Harald Harst
Band: 352
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
1. Kapitel
Ein Brand und eine Lebensversicherung.
Mein Freund Harst hatte seinen philosophischen Abend.
Persönlichkeiten von stark ausgeprägter Eigenart sind vielleicht insgeheim mehr Stimmungsmenschen und sogar dem Alltäglichsten weit mehr zugänglich, als die große Menge gemeinhin annimmt.
Ein Bismarck las zur Entspannung die Kriminalerzählungen Conan Doyles und versenkte sich in die Spitzfindigkeiten eines Sherlock Holmes.
Harst, der nie etwas anderes sein will als er selbst, lebt zumeist erst spät abends auf, nachdem der Tag ihm diese oder jene Anregung gegeben hat.
Wir hatten am Nachmittag eine große Fußtour ohne bestimmten Zweck unternommen und waren schließlich am Ufer der Havel an ganz einsamer Stelle Zeugen eines etwas merkwürdigen Vorganges geworden.
Ein Mann, der sein Kleiderbündel auf eine Art Schilffloß gelegt hatte und das kleine Floß hinter sich herzog, kam über den recht breiten Strom geschwommen, benahm sich dabei sehr vorsichtig, bemerkte uns nicht, stieg ans Ufer und kleidete sich in einem Gebüsch wieder an.
Es war ein schlanker, kräftiger Mann nur schwer bestimmbaren Alters gewesen, mit langen hellen Bartstoppeln, aber seine Kleidung verriet doch trotz des ihr anhaftenden Staubes und Schmutzes den Zugehörigen einer wohlhabenderen Gesellschaftsschicht.
Als der Fremde, den Harst später nur ‚den Mann vom anderen Ufer‘ nannte, nachher in derselben mißtrauischen, behutsamen Art tiefer in den Grunewaldforst hineinschlich und schließlich mit seinem von hellen Lehmspuren beschmutzten Rucksack in einer jüngeren Kiefernschonung einen alten Wildkaninchenbau mit einem kurzen Spaten als Unterschlupf sehr flink und geschickt sich hergerichtet hatte, waren wir hinter ihm geblieben und lagen schließlich keine zehn Meter weiter unter den Jungkiefern und beobachteten sein Tun und Treiben mit dem Interesse von Leuten, die gewöhnt sind derartige Vorkommnisse auf ihre Art sich auszulegen und zu bewerten.
Zweifellos, so mußten wir annehmen, handelte es sich um einen Flüchtling, der es nicht einmal wagte, im Menschengewühl der Millionenstadt Berlin zu verschwinden.
Ob er ein Verbrecher oder nur ein Unglücklicher war, ließ sich nicht sofort entscheiden, da wir nur nach dem äußeren Eindruck urteilen konnten, den der Mann vom anderen Ufer auf uns machte, und nach seinem ganzen Verhalten.
Wir hatten ihn so bei der Herrichtung seines Kaninchenbaus eine volle Stunde beobachtet, dann tilgte er die Spuren seiner Arbeit ebenso sorgfältig wie sachkundig aus, verschloß den Zugang seiner durch Äste und Zweige abgestützten Erdhöhle durch Grasstücke und einen Brombeerstrauch und wurde nicht mehr sichtbar.
Um halb Neun trafen wir daheim ein, und jetzt nach dem Abendessen saßen wir bei dem warmen Maiwetter bei offenen Fenstern, und mein Freund bekam, wie eingangs erwähnt, seine philosophischen Anwandlungen, die ihn über Kants Kritik der reinen Vernunft, über Schopenbhauer, Nietzsche und einige ganz moderne Philosophen schließlich zu der vielumstrittenen Gestalt des indischen Dichters und Denkers Tagore führten, der zur Zeit so sehr viel von sich reden machte.
Harsts Äußerungen hatten auch heute, das merkte ich sehr bald, einen bestimmten Mittelpunkt und einen besonderen Zweck.
Er, der die Zeitungslektüre zum Beispiel nie als müßige Zerstreuung ansieht, sondern regelmäßig mit größter Sorgfalt Zeitungsausschnitte sammelt, die irgendwie von Wichtigkeit sein könnten, verfügt durch langjährige Erfahrungen und durch eine nicht wegzuleugnende geistige Rührigkeit über die Fähigkeit, Ereignisse durch Gedankenfäden miteinander zu verknüpfen, die anscheinend gar nichts miteinander zu tun haben.
Nach längerer Pause, in der er abermals eine Zigarette sehr hastig aufgeraucht hatte, erklärte er völlig unvermittelt:
„Es ist bedauerlich, daß die Zeitungen kein Bild Kaldenhovens brachten …“
Ich suchte in meinem Gedächtnis nach einem Ereignis, das mit dem Namen Kaldenhoven zusammenhängen könnte.
Und ich fand es.
„Du denkst an den Brand des Landhäuschens des ehemaligen Marinemalers, Harald?“
„Ja. Willi Kaldenhoven trug ehedem, als er noch bei Hofe ‚persona grata‘ war und es noch eine Hofgesellschaft gab, einen Spitzbart … Während des Krieges lag er an der Flandernfront, zeichnete sich verschiedentlich aus, wurde verwundet, dann kam die Novemberrevolte, und Kaldenhovens Marinebilder wurden bespöttelt, niemand wünschte mehr etwas von einer deutschen Kriegsflotte zu hören und zu sehen, er verarmte, zog sich verbittert in sein Landhäuschen an der Havel zurück, und vor drei Tagen brannte sein Besitz nachts völlig nieder, die Polizei entdeckte Spuren von Brandstiftung und völlig verkohlte Leichenreste … Die Zeitungen, du erinnerst dich, sprachen von einem Selbstmord des menschenscheu gewordenen Malers, und die üblichen Seitenhiebe auf den einstigen Günstling des früheren Regiments fehlten auch nicht … In heuchlerischem Mitleid redete man von einem weltfremden Brandstifter und Selbstmörder, der sein einziges Kind rücksichtslos sich selbst überlassen habe …“
„Du meinst, daß der Mann vom anderen Ufer Kaldenhoven war?“
„Ja. Ich kenne zwar nur Bilder von ihm aus früherer Zeit, aber die ganze Art, wie er den Kaninchenbau dort in der Schonung unter dem Wurzelwerk der uralten Eiche im Nu für sich als Unterschlupf herrichtete, bewies größte Sachkenntnis in ähnlichen Arbeiten vom Schützengraben her.“
„Allerdings …“, mußte ich beipflichten.
„Außerdem“, meinte Harst noch nachdenklicher, „wirst du dich besinnen, daß der Mann vom anderen Ufer aus seinem Rucksack unter anderem zwei sehr große, verblichene grüne Vorhänge auspackte. Es dürften Vorhänge aus einem Maleratelier sein. Und schließlich das Entscheidende: Als er sich eine Ruhepause gönnte, zog er eine abgegriffene Brieftasche hervor und betrachtete gleichfalls ein darin enthaltenes Bild. — Eine einzige Zeitung schrieb, daß Kaldenhoven seine Tochter, die in Berlin irgendwo in Stellung ist, über alles geliebt hat, und daß er außer seinem Kinde nur einen Menschen besaß, der ihm näher stand, seinen Nachbar dort bei Werder, dem Havelstädtchen, und dieselbe Zeitung brach auch sehr energisch eine Lanze für den verbitterten Mann, der nie und nimmer freiwillig aus dem Leben geschieden wäre. — Als Kaldenhoven während der Arbeitspause das Bild betrachtete, lag in seinen Zügen ein so ergreifender Ausdruck von Gram und Verzweiflung, daß ich bewußt vorhin über die Unzulänglichkeit menschlichen Wollens philosophierte. Zumeist ist Elternliebe und Kindesliebe heute leider auf das Niveau einer bloßen Interessengemeinschaft herabgedrückt worden, und doch: Kaldenhoven muß sein Kind abgöttisch lieben, trotzdem mit jener Opferfreudigkeit, die nicht unbedingt zu einer grenzenlosen Vaterliebe gehört.“
Er griff nach einer der Abendzeitungen auf dem Rauchtischchen.
„Bitte, das neueste über den Mann vom anderen Ufer … Lies nur, mein Alter … — Unser Erlebnis wird durch diese heutige Abendnotiz zum Kriminalfall.“
Er erhob sich, schloß die Fenster und Vorhänge, schaltete das Licht ein und deutete auf den kurzen Artikel des Blattes.
Ich las:
„Zum Fall Kaldenhoven. — Die Versicherungsgesellschaft, bei der zu Gunsten des einzigen Kindes Willi Kaldenhovens Leben mit 25000 Mark versichert war, weigert sich, den Betrag an Fräulein Erna Kaldenhoven zu zahlen und hat bereits gegen sie als Empfangsberechtigte einen Prozeß angestrengt, da nicht einwandfrei nachgewiesen sei, daß die verkohlten Leichenreste die ihres Vaters wären und da ferner Brandstiftung und Selbstmord vorzuliegen schienen.“
Ich überlegte einige Sekunden.
„Wer ist der Tote, wenn Kaldenhoven lebt?!“, sagte ich etwas beklommen.
Mein Freund entgegnete nur: „Kaldenhoven ist kein Mörder. Seine Vergangenheit ist makellos … — Ah, — — die Flurglocke …! So später Besuch bringt stets Arbeit. Bitte, öffne, mein Alter …“
Die beiden Personen, die ich einließ, waren Fräulein Kaldenhoven und der einzige Freund ihres Vaters, der frühere Schiffskapitän Rochus Andersen.
2. Kapitel
Ein Eisenfresser von Kapitän.
Erna Kaldenhoven war zu meinem Befremden völlig mondain, vollkommen Weib der neuen Zeit. Ihre Trauerkleidung, raffiniert schick, stand in unangenehmem Widerspruch zu den herzförmig-knallrot gemalten Lippen, den nachgezogenen Augenbrauen, den geschminkten Wangen und dem starken Parfümgeruch.
Ihre selbstbewußte Art war betont müde und nachlässig. Alles in allem ein Mädchen, das keine Illusionen mehr kennen will und die Selbstvergötterung zum Kult erhoben hat, ein angekränkeltes Geschöpf einer kranken Zeit.
Wie mußte ein Mann von Willi Kaldenhovens Biederkeit, Schlichtheit und Menschenkenntnis unter diesem offenbaren seelischen, wenn nicht auch moralischen Niedergang seines einzigen Kindes gelitten haben!
Und dann der Kapitän Andersen, neben diesem geputzten Dämchen wie eine knorrige, knurrige verwilderte Bulldogge wirkend!
Ein kleiner dürrer Kerl mit ungepflegtem Bart, tiefgebräuntem, narbigem Gesicht, mit schlechten Zähnen, nachlässig gekleidet, grob, polterig und mit nadelscharfen flinken Blicken, die alles zu sehen schienen.
… Ein so ungleiches Paar, daß ich jedesmal die beiden erstaunt musterte, wenn das Mädchen den ungehobelten Käpten ‚Onkel Rochus‘ und er sie ‚Ernachen‘ nannte.
Für Harst mochten Andersen und Fräulein Kaldenhoven wunderbare Studienobjekte sein. Für mich waren es auch nur … Menschen vom anderen Ufer, freilich mit Einschränkungen.
Der Kapitän polterte sofort heraus:
„Herr Harst, was kostet so was bei Ihnen?“
Er sagte wörtlich ‚so was‘ und meinte natürlich meines Freundes Berufsarbeit.
Harst stellte sich begriffsstutzig an.
„Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Kapitän … Haben Sie irgendwie Unannehmlichkeiten mit der Polizei zu fürchten, die ich aus dem Wege räumen soll?“
Andersens Mumiengesicht wurde blaurot.
„Ich — — Polizei?!“, schrie er. „Ich bin mein Lebtag meine eigene Polizei an Bord gewesen, bis vor vier Jahren, als die Hapag mich pensionierte, weil ich im Gelben Meer so ein paar schlitzäugige Schurken aufknüpfen ließ, die meinen Dampfer sprengen wollten, — Piraten!!“
Er schnappte nach Luft …
Erna Kaldenhoven lächelte gelangweilt.
„Sprengen?“, fragte Harst gedehnt. „Durch Dynamit?“
Andersen stieß eine heisere Lache aus …
„Blech — Dynamit!! Der ‚Elbsand‘ hatte Sojabohnen geladen und fuhr für eine siamesische Reederei. Wissen Sie, was Sojabohnen sind?! Ein ganz verdammtes Zeug …!“
„Ich weiß“, nickte Harst. „Es sind große Bohnen, die viel nach China exportiert werden und sehr leicht zu doppelter Größe quellen, wenn sie feucht werden. Sind Sojabohnen absichtlich im Laderaum durchnäßt worden, so können sie die Schiffsplanken allerdings sprengen.“
Andersen schaute jetzt meinen Freund mit einer gewissen Scheu an.
