Harald Harst
Band: 361
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Max Schraut gewidmet
Wer den deutschen Wald so fühlt wie du,
Und die Stimmung der märkischen Seen dazu,
Und das Ostseegeländ‘ und die trutzige Stadt
Alt-Danzig, das dich geboren hat —
Und dessen heimliche Wege man geht
Mit dem Dichter, von Regen und Sturm umweht,
Der für sich und für andere rastlos strebt,
Dessen Menschen man mit ihm liebt und erlebt,
Der Männer schildert, ganz Deutsch von Art,
Im Verbrecher selbst — menschlichen Funken gewahrt,
Der für Deutschland kämpfte als ganzer Mann,
Der ist Deutsch, wie Deutsch nur Deutsch sein kann!
Ein dankbarer Leser
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
1. Kapitel
Kastani erscheint zur rechten Zeit.
Die Geschäftsflaute bei uns war seit Wochen erstklassig. Meines Freundes Laune entsprach durchaus dieser Windstille: Er ging stumm und versonnen umher und beachtete nicht einmal an diesem herrlichen Junimorgen die Zeitungen, die abermals infolge des frühen Anbruchs der ‚Sauren Gurkenzeit‘ das Märchen von dem geheimnisvollen Einbrecher in der Umgebung des Städtchens Seeburg aufwärmten.
Wir hatten das Frühstück gerade beendet, als das Telefon schnurrte.
„Hier Harst …“, meldete sich der stumme Freund.
Unser Apparat spricht sehr laut an.
„Hier jemand, der Sie unbedingt sprechen muß … Mein Gott — da ist der Mensch schon wieder — — ich …“
… Schluß …
Harst blickte mich ernst an.
„Das könnte man Sturmzeichen nennen, mein Alter …“ — — er horchte, dann legte er den Hörer weg.
Mit einem unmerklichen Lächeln nahm er mir gegenüber Platz.
„Es war eine Frauenstimme … Die Frau wird beobachtet und verfolgt. Sie sprach von einem Straßenautomaten aus und hatte den Fuß in die Tür geklemmt, um die Straße im Auge behalten zu können, Ich hörte das Tuten von Autos aus der Ferne und Musik. Heute zehn Uhr vormittags bringt eine Reichswehrkapelle dem General von Wrangel zum achtzigsten Geburtstag ein Ständchen dar — — am Fehrbelliner Platz. Wenn die verfolgte Frau klug ist, benutzt sie den U-Bahnhof dort zum Entwischen, indem sie in dem einen Eingang verschwindet und zum andern … — hallo, — — abermals …!!“
Seine Gleichgültigkeit war wie weggewischt.
„Hier Harst … — Sind Sie dieselbe Anruferin von vorhin? — Danke … Also Fehrbelliner Platz … Und durch die U-Bahn, — dachte ich mir. Ist Ihr Verfolger denn ein so arger Gegner, daß …“
„Er würde mich erschießen …“, schrillte die helle Stimme der gehetzten Frau … „Aber jetzt habe ich ihn abgeschüttelt, er sitzt im U-Bahnzuge Richtung Wittenbergplatz, …“
„Dann treffen wir uns in der Wartehalle des Fehrbelliner Platzes“, bestimmte Harald kurz. „Nur noch eine Frage: Sind Sie aus der Umgebung von Seeburg?“
Stille …
„Ja …“, erklang es zögernd. „Wie konnten Sie das vermuten, Herr Harst?“
„Weil ich mich für den geheimnisvollen Dieb seit Tagen interessiere. Viele aus dem Publikum verweisen ihn in das Reich der Fabel: Zeitungsente!! Seltsam genug ist sein Benehmen. Hat er auch Sie belästigt?“
Ein übermütiges, keckes Lachen …
„Belästigt?! Nein, — denn Pistolenkugeln sind keine Belästigung, sie sind mehr, sie sind, wenn sie nicht treffen, Pulververschwendung …!“
„Sehr tapfer!“ lobte Harald. „Also dann auf Wiedersehen in zwanzig Minuten…“ —
Als wir unser Häuschen verließen, schloß mein Freund äußerst umständlich die Gartenpforte zu. Auch das hatte seinen Grund. Ich sollte Zeit finden, unsere recht stille Arnoldstraße gründlichst nach verdächtigen Gestalten abzusuchen.
Zunächst fiel mir nichts auf. Aber Erfahrung und Gewohnheit verleihen einen geschärften Blick. Da war ein gutgekleideter Herr unbestimmbaren Alters, der die Anschläge einer Plakatsäule studierte. Man hätte ihn für einen Geistlichen halten können. Der schwarze, altmodische Gehrock, die schwarze Schleife, der weiche schwarze Filzhut, das bärtige, rostbräunliche, faltige Gesicht, ein wahrer Charakterkopf, unterstützten bei flüchtiger Betrachtung den Eindruck, der Herr könnte Seelsorger sein. Aber bei genauerem Hinsehen fielen mir gewisse Merkmale auf, die mich veranlaßten, meine anfängliche Vermutung zu korrigieren. Die Mundpartie hatte unbedingt etwas Brutales, Überenergisches an sich, die Kopfhaltung entsprach diesem Übermaß aufgespeicherter Tatkraft, und als der Mann nun gar, da er in der Sonne stand, den Hut lüftete und mehr in den Nacken schob, bemerkte ich eine kantige Stirn und dichtes, graumeliertes, straff gescheiteltes Haar. Ich schloß daher auf einen pensionierten Beamten oder Militär alten Schlages, — und mein Interesse für den Herrn erlosch.
Außer ihm war nichts Argwohn Erregendes festzustellen.
Mein Freund, der nun endlich die Pforte verschlossen hatte, sagte nun gleichgültig: „Gehen wir nach links die Straße hinab, wir werden ja sehen, ob er uns folgt. Wofür hältst du ihm?“
Also auch er hatte den Fremden bereits aufs Korn genommen. Ich erklärte, was ich betreffs des Berufes des Mannes vermutete, — Harald schwieg dazu.
An der Straßenecke warteten wir auf die Elektrische. Der Fremde, den wir weit hinter uns gelassen hatten, war verschwunden.
Harst schob wortlos seinen Arm in den meinen zog mich in einen nahen Hausflur. Durch die Türspalte beobachteten wir weiter, und siehe da: Eine Autotaxe kam angerollt, und darin saß der Unbekannte, in Lektüre einer Zeitung scheinbar völlig vertieft.
Harald lachte herzlich. „Ein schlauer Fuchs!! Sollte das etwa der bewußte Schütze sein, den unsere Klientin erwähnte?!“
Als die Taxe außer Sicht gekommen, wählten wir einen anderen Weg zum Fehrbelliner Platz. Dort saß in der Wartehalle eine tief verschleierte Frau, derben Lodenmantel und Jägerhütchen auf ländliche Herkunft schließen ließ. Neben ihr stand ein schäbiges Köfferchen.
Wir setzten uns wie zufällig neben sie, und da infolge des warmen Juniwetters die Halle leer war, flüsterte Harst der Fremden sofort zu: „Sie riefen, uns vorhin an. Teilen Sie uns kurz das Nötigste mit. Zunächst möchte ich jedoch eine Beschreibung Ihres Verfolgers haben.“
Die junge Dame nannte ihren Namen. Wir waren überrascht. Hinterher waren wir enttäuscht, denn der Verfolger, wie ihn die Dame uns beschrieb, konnte niemals derselbe Mann sein, der uns beobachtet hatte.
„Und nun zu Ihrem Anliegen“, sagte Harst aufmunternd, „Verhehlen Sie uns nichts. Wir sind verschwiegen wie das Grab.“
Das junge Mädchen klagte uns ihre Nöte. Es war die alte Geschichte: Ein heruntergewirtschaftetes Gut, Zwangsversteigerung, ein baufälliges Schloß, das niemand erwerben mochte …
„… Dort hausen wir nun in den wenigen bewohnbaren Räume … Unsere Standesgenossen meiden uns, man nennt uns die Bettelkomtessen. Nur einen einzigen Freund haben wir noch: Den früheren Schloßvogt und Diener Karl, der in Seeburg als Rentner lebt. Vor drei Tagen stattete der rätselvolle Dieb auch uns einen Besuch ab. Meine Schwester erwachte, wir betraten das Eßzimmer, der maskierte Einbrecher feuerte auf uns fünf Schüsse ab und entfloh. Eine Kugel streifte meinen Handrücken, — hier, sehen Sie: Nur ein rötlicher Strich!“
Bisher hatte sie sich vollkommen beherrscht. Der Tod der Eltern, der Niedergang ihres Geschlechts, die bittere Armut hatten dieses einst so sehr verwöhnte Mädchen innerlich gefestigt. Jetzt aber kam auch bei ihr die begreifliche Erregung über den Verlust all dessen, was ihr als Andenken am liebsten gewesen, zum Durchbruch.
„Ich bin nicht ungeübt im Waffengebrauch“, stieß sie hastig hervor. „Ich bin Jägerin … gewesen, als wir noch Felder und Wälder besaßen. Ich schoß gleichfalls auf den Maskierten, er ließ das ganze bereits eingepackte Silberzeug liegen und nahm nur die kleine Holztruhe mit unseren Familienpapieren und der unvollendeten Chronik mit, die meines Vaters Lebenswerk gewesen. Er starb am Herzschlag, der liebenswürdige, gutmütige und lebensfrohe Vater, ein Kavalier der alten Schule, ein Landedelmann, der sich nie in die Nachkriegszeit hatte einpassen können. Eines Morgens fanden wir ihn tot auf, am Schreibtisch, über seiner Schreibarbeit zusammengesunken … Ganz tief hatte die jäh erlahmende Hand die Feder in des Papier gebohrt, und ein großer Tintenklecks machte das letzte Wort fast unleserlich, das Wort ‚Zufall‘ … Er hatte geschrieben, ‚die Wahrheit wird nur an den Tag kommen durch einen Zufall!‘ — Wie gesagt, der Einbrecher entfloh durch das gewaltsam geöffnete Fenster, — am Mittag bereits erhielten wir ein Eilpaket aus Berlin, in dem der Dieb uns die Papiere und die unvollendete Chronik sehr beschmutzt zurückschickte. Dem Paket lag ein. getippter Zettel bei des Inhalts, wir sollten über den Einbruch schweigen, sonst würde … es uns leidtun!! Außerdem waren dreihundert Mark beigefügt, die wir, meine Schwester und ich, sofort der Armenkasse in Seeburg zusandten. Wir haben auch bisher geschwiegen und uns nur dem alten treuen Karl anvertraut.“
Harst stellte eine leise Zwischenfrage. „Inwiefern waren die Papiere beschmutzt?!“
„Der Dieb muß aus Unachtsamkeit oder Böswilligkeit eine Säure darübergegossen haben … Die Chronik ist fast vernichtet und besteht nur noch aus einem Klumpen mürber, zusammengeklebter Fetzen …“
„Es war weder das eine noch das andere“, murmelte Harald vor sich hin. „Und wie kamen Sie auf den Gedanken, mich aufzusuchen?“ fügte er etwas lauter hinzu.
Die Komtesse überlegte. „Ich bin eine sehr impulsive Natur … Die vielen seltsamen Einbrüche in der Umgebung von Seeburg ließen mich vermuten, daß dieser Dieb, der mit der Schußwaffe stets so flink bei der Hand ist, wenn er überrascht wird, etwas ganz Bestimmtes sucht. Es drängte mich, mit Ihnen den Fall zu besprechen, und dies hauptsächlich mit aus dem Grunde, weil mir vor einem Jahr so einiges aufgefallen ist …“
„… Als Ihr Vater gestorben war…“, ergänzte Harald schnell. „Sagen Sie es frei heraus: Sie glauben, es liegt ein Verbrechen vor.“
„Ja … ja …! — Mein Vater war kerngesund, wenn auch durch Sorgen zermürbt …“
Fast überstürzt teilte sie uns Einzelheiten mit. Gewiß, ihre Verdachtsgründe waren wenig stichhaltig. Immerhin ergaben sie ein etwas widerspruchsvolles Bild, und erst als Harst mehrere Zwischenfragen gestellt hatte, klärten sich die Vorgänge soweit, daß ein gewisser Argwohn berechtigt schien.
Unsere Unterhaltung mit der Komtesse erlitt verschiedene Störungen durch das Auftauchen von Leuten in der Wartehalle, denen unsere Klientin stets eine äußerst mißtrauische Aufmerksamkeit schenkte.
Mein Freund erkundigte sich daher mit allem Recht, ob der schießwütige Einbrecher etwa auch hier in Berlin Helfershelfer besäße.
„Eine Menge …“, erwiderte die Komtesse etwas verängstigt und schob schnell die Hand in die Manteltasche, deren aufgebauschter Stoff die Konturen einer Pistole sehen ließ. „Dort, — der alte Herr kommt mir sehr verdächtig vor.“
Harald blickte schärfer hin. Dann lachte er still in sich hinein. „Der?! Wissen Sie, wer das ist?! Ein harmloser Schaubudenbesitzer, dem wir einmal aus der Patsche halfen! Kastani nennt er sich … — Übrigens mir kommt da soeben eine glänzende Idee! Wenn der Einbrecher wirklich etwa das Oberhaupt einer ganzen Bande sein sollte, werden wir ihm gegenüber einen schweren Stand haben. Als Harst und Schraut dürfen wir in Seeburg nicht auftreten. Komtesse, schreiben Sie von hier aus Ihrer Schwester, daß Sie vorläufig in Berlin bleiben, da ich dies so gewünscht hätte. Ich werde sofort einmal den alten Kastani für meine Idee zu gewinnen suchen … In ein paar Minuten bin ich wieder zurück …“
Ich blieb mit der Komtesse allein. „Was mag Ihr Freund vorhaben?“ fragte sie schüchtern. „Ich möchte Sie beide ungern derselben ständigen Lebensgefahr aussetzen, in der ich schwebe, denn, um ganz ehrlich zu sein, Herr Schraut: Man hat noch häufiger auf mich geschossen!“
„Wann denn?“ — ich war wirklich erschrocken, aber nicht meinetwegen.
„Gestern morgen im Park und heute früh im Eisenbahnzuge hierher, als ich mich einmal zum Fenster des Abteils hinauslehnte … Ich hörte nur die Kugel pfeifen, den Schützen sah ich nicht, aber er muß in demselben Wagen gesessen haben, denn die Waffe kann nur eine Luftpistole gewesen sein …“
Als Harst nach der Unterredung mit dem alten Kastani die Wartehalle wieder betrat, nickte er uns vergnügt zu.
„Erledigt! Kastani fährt nach Seeburg …“ — Was er noch hinzufügte, entlockte der Komtesse nur ein Kopfschütteln.
„Aber das ist doch nicht möglich, Herr Harst!!“
„Alles ist möglich! Sie werden doch zugeben, daß wir mit den landläufigen Mitteln in diesem Falle gar nichts erreichen würden.“
„Allerdings … — Ich habe übrigens soeben Ihrem Freunde als Warnung mitgeteilt …“, — und sie wiederholte ihre Angaben über die beiden Attentate.
Harst kniff etwas die Lippen zusammen.
„So … Also auch im Zuge!“ meinte er zerstreut. „Mithin sollten Sie Berlin nicht lebend erreichen, oder besser…: mich nicht aufsuchen können! Sehr vielsagend!! — Nun, der alte Kastani wird uns sehr nützlich sein…“
2. Kapitel
Die Zigeunerin und ein Güldenstern.
Graf Bodo Güldenstern, der erst ganz kürzlich wieder von einer besonderen Expedition heimgekehrt war, stand spät abends auf dem Altan seines Familienschlosses, rauchte noch die übliche Nachtzigarre und überblickte, tief in wenig angenehme Gedanken versunken, das nächtliche Bild der mondhellen Landschaft.
Unter ihm schillerte der große Güldensee im Glanze des Nachtgestirns, eine breite silberne Strahlenbahn zog sich über das romantische Gewässer hin, in dessen Mitte die Gülden-Insel, dicht bewaldet und von Schilf umsäumt, als Naturschutzgebiet ungezählte Vögel aller Art beherbergte.
Jenseits des gleißenden Spiegels des umfangreichen Gewässers erhoben sich die zumeist recht alten Gebäude des Städtchens Seeburg mit zwei Kirchtürmen und dem architektonisch beachtenswerten Rathausturm.
Nur an der Seepromenade waren außer dem Kurhaus moderne Bauten, Villen und Fremdenheime, entstanden, deren helle Fenster freundlich in die Nacht hinausglänzten.
Seeburg hatte in letzter Zeit als Moorbad einen bescheidenen Ruf bekommen.
Graf Bodo Güldensterns hageres, braunes Gesicht mit dem fest eingeklemmten randlosen Monokel zeigte einen schmerzlich versonnenen Ausdruck.
Er war von einem Sterbebett gekommen.
Ein junges Menschenleben hatte qualvoll gegen den unerbittlichen Tod gekämpft …
Die Ärmste hatte ausgerungen.
Was sie hinterließ, waren nur Sorgen, — Sorgen für Güldenstern, dem alle Vortäuschungsmanöver so verhaßt waren.
Er gehörte nicht zu den Leuten, die leichtfertig mit Frauenherzen spielen. Er besaß jene strenge Auffassung von Standespflichten, die leider so sehr verblaßt war gerade in den Kreisen derer, die die Aufgabe gehabt hätten, dem Volke vorzuleben.
Unwillig schleuderte er jetzt die Zigarre in den Park hinab.
Sie schmeckte ihm nicht …
Die nächste Zukunft erschien ihm grau und trübe wie ein Gewitterhimmel.
Aufseufzend begab er sich in sein Schlafzimmer, nickte seinem Diener Ali zerstreut zu und meinte nur:
„Ihr werdet scharf aufpassen müssen …!“
Ali verneigte sich.
„Herr, unsere Augen sind wie die des jagenden Tigers, und unsere Ohren wie die des Luchses, — — möge Allah dir liebliche Träume schenken, Herr.“
„Ich fürchte, meine Träume werden alles andere als lieblich sein …“, sagte der Graf bitter und begann sich zu entkleiden. —
Die Zigarre, die er weggeworfen hatte, war gegen einen Buchenstamm geprallt und hatte in die Büsche am Fuße des Baumes einen Funkenregen hinabgeschickt.
Der bärtige Mann, der dort seit einer Stunde im Gestrüpp kauerte, fluchte leise und gehässig …
Er wartete nun, bis der Mond sich halb hinter einer Wolke verkrochen hatte, — er wartete mit der berufsmäßigen Geduld des erfahrenen Einbrechers, bis auch die Fenster des Schlafzimmers des Schloßherrn dunkel geworden waren.
Hierüber verging eine Stunde.
Der Graubart verließ sein Versteck, erkletterte den Altan mit der Geschicklichkeit eines geübten Turners, duckte sich droben zusammen und lauschte.
Seine hagere bucklige Gestalt mit dem großen Schlapphut und der roten Nase und den wirren Haarzotteln schob sich bedächtig der Tür zu, die vor den Fenstern ein starkes Ziergitter trug.
Eine Stahlsäge begann leise zu kreischen.
Immer wieder ölte der Einbrecher die haarscharfe Säge, hob dann das Gitter heraus und drückte einen großen, mit grüner Seife dick beschmierten Lappen fest auf die Türfensterscheibe.
Ein leichter Faustschlag, und das Glas barst fast ohne Geräusch.
Gleich darauf befand sich der Graubart mit seinem Rucksack im Speisesaal. Er mußte hier sehr gut Bescheid wissen, denn er begnügte sich mit der spärlichen Beleuchtung des durch die Bogenfenster einfallenden Mondlichtes.
Seine Bewegungen waren flink, bedachtsam, überaus vorsichtig und derart zielbewußt, daß ein heimlicher Beobachter bestimmt den Eindruck gewonnen hätte, der Dieb gehöre zu den Meistern seiner Zunft.
Jetzt räumte er aus dem Büfett das Silberzeug aus. Er tat es vollkommen wahllos und murmelte dabei wiederholt vor sich hin:
„Alles lächerlicher Tand!!“
Zuweilen kicherte er ironisch.
Er verpackte die Beute in seinen Rucksack, schulterte diesen und schlich weiter.
Er wußte hier sehr gut Bescheid.
Wie ein Schatten huschte er in die sogenannte Gemäldegalerie, in der außer wertvollen Bildern auch zahllose Glasschränke mit allerlei Andenken an die Geschichte derer von Güldenstern standen.
Hier schaltete er nun doch seine ihm vor der Brust hängende Taschenlampe ein und musterte die Gegenstände mit Kennerblicken.
Seine vielseitige, wenn auch lückenhafte Bildung gestattete ihm ein Urteil über den Kunstwert der Sammlungen.
Seltsamerweise ließen ihn die goldenen Pokale, die Goldleuchter und anderes, das doch jeden Gauner gelockt hätte vollkommen kalt.
Nur ein großer Glassturz, unter dem eine Militärmütze lag, interessierte ihn.
Er nahm die Mütze, befühlte sie.
„Ah, — — endlich!“
Sein Messer zerfetzte das schweißige Mützenfutter.
Plötzlich, horchte er …
Sein überaus feines Gehör hatte das Knarren einer Tür vernommen.
Blitzschnell schaltete er die Lampe aus, zog seine Pistole, entsicherte sie und huschte hinter die Fenstervorhänge.
Zwei indische Diener traten ein …
Ihre Laternen beleuchteten die am Boden liegende Mütze.
Ali stieß eine Verwünschung aus …
„Mahmed, der Scheitan hole den Dieb!!“
Hinter Alis und Mahmeds Rücken flüchtete ein Mann auf Gummisohlen zum Altan zurück.
Aber diesmal hatte er Pech …
Sein Fuß stieß gegen einen Stuhl …
Die Verfolger hetzten ihn …
Seine Waffe spie Blitz um Blitz …
Er glitt am Altan hinab, hinein in den Park, hinab zum See, öffnete den Rucksack, schüttete die gestohlenen Silbersachen in den Ufersand, bestieg sein Faltboot und paddelte in das Schilf hinein.
Eine Stunde darauf betrat er den völlig verwahrlosten Park eines anderen Schlosses, eilte zu dem leerstehenden Seitenflügel, der vollkommen verfallen war und verschwand hier in einem Raume, der einem der längst verblichenen Schloßbesitzer einst als Arbeitszimmer gedient hatte.
Auch hier kannte der bucklige Graubart jeden Winkel.
Er schritt zu einer Nische, betastete das hohe Eichengetäfel und schob ein Stück davon zur Seite.
„Schlaukopf!!“ murmelte er anerkennend, „Das Versteck hat er selbst angelegt …!“
In dem Versteck hatte lediglich ein flacher, mtttelgroßer schwarzer Kasten gelegen.
Wieder eine Stunde drauf stand der Alte in einem Keller mit dicht verhängten Fenstern, pfiff gemütlich vor sich hin und mischte in einer großen Schüssel feinen Gips mit Essigwasser, preßte die feuchte Gipsmenge dann, in eine Form, die aus zwei Stücken mit Scharnieren bestand, wartete und klappte die Form auf, nachdem die Masse hart geworden.
Den Gipskopf, den er derart hergestellt hatte, setzte er dem Torso einer altgriechischen Statue auf, befestigte ihn mit frischen Gips, schabte die Ränder glatt und stäubte feines graues Pulver über den neuen Kopf, um ihm ein älteres Aussehen zu verleihen.
„Nun könnt ihr suchen!!“ flüsterte er in jäh auflodernder Wut. „Verflucht sei euer Geschlecht!! Wer mich bestiehlt, lernt mich von der satanischen Seite kennen! Und du hast mich bestohlen, du … Schuft!! Sie ist tot … Du hast sie umgarnt, du hast sie zertreten!! Ihr sollt sterben!“
In maßloser Wut schüttelte er die sehnigen Fäuste gegen die Gipsstatue …
Dann … lachte er …
Schrill, heiser …
Wie … ein Wahnsinniger …
*
Mitten auf dem Marktplatz des märkischen Städtchens und Moorbades Seeburg stand das mittelgroße Zelt der Schausteller, daneben ihr Wohn- und Gerätewagen.
‚Kastanis Panoptikum‘ nannte sich das Unternehmen, — die Firmenbezeichnung war also halbgestohlen. Kastanis Panoptikum in Berlin genoß einst Weltberühmtheit. Es ging ein, die Sehenswürdigkeiten gerieten unter den Hammer, die Auktion erbrachte jedoch nur einen geringen Erlös, und lediglich die Andenken an die große Zeit nach 70/71 fanden zahlungskräftige Privatkäufer. —
Es war jetzt kurz vor halb Zwölf nachts. Der alte Papa Mond lugte soeben über das Spitzdach des Rathauses hinweg und lächelte verständnisinnig. Er beobachtete dieses geheimnisvolle Treiben nun bereits acht Tage.
Der Marktplatz war leer. Seeburg stand im Rufe größter Ehrbarkeit. Nur in letzter Zeit hatte dieser Ruf etwas gelitten. Schuld daran waren die verdammten Einbrecher aus Berlin. — Aus dem Wohnwagen schaute ein Frauenkopf hinaus. Das bunte Tuch, die schillernden Ohrgehänge und das schwarze, unordentliche Haar verliehen den Gesichtszügen etwas Zigeunerhaftes.
Die Frau blickte sich nach allen Seiten um und behielt besonders den Eingang der im Erdgeschoß des Rathauses stationierten Polizeiwache im Auge. Sie wußte, daß dort jetzt Beamte aus Berlin den hiesigen Kommissar und seine drei Untergebenen beim Aufspüren des rätselhaften Diebesgelichters unterstützten. Sie sah auch genau, daß hinter dem einen, nur matt erleuchteten Fenster ein Mann mit einem Fernglas stand, jedoch nach einer Weile den Fenstervorhang fallen, ließ und zurücktrat. Sie drehte sich um und sprach ein paar Worte in die Dunkelheit des Wagens hinein, worauf von dort eine ebenso knappe Antwort ertönte. Die Frau blieb in der halb geöffneten Wagentür im Schatten des weit vorspringenden Wagendaches stehen und wartete. Minuten später kam über den totenstillen Marktplatz der täuschend nachgeahmte verschlafene Schrei einer Dohle herüber, der hier nicht auffallen konnte, weil im uralten Patrizierhause der Familie Gudovius mit seinen Türmen und Türmchen zahllose dieser schwarzen Vögel zusammen mit halbverwilderten Tauben nisteten.
Die zigeunerhafte Frau warf noch einen letzten scharfen Blick zur Polizeiwache hinüber und verschloß dann die Wagentür, machte in ihrem kleinen Schlafraum Licht und setzte sich auf das schmale Bettsofa, legte die Arme auf das Tischchen und starrte finster vor sich hin. Sie hatte seit heute noch mehr Sorgen denn je, und die Ungewißheit, ob sie von dem feinen Herrn, der heute abend das Panoptikum besucht hatte, erkannt worden sei, ließ ihr keine Ruhe. Ihr gingen noch weit ernstere Dinge durch den Kopf, und es gab Minuten, in denen sie es fast bereute, sich auf diese abwegige Methode überhaupt eingelassen zu haben.
Eine geraume Weile blieb sie, das Kinn in die linke Hand gestützt, sitzen, und während ihre Gedanken nun zurückglitten in eine sonnige Jugendzeit, lösten sich ein paar schwere Tränen aus ihren langen Wimpern.
Unwillkürlich griff sie dann nach einem Handspiegel, rückte die Petroleumlampe zurecht und betrachtete ganz eingehend ihr Gesicht, schüttelte wiederholt mit einem bitteren Lächeln den Kopf und murmelte vor sich hin: „Es ist unmöglich … Ich habe mich zu sehr verändert …“
Die Frau besaß ein überaus feines Gehör. Ihre jahrelangen Streifzüge durch Felder und Wälder hatten ihren Sinnesorganen jenes ungewöhnliche Maß von Aufnahmefähigkeit verliehen, das in den Städten dem Menschen längst abhanden gekommen ist.
Sie horchte. Die Stufen der Treppe zum Wagenvorbau knarrten, dann klopfte er ganz leise gegen die Tür, und eine gedämpfte Stimme rief:
„Ich bin’s!“
Die Zigeunerin schnellte empor, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, und da sie gleichzeitig die Farbe wechselte, zeigte ihr Gesicht merkwürdige Flecken. Sie verharrte sekundenlang in dieser Stellung, und ihre Züge entspannten sich erst, als draußen ein barscher Anruf erfolgte, dem das eilige Getrappel von Stiefeln eine besondere Bedeutung verlieh. Der Mann, der Einlaß begehrt hatte, war entflohen, wurde jedoch infolge der scharfen Überwachung des Marktplatzes schnell eingeholt und zum Entsetzen der Frau, die abermals die Wagentür geöffnet hatte, zur Polizeiwache gebracht.
Kriminalkommissar Werner Utz, der nun seit Tagen seine Bemühungen bis zu einem endgültigen Ergebnis zu fördern suchte, saß hinter dem Bürotisch und betrachtete den seltsamen Vogel, den man da soeben aufgegriffen hatte, mit gut verhehltem Erstaunen. Er sah auf den ersten Blick, daß er hier entweder einen ganz vornehmen Hochstapler oder einen wirklichen Gentleman abgefaßt hatte. Der Mann trug einen tadellosen Sportanzug, war blond, sehr braun gebrannt und nahm sein Mißgeschick mit allergrößter Ruhe hin, Er putzte sein Monokel, lächelte den Kommissar verschmitzt an und meinte:
„Pech und Dummheit! Ich war abends aus Langeweile im Panoptikum und muß dort mein Zigarettenetui verloren haben. Ich sah im Wohnwagen der Schausteller noch Licht und wollte fragen, ob die Leute …“
Bisher hatte Utz den andern reden lassen.
„Und weshalb kniffen Sie aus?“
„Weil eine Frau im Wagen erschrocken aufschrie, nur deshalb.“
„So … so — Können Sie sich ausweisen?“
„Bitte, — hier mein Paß, meine Mitgliedskarte des D. A. K., — das genügt wohl. Ich bin Graf Bodo Güldenstern. Mein Gut liegt in der Nähe, jedes Kind kennt mich hier.“
Der städtische Polizeikommissar, der etwas verdattert in der Ecke stand, hustete verlegen. „Ja, es ist Graf Güldenstern, Herr Kollege“, bestätigte er eiligst. „Ihre Leute griffen zu schnell zu …“
„Die greifen höchsten zu spät zu“, sagte Utz, sehr kühl, da ihm Titel und Würden absolut nicht imponierte. „Wollen Sie bitte die Frau des Schaustellers herbeiholen, ohne ihr zu erklären, worum es sich handelt. Sie mag im Vorzimmer warten.“
Der dicke Polizeigewaltige verschwand zögernd. Für ihn war Graf Güldenstern eine große Respektsperson.
Werner Utz, der Berliner, ein junger Beamter von vorbildlicher Menschenkenntnis, prüfte die Ausweise des Grafen, lehnte sich dann zurück und meinte wohlwollend lächelnd: „Nun bitte mal die Wahrheit …! Der Kollege Weißgerber mag ja etwas leichtgläubig sein. Ich nicht. Die Begründung für Ihre Flucht, Herr Graf, ist sehr fadenscheinig, sehr …! Weil eine Frau aufschreit, laufen Sie davon?! Dieses Märchen müssen Sie besser dichten, in der jetzigen Form genügt es nicht.“
Bodo Güldenstern hatte mit der Polizei schon verschiedentlich zu tun gehabt. Dieser Berliner war im Gegensatz zu seinen bisherigen polizeilichen Bekanntschaften gefährlich, das merkte er. Aber — es ließ ihn kalt. Um Bodo Güldenstern zu fangen, mußte man gerissener sein.
„Das Märchen ist Tatsache“, erklärte er bestimmt. „Weshalb sollte ich lügen?! Als die Frau aufschrie und als der eine Ihrer Beamten mich anrief, wollte ich die Frau nicht bloßstellen, die Geschichte hätte leicht nach einem galanten Abenteuer ausschauen können … Also — — lief ich davon!“
Utz sog an seiner Zigarre und blickte den Rauchwölkchen nach. „Äußerst rücksichtsvoll von Ihnen, gewiß“, nickte er höflich. „Immerhin, — wir werden die Frau vernehmen, und dann wird vielleicht der Schrei, den Sie gehört haben wollen, in das Reich der Fabel verwiesen werden können.“
Güldenstern wurde die Situation nun doch etwas ungemütlich. Er war ja seiner Sache keineswegs sicher, daß die Zigeunerin mit Grid von Gardenberg identisch sei. Immerhin hatte er noch einen Trumpf im Spiel.
„Herr Kommissar, wenn Sie zweifeln, lassen Sie doch lieber das Panoptikum durchsuchen. Ich glaube fast, mein Zigarettenetui wird hinter dem ‚Sterbenden Soldaten‘ liegen, wo ich mich bückte, um den Mechanismus der Wachsfigur eingehender zu betrachten. Weshalb die Frau unnötigerweise aus dem Bett scheuchen?!“
Utz lehnte sich über den Tisch. „Herr Graf, — weshalb? — Das will ich Ihnen sagen. Aus Ihrem Paß ersehe ich, daß Sie erst vor vier Tagen von einer Autotour aus Afrika zurückgekehrt sind. Daher dürfte Ihnen noch unbekannt sein, daß gerade hier in der Gegend zahllose Einbrüche erfolgt sind …“
Güldenstern lachte herzlich. „Das weiß ich … Bei mir selbst sind verflossene Nacht Einbrecher tätig gewesen, aber ich besitze zwei Musterexemplare von indischen Dienern, die einfach das Gras wachsen hören und die die Diebe verscheuchten. Der einzige Schaden, den ich davongetragen habe, ist — Sie werden lachen! — eine zerschnittene alte Mütze, ferner ein zersägtes Ziergitter und eine eingedrückte Fensterscheibe. Gewiß, die Mütze hat als Andenken einen gewissen Wert. — Oder halten Sie mich etwa für einen der gesuchten Berufskünstler im Stehlen?! Dann muß ich Ihnen erklären, daß ich rund eine Million Vermögen außer dem Rittergut Güldenstern besitze und daß ich keineswegs an Kleptomanie oder sonstigen ‚Komplexen‘ leide.“
Utz war erstaunt,
„Eine zerschnittene Mütze?! Wie soll ich das verstehen, Herr Graf?“
„Wortwörtlich. Es handelt sich um eine alte Offiziersmütze, die einmal ein erlauchtes Haupt bedeckte und die hinterher — wie profan!! — versteigert wurde. Allerdings brachte sie bei der Auktion keine Million.“
Utz verneigte sich übertrieben. „Ihre Million imponiert mir! Ebenso imponiert mir Ihr kleiner Trick.“
Der Graf stutzte. „Trick?!“
„Ja. Natürlich haben Sie selbst das Zigarettenetui hinter der Wachsfigur versteckt. Ich kenne kein Zigarettenetui, das, wenn es jemandem aus der Tasche fällt, nicht Lärm hervorruft, zumal auf dem Bretterboden einer Schaubude.“
Güldenstern hüstelte und schaute zur Seite.
„Pardon, — der Boden ist mit Läufern belegt, Herr Kommissar.“
„Die sehr dünn sind, leider …! — Überhaupt, — — diese Schaubude!! Mich freut‘s, daß Sie mir den Anlaß zum Zupacken lieferten.“
Der Graf blickte auf. „Zupacken?! Ich verstehe nicht ganz …“
„Sie werden‘s sehr bald verstehen … — Hallo, Kollege, ist die Frau dieses Kastani zur Stelle?“
Der dicke Polizeigewaltige war soeben eingetreten und keuchte vor Erregung.
„Äußerst wichtig … äußerst wichtig!! Ihre Leute haben den Wohnwagen durchsucht … Die beiden Kerle sind nicht da. Wo sind sie?!“
Werner Utz schmunzelte. „Unterwegs Kollege! Unter…wegs…!!“ Er reckte das Wort ganz lang. Dann erhob er sich. „Nun werde ich mit der Frau Kastani das Zigarettenetui, suchen gehen. — Was gibt‘s, Gromsch?“
Noch ein Mann war erschienen.
„Herr Kommissar, die verdammten Gauner sind uns abermals entwischt!“ meldete er wütend. „Und abermals auf der Seepromenade in den Anlagen — wie weggezaubert! Dabei waren dort zwei von uns versteckt, und …“
„Schon gut“, winkte Utz energisch ab. „Der Graf Güldenstern bleibt vorläufig hier, Kollege!“ Damit verließen Utz und Gromsch das Zimmer.
Minuten später wußte der Kriminalkommissar, daß die Frau nicht vor Schreck aufgeschrien und daß der Graf mithin gelogen hatte. Das Zigarettenetui fand sich unter dem Läufer der Wachsfigur an einer Stelle vor, wo andere Besucher der Schaubude es nicht bemerken konnten. Es war ein goldenes Etui mit dem Namenszug H. H. in kleineren Brillanten und mit einem Loch auf der Rückseite, in dem eine plattgedrückte Bleikugel steckte.
Als Utz dieses Etui genau gemustert hatte, machte er ein sehr nachdenkliches Gesicht …
Er kannte es ja. Es war gewissermaßen berühmt.
Utz‘ Gedanken wanderten gen Berlin. Dort hauste in der Arnoldstraße 24 im Westen ein Mann, der einst in Indien nur durch dieses Etui dem Tode entronnen war.
Sollte etwa …?! …
Utz drehte sich um. „Kommen Sie mit!“ sagte er zu zigeunerhaften Frau Kastani nicht eben freundlich …
3. Kapitel
Der Schuß von der Insel.
Gerade als Graf Güldenstern erklärte, er habe Frau Kastani bisher nie gekannt, und als Utz dazu skeptisch lächelte und den Grafen trotzdem entließ, — zu derselben Zeit saßen im Kurhotel zu Seeburg in der sogenannten „Dépendance“ (zu deutsch: Nebenhaus) einer der Kurgäste mit seinem Diener bei einer sehr harmlosen Partie ‚Sechsundsechzig‘ beieinander und waren derart in ihr Spiel vertieft, daß sie fast erschrocken aufblickten, als vom offenen Fenster her eine höfliche Stimme fragte, ob die Herren nicht vielleicht im Hotelpark zwei verdächtige Gestalten bemerkt hätten.
Die beiden verneinten, und der Kriminalbeamte entschuldigte sich und verschwand.
Herr Hennig, ein älterer Mann in einem Rollstuhl, benutzte hier in Seeburg die heilkräftigen Moorbäder, und sein Diener und Sekretär war genau so schrullenhaft und menschenscheu wie sein Brotgeber.
Hennig mischte nun umständlich die Karten und murmelte etwas von Diebsgelichter, während der auch nicht mehr ganz junge Sekretär nach einem fragenden Blick sich erhob, nebenan in das dunkle Schlafzimmer ging und erst nach zehn Minuten zurückkehrte, wobei er wiederholt kräftig nieste.
Inzwischen war im Hotelgarten eine flinke Gestalt durch die Büsche geschlüpft und hatte heimlich und unbemerkt allerlei seltsame Dinge getrieben.
Es war halb eins, als der verärgerte Kommissar Utz, zusammen mit dem Kriminalbeamten Gromsch den Polizeihund Ajax auf die Fährte Kastanis und seines Gehilfen Marnelli setzte und Gromsch gegenüber recht gereizt erklärte:
„Dreimal sind uns die Burschen nun nachts stets um dieselbe Zeit entwischt. Heute fangen wir sie. Ajax‘ Nase ist tadellos.“
Leider sollte Utz auch heute enttäuscht werden. Ajax verfolgte die Spur bis zur Seepromenade und bis zu einem dichten Buschstreifen. Hier versagte er vollkommen.
Utz bückte sich und beleuchtete die Stelle mit der Taschenlampe. „Die Kerle haben ihre Fährten irgendwie verwittert … Ich sehe zwar nichts, aber wenn Ajax sich so merkwürdig benimmt, ist Gefahr im Verzug. Denken Sie an Schloß Gardenberg, lieber Gromsch! Dort wäre Ajax beinahe eingegangen, die Schufte hatten Gift in Pulverform ausgestreut. Wir dürfen den Hund nicht wieder derselben Gefahr aussetzen. Kehren wir um. Kastani und Marnelli sind jetzt reif für eine Verhaftung!“
Gromsch erlaubte sich, einige berechtigte Zweifel zu äußern. „Herr Kommissar, die beiden können die Einbrecher nicht sein. Als in Schloß Gardenberg eingebrochen wurde, ebenso im Gutshause der Familie von Redell, waren Kastani und Marnelli in ihrer Schaubude, die bis halb elf abends geöffnet ist.“
Utz lachte bissig. „Ganz recht …! Und wie erklären Sie sich diese nächtlichen Ausflüge der fragwürdigen Herren?! Wie erklären Sie sich die Vorgänge von heute?! Was wollte Graf Güldenstern bei Frau Kastani? Woher hat der Graf das Zigarettenetui, das ich sehr gut kenne und das Harsts Eigentum ist?!“
Er blieb stehen und blickte über den von Mondlicht silbern überstreuten See hinweg. Die Schönheiten des nächtlich Landschaftsbildes nahmen ihn minutenlang gefangen. Dann fügte er nachdenklich hinzu: „Wissen Sie Gromsch, wenn ich nicht noch vorgestern vom Harst und Schraut eine Karte aus Göteborg bekommen hätte, würde ich vermuten, die beiden könnten hier irgendwie insgeheim mitarbeiten, denn so manches bei dieser mysteriösen Sache schmeckt nach Harst‘schen Methoden.“
Er steckte sich eine Zigarre an, streichelte Ajax‘ Kopf und zuckte die Achseln. „Verrückte Geschichte, Gromsch! Sinnlos!! Das ist‘s! Vergegenwärtigen wir uns nochmals die nackten Tatsachen: Seit Wochen werden hier in der Uckermark seltsame Einbrüche verübt. Die Diebe oder der Dieb sind äußerst gewitzte Herren. Sie stehlen, aber — — nun kommt‘s! — sie stehlen und lassen ihre Beute hinterher irgendwo zurück, wo sie gefunden werden muß. Bisher sind vierzehn derartige Einbrüche festgestellt, nein fünfzehn, den beim Grafen Güldenstern mit eingerechnet. — Was soll dieses Theater?! Die Gauner zersägen Fenstergitter, beschädigen Türschlösser, drücken Fenster ein und — — haben nichts von dem Spaß! Auf die Beute verzichten sie. Wozu brechen die Kerle also ein?! — Ich sage Ihnen, Gromsch: Hinter dieser Sache steckt als wahre Triebfeder irgend etwas ganz, ganz Großes! Etwas, das verschleiert werden soll. Sie verstehen mich: Die Gauner sind auf der Jagd nach anderen Dingen als nach Geld und Wertsachen.“
Gromsch, ein großer, hünenstarker Mann mit sehr verschlossenem Gesicht, hatte für Naturschönheiten nicht viel übrig. Er gehörte zu den stillen, ehrgeizigen Menschen, deren Vorwärtsstreben freilich niemals mit einer anständigen Gesinnung kollidiert. Seine scharfen Augen musterten den mondhellen See aus anderen Gründen.
„Sie werden mit Ihrer Auffassung wohl recht haben, Herr Kommissar“, meinte er bedächtig. „Dort das Motorboot, — das dürfte der Graf sein, er fährt heim. Das Boot biegt soeben um die Insel, es läuft ganz geräuschlos und sehr schnell … — Hallo, — — was war das, — das klang doch wie ein Schuß …! Da, die Möwen flattern kreischend auf, auch die Wildenten werden rebellisch …“
Auch Werner Utz kniff die Augen zusammen und spähte hinüber.
Eine Weile standen die beiden Beamten regungslos da. Die Vögel wollten sich nicht beruhigen. Mit einem Male trieb mit dem Winde ein hell gestrichenes Boot um den Schilfgürtel der Insel herum und näherte sich taumelnd dem diesseitigen Ufer.
Utz wurde lebhaft. „Gromsch, das Boot scheint leer zu sein …“
„Ist nicht leer“, sagte der Beamte leise. „Eine Hand hängt über den Rand hinweg …“
Der Kriminalkommissar lief bereits dem weißen Bootssteg zu. „Vorwärts! Schnell!! Ketten Sie ein Boot los, Gromsch …“
Das schlanke kleine Ruderboot schoß davon. Ajax saß aufrecht am Bug und winselte.
Dann lagen die beiden Fahrzeuge Bord an Bord. Nun wußten die Beamten auch, weshalb sie aus dem andern Boot so eigentümliche Töne vernommen hatten.
Am Boden unter den Rudersitzen sahen sie eine jüngere Frau im dunklen, schadhaften Seidenmantel, und neben der Frau lag in einem recht ärmlichen Steckkissen ein greinender Säugling.
„Nette Bescherung!“ murmelte Utz etwas bestürzt.
Gromsch beugte sich tiefer. „Nur ein Streifschuß, Herr Kommissar … Allerdings Schläfe …!“
Eine halbe Stunde später waren die Verwundete und das Kind bei dem städtischen Polizeigewaltigen Weißgerber bestens untergebracht, und dieser hatte Utz auch mitteilen können, wer die Dame sei. „Es ist die Gräfin Isolde Gardenberg, die jüngere der beiden Schwestern … Beide sind unverheiratet. Wo das Baby herkommt, weiß ich nicht.“ —
— Inmitten des Buschstreifens an der Uferpromenade stand eine uralte Kastanie, und im Wipfel des Riesenbaumes regte es sich jetzt, zwei Männer kletterten behutsam herab, und der eine flüsterte dem andern zu, als sie nun mit ihren Ferngläsern erneut vom Bootsstege aus den See musterten und dabei besonders die Insel aufs Korn nahmen: „Wir wollen mal hinüberrudern, mein Alter … Die beiden Sechsundsechzig-Spieler haben die Fenster geschlossen und sind schlafen gegangen. Beeilen wir uns. Der Schuß auf Isolde Gardenberg kann nur von der Insel gekommen sein. Diese ist Naturschutzgebiet, genau wie der ganzen Güldensee. Vielleicht erwischen wir heute den geheimnisvollen Gauner.“
Sie hatten sich, um in der hellen Mondnacht nicht aufzufallen, lang niedergelegt und befanden sich hier im Schatten des Fahrkartenkiosks. Der Güldensee, der Gardensee und einige kleinere Gewässer hatten im Sommer regelmäßigen Dampferverkehr.
Harst, der genau wie ich eine sehr einfache Verkleidung trug, hob plötzlich abermals sein Glas an die Augen.
„Ein Schwimmer!!“ flüsterte er gepreßt. „Von der Insel her …! Der Kerl hat ein Bündel auf den Kopf gebunden … Er ist‘s!! Endlich!! Wenn wir nicht ausgesprochenes Pech haben, greifen wir diesmal den so schlauen Wicht! — Vorsicht —! Er nimmt die Richtung auf den kleinen Bootssteg … — — Wußte ich‘s doch — — Pech!!“
Allerdings, sogar eine pechschwarze Wolke verschluckte den braven Vater Mond, und das wunderschöne bisherige Bild des silberglänzenden großen Gewässers mit seinen herrlichen Uferwaldungen und die romantische Inselwildnis wurden zu einem düsteren, dunklen Gemälde. Urplötzlich begann es auch zu tröpfeln, aus den Tropfen wurde ein Regenguß, und obwohl wir trotzdem den Versuch machten, den Burschen abzufangen und getrennt Ausschau hielten, konnte ich nichts von dem Verbleib des Einbrechers feststellen, und als Harald wieder zu mir stieß, gestand auch er seinen Mißerfolg, ein.
„Wieder nichts! — Mein Alter, die Geschichte ist eine harte Nuß! Der Regen verdirbt uns auch die Spuren drüben auf der Insel …! Dennoch wollen wir hinüber!“
Die pechschwarze Wolke machte es gnädig. Wir nahmen dasselbe Boot, das vorhin Utz und Gromsch benutzt hatten. Auf dem halben Wege zur Insel hörte der Regen auf, der Mond leuchtete uns und wir landeten behutsam an einer Uferstelle, die frei von Röhricht war und die in nächster Nähe des Ortes liegen mußte, von wo der Schütze auf die jüngste Komtesse Isolde Gardenberg gefeuert hatte.
4. Kapitel
Detektivarbeit.
Es war jetzt etwa zwei Uhr morgens. Da es gegen halb vier hell werden würde, mußten wir uns sehr beeilen. Auch Harst erwähnte dies, als er vorsichtig die freie Uferstelle ableuchtete, indem er die Taschenlampe ganz tief hielt.
„Es ist sehr unangenehm, daß wir auf den alten gelähmten Hennig und seinen Diener Schragler, diese lächerlichen Sechsundsechzig-Spieler, Rücksicht nehmen müssen …! Aha, hier sind doch noch Spuren im Ufersand zu bemerken … Und hier — eine Patronenhülse! Von einer modernen Pistole … Der heimtückische Attentäter ist ein ziemlicher Anfänger …“
Er bückte sich noch tiefer. Er schob die großen Blätter einer Sumpfpflanze auseinander und deutete auf eine Baumwurzel, die hier zutage trat. Drei Meter weiter stand eine Buche von gewaltigem Umfang.
Die Wurzel trug ein dünnes Moospolster, und in dieses Polster war die Spur eines Stiefels haarscharf eingedrückt. Es sah aus, als ob man grünen Sammet vor sich hätte, in den, ein Bügeleisen in Sohlenform einen genau umgrenzten Fleck leicht eingebrannt hatte.
Harst pfiff leise durch die Zähne.
„Wie lange, glaubst du, hat der Mann hier wohl gestanden?!“ fragte er in dem nun einmal nötigen Flüsterton.
„Sehr lange“, erwiderte ich sofort. „Die Spur ist so tief in das Moos eingedrückt, daß …“
„Und wo ist der Abdruck des linken Stiefels?!“ fiel er mir ins Wort. „Oder meinst du, der Mann hat so lange auf einem Bein gestanden?!“
Auch ich bückte mich nun, leuchtete den feuchten Boden gründlichst ab, konnte jedoch nur in einiger Entfernung von der dicken Wurzel ein Gewirr unklarer Spuren entdecken.
„Merkwürdig!!“ — Ich zuckte die Achseln. „Dieser Eindruck eines einzelnen Fußes ist allerdings schwer zu erklären.“
„Meinst du?!“ Das klang etwas ironisch. „Ich wiederhole: Niemand kann so lange nur auf dem rechten Bein stehen, daß eine so scharfe Fährte im Moos hervorgerufen wird.“
Er blickte zur Baumkrone empor. Wir standen hier im Schatten. Außerhalb des Bereichs der Äste der alten Buche übergoß das Mondlicht den großen See, das Röhricht und die Uferbüsche mit silbernen Reflexen. Erlengestrüpp deckte uns, und als Harald nun seine Taschenlampe ganz hoch emporhielt, gewahrte ich dicht über uns einen stark gekrümmten, dicken Ast, von dem ein scheinbar abgebrochener, daumendicker Zweig herabhing.
„Achtung!“ warnte Harst. „Tritt mehr zur Seite, mein Alter …!“
Dann ergriff er den Zweig, zog daran, und plötzlich senkte sich aus dem Blätterdach eine Stange herab, die unten ein Ansatzstück in Sohlenform trug.
Die Stange hatte Einkerbungen, — sie war eben ein Ersatz für eine Leiter, und das Sohlenholzstück unten paßte genau in den Fährteneindruck der Luftwurzel hinein.
„Ganz hübsch!“ lobte Harst. „Der schießwütige Einbrecher dürfte dort oben in der Baumkrone seinen Schlupfwinkel haben — oder doch sein Beutemagazin oder dergleichen … Warte hier … Ich steige empor.“
Wir beide fuhren leicht zusammen, als von droben eine angenehme Stimme erklang, die uns nicht mehr ganz fremd war.
„Sparen Sie sich die Mühe, Herr Harst … Sie werden auch nicht mehr finden als ich.“
Graf Güldenstern stand vor uns. Er war sehr gewandt an der Stange herabgeturnt.
„Güldenstern …“, — er verneigte sich, lächelte … „Zur Zeit Ihr Konkurrent.“
„Harst … — nicht sehr angenehm, diese Konkurrenz“, lautete die Erwiderung.
Auch ich wollte meinen Senf dazugeben. „Schraut, zur Zeit Schaubudengehilfe …“
Güldenstern entgegnete plötzlich ganz ernst: „Das ist mir bekannt. Sie beide werden überrascht sein. Ich habe heute Ihr Panoptikum besucht und dabei zwei erstaunliche Feststellungen machen können. Erstens saß die Komtesse Ingrid Gardenberg in einer wenig reizvollen Verkleidung an der Kasse, und zweitens fand ich hinter der Wachsfigur des sterbenden Kriegers Ihr berühmtes Zigarettenetui, Herr Harst. Nun wußte ich wenigstens, weshalb Grid Gardenberg angeblich in Berlin geblieben war und ihrer Schwester geschrieben hatte, sie solle sich nicht ängstigen, wenn Grid nichts von sich hören ließe. Der alte Gudovius teilte mir dies mit.“
„Die Komtesse, mit der Sie verlobt waren“, flocht Harald vorsichtig ein, denn dies war ein etwas heikles Thema.
Güldenstern überhörte diese tastende Anspielung. Er erzählte kurz, was er auf der Polizeiwache mit Kriminalkommissar Utz erlebt hatte.
„… Er entließ mich dann, ich bestieg mein Motorboot und wollte nach Hause fahren. Als ich hier um die Insel bog, bemerkte ich das mir entgegenkommende Ruderboot. Ich steuerte sofort in das Schilf hinein, dann fiel der Schuß, und ich beobachtete die weitere Entwicklung der Dinge. Nachdem Kommissar Utz mit dem Ruderboot im Schlepptau verschwunden war, watete ich an Land, um dem Schützen nachzuspüren. Ich sah ihn leider zu spät, als er mit einem Kleiderbündel auf dem Rücken davonschwamm, hinterher entdeckte ich seine Patentleiter, und droben an der ersten Astgabelung fand ich das, was ich vermutet hatte: Den Zugang zu dem hohlen Stamm des Baumes. Diese enge Höhlung hat der Flüchtling als Garderobenschrank eingerichtet. Es hängen dort Kleidungsstücke aller Art, dazu Bärte, Perücken, Brillen, es liegen dort ein Schminkkasten mit Spiegel und ein Dutzend dünner Gummihandschuhe, ferner eine Luftpistole, andere Pistolen und — Hauptsache! — ein Faltboot mit starkem Außenbordmotor …“
„Erstaunlich!“ sagte Harald nur.
Der Graf stutzte etwas.
„Wie meinen Sie das, Herr Harst?!“
„Ich staune, daß Sie den Zugang zu der Baumhöhle so schnell gefunden haben, Graf Güldenstern, und ich gratuliere Ihnen zu diesem Erfolg. Sie haben uns viel Arbeit erspart. — Sahen Sie übrigens, daß die Komtesse Isolde einen Säugling mit im Boot hatte?“
Die Frage wurde in so eigentümlichem Tone gestellt, daß Güldenstern abermals durch eine jähe Kopfbewegung eine gewisse verlegene Unruhe verriet.
Trotzdem bemühte er sich, möglichst gleichgültig zu erwidern: „Ich hörte das Kind leise wimmern und greinen, Herr Harst.“
„Und das ließ Sie kalt?!“ meinte Harald merklich vorwurfsvoll.
„Durchaus nicht … Ich liebe Kinder.“
Eine unangenehme Gesprächspause trat ein.
Man spürte geradezu all das Unausgesprochene, das in der Luft lag.
Güldenstern hüstelte, nahm sein Monokel aus dem Augenwinkel, klemmte es wieder ein und fragte schließlich fast herausfordernd:
„Trauen Sie mir nicht, Herr Harst? Ich habe das Gefühl, daß Sie irgendeinen unbestimmten Verdacht hegen, der …“
Mein Freund unterbrach ihn. „Weshalb unterließen Sie es, der vor Ihren Augen durch den heimtückischen Schuß verwundeten Komtesse zu Hilfe zu eilen? Weshalb blieben Sie in Ihrem Motorboot sitzen, angeblich, um den Attentäter nachher aufzuspüren?! — Graf Güldenstern, entschuldigen Sie, aber diese Handlungsweise macht mich stutzig.“
Die hellen Mondlichtflecken auf dem Boden waren inzwischen vorwärtsgekrochen. Güldensterns scharf geschnittenes Gesicht wurde von einem dieser Lichtkegel des Nachtgestirns getroffen, und zu meiner Verwirrung gewahrte ich nun, daß des Grafen Züge einen so klaren Ausdruck tiefsten Schmerzes zeigten, als ob Harsts etwas schroffe Vorhaltungen in ihm ganz besondere Empfindungen ausgelöst hätten.
Er schwieg. Sein Blick hatte gleichfalls etwas schmerzlich Versonnenes. Er sah wohl ein, daß sein Benehmen tatsächlich auffällig gewesen war. Er verteidigte sich nicht.
Harst, der große Menschenkenner und Menschenfreund, hatte hier wieder einmal unklare Zusammenhänge bloßgelegt, die mir entgangen waren. Zweifellos mußte es für Güldenstern sehr gewichtige Gründe gegeben haben, die Komtesse Isolde, die doch einst seine Schwägerin gewesen, zu meiden, — nicht aus Herzlosigkeit, nein, dagegen sprach ganz eindeutig Güldensterns Gesichtsausdruck.
Der Graf hatte inzwischen gespürt, daß seine Züge allzu hell beleuchtet wurden. Er trat plötzlich einen Schritt zur Seite. Mit ungewöhnlich harter Stimme erklärte er:
„Ich bedaure es, Ihnen mein Verhalten nicht näher begründen zu können, Herr Harst. Haben Sie sonst noch eine Frage zu stellen?“
„Nein. Ich weiß alles.“
Güldenstern verlor nun doch die Herrschaft über seine Nerven.
„Was wissen Sie?!“ — Der Herrenmensch trat zu Tage. Mit diesem Manne war nicht leicht umzugehen. Er, der vielfache Millionär, der soeben aus dem Auslande heimgekehrt war, mochte in dem Wahn befangen sein, daß ein Privatdetektiv, der für Honorar arbeitet, immerhin nur ein zweitklassiges Wesen ist.
„Sie waren mit Grid Gardenberg verlobt“, sagte Harald ohne jede Empfindlichkeit in äußerst herzlichem Tone. „Die Komtesse weigerte sich, mir die Gründe anzugeben, die sie vor einem Jahr dazu bestimmt hatten, Ihnen den Ring zurückzuschicken, lieber Graf Güldenstern. Ich vermutete sofort, daß die Komtesse irgendwie in ihrer bräutlichen Ehre gekränkt sein mochte. Jetzt weiß ich: Sie hat Ihnen Untreue vorgeworfen. Der Säugling, den die Komtesse Isolde bei sich hatte, ist vielleicht Ihr Kind, Graf Güldenstern, vielleicht …“
„Verzeihung, das sind Dinge, die nur mich etwas angehen“, lautete die eisige Antwort. „Ich verabschiede mich … Guten Morgen, meine Herren. In einer halben Stunde wird es Tag …“
„Es ist Tag geworden … — Auf Wiedersehen … Nur eins noch, Graf …“ Harald sprach etwas lauter und sehr eindringlich. „Sie bewegen sich hier auf einem sehr gefährlichen Boden. Seien Sie vorsichtig. Ich möchte nur erwähnen, daß man auf Ingrid Gardenberg sogar im Zuge nach Berlin geschossen hat. Also sollte sie mich nicht aufsuchen. Der schießwütige Einbrecher ist sehr ernst zu nehmen. Glauben Sie meiner langjährigen Erfahrung: Der Mann spielt um einen sehr hohen Einsatz! Menschenleben gelten ihm nichts. Denken Sie an Isolde!“
Güldenstern hatte erschrocken die Hand erhoben und sie auf Harsts Schulter gelegt.
„Ist das wahr? Sogar im Eisenbahnzuge?!“
„Außerdem noch im Park — leider …!“
„Oh, dann bin ich froh, daß Ingrid verhaftet ist und im Polizeigewahrsam sitzt, dort ist sie sicher …“
„Glauben Sie?! Das Seeburger Polizeigefängnis mit seinen drei altmodischen Zellen bietet keinerlei Gewähr dafür, daß dieser unheimliche, vielgestaltige Mensch nicht auch dort eindringt und …“
„Dann kehre ich sofort um, dann werde ich Wache halten, Herr Harst …“
„Tun Sie es, es ist mir nur lieb …“, nickte Harald eifrig.
„Und Sie selbst!“ fragte Güldenstern schnell. „Sie können doch unmöglich mit Ihrem Freunde in die Schaubude zurückkehren, es sei denn, daß Sie sich Kommissar Utz anvertrauen und …“
„Oh, — wir kehren weder zurück noch werden wir Utz ins Vertrauen ziehen“, meinte Harst sehr bestimmt. „Wir müssen unerkannt bleiben. Nur darin liegt unser Übergewicht über einen Verbrecher, der in seiner Art recht ungewöhnlich ist.“
„Und wo wollen Sie sich verbergen? Ich möchte doch gern, falls nötig, jederzeit Ihren Rat und Ihre Hilfe in Anspruch nehmen … schon Ingrids wegen, … ich bin sehr in Sorge.“
Harst lachte leise und herzlich. „Ja, — in Sorge, weil Sie sie noch immer lieben, bester Graf!? Unseretwegen machen Sie sich keine Kopfschmerzen. Und Nachrichten können Sie uns sehr einfach zugehen lassen …: Geschieht etwas Unvorhergesehenes, so gehen Sie auf den Dampfersteg und schieben einen Zettel in die Spalte des Geländers linker Hand vor dem Fahrkartenhäuschen. — Können Sie griechische Buchstaben schreiben? — Gut, dann also altgriechische Buchstaben … Der Riß oben im Geländer fällt Ihnen sofort auf. — Fragen Sie nichts mehr … Wir müssen aufbrechen …“
Jetzt schüttelte uns Güldenstern derb die Hand.
„Meine Herren, ich freue mich, daß ich Sie beide kennengelernt habe … Auf Wiedersehen …“
„Wiedersehen … — Folgen Sie uns erst in fünf Minuten …“
Wir beeilten uns. Wir mußten das Ruderboot zurückbringen und einen passenden Schlupfwinkel aufsuchen, der allerdings schon vorbereitet war …
5. Kapitel
Güldensterns Zigarette.
Karl Gudovius, der ehemalige gräfliche Schloßvogt und Diener, saß neben dem Krankenbett seines Lieblings Isolde und streichelte ihr begütigend die Hand.
„Komteßchen, nicht weinen … Was soll denn Ingrid zugestoßen sein?! Jetzt, wo Sie mir endlich eingestanden haben, daß Ingrid Herrn Harst besuchen wollte, gewinnt die Sache doch ein ganz harmloses Aussehen …“
Sein bartloses, faltiges, noch sehr frisches Gesicht erstrahlte in heller Freude. „Gewiß, Komteßchen, auch ich war ein wenig beunruhigt … Aber Ingrid ist doch ein tapferes, kluges Fräulein, und …, — nun, lassen wir das Thema … Jedenfalls: Machen Sie sich keinerlei Gedanken! Ich bin geradezu erfreut, daß ich die Komtesse in so guter Hut weiß. Ich muß mich jetzt auch verabschieden. Sie wissen ja, Kindchen, daß ich mein Museum für die Badegäste von zehn Uhr vormittags an geöffnet halte … Die, die meine Sammelwut belächeln, nennen mein Museum allerdings spöttisch ein Panoptikum, das Panoptikum des Sonderlings. Mögen sie! Gestern war ein berühmter Professor bei mir und lobte meine Neuerwerbungen und versprach mir, in einer Fachzeitschrift einen Artikel über mich zu veröffentlichen … Ja, vielleicht werde ich noch ein berühmter Mann, Komteßchen … Die Erbschaft kam mir sehr gelegen, ich habe ja stets nach Höherem gestrebt, und …“
Es klopfte, dann trat Kommissar Werner Utz ein.
„Verzeihung, daß ich störe … Wir dürfen die Patientin jedoch nicht zu sehr durch lange Besuche ermüden, bester Herr Gudovius … — Komtesse, Sie gestatten, daß ich Ihnen diese Rosen auf das Nachttischchen stelle … — Oh, keinen Dank … Sehr gern geschehen …“
Isolde hatte ihm dankbar die Hand entgegengestreckt. Sie war vielleicht noch schöner und reizvoller als ihre ältere Schwester, und trotz des Verbandes um die Stirn fand Werner Utz, daß sie einfach entzückend aussähe …
Es fiel ihm schwer, sich sofort wieder zu verabschieden. Die Verletzte bedurfte jedoch der Ruhe.
Gudovius und Utz schlenderten nun dem Marktplatz zu. Als das Zelt und die Wohnwagen der geflüchteten Schausteller in Sicht kamen, meinte Utz scherzend: „Da, — — — Ihre Konkurrenz, Herr Gudovius!“
Aber in dieser Beziehung verstand Gudovius keinen Spaß. Er stieß mit der Zwinge seines derben Krückstocks so wütend gegen die Pflastersteine, daß die Funken stoben.
„Konkurrenz!!“ entrüstete er sich. „Noch besser!! Trödelkram aus Wachs stellen Sie auf eine Stufe mit meinen künstlerischen Stücken?! Ich bitte Sie!! Nicht zehn Pferde würden mich auch nur in die Nähe dieser Jahrmarktsbude bringen! Machen wir einen Bogen um das Zelt … Es widert mich an. Ich bin ein wissenschaftlicher Sammler und hoffe, daß einmal eine Universität mein Streben anerkennen wird …“
Utz blickte ihn überrascht von der Seite an. Das zorngerötete Gesicht des hageren Mannes verriet den hier in Seeburg mit Recht verschrienen Sonderling. Offenbar besaß der alte Gudovius den krankhaften Ehrgeiz vieler schrullenhafter Sammler, die durchaus von sich reden machen wollen.
Der Kriminalkommissar lächelte im stillen. Er hatte bereits gehört, daß Gudovius‘ höchstes Sehnen der Doktortitel ehrenhalber war. Der hagere Mann hatte sich im Laufe der Jahre mit eifrigstem Bienenfleiß jene stückweise Bildung angeeignet, die so sehr leicht zur Überschätzung der eigenen Fähigkeiten führt. Er war in Seeburg nicht beliebt, aber sehr geachtet. Er spendete reichlich für die Armen, er saß mit im Vorstand der Kurverwaltung, er hatte dem Magistrat wiederholt praktische Besserungsvorschläge unterbreitet, seine wahre Herzensgüte konnte nicht angezweifelt werden, dies bewies sein Verhalten den Schwestern Gardenberg gegenüber, denen er in jeder Hinsicht helfend zur Seite stand. — Alles in allem also: Ein harmloser, gutmütiger, nur allzu ehrgeiziger und etwas herrischer Schwärmer!
Inzwischen waren Gudovius und Utz vor dem alten Gudovius-Haus angelangt, das der ehemalige Schloßvogt von einer entfernten Verwandten geerbt und in den letzten Jahren in ein Museum umgewandelt hatte.
Bisher hatte der Kriminalkommissar keine Zeit gefunden, dieses Panoptikum des Sonderlings zu besichtigen, das im Erdgeschoß und im ersten Stock untergebracht war.
„Wenn Sie gestatten, Herr Gudovius“, sagte Utz, während der alte Herr die Haustür aufschloß, „begleite ich Sie, und Sie zeigen und erklären mir einmal Ihre Sammlungen.“ Dann fügte er scherzend hinzu: „Die Schaubude drüben ist übrigens polizeilich gesperrt worden, was Ihnen nur angenehm sein dürfte. Der Besitzer und sein Gehilfe sind ausgekniffen, auch das ist Ihnen wohl neu. Und die Zigeunerin, die als dritte mit in diese dunklen Geschichten hineinverwickelt ist, sitzt in einer Zelle der Polizeiwache.“
Gudovius hatte sich jäh umgedreht.
Er wollte eine Frage stellen, er kam nicht dazu. Der einzige Dienstmann, den Seeburg für ständig aufzuweisen hatte, war gemütlich herbeigeschlurft, hatte an den Mützenrand gefaßt und Utz einen Brief hingereicht.
„Den fand ich morgens zusammen mit einer Mark Botenlohn in meinem Briefkasten, Herr Kommissar … Die Bezahlung ist also geregelt. Guten Morgen …“
Und verschwand wieder.
Utz sah auf den ersten Blick, daß die Handschrift verstellt war. Er schnitt den Umschlug auf und überflog den Zettel:
„Durchsuchen Sie die Buche auf der Westseite der Naturschutzinsel, von wo der Schuß auf die Komtesse Isolde abgefeuert wurde. Er ist der dickste Baum dort und hohl. Ihr Untergebener Gromsch hat gesucht und nichts gefunden.“
Das war alles. — Für Utz, bedeutete es jedoch sehr viel. Er dachte sofort an das Zigarettenetui, das er noch immer bei sich trug und das dem Manne gehörte, der hier zweifellos insgeheim ebenfalls tätig war.
Er steckte den Brief schnell in die Tasche.
„Es tut mir sehr leid, Herr Gudovius“, meinte er zerstreut, „ich habe augenblicklich jedoch eine dienstliche Abhaltung. Ich komme später zu Ihnen. Auf Wiedersehen …“
Er schüttelte dem hageren Alten freundschaftlich die Hand und eilte quer über den Markt dem Rathause und der Polizeiwache zu. Daß Gromsch nichts auf der Insel entdeckt hatte, ärgerte ihn. Gromsch war doch sonst ein so findiger Kopf.
Der Assistent schlief in Kleidern auf einem Glanzledersofa im Zimmer des städtischen Polizeikommissars. Er schlief nach der anstrengenden Nacht sehr tief und fest. Werner Utz rüttelte ihn. „Hallo, Sie altes Murmeltier!! Ich habe mit Ihnen ein Wörtchen Deutsch zu reden!“
Der große, breitschultrige Mann war im Nu munter. Er nahm den Tadel gelassen hin.
„Ich bin nicht Harst“, meinte er achselzuckend. „Und sie auch nicht, Herr Kommissar.“
„Ein Frechdachs sind Sie!!“ empörte sich Utz und lächelte dazu nachsichtig. „Natürlich waren Harst und Schraut diese Schaubudenonkels. Wer aber ist die Frau?! Und wo stecken die beiden nun?!“
„Ein Preisrätsel!!“ brummte Gromsch und gähnte. „Dann werde ich also nun, die Buche in Augenschein nehmen … Übrigens ist der Graf Güldenstern wieder in der Stadt. Als ich vor einer Stunde unsere Gefangene kontrollierte, sah ich ihn durch das Flurfenster vor der kleinen Konditorei sitzen, die in der rückwärtigen Straße liegt.“
Utz pfiff leise. „Aha!! Und er behauptete, er kenne sie nicht, und sie verweigert jede Auskunft über sich und den Grafen. Mir geht ein Licht auf!“
„So?!“ Gromsch gähnte erneut und reckte sich. „Ein Licht?! — Mir nicht!“
„Denken Sie an das Kind, Sie unglaublicher Faulpelz!!“
„Ach, — — das Kind?! Soll das etwa, der Zigeunerin gehören und ein Liebespfand des Grafen sein?! Trauen Sie es dem Grafen zu, sich an eine solche gelbe zotteligen Hexe wegzuwerfen?“
Utz gab seinem Untergebenen im stillen recht.
„Scheren Sie sich also zur Insel hinüber, Sie fauler Mensch!“ meinte er mißmutig. „Gromsch heißen Sie. Sie sollten ganz anders betitelt werden!“
Werner Utz wartete, bis der Kriminalassistent, auf den er in Wahrheit große Stücke hielt, sich entfernt hatte. Dann begab er sich in den Zellenflügel, der Schließer öffnete ihm, und versperrte hinter ihm wieder die Haupttür. Utz schritt den Flur entlang bis zum Fenster, ließ die kleine Klappe des dicken Milchglasfensters hinabgleiten und schaute auf die Straße hinab.
Drüben hinter den Kästen mit wildem Wein saß der Graf in einem Korbsessel und schlief. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, die Zigarette Mundwinkel und hatte bereits eine lange Aschespitze in wenigen Minuten mußte sie dem Schläfer die Lippen versengen.
Utz überlegte. Er hätte rufen können. Aber ein besonderer Gedanke hielt ihn davon ab, den Grafen zu wecken.
Das Feuer der Zigarette fraß weiter und weiter, jetzt schreckte Güldenstern empor, warf den kurzen Stummel weg, zündete eine frische Zigarette an und setzte sich wieder bequem zurecht, schloß die Augen, behielt die Zigarette im Mundwinkel und ließ den Kopf sinken und schlief ein.
Trotzdem hatte Utz sehr wohl bemerkt, daß der Graf in den wenigen Minuten des Wachseins äußerst scharf und mißtrauisch umhergespäht hatte.
Utz lächelte. Er begriff den Trick Güldensterns, der auf diese Weise immer wieder zeitweilig munter werden wollte. Aber er lächelte nur schwach, und in seine jungen frischen Züge trat ein erhöhter Ausdruck von Spannung, als er auf der anderen Seite des Vorgärtchens den gelähmten Kurgast nebst Diener sitzen und eine Portion Eis genießen sah.
Utz hatte es sich hier in Seeburg angesichts der dunklen Vorfälle von vornherein zur Pflicht gemacht, selbst die Kurgäste genauestens aufs Korn zu nehmen. Er hatte ja neben Gromsch noch fünf Beamte zur Verfügung, und drei davon wohnten als harmlose Erholungbedürftige im Kurhaus. Die eifrigen Sechsundsechzig-Spieler Hennig und Schragler waren ihm nicht fremd. Bisher hatte er sie gänzlich unbeachtet gelassen. Nunmehr revidierte er diese Einschätzung des seltsamen Paares, denn er gehörte zu jenen Menschen, die an keinen irgendwie gearteten Zufall glauben. Daß der Graf und Hennig und Schragler zur selben Zeit die Konditorei beehrten, mochte Zufall sein — mochte!
Dies konnte aber auch ganz andere Gründe haben — konnte!
Utz war jung. Trotzdem einer der besten vom ‚Roten Alex‘, wie das Berliner Polizeipräsidium im Volksmunde heißt. Utz hegte die felsenfeste Überzeugung, daß dieser Einbrecher, der, in die Enge getrieben, so flink mit der Pistole bei der Hand war, unbedingt ein ‚ganz großer Fall‘ sein müßte. Nur deshalb hatte er auf seinen Urlaub verzichtet und diese Sache hier halb freiwillig übernommen.
Während er nun durch das Klappfenster den Gelähmten und den kurzsichtigen Diener mit dem Schifferbart heimlich und sorgfältig belauerte, ging ihm so manches durch den Sinn, was diesen Fall im allgemeinen anbetraf.
Zunächst das eine: Hennig und Schragler, die ‚Sechsundsechziger‘, konnten nicht mit Harst und Schraut identisch sein. Das war ausgeschlossen. Noch in der vergangenen Nacht hatten sie wieder bei offenem Fenster friedlich ihr Spielchen gemacht, wie ihm einer seiner Leute gemeldet hatte, der die beiden ausgefragt hatte.
Gehörten sie also zur Gegenseite?! Waren sie überhaupt verdächtig?!
Utz wurde bitter enttäuscht.
Schragler bezahlte soeben an die nette junge Kellnerin die Zeche und nahm noch ein Paket Kuchen mit. Dann schob er den Krankenstuhl seines weißbärtigen Herrn auf die Straße hinaus, und das Paar entschwand aus dem Gesichtskreis des mißtrauischen Werner Utz.
Und doch sollte der Kriminalkommissar für seine Geduld in kurzem belohnt werden.
Abermals vernahm er jetzt das leise Quietschen der Sprungfedern des Rollstuhls. Ganz dicht schob Schragler den Stuhl an der grünen Wand des wilden Weins vorüber, dann eine blitzschnelle Handbewegung, und ein in Pfeilform gefalteter Zettel flog dem schlafenden Grafen Güldenstern in den Schoß.
Rasch schloß Utz das Fensterchen und stürmte zur Tür, verließ die Polizeiwache, schritt eiligst der Konditorei zu und kam auch noch zur rechten Zeit.
„Fräulein, eine Portion Eis …“, bestellte er.
Als er im ‚Salon‘ den Zettel entfaltete, las er folgendes in Schreibmaschinenschrift:
„Vorsicht!! Große Vorsicht bei gri Bu.“
Utz schüttelte den Kopf.
Was sollte das?! — ‚Große Vorsicht bei gri Bu.‘?
Er verzehrte seine Portion Eis und verließ nachher die Konditorei, ohne von Güldenstern bemerkt worden zu sein.
6. Kapitel
Die alte Matrosenkiste.
Der alte Gudovius schritt mit den Händen auf dem Rücken, eingeknöpft in einen schwarzen Gehrock, durch die Räume seines Museums. Er hatte heute keinerlei Freude an seinen für ihn unschätzbar kostbaren Stücken, — nein, er hatte Sorgen … Seine Sorgenkinder waren in letzter Zeit hauptsächlich Ingrid und Isolde Gardenberg gewesen.
Die tiefen Falten auf seiner kantigen Stirn bewiesen, wie düster seine Gedanken waren. Zuweilen blieb er stehen, und betrachtete zerstreut diesen oder jenen Gegenstand. An allen hingen Papptafeln mit gelehrten Erklärungen. Der arme Gudovius ahnte nicht, daß der Professor, der das Museum so sehr gelobt hatte, lediglich aus Anstandspflicht diese Äußerungen getan hatte. In Wahrheit hatte der Gelehrte gedacht: „Ein harmloser Narr und eine Trödelbude!“
Gudovius‘ scharfe Züge änderten andauernd den Ausdruck. Zuweilen zeigte sich in diesem Mienenspiel ein blitzschneller Wechsel von teuflischer Bosheit zu sorgenvollstem Schmerz.
Der menschenscheue Sonderling entwarf soeben einen förmlichen Schlachtplan. Irgendwie mußte er die Sache mit den beiden Komtessen zu einer befriedigenden Lösung bringen.
Dann läutete es unten an der Haustür.
Er lächelte stolz.
Also doch …! Es kam jemand. Die Badegäste erschienen leider sehr spärlich. Es waren alles Banausen, die sich wahrscheinlich durch das Geschwätz, der Seeburger, das Museum sei nur ein besseres Panoptikum, hatten beeinflussen lassen.
Sehr flink und elastisch eilte Gudovius in den Flur und öffnete, dienerte höflichst und half den Krankenstuhl des gelähmten Herrn Hennig über die Schwelle heben. Er kannte die ‚Sechsundsechziger‘ längst von Ansehen, hatte ihnen jedoch keinerlei Beachtung geschenkt, nachdem er sich überzeugt hatte, daß es sehr unverdächtige Gesellen wären, — wenigstens seiner Meinung nach.
Hennig, der einen recht hinfälligen Eindruck machte, begann sofort mit heiserer, müder Stimme eine Unterhaltung über die verschiedenen Museumsstücke, unter denen sich immerhin einzelne befanden, die von Wert sein mochten. Allerdings rechtfertigten die meisten die protzige Bezeichnung ‚Uckermärkisches Heimatsmuseum‘ keineswegs. (Uckermark ist ein Kreis der Mark Brandenburg).
Der alte Gudovius strahlte. Jetzt war er so recht in seinem Element. Nur der Diener Hennigs störte ihn, weil der Mensch zu törichte Fragen stellte. Schließlich riß auch Hennig der Geduldsfaden.
„Scheren Sie sich in den Flur, Schragler!“ fauchte er ihn an. „Sie verstehen von diesen Dingen genau so viel wie ein Kamel vom Schachspiel. Raus mit Ihnen!“
Schragler, der ziemlich korpulent war, verduftete schleunigst.
„Gott sei Dank“, meinte Karl Gudovius dankbar. „Es ist eine Wohltat, diesen lächerlichen Schwätzer draußen zu wissen. — Wovon sprachen wir doch? — Richtig, von dieser Urne, Sie wurde in einem Massengrab von mir selbst aufgefunden und zeigt in den rohen Verzierungen viel Ähnlichkeit mit den Aschenurnen der Inder des nordwestlichen Teiles des Riesenreiches, in den bekanntlich die Indogermanen zuerst eindrangen …“
Hennig nickte. „Sie sind erstaunlich gut informiert, Herr Gudovius. Waren Sie einmal in Indien?“
„Ja. Natürlich. Als junger Matrose … Bevor ich beim gnädigen Grafen Diener wurde …“
„Sehr interessant, — da haben Sie mehr von der Welt gesehen als ich“, log Hennig kaltblütig. „Haben Sie denn auch Streifzüge ins Innere unternommen?“
„Und ob, und ob …!!“ Gudovius strahlte und erzählte mit allen Einzelheiten, wie er später auch Brasilien besucht habe … „Einmal knallten wir dort im Quellgebiet des Amazonas ein paar Zwerge ab, Angehörige von Zwergenvölkern, Herr Hennig … Die kleinen Kerle beschossen uns mit Blasrohrpfeilen …“
„Deren Spitzen mit dem berüchtigten Pfeilgift Curare lackiert waren …“, ergänzte Hennig so nebenher.
„Ja …, — Curare, so heißt es“, bestätigte Gudovius auffallend zögernd.
„Ein Nervengift, das keinerlei Spuren im Körper hinterläßt“, führte Hennig das Gespräch weiter.
Der alte Sonderling warf ihm einen mißtrauischen Blick zu und sagte ablenkend: „Das weiß ich nicht, ich bin nicht Arzt … Jedenfalls ist durch die Verzierung dieser Urne ein neuer Beweis dafür erbracht, daß die heutigen Inder ein Mischvolk sind, in dem das germanische Blut vorherrscht …“
„Was aus dem Gesichtsausschnitt, den schmalen Nasen und dünnen Lippen hervorgeht“, erklärte Hennig eifrig. — Die beiden Männer vertieften sich immer mehr in dieses Thema, und darüber vergaßen sie Zeit und Ort und den armen Schragler, der sich mit einem Kamel hatte vergleichen lassen müssen.
Der arme Schragler hatte derweil jedoch allerlei höchst seltsame Dinge getrieben, die seine Person in ein recht eigentümliches Licht rückten.
Zunächst hatte er lautlos wie ein Dieb die Haustür geöffnet und außen ein Pappschild befestigt:
Das Museum ist heute geschlossen.
Besitzer verreist.
Dann war er genau so lautlos die Treppe bis in den Zweiten Stock emporgehuscht und in Gudovius‘ Wohnräume eingedrungen, wobei er sich, da die Türen Patentschlösser hatten, eines komplizierten Nachschlüssels bediente. Mit einer Frechheit ohnegleichen durchsuchte er Schränke und Truhen und fand schließlich auch im Schlafzimmer eine alte, buntbemalte Matrosenkiste, die er höchst unverfroren noch gründlicher durchstöberte. Sorgfältig nahm er Stück für Stück heraus, bis er auf etwas stieß, das ihn veranlaßte, den ziemlich langen Gegenstand sowie einen Lederbeutel unter seinen Kleidern sehr behutsam zu verstauen.
Kaum hatte er dann den Inhalt der Matrosenkiste wieder in Ordnung gebracht, als er sich gänzlich unverhofft am Kragen gepackt fühlte und kräftig herumgewirbelt wurde.
„Was tun Sie hier?!“ schnauzte ihn Kommissar Utz wütend an, der trotz der Papptafel an der Haustür auf ähnliche Art wie Schragler hier die Wohnräume betreten hatte. „Machen Sie keinen Lärm, sonst …!!“ drohte er leise und zeigte auf seinen Spazierstock. „Also raus mit der Sprache!! Sie und Ihr gelähmter Herr sind …“
Weiter kam er nicht.
Er trat schnell dicht vor Schragler hin und flüsterte noch leiser.
„Stimmt!“ sagte Schragler grinsend. „Aber die Dinge liegen doch weit schlimmer, als Sie ahnen, Herr Utz. Die Geschichte begann mit einem Morde, sodann trat eine Familienchronik in Erscheinung, die man absichtlich mit Säure vernichtete, und schließlich wollte man auch die Komtesse Ingrid beseitigen.“
Werner Utz starrte Schragler groß an.
„Dann wissen Sie allerdings erheblich mehr als ich“, gestand er unumwunden ein. „Aber was treiben Sie hier bei diesem närrischen Kauz?! Das begreife ich nicht.“
Schragler seufzte kummervoll, „Ich eigentlich auch nicht. Sie kennen ja meinen Herrn, bester Utz. Hat der je seine Trumpfkarten vorzeitig aufgedeckt?! Nein, nie!! Ich bitte Sie nur, uns nicht zu stören … Herr Hennig sagte noch heute früh zu mir, daß er Ihre Hilfe sehr bald in Anspruch nehmen würde. Entfernen Sie sich leise … Wenn Herr Hennig irgendwie seine Pläne gestört sieht, wird er sehr unangenehm werden.“
Utz drückte Schragler fest die Hand.
„Weil Sie es sind!! — Auf Wiedersehen …“
Er verließ das Haus genau so lautlos, wie er gekommen war, nur bedeutend nachdenklicher.
Bald darauf hatte auch das Gespräch zwischen Hennig und Gudovius ein jähes Ende gefunden, weil der Diener Schragler hastig eingetreten war und seinen Herrn daran erinnert hatte, daß es höchste Zeit sei, das gewohnte und vom Arzt vorgeschriebene Moorbad zu nehmen.
Gudovius bedauerte lebhaft, die interessante Unterhaltung mit dem vielgebildeten Hennig aufgeben zu müssen.
„Ich komme wieder“, versprach Hennig mit Nachdruck, „und dann bringe ich meine Nichte mit, die interessiert sich für die brasilianischen Zwergenvölker noch viel mehr als ich …“
7. Kapitel
Ingrid wird befreit.
Als Schragler den Rollstuhl seines Herrn zur Seepromenade hinabschob, war die Papptafel an der Haustür des Museums natürlich längst entfernt worden. Nur etwas anderes belästigte den armen Schragler sehr stark, und das war das lange Ding, das er unter den Kleidern und zum Teil im Hosenbein mit sich schleppte.
„Entschuldige“, raunte er seinem Herrn plump vertraulich zu. „Aber das Rohr rutscht … Ich muß es besser festklemmen.“
„Du hast es also gefunden? Auch den Lederbeutel?“
„Auch den!“
„Dann gehe um Himmelswillen vorsichtig damit um!!“
Das klang äußerst besorgt.
Hinterher dachte Hennig gar nicht daran, ein Moorbad zu nehmen, legte sich vielmehr sofort im Hotelzimmer auf den Diwan und schlief augenblicklich ein.
Kein Wunder: Er und Schragler waren nun hintereinander volle achtzehn Stunden auf dem Posten gewesen! —
Erst gegen elf Uhr abends finden wir das merkwürdige Paar wieder unterwegs, allerdings ohne Rollstuhl. Diesen hatten sie im Walde versteckt, hatten sich ein wenig verändert und saßen jetzt, jeder an einem anderen Tischchen, vor der kleinen Konditorei, in der ein Lautsprecher die Tanzmusik des Deutschlandsenders wiedergab. Unweit von Herrn Hennig hatte Graf Güldenstern seinen Platz, las Zeitungen und beobachtete verstohlen die Rückseite des Rathauses und im ersten Stock die vergitterten Fenster des Zellenflügels.
Die Juninacht war warm und windstill. Nachtfalter und Mücken umsummten die gelben Tischlämpchen der Konditorei. Oft genug fiel solch ein vorwitziges Tierchen in Güldensterns Rotweinglas hinein. Der Graf nahm dann ein Zündholz und fischte die Motte heraus und legte sie auf eines der Blätter der Rankenkästen.
Das kleine gemütliche Lokal leerte sich immer mehr. Bodo Güldenstern, der die Kellnerin bereits halb ins Vertrauen gezogen hatte, da seine dauernde Anwesenheit sonst aufgefallen wäre, hatte vorhin einen Zettel neben seinem Korbsessel gefunden, der pfeilförmig geknifft gewesen war:
„Um halb zwölf Uhr können Sie die Bewachung einstellen. Gri Bu.“
Zunächst hatte ihm dieses ‚Gri Bu‘ einige Kopfzerbrechen gekostet. Dann aber begriff er. Es war die Abkürzung für griechische Buchstaben.
Als die Rathausuhr sehr blechern halb Zwölf schlug, zahlte er und begab sich in ein nahes Hotel, aß sehr schnell ein warmes Gericht, bestellte ein Zimmer und entfernte sich wieder.
Die Sorge um Ingrids Sicherheit ließ ihm keine Ruhe. Sehr vorsichtig schlich er im Schatten der Häuser wieder der Konditorei zu, die bereits geschlossen war. Hinter den Weinkästen fand er genügend Deckung.
Der Mond erschien soeben wieder hinter einem Wolkenfetzen. Güldenstern blickte zu den vergitterten Fenstern empor und reckte sich plötzlich sprungbereit höher.
Er sah, daß droben das eine Fenstergitter entfernt war und daß aus dem Fenster eine Strickleiter herabhing. Eine Männergestalt kletterte jetzt eiligst in den dunklen Hof hinab, dann folgte eine Frau, und als dritter wiederum ein Mann.
Der Graf, der doch als Großwildjäger in Afrika so mancherlei erlebt hatte, fühlte sein Herz hastiger klopfen. Nur etwas beruhigte ihn: Er merkte ja, daß Ingrid freiwillig ihre Zelle verließ, und er reimte sich nun auch unschwer zusammen, wer die beiden Entführer der Verhafteten waren.
Die drei Personen tauchten jetzt in der schmalen Pforte auf, die auf die Straße mündete.
Güldenstern erkannte zu seinem Erstaunen in den beiden Männern die Gäste der Konditorei, die vorhin in seiner Nähe gesessen hatten. Er hatte sie nicht für Harst und Schraut gehalten, und auch jetzt war er im Zweifel, ob es wirklich die beiden bekannten Privatdetektive sein mochten.
Wenn es hier nicht um Ingrids Wohl und Wehe gegangen wäre, würde Güldenstern niemals so überaus mißtrauisch und vorsichtig gewesen sein. Aber es ging um das Mädchen, das er noch immer liebte, und nur deshalb entschloß er sich zu einem vielleicht überflüssigen Vorgehen.
Als der eine der Männer nun die Mauerpforte abschloß, trat Güldenstern rasch hinzu und fragte mit gedämpfter Stimme den kleineren der beiden:
„Sind Sie‘s, Herr Schraut?“
Die Komtesse war mit einem leisen Schrei zurückgewichen.
„Schraut!“ erklärte ich kurz.
Und Harald fügte hinzu:
„Wenn Sie uns sprechen wollen, kommen Sie um zwei Uhr morgens ins Kurhaus, Seitengebäude, Erdgeschoß … Drittes Fenster von Rhododendronbüschen — Wiedersehen …“
Die drei eilten davon, und Güldenstern blieb mit sehr gemischten Gefühlen zurück. —
Nachmittags hatte Werner Utz, sich abermals nach Isolde Gardenbergs Befinden erkundigt, hatte der Komtesse wiederum Rosen mitgebracht und eine halbe Stunde an ihrem Krankenbett gesessen und dienstliche Obliegenheiten vorgeschützt.
In Wahrheit lagen die Dinge etwas anders.
Genau wie der frische, kluge Utz, sofort auf Isolde einen sehr günstigen Eindruck gemacht hatte, ebenso war Werner Utz durch die fast klassische Schönheit Isoldes nicht unberührt geblieben.
Während er sie nun vorsichtig nach dem Aufenthalt der älteren Schwester ausforschte, freilich ohne jedes Ergebnis, da Ingeborg durch Gudovius eindringlichst gewarnt worden war, blieb ihm noch immer Zeit, den pflichteifrigen Beamten für lange Minuten zu vergessen und als Privatmann ganz zwanglos mit der Komtesse zu plaudern.
Gewiß, es enttäuschte ihm, daß sie so hartnäckig dabei blieb, Ingrid sei zu Verwandten nach Schlesien gereist. Er fühlte, daß Ingeborg ihn belog. Er entschuldigte ihre Unaufrichtigkeit: Sie würde wohl ihre Gründe für diese Notlüge haben!
Nur ganz flüchtig stieg in ihm der Verdacht auf, Ingrid könnte mit der Zigeunerin identisch sein. Er wies diesen Gedanken wieder von sich. Er erschien ihm zu abenteuerlich, obwohl er wußte, daß gerade Harst kein Mittel scheute, nötigenfalls unerkannt zu bleiben.
Als er sich dann mit einem langen Handkuß von Isolde verabschiedete und sie ihn etwas verlegen gebeten hatte, sie recht bald wieder zu besuchen, schritt er äußerst zerstreut der Polizeiwache zu.
Der nun einmal aufgetauchte Argwohn, Ingrid könnte doch die Zigeunerin sein, ließ ihm keine Ruhe. Er wollte sich sofort die Verhaftete nochmals vorführen lassen und die Wahrheit über ihre Person zu ermitteln suchen.
Auf der Wache fand er folgenden kurzen versiegelten Brief vor, den der Dienstmann für ihn dort abgegeben hatte:
„Lieber Utz, besuchen Sie abends den alten treuen Gudovius und bleiben Sie bis halb eins bei ihm. Morgen mittag ein Uhr erwartet Komtesse Ingrid uns auf Schloß Gardenberg. — Diskretion!! — H.“
Utz konnte nur den Kopf schütteln. Aber er kannte Harst genau genug: Ohne triftigen Grund erbat Harst keine derartigen Gefälligkeiten.
Die Hauptsache: Ingrid konnte hiernach nicht mit der Zigeunerin identisch sein!
Utz holte also den versäumten Schlaf nach und befahl Gromsch, ihn um halb Acht zu wecken.
„Wird gemacht“, sagte der freche Gromsch, der heute noch geschwollener tat, da er den gesamten merkwürdigen Inhalt der hohlen Buche seinem Vorgesetzten zur Begutachtung unterbreitet hatte.
„Aha, — der Ankleideraum des geheimnisvollen Einbrechers!!“ hatte Utz nur erklärt.
„Ja“, meinte Gromsch augenzwinkernd, „des hochgeborenen Herrn Einbrechers …!! Bitte, hier ist die Antwort auf eine Depesche, die ich auf eigene Kosten nach Genua sandte, wo Güldenstern sein Auto nach Nordafrika auf dem Dampfer ‚Taormina‘ verladen haben will.“
Das Telegramm lautete:
„Taormina kleiner Dampfer. Nimmt Keine Autos an Bord, Muß Irrtum vorliegen. — Hafenpolizei Genua.“
„Donnerwetter!!“ hatte Utz leise geflucht. „Wo steckte dann dieser Güldenstern, wenn er nicht in Afrika war?“
Der große stattliche Gromsch feixte etwas überheblich. „Wo er steckte?! — Hier in der Nähe, Herr Kriminalkommissar! Der Fritze Gromsch hat zwar nicht das Pulver erfunden, aber so etwas dabei geholfen. Ich habe überall herumgehorcht: Der gräflich Güldenstern‘sche Förster Blenkner hat eine Enkelin, und …“ — — Gromsch flüsterte nur noch, und Utz schaute ihn fassungslos an.
8. Kapitel
Förster Blenkners Enkelin.
Als Utz bei Gudovius erschien, empfing der hagere Mann ihn nicht eben freundlich.
„Ich wollte gerade zu Bett gehen …“, brummte er grob.
„Tut mir leid: Dienst!!“
„Dann kommen Sie in drei Teufels Namen nach oben!!“
„Danke, sehr gern“, lachte Utz.
Er saß dann in der Sofaecke, und vor ihm der Alte in einem geblümten Schlafrock.
Allmählich taute Gudovius auf, holte Likör und sehr gute Zigarren herbei und trank erstaunlich viel für einen Mann von fünfundsechzig Jahren.
Utz ging äußerst vorsichtig zu Werke. So ganz hintenherum kam er auf den Förster Blenkner zu sprechen.
Die Wirkung war verblüffend.
Gudovius sprang auf, Zornesröte im Gesicht und mit geballten Fäusten.
„Erwähnen Sie nicht den verfluchten Namen!“ kreischte er. „Kein Wort von Blenkner!!“
Mit zitternder Hand füllte er dreimal sein Likörglas und trank voller Gier, um die lodernde Wut hinabzuspülen.
Utz schwieg.
Gudovius setzte sich wieder, trocknete die schweißfeuchte Stirn und meinte heiser:
„Entschuldigen Sie, Herr Kommissar … Aber an Blenkners Enkelin hat ein Schurke geradezu schändlich gehandelt … Sie ist tot … Schwindsucht … — Mehr sage ich nicht.“
Werner Utz, war ein Menschenkenner.
„Wie hätte wohl Harst diese Szene bewertet“, fragte er sich und sog nachdenklich an seiner Zigarre.
Harst hätte ihm die Antwort sofort erteilen können, denn da das Haus noch einen zweiten Eingang vom Garten her besaß, der recht verwildert war, hatte es uns nicht viel Mühe gekostet, in das Gebäude einzudringen und Zeugen der Unterhaltung zwischen Utz und Gudovius zu werden. Nachher entfernten wir uns. Wir hatten genug gehört. Wir begaben uns in die Konditorei, und später erfolgte der sehr kühne Schachzug der Befreiung der Komtesse Ingrid.
Utz wählte nun ein anderes Thema. Gudovius durfte sein Steckenpferd reiten: Sein Museum!!
Er führte Utz in das seltsame Panoptikum hinab und begeisterte sich derart für seine Sammlungen, daß der Kommissar ihn wiederholt prüfend anblickte und sich über den Sonderling und sein Panoptikum ganz besondere Gedanken machte.
Erst um dreiviertel Eins trennten sich die beiden Männer.
Genau um halb zwei ertönte dann im Zellenflügel der Polizeiwache ein dumpfer Knall.
Utz und Gromsch, die sich im Büro zwei Betten hatten aufstellen lassen, fuhren hoch und stürmten in Schlafanzügen die Treppe empor.
Als die Zelle Ingrids geöffnet wurde, drang den Beamten grünlicher Qualm einer Gasbombe entgegen. Sie mußten umkehren. Erst nach Stunden konnte man in die Zelle eindringen.
Sie war leer … Die Fensterscheibe war zertrümmert, das Gitter herausgesägt.
Utz betrachtete mit verkniffenen Lippen dieses schmale Fenster.
„Gromsch, wir hätten Güldenstern doch beobachten lassen sollen“, sagte er dann.
„Nicht meine Schuld?!“ murrte Gromsch. „Der Graf ist reif!!“ —
— Die beiden ‚Sehsundsechziger‘ saßen noch immer bei ihrem harmlosen Spielchen, obwohl es bereits zwei Uhr morgens war. Güldenstern kletterte hastig und atemlos durch das offene Fenster herein und blickte sich suchend um.
„Wo ist die Komtesse?“ fragte er den gelähmten Herrn Hennig.
„Sind Sie ein unhöflicher Mensch!“ meinte Hennig heiser. „Begrüßen Sie uns zunächst mal!! — So, — — die Komtesse schläft. Wir haben ihr unser Schlafzimmer eingeräumt. — Schragler, Sie Schafskopf, machen Sie doch die Fenster und die Vorhänge zu!!“
Der Graf setzte sich.
„Ich staune!!“
„Worüber?!“ fragte Harst lächelnd.
„Wie haben Sie es nur möglich gemacht, beide Rollen zu spielen: Schaubudenbesitzer und Kurgäste?!“
„Sehr einfach: Die Schaubude wurde erst um acht Uhr geöffnet. Am Tage spielten wir Hennig und Schragler, abends und nachts Schausteller! — Doch etwas anderes, lieber Graf …“ Harald dämpfte die Stimme noch mehr. „Bitte, ganz ehrlich: Weshalb täuschten Sie die Afrikatour vor?! Weshalb hielten Sie sich in dem einsamen Forsthause Ihres Försters Blenkner verborgen?“
Güldenstern errötete erst, dann wurde er sehr bleich.
„Bedaure, — das ist mein Geheimnis!“ erklärte er hart.
Harald schüttelte mißbilligend den Kopf.
„Ja, ein Geheimnis, das Ihnen Ihr Liebesglück zerstört und einem Menschen das Leben gekostet hat. — Graf Güldenstern, ich dringe nicht weiter in Sie, aber die Stunde ist nahe, wo auch dies alles aufgedeckt werden wird! Hüten Sie sich, daß diese Stunde Ihnen nicht … noch verderblicher wird!“
Der Graf erhob sich jäh.
„Das — — bleibt meine Angelegenheit, Herr Harst!! Unter allen Umständen! — Sie gestatten, daß ich mich sofort wieder verabschiede. Ich fahre nach Hause … — Gute Nacht, meine Herren.“
Die Farblosigkeit seiner Züge entsprach durchaus seiner eisigen Förmlichkeit.
Ich öffnete das Fenster, er schwang sich hinaus und tauchte in denselben Büschen unter, wo ich in der vergangenen Nacht unsere Fährten verwittert hatte.
Harst rauchte gedankenvoll seine Zigarette und meinte leise, als ich wieder neben ihm Platz, nahm:
„Wenn der Vater der beiden Komtessen geahnt hätte, wer ihn einst ermorden und welche Folgen dies haben würde, hätte er, der frische, rüstige Chronikverfasser, nicht so kurz vor dem Tode seiner Gattin diese Torheiten begangen.“
Ich verstand kein Wort davon. Harald nach dem wahren Sinn dieser Sätze zu fragen, wäre zwecklos gewesen. Mich packte nur eine dumpfe Angst Güldensterns wegen … Sein bleiches Gesicht schwebte mir noch immer vor Augen.
Harst gähnte, erhob sich und legte sich auf den Diwan, während ich das große Sofa als Bett benutzte.
Das Licht erlosch …
Ich horchte …
Nebenan weinte jemand.
Komtesse Ingrid schluchzte um ihr verlorenes Liebesglück.
9. Kapitel
Die Mütze Wilhelms I.
Am nächsten Vormittag schob der Diener Schragler den Rollstuhl seines kranken Herrn die Chaussee entlang in den Wald.
Dann erschien ein von Kommissar Utz gesteuertes Mietauto, wir stiegen ein und waren zehn Minuten später in Schloß Gardenberg, wo uns Ingrid bereits erwartete.
Unterwegs hatte Harald Freund Utz reinen Wein eingeschenkt.
„Ja, wir haben die Komtesse aus der Zelle herausgeholt, das stimmt. Hätten wir es nicht getan, wäre sie jetzt tot …“
„Und wer schleuderte die Gasbombe?“
„Derselbe Mann, der den Grafen Gardenberg ermordet hat.“
Utz blickte Harst scharf prüfend an.
„Gudovius?“
„Nein … Nicht der Sonderling und Panoptikumsbesitzer!“
„Wer sonst?! Etwa Güldenstern?! Das … wäre doch widersinnig?“
„So?! Widersinnig?! — Warten Sie ab!“ —
Die Komtesse schämte sich, uns drei Gästen so gar nichts an Erfrischungen anbieten zu können.
„Wir sind so bettelarm …“, meinte sie seufzend.
„Sie werden reich werden“, tröstete Harald. „Setzen wir uns. Es gibt allerlei zu besprechen. — Zunächst, Komtesse: Sie erzählten uns einmal, daß Ihr Großvater, der bekannte Forschungsreisende Viktor Graf Gardenberg, allerlei Gerüchten nach eine sehr wertvolle Edelsteinsammlung aus der Fremde mit heimgebracht haben soll. Graf Viktor hatte nur einen Sohn, mit dem er nicht besonders gut stand, da Ihr Vater meinen Ermittlungen nach — entschuldigen Sie meine Offenheit — allzu lebenslustig und ein allzu eifriger Verehrer von Frauenschönheit war. Ihr Großvater und Ihr Vater sollen eigentlich dauernd miteinander in ernsteste Differenzen geraten sein. Jedenfalls war die Edelsteinsammlung nach dem Tode Ihres Großvaters nicht aufzufinden. — Sie erzählten mir weiter, daß der letzte Abschnitt der unvollendeten Chronik von diesen Edelsteinen handelte und daß auch der Satz: ‚Die Wahrheit wird nur an den Tag kommen durch einen Zufall‘ sich darauf bezog.“
Ingrid nickte gleichgültig. „Ja. — Aber das wird uns nicht weiterhelfen, Herr Harst.“
„Wollen sehen … — Ich möchte mich ganz kurz fassen. Ich habe jeden einzelnen Fall, wo der schießwütige Einbrecher gewesen, durch Angestellte einer Detektei besonders nach einer Richtung hin nachprüfen lassen. Das Verhalten des Einbrechers erschien widersinnig. Er ließ seine Beute stets zurück. Mithin lag ihm nichts am Silberzeug und Ähnlichem. Er suchte etwas anderes. Es gelang mir — meine Schlußfolgerungen ergeben sich aus meinem Tun von selbst — eine Liste der Käufer der wertvollsten Stücke aus der Auktion von Kastans Panoptikum, Berlin, mir zu verschaffen. Diese Liste enthält fast alle Namen derer, die der Einbrecher besuchte. Ich folgerte weiter, und hierauf kommt es an, daß Ihr Großvater über das Versteck der Edelsteine ein Schriftstück angefertigt und in einem Gegenstand verborgen hätte, der sich einst in Kastans Panoptikum befand. Der Einbrecher muß dieses vermutet oder gewußt haben, aber er kannte den Gegenstand nicht. Graf Güldenstern erzählte uns nun, der Einbrecher habe bei ihm einen Glasschrein zertrümmert, unter dem eine Offiziersmütze Kaiser Wilhelms I. lag. Das Mützenfutter sei zerschnitten gewesen. — Ich behaupte, in dieser Mütze, die ein Geschenk Ihres Großvaters an Kastans Panoptikum war, lag das Schriftstück, ich behaupte schließlich, der Einbrecher ist bereits in Besitz der Edelsteinsammlung, die er natürlich sehr sorgfältig versteckt haben wird. Wie wir sie ihm abnehmen werden, erkläre ich später.“
Ingrid war vor Erregung ganz bleich geworden. Werner Utz saß stumm und starr da und meinte nur: „Verblüffend!!“
Harst fuhr fort: „Wir kommen nun zu einem, noch düstereren Kapitel. Sie erwähnten uns gegenüber Ihre Verdachtsgründe für einen Mord an Ihrem Vater, Komtesse. Das Fenster vor dem Schreibtisch, an dem er tot gefunden wurde, war zertrümmert. Im Zimmer lag ein gewöhnlicher Feldstein. Die Leiche zeigte keinerlei offensichtliche Verletzungen.“
„Nein — nichts“, sagte Ingrid leise,
„Scheinbar nicht. Ihr Vater hatte sehr dichtes Kopfhaar. Ein Blasrohrpfeil wie ihn die südamerikanischen Indianer und Zwergenvölker benutzen, hinterläßt im Kopfhaar keinerlei Spuren. Der Mörder besaß ein Blasrohr und vergiftete Pfeile. Nachdem er die Fensterscheibe mit dem Feldstein zertrümmert hatte, schoß er durch die Öffnung einen Blasrohrpfeil ab. Die tödliche Wirkung trat sehr rasch ein, der Mörder kletterte durch das Fenster ins Zimmer, holte den Pfeil, verriegelte das Fenster wieder und enteilte.“
Utz war aufgesprungen. „Also doch Gudovius!“ rief er.
Harst erwiderte sinnend: „Nicht der Gudovius, den wir kennen, sondern der geisteskranke Sonderling Gudovius, Er ist geisteskrank. — Erörtern wir das Motiv des Mordes. Es liegen bestimmt zwei Beweggründe vor: Erstens Geldgier, um das Museum noch reichhaltiger ausgestalten zu können, zweitens … Eifersucht! — Komtesse, es tut mir weh, Ihres toten Vaters Schwächen hier aufdecken zu müssen. Er war gesund, frisch, lebenshungrig, er unterhielt eine heimliche Liebschaft mit Therese Blenkner, der Enkelin des Försters des Grafen Güldenstern. Aber auch Gudovius war in dieses sanfte, hübsche Mädchen verliebt. Und — — er wurde zum Mörder. Güldenstern wieder, der …“
Ingrid hatte plötzlich die Hände vor das Gesicht gedrückt und weinte bitterlich.
„… Güldenstern suchte vor Ihnen, diese Abwege Ihres Vaters zu verheimlichen und nahm den Vorwurf auf sich, Vater des Kindes der armen, schwindsüchtigen Therese zu sein, die er insgeheim, eine Auslandsreise vorschützend, sorgfältig pflegte, denn er hat nebenbei Medizin studiert und ist Arzt. Vorgestern Nacht verstarb der alte Förster plötzlich. Ihre Schwester Isolde, Komtesse, hatte inzwischen gleichfalls irgendwie die Wahrheit erfahren und wollte den Säugling aus dem Forsthause zu Bekannten nach Seeburg in Pflege geben. Einzelheiten erübrigen sich. — Gerade weil Gudovius geisteskrank ist, müssen wir, um die Edelsteinsammlung zu finden, äußerst behutsam vorgehen. Ich habe folgendes vor …“
Haralds Plan erforderte die Mitwirkung der Polizei. Alles wurde aufs genaueste vereinbart.
10. Kapitel
Der letzte Trick.
Karl Gudovius durchschritt an demselben Tage gegen fünf Uhr vormittags vergnügt pfeifend die Räume seines Panoptikums, Vorhin hatte ihn Kommissar Utz zur Wache bestellt gehabt, und Gromsch hatte ihm allerlei harmlose Fragen vorgelegt und die Antworten protokolliert.
Nun läutete es, der Sonderling ging öffnen und sah sich Herrn Hennig, einer tief verschleierten Dame und Schragler gegenüber.
„Meine Nichte“, stellte Hennig vor. „Sie ist leider stumm, Herr Gudovius, sie interessiert sich aber außerordentlich für Ihre wertvollen Sammlungen.“
Gudovius lächelte verbindlichst: „Das freut mich. Bitte, treten die Herrschaften nur näher …“
Schragler rollte den Krankenstuhl sofort in den größten Raum. An dem Krankenstuhl war inzwischen einiges verändert worden. Über den Rädern wölbten sich hohe Schutzbleche. Gudovius tänzelte eifrigst hin und her und gab langatmige Erklärungen ab.
„Dies hier“, sagte er mit begeistert blickenden Augen, in deren Tiefen der Wahnsinn schlummerte, „dies hier ist ein Helm aus der Raubritterzeit der Uckermark … Und dies ist …“
„Verzeihung“, fiel der weißbärtige Hennig ein, „besitzen Sie nicht auch eine Mütze Kaiser Wilhelms I.?“
Gudovius Gesichtszüge verzerrten sich.
„Mütze?! Nein!! Wie kommen Sie denn darauf, Herr Hennig?!“
„Sehen Sie, verehrtester Herr Gudovius“, erwiderte Hennig müde und noch heiserer, „Kranke wie ich leiden an Wahrheitsträumen. Ich träumte diese Nacht seltsame Dinge … Ich sah Sie, wie Sie einer Mütze ein Papier entnahmen, wie Sie eine Edelsteinsammlung aus einem Versteck hervorholten und diese nachher anderswo verbargen. Um zu prüfen, ob mein Traum wirklich der Wahrheit entspräche, bat ich Kommissar Utz, Sie für einige Zeit durch eine vorgetäuschte Vernehmung zu beschäftigen, Gromsch verhörte sie, und Utz fand derweil die Steine …“
Gudovius brüllte auf wie ein wildes Tier.
„Das ist gelogen!! Gelogen!!“
Eine bestialische Wut ließ seine Stimme überschnappen.
Ingrid flüsterte in ihrer Angst zu dem alten Mann im Rollstuhl, der die Hände nicht ohne Absicht verbarg. Sie hatte den Schleier hochgeschlagen und kehrte Gudovius den Rücken zu, der nun unter wilden Flüchen den Kopf einer Gipsstatue zertrümmerte …
Gipsstücke und Edelsteine rollten und polterten zu Boden …
Gudovius, ein Handbeil in der emporgeschwungenen Rechten, wollte auf Hennig eindringen.
„Schuft — — Schuft, — — du hast mich hineingelegt, du wirst sterben!!“ kreischte er in tollem Haß.
Der Mann im Rollstuhl feuerte, — — der Schuß aus der Gaspistole erleichterte es Utz und seinen Beamten, den halb Betäubten sicher zu fesseln …—
Der Sonderling von Seeburg verstarb wenige Wochen später in einer Irrenanstalt. — —
Eine Stunde nach diesen wenig erfreulichen und doch so erfolgreichen Szenen schob Harst den Grafen Güldenstern durch die Tür in Isoldes Krankenzimmer hinein …
Neben Isoldes Bett saß die ahnungslose Ingrid. Bei Güldensterns Eintritt sprang sie empor und wollte hinter das Bett flüchten.
„Ingrid!!“ mahnte der Graf leise. „Du weißt jetzt alles …! Soll ich noch lange bitten, daß du wieder …“
Er brauchte nichts mehr hinzuzufügen.
Die Komtesse eilte auf ihn zu, umschlang ihn und schaute ihn offen an.
„Du verzeihst mir, Bodo?“
„Närrchen du, — — wie gern!!“
Und dann küßte er sie … — —
Vierzehn Tage drauf flatterte in unser Junggesellenheim eine Verlobungsanzeige:
Werner Utz,
Kriminalinspektor,
Isolde Gräfin v. Gardenberg,
Verlobte.
… Harst seufzte …
„Mein lieber Alter, nur wir beide gehen immer leer aus!! — — Nächstens eröffne ich ein Heiratsvermtttlungsbüro … Wir haben ja doch stets das Glück, nebenher Ehen zu stiften!!“
Er lächelt herzlich …
„Aber auch das ist schön“, fügte er versonnen hinzu.
So endete der seltsame Fall des armen ehrgeizigen Sonderlings.
Nächster Band:
Die Wachsköpfe des Dr. Merzel.
An unsere Leser!
Als wir im Jahre 1920 mit der Herausgabe der Erlebnisse Harald Harsts begannen, beabsichtigten wir dem Wunsche weiter Leserkreise nach Kriminalerzählungen Rechnung zu tragen. Darüber hinaus aber beabsichtigten wir der leider auf diesem Gebiet vorherrschenden ausländischen Literatur und den darin verherrlichten ausländischen Personen den Typ eines deutschen Detektivs entgegenzusetzen und gleichzeitig dem Leser die Kenntnis exotischer Länder, Sitten und Gebräuche unaufdringlich zu vermitteln.
Es ist dem Autor — einem alten Frontkämpfer, Juristen und deutschen Waffenstudenten — in all den Jahren vorzüglich gelungen, die Figur des
deutschen Detektiv Harald Harst
lebenswahr zu gestalten. Deutsch war sein Handeln, deutsch seine Sprache, deutsch sein Empfinden. Tausende von Zuschriften aus dem Leserkreise, und zwar aus allen Schichten der Bevölkerung haben unser Bestreben anerkannt und uns ihre Zustimmung ausgedrückt.
Weiterhin ist es dem Autor ebenso vorzüglich gelungen, deutschen Familiensinn, deutsche Freundschaft in diesen anspruchslosen Heften zu pflegen und zu fördern. Nur in deutschen Familien kann sich ein derart inniges Verhältnis zwischen Mutter und Sohn und zwischen Freund und Freund ausgestalten, festigen und zur behaglichen, erwärmenden Grundlage eines herzlichen Gemeinschaftslebens werden.
In diesem Sinne haben Autor und Verlag an dem sittlichen und ideellen Wiederaufbau des deutschen Volkes und Vaterlandes mitzuarbeiten sich bemüht und sich auch durch keinerlei Angriffe und Anfeindungen hierin beirren lassen, die stets nur dem stark betonten Deutschtum Harald Harsts galten. Und so soll es auch weiterhin sein. Unsere anspruchslosen Heftchen, bestimmt zur Unterhaltung und Entspannung nach des Tages Last und Mühen, werden auch fernerhin eine Stätte der Pflege des deutschen Gedankens, der deutschen Familie und des deutschen Menschen sein.
Unsere Leser aber bitten wir, uns in unserem Streben zu unterstützen und durch Empfehlung unserer Heftchen zu deren Weiterverbreitung beizutragen.
Herausgeber und Verlag