagen, wenn nicht ein Menschenleben diesem kaltblütigen Schurken abermals zum Opfer gefallen wäre.“

Er zwängte darauf den Kopf in die Feuerung hinein und betastete die Röhre des Abzugsloches, zog eine elastische, dünne, lange Stahlrute hervor, an deren anderem Ende die grüngelbe künstliche Schlange befestigt war, und hielt uns die Mordwaffe hin. Es war die Nachbildung einer an sich harmlosen Wasserotter, aber am Maul waren zwei hervorstehende Nadeln befestigt, die feine Rillen hatten, damit die Giftmasse daran haften bliebe.

Aenne schrie leise auf …

Doch nicht vor Angst oder Grauen.

Sie rief empört: „Herr Harst, mehr denn je haben Sie jetzt die Pflicht, dieses menschliche Ungeheuer, daß sich Trias nennt, unschädlich zu machen ‥!“

Es tat mir weh, daß sie ihre holde Weiblichkeit so vollkommen abstreifte und sich zu diesem Haßausbruch verleiten ließ. Der Trias wäre dadurch genau so schmerzlich berührt worden. Er steht jenseits von Gut und Böse, und ob er wirklich nur ein Taschenspieler ist, bezweifle ich persönlich sehr stark.

 

 

9. Kapitel

Die leuchtenden Krönchen.

Nachdem die Ermittlungen in der Villa des Trias abgeschlossen waren, erbot ich mich, Aenne in einem Auto wieder nach Hause zu bringen, aber Harst erklärte, dies könnte ein Kriminalbeamter tun, er brauche mich daheim. –

Bechert begleitete uns. Es war inzwischen dunkel und zum Abend sehr schwül geworden, über Berlin lagerte eine pechschwarze Wolkendecke, jeden Moment konnte das Unwetter losbrechen.

Und es brach los. Gerade als wir beim Abendessen saßen und Harst soeben erklärt hatte, das ganze Tagebuch des Trias sei nur wohlberechneter Bluff, sauste plötzlich der erste Blitz herab, dem ein ohrenbetäubendes Krachen folgte. Das ganze Haus zitterte, die Scheiben klirrten, und dann folgte ein Donnerschlag auf den anderen und eine Regenflut, die sich der Stärke der ersten elektrischen Entladung vollkommen anpaßte.

Wir schwiegen und horchten, wir hatten ohnedies bisher nicht viel gesprochen, denn über uns lastete wie unheimlicher Nebel der rätselvolle Tod des Gärtners und Schmierenkomödianten Dagobert Wary. Harst hatte meine erneute Bemerkung, daß ich seiner Ansicht nach für Warys Tod in keiner Weise verantwortlich sei, mit einer fast gereizten Handbewegung abgetan: „Sie haben doch geschlafen!“

Nun, als der Donner verhallt war, erklärte er ergänzend zu seiner Bemerkung über das Tagebuch des Trias: „Der Bluff ist sogar außerordentlich raffiniert. Einst wird eine Zeit kommen, wo ich auch das aufdecken werde.“

Bechert schob seinen Teller zur Seite. „Überlegt man sich das Ganze, so bleibt eigentlich von Übernatürlichem verdammt wenig übrig,“ sagte er mißgelaunt. „Der Trias ist ein großer Verbrecher, zugegeben. Aber übersinnliche Eigenschaften fehlen ihm. Das Unerklärliche haben Sie restlos in das Gebiet klar zu überschauender Tatsachen übergeführt, lieber Harst.“

Harst, den ich bereits außerordentlich schätzen gelernt habe, ließ sich mit der Antwort Zeit.

„Das stimmt nicht ganz, lieber Bechert. Gewiß, es gibt Biertischphilister genug, die die Möglichkeit der Spaltung der Persönlichkeit im Körper und materialisierte, also sichtbare Seele bespötteln … Das ist dieselbe Sorte, die Tapferkeit und die Hingabe als Dummheit bezeichnen …“

Er schaute plötzlich mich an, und mir ward unbehaglich unter dem Einfluß dieses sinnenden Augenpaares …

„Wenn ich vorhin sagte, unser interessanter Hausgenosse Born, der Mann, der alles weiß, habe mit dem Tod des Gärtners nichts zu schaffen, so wollte ich nur zum Ausdruck bringen: Er weiß nicht, daß er dennoch scheinbar leibhaftig in der Villa des Trias anwesend war. Er war dort. Sein Körper schlief hier, seine sichtbare Seele folgte höherem Befehl und weilte im feudalen Herrenzimmer des Trias hinter dem kostbaren Gebetteppich, der die Ecknische abschließt. Hier ist der augenscheinliche Beweis, zwei breite Hobelspäne vom Parkettboden, die mir die Beamten unauffällig ausgehändigten. Sie, lieber Born, hatten neue, ganz neue Stiefel an, in denen die Fabrikmarke noch sichtbar war, und diese Marke hat sich in der dünnen Wachsschicht des Parketts abgedrückt: Bitte, – Stiller & Co., Berlin,“ – – also waren Sie dort!“

Ich fühlte, daß ich erbleichte.

„Aber ich bin kein Mörder!“ fuhr ich verzweifelt auf.

Harst nickte mir mit einem Sphinxlächeln gütig zu.

„Nein, das nicht ‥! Aber …“

Seine weiteren Worte wurden von erneutem Getöse des Unwetters verschlungen, – auf der Straße entstand wilder Lärm. Es hatte in nächster Nähe eingeschlagen, ein Dachstuhl brannte, die Feuerwehr rasselte herbei, und über alledem vergaß ich Harst zu fragen, wie er den begonnenen Satz hatte vollenden wollen.

Dann lag ich in meinem Bett, gefoltert von beängstigenden Gedanken, die ich hier nicht verschweigen darf. Ich spürte immer noch, daß man mir mißtraute! Weshalb?! Weil meine Knabenjahre mit Erinnerungen an Indien, an den berauschendem Anblick der Schneehäupter des Himalaja ausgefüllt waren?! – – Und – – träumte …

– Es war Mitternacht. Harst und Schraut saßen unten im Büro auf dem großen Sofa nebeneinander und sprachen ganz leise … Auf dem Tisch war die Stehlampe mit Zeitungen verhüllt, so daß nur ein zackiger Lichtschein auf die Perserdecke mit ihrem glänzenden Farbenmuster fiel. Der übrige Raum lag in Dreivierteldunkel.

Harst rauchte, sagte: „Du hast ganz recht, mein Alter, – wie sollen wir nachprüfen, ob Born nicht doch als ‚ungeteilte’ Persönlichkeit heute beim Trias war und den Gärtner ermorden wollte?! Unsere Hausdame war nicht daheim … Ich selbst glaubte, mein Schlafmittel würde ihn bezwingen. Hat es ihn bezwungen? Er nahm ‚im Traum’ ein Gegenmittel, wie er zugab … – Wir sind sehr nachlässig gewesen ‥!“

„Ein angenehmer Hausgenosse!!“ flüsterte Schraut zurück. „Ob Born etwa der Mensch ist, den der Trias in seinem Tagebuch seinen ahnungslosen, intelligenten Gehilfen nennt ‥?“

In demselben Augenblick wurde gegen die verriegelte Flurtür gepocht, und Roland Borns – meine – schrille, angstgequälte Stimme warnte überlaut: „Die Schlangen über Ihren Köpfen!! Ducken Sie sich ‥!“

Ich hatte gerufen … Nur ich hatte die goldenen, schillernden Krönchen gesehen und die schwachen Umrisse der Schlangenleiber …

Ich erwachte, flog aus dem Bett, stolperte lärmend die Treppe hinab, warf mich gegen die versperrte Tür, sprengte den Riegel und fand das Zimmer hell erleuchtet, fand Harst mit einem haarscharfen Rapier in der Hand vor dem Sofa, auf dessen Sitz sich ein Stück der Leiber zweier rotgepunkteter Puffottern, der schlimmsten Giftschlangen Brasiliens, hin und her bewegten …

Schraut, der recht blaß war, deutete auf zwei farblose Tropfen, die von einem Zeitungsblatt auf der Tischplatte glänzten. „Gift aus den Giftdrüsen, lieber Born! Wir danken Ihnen, Sie haben uns das Leben gerettet …“

Ich war so benommen durch den scheußlichen Anblick der zerstückelten Reptile, daß ich kein Wort über die Lippen brachte. Harst sagte etwas heiser: „Und dort liegen die goldenen Krönchen, die die Schlangen trugen. Es ist Gold, es ist altindische Arbeit, – wenn Sie sie genau betrachten, lieber Born, bemerken Sie, daß die Krönchen eigentümliche Verzierungen am Rande haben: Kreise, mit 3 X 3 darinnen ‥!“

Ich starrte geistesabwesend zur Zimmerdecke empor.

„Befindet sich dort oben eine Klappe oder eine Falltür?! Wie kamen die Puffottern ins Zimmer?!“ fragte ich blöde.

„Ich weiß es nicht,“ erklärter Harst schroff. „Und ich will es nicht wissen … Ziehen Sie sich an … Wir fahren sofort nach Kressen hinaus zu Hinrichsens …“

Ein heißer Schreck durchzuckte mich – ein freudiger Schreck vielleicht …

Ich würde Aenne wiedersehen ‥!!

 

 

10. Kapitel

Der Trias unterliegt abermals.

Auch über dem Klosterhof hing wieder einmal schwarzes Gewittergewölk, Blitze knatterten, Donner rollte, und der fanatische Pächter Heinrich Hinrichsen las abermals aus dem Andachtsbuch vor. Die Hunde lagen vor dem Kamin auf dem Fell des schwarzen Ziegenbocks, die ganze Familie war um den Mitteltisch versammelt, nur Wil saß auf der Ofenbank und neben ihm Aenne Bernd, die auf der Stirn tiefe Falten des Unwillens und der Geringschätzung hatte.

Die schwulstigen Redensarten des alten Erbauungsbuches, deren Sinn größtenteils unverständlich blieb, reizte das Mädchen immer mehr. Schließlich fiel sie Hinrichsen schneidend ins Wort:

„Schwiegervater, – genug damit ein für allemal!! Übergenug! Roland Born riet heute Herrn Harst, mir das Tagebuch des Trias mitzugeben, in dem klar und eindeutig verzeichnet steht, daß eure kleine Sekte nur gewissenlos von dunklen Hintermännern ausgenutzt wird! Da – – lest das Manuskript, es wird euch die Augen öffnen!“

Sie warf das zusammengeheftete Bündel Blätter auf den Tisch, aber Hinrichsen fegte es mit grimmen Lachen auf dem Fußboden, erhob sich langsam und wies nach der Tür.

„Hinaus für immer! Deine Lästerzunge wird Gott strafen, und dein Hirn wird verbrennen im Feuer der Gewissensbisse! Hinaus!!“ Seine sehnige, hagere Gestalt reckte sich noch höher …

„Geh fort, Verleumderin!! Geh und kehre nimmer zurück! Der Regen hat aufgehört, die Stimme des Himmels schweigt, und …“

Aenne hatte rasch das Manuskript aufgehoben, war zur Türe gehuscht und öffnete sie.

Heinrich Hinrichsen verstummte. Nur sein Arm blieb erhoben.

„Und du, Wil,“ fragte Aenne in das drückende Schweigen hinein in einem Ton, der eine Entscheidung herbeizwang.

Wil liebte Aenne. Wil hatte keinen inneren Kampf mehr mit sich auszufechten. Seit er Aenne in seinen Armen zum Dorfarzt getragen hatte, war alle Scheu vor ihr von ihm gewichen.

Trotzig und herausfordernd ergriff er Aennes Hand und drängte sich dicht neben sie: „Vater,“ sagte er rauh, „ Aenne mag schon recht haben mit ihrer Warnung. Vater, beantworte mir eine Frage, und ich will weiterhin euren Glauben als den einzig richtigen hochhalten … Vater, wer war der Mann, den du im leeren Seitenflügel verbargst in dem Gemach, dessen Tür du selbst vermauertest mit alten Ziegeln und Schmutz und Staub und Spinngewebe darüber breitetest? Wer war’s?! Unser Prophet etwa?! Jetzt ist das Gemach leer … Aber dies habe ich darin heute gefunden im Heu der Bettmatratze – – dies hier, Vater ‥!“ Er riß seine Jacke auf und hielt eine biegsame Stahlrute empor, an der eine künstliche Schlange mit einem leuchtenden Krönchen befestigt war. „Vater, – hierdurch wurde Aenne absichtlich verwundet! Vater, wie kommt dieses Mordinstrument in die Bettstatt eures Propheten?! Euer Prophet ist ein Mörder, ist der Trias!!“

Heinrich Hinrichsen, dem verblendeten Fanatiker, trat vor maßloser Wut der Schaum auf die Lippen. „Hinweg mit dir, Bube!!“ kreischte er. „Hin – – weg!! Ein Schuft nur kann das Ding in die Matratze gelegt haben – – oder eine Ungläubige, – – deine Aenne!“

Über Wil’s harte Züge zuckte ein bitteres Lachen.

„Narren!“ – Dann schlug er die Tür hinter sich und Aenne krachend zu und führte seine Braut, sie eng umschlungen haltend, über den Hof zur Gartentür, die von Haselnußsträuchern und Ginster umwuchert war.

[*]

Harst, Schraut und ich hatten eine Taxe genommen und waren mit dem Schofför, der Harst bereits kannte, schnell handelseinig geworden. Der Wagen war neu, der Fahrer betrachtete es als eine Ehre, uns in eiligstem Tempo nach Kressen zu bringen. Durch Gewitterregen und Sturm sausten wir die einsame Chaussee entlang, zackige Feuerschlangen zerrissen das schwarze Gewölk, ungeheure Regengüsse trommelten gegen die Fenster und auf das Dach, – – und trotzdem schlief ich ein…

… Ich träumte …

Ich sah die Wohnstube der Familie Hinrichsen, ich hörte alles, was sich dort abspielte, – hinterher haben Aenne und Wil uns nochmals alles erzählt, aber ich wußte es bereits, es war mir nicht Neues …

Harst weckte mich erst, als wir schon an Ort und Stelle waren. „Sie haben ja gehörig fest geschlafen, lieber Born …“, meinte er mit seinem bekannten gutmütigen Lächeln, das leider – er wird es mir verzeihen – nicht immer so ehrlich ist, wie es aussieht. „Sie bleiben nun am besten gleich hier in der Taxe sitzen und ruhen sich weiter aus. Sie bei diesem Wetter mitzunehmen, kann ich vor mir nicht verantworten, sie bedürfen noch der Schonung …“

Ich widersprach nicht, es hätte so aussehen können, als wollte ich mich aufdrängen. Ich dränge mich niemals auf, ich bin die Zurückhaltung in Person. Harst ließ mir und dem Schofför noch eine Menge Zigaretten zurück, damit wir es uns behaglicher machen könnten, und so wurde es im Inneren des Wagens, der in einem Gehölz unweit des Klosterhofes stand, sehr bald recht gemütlich. Nur als ich einmal hinaus ins Freie gehen wollte, merkte ich zu meiner stillen Empörung, daß ich in Wahrheit ein Gefangener war, denn der biedere Schofför entpuppte sich plötzlich als ein sehr energischer Vertrauter Harsts und erklärte mir beinahe groben Tones, ich könnte alles tun, was mir beliebe, nur den Wagen dürfte ich unter keinen Umständen verlassen, – Harst habe das verboten, weil die Gefahr für mich zu groß sei …

Nun, ich fand mich schnell damit ab, denn das ganze Leben besteht ja nur aus Kompromissen: der Klügere gibt vorläufig nach, da auch seine Stunde einmal kommen muß …

… Und die meine kommt bestimmt …

Ich ging also mit einem Scherzwort über Harsts große Sorge um meine Sicherheit hinweg und unterhielt mich mit dem schlichten Mann, der auf Harst begeisterte Loblieder sang.

Vielleicht waren es gerade diese überschwänglichen Lobpreisungen, die mich in gewisser Weise reizten, vielleicht war es auch ein Gefühl der Auflehnung, das mich veranlaßte, dem Schofför denselben Streich zu spielen, den Harst sich mit mir erlaubt hatte. Ich hatte bei mir in meinem Zimmer zufällig in einer Schieblade ein paar harmlose Schlaftabletten gefunden, und als der dicke Mann einen Schluck aus seiner Kaffeeflasche tat, merkte er nicht einmal, daß ich seinen Magentrost verändert hatte …

… Wie gesagt, ich weiß nicht mehr genau, ob es eine Tablette oder Flüssigkeit war …

Mein Gedächtnis ist zuweilen sehr schlecht …

Je nachdem … Man muß auch mitunter derartige Kompromisse mit sich selber schließen …

Mein Nachbar schlief zu seinem eigenen Glück auch in kürzester Zeit ein. Es hätte mir leid getan, andere Mittel anwenden zu müssen, aber ich hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, gegen die Entziehung meiner persönlichen Freiheit irgendwie zu opponieren. Außerdem war für mich ja noch ein anderer Grund vorhanden, und der hieß …

… Kompromiß mit der Ehrlichkeit, die zuweilen unbequem ist ‥: hieß Aenne Bernd!

Der große Trias hätte dazu gelächelt …

Ich auch.

Als ich den Wagen verließ, schien der Mond in hellen Streifen durch die regennassen Bäume. Irgendwo heulte ein Hund das Nachtgestirn an … Es klang schauerlich wie das Todesgestöhn eines Menschen … Vielleicht sterben in dieser Nacht noch zwei Leute. Soeben habe ich da draußen auf dem nebeldüsteren Felde zwei Gestalten vorüberschleichen sehen … Sie wollten mich ansprechen, – vielleicht haben Sie mich auch angesprochen, – mein Erinnerungsvermögen für die Vorgänge dieser Nacht ist seltsam unzuverlässig …

… Auch ein Kompromiss ‥?!

Düster wie immer lag der Klosterhof da …

Ich kenne ihn so genau, als hätte ich hier lange Zeit gewohnt. Der Trias wohnte dort bestimmt … Wil Hinrichsen hat vorhin seinem Vater vorgehalten, den Professor Assahl bei sich in dem geheimen Gemach beherbergt zu haben …

Assahl …

Ich buchstabiere unwillkürlich Assahl … von rückwärts …

Es ist so ein Einfall von mir …: Von rückwärts … Lhassa …: Lhassa, die Hauptstadt von Tibet …

Seltsam! Lhassa …! – Nicht einmal Harst ist darauf gekommen, daß Professor Assahl nur die Verkörperung von der Stadt der Städte ist, vom Ausgangspunkt der Wunderlehre des Lamaismus, der seinen Taschi-Lama nie sterben läßt, weil der Nachfolger stets durch die Inkarnation bestimmt wird …

Vielleicht auch der Trias, das Oberhaupt der Rosenkreuzer, vor denen ich die größte Achtung hege, da sie in vielem die Gepflogenheiten der frommen Mönche von Srinawir fortsetzen … Was Harst auch nicht weiß …

Er ahnt ja manches, aber zwischen Ahnen und Wissen klafft ein Abgrund, der weit tiefer ist als der, der mich von … Harst trennt.

Erst der ist wahrhaft vollkommenen, der über das Vorurteil hinweg ist, daß es einen Unterschied zwischen Gut und Böse gäbe. Zu dieser Größe wird sich Harst niemals aufschwingen, dazu fehlen ihm alle Voraussetzungen. – Es sind krause Gedanken, die mich bewegen, und es ist sehr schwer, sie niederzuhalten und in dem Ton zu erzählen, den Schraut für angemessen hält, wenn er seinen Lesern Sensationen auftischt. – Ich bin eben ein anderer BORN …, aus mir fließen Ströme der Erkenntnis …

Jeder erhält, was er verdient ‥!

… Dort ist die Gartentür, dort die Büsche, deren Duft nach dem Regen doppelt betäubend wirkt. Jeden Strauch kenne ich hier, – dort von dem weißen Flieder hat Wil Hinrichsen stets die Blütendolden für … meine Aenne abgeschnitten. Jetzt liegen dort Harst und Schraut auf der Lauer, ich sehe nur ihre Köpfe … Es soll also nicht sein, ich hatte auf etwas anderes gehofft.

Zwei müssen sterben, damit das Wort erfüllt werde:

Wer sein Leben verlieret meinetwegen, der wird eingehend in die Gemeinschaft der Erwählten!

Und noch zwei Köpfe bemerke ich, dicht an der Pforte… Es sind die beiden Männer, mit denen ich vorhin vielleicht gesprochen habe, es sind die Inder, die geflüchteten Diener des Großen Trias … Ihre Namen sind mir nicht mehr geläufig, sie sind bereits tot.

Harst und Schraut beobachten die beiden – leider … Ich hätte hier weit lieber nach meinen eigenen Vorsätzen gehandelt. Auch das wird so zum Kompromiß des Notwendigen …

… Die Tür des Klosterhofes öffnet sich, und Aenne und Wil treten Arm in Arm ins Freie, kommen näher, und Harst und Schraut halten sich zum Zupacken bereit.

Da hebe ich die Hand. Kurze Feuerblitze fahren durch den blaugrünen Mondschein. Harst hat warnend gerufen: „Vorsicht, zurück!“ –

Das Brautpaar hört ihn nicht mehr, – der Knall der Schüsse übertönt alles. Wie gelähmt stehe ich mit hängenden Armen da und lasse Schrauts Vorwürfe wegen meiner übereilten Handlungsweise über mich ergehen, als beträfe das gar nicht meine Person … Die Inder sind tot, – ich war stets ein sicherer Schütze. Praßwati und Patur sind in die Gemeinschaft der Erwählten eingegangen. –

Was sich anschließend auf dem Klosterhof abspielte, kann ich übergehen. Ein paar peinliche Minuten folgten noch, als wir drei uns in den Wald zu unserer Taxe begaben und der Schofför allzu fest schlief. Da er jedoch seine umfangreiche Flasche im Schoß hatte, die völlig leer war und die ich vielleicht ausgespült hatte, verlor Harst darüber kein Wort und war liebenswürdiger denn je zu mir – aber ich kenne ihn nun …

Zwei Stunden drauf waren wir drei wieder daheim, saßen im Büro nebeneinander, tranken würzigen Mokka, und Harst erklärte nach langem Schweigen bei der dritten Zigarette: „Es war nicht Ihre eigene Eingebung, lieber Born, daß Sie mir rieten, Aenne das Manuskript mitzugeben … Es war ein … höherer Befehl …“

Er sprach immer leiser, und Schraut und ich mußten genau hinhören, um ihn zu verstehen. „Der Trias wollte es so … Der Trias hoffte, Aenne würde nach dem endgültigen Bruch mit der Familie Hinrichsen allein nach Hause eilen, und dann hätte er Aenne durch die Inder verschwinden lassen … vielleicht für immer, aber für sich, denn er begehrte sie … Sie handelten etwas vorschnell, als Sie die beiden erschossen … Immerhin ist es begreiflich … Jedenfalls sind die Hinrichsens nun von ihrem Wahn dieser Sektiererei geheilt … Und wir – – werden es mit dem Trias leichter haben, nachdem ihm seine zuverlässigsten Gehilfen genommen sind …“

„Hoffentlich!“ sagte ich ebenso leise …

Ich hätte noch manches hinzufügen können …

Ich schwieg … – –

Und nach einer Stunde träumte ich …

Harst und Schraut saßen noch immer beieinander, ich lehnte vielleicht am Schreibtisch, und Harst sagte: „Freund Born ahnt nicht, daß diese Zimmerdecke tatsächlich eine Klappe hat und daß die Puffottern an Pferdehaaren von oben herabgelassen wurden … Es sei denn, er … träumt abermals …“

Da erwachte ich …

Da war ich wieder oben in meinem Balkonzimmer, spürte den Duft der blühenden Kastanien und des einen Fliederbusches, der genau so süß duftete wie Sträucher in Aennes Garten. Aber diese äußeren Eindrücke verblaßten völlig vor den harten Tatsachen der rauhen Wirklichkeit …

… Ich saß in kalten Schweiß gebadet aufrecht im Bett. Durch das Fenster fiel ein breiter Mondstrahl auf meine über der Brust gekreuzten Arme und Hände, deren Zeigefinger sich beständig drehten – wie Flügel der tibetanischen Gebetmühlen …

Ich betete ebenfalls … Und ich kniete wieder wie als Knabe vor dem Buddhastandbild im Tempel von Srinawir und war jetzt als reifer Mann, was ich damals als Knabe bereits gewesen: der Mann, der alles wußte ‥!

Und … noch ‥?!

… Weshalb log Harst ‥?! Es war eine Lüge! Weder hatte die Zimmerdecke eine Falltür, noch waren Pferdehaare um die Schlangenleiber gewunden gewesen ‥!

Ich werde ihm dies vorhalten. Er wird mir meine Aufrichtigkeit nicht verargen. Im Kampf gegen den Trias darf es keine Rücksichten geben! Von meiner Seite nicht ‥!

Oder soll ich doch besser abermals Kompromisse mit mir selbst schließen und schweigen und nochmals nachprüfen, ob Harst nicht doch recht hat?! Vielleicht ist im Bodenraum wirklich eine Klappe zu finden, vielleicht entdecke ich auch noch Pferdehaare irgendwo dort oben.

Entschluß wird zur Tat.

Lautlos schleiche ich im Finstern wie ein Dieb auf unehrlichen Pfaden nach oben und schalte erst am Ziel meine Taschenlampe ein.

… Bücke mich und lächele dabei … Weshalb dieses Lächeln der Weisen über mein Gesicht huscht, vermag nur ich zu deuten. Ich finde die Klappe … Der Sägeschnitt in den Brettern ist frisch …

Ich lache still vor mich hin …

Ich finde in einem Winkel auch die Pferdehaare, daneben seltsamerweise auch die goldenen Krönchen der beiden Puffottern, und das gibt mir zu denken. Ich kenne Harsts Methoden … Ich lasse alles unberührt, obwohl mir gerade die echten Krönchen sehr ans Herz gewachsen sind … Ich glaube, solche Krönchen mit dem Trias-Zeichen am Rand sah ich bereits in Srinawir …

Ich betrachte sie voller Andacht, und die Gegenwart versinkt, und eine wunderbare Vergangenheit lebt von neuem auf …

Das Zauberland Indien erscheint vor mir wie eine berückende Vision … Der Buddhatempel in Srinawir öffnet sich mir von neuem, abermals halte ich das grüne Gefäß in Händen und …

… … …

Denn ich bin, was ich als Knabe war: ein Gezeichneter, ich bin … eines der Bilder, die der rinnende Inhalt der heiligen Sanduhr malt …

 

 

Nächster Band:

Die grüne Sanduhr.