„Das stimmt, Herr Harst. Ich bin erstaunt, daß Sie sogar über derlei Dinge Bescheid wissen.“
„Mein Beruf …“, erklärte Harald gleichmütig. „Also was führt Sie und Ihre Nichte her? Über das Honorar spreche ich stets zu allerletzt.“
„Dann sind Sie ein miserabler Geschäftsmann“, meinte der Kapitän grob-ehrlich. „Na, mir kann es recht sein…! Diese verfl … Versicherungsgesellschaft will nicht zahlen! Die Bande will nie zahlen. Die Versicherungsraten schlucken sie sehr gern, aber nachher, wenn diese Gauner selbst blechen sollen, machen sie allerhand Schwierigkeiten …“
Harst schüttelte mißbilligend den Kopf.
„Sie sprechen in Rätseln, Herr Kapitän … Vielleicht sind Sie so liebenswürdig, Fräulein Kaldenhoven, und setzen mir die Sachlage etwas übersichtlicher auseinander.“
Er tat, als hätte er keine Ahnung von dem Brande und dessen Begleitumständen.
Erna Kaldenhoven lehnte sehr, sehr zwanglos im Sessel und begann nun, zu ihrer Ehre sei dies anerkannt, zwar in ihrer gekünstelt-gelangweilten, aber immerhin übersichtlichen Art alles Nötige vorzutragen.
Sie selbst war hier in Berlin bei einer Bank Sekretärin des zweiten Direktors, wohnte auch in Berlin möbliert, ihr war jedoch zum 1. Juli gekündigt worden, da die Privatbank das Personal verringern mußte.
Der Brand des einsam gelegenen Landhauses ihres Vaters war nun zufällig gegen ein Uhr morgens durch Rochus Andersens Haushälterin bemerkt worden, die ihr warmes Bett verlassen hatte, um aus der Hausapotheke ein Zahnschmerzmittel zu holen.
Andersens Grundstück lag fünfhundert Meter weiter nach Werder zu. Als der Kapitän ans Fenster trat, brannte bereits der Dachstuhl drüben. Er rief die Feuerwehr in Werder an, es gab jedoch nichts mehr zu retten.
Alles andere wußten wir, hörten jedoch geduldig zu …
Mitunter warf der Kapitän eine Bemerkung ein, zum Beispiel:
Die Polizei ist verrückt!! Brandstiftung, Selbstmord!! Na, ich habe diesen vernagelten Herrschaften gründlich meine Meinung gesagt! Meines Freundes Reste wurden im Bett gefunden, das heißt dort, wo das Bett mal gestanden hatte … Er trug ein falsches Gebiß … Die Überbleibsel davon waren noch zu erkennen. Er brannte aus Sparsamkeit Petroleum … Natürlich ist seine große Petroleumkanne bei der Hitze gesprungen, und die verkohlten Dielen am Treppenflur stanken nach Petroleum! Keine Rede von angelegtem Feuer oder gar Selbstmord!! Natürlich haben diese Gauner von der Versicherungsgesellschaft sofort die Schauermärchen für sich ausgeschlachtet und klagen nun vor Gericht, daß …“
Zum ersten Male zeigte Erna Kaldenhoven bei diesen Einzelheiten etwas wie Gefühl. Sie hob abwehrend die Hand und flüsterte leicht gereizt:
„Onkel Rochus, ich möchte dich doch bitten, diese Dinge nur leicht zu streifen und auf mich Rücksicht zu nehmen.“
Der Kapitän wandte mit einem scharfen Ruck den Kopf nach ihr hin.
„Nanu Erna, — plötzlich Nerven?!“
Es klang brutal und trotzdem ungläubig erstaunt.
Das Mädchen blickte zu Boden. Ihre Finger hatten sich ineinander verschlungen, und man merkte, daß sie die Fingerknochen fast schmerzhaft aufeinanderdrückte, um irgend eine starke Erregung niederzuzwingen.
Dann sagte sie überhastet und schrill, — ganz so als ob sie sich nicht unterbrechen lassen wollte:
„Ich glaube nicht an Vaters Tod. Ich kann nicht daran glauben … Er hätte mich nie so allein auf der Welt zurückgelassen … Er hat mich geliebt, obwohl er darunter litt, daß ich hier in Berlin in Kreisen verkehrte, die mich ihm entfremdeten. Er war ein schlichter, aufrechter Mann, der die heutige Zeit haßte, der Deutschlands Ruhmestage nie vergaß und der Tränen vergoß, wenn die Rede auf die ehemalige deutsche Kriegsflotte kam, die er in tausend Bildern und Skizzen verewigt hatte. Nein, — ich glaube nicht an seinen Tod, und gerade, weil ich nie daran glauben kann, nicht einmal an einen Tod durch Unfall, habe ich dich hierher begleitet, Onkel Rochus … Herr Harst soll die Wahrheit herausfinden, und er wird sie finden. Ich kann gegen die Versicherungsgesellschaft nicht vorgehen, das widerstrebt meinem innersten Empfinden. Mir liegt nichts an den fünfundzwanzigtausend Mark, obwohl ich jetzt … bettelarm bin.“
Das war ja eine völlig verwandelte Erna Kaldenhoven! Mit jedem Wort, das sie immer leidenschaftlicher hervorgestoßen hatte, fiel gleichsam ein Stückchen des häßlichen Aufputzes von ihr ab, der ihre Persönlichkeit rein äußerlich schon so wenig ansprechend gestaltet hatte.
Aber wenn schon des Mädchens jähe Wandlung zumindest mich verblüffte, wie sollte man nun zu Käpten Andersens Verhalten Stellung nehmen?!
Rochus Andersen schlug grimmig mit der Faust auf die Sessellehne. Sein Gesicht sprühte Funken der hellen Wut.
„Mädel, zum Deibel, — was ist dir denn plötzlich in die Knochen und ins Hirn gefahren?! Hat diese feine Bande, mit der du dich da abends in den Luxuslokalen herumtreibst, deinen Verstand mit verdorben?! Dein Vater soll noch leben?! Gerechter Himmel, hat man je solchen Blödsinn gehört?! Und wer ist der Mann, der da im Landhaus verbrannt ist?! Willst du etwa noch das Gerede in die Welt setzen, dein braver Vater sei ein Mörder, Schwindler, Gauner oder Gott weiß was?!“
Abermals knallte seine Faust auf die Sessellehne.
„Herr Harst, — die Erna ist nicht ganz richtig im Kopf … Ich als Kaldenhovens einziger Freund und Vertrauter habe die Pflicht, ihn selbst gegen so unsinnige Vermutungen seines Kindes zu schützen. Ich weiß, ich bin ein Grobian, ein ungehobelter alter Jan Maat, aber eins kann mir niemand versagen: Die Achtung!! Niemand kann meine Ehre, meine anständige Gesinnung anzweifeln. Daß ich mal ein wilder Draufgänger war und die gelben Halsabschneider dort in Ostasien samt ihrem moralisch verkommenen weißen Anhang gehörig mir vorknöpfte, — — sollte ich etwa warten, bis mein Schiff auf den Riffen und ich mit drei Zoll Messerklinge im Herzen daneben lag?!“
Er war aufgesprungen.
So klein er war, dieser Rochus Andersen, als er nun mit vorgewölbtem Brustkästen vor uns stand und die Fäuste gegen einen unsichtbaren Feind trotzig vorstieß, da fühlte man, daß mit ihm nicht zu spaßen war.
Dann fiel sein flammender Blick auf das ängstlich zusammengeduckte Mädchen, und langsam gewann er wieder Gewalt über sich, und seine Hand tätschelte etwas plump Erna Kaldenhovens Schulter.
„Verzeihe schon, kleine Marjell“, sagte er rauh. „Ich bin und bleibe ein gräßlicher Wüterich … Sollst deinen Willen haben, Mädel … Der Herr Harst wird alles untersuchen, und die Kosten trage ich … Aber — das erkläre ich dir auch im selben Atemzuge: Die Hirngespinste, daß dein Vater noch lebt, die schlage dir nur aus dem Kopf! Du redest zu niemandem darüber, sonst … sonst könnte ich verdammt eklig werden! Ich bin dein Vormund, das weißt du, — das Gericht weiß es auch … Und der Verkehr mit diesen herausgeputzten Laffen und halbverrückten Weibern hört auf!! Endgültig! Dein Chef hat dir gekündigt, und hier vor diesen beiden Herren sage ich es: Ich habe dem Herrn Bankdirektor einen Brief hingehalten, in dem ‚Lump‘ noch eine bescheidene Injurie war! Verdient hat er es! Der hat dich in die Kreise eingeführt … Der … der Herr Direktor Maffert …! Und jetzt fahren wir heim zu mir in eine anständige Umgebung … In die Bank setzt du nicht einen Fuß mehr. Deine paar Sachen sind bald gepackt … Dann ist es Schluß mit Berlin, Schluß mit bemalten Lippen und all dem Unfug, der aus deutschen Mädchen nur Dirnen macht!“
Er holte tief Atem und lächelte plötzlich etwas verlegen und tätschelte aufs neue Ernas Schulter …
„Mädel, — — nur nicht heulen!! Dein braver Vater war zu weich … Ich bin steinhart, wie es sein muß, und hier geht es um ein Menschenschicksal, um dich selbst …!“
Erna Kaldenhoven war völlig in sich zusammengesunken, hatte den Kopf tief gesenkt und die eine Hand über die Augen gedeckt.
Rochus Andersen wartete auf eine Gegenäußerung.
Sie kam …
Ganz leise, aber sehr energisch, — ohne Trotz, ohne Aufbegehren …
„Ich kann nicht!!“
„Was kannst du nicht?! fragte der Käpten etwas schroff.
„Ich kann dich nicht begleiten, — — nicht heute …“, klang es zaghafter zurück.
Die Aderstränge an des Käptens eingesunkenen Schläfen schwollen jäh wieder zu dicken Stricken an.
Seine Finger krallten sich in des Mädchens Achsel …
In dieser kritischen Sekunde mischte Harst sich ein, der bisher ein stiller, aufmerksamer Beobachter gewesen.
„Herr Kapitän, Sie gestatten eine Frage … Offenbar ist Ihres Freundes Kaldenhoven Testament bereits eröffnet worden. Sie sind Fräulein Ernas Vormund. Das Testament lag wohl bei einem Notar.“
Die kühle Sachlichkeit ernüchterte alle Teile, selbst mich. Meine Nerven waren auf eine heftige Szene vorbereitet gewesen.
Rochus Andersen drehte langsam den Kopf, die blitzenden, jugendlichen Augen ganz klein und fragte geradezu lauernd:
„Weshalb wollen Sie das wissen?!“
— Hiermit trat der Fall Kaldenhoven in ein neues Stadium.
3. Kapitel
Wie man Leute beobachten läßt.
Zweifellos lag in Rochus Andersens Benehmen eine Fülle nicht geringer Widersprüche.
Auch ich hatte das gespürt.
Mir war dabei nur das Wesentliche entgangen.
Als der Kapitän nun so merkwürdig herausfordernd eine direkte Antwort auf Harsts Frage umging, hatte ich sofort das ganz bestimmte Vorgefühl, daß dieses Testament dem alten Seemann nicht recht behagte.
Mein Freund wandte sich an das Mädchen.
„Antworten Sie mir, Fräulein Kaldenhoven. Wer hatte das Testament in Verwahrung?“
„Onkel Rochus.“
„Und wer beerbt Sie, falls Sie sterben sollten? Auch die Jugend ist nicht vor dem Tode gefeit …“
Erna zögerte.
„Ich!! Verdammt — — ich bin doch der Erbe!“, schrie Andersen heiser. „Das ist ja der böse Streich, den Kaldenhoven mir gespielt hat! Nichts hat er mir davon gesagt … Mit der Vormundschaft war ich einverstanden …“
Harst meinte in seiner eigentümlich beruhigend wirkenden Art: „Weshalb erregen Sie sich so, Herr Kapitän?! Lassen Sie uns doch die Dinge ganz leidenschaftslos erörtern. — Wann wurde das Testament errichtet?“
Andersen warf sich finster in seinen Sessel zurück.
„Vor vierzehn Tagen etwa“, erklärte er widerwillig.
„Noch oder vor Fräulein Ernas Kündigung bei der Bank?“
„Nachher. — — Was soll das alles?!“
„Haben Sie sich um eine neue Stellung bemüht, Fräulein Kaldenhoven?“
„Ja. Jedoch umsonst …“
Andersen ergänzte brutal: „Wer stellt ein Mädel ein, von dem die Spatzen von den Dächern pfeifen, daß sie ihre Nächte in Luxusgaststätten mit zweifelhaften Gentleman verbringt?! — Das ist ja meine Wut, Herr Harst … Kaldenhoven war als Vater zu schwach. Er verließ sich stets auf den guten Kern in Ernas Charakter. Aber der gesündeste Kern wird morsch und wurmstichig, wenn man dauernd Zigaretten raucht, die Nächte tanzt und tollt und …“
Das Mädchen hatte plötzlich den Kopf zurückgeworfen …
Ein kalter, feindseliger Blick traf den groben Onkel Rochus, der sofort verstummte …
Ich erwartete irgend eine scharfe Verteidigung von Seiten Ernas. Sie unterblieb.
Harst, der in seiner Sofaecke im Halbdunkeln sogar sein so schwer zu enträtselndes Minenspiel im Verborgenen hielt, beugte nun auch dieser neuen Zuspitzung der Aussprache geschickt vor und meinte mit harmloser Liebenswürdigkeit:
Herr Kapitän, wir wollen Fräulein Erna doch nicht allzu scharf anfassen … Wenn sie durchaus heute noch in Berlin bleiben will, — kommt es denn auf einen Abend an?! Sie sind doch selbst einmal jung gewesen, und da Fräulein Erna innerlich davon überzeugt ist, daß ihr Vater noch lebt, und jeder Mangel an Pietät … — Entschuldigen sie mich jetzt bitte für ein paar Minuten … ich denke soeben daran, daß ich noch einen Klienten anrufen sollte … — Schraut, du könntest unseren Gästen eine Stärkung anbieten … Alter Rotwein ist wie Öl und glättet die wildesten Wogen.“
Er ging zum Schreibtisch und verlangte eine bestimmte Nummer des Amtes Pfalzburg.
Ich, in seine Eigentümlichkeiten eingeweiht, ließ wie durch Ungeschick den silbernen Aschbecher fallen, als er die Nummer nannte.
Mein bescheidener Trick verhütete, daß Andersen oder Erna die Nummer verstanden und sie sich etwa merkten.
„… Hier Uhland 19223 … N‘ Abend … Unsere Zusammenkunft muß verschoben werden … Gewiß, — elf Uhr paßt mir … Also Wiedersehen … Und bringen Sie Ihren Freund mit … — Schluß.“
Er hängte ab.
Was er da soeben dem von uns ständig zu Nebenarbeiten herangezogenen Detektivinstitut Argus mitgeteilt hatte, war dem Inhalt nach eine feststehende Formel für bestimmte Zwecke.
Harst nahm wieder Platz, und da der Rotwein wirklich trinkbar war und mein Freund so allerlei Nebensächlichkeiten zu fragen begann, brachen unsere Gäste erst auf, als die Standuhr soeben acht geschlagen hatte.
Ich geleitete sie bis zur Vorgartenpforte, und als jenseits der Straße zwei Herren sich frische Zigarren anbrannten, wußte ich genau, daß weder Käpten Andersen noch sein Mündel in dieser Nacht auch nur einen Schritt unbeobachtet tun würden.
Harst erwartete mich, in seine Sofaecke geschmiegt, und schaute mir fragend entgegen.
„Alles in Ordnung!“, meldete ich.
„Oh, das meinte ich nicht“, sagte er etwas stark gedehnt. „Ich wollte von dir, mein Alter, ein Urteil über dieses seltsame Paar hören … — Ich hatte Kaldenhoven, denn daß er der Höhlenbewohner ist, wissen wir nun ja ganz bestimmt, da Erna sein jetziges Aussehen uns genau beschrieben hat, — also ich hatte den Kunstmaler ‚den Mann vom anderen Ufer‘ genannt. Auch der Kapitän und Erna stammen vom anderen Ufer, behaupte ich. Bei Rochus ist dies kaum mehr anzuzweifeln, und was das Mädchen betrifft, so muß ich ehrlich bekennen, daß sie mich anfänglich geblufft hat.“
„Inwiefern?!“ — Ich begriff dieses ‚Bluffen‘ wirklich nicht recht.
Harst erhob sich elastisch und reckte und dehnte sich …
„Na, — wenn du es nicht gemerkt hast, will ich geduldig warten, bis auch dir ein Licht aufgeht … — Bitte rufe ‚Argus‘ nochmals an … Es soll sofort jemand zu uns kommen und unser Telefon bedienen. Wir selbst müssen uns für eine nächtliche Wanderung rüsten. Ich darf nicht zulassen, daß Kaldenhoven etwa seinen Schlupfwinkel aus irgend einem Anlaß verläßt und wirklich verschwindet.“
Bevor der Angestellte der Detektei eintraf, fand ich noch Zeit, meinen Freund um Aufschluß über einen einzigen Punkt zu bitten.
Zumeist lehnte er es ab, sich auf eine ganz bestimmte Theorie so kurz nach Beginn einer neuen Aufgabe festlegen zu lassen. Diesmal erwiderte er auf meine Frage, ob er etwa Rochus Andersen verdächtige, ohne alle Ausflüchte:
„Halten wir uns die Tatsachen vor Augen, mein Alter … Willi Kaldenhoven lebt, sein Landhäuschen ist jedoch niedergebrannt und in den Trümmern eine unkenntliche Leiche gefunden worden, die Rochus Andersen um jeden Preis als die seines Freundes hinstellen möchte. Zweierlei ist möglich: Der Kapitän weiß, daß Kaldenhoven lebt und daß der Maler seinem Kinde — gib acht! — nur die Lebensversicherungssumme verschaffen wollte, oder aber der Kapitän ist ein geriebener Lump und hat es selbst auf das Geld abgesehen. In letzterem Falle wäre Ernas Leben ernstlich bedroht, und Rochus Andersen hat es irgendwie fertiggebracht, Kaldenhoven zu dieser Art von Flucht zu zwingen.“
Nach Pause ergänzte er sehr bedächtig:
„Gewiß, es, gäbe noch eine dritte Möglichkeit … Andersen redet so sehr viel von den chinesischen Piraten und ihrem weißen Anhang … Er hat so und so viele Schlitzaugen und wahrscheinlich auch verkommene Europäer aufknüpfen lassen … Denke an die Sojabohnen!! — Aber diese dritte Möglichkeit möchte ich zunächst ausschalten denn, wir geraten damit auf das Gebiet Conan Doyle Bismarck, und Detektivgeschichten, zum Beispiel ‚Späte Rache‘ zurück … Und dieses Gebiet ist ja zu abgegrast und zu unmodern.“
„Glaubst du?! meinte ich zweifelnd. Abgegrast ist kein Thema, lieber Harald … Wirklich neue Vorgänge krimineller Art gibt es kaum. Es gibt nur Variationen. Die Hochstapler verflossener Zeiten zum Beispiel leisteten entschieden mehr als unsere heutigen Edelgauner. Ein Graf von St. Germain, ein Chevalier d‘Eon und wie sie alle hießen, erlangten Weltruhm. Wer redet heute noch von dem falschen Fürsten Lahovary, dem eleganten Hoteldieb?! Der Graf von St. Germain und der Chevalier d‘Eon, von dem man heute noch nicht mit Bestimmtheit weiß, ob er Mann oder Weib gewesen, waren die Muster für unsere jetzigen Betrüger und Schwindler …“
„Du wirst dich unbeliebt machen, wenn du das etwa niederschreibst“, lächelte Harald vieldeutig. „Diese wundervolle Zeit, in der die ganze Welt infolge des Blutrausches des Krieges zum Narrenhaus geworden ist, denn kein Rausch hält so lange an als der des edelsten aller Säfte, besonders wenn man ihn fern vom Schuß mit durchkostete, — diese Zeit ist empfindlich, ihre Zeitgenossen noch empfindlicher … Man tut gut, nur von Hochstaplern, nie von Schwindlern zu reden … Es fühlen sich sonst zu viele getroffen … Wir haben ja die Papierflut der Billionenscheine erst wenige Jahre hinter uns … — Übrigens, du hast mich da durch deine Erwähnung des Grafen von St. Germain auf einen neuen Gedanken gebracht. St. Germain ließ Geister erscheinen, suchte den Stein der Weisen und die rote Tinktur der Goldmacher … An der Sache mit der ‚Späten Rache‘ kann doch etwas wahr sein … — Machen wir uns zum Ausgehen fertig … Es wäre praktisch, einen langen Strick und einen Angelspazierstock mitzunehmen …“
Zwanzig Minuten nach elf war die Telefonwache da und wir konnten aufbrechen.
4. Kapitel
Maiennacht auf Vorposten.
Diese laue Maiennacht mit der Silbersichel am ausgestirnten Firmament war so schön, daß ich mir als alten Naturschwärmer gewünscht hätte, unser Vorhaben wäre nicht so bitterernst gewesen.
Wie ernst es war, spürten wir schon, als wir eine Taxe bestiegen.
Wir schauten zurück, — — wir sahen eine andere Taxe. Es konnte auch ein Privatwagen sein.
Nach fünf Minuten wußten wir, daß wir tatsächlich verfolgt wurden.
Harst bezahlte den Chauffeur, gab ihm ein neues Ziel an, — als wir um eine Ecke bogen, sprangen wir ab und kletterten über einen Gartenzaun.
Die Verfolger näherten sich, bogen gleichfalls um die Ecke: Es war ein Privatwagen, mittelgroße Limousine, verhängte Fenster, vermummter Chauffeur …
Die Autonummer war absichtlich unleserlich gemacht.
Immerhin, wir waren die Herrschaften endgültig los, und genau um ein Uhr morgens erreichten wir die bewußte, junge Schonung im Grunewaldforst, schlichen auf die alte Eiche zu und segneten die helle Nacht, die es uns ermöglichte, einwandfrei festzustellen, daß der Höhlenbewohner sein Quartier noch nicht verlassen hatte.
Mein Freund hatte allergrößte Vorsicht angeraten, und wir waren auch so völlig lautlos und so gut gedeckt nähergekommen, daß nun, als wir aus üppigem Gestrüpp hervor die Eiche musterten, der Mann dort oben auf dem dicken Ast weiterhin zur Auffrischung an seiner Zigarre zog.
Gewiß, das rote Pünktchen war kaum wahrzunehmen, aber Harst schien mit etwas Ähnlichem gerechnet zu haben und flüsterte mir nun ins Ohr:
„Wir können uns mit unseren Indianerkünsten getrost begraben lassen!! Kaldenhoven wurde nachmittags verfolgt, nicht nur von uns … — Sehr viel sagend!“
Der Mann droben auf der Eiche saß im Reitsitz auf dem dicken Ast und hatte sich mit dem Rücken gegen den Stamm gelehnt. Er hielt den Kopf etwas schief und beobachtete fortgesetzt den gut verdeckten Eingang zu der kleinen Erdhöhle.
Der weiteren Umgebung schenkte er geringere Aufmerksamkeit.
Es war nicht viel von ihm zu erkennen, da er im Mondschatten seine Zigarre rauchte. Immerhin unterschied ich ein paar gelbbraune Schnürschuhe, Sportstrümpfe über sehr dünnen Waden und unter dem großen Schirm einer weichen Sportmütze die verschwommenen Züge eines eigentümlich flachen Gesichts.
„Ein Chinese“, flüsterte Harst von neuem. „Meine dritte Theorie gewinnt an Wahrscheinlichkeit. Man sollte nicht glauben, daß Sojabohnen ein Gemüt so schwer belasten können …!“
Unwillkürlich tauchte da vor meinem inneren Auge das Bild des kleinen, mumienhaften, saugroben Kapitäns Rochus Andersen auf, und dazu eine Szene, die sich jeder leicht ausmalen konnte: Wie Andersen die Piraten, die sich als harmlose Zwischendeckpassagiere auf seinem Frachter nach altbewährtem Freibeuterrezept eingeschmuggelt hatten, beim Anfeuchten der gefährlichen Sojabohnenfracht überrascht und sofort aufgeknüpft hatte.
Leider nicht alle, — die weißen Helfershelfer hatte er verschont, und nun nach Jahren hatte die Bande ihren Rachefeldzug gegen ihn begonnen.
Wie aber, schoß es mir gleichzeitig durch den Kopf, hing dies mit Willi Kaldenhovens seltsamer Flucht und dem Brande seines Hauses zusammen?
Daß es da unklare Zusammenhänge gab, stand außer Zweifel. Harsts Bemerkung, daß seine dritte Theorie wohl die zutreffende sei, stützte sich auf den Chinesen dort oben, und unsere halb ironischen Redewendungen über ‚Späte Rache‘ waren völlig hinfällig geworden.
„Der Kerl muß weg!“, raunte Harst mir abermals zu. „Und zwar schleunigst. Hier handelt es sich um ein Komplott, an dem mehrere beteiligt sind. Die Burschen können entweder anonym Kaldenhovens Versteck an die Polizei verraten haben, was ich allerdings doch nicht für recht wahrscheinlich halte, oder sie tauchen hier in kurzem in größerer Zahl auf, — denke an die uns verfolgende Limousine. Ich werde kurzen Prozeß machen. Wir haben eben keine Zeit zu verlieren … Warte hier … Ich hole drüben vom Wege ein paar handliche Steine … Treffen werde ich schon, und wenn der Kerl wie eine reife Pflaume vom Ast fällt, werden wir ihn eben auffangen, damit er sich nicht sein dünnes mageres Genick bricht … — — Hallo, — was war denn das soeben? Hörtest du?!“
Auch ich hatte trotz des andauernden starken Rauschens des Forstes, über den ein frischer Nachtwind. hinstrich, ein kurzes, abgehacktes, metallisches Klicken vernommen.
Unser Chinamann droben schien durch dieses Klicken noch stärker beunruhigt worden zu sein.
Er hatte plötzlich beide Beine mit einem Ruck emporgezogen und wollte sich auf den Ast aufrecht stellen.
Da ertönte dasselbe Geräusch zum zweiten Male, und diesmal stieß der Spion einen halb gezischten Fluch aus, ein Tau rollte blitzschnell herab, und ebenso blitzschnell rutschte der kleine schlitzäugige Kerl zu Boden und war mit affenartiger Geschwindigkeit, als ob die ganze Hölle hinter ihm her wäre, in dem schwarzen Schlagschatten der Schonung verschwunden.
„Luftgewehr — — Bolzenschüsse …“, flüsterte mein Freund sichtlich erregt. „Jetzt wird die Sache spannend … Wenn nicht alles trügt, kennen wir die Schützin …“
„Erna Kaldenhoven?“
„Still, — — da ist sie!“
Nun, um die Erna, wie wir sie bei uns vor Stunden mißbilligend gemustert hatten, in diesem schlanken Bürschchen im Sportanzug wiederzuerkennen, gehörten schon sehr gute Augen.
Aber sie war es …
Sie hatte auch eine kurze Luftbüchse, mehr ein Kinderspielzeug, in der Hand, und außerdem hatte sie es sehr eilig.
Sie tauchte uns gegenüber aus den Jungtannen auf und lief zu der freien Stelle am Fuße der Eiche und riß die Brombeerstauden und die Grasbüschel bei Seite und legte den Höhleneingang frei.
Sie schaltete eine Taschenlampe ein, bückte sich und rutschte mit den Beinen voran in den sandigen Stollen hinab.
Gleich darauf arbeitete sie sich wieder empor, blieb aber schwer enttäuscht mit hängendem Kopfe im Mondlicht stehen und bückte sich dann müde und verzweifelt nach der Luftbüchse, die sie auf den Boden geworfen hatte.
Sie hatte den Bau leer gefunden.
Ich glaubte nun, daß Harst sie anrufen und sich irgendwie mit ihr verständigen würde.
Er tat nichts.
Er ließ sie ungestört davonschleichen, und als einige Minuten verstrichen waren, kroch er eilends vorwärts, verdeckte den Eingang von neuem, nachdem er nur ganz kurze Zeit selbst in dem Erdloch gewesen, brach noch Zweige ab und tilgte mit den Händen alle Spuren.
„Nach Hause!“, befahl er leise …
Weiter nichts.
Schweigend schritten wir durch den Forst, trabten kurze Strecken und erreichten bewohnte Straßenzüge.
Eine Taxe brachte uns heim.
Wir stiegen weit vor unserem Hause aus und paßten scharf auf, ob irgend Spione in der Nähe. Wir bemerkten nichts.
Als wir die Haustür geöffnet hatten, erschien aus unserem sogenannten Büro, das zugleich Herrenzimmer und vieles andere war, der Telefonwächter vom ‚Argus‘ und begrüßte uns als alte Bekannte zwanglos und doch mit etwas geheimnisvoller Miene …
5. Kapitel
Der Name Menelaw.
„Was gibt es, Monk, — Besuch etwa?“
Der Detektiv Monk nickte.
„Sie haben es erraten, Herr Harst … Ein Herr erschien vor einer Stunde etwa mit einem Rucksack an der Hintertür … Er wollte seinen Namen nicht nennen … Jetzt schläft er. Er war völlig erschöpft … Er liegt in Ihrem Schlafzimmer auf dem Diwan und trank den Kognak, den ich ihm reichte, wie Wasser …“
„Kein Wunder! Armer Teufel! — Und sonst, — Monk?“
Wir betraten das Büro, und Monk deutete auf einen auf dem Schreibtisch liegenden Zettel.
„Ich habe jede Meldung meiner beiden Kollegen notiert, Herr Harst.“
Wir nahmen Platz. Wir sprachen nur leise, da die Tür zum Schlafzimmer etwas offen stand.
Wir hörten von dort aus dem Dunkel das tiefe, fast schon stöhnende Atmen eines fest Schlafenden.
Die Meldungen, die der Argusmann Monk aufgeschrieben hatte, lauteten:
1. 12 Uhr zehn Minuten:
Anruf von Hilger, der den Kapitän verfolgte. — —
Der Kapitän trennte sich von Erna K. am Bahnhof Zoologischer Garten und versuchte dann, ihr auf den Fersen zu bleiben. Sie entschlüpfte ihm in einem Restaurant mit zwei Ausgängen. Der Kapitän fuhr mit dem Stadtbahnzuge nach Potsdam.
2. 12 Uhr dreißig Minuten:
Anruf von Brett, der Erna K. verfolgt. — —
Erna K. ist Kapitän Andersen entkommen und befindet sich zur Zeit in dem Hause Augsburger Straße 131 irgendwo im Seitenflügel. — Ich beobachte das Haus.
3. 12 Uhr fünfundfünfzig:
Anruf von Brett. — —
Erna K. hat das Haus Augsburger Straße 131 allein verlassen und sich in ihre Wohnung Fasanenstraße 52 begeben. Sie wohnt dort Hochparterre, Flureingang, erschien nach wenigen Minuten wieder mit eingehülltem langen Gegenstand in Sportanzug, nahm Taxe. — Ich bleibe hinter ihr her.
4. 2 Uhr fünf Minuten:
Anruf von Brett. — —
Erna K. fuhr bis Schlachtensee, verschwand im Grunewald, habe ihre Spur verloren und begebe mich wieder vor ihr Haus Fasanenstraße.
— Der Detektiv Monk hätte nun zu gern gewußt, worum es hier eigentlich ginge. Aber Harst erklärte lediglich, daß die Meldungen ihn sehr befriedigten und daß Monk hiermit vorläufig seines Auftrages enthoben sei.
„Gehen Sie hinüber zu Schraut und schlafen Sie sich aus, lieber Monk. Der Fall Kaldenhoven erfordert größte Diskretion.“
Monk zog etwas mißmutig ab.
Als wir beide mit dem Schläfer im Nebenzimmer allein waren, nahm Harst Monks Niederschrift nochmals zur Hand.
„Am wichtigsten, mein Alter, ist die Adresse Augsburger Straße 131. Dort in jenem Garagengebäude wohnt jemand, der mit zu der Sojabohnen-Rächergesellschaft gehört. Wir wollen sie kurz die Soja-Leute nennen. Von dem dort Wohnenden hat Erna irgendwie herausgelockt, wo ihr Vater sich verbirgt.“
Diese etwas sehr kühne Schlußfolgerung veranlaßte mich lediglich zu einem zweifelnden: „Und die Beweise hierfür?!“
Harst, der sehr gedämpft sprach und bereits wieder seine geliebte Zigarette zwischen den Lippen hatte, erklärte leichthin:
„Beweise?! — Es muß einfach so sein! Als Erna mit dem Käpten bei uns war, wußte sie noch nicht, wo ihr Vater steckte … Sie vermutete nur, daß er noch lebe.“
„Allerdings, — — falls sie nicht log.“
„Gelogen hat sie, das ist richtig. Oder besser: Sie hat vor uns Komödie gespielt. Dieses Mädchen, das durch schlechten Verkehr ein wenig auf die schiefe Bahn geraten war, besitzt doch mehr Charakter, als es scheint oder schien …“
Er horchte nach der Schlafstubentür hin …
Doch Willi Kaldenhoven, der offenbar seine streikenden Nerven durch reichlichen Kognakgenuß beruhigt hatte, würde so leicht nicht erwachen.
Harst fuhr besinnlich fort:
„Menschen vom anderen Ufer … Ein hübscher Titel für einen Film … Für uns mehr als ein Film, für uns ein Stück Leben und Erleben und neue Erkenntnis …“
Seine grauen ernsten Augen hingen fest auf meinem genau so ernsten Gesicht.
„Kriminalerzählungen, mein Alter, sind dann wertlos, wenn sie nicht irgendwie in die Tiefen der Irrwege menschlicher Seelen hineinleuchten … Kriminalerlebnisse sind grobe, abgeschmackte Sensation, wenn sie nicht irgendwie den buntscheckigen Charaktermischungen der Beteiligten gerecht werden … Es gibt keine makellosen Herzen, ebensowenig, wie es etwa völlig verderbte Seelen gibt. In jeder Seele kann eine gute Saite zum Schwingen gebracht werden …“ —
Er griff nach einer frischen Zigarette.
„Menschen vom anderen Ufer … — Nimm bitte zunächst als Beispiel Willi Kaldenhoven, Der einst so berühmte Künstler hat sich da zweifellos auf eine etwas anrüchige Geschichte eingelassen. Hinterher in der Einsamkeit seiner Erdhöhle kam irgendwie die Reue, und er … flüchtete zu uns in seiner Seelenpein. Nimm weiter seine Tochter Erna. Er liebt sie, vergöttert sie, und sie … rutscht moralisch etwas ab … Urplötzlich jedoch, durch ein uns noch unbekanntes Ereignis, kommt sie zur Besinnung, bleibt jedoch äußerlich die, die sie war. In Wirklichkeit …“ — kurze Pause — „dürfte sie jetzt gegen die Sojaleute mit aller Schlauheit und Rücksichtslosigkeit kämpfen. Beweis: Sie schießt dem Chinesen ein paar Bolzen ins Fleisch und will zu ihrem Vater! Sie findet ihn nicht … — — Hallo — — Telefon …“
Es war ein Anruf des Detektivs Brett.
Die Meldung lautete:
„Erna K. soeben heimgekehrt. Vor ihrem Hause lauert ein Mann, der sie beobachtete. Der Mann war ein stämmiger Bursche, etwas künstlermäßig gekleidet. Da bei Erna K. die Fenster dunkel wurden, und ich nach den Schatten auf den Fenstervorhängen sah, daß sie zu Bett ging, folgte ich dem Manne. Es ist der Bewohner eines Ateliers im Gartenhause Augsburger Straße 131. Ein Beamter der Wach- und Schließgesellschaft konnte mir seinen Namen nennen: Xenokrates Menelaw, ein Grieche, von Beruf Zeichner. Verkehrt viel mit Chinesen. — Soeben hat ein junger Chinese, der stark hinkte, ebenfalls das Haus betreten. — Soll ich weiter beobachten, Herr Harst? Vielleicht schicken Sie mir dann besser noch einen Kollegen her, denn man kann nie wissen, was geschieht.“
„Gut, sehr gut, lieber Brett … Ich schicke Ihnen Monk … Haltet die Augen gut offen …“
Der Detektiv Monk war nicht gerade sehr entzückt, als ich ihn weckte.
Aber die Angestellten des Argus gehen für meinen Freund durchs Feuer, und nachdem Monk sich zehn Zigarren eingesteckt hatte, trabte er davon.
Harst rieb sich schmunzelnd die Hände.
„Die Sache kommt in Fluß, mein Alter … Xenokrates Menelaw ist ein wundervoller Name … Ein gewisser Menelaw wird in den Geheimakten der Polizei über die Rauschgifthändler als einer der reichsten und vorsichtigsten und einflußvollsten ‚Könige‘ dieser Gilde von Kanaillen geführt … Man hätte den Burschen wohl längst kaltgestellt, wenn er nicht allererste Beziehungen hätte. — Das so nebenbei. Du kennst ja nun meinen Haß gegen diese Vergifter von Millionen von Menschen. Ich hasse selten, — wo ich hasse, hat es schon Grund! Man sagt, Haß berge zugleich Furcht in sich. Das mag mit Einschränkungen zutreffen. Wir haben schon häufiger mit diesen Schurken zu tun gehabt, — nie packte wir einen der Köpfe der Weltorganisation. Man kann das Volk niemals genug über diese Schädlinge aufklären. Noch vor kurzem waren Opium, Morphium und Kokain die gebräuchlichsten Rauschgifte. Dann erfand jemand das allerschlimmste Gift, anfänglich als Gegenmittel gegen die Morphiumsucht: Das Heroin! Heute verdienen diese Verbrecher Milliarden mit Heroin. Die Ausfuhr nach China zum Beispiel soll allein jährlich eine Milliarde Verdienst abwerfen. Und damit kämen wir wieder auf die Soja-Leute … — Sollte etwa Käpten Andersen damals in ein Nest von Rauschgifthändlern unversehens hineingegriffen haben, als er Piraten aufknüpfen wollte? — Warte mal, mir kommt ein Gedanke …“
Er blätterte im Fernsprechverzeichnis und verlangte dann ‚Werder 711‘.
Ich stand neben ihm.
Ich merkte, daß er erregt war …
Auch ich begann zu fiebern …
Endlich Anschluß …
Endlich meldete sich Rochus Andersen.
„Hier Harst … — Noch nicht im Bett? Was treiben Sie denn noch zu so früher Stunde?! Umschleichen etwa verdächtige Gestalten Ihr Grundstück?“
„Geraten, Herr Harst!! Diebesgesindel!!“
„Etwa Herr Xenokrates Menelaw?“
Stille …
Dann brüllte der Käpten:
„Zum Deibel, wie kommen Sie auf den verwünschten Namen?!“
„Aha, also Sie kennen ihn … Haben Sie etwa vor Jahren damals einen gewissen Menelaw mit baumeln lassen?“
Stille …
Dann heiser und wutzitternd:
„Das geht Sie einen Dreck was an …!“
Und drüben wurde mit einem Fluch angehängt.
Harst lächelte ganz sanft …
„Er hat sich verraten, mein Alter … Also doch ein Menelaw! Vielleicht der Vater des hiesigen Zeichners! — — Die Sache kommt in Fluß …“
6. Kapitel
Der zerbrochene Spiegel.
Kriminalfälle, die sich glatt und ohne Seitensprünge bei ihrer Untersuchung immer klarer aus dem ursprünglichen Dunkel herausschälen, sind selten.
Vielleicht habe ich hier aus der Fülle ähnlich gearteter Fälle gerade denjenigen herausgegriffen, der wirklich eine klare Entwicklungslinie und — die Hauptsache — Charaktere zeigt, die nicht alltäglich sind.
Ich komme immer wieder auf das Wort ‚Menschen vom anderen Ufer‘ zurück. Ich verdanke Harst den Titel ‚Der Mann vom anderen Ufer‘, und wenn man den Fluß, den Willi Kaldenhoven durchschwamm, als die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen irrender Seele und Erkenntnis der Pflicht betrachten will, ist der Titel unschwer verständlich.
Inzwischen war es nun vier Uhr morgens geworden, und wir saßen noch immer beieinander und warteten geduldig auf Kaldenhovens Erwachen.
Bei mir stellte sich langsam die Müdigkeit ein.
Das Surren des Telefons weckte mich jäh aus halbem Schlaf.
Draußen bricht der neue Tag an, lärmten die Spatzen …
Harst hebt den Hörer ab …
„Hier Uhland 19223 …“
Der Detektiv Monk meldet sich.
Ich stehe neben dem Freunde.
Monk spricht sehr schnell:
„Herr Harst, vorhin verließen der hinkende Japaner und der Grieche das Haus Augsburger Straße … Brett ist hinter ihnen her … Kaum waren sie um die Ecke verschwunden, als eine Taxe herbeikam … Der Kapitän Andersen stieg aus. Er muß das Haus gleichfalls seit kurzem beobachtet haben. Er schloß den Nebeneingang auf und benutzte offenbar Nachschlüssel … Er blieb nur wenige Minuten im Hause … Seine Taxe fuhr soeben mit ihm davon … Was soll ich tun?“
„Nichts! Oder doch, — — sofort hierher, Monk. Wir legen die Schlüssel unter die Fußmatte … Bewachen Sie Kaldenhoven … — Schluß!“
Harst hängte ab.
„Mein Alter, wir müssen unbedingt erfahren, was Andersen in des Griechen Atelier getan hat … — Brechen wir auf … Es eilt … Es geht hier schließlich um sehr ernste Dinge …“
Da der Kunstmaler noch immer wie ein Toter schlief, konnten wir uns getrost entfernen, ohne erst Monks Eintreffen abzuwarten. Die Türschlüssel legten wir unter die Matte, die auf dem Steinboden der Vortreppe lag. Vorher hielten wir sorgfältig Umschau, ob irgend ein fremdes Gesicht vorhanden.
Die Straße war bis auf einige Bäckerjungen leer.
Wir fuhren zur Augsburger Straße, und in dem Taxameter gab Harst seinen Befürchtungen Ausdruck.
„Rochus Andersen muß sofort nach meinem Anruf nach Berlin gefahren sein … Der Zeit nach wäre das schon möglich. Ich vermute, daß er bisher an den Namen Menelaw gar nicht gedacht hat. Als ich den Griechen am Fernsprecher erwähnte, war der Käpten zunächst wie vor den Kopf geschlagen. Dann entschlüpfte ihm vor Überraschung und Wut das Geständnis, daß er damals in den chinesischen Gewässern tatsächlich einem Menelaw mit zur Hanfschlinge verholfen hatte. Hinterher wird er im Adreßbuch oder im Fernsprechverzeichnis nachgesehen haben, und dann beeilte er sich eben, in die Augsburger Straße zu kommen, sah den Chinesen und Menelaw, den er natürlich nicht kennt, aus dem Hause treten und drang dort ein. Ich fürchte, er wird für den Griechen in dessen Atelier eine Überraschung aufgebaut haben, die zu noch ärgeren Weiterungen führen kann als der Brand des Hauses Kaldenhovens und die verkohlte Leiche in den Trümmern.“
Bis in das Mansardenatelier zu gelangen, war nicht schwer. Harst läutete zuerst an der Flurtür, es öffnete niemand. Wir hatten auch nicht damit gerechnet. Denn wenn Menelaw inzwischen zurückgekehrt wäre, hätten wir ja unten vor dem Hause auf den Argusdetektiv Brett stoßen müssen.
Die Räume der Wohnung des Griechen zeigten eine Unsauberkeit und Liederlichkeit, die trotz der zumeist wertvollen Möbel dem Ganzen den Stempel einer Persönlichkeit ausdrückten, die auf Behaglichkeit gar keinen Wert legte.
Die verdorbene stickige Luft, geschwängert mit kaltem Zigarettenrauch und aufdringlichem Parfüm, widerte uns an.
Es war das Heim eines Menschen, der auch innerlich unsauber sein mußte.
Ein Versteck für uns war hinter einem kostbaren japanischen Wandschirm bald gefunden.
Harst durchsuchte dann die Wohnung ganz systematisch und steckte mehrere Papiere zu sich.
Als er sich mir wieder zugesellte (wir saßen auf kleinen Hockern ganz bequem), sichtete er das Erbeutete …
Unter anderem fanden sich darunter drei Briefe, die die Unterschrift „Dein Alfons M.“ trugen.
„Aha, — Herr Direktor Alfons Maffert, Ernas Chef“, meinte Harst sehr zufrieden.
Es waren Briefe, die Maffert dem Griechen nach Sofia und zwei nach Bulgarien geschickt hatte, wie die Umschläge zeigten.
Der Inhalt schien harmlos.
Es war da allerdings von Geschäften die Rede, aber stets nur von Modellpuppenköpfen für Modesalons.
Wir hatten nun vorhin im Atelier des Griechen fünf Modellpuppen stehen sehen mit sehr gut gearbeiteten Wachsköpfen.
Wir selbst saßen in Menelaws Wohnzimmer, rechter Hand war die Türöffnung zum Schlafraum, linker Hand die zum Atelier, vor beiden hingen schwere persische Vorhänge.
Ich habe hier absichtlich etwas unerwähnt gelassen, was uns notwendig hätte auffallen müssen. Es war dies ein Spiegel in dem Schlafraum.
Gegen ein Viertel Acht vernahmen wir das Kreischen der Flurtür.
Dann trat der Grieche allein ein.
Es war ein Mann von etwa dreißig Jahren, schwammig, gedunsen, mit krausem schwarzen Haar, — er trug eine Art Russenbluse und sah abstoßend und unappetitlich aus.
Er durchschritt langsam das Wohnzimmer und ging in sein Schlafgemach, stutzte jedoch schon, als er den Türvorhang gehoben hatte.
Er sah etwas …
Und er wurde quittegelb vor Schreck, hielt den Atem an und stand lange Zeit wie gelähmt und betrachtete den Spiegel seines Frisiertisches, der zersplittert war.
Als er den in den Glassplittern hängenden Dolch gewahrte, erstarrte er noch mehr, duckte sich scheu zusammen und schlich zögernd näher.
Weit vorgebeugt schaute er den Dolch an …
Es war eine asiatische Waffe. Der Griff war eigentümlich verziert, und es konnte sich um einen siamesischen Dolch handeln.
Auch Harst vermochte dieses nicht bestimmt zu sagen.
Xenokrates Menelaw mußte den Dolch sehr gut kennen, und sein Anblick flößte ihm panischen Schrecken ein. Wahrscheinlich hatte auch der zertrümmerte Spiegel irgendeine Bedeutung.
Daß Käpten Andersen die Waffe für Menelaw als eine Art Mahnung zurückgelassen hatte, war den ganzen Umständen nach mit aller Bestimmtheit anzunehmen.
Aber der Grieche, durch Spiegelsplitter und Dolch aufs tiefste erschreckt, verriet noch mehr.
Halb taumelnd begab er sich in sein Atelier und … öffnete einen der Wachsköpfe, indem er die Perücke zurückschob.
Aus einer Höhlung der wächsernen Schädelwandung holte er ein Päckchen hervor.
Xenokrates Menelaw war selbst dem Rauschgift verfallen, und seine überreizten Nerven brauchten eine starke Dosis, die er wie Kokain schnupfte.
Dann warf er sich auf den Diwan und war in kurzem eingeschlafen.
Harst holte den Dolch, steckte ihn zu sich, und unangefochten erreichten wir wieder die Straße.
Als wir vor unserem Hause anlangten (wir hatten den Detektiv Brett in der Augsburger Straße noch flüchtig gesprochen und ihm bedeutet, er solle sich durch zwei Kollegen ablösen lassen), sahen wir schon von weitem den braven Monk in der offenen Haustür stehen und uns verzweifelt zuwinken.
Monk hatte Grund dazu.
Willi Kaldenhoven war samt seinem Rucksack verschwunden.
Monk hatte die Schlüssel richtig unter der Matte gefunden, aber Harsts Schlafzimmer war leer gewesen.
„Ich begreife das nicht“, jammerte Monk. „Der Maler hatte doch fast eine halbe Flasche Kognak getrunken und war vollkommen erschöpft, körperlich wie seelisch …“
Harst tröstete ihn.
„Meine Schuld, lieber Monk …“
7. Kapitel
Kapitän Andersens totes Haus.
„Inwiefern, Herr Harst?!“
„Das will ich für mich behalten. Niemand blamiert sich gern. — Fühlen Sie sich noch frisch genug zu einer Fahrt nach der alten berühmten Obststadt Werder?“
„Allemal!!“
„Dann besorgen Sie eine anständige Benzindroschke.“
Monk eilte davon.
Harst rief ‚Argus‘ an und beorderte zwei weitere Leute vor Ernas Haus in der Fasanenstraße. —
Der Nichtberliner weiß wenig von Werder, und doch bedeutet Werder für die Reichshauptstadt dasselbe wie die Oktoberwiese etwa für München.
Zur Zeit der Obstbaumblüte, die jetzt schon vorüber war, ist Werder mit seinen Bergabhängen eine einzige Blütenpracht.
Extrazüge fahren hinaus, Extrazüge bringen all die Tausende von weinseligen Besuchern wieder heim.
In Werder wird nur Obstwein ausgeschenkt, und der schmeckt lieblich und geht böse in Kopf und Beine.
Zur Baumblüte hat das alte gemütliche Städtchen seine großen Tage des Verdienens, die Lokale sind überfüllt, der Straßenhandel gleicht dem der östlichen Viertel Berlins …
— Und unweit dieses wirklich reizend gelegenen Städtchens, umgeben von dünnem Kiefernwald, liegt an einer Chaussee und an einer Berglehne das Grundstück Käpten Andersens, das für jeden Sonderling eine Perle darstellen mußte: Einsam, von der Straße durch Bäume und Büsche verdeckt, umgeben von einem terrassenförmig angelegten Garten, überschattet von riesigen Linden und Kastanien, — — ein stilles Idyll!
Eine Strecke weiter ein wüster Haufe von Brandtrümmern: Kaldenhovens ehemaliger Besitz! —
Es mochte halb Zehn sein, als drei Herren durch den Wald von Norden her sich dem Zaune des Gemüsegartens näherten.
Sie taten es sehr vorsichtig, aber es war unnötig …
Andersens Grundstück lag wie ausgestorben da.
Jenseits der Chaussee blinkte Wasser und wehte Röhricht hin und her …
Ein Bootssteg, weiß gestrichen, winkte herüber, und an dem Stege lagen zwei Boote und eine Motorjacht.
Harst hatte sich niedergesetzt und holte sein Fernglas hervor.
Monk packte das Frühstück aus, und ich öffnete die Thermosflasche.
Wer uns sah, mußte uns für Ausflügler halten, die hier oben am Bergrande lediglich ein gemütliches Picknick veranstalteten und die wunderbare Aussicht und den herrlichen Maitag genossen.
Wie sehr täuschen doch sehr oft derartige behagliche Bilder! Wie oft verbirgt sich unter einem vielleicht nur scheinbar verträumt lächelnden Munde eine Fülle von Seelenqual! Die meisten Menschen zeigen ja zwei Gesichter, eins für die Öffentlichkeit, das andere für sich selbst. Es ist Menschenlos, daß wir gleichsam mit einem Januskopf geboren werden.
Menschen, die an zwei Ufern leben, könnte man auch sagen, — leben müssen, weil das Schicksal sie dazu zwingt.
Wie stand es nun mit Willi Kaldenhoven?!
Harst, der dem jungen, netten Monk gegenüber wohl die Verpflichtung fühlte, ihn in großen Zügen in unsere Aufgabe einzuweihen, legte das Fernglas auf die ausgebreitete Wolldecke und skizzierte den Fall Kaldenhoven mit kurzen Strichen.
Monk war Student der Medizin gewesen, schon älteres Semester, als die Ungunst der Zeit ihn zwang, das Studium aufzugeben und Geld zu verdienen, um den mageren Säckel der Eltern nicht länger zu belasten.
Er hatte des Daseinskampfes bitterste Härten und Demütigungen mit zäher Geduld getragen, nur wenn er auf seine einstigen Zukunftspläne zu sprechen kam, wurde er erregt und zum fanatischen Eiferer gegen die Verfallserscheinungen dieser Nachkriegsjahre, in denen selbst die deutschen Hochschulen sich der allgemeinen Tendenz, das Ausländertum zu begünstigen, nicht verschlossen …
Er war keiner jener Hurrapatrioten, die in billigen, vorsichtigen Phrasen immer nur das äußere Gepräge und das wohlfeile Wort vor die Tat stellten.
Beim ‚Argus‘ hatte er es schnell zu einem Vertrauensposten gebracht. Diese Detektei, sauber in allem, was sie als Auftrag übernahm, war die einzige fast, die sich trotz der steigenden Geldknappheit über Wasser hielt. Monk hatte Freude an dem neuen Beruf gefunden, obwohl sein stark ausgeprägtes moralisches Reinlichkeitsempfinden zuweilen mit seinen Pflichten schwer in Einklang zu bringen war.
Diesem jetzt fast neunundzwanzigjährigen Kandidaten der Medizin gegenüber brauchte Harst die Ereignisse nur leicht zu streifen. Monk hatte einen hellen Kopf.
Am meisten interessierte er sich für Käpten Andersens seltsame Warnung für Xenokrates Menelaw, für den zertrümmerten Spiegel und den in den Splittern hängenden asiatischen Dolch.
… Oben in den Kiefernästen hämmerte ein Buntspecht, flinke Meisen flogen hin und her, Eichelhäher, diese farbenfrohen Nesträuber, lärmten in einer nahen Schonung, — — und inmitten dieser fast unberührten Natur mit ihren vielfachen Zeichen des Anbruchs einer neuen Sommerzeit lagen hier drei Männer und erörterten ernst und verantwortungsbewußt das Thema ‚Späte Rache‘.
„Ich gebe Ihnen auch darin vollkommen recht, Herr Harst“, sagte Justus Monk mit aller Frische der Jugend, „daß unbedingt damals vor Jahren, als Rochus Andersen die Piraten aufknüpfen ließ, darunter auch einen Verwandten unseres hiesigen Menelaw, daß ein Spiegel und derselbe Dolch an Bord des Dampfers ‚Elbsand‘ eine hervorstehende Rolle gespielt haben müssen und daß ‚unser‘ Menelaw davon erfahren hat. Ich bezweifele ebensowenig, daß die Soja-Leute den Kapitän auslöschen wollten und wollen, Wie man jedoch die Tatsachen des Brandes des Hauses Kaldenhovens, den Fund der verkohlten Leiche und Fräulein Ernas widerspruchsvolles Verhalten, das Sie nur zu ihrem Besten deuten, in dieser düster-bunten Reihe eingliedern könnten, ganz abgesehen von des Kunstmalers Flucht, will mir nicht recht in den Kopf. Es widerstrebt mir, einen versuchten Versicherungsbetrug anzunehmen, obwohl …“
Harst unterbrach ihn. „Berücksichtigen Sie das psychologische Moment der Vaterliebe, bester Monk. Berücksichtigen Sie, daß Kaldenhoven sehr arm war, daß sein Kind keine neue Stellung gefunden hatte, nachdem die Bank ihr gekündigt hatte, und lassen Sie auch Rochus Andersens derbe Draufgängernatur nicht außer acht … — Meine dritte Theorie ist richtig“, schloß er sehr energisch. „Ich könnte ihre Richtigkeit sofort beweisen, wenn nicht Andersen ein so gefährlicher Herr wäre, der alles tun wird, einen Freund zu decken.“
Monk nahm dankend eine Zigarette entgegen und schaute auf das totenstille Grundstück des Kapitäns hinab.
Noch immer rührte sich dort nichts,
Man hörte die ungeduldigen Hühner im Stall gackern, die ins Freie wollten. Hinter dem verglasten Ausflugloch des Taubenschlages zeigten sich nicht minder ungeduldige Tauben.
Aber die grünen Fensterläden blieben geschlossen, und als nun drüben ein Postbote den Weg entlang kam und an der Gartenpforte läutete, öffnete ihm niemand.
Monk erklärte jetzt, indem er meinen Freund fragend anblickte:
„Andersen hat Kaldenhoven aus Ihrem Hause entführt und hält ihn verborgen — nicht wahr?“
„Der Punkt bedarf wohl keiner besonderen Bestätigung“, lautete meines Freundes Entgegnung. „Der Hauptschuldige in gewissem Sinne ist der Kapitän. Leute, die wie er sein halbes Leben in ostasiatischen Gewässern zugebracht haben, werden stets aus den Hafenstädten des fernen Ostens eine gewisse Skrupellosigkeit mit heimbringen. Und — — Andersen liebt Erna Kaldenhoven wie sein eigenes Kind.“
Monk nickte zustimmend.
Ich enthielt mich jeder Äußerung. Meine Gedanken verweilten hauptsächlich bei der gewiß ebenso wichtigen Frage, wodurch dieses Mädchen, das da zunächst durch schlechte Gesellschaft der ehrbaren Atmosphäre des Vaterhauses entglitten war, veranlaßt worden sein könnte, wieder … zum anderen Ufer hinüberzuwechseln.
„Und wie denken Sie weiterhin zu operieren?“, fragte Monk nach längerer Pause.
Harsts Antwort war überraschend.
„Jedenfalls so, daß wir der Allgemeinheit am meisten nützen. Ich sehe stets diesen Griechen vor mir, der seine rebellierenden Nerven durch ein weißes Gift, einem Wachskopf entnommen, beruhigte.“
Monk hob den Kopf …
„Sie wollen den Rauschgifthändlern an den Kragen…! Dann allerdings dürfen wir nichts überstürzen …“
„Nein — — nichts … — Herr Direktor Alfons Maffert soll nicht leer ausgehen!“, erklärte Harst drohend und griff nach dem Fernglas. „Die Staubwolke dort auf der Chaussee, hervorgerufen durch eine sehr schnell fahrende Limousine, kann bereits ein rascheres Tempo der endgültigen Lösung herbeiführen. Kriechen wir etwas weiter hinter die Büsche … Trifft das zu, was ich zwangsläufig vermuten muß, werden wir auch Fräulein Erna sehr bald zu Gesicht bekommen.“
8. Kapitel
Erna kämpft für die Wahrheit.
Das Auto hielt vor der Gartenpforte des Grundstücks, und dem Wagen entstiegen drei Personen: Ein schlanker Herr mit etwas fahlem Antlitz und recht stutzerhaft gekleidet, dann Erna Kaldenhoven, die nicht mehr die überschicke Trauer trug, sondern ein schlichtes Sportkostüm mit ebenso schlichtem Filzhütchen angelegt hatte, und als dritter der unsympathische schwammige, unsaubere Herr Menelaw, der nur den schüchternen Versuch gemacht hatte, seine Kleidung der seiner Begleiter anzupassen.
Erna läutete an der Gartenpforte, — läutete immer wieder.
Mein Glas zeigte mir ihr bleiches, ungeschminktes Gesicht, die nicht geschminkten Lippen und einen Ausdruck um den Mund, der auf rücksichtslose Entschlossenheit hindeutete.
Der Überelegante war zweifellos Herr Maffert, und sowohl er wie sein Geschäftsfreund, der Grieche, waren reichlich nervös und doch nicht ausgesprochen ängstlich. Nein, die Art, wie Maffert nun mit dem Fuß die Gartentür aufzutreten suchte, verriet eine gewisse Brutalität und anmaßende Frechheit.
Menelaw kletterte jetzt über den Zaun, half auch Erna hinüber und schritt, ohne auf Maffert zu warten, auf die Haustür zu.
Die drei entschwanden unserem Gesichtskreis, und Harst winkte uns eilends zu.
„Laßt alles liegen … Schnell den Abhang hinab Vielleicht gelangen wir als erste ins Haus.“
Die Hintertür nach dem Gemüsegarten zu war trotz des Sicherheitsschlosses schnell geöffnet.
Wir traten ein, schlossen wieder ab und schritten zum Vorderflur.
Die Diele des Landhauses, von Kapitän Andersen mit Reiseandenken vollgepfropft, roch stark nach Sandelholz.
Vor einem Kamin stand ein etwas beschädigter japanischer Wandschirm, fünfteilig. Das mittlere Feld, ebenfalls schwarze Seide, mit goldenen Vögeln bestickt, hatte ein rundes, leeres Medaillon, dessen Ränder unter der verschnörkelten Zierleiste noch Spuren von Glassplittern zeigten.
Das Geräusch eines Schlüssels, der in das Schloß der Haustür eingefügt wurde, trieb uns hinter einen indischen Sandelholzschrank, der quer vor einer Ecke neben dem Kamin stand und leicht abzurücken war.
Der eine Türflügel der sehr massiven Haustür ging auf …
Eine breite Sonnenbahn fiel in die bisher so dämmerige Diele.
In dieser Sonnenbahn erschien als erste Erna Kaldenhoven, in der Hand noch einen Ring mit drei Schlüsseln.
Wahrscheinlich hatte Andersen ihr diese Schlüssel seines Hauses überlassen, damit sie ungehindert ein- und ausgehen könnte,
Sehr mißtrauisch, die rechten Hände in der Manteltasche, folgten ihr Maffert und der Grieche.
Das junge Mädchen drehte sich um und betrachtete die beiden.
„Hoffentlich besitzen Sie Waffenschein“, meinte sie anzüglich. „Onkel Rochus jedenfalls hat einen Waffenschein … Aber bisher brachte er mir leider das Schießen nur mit der Windbüchse bei …“
Der blasse Doktor Maffert zog eilends die Hand aus der Tasche. Der Grieche lachte rauh.
„Dem Kapitän wird die Lust vergehen, uns anzufallen“, sagte er herausfordernd.
„Und doch haben Sie Angst, Menelaw!“, trumpfte Erna verächtlich auf. „Vielleicht nehmen die Dinge eine etwas andere Wendung, als Sie es erwarten … — Dort ist Onkels Arbeitszimmer … Ich sagte ja schon, daß er häufig Ausflüge unternimmt und Laila ihn begleitet.“
Sie stieß eine Tür linker Hand auf, schaltete das Licht ein, da die Fensterläden geschlossen waren, und ging auf den mit Papieren bedeckten Schreibtisch zu.
Maffert und der Grieche folgten noch zögernder.
Wir hörten das leise Klicken, mit dem die Schreibtischlampe eingeschaltet wurde …
Dann Ernas Stimme:
„Hier liegt auf der Schreibtischunterlage ein Zettel Onkel Rochus‘ … Ich wußte es ja, er ist mit Laila unterwegs … Der Zettel ist für mich bestimmt. Ich wollte heute hier eintreffen und bei Onkel bleiben … Abends ist er wieder hier.“
Da die Zimmertür offen geblieben, konnten wir, hinter den großen Wandschirm schlüpfend, durch dessen schadhafte Seidenbespannung die drei bequemer beobachten …
Maffert hatte sich in einen Sessel geworfen und die Beine übereinandergeschlagen. Der Grieche lehnte am Schreibtisch, Erna hatte sich in den Schreibsessel gesetzt.
„Der Ausflug des Kapitäns, liebe Erna“, sagte Maffert mit klarem Spott, „dürfte nur dazu dienen, Ihren Vater in Sicherheit zu bringen …“
„Ja, — — den ‚toten‘ Herrn Kaldenhoven!“, höhnte Menelaw noch eindeutiger.
„Ich habe Ihnen schon einmal erklärt“, wandte sich Erna an Maffert mit eisigster Verachtung, „daß ich für Sie Fräulein Kaldenhoven bin … Ich möchte Sie warnen, mich nicht unnötig zu reizen. Vielleicht weiß ich mehr, als Ihnen beiden lieb sein dürfte …“
„Kleine Närrin!“, grinste Maffert, der sich nun wieder sicherer zu fühlen schien, „Versteckte Andeutungen verfangen bei mir nicht. Sie sind einfach wütend, weil ich Ihnen gekündigt habe, und …“
„… und Sie kündigten mir, weil Ihr Fabrikbetrieb mir aufgefallen war …“, meinte das junge Mädchen kühn. „Meine Fragen wurden Ihnen unbequem … Der Bedarf Bulgariens an Wachsköpfen hätte längst die Zollbehörden stutzig machen müssen, und …“
Maffert lachte.
„Warmen Sie doch nicht immer diese Lappalien auf! Die Polizei wird sich weit mehr dafür interessieren, daß Ihr sogenannter Onkel nicht schnell genug als Ihr Vormund die Lebensversicherungssumme anforderte und wider besseren Wissens behauptete, Ihr Vater wäre der verkohlte Tote.“
Erna Kaldenhoven hatte sich jetzt etwas vorgebeugt und blickte Maffert eigentümlich starr an …
9. Kapitel
Die kritische Minute.
Unter diesem Blick wurde es Maffert unbehaglich.
„Wollen Sie mich … hypnotisieren!“, sagte das Mädchen kalt. „Ihr Spiel war in dem Moment verloren, als Menelaw mir gestern nacht verriet, wo mein Vater angeblich sich verborgen haben sollte. Leider war die Erdhöhle leer … Nur einer von Menelaws Chinesenfreunden dürfte ungern an die Eiche über dem Erdloch zurückdenken … Ich hatte keine andere Waffe. Nun, die Luftbüchse genügte.“
Der Grieche kaute die wulstige Unterlippe. Er hatte den Kopf gesenkt, da Maffert ihn gereizt angeschaut hatte.
„Menelaw meinte es nur gut mit Ihnen, Erna“, sagte Maffert scheinheilig.
„Bitte, — — Fräulein Kaldenhoven!“, fuhr sie auf. „Sie beleidigen mich … Sie glauben mich in der Hand zu haben, weil Sie annehmen, mein Vater lebe noch und weil Sie mich durch die Erdhöhle täuschen wollten … Vater ist nie dort gewesen, Vater ist tot … Ihre Drohungen prallen an mir ab … Onkel Rochus ist kein Versicherungsbetrüger …“
Maffert kicherte amüsiert.
„Ihre Aussagen und Annahmen, mein verehrtes keckes Fräulein, würden sich in einem gerichtlichen Protokoll nicht gerade schön ausnehmen … Gestern nacht überfallen Sie Menelaw und flehen ihn an, Ihnen mitzuteilen, wo Ihr ‚toter‘ Vater steckt … Heute soll er wirklich tot sein. Liebes Kind, ich gebe Ihnen einen guten Rat: Schließen Sie Frieden mit uns! Wir wollen schweigen, und auch Sie halten den Mund. Wir haben wirklich alle Trümpfe in den Händen … Und wenn Ihr Onkel Andersen nur ein Quäntchen Verstand besitzt, wird er gleichfalls mit uns einig werden …“
„So?!“
Das Mädchen schob den Schreibsessel mehr zurück.
„Er ist ein Mörder“, sagte Maffert drohend.
„Mithin bleiben Sie dabei, daß Onkel Rochus einen Fremden getötet hat und ihn in Vaters Haus verbrannte …“
„Wir haben … Zeugen“, entschlüpfte es Maffert etwas voreilig. „Diese Zeugen folgten Ihrem Vater, der alles mit Andersen genau vereinbart hatte …“
„Ah — — also Zeugen!! Und so ganz zufällig waren diese Zeugen in der Nähe, als Onkel Rochus … mordete?! Merkwürdig!!“
Abermals schob sie den Schreibsessel unauffällig noch weiter vom Schreibtisch ab.
— Ich, der keine Gelegenheit hatte, mit Harst diese Unterredung mit all ihren Seltsamkeiten irgendwie auch nur durch kurze Bemerkungen für mich zu klären, spürte nur etwas ganz genau: Daß Erna Kaldenhoven mit außerordentlichem Geschick ihren Gegnern Eingeständnisse entlockte, die für sie selbst bisher nur eine Annahme gewesen, eine lockere Vermutung oder Schlußfolgerung.
Und ich fühlte weiter genau, daß die Dinge irgendwie einem äußerst kritischen Stadium entgegentrieben.
Erna Kaldenhoven sagte nochmals: „Sehr merkwürdig!! Also Zeugen haben Sie…! Für einen Mord! Wahrscheinlich Chinesen … Leider ist Onkel Rochus über seine Ostasienjahre stets sehr verschwiegen gewesen, und nur einmal erzählte er mir etwas über einen großen Wandschirm dort in der Diele mit dem leeren Mittelmedaillon, in dem einst ein Spiegel eingefügt war …“
„Was erzählte er?“, fragte der Grieche überstürzt.
„Etwas von Piraten, die sich als Zwischendeckpassagiere auf seinen Dampfer geschmuggelt hatten und nachts die aus Sojabohnen bestehende Fracht mit Wasser begossen … Onkel hat die Burschen einfach aufgeknüpft, und dazu hatte er um so mehr ein Recht, als ein Weißer, der mit Chinesen reiste, nach ihm einen Dolch schleuderte, dem Onkel nur durch einem schnellen Sprung entging … Der Dolch zertrümmerte den Spiegel in dem in der Kapitänskajüte stehenden Wandschirm … — Ja, das erzählte er …“
„Und — — nannte er Namen?“, fragte Menelaw heiser.
„Nein … Er meinte nur, die Chinesen, die er am Leben ließ, würden sich vielleicht zu rächen versuchen … Chinesen vergessen nichts …“
Maffert hüstelte, als der Grieche abermals das Wort an das Mädchen richten wollte.
„Fräulein Kaldenhoven, — — hm ja, — —“ — Maffert legte sich offenbar jeden Satz genau zurecht, „— — bringen Sie etwa … etwa Andersens Mord irgendwie mit diesen alten Geschichten in Verbindung?!“
„Diese Geschichten sind wieder neu geworden“, erwiderte das Mädchen und wollte nun mit einem schnellen Sprung hinter dem großen Mitteltisch Deckung suchen, indem sie zugleich eine kleine Pistole aus der Jacke hervorriß …
Das war unbedacht gewesen.
Durch diese eine Bemerkung, die alten Geschichten seien wieder neu geworden, hatte sie zu viel verraten.
Der Grieche war schneller als sie.
Ich hätte dem gedrungenen, schwammigen Burschen diese Gelenkigkeit niemals zugetraut. Ein einziger Satz, ein Fausthieb, ein Griff nach des Mädchens Kehle, — die Pistole flog im Bogen zur Seite, Erna Kaldenhoven wehrte sich nicht, — — Schrecklähmung vielleicht …
Maffert schrie warnend:
„Xeno, — — keine Dummheiten!“
Von der offenen Dielentür sagte eine sehr klare, dunkle Stimme:
„Lassen Sie das Mädchen los, Menelaw …! Sie sind bereits überreif für das Zuchthaus, und es hätte wenig Sinn, gegen drei bewaffnete Leute Sturm zu laufen!“
Harst hielt die Pistole nur in Hüfthöhe, aber Justus Monk, alter Waffenstudent, war in Stimmung gekommen, wie er es nannte …
Herr Xenokrates erhielt einen Kinnhaken, der ihn für Minuten außer Gefecht setzte, und Herr Direktor Maffert zog es vor, lediglich seine schweißfeuchte Stirn zu betupfen.
Monk bemühte sich um Erna, Menelaw befühlte seine Genickwirbel, und Harst nahm den Zettel vom Schreibtisch, der für Erna bestimmt gewesen, und lächelte sehr fein …
10. Kapitel
Ein Mädchen kehrt zum Heimatufer zurück.
„Haben Sie ihn selbst gelesen, Herr Maffert?“
„Die Schrift ist ja vollkommen unleserlich“, sagte der elegante Freund des Griechen recht matt.
„Es sind nur altgriechische Buchstaben, und hier steht etwas von einem Telefonanruf des Käptens durch Fräulein Erna und von einem Signal, das sie nötigenfalls geben soll … Von einem Ausflug steht hier kein Wort … — Wie ich sehe, erholt die junge Dame sich bereits von dem bösen Schreck. Recht so, Monk, stopfen sie ihr noch ein paar Kissen unter den Kopf … — Fräulein Kaldenhoven, welche Art Signal sollte es sein? Bitte sprechen Sie ganz offen. Sie haben von diesen Herren nichts mehr zu fürchten … Sie wollten auch gern das Allerletzte aus Ihnen herauslocken, aber Ihre Diplomatie wurde durch Ihr Temperament durchkreuzt. Menelaw und Maffert sind Rauschgifthändler, die keine Schonung verdienen, und denen man ebensowenig glauben wird wie ihren chinesischen Zeugen …“
Erna, die auf dem Diwan in der Ecke sehr bequem gebettet lag, aber sehr überflüssigerweise von Monk noch immer gestützt wurde, erwiderte nur, — freilich mit freudiger Zuversicht: „Öffnen Sie den Taubenschlag, Herr Harst … Onkel, Vater und Laila, Onkels indische Haushälterin, befinden sich unten am Wasser auf der Jacht …“
Ich übernahm es, die Tauben herauszulassen, und als ich in das Herrenzimmer zurückkehrte, fing ich gerade noch folgende abschließenden Sätze Harsts auf:
„… Der vollkommene Stimmungsumschlag Fräulein Ernas nach jener Brandnacht hätte Ihnen zu denken geben müssen, Herr Maffert. Sie hatte gemerkt, daß Sie irgendwie dunkle Geschäfte trieben, und daß Menelaws chinesische Freunde allzuviel Fragen über den Käpten stellten. Sie wurde mißtrauisch, hinzu kam noch die Reue über die Entfremdung mit ihrem Vater, und als Menelaw damals nachts einige schlitzäugige Mordbuben hierherschickte, folgte sie ihnen und ward zum Teil Zeugin der Vorgänge jener Nacht … — Dieses Erlebnis bedeutete den entscheidenden Wendepunkt in Fräulein Ernas Leben. Sie selbst beobachtete nicht mehr, wie ihr Vater heimlich davonschlich. Sie fürchtete, der aufgefundene entstellte Tote könnte doch ein Opfer vorschneller Selbstjustiz des Kapitäns geworden sein. Wichtig ist nur das Eine: Jene Nacht gab Erna Kaldenhoven den inneren und äußeren Anstoß zu völliger Umkehr. Aus dem genußhungrigen Mädchen wurde die besorgte, liebende Tochter. Für mich bleibt dies die Hauptsache.“
Monk, der endlich seine überzarte Pflegerolle aufgegeben hatte und an das Eckfenster getreten war, meldete jetzt das Nahen von drei Personen.
Erna richtete sich auf.
„Ich will Vater allein begrüßen … Nein, ich brauche keine Stütze mehr … Ich danke Ihnen, Herr Monk.“
Trotzdem erhielt Justus einen sehr warmen dankbaren Blick.
Dann ertönte auch schon in der Diele die knarrende Stimme des kleinen Eisenfressers von Kapitän. „Hallo, Mädel, — heule nicht! — Wo steckt die ganze Bande?!“
In der Tür erschien er selbst mit bedrohlich blaurotem Gesicht.
Leider hatten wir uns nur zu sehr auf Menelaws und Mafferts endgültigen Verzicht auf jeden Widerstand verlassen und überhaupt die Gefährlichkeit der Soja-Leute unterschätzt.
Die bisher für uns so günstige Lage sollte sich urplötzlich ändern.
Daß draußen in Mafferts Limousine gleich fünf dieser chinesischen Halsabschneider versteckt sein könnten, hatte keiner von uns vermutet.
Im Grunde sind ja Fehler dazu da, daß sie gemacht werden, wie der Volksmund sagt.
Wenn wir aber in den Fehler verfallen, die Rührigkeit von Gegnern zu unterschätzen, ist das unverzeihlich.
Woran lag es in diesem Falle, daß sogar ein Harst die nötige Vorsicht außer acht ließ?
Nur an Mafferts Geriebenheit!
Dieser Herr Direktor, der da ebenso eine Fabrik für Wachsköpfe und eine heimliche Heroinfabrik besaß, erschien als fader Geck und hatte diese Rolle auch hier glänzend durchgeführt.
Er hatte uns in Sicherheit gewiegt, und da er genau wußte, daß ihm das Zuchthaus winkte, wenn er erwischt würde, hatte er seine Maßnahmen so getroffen, daß sein eigenes Risiko bei seinem Besuch im Hause Andersen gleich Null blieb.
Das sollten wir nun am eigenen Leibe erfahren.
Kaum war Käpten Rochus eingetreten, kaum waren dann auch hinter ihm eng umschlungen Erna und ihr Vater sichtbar geworden, als wie hingezaubert fünf kleine, fixe, gutgekleidete Kerlchen hereinschlüpften, alles junge Chinesen mit haßglühenden Augen.
Die Augen hätten uns nicht gestört.
Aber die fünf waren bewaffnet, und ein einziger Blick zeigte mir, daß sie sämtlich Pistolen mit Schalldämpfern trugen.
Bevor Harst noch dazu kam, seine kleine Clement zu heben, ertönte ein dünner, dumpfer Knall, und über seinem Handrücken lief eine blutige Spur hin.
Er ließ die Waffe fallen.
Maffert lachte.
„Hände hoch …!! Sonst brennt auch dieses Haus nieder, und man findet nachher mehr Tote, als drüben bei Kaldenhoven!!“
Maffert hatte die Maske des blasierten Lebegreises abgenommen und enthüllte sein wahres Gesicht.
Dieses Männergesicht, gerötet vor Triumph und in allen Linien gespannt wie die Muskulatur des sprungbereiten Tigers, glich in keinem Zuge mehr dem des blassen, verlebten, scheinbar feigen Rauschgifthändlers und Bankdirektors.
„Hände hoch …!! — Liu“, wandte er sich an einen der fünf, „binde sie … Gib ihnen Knebel … Wenn sie nicht auf alles eingehen, machen wir kurzen Prozeß.“
Harst schlang gemütsruhig, am Fenster lehnend, sein Taschentuch über den Streifschuß, der nur die Haut geritzt hatte, und tat dabei etwas, was ich zunächst nicht recht begriff.
Das Fenster hatte oben eine Luftscheibe, die emporgeklappt war und hinter der das herzförmige Loch der hölzernen Außenläden lag.
Irgendwie waren nun durch diese Öffnungen kleine Taubenfedern hereingeweht und auf dem Fensterkopf liegen geblieben.
Ich erwähnte ja vorhin, daß ich die Tauben herausließ, als Signal.
Harst sammelte ganz unauffällig und sehr schnell ein paar Federn auf und schob sie unter den Rock.
Da niemand der Gegner auf ihn achtete, weil man ihn mit dem Verbinden des Handrückens beschäftigt sah, entging allen außer mir dieses merkwürdige Tun.
Jedenfalls hatte er nun zwischen Jacke und Weste auf der Herzseite einige Taubenfederchen untergebracht.
Ich wurde gefesselt, bekam einen Knebel, und dann saßen wir in folgender Reihe auf Stühlen an der Wand: Kaldenhoven, Erna, Andersen, Harst, ich, Monk die alte Inderin Laila.
Uns gegenüber hatten sich die Soja-Herren weit bequemer niedergelassen: Klubsessel, Sofa und Kaminbank.
Maffert, der dem hämisch grinsenden und mit dem Mundwerk sehr vorschnellen Griechen soeben energisch zur Ruhe ermahnt hatte, fühlte sich so etwas als öffentlicher Ankläger und stellte sich jetzt hinter seinen Sessel und schaute uns mit kalter Gleichgültigkeit an.
Die fünf Chinesen (ich hielt sie für Studenten, die hier in Berlin das Gastrecht an der Universität für ihre besonderen Zwecke mit ausnutzten) verrieten in ihren finsteren Mienen die erbarmungslose Entschlossenheit, die Rache über jedes andere Gefühl stellt.
Menelaw, der eigentlich Menelaos hieß, mit diesem altgriechischen Helden jedoch nichts gemein hatte, rauchte eine von Andersens Zigarren.
Von uns ‚Angeklagten‘ war Rochus Andersen am unruhigsten.
Wenn er gekonnt hätte, würde er sich in Mafferts Kehle verbissen haben …
Solch ein Gesicht machte er.
Maffert hüstelte und begann:
„Kapitän Rochus Andersen, Sie haben vor zwei Jahren im Gelben Meer sieben Chinesen aufgeknüpft!“
Rochus nickte heftig …
Dann spie er plötzlich seinen Knebel aus und sagte wutzitternd:
„Leider nur sieben!! Wenn Sie Schuft doch auch dabei gewesen wären!!“
Maffert zuckte die Achseln …
„Plebejer, Sie!! Ich bin kein Schuft …“
„Nein, ein Schurke!!“
„Liu, gib ihm einen anderen Knebel in den Mund!“
Der eine der fünf näherte sich dem Käpten.
Aber das kleine, sehnige Rauhbein versetzte ihm einen Tritt vor den Bauch, und der Chinese flog gegen den Schreibtisch, blieb zusammengekrümmt liegen und hielt sich die Magengegend fest.
Andersen krähte vor Triumph wie ein heiserer Hahn.
Dann aber trat Menelaw hinzu, schwang einen Stuhl, und Rochus Andersen mußte den Knebel hinnehmen, falls er nicht gerade fernerhin einen Wachskopf tragen wollte.
Maffert sagte hochmütig:
„Sie benehmen sich genau so, wie ich Sie eingeschätzt habe …: Brutaler Seemann ohne jede Bildung! — — Sie haben also damals sieben Chinesen widerrechtlich getötet, und die Herren da sind die Söhne von fünf dieser Unglücklichen, die der deutschen Barbarei zum Opfer fielen …“
Herr Maffert hatte entschieden irgendwo mal ein Quäntchen oder eine ganze Portion allermodernster Anschauungen geschluckt. — Deutsche Barbarei, — — ein feiner Herr!!
Mit derselben Anmaßung sprach er weiter:
„Ich als Geschäftsmann einer Epoche, die Gottseidank alle Ideale weggefegt hat, befinde mich Ihnen gegenüber immerhin in der unangenehmen Lage, Ihre Verschwiegenheit erzwingen zu müssen … Andersen wird natürlich aufgehängt. Aber die übrigen dürften, selbst wenn ich sie hier in die Keller einsperrte, uns doch nicht genügend Zeit zur … Abreise lassen … Es können da Zufälle eintreten, die niemand vorauszusehen vermag …“
Er überlegte und wandte sich an Harst.
„Würden Sie Ihr Ehrenwort geben, drei Tage zu schweigen — auch gleichzeitig für Ihre Mitschuldigen?“
Harst deutete durch Bewegungen an, daß er den Knebel loswerden möchte.
Maffert tat es.
Aber er war sehr vorsichtig, denn der Käpten saß neben Harst, und Liu massierte noch immer seinen Bauch.
Es wäre mir unmöglich, diesen Abschluß dieses ‚Problems‘ für halb humoristisch zu schildern, wenn nicht die Erinnerung an den einfachen Trick, mit dem Harst nachher die Soja-Leute bluffte, mir noch jetzt ein stilles Lächeln entlockte.
Damals war mir anders zumute, denn unsere Aktien standen schlecht.
Nur ein Zufall, glaubte ich, könnte uns retten.
Harst entgegnete Maffert in aller Höflichkeit, die nur etwas übertrieben wirkte:
„Ich bedauere außerordentlich … Das kann ich nicht … Sie haben auf mich geschossen, und das verzeihe ich nicht … — Wie spät haben wir es?“
Maffert stutzte.
„Was soll das?!“
„Ich frage, wie spät wir es haben.“
„Dort hängt ja eine alte Schiffsuhr … Fünf Minuten nach halb zwölf …“
Er schaute auf seine Armbanduhr.
„Ja, es stimmt …“, bestätigte er und blickte Harst mißtrauisch an.
Harst beugte sich vor …
„Schraut, wann gabst du das Signal?“
„Wann ich die Tauben herausließ … — Das mag jetzt eine halbe Stunde her sein.“
Ich begriff gar nichts davon.
„Also eine halbe Stunde …“, meinte Harst langsam. „Bis Potsdam sind es etwa fünfzig Kilometer.“
Er horchte plötzlich …
In der Ferne erklang eine Autohupe mit besonderem Ton …
„Herr Maffert“, sagte er schnell, „nehmen Sie uns schleunigst die Fesseln ab … Das Überfallkommando ist da … Und der Schuß auf mich kostet noch ein Jahr Zuchthaus …“
Maffert starrte ihn verblüfft und beunruhigt an.
„Eine Brieftaube fliegt bis zum Polizeipräsidium Potsdam etwa vier Minuten, Herr Maffert … Ich hatte vorsorglich zwei Polizeibrieftauben mitgebracht und in Käpten Andersens Taubenschlag gesperrt. Bitte, — überzeugen Sie sich … Ich hatte die Tauben links unter die Jacke gesteckt, und Sie dürften dort noch ein paar Federchen finden …“
Maffert war mit einem Sprung neben ihm und riß ihm die Jacke auf …
Die Autohupe ertönte näher und näher …
Ich hörte genau, daß es nicht das Signal des Überfallkommandos war.
Immerhin ähnelten die Töne denen der Polizeiautos.
Maffert glotzte mit blassem Gesicht die Taubenfederchen an …
„Verflucht!! Wir sitzen fest!!“
Er horchte …
Dann rief er den Chinesen zu:
„Weg mit den Fesseln!! Bindet die Leute los…! Die Gefahr ist zu groß …“
„Werft eure Pistolen dort auf das Ecksofa!“, befahl mein Freund warnend. „Waffenbesitz und Schießereien, — — da helfen selbst die allerbesten Beziehungen nichts!“
— Ich habe schon so manche enttäuschten, wutverzerrten Gesichter gesehen.
Aber damals, als wir nun die Soja-Leute in Schach hielten und säuberlich fesselten und Harst zu Maffert meinte:
„Reingefallen, Verehrtester!! Die Federn sind Taubenfedern, aber ich steckte sie mir vorhin heimlich unter den Rock!“ —
… — Ja, damals lachte Rochus Andersen Tränen, und die Soja-Leute bekamen Augen wie tote Kälber.
Ja — damals, das war so ein echter Harst-Spaß, das war so ein blitzschnelles geistiges Erfassen einer Rettungsmöglichkeit gewesen und nachher ein glänzendes Ausnutzen dieser Möglichkeit.
Herr Maffert schwitzte dicke Perlen …
Menelaw war ganz still …
Die Chinesen saßen wie geprügelte Hunde da.
Und dann legte der Käpten los …
Trat breitbeinig vor Menelaw hin …
„Der junge Menelaw also, — die Ähnlichkeit ist unverkennbar! Es soll ja nun gründlich reiner Tisch gemacht werden …! Also dann los, — die Sache war die, daß die Schufte, die ich damals aufknüpfte, in ihrem Gepäck fast einen halben Zentner Rauschgifte verborgen hatten … Dies und der auf mich geschleuderte Dolch bestimmten mich mit dazu, sieben von ihnen, die intelligentesten, baumeln zu lassen … Und dann nach Jahren kam eben die Unglücksnacht in Freund Kaldenhovens Haus. Ich war bei ihm, wir spielten bei offenem Fenster Schach, mit einem Male flog ein Wurfmesser an meinem Ohr vorüber in die Wand, ich zum Fenster hinaus, erwischte den Kerl, schleifte ihn ins Haus, band ihn auf des Malers Bett ganz fest und nahm den Freund mit zu mir, um von mir aus die Polizei telefonisch zu verständigen. Kaldenhoven hatte kein Telefon. Als wir eine Strecke gegangen waren, drehte ich mich um, sah bei Kaldenhoven verdächtig roten Glanz auf den Fenstern, wir liefen zurück, drangen ein, — — es gab nichts mehr zu retten, der Attentäter, ein langer Chinese, war mit Petroleum übergossen worden, — wir waren wie vor den Kopf geschlagen, wir handelten töricht, ich selbst riet Kaldenhoven zur Flucht, der Schein hätte nur zu leicht gegen uns gesprochen … Und nachher tat ich alles, einen Unfall möglichst glaubwürdig zu gestalten, meldete Ernas Ansprüche auf die Versicherungssumme an … — Das ist die Wahrheit …“
„Nicht die ganze“, meinte Harst liebenswürdig und schüttelte Andersen leicht die Hand, „Der Sohn Menelaw ist ein würdiger Nachfolger seines Vaters geworden, die Polizei und die Zollbehörden werden in den Wachsköpfen aus Mafferts Fabrik übergenug Heroin finden, und die Brandstiftung und der Mord an Ihrem Spießgesellen, Menelaw, dürfte aus Zuchthaus eine empfindliche Strafe machen … — Kapitän, rufen Sie die Polizei an. Wenn mein Freund Schraut den ganzen Fall übersichtlich zu Papier bringt, wird allen Teilen Gerechtigkeit widerfahren … Die allerärgste Schurkerei Menelaws war die Brandstiftung und der damit verbundene Mord, denn so hoffte der Grieche Fräulein Ernas Schweigen erpressen zu können …“ —
An jenem schönen Maitage blieben wir Gäste Kapitän Andersens und verlebten einige frohe Stunden im Kreise von Menschen … vom anderen Ufer.
Wer nun rückblickend meines Freundes Arbeitsleistung im Fall Kaldenhoven überschaut, wird mir nicht vorwerfen können, Harsts Leistung mit allzuviel Lorbeer umwunden zu haben. Das Problem Kaldenhoven weist zu feine Züge auf, um hinterher laute Siegesfanfaren zu blasen …
Nächster Band: