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Der Mumiensaal

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14, 1916.)

 

Der Mumiensaal.

 

W. Belka.

 

Es gibt Menschen, meine jungen Freunde, die, obgleich sie mitten im Trubel der Weltstadt in einem vielleicht von zahlreichen Familien bewohnten Gebäude hausen, dennoch einsam sind wie auf einer fernen Insel eines endlosen Ozeans …

Zumeist heißt es dann von einem solchen Menschen: Es ist ein Sonderling, oder: er hat einen kleinen Sparren. – Letzteres sagen die, die für derartige Naturen kein Verständnis besitzen, Genußsüchtige, Oberflächliche, Gemütsrohe.

Daß diese Einsamen in ihrer selbstgeschaffenen Weltabgeschiedenheit sich glücklicher und zufriedener fühlen als Millionen anderer, daß ihr reiches Innenleben, ihr Hineinversenken in ernste wissenschaftliche Probleme oder das beschauliche Betreiben harmloser Liebhabereien ihr Dasein vollkommen ausfüllt, dafür haben die meisten, die im Strudel der Städte sich mittreiben lassen, nur ein halb bedauerndes, halb spöttisches Achselzucken.

Einsame Menschen dieser Art habe ich viele gekannt. Nicht nur Männer und Frauen, die etwa schon an der Schwelle des Greisenalters standen. Nein, auch Jugend war darunter, bei denen man vor einem Rätsel stand, weil ja die wenigsten ihr Herz einmal öffneten und sich jemandem anvertrauten, weshalb sie dieses Leben führten wie auf einem entlegenen Eiland im Weltmeere. Es sind nicht immer ein tiefer Herzenskummer oder herbe Enttäuschungen, die diese Einsamen schaffen. Nein! Mir sind einige begegnet, die sich von Jugend an so in ihre eigene Gedankenwelt eingesponnen hatten, daß ihnen das Hasten und Jagen da draußen außerhalb ihrer vier Wände stets etwas Fremdes, für sie Qualvolles blieb.

Ich selbst gehöre nicht zu diesen sogenannten Sonderlingen, ganz und gar nicht! Und doch hat das Schicksal mich einmal gezwungen, ein ähnliches Dasein zu führen. Eine Verkettung seltsamer Umstände war’s, die mich in ein großes Haus brachte, aus dem ich monatelang nicht heraus durfte, denn – draußen lauerte der Tod auf mich, wartete ein halbes Dutzend Gewehre, um mir das Lebenslicht auszublasen.

Es war eine eigentümliche, aufregende Zeit, dieses Einsiedlerdasein. Wenige werden ähnliches durchgemacht haben wie ich. Vielleicht nur ganz wenige. Es gehören ja Kriegsgetümmel und Schlachtenlärm dazu, um so in der Verborgenheit sich durchschlagen zu müssen wie ich, umdroht von beständiger ernsthafter Gefahr … – –

Die ersten Flammen des Weltkrieges leckten empor zum strahlend schönen Augusthimmel des Jahres 1914. In Ostpreußen, Belgien und Galizien donnerten die Geschütze, knatterten die Gewehre, floß das Blut von Tausenden.

Eines Herzleidens wegen war ich nie Soldat gewesen und sollte es auch jetzt nicht werden, obwohl das Vaterland seine Söhne brauchte. Ich hatte bisher die Stellung eines Berichterstatters an einer Zeitung einer der Nachbargemeinden Berlins innegehabt. Ich war noch jung, noch ein Anfänger in der Welt der Journalistik, noch ganz unbekannt, hatte nur über Brände, Morde, Totschläge und ähnliches kurze Notizen geschrieben, obwohl ich die Fähigkeiten zu Höherem in mir fühlte und meine Kollegen und Vorgesetzten mir wiederholt versichert hatten: „Fritz Kersten, aus Ihnen kann noch einmal etwas werden!“ – Doch Fritz Kersten blieb der kleine Berichterstatter, blieb arm, unbekannt, unbeachtet. Die Gelegenheit fehlte eben, zu beweisen, daß ich wirklich etwas leisten konnte.

Erst der Weltkrieg mußte kommen, um all dies zu ändern. – Unsere Zeitung wollte einen eigenen Kriegsberichterstatter hinaussenden. Die Wahl fiel auf mich, und ich nahm ohne Zögern an. Alles ging Hals über Kopf. Bald war ein Ausweis mit Photographie besorgt, auch ein paar Empfehlungsschreiben, die mir den Weg bei den Generalkommandos ebnen sollten. So fuhr ich denn eines Tages in einem Militärtransportzuge gen Osten, machte als Zuschauer die ersten Gefechte in Ostpreußen mit, schrieb fast täglich meine Berichte und … erntete dafür von meinem Blatte viel Lob und Anerkennung.

September und Oktober war ich in Belgien. Dann kam der zweite Russeneinfall in das schon halb verheerte Ostpreußen. Ich ahnte eine zweite Schlacht von Tannenberg voraus, eilte mit großen Schwierigkeiten quer durch Deutschland und schloß mich einem Armeekorps an, an dessen Kommandierenden General ich besonders warm empfohlen war.

An einem rauhen Wintertage nahm mich ein Kavallerieleutnant mit, der mit zwölf Mann Patrouille gegen den Feind reiten sollte. Ich hatte mir einen kleinen Kosakengaul verschafft, der zottig wie ein Esel aussah, aber dabei zäh war wie ein guttrainierter Rennfahrer und wie der Teufel lief.

Beim Morgengrauen waren wir aufgebrochen. Der Leutnant war heute so still und wortkarg, so ganz anders als sonst.

„Es ist mein letzter Tag“, sagte er leise mit Augen, die in unendliche Fernen schauten. „Ich werde heute fallen.“

Mittags gerieten wir in einen Hinterhalt, nachdem wir festgestellt hatten, daß lange Infanteriekolonnen und viel Artillerie im Anmarsch waren. Russische Dragoner umzingelten uns. Der Leutnant erhielt einen Kopfschuß.

Es war in einer Tannenschonung. Die Schüsse kamen aus dem Dickicht. Nur ein Mann außer mir brach mit durch. Aber nicht nach Westen zu konnten wir, nein, nur dem Feinde entgegen. Die Dragoner hetzten uns wie arme Hasen. Die Kugeln pfiffen uns um die Ohren. Dann stolperte meines einzigen Gefährten Gaul, brach das Genick. Ich wollte den Reiter zu mir in den Sattel nehmen. Er war jung wie ich, verlobt. Schon hatte er die Hand auf die Kruppe meines kleinen Kosaken gelegt, als er zusammensank – ins Herz getroffen. Ich floh allein weiter, auf einen Hochwald zu, sprang vom Pferde und verkroch mich in einem Brombeergebüsch. Erst in der Nacht trieb mich der Hunger heraus ins freie Feld. Rohe Kartoffeln waren meine Mahlzeit und eine halbverfaulte Rübe. Todesmatt marschierte ich nach Westen zu, hinein ins Ungewisse. Es war bitterkalt. Meinen Mantel mit meinen wenigen Habseligkeiten, darunter auch eine Momentkamera, trug ich als Rucksack zusammengebunden auf dem Rücken. Wie im Traum tappte ich vorwärts. In der Ferne vor mir hörte ich Kanonendonner. Ich wußte nicht, wo ich mich befand. Dann stand ich plötzlich am Ufer eines vielleicht zwanzig Meter breiten Flusses. Das Mondlicht ließ mich im Weidengebüsch einen Fischernachen entdecken, einen sogenannten Seelenverkäufer, aus vier Brettern zusammengenagelt, eigentlich nur ein langer Freßtrog. Zwei plumpe Holzruder lagen darin. Ich kletterte hinein und ließ mich von der Strömung treiben, – wieder ins Ungewisse, aber doch dem Geschützdonner, also den Unsrigen entgegen. Die Müdigkeit überwältigte mich schließlich. Mir war alles gleichgültig. In der Herzgegend hatte ich ein quälendes Gefühl von Hitze, zeitweise auch heftige Stiche. Ich merkte, daß ich einschlafen würde, ruderte mit letzter Kraft in einen schilfreichen Seitenarm, drückte den Nachen in die hohen Schilfstengel und streckte mich auf den Boden zum Schlummer hin.

Als ich wachgerüttelt wurde, war der Morgen da. Fahle Dämmerung lag über der Umgegend. Und vor mir standen Russen, – vier Infanteristen in braunen Mänteln und ein kleiner Offizier, dessen Stiefel aufdringlich nach Juchten rochen.

Ich wurde gefesselt, und mit verbundenen Augen trabte ich dann, durch Stöße mit dem Lanzenende aufgemuntert, wohl zwei Stunde zwischen Kosaken eine Chaussee mit vielen Granatlöchern entlang.

Dann ging es auf Straßenpflaster zwischen Häusern weiter. Fuhrwerke, Kolonnen und Kavallerie zogen vorüber. Endlich bogen wir in ein Haus ein. Zwei Treppen noch, und ich bekam die Augen wieder frei. – Ein deutschsprechender Offizier verhörte mich. Er hatte lackierte Fingernägel, viele Brillantringe und eine beißend ironische Art. Mehrmals wäre ich ihm am liebsten an die Kehle gesprungen.

Ich sollte durchaus zugeben, daß ich Spion sei. Schließlich antwortete ich überhaupt nicht mehr.

„Mittags um zwölf vor’s Standgericht“, befahl er und verließ das Zimmer. Es war die Eßstube einer eleganten Privatwohnung.

Man brachte mich jetzt in den Keller desselben Hauses. Dort saß schon ein Förster gefangen. Auch er sollte als Spion abgeurteilt werden.

Der Kellerraum ging nach dem Hofe heraus. Das einzige schmale Fenster war vergittert, und die Tür aus Eichenholz. Außerdem waren wir beiden Unglücklichen gefesselt: die Hände auf dem Rücken.

Der Förster hatte einen Schuß durch den linken Oberarm. Der Ärmel war ganz steif von Blut, der Mann selbst mehr tot als lebendig. Er war so stumpf, so erschöpft, daß er kaum drei Worte sprach, so lange wir zusammenblieben

Vor unserer Tür hörte ich einen Posten auf und ab gehen. Meine Taschen hatte man ausgeleert. Nur eingenäht in den Kragen meiner wolligen Sportjacke trug ich noch 12 Zwanzigmarkstücke bei mir. Die wurden meine Rettung.

Nach einer Stunde begann es zu schneien. Ich sah die Flocken immer dichter fallen. Sie wirbelten durch eine zerbrochene Scheibe auch in den Keller hinein.

Dann kam ein Soldat, blond, groß, – ich denke, es war ein Feldwebel. Die Gradabzeichen der Russen kannte ich nicht.

Er befahl dem Förster in gebrochenem Deutsch aufzustehen und ihm zu folgen.

Da wagte ich es, flüsterte ihm zu: „Ich gebe Ihnen zwölf Goldstücke, wenn Sie mir zur Flucht verhelfen.“

Er zuckte die Achseln. Aber er schien nicht ganz unzugänglich zu sein.

„Lockern Sie nur meine Handfesseln. Dann komme ich schon hinaus. – Ich bin kein Spion – so wahr mir Gott helfe!“

Gleich darauf lagen die zwölf gelben Münzen in seiner Hand, und er und der Förster gingen hinaus.

Das Gitter des Kellerfensters war wohl mehr als Zierat da. In einer Ecke hatte ich schon vorher eine Kartoffelhacke bemerkt. Deren festen Stiel benutzte ich als Brecheisen, wuchtete das Gitter los, unbekümmert darum, ob ich Lärm machte. Mein Leben stand auf dem Spiel, und ich hatte keine Zeit zu verlieren.

Es schneite noch immer, als ich mich durch das Fenster ins Freie schob. Auf dem Hofe hörte ich Stimmen. Aber die weißen Schleier des fallenden Schnees hüllten alles so dicht ein, daß ich ungehindert in einen Garten gelangte, über eine Mauer kletterte und dann erst hinter mir ein Gebrüll wie von losgelassenen Teufeln vernahm. Man hatte meine Flucht bemerkt.

Wieder eine Mauer, sehr hoch, sehr schwer zu erklimmen. Oben glitt ich aus, stürzte hinab, schlug mit dem Kopfe hart auf, rappelte mich aber doch empor und taumelte weiter. Der Hof war klein, wurde zu beiden Seiten und vorn von einem hohen Gebäude mit flachem Dache eingeschlossen. Ich war so gut wie in eine Falle geraten. Zurück durfte ich nicht. In meiner Todesangst versuchte ich die Tür des rechten Seitenflügels zu öffnen. Sie war unverschlossen, und der Schlüssel steckte von innen. Ich hinein, und den Schlüsse umgedreht. Ein langer, halbdunkler Korridor war es, in dem ich mich nun befand. Drei Türen bemerkte ich zur Rechten. Daran hingen weiße Pappschilder. Ich las die eine Aufschrift: „Ritterrüstungen aus der Ordenszeit. Überwiesen vom Provinzialmuseum Königsberg (Pr.) 1898.“

Und die nächste Tür: „Litauische Webereien aus dem 16. Jahrhundert, Bauernmöbel aus dem 15. Jahrhundert.“

Eine Zementtreppe führte am Ende des Flurs vor einer großen Glastür nach oben. Im Hause herrschte eine geradezu atembeklemmende Stille. Auf gut Glück hastete ich die Stufen empor – bis in den zweiten Stock hinauf. Auch hier dieselben Türschilder mit ähnlichen Aufschriften. Ich war in das Stadtmuseum geraten. Und die Stadt selbst? – Es konnte nur Y. sein. Vorgestern hatte ich dort noch im Hotel Drei Kronen genächtigt. Inzwischen mußte es von den Russen besetzt worden sein.

Ich kannte Y. nicht, war nur eine Nacht hier gewesen. Jetzt sollte ich Monate bleiben – als Einsamer, als Einsiedler, als seltsamer Robinson.

Während ich noch im Korridor stand und mir jetzt überlegte, was weiter geschehen sollte, hörte das Schneetreiben plötzlich auf. Die Sonne brach durch das winterliche Gewölk hindurch, und in breiter Bahn zeichnete sie jetzt auf den Fußboden und die Wand ein längliches Viereck hinter dem Fenster, das dicht vor mir sich befand und in den Hof hinausführte.

Die Sonne …!! Gut, daß sie jetzt erst aufgetaucht war, nachdem die emsigen weißen Flocken meine Spuren in der dünnen Schneedecke schon wieder zugedeckt haben mußten …!

Was nun? – Daß das Museum keine Einquartierung erhalten hatte, hatte ich schon gemerkt. Und ebenso sicher war es, daß die Russen es wie alle Öffentlichen Gebäude schonen und sogar bewachen lassen würden. Trotzdem mußte ich darauf gefaßt sein, daß man auch hier nach mir suchen würde. – Plötzlich fiel mir etwas ein, woran ich bisher in meiner Angst und Aufregung gar nicht gedacht hatte: meine schneefeuchten Stiefel mußten unten an der Eingangstür und auf den ersten Stufen deutliche Abdrücke hinterlassen haben …!!

Ich besann mich nicht lange, kehrte um, jagte die Treppe hinab, zog meine Jacke dabei aus und begann dann wie ein Verzweifelter die tatsächlich vorhandenen nassen Flecken, die so verräterisch waren, trocken zu reiben. Es gelang leidlich …

Gerade besserte ich auf den Stufen hier und da meine Arbeit noch nach, als an der Tür nach dem Hofe zu gerüttelt wurde. Ich hörte auch rauhe Stimmen, allerlei Rufe. Es konnten nur meine Verfolger sein. Hatte die Sonne es doch nicht gut mit mir gemeint, war sie zu früh hinter den Schneewolken hervorgetreten, hätten die Flocken noch einige Minuten länger herabschweben sollen, um alles gleichmäßig in einen weißen Mantel zu hüllen …?! – Fast schien es so …

Wie ein Gehetzter floh ich wieder nach oben, indem ich vor den Fenstern, um nicht vom Hofe aus gesehen zu werden, auf allen Vieren vorüberkroch. Erst hatte ich auf den Boden gewollt. Aber ich überlegte mir’s anders. Im zweiten Stock gab es eine ebensolche Glastür wie unten. Sie war unverschlossen. Ich hindurch. Wieder ein langer Flur. Ich war jetzt im Hauptflügel. In der Mitte des Korridors ging rechts eine Flügeltür, gleichfalls offen, in einen weiten Saal, der mit allerlei Altertümern vollgestellt war. Gänge führten durch die verschiedenartigen Gegenstände hindurch, die teils auf Tischen, teils auf dem Fußboden aufgestellt waren.

Ein Versteck – ein sicheres Versteck!! – Wo aber, wo?! – Ich glitt durch die Gänge hierhin und dorthin. Meine Augen suchen – suchten …

Ein Versteck …!! Oder Standgericht, Verurteilung: an die Mauer mit dem Spion, der sogar eine Momentkamera bei sich hat …

Vor den hohen Fenstern hingen verblichene, grau und gelb gestreifte Vorhänge. Die Fenster zeigten nach der Straße. Es mußte eine der Hauptstraßen sein. Ich vernahm den Lärm lebhaften Verkehrs. – Aber vor den Fenstern sah ich noch etwas: Mit Seidenschnüren an Messingstangen abgegrenzt ein länglicher Raum. Davor eine Holztafel, zierlich gemalt: „Peruanische Altertümer. – Geschenk des Majoratsherrn, Grafen von Wegra. 1901.“

Mein Blick fraß sich förmlich fest an einem Kasten, sargähnlich, geschnitzt und rot und blau bemalt. Darin lag eine peruanische Mumie auf uralten Decken, die Mumie eines Weibes in indianischer Tracht, sehr gut erhalten, fast unheimlich gut …

Mich interessierte nur der Mumiensarg. Ein Gedanke war in mir aufgeblitzt. Die Peruanerin lag so hoch, daß in dem Kasten sich unten noch irgend etwas befinden mußte. Und statt dieses „Etwas“ konnte ich vielleicht in den Sarg hinein … Wenn dann die Decken und obenauf die Mumie mich verbargen, würden die Russen mich nicht finden. Sie würden sich scheuen, die Tote anzurühren, die mit ihren gräßlichen, künstlichen Augen (in die Augenhöhlen waren farbige Steine, sog. Katzenaugen, eingefügt) starr zur Saaldecke emporglotzte und um deren Mund ein höhnisches Lächeln sich ausprägte.

Im Nu hatte ich die Decken und die Tote herausgehoben. Und – ich hatte richtig vermutet: es gab in dem Mumiensarge ein bankähnliches Gestell …!

Dieses herausnehmen und unter ein Fenster stellen, dann in dem Kasten hineinklettern und die Peruanerin samt ihren Decken über mich breiten war eins …

Aber ich wollte nicht leichtsinnig meine Rettungsaussichten verringern. Ich gab genau acht, daß die Mumie und die Decken etwa so zu liegen kamen, wie ich alles vorgefunden hatte.

Die ausgetrocknete Tote, steif wie Holz, wog nicht eben viel. Ich merkte die Last kaum. Nur Staub gab es in dem Sarge, der seltsam aromatisch roch. Ich hielt mir die Nase fest zu, atmete sehr vorsichtig.

Nießen müssen …!! Das hätte mir noch gefehlt!! Ein einziges lautes Hatschi zu unrechten Zeit, und ich war verloren …

Minuten vergingen. Vielleicht war es auch eine Viertelstunde … Dann Schritte, Stimmen. In meinem Sarge hörte ich alles nur ganz undeutlich …

Mein Herz begann zu hämmern. Die Entscheidung war da … Schweiß trat mir auf die Stirn, trotzdem es in dem Saale wahrhaftig kalt genug war. Der Schweiß lief mir in die Augen, brannte, fraß … Die Zähne vibrierten mir … Und jetzt fühlte ich noch zu allem einen starken Hustenreiz … Aber ich unterdrückte ihn mit aller Energie, daß mir die Augen nur so tränten …

Schritte hin und her; Stimmen hier und dort. Zuweilen ganz nah an meinem Versteck …

Es waren entsetzliche Minuten. Mein Leben war bis dahin ohne große Erregungen hingeflossen. Erst der Krieg mit seinen furchtbaren Bildern hatte mich das Grausen gelehrt. – Aber was waren Haufen verkrümmter Leichen gegen das, was ich jetzt empfand …?! Ich liebte das Dasein, hatte es stets von der leichten Seite genommen. Und nun hing alles an einem seidenen Fädchen … Vielleicht war ich abends schon ebenso stumm und kalt wie die Peruanerin, die mich schützte … – Standgericht … erschießen … verscharren … – Was durchzuckt in solchen Augenblicken nicht alles das Hirn eines von Furcht Gepeinigten …

Endlos – endlos lange dauerte es, bis die Schritte und Stimmen verstummten.

Totenstille nun … Da kam der Rückschlag bei mir. Meine Nerven versagten. Ich weinte … Es war ein Weinkrampf, nicht zu unterdrücken, mit keinen Mitteln … – Auch das ging vorüber. Und dann schlief ich ein, wurde erst munter, als ein lauter Knall das ganze Haus durchdröhnte …

Wieder ein Knall, daß die Scheiben nur so klirrten. Es mußten Sprengschüsse gewesene sein. Später erfuhr ich, daß ich mich nicht geirrt hatte. Die Russen hatten – sehr übereilt! – die elektrische Zentrale zerstört, die sie dann mühsam wieder zurechtflicken mußten, als Hindenburg ihnen noch ein paar Monate Zeit ließ, ehe er sie wieder aus der Stadt hinaustrieb.

Wie spät mochte es ein?! – Ich hatte keine Ahnung davon. Ich konnte eine halbe, aber auch mehrere Stunden geschlafen haben. – Ich lauschte daher erst längere Zeit, bevor ich es wagte, die Decken zu lüften. Tiefe Dunkelheit im Saale. Nicht einmal von der Straße drang ein Lichtschimmer herein. Dort brannte also offenbar nicht eine einzige Laterne. – Jetzt erst, nachdem ich den Mumiensarg verlassen hatte, merkte ich, wie hungrig ich war. Auch der Durst quälte mich. Ich mußte also wohl notwendig eine Entdeckungsreise durch das Haus beginnen, – im Dunkeln. Ich hoffte, wenigstens eine Wasserleitung irgendwo zu finden.

Inzwischen hatten meine Augen sich etwas an die Finsternis ringsum gewöhnt. Ich zog meine Schuhe aus, legte sie in den Mumienkasten und tappte nach der Flurtür hin. Sie war verschlossen … Ich erstarrte vor Schreck. Also eingesperrt …!! – Nein – vielleicht doch nicht. Rechts und links lagen ja noch Zimmer, deren Türen ausgehoben waren. Und dort mußte es doch noch Ausgänge nach dem Hauptflur geben.

Ja – es waren noch zwei Türen vorhanden. Aber auch sie fand ich verschlossen …

Meine Knie begannen zu zittern … Verloren – verloren!! – Wie der Schrei eines Dämons schien mir das Wort in den Ohren zu gellen. – Wollte ich nicht verhungern und verdursten, so mußte ich mich bemerkbar machen, mich den Feinden selbst ausliefern.

Ich wankte in den Hauptsaal zurück, ließ mich schwer auf das bankähnliche, von mir herausgenommene Gestell des Mumiensarges fallen, vergrub den Kopf in die Hände und überdachte meine Lage – jetzt zum erstenmal mit jener Offenherzigkeit gegen mich selbst, die nur die höchste Verzweiflung in uns hervorbringt.

War es nicht überhaupt ein Wahnsinn gewesen, auch nur einen Moment zu denken, hier in diesen Räumen eine Weile in der Verborgenheit leben zu können …?! Wo sollte ich die nötigen Nahrungsmittel hernehmen, wo einen warmen Raum finden, der mich vor der Winterkälte schützte …?!

Und – von hier aus der Stadt heraus zu kommen war ja ebenso unmöglich. Ich kannte weder das Straßennetz, noch Wege und Stege, die außerhalb der Tore das Land durchzogen …

Ich war in einer Falle, aus der es kein Entrinnen gab!! Das stand jetzt so klar vor meiner Seele wie die nächste Schlußfolgerung, daß ich dem Tode nicht entgehen konnte …

Wie lange ich so in dumpfem Brüten dagesessen, weiß ich nicht. Erst die Kälte, die meinen entkräfteten, nach Nahrung verlangenden Körper gierig beschlich, rüttelte mich auf.

Ich will ehrlich sein. Ich dachte an Selbstmord. Zwar nur einen Augenblick. Aber gedacht habe ich an diese letzte, größte Feigheit, die jemand begehen kann, und die stets der bequemste Ausweg aller Charakterlosen ist. – Ebenso schnell wies ich diesen Gedanken auch wieder von mir. Noch war ich nicht so weit, daß ich sündig von mir warf, was Gott mir gegeben, noch hoffte ich … Ja, ich hoffte – auf eine Wunder, auf irgend etwas! Wenn man auch als armes Menschlein wähnt, daß auch der letzte Hoffnungsschimmer erloschen ist, – in einem Winkel unseres Herzens lebt ja doch noch ein helles Fünkchen – stets, stets, begleitet selbst den Verbrecher auf das Schafott.

Mit einem Male wurde es seltsam hell um mich her … Der Mond war erschienen, hatte die Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses überklettert und sandte sein mildes Licht gegen die drei hohen Fenster. Die Vorhänge dämpften es noch weiter. Und doch kam es mir vor, als hätte der Himmel eigens für mich heute das Nachtgestirn seine Bahn dahinziehen lassen, um einem Verzweifelten Mut zu machen …

Ich schaute mich um, erkannte jetzt ziemlich deutlich die einzelnen Gegenstände.

Dann … Ein leiser Ton zitterte durch den weiten Raum. Er hatte etwas Geisterhaftes an sich, klang wie das wehe Klagen einer abgeschiedenen Seele …

Unwillkürlich schaute ich auf die Mumie der Peruanerin, die jetzt neben dem Kasten auf dem Fußboden lag. Ich glaubte beinahe, die Tote müsse diesen Ton ausgestoßen haben.

Dann aber lächelte ich über mich selbst. Wenn ich auch nicht gerade einer besonderen Unerschrockenheit mich rühmen will, so bin ich doch nie feige gewesen. So ein wenig Abenteuerlust lag mir von jeher im Blute. Und feige Naturen werden sich kaum nach besonderen Erlebnissen sehnen. – Eine Mumie – nichts als ein zusammengetrocknetes Restlein einer braunen Erdenpilgerin …!! Die konnte mich doch nicht schrecken!! Und die anderen Mumien – denn es gab noch vier weitere in dem Saale –, die würden mir ebensowenig anhaben können …!!

Das Lächeln über mich selbst verging mir schnell.

Abermals derselbe Ton – nur länger ausgedehnt, in verschiedenen Höhenlagen, wie ein qualvoller Schrei jetzt, halb unterdrückt …

Ich lauschte – da – wieder, nur noch lauter. Ich schlich nach der linken Saalecke hin. Von dort schienen die merkwürdigen Laute zu kommen.

Dann stand ich vor der Wand gegenüber den Fenstern. Hier hingen schwere, aus bunten, groben Fäden hergestellte Gewebe. Es schienen Bauernteppiche zu sein oder eine Art kunstloser Wandstickereien. Jedenfalls zeigten sie sämtlich Szenen aus dem Leben der Landbevölkerung, auch Tiere, aber alle Figuren in komischer Verzeichnung. Das war mir schon am Tage aufgefallen, als ich mich nach einem Versteck umsah.

Die Gewebe hingen dicht an der Wand und reichten bis zum Boden hinab, wo sie durch Ringe straff gehalten wurden. Ich stellte dies durch Betasten mit den Händen fest, da es hier trotz des Mondlichtes zu dunkel war, um Einzelheiten zu erkennen.

Ich wartete nun, daß die seltsamen Töne sich abermals melden sollten. Und wirklich: jetzt vernahm ich sie ganz dicht vor mir; fast schien es, als kämen sie hinter den schweren, dichten Geweben hervor. Noch mehr hörte ich nun noch heraus. Es war nicht das Klagen einer abgeschiedenen Seele, sondern das klägliche Miauen einer Katze …

Ich überlegte. Hinter den Teppichen fühlte ich die feste Wand. Das Tier konnte sich also nicht etwa in einem alkovenartigen Raume befinden, der von dem altertümlichen Wandschmuck verdeckt wurde. Auch draußen auf dem Flur schrie die Katze nicht. Dann hätte ich die Töne nicht so deutlich hören können. Es blieb also nur eine Möglichkeit: vor mir in der Ziegelmauer mußte es ein kleines, durch eine Holztür abgetrenntes Gelaß geben …! Durch eine Holztür konnte das jämmerliche Miauen ganz gut in dieser Stärke hindurchdringen.

Wieder mußten meine Finger die Augen vertreten. Ich hakte den vor mir hängenden Teppich unten los und schlug ihn zur Seite. Dann fuhren meine Finger über die Tapete der Wand hin, nachdem ich durch Klopfen schnell herausgefunden hatte, daß tatsächlich an einer Stelle die Mauer aus Stein bestand, dicht daneben aber der hellere Klang von Brettern vernehmbar war. Ich suchte jetzt an der Tapete nach einer von oben nach unten gehenden Spalte. Ich fühlte sie auch. Aber sie war sicherlich sehr schmal und mit den Augen kaum zu bemerken. Weiter nach links fand ich die zweite Seitenlinie der Tapetentür. Und hier – – hier steckte ein Schlüssel im Schloß …!! – Ich drehte ihn um. Die Tür schlug nach innen. Kaum hatte ich sie geöffnet, als etwas unten an meinen Beinen entlangstrich. Natürlich die Katze. Ich bückte mich, streichelte sie. Sie machte vor Wohlbehagen einen Buckel, miaute wieder leise.

Da stand ich nun in der halb offenen Tür, hielt mit der Linken das schwere Gewebe bei Seite und versuchte, ob ich nicht einen Blick in den dunklen Raum werfen konnte, in den die Katze eingesperrt gewesen war. Fraglos hatte man sie hier vergessen, als die Bevölkerung vor den schnell anrückenden Russen die Stadt Hals über Kopf räumte. Aber in dem Gelaß war es zu finster, um irgend etwas unterscheiden zu können. Nur das eine stellte ich schon fest: es war doch größer, als ich gedacht hatte.

Schließlich trat ich ein und begann wie ein Blinder mich zurechtzufühlen. Links an der Wand stand ein Ruhebett, das mit Glanzleinwand bezogen war. Es war nur kurz. Am Fußende begann schon die Rückwand des kleinen Raumes. Meine Hand stieß gegen einen Gegenstand, der leise klirrte: eine Laterne! Ich roch jetzt auch schwach Petroleum. Also eine Petroleumlaterne. – Dann fühlte ich einen Tisch, auch mit Glanzleinwand bezogen. Darauf standen eine Lampe mit Metallfuß, ein einfaches Schreibzeug, ein leeres Bierseidel, ein Aschbecher …

Mit einem Male stockte mir der Atem. Der Aschbecher, eine auf einem Bleifuß befestigte große Muschel, enthielt weiche Asche, zwei ganz kurze Zigarrenstummel und … eine Schachtel Zündhölzer …

Zündhölzer …!! – Ein Bündel Hundertmarkscheine wäre für mich nicht so wichtig gewesen wie dieses Schächtelchen, in dem es so verheißungsvoll klapperte.

Gleich darauf flammte ein Hölzchen auf, brannte auch die Lampe auf dem Tische, deren Bassin gefüllt war. Nun konnte ich in aller Bequemlichkeit den kleinen Raum überblicken. Ein Fenster besaß er nicht. Aber – außer Ruhebett, Tisch und einem Stuhl nebst ein paar kleineren Gegenständen … eine eiserne Wendeltreppe an der Wand dem Ruhebett gegenüber, – eine Treppe, die sich nach oben und unten hin fortsetzte. Die quadratischen Öffnungen im Fußboden und der Decke besaßen Schiebetüren, die sich geräuschlos schließen ließen.

Nach dieser ersten flüchtigen Untersuchung dieser Kammer wandte ich mich dem Tische zu. Darüber hing ein Wandbrett. Eine Bibel, ein Volkskalender von 1913 und ein dickes Buch standen dort friedlich neben einem länglichen Holzkasten. Das dicke Buch hatte auf dem Deckel ein beschmutztes Schildchen. „Wächter-Buch, Stadtmuseum“ war noch leidlich als Aufschrift zu entziffern. – Ich blätterte darin. Aus den täglichen Aufzeichnungen von vier Wächtern war leicht zu entnehmen, daß das Museum vier Aufseher hatte, die sich in die Nachtwachen teilten, so daß jeder an jedem vierten Abend wieder herankam.

Das Gelaß war also ein Raum für die Aufseher. Ich entdeckte denn auch in der Tischschublade einige dreißig Schlüssel, sämtlich mit Holztäfelchen versehen, auf denen die Räume bezeichnet waren, zu denen sie gehörten. Vor jeder dieser Benennungen stand noch ein „Dupl.“, das konnte nur „Duplikat-Schlüssel“ heißen.

Wie froh war ich über dieses „Dupl.“!! War doch jetzt Aussicht vorhanden, daß ich mich im ganzen Hause frei bewegen konnte. Ich nahm ja mit Sicherheit an, die Russen würden die Schlüssel überall abgezogen haben, um die Säle und Zimmer besser vor Dieben zu schützen.

Erst jetzt bemerkte ich auch unter dem Fuße des Aschbechers einen Zettel. Darauf stand: „An Aufseher Kallgies. – Die Stadt wird geräumt. Lassen Sie alles offen und beeilen Sie sich, gleichfalls aus der Stadt herauszukommen.“ Die Unterschrift war unleserlich.

Kallgies war der Aufseher, der vorgestern Nacht Wache gehabt hatte. Das ging aus dem Wächter-Buch hervor. Daß er Hals über Kopf davongestürmt war, bewies sowohl die hier vergessene Katze als auch der Kasten auf dem Wandbrett, in dem sich Knaster und eine kurze Tabakspfeife befanden, schließlich noch ein Päckchen im Tischkasten: zwei schon recht vertrocknete, dicke, belegte Doppelstullen, die Nachtmahlzeit des Kallgies wahrscheinlich.

Ich habe die eine Doppelstulle damals sofort verschlungen. Aber nicht ganz. Die Katze war auf den Tisch gesprungen und sah mich bei jedem Bissen so flehend an. Ich gab ihr ein paar Happen ab.

Die Katze war keine Katze, sondern ein gelbbraun gefleckter, kräftiger Kater, sehr zutraulich und von sehr einschmeichelndem Wesen. Wir freundeten uns schnell miteinander an und haben dann getreulich zusammengehalten all die langen Wochen. Früher hatte ich Katzen nicht gerade geliebt. Seit meiner Robinsonade im Museum denke ich anders über diese Mäusefänger, besser, viel besser. Wer Katzen verabscheut, dem empfehle ich, sich in einem unbewohnten Hause längere Zeit einsperren zu lassen, nur mit einer vierbeinigen Mieze als Gesellschaft. Er wird dann anderen Sinnen werden. Ganz sicher. – Meine „Mieze“ habe ich gleich am ersten Abend unserer Bekanntschaft „Moritz“ getauft.

Zu etwa ein Fünftel gesättigt zündete ich nun meine Laterne an, löschte die Lampe aus – um Petroleum zu sparen, obwohl unter dem Tische noch eine volle Blechkanne stand – und begab mich weiter auf Entdeckungsreisen. Zunächst über die Wendeltreppe nach oben. Ich befand mich nun also im dritten Stock des Museums. Die Kammer hier hatte genau dieselbe Größe. Auch die Tür lag an derselben Stelle, wieder eine Tapetentür, die sich jedoch nicht öffnen ließ, da, wie ich später sah, an der anderen Seite ein mächtiger Schrank, gefüllt mit ausgestopften Vögeln, davorstand. Im übrigen enthielt dieses Gelaß nur Gerümpel. Es war die richtige Trödlerbude. Sogar ein uralter, mottenzerfressener Schafpelz hing an einem Nagel. – Man soll alte Schafpelze nicht verachten. Sie sind mitunter mehr wert als der eleganteste Winterüberzieher mit Seidenfutter. Ich nahm den Pelz jedenfalls mit hinab in meine Wohnung, das heißt, in das Wächterstübchen im zweiten Stock. – Dann besuchte ich das Gelaß in der ersten Etage. Auch hier: Rumpelkammer und eine verstellte Tür. – Die Wendeltreppe hatte in diesem Raum ein Ende. Und zu sehen gab’s hier nichts. Also zurück in mein Wohngemach, und dann mit der vorsichtig verhüllten Laterne in den Mumiensaal, versehen mit einer Anzahl der Dupl.-Schlüssel.

Moritz blieb getreulich hinter mir. – Ich hatte mich nicht getäuscht: die Schlüssel waren abgezogen, und so konnte ich unbehindert durch die verschlossenen Türen, lautlos wie ein Gespenst und vorsichtig wie ein Fuchs auf nächtlichem Beutezuge, meine Entdeckungsreise fortsetzen.

Einige Türen knarrten. Da hieß es acht geben, damit kein verdachterregender Lärm entstand. – Ich wanderte bis zum Erdgeschoß hinab. Eine mächtige Glastür mit starken Ziergittern führte in den Vorflur des Haupteinganges. Durch die Scheiben sah ich, daß in dem Vorflur eine Laterne brannte. Rechts ging eine Tür in ein Zimmer hinein. Es war dies sicherlich das des Hauswartes. Jetzt unterhielten sich recht laut Russen darin, – Leute der Wache, die der Oberkommandierende zum Schutze des Museums in das Gebäude gelegt hatte. – Noch in dieser ersten Nacht stellte ich fest, daß auf dem Hofe des Museums ein Posten stand, ein zweiter vor dem Haupteingang. Ich hatte also allen Grund, vorsichtig zu sein. Besonders der Mann auf dem kleinen Hofe war mir recht unangenehm. Und er hat mir dann später auch recht angstvolle Stunden bereitet.

Daß ich zu meinem Glück gerade in das Museum geflüchtet war, sah ich immer mehr ein. Es gab hier doch vieles, was ich sehr gut brauchen konnte. Aber erst allmählich lernte ich, mir die Sehenswürdigkeiten nutzbar zu machen.

Wohl eine Stunde trieb ich mich in dem großen Hause umher. Der Hunger wühlte in meinen Eingeweiden. Er war durch die Doppelstulle nur noch reger geworden, so schien’s mir jetzt. – Ich kehrte in mein Wohngemach zurück, beladen mit altlitauischen, pelzgefütterten Kleidungsstücken aus dem Seitenflügel des zweiten Stockwerks und zwei reichverzierten Wolldecken.

Moritz war verschwunden. Er kehrte erst in der folgenden Nacht zu mir zurück. So verzehrte ich denn die zweite Doppelstulle allein. Jeden Bissen begleiteten besondere Gedanken. Sie waren nicht gerade erfreulicher Natur. – Essen und Trinken … Woher sollte ich’s nehmen – woher?! – Das Gespenst des Hungers stand wieder neben mir und grinste mich höhnisch an …: „Standgericht – erschießen – verscharren!!“

Aber ich ließ mich jetzt nicht mehr so leicht unterkriegen. Ich würde schon einen Ausweg finden …

Der Knaster des Museumsdieners Kallgies schmeckte nicht gerade erstklassig. Aber ich rauchte doch. Es betäubte das Hungergefühl. Daß der Rauch mich verraten könnte, brauchte ich nicht zu fürchten. Die Tapetentüren schlossen ganz dicht. Ich saß an dem kleinen Tische und sann über meine Lage nach. Die Hauptfrage war: Durfte ich es wagen, auch am Tage, wo vielleicht russische Offiziere das Museum besichtigen kamen, in diesem Raume zu bleiben? – Nach reiflichem Überlegen glaubte ich, die Frage mir selbst mit ja beantworten zu dürfen. Nur mußte ich dafür sorgen, daß ich hier ein Versteck mir schuf ähnlich dem, das mich zuerst beherbergt hatte.

Ich schaute mich um. Mein Blick blieb auf dem alten, plumpen Ruhebett haften. Ich stand auf, rückte es von der Wand ab, stellte es hoch. Es hatte keine Sprungfedern, sondern nur eine Seegraspolsterung. Der Kasten des Ruhebettes war recht breit. Und unter der Seegraspolsterung war noch ein prall gefüllter Strohsack durch Leisten befestigt, die über die ganze Unterseite des Kastens hingingen.

Eine halbe Stunde später war der Strohsack zum größten Teil entleert. Das Stroh schaffte ich nach oben in die Rumpelkammer. Und zwei der Leisten brach ich heraus, so daß ich in den Zwischenraum zwischen Polsterung und Strohsack hineinkriechen konnte. – Das Versteck war fertig.

Dann ging ich in den Mumiensaal und legte die Peruanerin wieder in ihren Sarg zurück auf das bankähnliche Gestell. Ich hoffte, daß ich sie nie wieder als schützenden Engel über mich brauchen würde. Es kam jedoch anders …

Den Schlüssel zu der Tür meiner Behausung zog ich ab, nachdem ich mich eingeschlossen hatte. Dann hüllte ich mich in den Pelz, deckte mich noch mit den pelzgefütterten Kleidern und den Wolldecken zu und schlief ein.

Der nächste Vormittag stand unter dem finsteren Zeichen des Hungers. Ich war früh munter geworden, wagte jedoch nicht, den Mumiensaal zu betreten, sondern schob nur die schweren Gewebe vor der Tür etwas bei Seite und lugte hinaus. Draußen schien die Sonne …

Die Stunden schlichen hin. Ich fror trotz der Pelze, daß mir die Zähne klappernd zusammenschlugen. Dabei wagte ich nicht, mich auf das Ruhebett zu legen. Ich fürchte einzuschlafen vor Erschöpfung. Und das durfte nicht sein, war zu gefährlich.

So saß ich denn im Dunkeln und lauschte, ob nicht jemand kam, der die Schätze des Museums in Augenschein nehmen wollte.

Dann hielt ich’s nicht länger aus vor Hunger und Kälte. Eine verzweifelte Entschlossenheit war über mich gekommen. Ich verließ mein Gemach, schlich lautlos die Treppen hinab bis ins Erdgeschoß.

Es gab für mich nur eine Möglichkeit, mir etwas Genießbares zu verschaffen: ich mußte zusehen, ob ich nicht aus der Wachtstube unten, wo die Soldaten sich einquartiert hatten, stehlen konnte, was ich haben mußte, wenn ich nicht dieses gewagte Spiel verlieren wollte …

Auf allen Vieren kroch ich nach der Tür, die auf den Hof führte und die der großen, vergitterten Glastür gegenüberlag. Der Schlüssel steckte von innen. Aber der Riegel war nicht eingeschnappt. Also unverschlossen, – also konnte die Wache auf dem Hofe jeden Augenblick in den Flur hinein.

Ich kroch enttäuscht, mutlos zurück, setzte mich auf die Stufen der Treppe und wartete auf die Ablösung des Mannes auf dem Hofe. Es dauerte endlos lange. Endlich zog ein neuer Posten auf. Sehen konnte ich dies nicht. Aber ich hörte es. Die schweren Schritte verhallten. Nun wagte ich mich wieder vorwärts, drehte den Schlüssel der Hoftür leise um. So schaffte ich mir diesen Feind vom Halse. Dann richtete ich mich hinter der Glastür auf und schaute hinaus in den Vorflur.

Das Haupttor stand offen. In breiter Bahn flutete der Sonnenschein hinein. Auf der Straße eilte Militär hin und her, rasselten Wagen vorüber. Und in der Wachstube hörte ich wieder sprechen.

Ich hatte so eine ganz, ganz leise Hoffnung gehabt, daß die Leute der Wache vielleicht vor dem Hause sich sonnen würden. Dann wollte ich blitzschnell hinein in die Stube und nehmen, was ich fand …

Diese leise Hoffnung sank mehr und mehr. Schon wollte ich verzweifelt umkehren und wieder meine Behausung aufsuchen, als auf der Straße gerade vor dem Museum ein polnischer Jude mit einem Marketenderwagen vorfuhr und sofort von einer dichten Schar Soldaten belagert war.

Jetzt hoffte ich wieder. Und ich tat recht daran. Plötzlich stürmten fünf Leute aus der Wachstube hinaus und mischten sich unter die Kauflustigen.

Ich setzte alles auf eine Karte. Entweder – oder!

Die Glastür war unverschlossen. Ich also hinaus, rein in die Wachstube. Kein Mensch darin. Auf dem Tische lagen Brote – vier Stück, daneben ein paar Schnitten Speck, außerdem noch eine Blechschale, gefüllt mit einer kalten, eingedickten Bohnensuppe.

Alles nahm ich mit, schlüpfte hinaus, schloß die Hoftür wieder auf und befand mich gleich darauf … daheim.

Ein halbes Brot ging drauf. Dann war ich satt. Die Bohnensuppe sparte ich mir für den Abend auf. Absichtlich. Sie hatte mich auf einen glänzenden Gedanken gebracht. Zu gern hätte ich sie nämlich warm verzehrt. Und wie ich so darüber nachgrübelte, wie ich sie mir wärmen könnte und dabei zuerst an die Lampe dachte, über deren Zylinder ich sie ja halten konnte, fiel mir plötzlich ein, daß es über mir in dem Hauptsaale des dritten Stockwerks in den Schränken eine Unmenge Getier in Glasbehältern gab, die mit Spiritus angefüllt waren. Gerade diese Sammlung derart konservierter Sehenswürdigkeiten war sehr reichhaltig. – Mir lag nur etwas an dem Spiritus. Und tatsächlich hatte ich mir dann am Nachmittag schon eine Art Spirituskocher hergestellt, auf dem ich die Bohnensuppe heiß machte. Geschnitzte Löffel gab es in den litauischen Küchenschränken im Seitenflügel, 2. Stock. So hielt ich denn abends eine geradezu fürstliche Mahlzeit: die Hälfte der Suppe! – Den Rest ließ ich für den folgenden Tag.

An diesem zweiten Abend meines Einsiedlerdaseins war ich schon bedeutend kühner. Ich dehnte meine Entdeckungsreise bis unter das Dach aus. Eine Leiter führte zu einer Dachluke empor. Den Schlüssel zu dem festen Schloß hatte ich mit. Auf dem Dache lag schöner, weißer Schnee. Er lieferte mir bald das nötige Trinkwasser.

Hier oben sah ich auch, daß der Schornstein des Hauptflügels tüchtig rauchte. Die Wache unten im Erdgeschoß mußte den Kachelofen gehörig angeheizt haben. Schade, daß es in meinem Gemach keinen Ofen gab, dachte ich. Es wäre so schön gewesen, im Warmen zu sitzen. Aber – ich hätte es ja doch nicht wagen dürfen, den Ofen zu heizen, fiel mir sofort ebenfalls ein. Der warme Raum hätte mich ja verraten, falls jemand mein Versteck betrat …

Auch in den Keller stieg ich in dieser Nacht hinab. Doch ich fand nur leere Kisten und Fässer, sonst nichts. –

In den folgenden vier Tagen ereignete sich nichts von Wichtigkeit. Nur eine Anzahl Besucher erschien einmal gegen Mittag im Museum. Ich hörte Sporenklirren, lautes Sprechen aus dem Mumiensaal bis zu mir dringen. Im übrigen blieb ich unbehelligt.

Am Morgen des sechsten Tages meiner seltsamen Gefangenschaft schnitt ich das letzte Brot an. Es war also höchste Zeit, daß ich an die Ergänzung meines Proviantes dachte. Nochmals aus der Wachstube etwas zu stehlen, würde mir kaum glücken. Damals war es eine gütige Fügung des Schicksals gewesen, daß gerade der Marketender erschien. Aber inzwischen hatte ich mir schon einen Plan zurechtgelegt, wie ich die schwierige Sache anfassen sollte, hatte mir ein Tau aus Leinenstreifen gedreht, an dem ich aus einem Fenster des ersten Stockwerkes des rechten Seitenflügels in den Nachbargarten hinabklettern wollte. Die Erdgeschoßfenster waren nämlich vergittert.

Dieser Nachbargarten war dicht mit Sträuchern bestanden, die mir gute Deckung bieten mußten. Wenn ich mir noch ein weißes Tuch umhing, konnte sich meine Gestalt von dem Schnee kaum abheben.

Immerhin blieb’s ein böses Wagnis, dieser Verproviantierungsgang. Aber – es half nichts, – es mußte sein.

Ich will mich bei der Schilderung jenes ersten Ausfluges ins Freie nicht lange aufhalten. Ich hatte großes Glück, erbeutete im dritten Hause nicht nur fünf Brote, sondern auch ein wohl für einen Offizier bestimmtes Paket, in dem ich dann allerlei leckere Sachen: Dauerwurst, Schokolade, Zigaretten und zwei Flaschen Likör – vorfand.

Meine Wohnung war jetzt auch lange nicht mehr so kalt als anfänglich. Das lag daran, daß die Wachmannschaften den Ofen offenbar geradezu bis zum Platzen heizten und dadurch der an meinem Gelaß vorbeiführende Schornstein die Wand etwas miterwärmte. Außerdem brachte ich die Temperatur auch noch durch Verbrennen von Spiritus auf eine Höhe, daß ich’s einigermaßen behaglich hatte. – –

Es war ein mehr als eigenartiges Dasein, zu dem mich die besonderen Umstände zwangen. Bald hatte ich es mir angewöhnt, am Tage zu schlafen und die Nacht für meine kleinen Arbeiten und Gänge zu benutzen. Dabei war ich mit der Zeit, als ich erst merkte, daß ich mich in einem Versteck recht sicher fühlen durfte, immer kühner geworden. Nur selten kamen am Tage Schaulustige in das Museum. Jedenfalls konnte ich die ersten Vormittagsstunden getrost dazu benutzen, die Säle und Zimmer zu durchstreifen. Vor elf Uhr war noch nie jemand erschienen, den die bescheidenen Schätze der Sammlungen interessierten.

Ich will hier nicht vergessen, auch Moritz noch zu erwähnen. Er kam und ging, ganz wie es ihm gefiel. Ich hatte bald ausgekundschaftet, daß er stets, wenn er ins Freie wollte, so lange an der Glastür unten miaute, bis die Wache ihm öffnete. Wer ihn fütterte oder ob er selbst sich die nötige Nahrung in Gestalt von Mäusen erjagte, habe ich nie herausbekommen. – Aber ich war doch stets froh, wenn er bei mir blieb. Dann lag er zumeist auf meinem Schoß, während ich an meinem Tagebuche schrieb (ich benutzte das Wächterbuch dazu) oder in alten, eingebundenen Zeitungen las, die reichlich ein Jahrhundert alt waren. Es waren Blätter, die in Königsberg damals herausgegeben wurden, als die Freiheitskriege sich vorbereiteten. – Schlief ich, so kuschelte sich der Kater ganz dicht an mich an und … schlief auch. Er war sehr sauber. Nie hat er das Museum verunreinigt.

Leider mußte ich ja mit dem Petroleum sehr, sehr sparsam umgehen. Dann entdeckte ich in dem Zimmer: „Litauische Hausindustrie“ eine Menge Wachs- und Unschlittkerzen, darunter auch durch bunte Glasperlen reichverzierte, sehr dicke Kirchenlichte. Ohne diese hätte ich wohl die zweiten Hälfte meiner Robinsonade im Dunkeln in meinem Gemache hausen müssen.

Meine Gemütsstimmung litt sehr an Schwankungen. Erst als ich mein Tagebuch begann, das weit ausführlicher als diese Aufzeichnungen ist, wurde sie gleichmäßiger, – ein Segen der Arbeit.

Erwähnen will ich auch noch, daß ich gezwungen war, mir mancherlei Dinge selbst herzustellen. Den Spirituskocher habe ich bereits genannt. Auch Tinte und Federn fehlten mir bald. Erstere stellte ich aus Lampenruß her, letztere lieferten mir die Flügelschwungfedern der ausgestopften Vögel. Man sieht, ich habe das Museum nicht gerade geschont. Als ich endlich wieder die Freiheit zurückerlangte, war kein Tropfen Spiritus in den Gläsern der präparierten Tiere mehr vorhanden.

So kam auch das Weihnachtsfest heran. Es wird wohl das traurigste bleiben, das ich je erlebt habe und erleben werde. Mit meinen Lebensmitteln war es gerade in den Tagen sehr schlecht bestellt. Meine Verproviantierungszüge ins Freie mußte ich unter höchster eigener Lebensgefahr immer weiter ausdehnen. Oft waren sie ganz ergebnislos. Und als das Christfest nahte, hatte ich nichts als ein einziges hartes Brot. Trotzdem verschaffte ich mir aus dem Nachbargarten eine kleine Tanne, fertigte mir dünne Wachskerzen an und auch allerlei Baumschmuck aus blankem Blech. Moritz machte große Augen, als ich dann am Heiligen Abend die Kerzen anzündete. Er saß mir wieder auf dem Schoß, und … mancher warme Tropfen aus meinen Augen ist damals auf sein Fell hinabgerollt. Meine Gedanken weilten daheim …: Die Meinen hielten mich sicher für tot. Wie sollten sie auch ahnen, daß ich noch lebte – so lebte … –

In der Neujahrsnacht erging es mir weit besser. Am Tage vorher war es mir gelungen, zwei Pakete mit Lebensmitteln zu erbeuten. Beinahe hätten die Russen mich dieses Mal erwischt. Nun – „beinahe“ ist eben noch lange nicht „ganz“! – Die Pakete waren fraglos wieder für Offiziere bestimmt. Am Silvesterabend gab es bei mir sogar Glühwein. Moritz ließ mich aber allein. Er hatte wieder seinen Ausgehtag.

Um Mitternacht stellte ich mich im Mumiensaale an das geöffnete Fenster und wartete auf das Schlagen der Turmuhren. So trat ich in das Jahr 1915 ein – in Gesellschaft von fünf einbalsamierten peruanischen Leichen. Aber die stillen Gefährten störten mich nicht. –

Dann begann wieder das alte Leben, dem es an kleinen Aufregungen nicht fehlt. Ich mußte je beständig auf der Hut sein, stets plötzliche Besuche fürchten.

Am 10. Januar 1915 gab es auch eine große Aufregung. Und das kam so.

Gegen neun Uhr abends machte ich meinen gewöhnlichen Spaziergang, das heißt, ich nahm die Dupl.-Schlüssel mit und die verhüllte Laterne und wanderte von Zimmer zu Zimmer, von Saal zu Saal. So war ich auch in die Altlitauische Abteilung für Architektur im rechten Seitenflügel, 2. Stockwerk, gekommen.

Der Himmel war dicht mit Wolken bedeckt. Über der Erde lagerte eine solche Dunkelheit, daß ich durch das Flurfenster von oben den Schnee nur wie etwas Hellgraues schimmern sah. Ich stand eine Weile am Fenster und schaute in den Hof hinab. Der Posten schritt träge, eingehüllt in einen langen Pelz, auf und ab. Er konnte mich unmöglich sehen. Als ich dann meinen Weg fortsetzen wollte, glitt durch einen unglücklichen Zufall das die Laterne verhüllende Tuch herab. Obwohl ich mich natürlich blitzschnell bückte, mußte ich doch fürchten, von dem Soldaten unten bemerkt worden zu sein. Jedenfalls hatte das Licht der Laterne einen Augenblick ziemlich grell hinter dem Fenster aufgeleuchtet.

Ich hielt es daher für ratsam, schleunigst in den Hauptflügel zurückzukehren, um festzustellen, ob der Posten vielleicht in der Wachstube eine Meldung erstatten würde. Aber nichts passierte. Ich war die Haupttreppe bis zum ersten Stockwerk hinabgestiegen und lauschte hier wohl zehn Minuten angestrengt. Erst als alles ruhig blieb, wollte ich wieder in den Seitenflügel zurückkehren.

Ich wollte … gerade hatte ich einen Schritt getan, als ich hinter mir ein Klirren hörte, wie wenn ein Gewehrkolben gegen die Mauer stößt. – Ich fuhr herum. Die Dunkelheit war hier im Treppenhause jedoch noch tiefer als draußen im Freien. Sehen konnte ich nichts. Aber ich vernahm jetzt auch ein leises Scharren, ein Klappern und unterdrückte Atemzüge …

Ein Mensch schlich die Treppe empor mir entgegen … Es konnte nur der Posten vom Hofe sein … Ein schlauer, ehrgeiziger Bursche jedenfalls. Er wollte allein feststellen, was der Lichtschein im Seitenflügel zu bedeuten gehabt hatte. Auf Strümpfen kam er herbei – ganz lautlos. Aber doch nicht leise genug.

Behutsam stieg ich jetzt selbst ebenfalls Stufe für Stufe nach oben. Uns beide trennten vielleicht nur sechs Stufen. Aber wir sahen nichts voneinander.

Dann fühlte ich mit einem Male eine Berührung an meinem rechten Fuße. Es war Moritz, der Kater, der sich zärtlich an mir zu scheuern suchte.

Moritz …!! Der kam mir wie gerufen. Dem schlauen Russen wollte ich doch einen gehörigen Schreck einjagen …

Der Kater, den ich auf den Arm genommen hatte, miaute leise. – Ein Stück unter mir wieder ein leisem Klirren. Der Posten hatte das Gewehr wahrscheinlich an die Wand gestellt. Ich hörte Rascheln von Stoff, dann sah ich einen feinen, kurzen, leuchtenden Strich …: der Russe wollte ein Zündholz anreiben …!!

Jetzt war es Zeit. Keine Sekunde zögerte ich länger, warf Moritz auf gut Glück nach der Stelle hin, wo ich den leuchtenden Strich bemerkt hatte …

Ein Fauchen – unterdrücktes Fluchen, lautes klapperndes Poltern … Das Gewehr war umgefallen und glitt die Stufen abwärts …

Da stürmte ich weiter die Treppe empor, schloß leise den Mumiensaal auf, versperrte die Tür wieder hinter mir und holte erst einmal, stehend bleibend, tief Atem.

Dann überlegte ich. Sollte ich es wagen, in meiner Behausung abzuwarten, was nun geschehen würde …?! – Ich rechnete ja bestimmt damit, daß dem Posten jetzt die Lust vergangen sein würde, das stille Haus allein zu durchsuchen, und daß er die Wache unten alarmieren werde. Ich mußte fraglos auch darauf gefaßt sein, eine Durchsuchung des Museums zu erleben, wie ich sie so sorgfältig noch nicht durchgemacht hatte.

Nein – unter diesen Umständen war es doch wohl besser, wenn ich mich dem Schutze der Mumie wieder anvertraute. Vorher aber wollte ich noch aus meiner kleinen Behausung alles entfernen, was mich verraten, das heißt, was darauf hindeuten konnte, daß in der Kammer jüngst noch ein Mensch sich aufgehalten haben müsse. Jeden Gegenstand, der Verdacht erregen konnte, stopfte ich daher in das Versteck in dem Ruhebett. Immerhin nahm dies einige Zeit in Anspruch. Als ich dann den Mumiensaal wieder betrat und das schwere Gewebe vor der Tapetentür unten festhakte, hörte ich schon, daß es in den Korridoren des Museums sehr lebhaft zuging.

Schleunigst schlüpfte ich in den Mumiensarg. Das bankähnliche Gestell erhielt seinen Platz wieder unter dem Fester. So gut es in der Dunkelheit ging, glättete ich die Decken über mir und legte die Mumie zurecht.

Dann hieß es warten. Ich kann nicht sagen, daß ich Furcht empfand. Ich verließ mich eben ganz sicher auf diesen uralten, unheimlichen Schlupfwinkel, in dem es so merkwürdig aromatisch roch.

Plötzlich Schritte und Stimmen im Saale; aber auch das feine Klirren von Sporen. – Sollten etwa auch Offiziere sich an der Suche beteiligen?!

Bald leiser, bald lauter vernahm ich eilfertiges Hinundhergehen, Sprechen und Zurufe, ebenso das Fortschieben schwerer Gegenstände, fraglos der Schränke, die an der Ostseite des Saales an der Wand standen.

Dann ganz nahe bei mir Sporenklirren … Jetzt eine Stimme in gebrochenem, hartem Deutsch:

„Wissen Sie, wie alt diese Mumie sein mag?“

Und in breitem Ostpreußisch erwiderte ein rauher Baß:

„Auf achthundert Jahre schätzt man sie, Herr Hauptmann.“

„So … Ein ganz großes Alter. – Und der Kasten stammt auch aus Peru?“

„Jawohl, Herr Hauptmann.“

Ich merkte, daß jemand die Decken berührte. Mein Herzschlag stockte … Aber die Gefahr ging vorüber.

Das Sporenklirren entfernte sich. Ich hörte das Zuschlagen einer Tür. Es wurde ganz still im Saale.

Die Minuten schlichen träge hin. Wieder peinigte mich ein furchtbarer Hustenreiz …

Dann war es mir, als knarrten die Dielen ein wenig. Ich glaubte auch schleichende Schritte zu hören. Und mit einem Male lüfteten sich gerade über meinem Kopf die Decken, ein heller, rötlicher Strahl traf mein Gesicht …

Verloren …, verloren!! – Das war mein einziger Gedanke. – Sehen konnte ich nicht. Die Laterne blendete mich zu sehr … Ein Schwächeanfall infolge der aufs höchste gesteigerten Aufregung brachte mich einer Ohnmacht nahe …

Und wie aus weiter Ferne drang nun ein heiseres Flüstern an mein Ohr:

„Bleiben Sie in Ihrem Versteck, mindestens noch eine Stunde … An der Westseite der Rückwand dieses Saales hinter den altlitauischen Teppichen gibt es eine Kammer. Die Russen haben sie nicht entdeckt. Dort warten Sie auf mich. – Sie sind doch ein Landsmann, – ein Deutscher, nicht wahr?“

Ich nickte nur mechanisch mit dem Kopf. Die Decken fielen wieder zurück …

Gerettet …!! – Es mußte einer der Museumswächter gewesen sein … Der Mann hatte wahrscheinlich das Gestell unter dem Fenster bemerkt und sofort vermutet, daß unter der Mumie sich jetzt eine lebende Stütze befinden müsse …

Die Schrecken dieser Nacht waren jedoch noch nicht vorüber. Wieder Schritte, Stimmen, Sporenklirren, dann der russische Hauptmann dicht vor dem peruanischen Sarge: „Morgen werden Sie also die Mumien sorgfältig verpacken. Es sind sicher wertvolle Raritäten. Sie werden nach Petersburg gebracht werden …“

Aber auch dies ging vorüber. Ich war allein in dem Saale, und jetzt blieb ich es auch. – Vor Erschöpfung schlief ich ein. Erst gegen Morgen erwachte ich und kehrte in meine Behausung zurück.

Vielleicht zwei Stunden später klopfte es leise an die Tapetentür. Ich öffnete. Es war ein graubärtiger Mann mit einer großen Stahlbrille vor den vertrauenerweckenden Augen. Schnell reichte er mir vier Päckchen zu und einen Zettel, flüsterte: „Schließen Sie sich wieder ein … Nachmittags hoffe ich längere Zeit mit Ihnen sprechen zu können.“

Auf dem Zettel stand nur: „Ich bin der Museumsdiener Baltrusat. Ich werde Ihnen helfen. – Vernichten Sie den Zettel.“

Nachmittags ließ man den Alten bei seiner Packerarbeit allein. Da wagte er es denn, mit mir zu verabreden, wie er mich am besten unterstützen könne. – Er meinte, Flucht aus der Stadt wäre zu gefährlich. Ich solle bleiben, wo ich war, nur vorsichtiger sein. Er würde mir an jedem dritten Abend ein Paket Lebensmittel in den Nachbargarten dicht an die Museumsmauer legen. Lange könne mein Einsiedlerdasein nicht mehr dauern. Er habe erfahren, daß Hindenburg eine große Sache zur abermaligen Befreiung Ostpreußens plane.

Dann verschwand er wieder. – Auch die vier Päckchen vom Vormittag hatten Proviant enthalten. Nun war ich die schlimmste Sorge los. Mein seltsames Leben in dem großen Hause wurde jetzt beinahe eintönig. Ich bekam von Baltrusat alles, was ich brauchte, sogar Bücher. Nur Petroleum konnte er nicht auftreiben.

Wie ungeduldig habe ich damals auf „die große Sache“ von Hindenburg gewartet, wie oft am Saalfenster gestanden und in die Nacht hinausgehorcht, ob denn der Geschützdonner nicht näherkommen wollte. – Wochen vergingen … Dann – endlich – endlich!!

Die Winterschlacht in Masuren brachte mir die Befreiung …!! Hindenburgs „große Sache“ hatte sich bewahrheitet …

Eines Abends merkte ich, daß das Krachen der Geschütze näherrückte, daß die Russen eiligst die Stadt verließen … Gegen Mitternacht erschien Baltrusat im Mumiensaal. Er hatte den Sieg offenbar schon stark gefeiert – mit „Bärenfang“, dem ostpreußischen Hausschnaps, bestehend aus reinem Alkohol und Honig. Seine Stimme war nicht mehr ganz fest … Er umarmte mich.

„Kommen Sie – kommen Sie, Herr, die Russen sind weg!!“

Mir wurden die Augen feucht … – –

Als ich auf die Straße Arm in Arm mit dem braven Baltrusat hinaustrat, jagte die erste deutsche Ulanenpatrouille an uns vorüber …

Frei …, frei …!! – –

Ich habe zwei hübsche Erinnerungen an mein Robinsondasein im Stadtmuseum: eine Photographie der peruanischen Mumie in dem Sarge – und Moritz, den Kater …

Besäße ich sie nicht, so würde ich sicher schon nach einem Monat im Zweifel gewesen sein, ob ich all das Merkwürdige jener langen Wochen in der Einsamkeit des großen, stillen Hauses nicht nur geträumt hätte …

 

Ende.

 

Der nächste Band enthält:

Der Zauberer der Balibulla-Klippen.

 

Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin.