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Die Spur ins Jenseits

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Die Spur ins Jenseits

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 47 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Der Todessang der Sahara.

Die zackigen Felsen warfen tiefschwarze Mondschatten …

Diese Schattenbilder auf dem hellen Geröll und Wüstensand waren von wunderlichster Form und regten die Einbildungskraft an, ihre Figuren zu Fabelwesen umzudeuten.

Die wenigen Palmen drüben neben dem Wasserloch verneigten sich im Nachtwinde wie aus Ehrfurcht vor den weißgelblichen Gebeinen, von denen die Zisterne wie von einem schauerlichen Gehege umfriedet war.

Ich horchte wieder, die Hand zum Schalltrichter um die Ohrmuschel geschmiegt.

Die andere hielt die Büchse.

Entsichert … Neun Schuß im Magazin …

Das gab, wenn es nicht anders ging, neun Tote …

Ich hatte diese Geschichte satt, ich ließ mich nicht mehr Nacht für Nacht narren und von meinem Lager weglocken.

Man wollte mich zermürben …

Tagelang ging das nun so.

Nachts keinen Schlaf, am Tage, wenn die Sonne über der Sahara flimmerte in quälender Hitze, dasselbe Spiel …

Ich hatte die Taktik nun durchschaut …

Das war alles kein Zufall, das war Absicht, – nein, gemeinste, feigste Mordfalle.

So war es …

… Ich horchte …

Mein Blut siedete vor Müdigkeit …

Die Trommelfelle täuschten mir vielleicht im Brausen dieses Blutkreislaufs Töne vor, die ein weniger abgehetzter Kadaver nie wahrgenommen hätte.

Aber ein Mensch, der körperlich so herunter ist, daß er im Stehen einschlafen würde, ist nicht mehr Herr seiner Ohren …

Sie belügen ihn …

Vielleicht …

Grade weil das Blut in den Arterien kocht und die Schläfen zu sprengen droht …

Da …

Da war es wieder …

Stets dasselbe …

Stets …

Und das war das Niederträchtigste bei alledem, diese ewige, unerschütterliche Umwandelbarkeit der dumpfen klagenden Schreie …

Als ob die Seelen Abgeschiedener, dem Fegefeuer entronnen, ihre Pein unsichtbar den Sterblichen mitteilten …

Der Ton … Dumpf, sanft anschwellend, sanft vibrierend, und dann jählings – – Stille …

Bis derselbe Ton, beginnend mit dem Schlußakkord des zitternden Tremolierens, wieder langsam hinabglitt in die Tiefe seiner ursprünglichen dumpfen Qual und ausklang in einem satanischen Hohngelächter …

Schlimmer als das schaurige Gröhlen der leichenfressenden Hyänen …

Da …

Da war es wieder …

Diesmal von der Zisterne her …

Ich hielt mich sprungbereit, ich wollte dem Spuk ein Ende bereiten, – so oder so …

… Da waren die Palmen, die Steine und die Felsen um die uralte Wüstenquelle, der Kranz von Skeletten von Mensch und Tier, Wahrzeichen stiller Tragödien der großen Einsamkeit größter pfadloser Sandwüsten, Felsenverhaue: Sahara!

Diesmal war ich klüger gewesen als die, die mich morden wollten durch Mangel an Schlaf.

Diesmal war ich ihnen zuvorgekommen. Hatte mein Lager absichtlich drüben aufgeschlagen auf der Nordseite der kahlen Zacken und war zwischen Dämmerung und Sternenlicht hierher gekrochen wie ein waidwundes Tier …

Ich sah etwas … –

Endlich – seit fünf Tagen – – endlich!

Fünf Tage, fast ohne Schlaf, dazu vierzig Grad Hitze, und dazu die brennende Angst um die Geschöpfe, die mir bisher treu gedient: Fünf Tiere insgesamt, aber abgemagert wie ich, jede Rippe zu zählen …

So hatten diese Teufel uns genarrt und geweckt und gefoltert und dazu jedes Wild verscheucht …

Schakalfleisch hätte ich gefressen …

Es gab keine Schakale …

Es gab nur die Aussicht auf das Ende, das Jenseits, den ewigen Schlaf und … auf Überreste unserer selbst wie die da drüben: Skelette!!

– Ich sah etwas …

Die äußerste Palme rechts, die dickste, deren buschige Krone einen pechschwarzen Schattenfleck auf die Düne malte: In diesem Schattenfleck bewegte sich ein gespenstischer Arm, endlos lang, gekrümmt, – – und daß auf diese Weise das Nachtgestirn mein Verbündeter wurde, ahnte der Schurke da oben nicht …

Vieles ward mir urplötzlich klar, was bisher dunkelstes Geheimnis. Hier am Nordwestrande des großen Abseits der Sahara hatten noch überall vereinzelte Palmengruppen gestanden …

Also auf die Art hatte man es angefangen, nie eine Fährte zu hinterlassen und selbst die feinen Nasen meiner Hunde zu betrügen …!

… Der Schattenarm hob sich …

Krümmte sich stärker …

Das Konzert begann abermals … –

Ich Narr!!

Eine Muschel war es, auf der der Halunke dort seine Klagelieder blies, eine jener Riesenmuscheln, für die die Beduinen ungezählte Schaffelle zahlen, weil von jeher der Aberglaube in ihren Köpfen spukt, diese Muscheln seien heilig, seien Mohammeds erste Kampftrompeten gewesen.

Ich lächele grimmig und rachsüchtig. Fünf Tage, fünf Nächte ohne Schlaf …

Das gibt bei der Abrechnung eine fünfstellige Zahl, und die erste Ziffer ist eine Kugel, und die nächsten sind Nullen, – – die Null ist nichts, ist der Tod.

Die Palme stand keine achtzig Meter entfernt, und bei dieser Mondhelle war ich mir meines Schusses sicher.

Ich hatte Zeit …

Ich nahm das Fernglas, beäugte die Baumkrone, und ich … lachte leise …

Eine Palmenkrone dicht wie ein Flederwisch aus Hahnenfedern …

Freundchen, welche Arbeit!! Wieviel Palmenzweige mußt du da zusammengeflickt haben für dein Nest!

Tute nur, – ich sehe deinen Ellenbogen, und du wirst sehr bald …

Der Gedanke riß ab …

Der blecherne, kurze Knall der Repetierbüchse entweihte das Traumland der Nacht …

Ein Schrei …

Ein Brechen von Zweigen, und hinab in den Sand saust ein Körper, rollt die Düne hinab und verschwindet.

Wie ein Blitz bin ich auf den Beinen, – – achtzig Meter, lange Sprünge …

Nichts mehr von Erschöpfung …

Nichts …

Da ist der Brunnen, die Skelette, die Felsen und die Sandwoge neben der Palme …

Noch drei, vier Sprünge …

Aber – – das Feuer erlischt in dem brausenden Hirn, wie gebannt stehe ich, – – der Vollmond und das Lichtermeer des Firmaments bescheinen die stille Gestalt …

Schuldbewußtsein preßt mir die Kehle zusammen. War ich denn von Sinnen, als ich, der Gehetzte, mich meines Schusses noch sicher wähnte?!

Auf den Unterarm hatte ich gezielt …

Und was getroffen?!

Bleierne Schwere kriecht mir durch die Glieder …

Alles hätte mein siecher Leib ertragen, – – dies nicht!

Das Nachtbild dreht sich in wilden Kreisen, und inmitten dieses tollen Wirbels geistert das feine zarte Gesicht eines halben Kindes als ewiger Vorwurf …

Wie denn?! Schlapp werden, – – hier, – – jetzt?!

Und ich bücke mich, schleppe in den Armen den leichten, schlanken Körper hinüber zu meinem kleinen Nomadenheim, einem armseligen Zelt …

 

2. Kapitel.

Drei Saharastrolche.

Altklug, sehr gemessen sitzt Trasso neben der Lagerstatt.

Mager wie ein Winterwolf in Kanada …

Ist auch ein Wolf, zur Hälfte, von seinen Ahnen her.

Der andere, Ghost, auch eine wunderliche Mischung von Viehzeug, bearbeitet mit der stumpfen Schnauze und den Zähnen die leckeren Reste einer – –, nennen wir es Antilope! Kann auch anders heißen, – weiß es nicht … Man schlage in Brehms Tierleben nach.

Altklug betrachtet Trasso den Zuwachs unserer Karawane und rührt sich nicht. So sitzt er immer, wenn „sie“ schläft …

– Die Kugel hatte ihr nur die Schläfe geschrammt und ihr nur ein paar goldblonde Haarbüschel mit fortgefegt. Die Wunde war nicht arg, und jetzt, etwa achtzehn Stunden nach dem bösen Fehlschuß, ist im Grunde dieses blutjunge, zähe Mädel mit uns allen bereits so eng verwachsen, als hätte sie von Anbeginn zu uns gehört.

Wir lagern noch an derselben Stelle, und das kühle Wasser der tiefen natürlichen Zisterne drüben hält uns fest …

Und noch etwas: Miß Evelyns Verletzung und die Gewißheit, daß jede weitere Suche nach den Fährten, denen ich ursprünglich gefolgt war, zweckloses Mühen gewesen wäre.

Also: Evelyn schläft, Trasso bewacht sie, was ganz unnötig ist, und Ghost kaut und die Dromedare kauen das Gras, das ich von der Zisterne holte.

– Das Leben ist bunt wie ein bleigefaßtes, figurenreiches Kirchenfenster.

Die, die draußen stehen, sehen nur die Figuren …

Die anderen, die sich in den Tempel der unverfälschten Natur hineinwagen, erblicken die grellbunten Kringel, die die Sonne auf den ernsten Steinboden malt …

Und das sind die Erlebenden …

Die draußen, – es bleiben Zuschauer, Ahnende, Fremdlinge im bunten Abseits.

Das Leben führte mich von den Gestaden des Atlantik bis in diese Wildnis der Sanddünen und kahlen Felsen und spärlichen Palmen und kläglichen Büsche und Gräser …

Das Leben schenkte mir ein halbes Kind, das Kind der Sahara: Evelyn!

… Sie schläft. Draußen sinkt der Sonnenball, und ich habe ganze sechs Stunden ebenfalls in bleiernem Schlaf versunken gelegen. Bin wieder Mensch geworden … Betrachte das Erlebnis mit ausgeruhten Sinnen und halte mir vor, daß all das, was hier im Umkreis von vielleicht fünfzig Meilen in den letzten fünf Tagen geschah, eine tiefere, verborgene Bedeutung haben muß, die vielleicht – ich kann mich täuschen – den einen Endzweck hatte, mich von jener Fährte wegzulocken, die ich voller Hartnäckigkeit bis dahin verfolgt hatte, und „bis dahin“ heißt: Bis zum ersten Ton der Muschel, deren zartrosa Farben wie künstliche Innenglasur dort neben Evelyns Lager schimmern.

Der Weg, den ich als Verfolger der lockenden und unheimlichen Töne zurückgelegt habe, wird einer Spirale geglichen haben, deren größter Durchmesser wahrlich nicht mehr als fünfzig Meilen betragen dürfte, – mit einem Wort: Evelyn hat mich wie einen Blinden unmerklich geleitet, und mein eigener Wille zerfloß in stiller Wut und legte mir selbst die Binde um die Augen durch das lächerliche Spiel mit einer Muschel. Ob es Evelyn allein tat, ob sie nicht Helfershelfer hatte, bleibe vorläufig dahingestellt, trotzdem die Muschel zu oft von den seltsamsten Stellen mich weckte und wie ein windschneller Vogel ihren Platz wechselte. Genau wie auch das eine in Rechnung zu ziehen ist, daß die Felsen und Felsschluchten, die aus dem Sandmeer herauswachsen wie groteske Ruinen, den Schall ablenken und Gehörtäuschungen begünstigen.

Und wie ich so auf dem Klappstuhl am Zelteingang sitze und das schwelende Feuer überwache, das im Wasser des mattsilbernen Aluminiumtopfes die Perlchen bereits am Boden hochquellen läßt, zieht es mich mit aller Macht hinüber zu dem Wüstenbrunnen mit seinem weißen Kranz von Mensch- und Tiergebeinen, und ich rede mir ein, ich müßte dort etwas entdecken, – – vielleicht … vielleicht, schrumpft die Hoffnung wieder zusammen …

Ich war ja schon vor Stunden dort, als ich die Antilope schoß, die eine seltsame Kreuzung zwischen einer grauen schlanken Ziege und einem hochbeinigen Reh darstellte.

Dennoch: Wenn erst das in Würfel geschnittene Fleisch im Topfe im siedenden Wasser sich verfärbt, will ich es abermals versuchen … Evelyn wird trotzdem nicht um ihre kräftige Fleischbrühe kommen. Wozu besitze ich denn zur Zeit so patentierte vornehme Dinge wie Aluminiumtopf mit festem Deckel und allen Schikanen eines Gefäßes zum Schnellkochen?!

… Müßige Gedanken … – Das Wasser kocht, hinein mit dem Fleische, und ich greife zur Büchse. Die Sonne ist soeben verschwunden, noch lagert der Wiederschein des farblosen Himmels mit berauschenden bunten Flecken über Dünen und Felsen, und ich tauche hinein in die freudige Orgie letzter Grüße des schwindenden Tages und stehe droben auf der höchsten Kuppe hinter einer Zacke und genieße warmen, dankbaren Herzens das herrliche Abseits der Wüste.

Leer der Horizont, leer die Täler, leer die Klüfte, – kein Lebewesen stiehlt mir die Andacht dieser Minuten.

So habe ich oft gestanden und den Allschöpfer gespürt wie ein greifbares Wesen durch die Wunder seiner Werke … Die einen nennen ihn Gott, die anderen Allah, die dritten Buddha, die vierten Brahma. Namen sind nichts. Die Natur ist alles, die einsame, unberührte Natur, nicht jene dem Menschen dienstbar gemachten Felder, auf denen das Korn wogt, nicht jene in schnurgeraden Reihen aufgeforsteten Wälder, – – der Hauch vergänglicher, künstlicher Anmut haftet ihnen an: Leichengeruch, weil nur Zweckware, Handelsgut.

Und doch zerplatzt selbst diese andächtige Stimmung wie eine Seifenblase vor der einen Wahrnehmung. Dieses innerliche Sichumstellen ist Sekundenwerk. Man lernt es im Abseits, man darf nie Träumer sein.

Vor der einen Wahrnehmung …

Nein, die Wüste ist nicht so leer, wie es schien, und wenn es auch nur klägliche Wesen sind, die nun dort hinter den Felsen des Zisternenrandes sichtbar werden: Es sind Menschen, Männer in Lumpen, Männer mit wirren, wilden Bärten, braun wie dunkles Leder die Gesichter, hager und knochig die Gestalten, und trotzdem Europäer, Weiße, trotzdem in Haltung und Benehmen vollendete Gentlemen … Sie trinken aus einem Blechnapf, mit dem sie das Wasser geschöpft haben, sie reichen den Blechnapf weiter mit einer Verbeugung, als befänden sie sich in irgend einer eleganten Hotelbar, wo halb zum Scherz ein Silberpokal mit einer raffinierten Mischung gaumenkitzelnder Getränke kreist.

Ein merkwürdiges Trio bei näherem Hinsehen. Der eine reifstes Mannesalter, Silberfäden im Bart, der zweite jünger, breitschultrig, stattlich, der dritte schmal in den Schultern, zierlich-zart gebaut, und der blonde Bartwald mehr ein dünner Flaum.

Achtzig Meter sind keine Entfernung für meine Augen. Ich bestaune die drei, als wären sie vom Himmel gefallen. Ich bewundere ihre breiten Basthüte, die schmierigen Nackenschleier, die kärglichen Reste von längst verfärbten Khakiröcken, um die sie zerplatzte Riemen geschnallt haben, an denen jedem von ihnen zwei Pistolentaschen an die mageren Hüften schlagen.

Woher kamen sie?! Zu Fuß?! … Und meine Augen gleiten in die Ferne des Sandmeeres, wo durch die Dünen die frische, breite Fährte plumper Stiefel läuft, von Südost zur Zisterne …

Sie kamen zu Fuß aus dem großen, endlosen Grauen der Sahara, aus der Unbarmherzigkeit einer pfadlosen Weite, in die man ganz Europa verstecken könnte … –

Die drei Vagabunden des Sandmeeres sprechen zueinander, ihre Lippen bewegen sich, sie beraten, sie haben meine Spuren bemerkt, und die scheue Vorsicht gehetzten Wildes überträgt sich auf Haltung, Blicke, hastiges Tuscheln.

Sie bücken sich, mustern meine Spuren, mustern die Fährten von Trasso und Ghost, und ihre Augen tasten den steilen Felsrücken ab, der ihnen die Aussicht gen Norden versperrt. Ein flüchtiger Gedanke huscht mir durch den Sinn: Entflohene Legionäre!

Doch nein, – ich weise die Vermutung zurück. Die zerfetzten Khakiröcke und Reithosen, die Reste der kokett aufgesteppten Taschen und die Vergänglichkeit von seidenen Hemden, denen immer noch der Glanz teuren Gewebes geblieben, sprechen dagegen.

Das Abseits macht vorsichtig, aber auch mitleidig.

Die Hüften der hageren, lederumgürteten Gestalten sind Wespentaillen. Hunger und Entbehrungen verraten die fleischlosen Gesichter.

Ich habe bisher tadellos in Deckung gestanden.

Ich werde die drei anrufen … Ich rühre mich, will einen Schritt zur Seite treten.

Will …

Eine kleine Hand krallt sich in meine Schulter, und eine Stimme, die Evelyn gehören muß, und die trotzdem vollkommen fremd klingt, zischt mir wie das Urteil einer gefühllosen Herrscherin befehlend ins Ohr:

„Bleiben Sie!! Keine Bewegung! Es geht hier um mehr als nur drei Menschenleben, Mister Abelsen!“

Ich drehe den Kopf, und die Blässe des Antlitzes meines Schützlings und die grauen, großen, flackernden Augen wollen mehr besagen als die Waffe in der zierlichen Hand.

Sich umstellen ist Sekundenwerk …

Eine völlig andere Evelyn steht vor mir. Alles Kindliche, Zarte ist entschwunden wie eine Maske.

Die Frau, die mir befiehlt, die drei dort ihrem Schicksal zu überlassen, ist reif und beweist mir, durch welche Lebensschule sie gegangen ist – eine Schule voller Dornen und freudloser Stunden.

Aber im Übereifer, eine Einmischung in das Geschick der drei zu vereiteln, ist ihr endlich eine Redewendung entschlüpft, an die ich mit meinen Fragen anknüpfen kann.

„Wenn es um mehr als nur drei Menschenleben geht, Miß Evelyn, werden Sie dies begründen müssen …“

Ihre Augenlider flattern, ihre Mundwinkel zucken, und das Blut schießt ihr in die Wangen.

„So?! Ich muß?! Muß?! Glauben Sie das wirklich?! Hier gebietet nur einer: Ich!“

Zum ersten Male gewahre ich an ihr das herrische Zurückwerfen des Kopfes … Eine herausfordernde, stolze Bewegung, die nichts Mädchenhaftes an sich hat. Zum ersten Male sind mir ihre Stimme und ihre Augen fremd. Das halbe Kind, als das ich diese Evelyn bisher einschätzte, trägt einen Januskopf. Ich fühle, wie sehr sie an blinden Gehorsam gewöhnt ist, – sie muß doch älter sein, als ich es bisher geglaubt habe, und allmählich greift der Verdacht immer stärker in meiner Seele feinste Schwingungen hinein, daß ich hier nur eine jener großen Abenteurerinnen vor mir haben könnte, denen das dunkelste Afrika unschwer Gelegenheit bietet, ihre zügellosen Launen und Gelüste unter primitiven Nomaden sich ausleben zu lassen.

In den Händen einer solchen Frau ist die Pistole kein Spielzeug, und im Munde dieser Evelyn ist „Hier gebietet nur einer!“ keine leere Phrase.

„Sie sind ein recht anmaßendes Mädel, Evelyn …“, – ich lächele dazu so harmlos-nachsichtig. „Trotzdem, – was liegt mir an den drei Fremden? An Ihnen … sehr viel!“

…Auch das Abseits vom Alltag hat seine häßliche Diplomatie.

Evelyns Züge entspannen sich … Sie nickt zufrieden, schiebt ihre tadellose Pistole in die Ledertasche, und – mehr wollte ich nicht …

Als ich ihre Handgelenke packe, wird sie bleich.

Tödlicher Schreck flackert in den Augen …

„Abelsen, – – ich warne Sie!!“, – aber das verfängt nicht mehr, und als ich ihr die Arme nach hinten drücke und mit dem Taschentuch fessele, steht sie wie versteinert …

„Oh – Sie haben mich getäuscht …!“, – – das ist alles, und das klingt so kindisch-naiv, daß ich meine Brutalität fast bereue …

Ein Blick nach der Zisterne hinüber … Die drei Vagabunden der Sahara sind nun doch auf uns aufmerksam geworden, der eine, der älteste, kommt langsam näher, beschleunigt plötzlich seine Schritte, macht vor uns halt, mustert Evelyn scheu und flüchtig, als ob ihr geringschätziges Lächeln ihn verwirre, betrachtet mich genauer, grüßt höflich und sagt in einem Tone, der zwischen Angst und etwas mühsam hervorgekehrter spöttischer Gleichgültigkeit sehr unausgeglichen schwankt:

„Wer Sie auch sein mögen, Sir, – diese Katze kratzt! Lassen Sie sie besser laufen … Das ist kein Kätzchen, Sir, – ich will nicht von einem ausgewachsenen reizbaren Kater reden, das wäre unhöflich … Aber ich betone: Lassen Sie sie laufen …!“

„Und wenn ich es nicht tue?!“

Er deutet ein Achselzucken an … Seine braune, schmale Hand hebt sich, und die Fetzen des Ärmels umflattern den fast ebenso braunen muskulösen Arm. Er deutet auf den Wall von Knochen um die Zisterne.

„Sir, legen Sie Wert darauf, den Zaun dort zu erhöhen?! Ich nicht …! Ich kenne Sie nicht … Aber …“

… Pause …:

Und dann noch eindringlicher, noch leiser und unter hastigen Atemzügen …

„… Aber wir würden uns unbedingt im Jenseits kennenlernen, Sir, – mehr wage ich nicht anzudeuten, – ich meine es gut mit Ihnen.“

Sein mageres, faltiges Gesicht wendet sich zur Seite … Seine Worte blieben nicht ohne Eindruck auf mich … In seinen Augen geistert etwas, das über den Begriff Furcht hinausgeht. Der Mann ist kein Feigling.

In das beklemmende Schweigen schrillt Evelyns Stimme hinein wie abwehrender Peitschenknall:

„Das ist nicht wahr! Ich bin keine Mörderin!“

Der Fremde sagt geistesabwesend:

„Und woher der Knochenwall?!“

„Schämen Sie sich, Lord Garling! Sie sind kein Gentleman mehr!“ Evelyns Stimme zittert vor ohnmächtiger Verachtung.

Der Vagabund, der ein Lord Garling sein soll, nickt wehmütig. „Nein, – kein Gentleman, – vielleicht nicht mehr.“ Dann hebt er den faltenzerfurchten Charakterkopf und schaut mich an.

„Sir, – lassen Sie sie laufen … Die Nacht naht, und wir werden Stunden der Ruhe finden, bevor der Todessang der Sahara von neuem beginnt … Lassen Sie sie laufen! Aber behalten Sie die Muschel … Miß Evelyn ohne Muschel ist vorläufig ungefährlich. Was nachher geschieht, – sterben müssen wir ja alle einmal …“

Das Mädchen ist zurückgewichen … Ein wilder Trotz gibt ihren wandelbaren Zügen abermals etwas unfaßbar Kindliches …

„Ohne Muschel verlasse ich die Zisterne nicht!“

Lord Garling deutet auf die Dromedare.

„Sir, – dann mit Gewalt! Fort mit ihr!! Wenn es sein muß, bringe ich sie nach Nordost stundenweit … Und es muß sein! Ich kann Ihnen erst später Erklärungen geben … oder meine Freunde … Hören Sie auf mich … Ich gebe Ihnen mein Wort: Dieses Mädchen ist der Tod in der lockenden Hülle der Jugend!“

Evelyn lacht … Es klingt wie ein Verzweiflungsschrei … „Gut, – – ich gehe!! Aber …“

„Nein, Sie reiten!“, unterbrach Garling schroff. „Je weiter weg, desto besser …!“

Evelyn spricht kein Wort mehr …

Garling trabt mit ihr in die beginnende Dunkelheit hinein, und Trasso heult kläglich hinterdrein …

 

3. Kapitel.

Auf der Spur der Muschel.

Männer, die sich im Abseits finden, werden schnell miteinander vertraut. Ich hatte keinen Grund, ihnen meinen Namen zu verschweigen, aber der Name blieb ohne Eindruck auf sie.

Garlings Leidensgefährten heißen Sir Malcolm Harris, – das ist der starkknochigste, breitschultrigste und zweifellos energischste von ihnen, und der junge, mit dem flaumigen Bart, ebenfalls Engländer, nennt sich James Brighton.

Sie haben die Fleischbrühe als Gentlemen ausgelöffelt, und Evelyn saß abseits und rührte nichts an, sie haben mir flüchtig erzählt, daß sie bereits sechs Tage unterwegs seien und vorgestern ihr letztes Maultier mit der letzten Patrone erschossen und gebraten hätten, – so weit der Kadaver in dieser Gluthitze nicht in Fäulnis überging.

Aber sie redeten selbst von diesem Unwesentlichen mit vorsichtigen Ausdrücken und blickten immer wieder zu dem versteinerten Antlitz Evelyns hinüber und wichen doch den Augen mit hastiger Scheu aus.

„Später …“, vertröstete mich Harris, als ich auf eine Frage nach den Verfolgern eine Antwort erwartete.

„Nie!!“, sagte Evelyn aus ihrer Ecke so drohend, daß der junge Brighton den Hartzwieback, den er wie eine Delikatesse als Nachtisch verzehrt, fallen läßt und ob seines Schrecks errötet.

Mit diesem kurzen, schneidenden „Nie!“ ist des Mädchens Anteilnahme an meinen neuen Gefährten erschöpft und deren vorsichtige Gesprächigkeit unterbunden. Garling nimmt das beste der Dromedare für Evelyn, Evelyn und er traben davon, und die Ferne verschluckt sie.

Trasso heult jämmerlich. Seine zweite Liebe war Evelyn, seine erste bleibt sein Herr.

„Gott sei Dank!“, sagt Brighton und reckt sich. „So lange dieses Mädchen hier war, saß der Tod unter uns.“

Sir Harris gibt sich dem Genuß einer Zigarre hin und hat ein nachsichtiges Lächeln für den Überschwang der Jugend um die strengen Lippen.

„Sie übertreiben genau wie Garling, mein armer Junge“, dämpft er den Vorwurf gegen Evelyn ab. „Wir können ihr nichts Bestimmtes nachweisen, ihre Stellungnahme zu den Dingen ist völlig ungeklärt, und es ist daher besser, wir reden überhaupt nicht darüber … Mr. Abelsen würde uns ja doch kaum Glauben schenken.“

James, der eine Zigarette in den frisch gewaschenen Händen hält und den Rauch mit der Inbrunst eines Opiumschluckers in die Lungen einzieht, verbeugt sich höflich:

„Wie Sie wünschen, Sir Harris …“

Harris, auf dem Klappstuhl vor dem Zelt ein Riese auf einem Puppensitz, erwidert ernst: „Sie haben zweifellos Anspruch darauf, unsere Geschichte zu hören … Wir sind jedoch beide sehr müde, und wenn Sie gestatten, schlafen wir ein paar Stunden, bis Lord Garling zurückgekehrt ist. Die Erzählung würde sich auch nie mit einigen Sätzen abtun lassen, Mr. Abelsen. Nur die gründlichste Wiedergabe und unvoreingenommene Prüfung der Einzelheiten könnte mit Ihrer Hilfe Klärung bringen. Bedenken Sie: Wir waren volle vier Jahre für die Welt tot und lebten ein Leben, das die Hölle in sich schloß. – Was haben Sie, James?! Zum Teufel, bekommen Sie wieder Ihre Anfälle?!“

James Brighton hatte sich auf einem großen Stein niedergelassen und Trasso und Ghost die Köpfe gekraut. Die beiden Hunde waren angebunden, und Brighton hatte sich sehr rasch ihre Zuneigung erworben.

Jetzt war er hochgeschnellt und starrte in das Zelt hinein, wo die kleine Laterne sparsam nur die nächste Umgebung beleuchtete.

„Die Muschel, Sir Harris!!“, – er stand gebückt da und fixierte einen Punkt an dem einen Zeltstock über Evelyns verlassenem Lager.

„Was ist denn mit der Muschel?!“, lachte Malcolm Harris gereizt. „Sehen Sie schon wieder Gespenster, Sie …“

„… Die Muschel ist weg …“ flüsterte Brighton atemlos. „Mr. Abelsen, haben Sie sie anderswo hingelegt?!“

„Nein …“

Mir ist die Kehle eigentümlich rauh.

Wir waren vorsichtig genug gewesen, Evelyn nie aus den Augen zu lassen. – Wo ist die große Muschel?! Ihre zartrosa Lasur schimmerte doch im Laternenschein wie eine Riesenblume, – – ich könnte es beschwören, sie war noch da, als der Lord und Evelyn unser kleines Lager längst verlassen hatten!

Malcolm Harris, der den Kopf gedreht hat, stiert regungslos auf den leeren Fleck.

Das Blut weicht langsam aus seinen Wangen, und die Zigarre fällt zwischen die Steine.

Nicht genug hiermit, – fernher, von sanftem Nachtwinde getragen, klingen jäh die bekannten Töne herüber, die mich fünf Tage, fünf Nächte so tückisch zu einem Nervenbündel zermürbten …

Erst das dumpfe Heulen, – – dann die Pause, – dann das helle jämmerliche Tremolieren …

„Mein Gott!!“

Der junge James hat die Hände gegen die Ohren gepreßt, und sein Gesicht ist nur kalkige, erdige Fratze.

Seine Zigarette versengt seinen Haarwald, und der Gestank der knisternden blonden Mähne peinigt meine Nase.

Dieselbe Wut, die mich am verflossenen Abend das Mädel aus dem Palmennest herabknallen ließ, treibt mich in das Zelt …

Ein Griff nach der Zeltstange: Die Schnur der Muschel ist zerschnitten, und neben dem Zeltstock führt ein Schnitt durch das straff gespannte Leinen, gerade groß genug für eine Hand und auch für die Muschel.

„Gestohlen, Sir Harris, – ein Loch in der Zeltbahn!“

Malcolm Harris nimmt keine Notiz davon …

Der junge James schleudert die Zigarette weg und reibt die versengte Stelle.

Zum allerletzten Mal kommt da fernher – ganz fernher das Tönen der Muschel, kaum mehr vernehmbar herüber …

Man könnte glauben, es wäre nur das Säuseln des Windes …

Es ist die Muschel.

Malcolm Harris blickt mich traurig an.

„Abelsen, – – armer Garling!! Erledigt!!“

„Wie meinen Sie das?!“

„Wie ich es sagte: Tot!! Wir … wir kennen das!“

Eine dunkle Blutwelle steigt ihm zu Kopfe.

„Wir kennen das!!“, wiederholt er und greift nach seiner Zigarre.

„Ich werde es kennen lernen!“, – und ein Zuruf treibt das Dromedar auf die Beine, langsam erhebt sich das magere Tier, der Sattel klatscht auf seinen Rücken, ich ziehe die Gurte stramm …

Harris meinte trocken: „Wozu, Abelsen?! – Zwecklos!“

Der Mond kriecht gerade über den Kamm ferner Höhenzüge in das sternenbesäte Firmament hinein. Jene weiche Dämmerung, die der Einöde der Sahara einen unbeschreiblichen Zauber verleiht, breitet sich über uns hin, und der junge James Brighton, so jung, und doch an Lebenserfahrungen ein Greis, umschreitet das Zelt und hat Trasso an der Leine, will nach den Spuren des Diebes der Muschel suchen, aber das Zelt steht auf nacktem Gestein, und ich weiß von fünf Tagen und Nächten her, daß Trassos feine Nase gegenüber Evelyns Verbündeten versagt.

James’ Stimme flackert schrill wie eine zu scharf gespannte Seite.

„Abelsen, – – ein paar Blutflecken! Der, der das Zeltleinen zerschnitt, war zu hastig, hat sich die Hand verletzt, – nur so kann es sein!“

Trasso knurrt …

Das Knurren geht in ein halbes Winseln über. Er reißt an der Leine, er hat die Spur angenommen, und er strebt gen Nordost in die Sandwüste hinein …

„Harris, halten Sie mein Dromedar …!“

Ich bin neben Brighton, mein Finger verwischt einen dunklen Fleck auf dem Gestein, und meine Hand packt Trassos Riemen.

„Es ist Blut, Harris …! Ich lasse euch beiden meine zweite Büchse und die eine Pistole zurück. Munition findet ihr im Gepäck … Verlegt das Lager dort oben auf die Kuppe, baut einen Steinwall, rührt euch nicht vom Fleck, versorgt euch genügend mit Wasser … Auch Ghost mag bei euch bleiben … Ich bringe den Lord zurück, oder ich komme überhaupt nicht wieder … – Her mit den Wasserschläuchen … – So, lebt wohl … Keinen Widerspruch, Harris …!“

Das Tier, das ich reite, ist bisher nur Lasttier gewesen, taugt nicht viel, hat steife Gelenke, stolpert oft …

Das Geröll der Hügelausläufer liegt hinter mir. Der gelbe Sand, zusammengeweht zu Dünen und Tälern, aus denen oft genug das fahle Gestein hindurchgrinst, empfängt Trasso und mich mit der ersten Enttäuschung. Gewiß, der Wolfsbastard behält die Nase am Boden, aber dieser weiche, charakterlose Boden, Sandkorn an Sandkorn, zeigt keinerlei Eindrücke.

Ich kenne das ja … So war es immer, wie Hexerei: Keine sichtbare Fährte, – – als ob die Freunde Evelyns wie Geister über der Erde hinweggeschwebt wären.

Es ist ein beklemmendes Gefühl, dieses Rätsel nicht lösen zu können, und die anfängliche verbissene Wucht der Unternehmungslust zerfasert zu tastenden Gedanken.

Wir traben dahin, Trassos Eifer läßt nach, und mein Herz krampft sich zusammen, weil ich den Augenblick fürchte, wo der Hund ratlos im Kreise irren wird.

Das erste lange Dünental …

Fährten von Schakalen …

Wie überall …

Das Viehzeug selbst unsichtbar …

Felsboden, eine einzelne Sandwehe, oben spitz, aber an einer Stelle eingedrückt …

In der Druckstelle gewahre ich wieder die Schakalfährten. Und urplötzlich eine jäh aufblitzende Erkenntnis …

Raus aus dem Sattel …

Laterne her … Die Karbidgaszunge zischt, und das kalte, weiße Licht bescheint die Eindruckstellen.

Sekundenlang verhalte ich den Atem …

Das Rätsel ist gelöst … Schlaue Teufel, hier mit Brettern unter den Füßen zu operieren, und unten an die Bretter Schakalkrallen oder Pfoten festzunageln! Schlaue Teufel, – – nicht schlau genug! Diese Sandwehe verrät das Spiel.

Wie ein Gärtner, der Grassamen festtritt und dazu die Fläche seiner Schuhsohlen durch Bretter vergrößert, – nicht anders ist es hier! War es stets! Und ich alter Weltentramp habe mich narren lassen, weil diese Teufel so raffiniert gewesen, die Kanten der Bretter abzuschrägen, damit kein Randeindruck entstehe!

Trasso winselt gierig, reißt plötzlich wieder an der Leine … Ein dunkles Klümpchen Sand liegt da, und als ich es zerreibe, sehe und fühle ich die Feuchtigkeit: Blut – wieder nur ein Tropfen!

Wir traben an …

Und als ob das Dromedar sich ebenfalls darüber klar wäre, daß von seinen Beinen unendlich viel abhinge: Es fliegt dahin, besessen von einem Tatendrang, der diesen Tieren in der Form kämpferischen Draufgehens nur eigen ist, wenn zur Brunftzeit die Kamelhengste sich mit den Zähnen anfallen und zu Tigern werden.

Das lange Tal liegt hinter uns … Hügelketten, Sand und Steine folgen, jenes Steingeröll, das die Hufe der Dromedare peinigt und die Fußsehnen ermüdet …

Schritt also …

Und dann drüben der Abhang, – Felsen wie Riffe, Felsen wie Klippen, – zwischen ihnen frischer Kameldünger, flüchtig mit Steinchen bedeckt, daneben wiederum Blut.

Weiter …!

Hier hat der Mann sein Tier verborgen gehabt, hier glaubt er das trügerische Spiel der Bretter ausschalten zu können, von hier läuft eine Dromedarfährte in die Dünen, – eine halbe Stunde vergeht, dann biegt die Spur nach Süden ab, biegt wieder nach Westen ein, meiner Schätzung nach muß ich nun etwa auf einer Höhe mit der Zisterne und unserem Lager sein, freilich mindestens zwei Meilen entfernt, und dann stoße ich kurz vor zerklüfteten Bergmassen auf eine neue Fährte: Acht Reiter, – beide Fährten vereinigen sich, laufen am Rande der Berge hin, wenden sich nach Nordwest, und diese Richtung müßte uns zur Zisterne führen.

Ich sehe, daß auch die acht neuen Spuren ganz frisch sind, ich finde Dromedardünger, noch warm, und Trasso ist kaum mehr zu halten.

Vorsicht also! Das Fernglas heraus, und das Gelände abgesucht!

Fieber siedet mir im Blute. Ich ahne, daß irgend eine Entscheidung naht. Ich will gerüstet sein. Ich bin überzeugt, diese acht Reiter, die von Nordost kamen, sind Evelyn, Lord Garling und sechs der Leute Evelyns. Ich habe ja Augen im Kopfe, die alles sehen wollen und vieles zu sehen gelernt haben, was anderen verborgen bleibt. Eins der Dromedare wird am Leitseil geführt, – die Spur verrät es. Armer Garling, man hat dich gefesselt, und Evelyn wird …

Der Gedankenfaden reißt …

Im Sehfeld der Linse erscheinen Punkte … Sie bewegen sich: Reiter! – Ich zähle: Neun!

Das stimmt …

Sie sind es …

Und dort ist auch der Bergrücken, der mir vom Zisternenlager stets die Aussicht nach Süden versperrte …

So weit nach Süden bin ich nie gekommen, um diesen Berg, der harmlos, langgereckt den Wüstensand durchbohrt, zu durchsuchen.

Jetzt stutze ich …

Bergrücken?!

Ja – von Norden gesehen!

Jetzt sehe ich seine Kehrseite, seine drei endlosen Ausläufer, seine grünen Abhänge, seine widernatürliche Fruchtbarkeit inmitten der Armut einer kärglichen Vegetation …

Helle leuchtende Pünktchen glühen hier und dort: Lagerfeuer …!

Flackernde Flammen schicken dünne Rauchfäden gen Himmel, und der Nachtwind zerstreut den Qualm schnell zu Nebeln, zu … Nichts …

Mein Tier steht von selbst …

Trasso zittert …

Ich fühle das Vibrieren der straff gespannten Leine.

Fernes Hundegebell lebt auf, erstirbt …

Trotzdem, – – weiter!

Hinein in ein Tal …

Sand, Sand, Pulversand …

Dünenkämme, über die hinweg der Staubregen dieser Körnchen fegt …

Und dann, vor mir, irgendwo, aber durch den Widerhall in den Bergen seltsam ruhelos und gleichsam den Ursprungsort wechselnd, das Todeslied der Sahara …

Dromedar, Reiter, Hund spitzen die Ohren.

Zuruf, leise, scharf …

Das Dromedar kniet, liegt …

Den Pflock in den Sand …

„Trasso – – Ruhe!!“

Wir schleichen weiter, die Höhe hinan, wir befinden uns zwischen den beiden östlichsten Ausläufern des Bergrückens …

Wir sind oben …

Das Blut kocht, die Trommelfelle wollen etwas hören, aber die Todesmelodie der Sahara ist verstummt.

Ich schaue hin, starre hinüber …

Lagerfeuer?!

Leide ich an Sehtäuschungen?!

… Nichts mehr – – nichts …

Nur die grünen Abhänge, die Palmen, die Büsche, das milde Mondlicht …

Kein Hundegebell, nichts …

Nur dort links gen Südwest gewahre ich eine endlose Karawane, einen langen Strich von eiligen Reitern und Dromedaren und Maultieren …

Das sieht wie Flucht aus …

Wilde Flucht, Panik, eiligster Aufbruch …

Etwa infolge des Todesgesanges der Sahara?!

Und Evelyn?

Und Garling?! …

Neben mir, fünf Meter ab, steht ein kümmerlicher Strauch …

Eine tiefe, klare Stimme kommt dorther:

„Abelsen, Sie können meine Fesseln zerschneiden, sie sind mir unbequem …“

 

4. Kapitel.

Der Beschluß des Westend-Klub.

Erbarmungslos heiß sticht die Sonne vom Himmel. Auch nicht ein Luftzug regt sich … Die Sahara glüht, und die beiden Männer in dem kleinen Zelt liegen schlaff und halbnackt auf ihren Decken.

Lord Arthur Garling raucht – oder raucht nicht … Wie man es nimmt … Er zerkaut nervös eine meiner letzten Zigarren und stiert ins Leere. Der dritte im Zelt schläft. Trasso. Glücklicher Trasso, du machst dir keine Gedanken, über nichts …

Garling und ich haben so viel zu denken, daß uns der Kopf platzen könnte, daß wir diese Sorgen und Fragen mit in unsere Träume hinübernahmen.

„… Daß Sie noch Lust zum Schreiben haben, Abelsen!!“

Seit langem Garlings erste Bemerkung wieder …

„Lust?! – Nein! Aber eine Ablenkung.“

„Was haben Sie geschrieben … Lesen Sie vor …!“

„Ich habe mich mit der Aufzählung der klaren Tatsachen begnügt, Garling, – Wenn Sie wollen, hören Sie zu …:“

Nachdem ich Garling die Stricke abgenommen hatte, erzählte er mir, daß bereits nach kurzem Ritt mit Evelyn irgendwo eine Muschel geblasen wurde. Garling, der meine Ersatzpistole bei sich hatte, drohte Evelyn, sie niederzuschießen, falls sich etwas ereigne, das er als Angriff deuten könnte. Nach zehn Minuten, beim Passieren einiger Felsen, flog ihm eine Schlinge um den Hals, und er wurde aus dem Sattel gerissen und gebunden. Sechs Beduinen, wahrscheinlich Tuaregs, waren seine Überwältiger gewesen. Leute derselben Art waren ihm längst bekannt, wie er mir erklärte. Sie hatten ihn und seine beiden Gefährten bewacht, als sie vier volle Jahre gefangen gehalten wurden. – Ich faßte den Entschluß, der flüchtenden Karawane nachzueilen, da Lord Garling betont hatte, die Anwesenheit der Fremden in den Bergen und die zahlreichen Bergfeuer hätten Evelyn in hochgradige Erregung versetzt, und nach kurzer Beratung hätte man ihn hinter den Busch geworfen und liegen gelassen. Er hatte die Töne der Muschel aus nächster Nähe gehört, und er sei auch Zeuge des eiligen Aufbruchs der drüben Lagernden geworden.

Nachdem ich Garling und Trasso weiter südwärts hinter Felsen versteckt hatte, trabte ich hinter der Karawane drein und traf nach einer Stunde einen Nachzügler auf einem elenden, durchgerittenen Maultier, einen armen alten Händler aus Algier, der mir in gutem Französisch bereitwilligst Auskunft gab, nachdem er seine Angst überwunden hatte und merkte, daß ich nichts Böses im Schilde führe.

Seine Angaben über den Brunnen und die grünen Berge sowie die Muscheltöne waren recht wirr und unzusammenhängend, und ich fühlte sehr bald heraus, daß die Zisterne und diese ganze Gegend äußerst verrufen waren und daß doch niemand so recht den Grund hierfür angeben konnte.

Der alte Schächer wollte auch nicht allzuweit zurückbleiben und dankte mir vielmals, daß ich ihm meinen einen gefüllten Wasserschlauch überließ, den seinen hatte er in der Eile liegen lassen.

Ich kehrte höchst unbefriedigt um, und mit Lord Garling zusammen suchten wir zunächst einmal unseren alten Lagerplatz auf, der, wie uns das aus der Ferne schon sichtbare Zelt hinter dem Steinverhau zeigte, von den beiden Freunden des Lords wirklich auf die von mir bestimmte Kuppe verlegt worden war. Zu unserem Schreck erblickten wir am Fuße des steilen Hügels den von drei Schüssen getöteten Hyänenhundbastard Ghost, der, infolge der Hitze mit dick aufgetriebenem Leib im Geröll liegend, zwischen den Zähnen noch einen Fetzen dünnen braunen Wollstoffes hielt, wie die Leute Evelyns ihn tragen sollten: Selbstgewebten Stoff von braunen Schafen! Dies betonte Garling mit aller Bestimmtheit.

Nach diesem Fund rechneten wir kaum mehr darauf, Sir Harris und Brighton im Zelte anzutreffen. Diese Annahme bestätigte sich. Wir sahen hinter dem Verhau 21 Patronenhülsen liegen und entdeckten auch Blutspuren und Kugellöcher im Zeltstoff. Es mußte hier ein erbitterter Kampf stattgefunden haben, bevor man die beiden Engländer überwältigt hatte. Anderseits war es sehr überraschend, daß von meinem Gepäck nicht das Geringste fehlte, sogar die Waffen waren noch vorhanden, die ich Harris und Brighton überlassen hatte.

Garling, der völlig erschöpft war, legte sich sofort zum Schlafe nieder, und während meiner einsamen Wache bis in den Vormittag hinein überdachte ich nochmals all die Dinge, die sich hier im Umkreis von fünfzig Meilen während der letzten sechs Tage abgespielt hatten.

Für jeden unbefangenen Beurteiler mußte diese merkwürdige Geschichte von der Todesmelodie der Sahara vollständig unverständlich bleiben. Nur einer konnte hier etwas Klarheit bringen: Lord Garling!

– Ich lasse Garling selbst erzählen und versuche auch seine Darstellungsweise wiederzugeben.

Bericht Lord Garlings über die Westend-Saharaexpedition.

„Meine beiden Gefährten Harris und Brighton gehören wie ich dem sehr vornehmen und reichen Westend-Klub in London an, der nicht lediglich die Geselligkeit pflegt, sondern auch das Klubvermögen für wissenschaftliche Forschungen mit abenteuerlichem Einschlag verwendet. Auch Frauen sind Mitglieder.

Eines der jüngsten weiblichen Mitglieder war die gerade erst sechzehn Jahre alt gewordene Evelyn Holk, eine entfernte Nichte von mir. Sie hatte studiert, sie war das allerjüngste Fräulein Doktor Englands, ein sehr intelligentes Mädel, dabei sportbegeistert, lebensfroh und nur in letzter Zeit etwas versonnen.

Irgend etwas quälte sie.

Sie ist heute dreiundzwanzig. – Ja, Sie staunen, lieber Abelsen. Man sieht es ihr nicht an.

Vor etwa sechs Jahren verschwand sie aus London. Sie ist Waise, sehr begütert und lebte unter dem Schutze alter treuer Bediensteter im Holk-Palais in London-Westend.

Ich als ihr nächster Angehöriger spürte ihrem Verbleib nach, wobei mich James Brighton, unrettbar in Evelyn verliebt, nach Kräften unterstützte.

Unsere Bemühungen blieben ergebnislos … Inzwischen war im Klub durch die Veröffentlichungen der Presse eine andere wichtige Frage zur Debatte gestellt worden.

Seit Jahren waren in der Sahara europäische Touristen, Kaufleute oder Forscher spurlos abhanden gekommen. Sie tauchten nie wieder auf, es waren alles Leute mit bekannten Namen, und die Öffentlichkeit zeigte sich stark beunruhigt, da allerlei unkontrollierbare Gerüchte umliefen, daß es sich um politische Attentate handelte.

Der Klub beschloß, den Dingen auf den Grund zu gehen, und Harris, Brighton und ich wurden auserwählt, die Expedition zu leiten.

In aller Stille wurden die Vorbereitungen getroffen. Als die Expedition genau so heimlich mit insgesamt zwanzig Leuten und vierzig Tieren den Marsch von dem Hafen Tarfaia aus antrat, waren wir sehr zuversichtlich. Wir hatten einen Beduinen als Führer angenommen, der uns glücklich durch das berüchtigte Sanddünengebiet Igidi brachte. Als die Höhenzüge des Tanasruft-Plateaus in Sicht kamen, die ersten Spuren von Vegetation sich wieder zeigten und die grauenvolle Einöde durch Tiergestalten belebt wurde, unternahmen wir drei eines Abends eine Jagdstreife. Hierbei stießen wir auf den Schädelbrunnen, die Zisterne mit dem Kranz von Gebeinen.“

An dieser Stelle verstummte Garling. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, der auf tiefste seelische Erregung schließen ließ.

Er versuchte genau so ruhig weiterzusprechen, – es gelang ihm nicht.

„Abelsen, von da an begann das Unheil … Wir hatten uns meilenweit von unserem Lager entfernt, und der Schädelbrunnen, das Mondlicht und …“

Er schwieg abermals …

„Ja!“, stieß er schließlich hervor, „und die seltsamen fernen Töne irgend eines Blasinstruments weckten in uns dreien ein Gefühl, als ob ein Verhängnis herbeischliche … Wir schauten uns an, horchten, und James Brighton flüsterte scheu …: „Es stimmt also doch … Es gibt eine Todesmelodie der Sahara.“

Dies war nämlich eines der unkontrollierbaren Gerüchte, Abelsen.

Die unheimlichen Töne näherten sich, erklangen bald hier, bald da …

Wir drei rührten uns nicht.

Wir empfanden, daß irgendwie ein … Kreis um uns gezogen würde, aus dem es kein Entrinnen gab.

Und dann brüllte James, sonst ein sehr gemessener Gentleman:

„Drüben war es, – hinter den Hügeln!“

… Und rannte fort …

Kam nicht wieder.

Harris und ich hielten die Büchsen schußbereit.

Unnötig …

Es gab kein Ziel …

Es gab nur die Todesmelodie der Sahara.

Wir suchten James …

Unnötig …

Fanden nichts …

Hinter uns jaulte die Muschel, tremolierte …

Vom Brunnen her …

Harris war leichenblaß vor Mut.

Er stürmte die Hügel hinab, verschwand hinter den Steinen der Zisterne, und als ich ihm folgte, prallte ich zurück: Auf dem Kranz von Gebeinen lag unser Führer, der Beduine … tot … erschossen …

Ich spürte, wie sich mir alles Blut zum Herzen drängte.

Wie kam der Mann hierher?!

Wo war Harris …?!

Ich rief …

Antwort?! – – Die Muschel … aus nächster Nähe …

Und dann?! …“

Lord Garlings Gesicht neigte sich ganz tief …

Er schämte sich …

Er sah so farblos aus …

„… Abelsen, – dann fiel mir eine Schlinge über den Kopf, – ein Ruck, – – ich lag am Boden, eine Wolldecke warf man über mich …

Gefesselt ritt ich als Blinder wohl neun Stunden in das Unbekannte hinein … Um mich her trabten andere Reiter …

Schließlich wurde ich angeseilt, irgendwohin in eine Tiefe hinabgelassen, – ich riß die Decke fort, und es war Tag, und ich befand mich in einer Schlucht, die vielleicht vierhundert Meter im Quadrat maß.

Ich sah Hütten, Männer, eine Quelle, Palmen, – – erlassen Sie mir Einzelheiten, Abelsen: Wir steckten dort zu dreißig in einem natürlichen Felsenkerker mit schroffen, glatten Wänden, Harris und James waren auch dort, wir wurden gefüttert wie Sträflinge, bewacht wie Sträflinge: Engländer, Franzosen, diese in der Mehrzahl, zwei Italiener, fünf Spanier.

Ja, – erlassen Sie mir Einzelheiten …

Ein Tag war wie der andere …

Jeder hatte dasselbe erlebt …

Vier Jahre, Abelsen, – vier Jahre Haft!!

Und dann schmiedeten wir drei Fluchtpläne und entwischten auch …

Wie?! – Das muß ich wohl genauer erzählen.

– Wir wußten nur, daß Tuaregs mit verhüllten Gesichtern uns bewachten und uns die Lebensmittel reichlich an Seilen herabließen. Aber nach drei Jahren sahen wir Evelyn Holk zum ersten Male. Sie stand droben, siebzig Meter über uns, und betrachtete uns ohne jedes Mitgefühl.

Ich rief sie an.

Antwort? – Sie kehrte mir den Rücken …

Von da an, Abelsen, glaubten wir … in einem Totenhause zu vegetieren.

Evelyn hier?!

Und ihr Benehmen?!

Und die Tatsache, daß man uns Gefangenen alles spendete, um uns auch die Langeweile zu vertreiben!

Alles …!

Schlaraffenleben!!

Nur – – Messer erhielten wir nicht, nicht einmal eine Schere oder Rasierzeug.

Eines Abends – in der Wüste brauste der Samum – glitt wieder der Riesenkorb mit Eßwaren hinab.

Der fliegende Sand hüllte alles in Nebel …

James war von uns der leichteste, und der entleerte Korb sollte von uns mit Konservenbüchsen und zerbrochenem Geschirr gefüllt werden.

James kroch in den Korb …

Es glückte …

Droben schlug er die Wächter nieder, hißte uns empor, wir fanden Reittiere, wir flohen gen Nordwest …

Wie diese Flucht endete, wissen Sie. Aber eins wissen Sie noch nicht: Daß der Todessang der Sahara sehr bald hinter uns, neben uns ertönte.

Und das … das brachte uns dem Wahnsinn nahe …

Wir hatten keinen Kompaß … Wir hatten Pech: Tag und Nacht Stürme … Wir ritten wohl endlose Umwege oder im Kreise … Der Todessang hetzte uns … unerbittlich …!

Abelsen, – – und meine eigene entfernte Verwandte Evelyn war unsere Feindin, – begreifen Sie das?!“

– Hiermit schloß Lord Garlings erschütternder Bericht.

 

5. Kapitel.

Der Händler aus Algier.

Erbarmungslos heiß sticht die Sonne vom Himmel. Auch nicht ein Luftzug regt sich … Die Sahara glüht, und die beiden Männer in dem kleinen Zelt liegen schlaff und halbnackt auf ihren Decken.

Der eine schreibt …

Ich.

Garling kaut seine Zigarre und hat in den Augen einen quälend stumpfen, mutlosen Blick … Dieser vornehme Engländer von sechzig Jahren, der vier Jahre in einem Felsenkeller eingesperrt war, scheint nun die letzte innere Widerstandskraft verloren zu haben …

Und wie eine Erlösung empfinde ich es, als Trasso, der nur im Halbschlaf japste und winselte und den Tod Ghosts betrauerte, urplötzlich auf seinen vier strammen Läufen steht und nach der Zisterne hinüberwittert.

Wir haben schon mittags die Zeltbahnen gelockert, damit die Luft hindurchstreichen kann, und haben das Leinen so und so oft begossen …

Der Ausblick zum Schädelbrunnen ist frei, und zwischen den Palmen trottet ein Maultier mit einer bekannten Gestalt eines armen alten Schächers von Händler im Sattel: Der Algerier, den ich über die Karawane ausfragte, – der Nachzügler!

„Garling, ein Gast!“

Der Lord richtet sich etwas auf …

Unwillkürlich beobachte ich sein Gesicht.

Und stutze …

Unglaubliches Erstaunen malt sich in den jäh belebten Zügen.

„Wer soll das sein, Abelsen?!“

„Der Händler aus Algier, der so gut französisch sprach.“

Garling lacht herzlich.

Der Mann ist wie umgewandelt.

Sein Lachen scheint seine Seele, seinen Leib, sein Hirn aufzupulvern …

„Ein Händler!! Haben Sie eine Ahnung!! – Passen Sie mal auf!!“

Er legt die Hände an den Mund und brüllt durch die schmale Öffnung:

„Hallo, – – Patrik Morstan – – hallo, – – hier Arthur Garling!!“

Der alte Kerl mit dem fuchsig-grauen Eremitenbart und dem schmierigen Burnus und dem dreckigen Kopftuch scheint taub zu sein.

Garling kichert.

„Echt Morstan!! Kennen Sie Sir Patrik Morstan nicht, der drei Attentate auf unseren Thronfolger verhinderte und dafür geadelt wurde?! Er war einfacher Detektivsergeant, heute ist er Kapitän und Abteilungsvorstand in New Scotland Yard … – – Hallo, Morstan, lassen Sie mal Ihre beliebten Mätzchen beiseite und …“

Der so vergnügt und munter gewordene Garling hielt es für richtiger, seine Kehle auszuschalten und nur die Augen zu gebrauchen.

Patrik Morstan tat etwas, das für die Sahara unbedingt sehr ungewöhnlich war. Er hatte sich von seinem Maultierschinder geschwungen und einen der großen Ballen geöffnet, die anscheinend den üblichen Händlerkram enthielten.

Unter dem Lederüberzug kam ein ganz leichter Käfig aus Weidenruten zum Vorschein, in dem es nun ein emsiges, fröhliches Flügelschlagen gab … Morstan griff drei der Brieftauben heraus, schob sie unter den Burnus und suchte in seinen am Gürtel hängenden Ledertaschen nach einigen Hülsen, die er an die Schwungfedern der windschnellen Vögel befestigte. Als die erste Taube aufstieg, den Schädelbrunnen umkreiste und dann nach Nordwest davonschoß, hatte Morstan ihren Flug mit einem tadellosen Fernglas beobachtet. Dasselbe tat er bei den beiden andern auch, dann erst wollte er sein Glas wegstecken, aber der jählings erwachende Laut der Muschel, der durch die Glutwellen der Wüste sich fortpflanzte, wirkte auf den kleinen, sehnigen Herrn genau so stark wie auf uns.

Nur ganz verschiedenartig.

Wir beide horchten mit stillem Unbehagen und griffen nach den Waffen.

Morstan hatte im Nu eine zusammenlegbare Repetierbüchse mit zwei Flügelschrauben zu einem Ganzen vereinigt und auch das Glas wieder her- vorgeholt.

Jetzt rief er Garling an.

„Mylord – – schießen Sie …!! Mit meiner Knallerei ist es nicht weit her!“

Wir traten ins Freie …

Wir sahen mit bloßem Auge, daß am nordwestlichen Himmel sich sechs Punkte in Zickzacklinien pfeilgeschwind näherten.

„Verdammt – – Jagdfalken!!“

Die erste Taube war heran …

Der Falke stieß zu, aber die Taube wich aus.

Morstan feuerte, Garling desgleichen …

Aber sie hatten den richtigen Moment verpaßt.

Der Jagdfalke ging schräg empor, und als er sich über der Taube befand, wollte er abermals herabstoßen.

Der Augenblick, wo er den gefiederten Leib herumwarf, war der gegebene …

Ich drückte ab, und ein Federball sauste kreischend zu Boden. Die verängstigte Taube hatte sich in eine der Palmen geflüchtet.

Unsere Schüsse mußten gehört worden sein. Es war, als ob die Todesmelodie der Sahara in maßlosem Zorn aufbegehrte …

Die Muschel erscholl hier und dort, und die beiden anderen Jagdfalken kehrten um.

Die verschüchterten Tierchen – alle drei – glitten in den geöffneten Käfig zurück, und Morstan stand dabei und pfiff unermüdlich einen Lockruf, als ob er die Muschel verhöhnen wollte.

Die Muschel verstummte … Morstan ließ sein Maultier stehen, schulterte den großen Käfig und kam zu uns emporgekraxelt. –

Von einem Kaptain und Abteilungschef eines der berühmtesten Polizeipaläste macht man sich so allgemein etwas romanhafte Vorstellungen.

Patrik Morstan war ungewollt ein Komiker mit Clownsmaske.

Sein Gesicht war rund wie eine Kugel, und unter dem Turban war zunächst nur ein Gesichtserker als ruhender Pol bemerkbar, eine ebenso blaurote wie narbige Nase.

Neben ihr lagen je zwei Hautfalten ohne Haare, ohne Wimpern, ohne Brauen, und zwischen diesen Falten glitzerte das Blau der Augen eines Unschuldsengels.

Der rötlich-graue Vollbart hing infolge der umfangreichen Hängebacken in zwei Spitzen bis auf die vorgewölbte, knochige Brust, deren fragwürdige Innenumhüllung, ein Wollhemd, weit offenstand.

Er gefiel mir.

Als Garling meinen Namen nannte, grinste Patrik.

„Das bringt mir tausend Kronen ein … Der Steckbrief gegen Sie und die Belohnung sind noch gültig. Ich verhafte Sie, Olaf Karl Abelsen … Garling ist Zeuge.“

Garling bog sich vor Lachen über mein verdutztes Gesicht, denn Morstan hatte mir im Nu Handschellen angelegt, die er freilich sofort wieder öffnete.

„Stecken Sie sie in die Tasche, Abelsen … Vorläufig sind Sie frei.“

Wir setzten uns ins Zelt, und Trasso kam mit dem toten Falken herbei.

Morstan beging hier einen Fehler. Er beachtete den toten geflügelten Räuber nicht und meinte nur: „Fünf Tauben sind mir bereits abgefangen worden. Wenn ich Evelyn Holk erwische, wird sie nie mehr gebratene Täubchen essen. Ein schreckliches Frauenzimmer.“

„Na na …“, milderte ich diese schroffe Beurteilung. „Wissen Sie denn, was Evelyn in die Sahara getrieben hat?!“

Die blauen Engelsaugen durchbohrten mich.

„Anfänger!!“, grobste Patrik.

Als Widerlegung hielt ich ihm den Falken unter die Nase.

„Da!! – Anfänger!!“

„Verflucht!!“

Morstan riß die Hülse von der Falkenfeder und öffnete sie.

Als er das Zettelchen Seidenpapier überflog, sank ihm der Unterkiefer bis auf den Bauch, den er nicht hatte.

„Frechheit!! Unverschämtes Mädel!!“

Er hielt mir den Zettel hin und fügte kleinlaut hinzu:

„Das ist Arabisch oder Hebräisch oder Indisch oder sonst was.“

„Nein, das sind griechische Buchstaben und englischer Text:

„Sir Morstan, Ihre Brieftauben waren sehr zäh. Hoffentlich ist meine Kusine Grace ebenso zäh. – Evelyn Holk.“

Lord Garling, Witwer, glücklicher Vater eines Töchterchens, verfärbte sich.

„Morstan, ist Grace in Afrika?“

„Dumme Frage. Seit Monaten. Sie verwaltet meine Nachrichtenzentrale in dem Lausenest Bell Abbas, wo die Europäer sich vor Stumpfsinn das Delirium ansaufen und mehr Bastarde umherlaufen, als der Sittlichkeit zuträglich ist. … Letzte „Großstadt“ am Rande der Sahara, – – dort.“ Er deutete nach Nordwest.

Garling wurde nervös.

„Sie suchen also nach uns, Morstan?“

„Nein, ich suche hier das Paradies! Haben Sie noch mehr so zwecklose Fragen auf Lager?! Zuerst hat das Ministerium den großen Forscher Stanley junior hierher geschickt. Stanley ist in Bell Abbas begraben worden, der Whisky war zu gut. Dann schickte man mich, und Grace kam mit. Aber nicht als Grace Garling, sondern als meine Tochter, als Farbige … Auch das hat nichts geholfen. Hier steht es auf dem Falken-Zettel: Evelyn ist im Bilde und verhöhnt uns noch.“

Morstans blaue Augen zwinkerten mich an.

„Raten Sie, Sie Verhafteter! – Tausend Kronen Prämie – – nicht schlecht!“

„Warten Sie noch zehn Minuten, Sir, und nehmen Sie drei andere Tauben. Die Jagdfalken sind bei sinkender Sonne bekanntlich nicht zu gebrauchen. Es gibt eine Schneeblindheit, aber auch eine Abendröteblindheit.“

„Danke.“ Morstan zog den Käfig näher.

Als die Sonne sich verabschiedete, schossen in Abständen von fünf Minuten drei frische Tauben in die Ferne. Jede mit derselben Nachricht in Chiffreschrift, für Grace Garling und Morstans drei Untergebene bestimmt:

Glaube Evelyns Versteck entdeckt zu haben. Weitere Nachricht folgt. Garling frei und bei mir. – M.

Diesmal meldete sich die Stimme der Sahara nicht.

Wir durften hoffen, daß die drei Tauben Bell Abbas erreichen würden.

 

6. Kapitel.

Alles geht um Thomas Holk.

Ausgestirntes Firmament und Mondsichel über mir, – neben mir Trasso, aus dem Zelte das fürchterliche Schnarchkonzert Morstans und Garlings tiefe Atemzüge, – weiter rechts, auch hinter dem Steinverhau der Kuppe, unser Dromedar und das Maultier, friedlich nebeneinander, friedlich Gras kauend …

Nachtwache also …

Ein Uhr morgens ist es …

Der Wind säuselt um die Felsenhügel, und die Zeltbahnen klatschen leise.

Andacht der Einsamkeit, Zauber der dämmernden Nacht, – – Gedanken, die ruhelos schweifen.

Auch Morstan weiß nichts Bestimmtes.

Morstan hat sich seit Monaten Karawanen angeschlossen und schließlich herausgefunden, daß der Schädelbrunnen und der Bergrücken im Süden, den er der drei Ausläufer wegen die dreifingerige Faust nennt, irgendwie den Mittelpunkt dieser dunklen Dinge bilden. Er hat Evelyn viermal zwischen den „Fingern“ beobachtet. Das ist alles, und das ist sehr wenig, eigentlich – – nichts, gar nichts!

Für mich: Gar nichts!

– Was soll das alles, was bisher in diesem letzten Erleben sich zusammendrängte?! – Ich ritt von den Gestaden des Atlantik auf verwehter Fährte einer Schar von Amazonen nach, die sich freiwillig in die Sandwüste hineinwagten, um irgendwo zu sühnen. Die Geheimnisse des Dschebel Kainar hatte der Mensch enthüllt und die Natur zerstört. Die Stadt der Verbannten existiert nicht mehr. (Vergl. den vorigen Band.)

Die Stimme der Sahara lockte mich in die Irre, die Fährte verwehte, und das Neue kam mit all seiner spukhaften Aufdringlichkeit: Ein Mädchen, eine Muschel, tausend ungelöste Fragen!

… Abseits …

Es ist das Abseits, das Ungewöhnliche, Weltenferne, das stille Grauen vor dem Knochenwall dort drüben …

Ich sitze auf dem warmen Felsstück, und mein Blick trinkt die Schönheit der Nacht und das phantastische Bild des Schädelbrunnens. Zwischen zwei Palmen hindurch erkenne ich die hohen Steine, die von fürsorglichen Beduinen rund um die tiefe, längliche Felsspalte, in der das klare Naß wie ein Göttergeschenk kühl und reichlich die Höhlung füllt, als Schutz gegen den Flugsand aufgehäuft worden sind.

Die kleine Hügelkette hier mit unserer Festung ist wie ein Grenzstrich zwischen zwei Welten: Nach Norden, Nordwesten nur diese ewig gleichen Wogen des Saharastaubes, Täler, Kämme, Täler, Kämme … Im Süden und Südosten die Zisterne, Palmen, Gräser, Büsche: Eine Oase!

Und als ob dieses Paradies der im Nachtwind wehenden Palmen mir noch Besonderes spenden möchte: Urplötzlich erklingt eine weiche, gedämpfte Frauenstimme, zart wie die Klänge einer Äolsharfe, einer Windharfe, – schwermütig wie das versteinerte Leid einer ganzen irregeführten Menschheit, – – irgend ein englisches Lied …

Trasso erhebt sich, stellt die Ohren nach vorn.

Sein Herr rührt sich nicht.

Traum und Wirklichkeit scheinen sich vermischen zu wollen.

Auf dem Brunnenrand sitzt ein Weib, das blonde Haar gelöst, das lose Gewand im Mondlicht wie flüssiges Silber, die Hände um das eine Knie verschränkt …

Sie singt …

Ich sehe ihr Profil, und ich muß mich bezwingen, nicht hinauszuschreien in die rätselvolle Szene: „Evelyn!!“

Es ist Evelyn Holk.

Es gibt nur eine Evelyn, – dieses Gesicht, kindliche Reinheit und strenge Herbheit der Reife, findet man zum zweiten Male nicht … nirgends.

Ich will das Traumgefühl nicht zerstören, – ich lausche und schaue …

Obwohl das, was gewesen, nur eine klare Richtlinie verlangt: Zupacken – – den Rätselknoten zerhauen!

Trasso wird immer unruhiger … Er hat Evelyn geliebt, er hat ihr Lager bewacht, er hat mitleidig ihre verbundene Stirn beschnüffelt, er hat gejault, kläglich gejault, als sie mit Lord Garling davonritt.

Er sieht sie drüben. Er zittert vor Ungeduld.

„Trasso, – – still!“

Wahrhaftig, – er wollte über die Steinbarrikade hinwegsetzen.

Es blieb bei dem Wunsch. Ich halte ihn zurück, – strenge all meine Muskeln an …

Er wird vernünftig.

Und als ich wieder hinüberschaue, ist die Sängerin verstummt, und neben ihr, den Arm um die Schulter der blonden Evelyn geschlungen, sitzt ein zweites Mädchen, genau wie Evelyn gekleidet, nur dunkelblond und ohne Stirnverband …

Was jetzt geschieht, spielt sich in wenigen Minuten ab …

Ganz leise beginnen die beiden eng Umschlungenen da drüben ein neues Lied, – die Töne schwellen zu halber Stärke an, und die Sahara lehrt mich eine neue, andere Melodie, die mich über alle Erdenschwere hinaushebt, und die mir liebliche Kindheitsbilder vorzaubert: Christbaumandacht, ein hoher, dunkler Dom, Orgelspiel, Gesang vom Chor herab, – – nordische Weihnacht!

Aber die Gegenwart ist unerbittlich, – – hinter mir Schritte, dann ein Schrei:

„Grace – – mein Kind, – – Grace!!“

Lord Garling ruft es, Lord Garling fliegt über den Wall, rutscht den Hügel hinab, Trasso heult, bellt, ist nicht mehr zu halten, springt hinterdrein, und aus dem Zelt kommt das überkräftige Gähnen Sir Morstans …

„Abelsen, zum Teufel, was ist denn los?!“

Trasso hat mich halb zu Boden gerissen, ich rappele mich auf, und mit einem Male belfern wütend und drohend eine Anzahl von Schüssen, … von Süden her, wo die Oase einen Streifen nackten Gesteins als Ausläufer in die Dämmerung der Ferne schiebt …

Ich sehe das Aufblitzen von Mündungsfeuer, ich höre die Aufschläge im Gestein der Zisterne …

Die Mädchen sind verschwunden.

„Garling, – – zurück!!“

Der Lord hat sich niedergeworfen …

Trasso kauert neben ihm, und vor ihm liegt der weiße Knochenberg.

Jäh erstirbt der Lärm. Kein Schuß fällt mehr, kein Mensch ist zu sehen, – –: „Wer sind die Halunken?“, fragt Patrik Morstan bösartig und fingert an seiner Büchse herum.

„Weiß es nicht … – Garling, – – zurück! Schleunigst!! Schleunigst!!“

Die Angst preßt mir die Kehle zu, und das Grauen schleicht heran, denn irgendwoher, wie aus der Luft, meldet sich das Todeslied der Sahara, die Muschel.

Plötzlich duckt er sich, läuft auf die Hügel zu, klimmt empor, und Morstan empfängt ihn mit saftigen, gesalzenen Vorwürfen …

„Es … war … mein Kind, es war Grace, neben Evelyn“, stottert Garling atemlos.

„Sie sind verrückt und machen uns mit verrückt!“, kollert der unliebenswürdige Kaptain Morstan. „Grace ist in Bell Abbas, und Sie sind nicht recht klar im Kopf!“

Das rauscht an meinen Ohren vorüber, – – ein Nichts …

Denn da drüben hat Trasso den Knochenberg überklettert und steht neben der Zisterne, bückt den Kopf tiefer, tiefer, – – und der Steinrand verbirgt ihn mir.

Ein einzelner Schuß, – – ein Aufheulen, letztes Winseln …

Stille …

Morstan kniet und hat die Büchse auf die Barrikade gestützt.

„Abelsen, zeigen Sie mir ein Ziel, ich …“

„Schweigen Sie!!“

„Na nu, – – so grob?!“

Garling sagt undeutlich: „Trasso … Trasso ist tot … Es war Grace! Ich werde doch wohl mein eigenes Kind kennen!“

„Blödsinn!“ – Patrik Morstan schaut mich an. „Was war los, zum Teufel?!“

Ich möchte antworten, erklären … Aber im Augenblick ist mir Garlings Auskunft wichtiger.

„Garling, – wo blieben die Mädchen? Sie müssen es doch gesehen haben …“

„Ich?! Gesehen?! Nichts …! Sie waren mit einem Male weg …“

Morstan will sich von besserer Seite zeigen.

„Hören Sie mal, lieber Garling, – nun mal im Ernst gesprochen … Sie haben Gespenster gesehen, und Abelsen auch …“

… Soeben verklingt in der Ferne das dämonische Tremolieren der Muschel.

Der Schweiß beizt mir die Augen …

„Die Gespenster saßen auf der Zisternenfassung und sangen, Sir Morstan. Es war so. Ihre Zweifel gebühren weit mehr Ihrer Schießkunst.“

Der Subchef von New Scotland Yard schiebt seinen feinen Turban ins Genick und enthüllt seine spiegelnde Glatze, in deren Mitte ein Wollbüschel roter Haare einsam um den Verlust des übrigen Haarwaldes trauert.

„Hm – also Miß Grace ist hier? – Arme Teufel!!“

„Wen meinen Sie – – arme Teufel?“

„Meine drei Beamten in Bell Abbas … Frieden ihrer Asche! – Verfluchte Muschel!“

Morstan hustet, hüstelt. Seine Rührung ist weg.

„Es waren drei patente Jungen, Garling, – den einen kennen Sie vom Westend-Klub her: Balfour Severn, Oberinspektor, den Sie als Freier hinauswarfen …“

Der Lord schweigt betreten.

„Da hätten wir uns die Tauben sparen können, Abelsen … Die dicke Freundschaft zwischen Miß Doktor Evelyn Holk und der Tennismeisterin Grace gab mir schon immer zu denken. Die faule Redensart, daß Gegensätze sich anziehen, ist nur für Trottel erfunden. – Garling, trinken Sie, oder kauen Sie eine Zigarre … Sie sehen wie die Mumie Nebukadnezars aus … Nehmen Sie sich zusammen … Antworten Sie: Ist nicht auch Ihnen diese Intimität der beiden Mädchen aufgestoßen? Vor Evelyns heimlicher Flucht aus London, das habe ich festgestellt, steckten die beiden dauernd zusammen, und ich alter Esel habe da offenbar den Bock zum Gärtner gemacht, als ich Grace als Verbündete mitnahm.“

Garling sitzt auf einem Felsblock und starrt ins Leere.

„Mir … ist gar nichts aufgefallen …“

„Natürlich nicht: Blinde Kuh! Und die Polizei muß dafür tausend Augen haben …“

Erregt dreht er seine schweißfeuchte Skalplocke zu einem spitzen Kegel …

„Schweinerei, – – Abelsen, was tun wir?“

„Stillsitzen!“ – Ich denke nur an Trasso.

„Was sollen wir tun?“

„Stillsitzen, bis es hell wird …“

Morstan greift in seinen Burnus und holt ein zerbeultes Zigarettenetui aus Aluminium, Größe Handkoffer, hervor.

„Also stillsitzen … – Und nachher?“

„Den Brunnen untersuchen … Die Mädchen müssen in dem Zisternenloch stecken.“

„Hm …!! – – Na schön … Ich würde Ihnen ja eine meiner Zigarren anbieten, aber …, – die Sorte vertrage nur ich … Marke Seekrankheit.“

Garling hat den Kopf in die Hände gestützt.

„Morstan, – was treibt Evelyn hier?“ fragt er dumpf.

Der geadelte einstige Detektivsergeant reibt ein Zündholz an und pafft …

„Das weiß ich längst, Garling. Dafür bin ich Chef. Das Mädel sucht ihren Vater, Thomas Holk, den Grubenbesitzer und Ingenieur.“

Der Lord ruckt hoch. „Holk ist doch tot und in Algier begraben worden, im Jahre 1909, glaube ich.“

„1911 … Lange her … Sehr lange … Aber sein Grab in Algier wurde vor genau fünf Monaten insgeheim von mir geöffnet …“

„Wozu?!“ Garling ist sprachlos.

„Weil ich Chef der Abteilung fünf und kein Strohkopf bin. Weil ich mir aus London von Holks Zahnarzt genau angeben ließ, wieviel Goldzähne Holk im Munde hatte: Fünf! Und der Totenschädel im Grabe Holks hatte nur Zahnstummel. – Ich bin in allem gründlich. Ich gehe jeder Möglichkeit nach. Selbst wo eine Laus entlanggekrochen ist, rieche ich den Braten, denn Läuse stinken … Meine Zigarre auch.“

Ich hatte angespannt zugehört.

„Verzeihung, Sir Morstan, wie kamen Sie auf den Gedanken, daß Holk noch leben könnte?“

„Weil er weiter nördlich sehr ertragreiche Erzlager und Silberadern gefunden hatte, und weil er dann ertrank und die Zeichnungen, die Geländeskizzen verschwunden waren. Ins Wasser gefallen, sagte man … Und „man“ ist ein ausländisches Syndikat, das jene Berge von dem Sultan von Mossor seligen Andenkens gekauft hatte …“

„Sind denn die Erzlager ausgebeutet worden?“, fragte ich schnell …

„Natürlich! Gründlichst!! Noch während des Weltkrieges. Garling weiß das am besten …“

Der spitze, anzügliche Ton ließ mich den Lord prüfend mustern.

Lord Arthur Garling saß ganz still da.

„… Garling ist nämlich einer der Mitbegründer des Syndikats, und seine Millionen stammen aus Holks Funden, womit ich nicht sagen will, daß Garling etwa an dieser Schufterei beteiligt war. Keine Rede! Sobald Millionengewinne erzielt werden, ist alles ehrlich, vom Liftboy bis zum Präsidenten.“

Der Lord atmete nur hastiger.

Ich wollte die Dinge restlos klären. „Sir Morstan, ohne die Geländeskizzen kann doch niemand die Fundstellen kennen?!“

Der Chef [von Abt.][1] V sagte kalt: „Ein Marokkaner, der Thomas Holk begleitet hatte, verkaufte sein Geheimnis an das Syndikat, und Evelyn Holk wurde mit 20 000 Pfund abgefunden, besser ihr Vormund, und das war Malcolm Harris, Rechtsanwalt. Mein schlichter Verstand sagte mir, daß Evelyn als frühreifes Mädchen all diese Dinge gründlich nachgeprüft hat und hier nach Afrika ging, um ihren Vater zu suchen. Sie wird wohl Grace ausgehorcht und in Ihrem Palais, Garling, manches Schreibtischschloß geöffnet haben, bis …“

Garling stöhnt. Er hob sein zerquältes Gesicht, reckte die Hand zum Firmament empor und erklärte feierlich:

„Ich weiß nicht, wo Holk sich befindet, aber auch ich nehme an: Er lebt noch!“

Morstan nickte trübe vor sich hin. „Ja – das verfluchte Geld!! Und dann – – die Reue!! Nicht wahr, Garling, Sie waren es doch, der im Klub den Gedanken an die Afrikaexpedition anregte – – so hintenherum …“

Er legte ihm die braune Faust auf die Schulter. „Garling, ich war einmal ein einfacher Sergeant … Sie und Harris bereuen, daß Sie Evelyn derart … begaunert haben. Und das rechne ich Ihnen beiden hoch an: Sie wollten Evelyns Vater suchen!!“

Garling rührte sich nicht. Er flüsterte nur. Es war das Leid eines Vaterherzens, das er der schweigenden Nacht anvertraute: „Nun habe ich … auch Grace verloren … Evelyn wird ihr bewiesen haben, daß ich …“

Das weitere blieb ihm erspart.

Ich hatte mich vorgebeugt. Ein Tier jagte durch die Oase, sprang über die weißen Gebeine.

„Trasso …!!“

Ein freudiges Aufbellen folgte …

 

7. Kapitel.

Die Zisterne, die nichts verriet.

Das Wiedererscheinen meines Hundes stellte alle Dinge auf den Kopf.

Morstan erklärte, eine Untersuchung der Zisterne sei nun wohl überflüssig geworden.

„… Die Dinge liegen ganz klar … Die kurze Schießerei sollte uns ablenken, und die Mädchen und der Hund sind nach Süden entflohen. Dann erwachte bei Ihrem Trasso wieder die größere Anhänglichkeit an seinen Herrn, und er kehrte um, obwohl er Evelyn sehr zugetan ist.“

Lord Garling äußerte sich nicht. Des kleinen Morstans Worte hatten ja auch mir gegolten.

Ich selbst beließ es bei einem „Mag sein!“ und hielt mir dadurch alle Türen offen. Ich dachte denn doch etwas anders über die Vorfälle am Brunnen. Morstans Annahme konnte bei ruhigem Abwägen nicht stimmen. Er hatte die Mädchen weder singen gehört, noch gesehen, und niemand würde mir einreden, daß beider Auftauchen auf dem Brunnenrand angesichts unserer befestigten Kuppe als Zufall oder Augenblickslaune gewertet werden dürfte. Hinter diesem unklaren Spiel der beiden steckte weit mehr, davon war ich überzeugt.

Meine Augen streiften Garling.

Dieser Mann, mit hineinverwickelt in eine dunkle Tragödie der Geldgier, die man „Thomas Holk“ betiteln konnte, schämte sich, daß er überhaupt noch lebte. Morstans eiskalte Beweisführung hatte ihn niedergeschmettert, und seine tief gebeugte Gestalt dort auf dem Steine dauerte mich.

Er wagte nichts zu sagen, er fühlte sich als Ausgestoßener, und sein Herz war zerbrochen unter dem schmerzhaften Druck der Vorstellung, daß Evelyn Holk ihm sein eigenes Kind entfremdet haben könnte.

Patrik Morstan, Sohn aus dem einfachen Volke, empfand wohl dasselbe. Er suchte Garling zu trösten. Und gerade seine ehrliche Derbheit, die einem warmen Herzen jetzt entquoll, verhütete das eine, das uns in unserer Lage nur schwer benachteiligt hätte: Ein Abseitsstehen Garlings, eine unangebrachte Gleichgültigkeit und Verzagtheit.

Der Lord preßte Morstans Hand und wagte uns wieder in die Augen zu sehen.

„Abelsen, – wie denken Sie in Wahrheit über das schnelle Verschwinden der Mädchen?“, lenkte der Kaptain und Chef von Abt. V geschickt ab …

Ich beobachtete still das Erblassen der Sterne und den Dämmerstreifen des heraufziehenden Tages im Osten.

„Es wird hell, Sir Morstan … Ich glaube, die Zisterne wird uns Überraschungen bieten.“

Wir nahmen die Gläser und suchten das Gelände genau ab. Wenn die Schützen, die vorhin ihr Blei wohl absichtlich weit daneben verspritzt hatten, uns wirklich feindlich gesinnt gewesen, hätten sie ihre Kugeln genauer ins Ziel setzen können. Die Knallerei war nur Ablenkungsmanöver gewesen.

Der Tag war da.

Es war noch jene unnatürliche, frostige Helle, aber sie genügte: Wir entdeckten auch nicht eine Spur von Mensch oder Tier.

Morstan kochte Tee. Wir aßen, und Trasso, der uns alles hätte erklären können, hatte seinen Wolfskopf vertrauensvoll auf Garlings Knie gelegt, als ob er die Liebe zu Evelyn[2] auf deren Vater übertrüge. Garling bekam feuchte Augen.

Armer Lord!

Ich hätte mir nicht seinen Seelenzustand gewünscht.

Der Mann hatte etwas Greisenhaftes, Zerbrochenes, Unheilbares an sich.

Morstan sagte offen: „Abelsen, bestimmen Sie, was geschehen soll. Hier habt ihr Weltentramps das Wort.“

Wir packten das Geschirr weg, und ich ordnete an, was mir nötig erschien. Garling sollte hoch zu Dromedar gen Süden sichern, Morstan sollte hier auf dem Hügel bleiben. Drei Schüsse würden mich warnen.

Ich nahm eine starke, fettige Leine, eine Laterne und nur die Pistole mit. Trasso schloß sich mir von selbst an und hatte es überaus eilig, zum Brunnen zu kommen.

Der flache Felsen, in dem das Zisternenloch klaffte, hatte ebensowenig Spuren festgehalten wie die umliegenden Steine und der Brunnenrand … Zwischen den Palmenstämmen liefen Fährten kreuz und quer, aber sie stammten von uns her, und ich entdeckte keine neuen Eindrücke. Der Morgenwind hatte freilich recht scharf geblasen und den feinen Sand in Bewegung versetzt.

Ich kannte den Naturbrunnen genügend, ich hatte sehr oft Wasser geschöpft, und doch war es mir bisher nie eingefallen, eine Laterne statt des Schöpfeimers an den Strick zu binden.

Jetzt tat ich es.

Trassos leises Winseln und sein sonstiges Benehmen bewiesen, daß die Zisterne ihre besonderen Geheimnisse haben mußte.

Trasso lag neben dem Loche auf dem Bauche, starrte in die Tiefe und jaulte sehnsüchtig, wobei seine Rute hin und her pendelte.

Die brennende Laterne versank langsam … Der längliche Felsriß, dessen größte Breite anderthalb Meter betrug, erweiterte sich nach unten. Die Steinwände waren etwa ein Meter über dem Rande mit Moosen und Flechten bedeckt, und das Laternenlicht spiegelte sich in dem stillen tiefen Weiher gleißend wieder.

Auch ich hatte mich lang hingestreckt und ließ die Laterne dicht über die Wasseroberfläche gleiten. Dann band ich sie fest, wechselte meinen Platz und gewahrte so nach Süden zu eine tiefe Einbuchtung der Steinwand, einen Seitenstollen, könnte man sagen.

Noch eins fiel mir auf.

Bisher hatte das Wasser in der Zisterne etwa bis fünf Meter unter dem Oberrand gestanden und hatte diese Einbuchtung, wie die Flechten und Moose bewiesen, die dort besonders dick waren, häufiger umspült.

Jetzt lag der Wasserspiegel mindestens ein Meter tiefer.

Schon dies gab mir zu denken.

Der Jagdeifer und die Zuversicht, dort unten etwas zu finden, feuerten mich derart an, daß ich nicht schnell genug das Seil befestigen konnte.

Ich versuchte, ob es meine Last auch tragen würde, stemmte die Beine auf den Boden und zog und ruckte.

Es hielt. Es war von langem Gebrauch fettig und ohne zerfaserte Stellen.

Ich schickte mich an, hinabzuklettern, lag schon bäuchlings auf dem Zisternenrand, hörte Trasso noch erregter jaulen und …

… Und blieb ganz still liegen.

Irgendwoher von Westen kam durch das Schweigen des Sandmeeres der Ton der Muschel. Die Todesmelodie der Sahara schwebte herbei wie dumpfe Geisterstimmen …

Ich horchte …

Es folgte die übliche Pause, dann kam das schrille, dämonische Kichern, dieses halbe Tremolieren, das die Nerven mit in Schwingungen versetzte.

Trasso war aufgesprungen.

Er haßte die Töne, die uns den Schlaf geraubt hatten. Er knurrte und fletschte die Zähne, und ich zauderte.

Da – von Norden und Süden nochmals dasselbe Signal. Gewiß, es war nur eine Muschel, und Menschenodem brachte sie zum Tönen. Und doch hatte noch stets in diesen Signalen ein Unterton mitgeschwungen, der nicht nur das Ohr traf, sondern die Seele vibrieren ließ. Es war etwas Unheimliches bei alledem – auch jetzt, wo ich doch die Ursache kannte.

Ich erhob mich schnell.

Soeben noch hatte Lord Garling auf meinem letzten Dromedar dort auf dem Hügel im Süden klar und greifbar nahe wie eine Statue gehalten.

Die Stelle war leer.

Ich weiß es nicht, – ich mag mich damals verfärbt haben …

Ich ahnte, was geschehen.

Ich drehte mich gen Norden …

„Sir Morstan – – hallo!!“

Nur achtzig Meter …

Keine Antwort kam, nichts, nichts …

„Sir Morstan – – hallo!!“

Wieder nichts …

Und er mußte mich doch hören, mußte!!

Sollte auch er …?!

Ich mochte den Gedanken nicht ausdenken, – ich nagte die Unterlippe, hatte die Pistole entsichert in der Hand.

Mich würde man nicht fangen!

„Trasso, – – voran, – – dorthin!!“

Er übersprang die Steinbrüstung, er setzte über den Knochenwall hinweg.

Ich kletterte hinüber … Da lagen gelbweiße Kamelschädel neben Menschenschädeln, da lagen ganze Dromedargerippe, halb zerfallen, über ihnen menschliche Skelette, über diesen Maultiergebeine, Gerippe von Schafen …

An einigen dieser Knochengerüste hingen noch Hautfetzen und flatterten im Winde.

Ich klomm den Hügel hinan, Trasso war längst oben. Ich konnte mich auf ihn verlassen, es drohte keine Gefahr mehr, aber Sir Morstan war genau so spurlos verschwunden wie Lord Garling, und die Wüste war leer und ich allein.

Nur das Maultier lag faul am Boden, daneben Morstans Büchse, – – und von meinem Gepäck fehlte nichts. Aber der Taubenkäfig war weg …

Nun konnte also, wenn es Evelyn so gefiel, das alte Spiel von neuem beginnen, jene Zermürbungstaktik, die mich schon einmal an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte. Ohne Schlaf kann der Mensch nicht leben, besonders nicht in einem so mörderisch heißen und trockenen Klima wie hier, wo selbst die günstigen Nächte nur geringe Abkühlung brachten. Es gibt wohl Gebiete in der Sahara, wo man nachts von erheblichem Temperaturrückgang reden kann, – nicht hier, nicht in dieser Nähe des Äquators, dessen höchste Felsenberge nirgends eine Höhe von zweihundert Meter überschreiten.

Mit verbissenem Groll gegen das schlanke blonde Mädel, das hier so selbstherrlich Führerin einer Bande brauner Buschklepper spielte – nur die Büsche fehlten zumeist! –, suchte ich mit dem Glase die Umgebung ab. Mir waren nun in Wahrheit Handschellen angelegt, – ich war frei und doch ein Gefangener, und mit bitterer Ironie fühlte ich in meiner Tasche die Stahlbänder, die mir Sir Morstan mehr zum Scherz angelegt hatte.

Ich war mit unsichtbaren Ketten an diesen Erdenfleck gefesselt, und die Bedingungen, unter denen ich mich jene fünf Tage gegen die lockende, niederträchtige Muschel gewehrt hatte, waren schlechter denn je. Damals besaß ich zwei kräftige tapfere vierbeinige Freunde und drei Dromedare, heute hatte ich nur ein Maultier zur Verfügung, dessen Rücken vom schlechten Sattel durchgescheuert war und meinen Trasso.

Sehr erhebend war der Gedanke nicht.

Nun, ich war die Einsamkeit gewöhnt, und auch die unsichtbaren Ketten machten nicht viel aus. Nein, – der Schädelbrunnen lockte mich, die Zisterne drüben war nicht harmlos, in ihren Tiefen barg sie irgend etwas, das ich vorläufig zwar nicht deuten konnte, obwohl ich einen Anhaltspunkt hatte: Das Fallen des Wassers! An der bisher beobachteten Wasserhöhe hatte ein Meter mindestens gefehlt.

Was ich mir als Ingenieur und Fachmann über diese Erscheinung zusammenreimte, glitt mir sofort wieder aus dem Sinn.

Ich hatte anderes zu tun. –

Die Sonne war derweil emporgestiegen, und es wurde Zeit, meinen Wasservorrat zu ergänzen, bevor die Tageshitze jede körperliche Anstrengung zur Qual machte. Auch das Maultier mußte mit Gras versorgt werden, und mit dem Graswuchs war es recht dürftig bestellt, – – mochte das Tier Blätter fressen, Trasso und ich würden uns auch sehr bald den Hungerriemen enger schnallen müssen.

Ich band Trasso neben dem Zelte fest, ich nahm Morstans Patentbüchse, spannte sie und klemmte sie mit dem Lauf nach Norden zwischen die Steine des Walles. Eine dünnere Schnur schlang ich einerseits um den Abzug, anderseits um Trassos Halsband: Wenn der Hund irgendwie unruhig wurde und stark an seiner Leine riß, mußte sich auch der Schuß lösen, und da ich die selbsttätige Repetiervorrichtung eingeschaltet hatte, würde Schuß um Schuß folgen, bis das Magazin leer war.

Das war meine allerdings sehr bescheidene Sicherung nach Norden hin.

Mehr konnte ich nicht tun.

Ich kroch den Hügel hinab, hütete mich, daß ich mich etwa in voller Größe zeigte, und erreichte die Zisterne – hoffentlich unbemerkt.

Zunächst Gras und Zweige für das Maultier.

Ich stopfte alles in einen Ledersack und wollte nun den Schöpfeimer an die Leine binden, die noch immer darauf wartete, daß ich an ihr in die Tiefe hinabkletterte.

Ich wagte es nicht …

Trasso und mein Zelt und der magere Maultierklepper aus dem Auge zu lassen, wäre leichtfertig gewesen.

Der Ledereimer klatschte unten auf …

Ich zog …

Was sollte das?!

Hatte sich der Eimer irgendwie festgeklemmt?!

Ich strengte mich noch mehr an …

Dann ließ ich beinahe die Leine aus den Händen gleiten.

„Sir, bitte, – – einen Augenblick …!“

Das war eine völlig fremde Stimme … Eine Männerstimme von angenehmster Klangfärbung, nur etwas matt.

Ich beugte mich vor, – jemand kletterte an der Leine hoch, deren Ende noch um den Stein gebunden war.

Dieser Jemand war flink und geschickt und trug einen zerbeulten Tropenhelm, – mehr sah ich zunächst nicht. Dann rollte sich die Gestalt blitzschnell an die Steinmauer und zeigte mir ihr sonngebräuntes, etwas stoppelbärtiges Gesicht.

Er lächelte sorglos, dieser Mann in Khaki, und er fragte mit vergnügtem Augenzwinkern:

„Raten Sie mal, – wer ich bin?“

Englisch …

Ein kräftiger, gutgekleideter Mann war es.

Braune, fidele Augen, in denen der Übermut wetterleuchtete …

Er kauerte am Boden und betrachtete seinen durch die nassen Moose stark grün getupften Anzug …

Die Schädelquelle schien in der Tat eine mehr als magnetische Anziehungskraft auf alle möglichen Leute zu besitzen.

„Wer sind Sie also?! Zum Rätselraten ist hier wirklich weder Zeit noch Gelegenheit.“

„Stimmt, Sir … Ich bin Taubenliebhaber und seit der vergangenen Nacht Bewohner der Skelettmauer.“

Menschen mit langer Leitung passen nicht ins Abseits.

„Taubenliebhaber, – – dann können Sie nur Oberinspektor Balfour Severn sein, – Sir Morstan nannte Sie einen Adonis, und häßlich sind Sie nicht.“

Er lachte und nickte.

Es ging von ihm ein Hauch von fröhlicher Lebensbejahung aus, die ich nur bei Kraftnaturen gefunden habe.

„Richtig geraten, Sir … Ihr Name?“

„Abelsen …“

„Wirklich?! Das ist allerdings ein seltsames Zusammentreffen … – Abelsen!! Daß Sie eine besondere Nummer sein würden, dachte ich mir so ungefähr. Also gut … Ich muß nun unbemerkt zu Ihnen ins Zelt … Können Sie mich in dem Ledersack den Hügel hinaufschleppen?“ – Bisher hatte er seinen fast allzu leichtbeschwingten, unbekümmerten Redefluß beibehalten. Jetzt – und das gefiel mir an ihm – wurde er mit einem Male sehr sachlich und ernst. „Ich wiege immerhin hundertdreißig Pfund, Mr. Abelsen, aber ich sehe keine andere Möglichkeit, dieser raffinierten Art von Nachspionage zu entgehen. Sie selbst werden erstaunt sein, wenn ich Ihnen darüber Einzelheiten auf Grund meiner recht unliebsamen Beobachtungen berichte.“

Der Furagesack wurde also wieder entleert, und zwar im Knien unter der Steinmauer.

Balfour Severn war wirklich keine leichte Last, und ich hatte keinen trockenen Faden am Leibe, als er aus dem Sack ins Zelt schlüpfte und ich nun nochmals hinuntermußte, um das Gras, die Blätter und die Wasserschläuche zu holen.

Um mich etwas auszuruhen, setzte ich mich neben der Zisterne nieder und ließ die brennende Laterne hinab. Ich war überrascht: Der Wasserspiegel war nun gut anderthalb Meter gestiegen, und von der Ausbuchtung der Südwand konnte ich nichts mehr wahrnehmen.

Wie ging das zu?! Woher der Wechsel der Wasserhöhe?! Sollte meine flüchtige Vermutung von vorhin doch zutreffend sein?

Kaum droben im Zelte wieder angelangt, war meine erste Frage an Severn: „Was taten Sie eigentlich in der Zisterne? – Ich habe sehr triftige Gründe zu dieser Frage.“

„Ich wollte nur Ihre begonnene Arbeit vollenden, Mr. Abelsen.“

„Entdeckten Sie etwas?“

„Nichts.“

Fragen und Antworten folgten Schlag auf Schlag.

„War der Stollen noch wasserfrei, Mister Severn?“

„Stollen? – Nein, da waren nur glatte Wände …“

„Aber die Leine hing doch lose herab, und Sie befanden sich unten. Worauf standen Sie, – Sie müssen doch einen Halt gehabt haben, Sie hielten doch den Lederriemen fest.“

Er nickte. „Natürlich, – ich stand auf einem Baumstumpf, der da irgendwie mitten im Wasser handbreit hervorragte.“

„Unmöglich! War es bestimmt ein Baumstumpf?“

„Bestimmt, und zwar das Wurzelende einer Palme …“

Ich konnte dazu nur den Kopf schütteln. Sollte ich den Baumstumpf übersehen haben?! Ich hatte die Laterne wieder ganz tief herabgelassen …!

Severn wurde jetzt selbst stutzig. „Das alles ist sehr merkwürdig, Mr. Abelsen … – Haben Sie etwas Eßbares da? Bedenken Sie, ich habe seit achtzehn Stunden nichts gegessen.“

„Bitte, – Büchsenfleisch, Hartzwieback und Obstkonserven … Bedienen Sie sich … – Eine andere Sache … Seit wann lagen Sie in dem Knochenberg versteckt?“

„Seit Mitternacht etwa …“

„Und Sie hörten Evelyn singen?“

Jetzt fieberte ich förmlich.

„Ich sah sowohl Evelyn als auch Grace Garling …“ Er wurde etwas verlegen. Ich entsann mich: Lord Garling hatte ihm ja als Freier die Tür gewiesen.

„Und wohin verschwanden die beiden?“

„Das konnte ich nicht feststellen. Ich steckte ja in dem Knochenwall, Mr. Abelsen, und mein unmittelbarer Nachbar war ein Knochenmann mit einigen wunderbaren Goldplomben, jedoch nicht etwa Thomas Holk, nein, der hat mehr Gold im Munde. Ich konnte deshalb nicht sehen, wo die beiden Mädchen blieben, weil ich so noch den Steinwall als Hindernis vor mir hatte. Außerdem begannen die Kerle so unangenehm in die Skelette hineinzufeuern, daß die Kugeln so manchen töteten, der schon längst tot war. Mein Versteck lag auf der Nordseite.“

„Und weshalb verließen Sie Bell Abbas?“

Ich wollte die Sache gründlich klären.

Wieder wurde er verlegen und rot.

„Das hat zwei Anlässe, Mr. Abelsen. Erstens war seit vierzehn Tagen nicht eine einzige Brieftaube von Sir Morstan eingetroffen, zweitens war Miß Grace eines Nachts auf und davon geritten.“

„Die Gründe sind stichhaltig. – Nun das andere, das Sie als Spionage bezeichnen.“

Balfour Severn kaute und blickte mich starr an …

„Sie werden es kaum glauben, Mr. Abelsen, aber es ist so: Nur ein glücklicher Zufall rettete mich vor der Zisterne vor einer Gefangennahme. Die Lage des Schädelbrunnens kannte ich durch meines Vorgesetzten Brieftaubenpost, die Spur Miß Garlings hatte ich übrigens schon am zweiten Tage verloren, aber der untrügliche Instinkt, der mit meinem Beruf verknüpft sein muß, sagte mir, ich würde sie und auch den Chef hier vorfinden. Als ich mit dem Glase die Palmen erspäht hatte und nun wußte, daß ich nur noch dreitausend Meter zu reiten hatte, versteckte ich meine beiden Dromedare, ließ ihnen Wasser und Futter zurück und schlich zu Fuß weiter. Ich bin stets ein sehr vorsichtiger Mann gewesen, nur einmal ging mein Temperament mit mir durch: Als ich vor Jahren um Grace Garling anhielt und … der Lord mich einfachen Detektivinspektor fragte, ob ich üble Witze machte … – Seitdem habe ich Grace, die damals noch recht jung war, gemieden, obwohl …, – aber das gehört nicht zur Sache. Beim Näherschleichen stellte ich fest, daß die Zisterne und dieser Hügelrücken von Tuaregs umstellt waren und daß die Kerle – halten Sie sich fest – Bretter unter den Sandalen und … tragbare Telefone hatten – – Tatsache! Es war ein Kunststück, durch diesen Ring hindurchzuschlüpfen, und ich hütete mich sehr, etwa im Mondlicht den Hügel zu erklimmen und mich ihnen zu präsentieren … Deshalb kroch ich in den Wall von Gebeinen.“

Allerdings, – es fiel mir schwer, dem Oberinspektor Severn diese „Telephone“ zu glauben … Hier in dieser Einöde moderne Feldtelephonie?! Anderseits: Dieser Severn war ein Mensch von nüchternster, schärfster Beobachtungsgabe, wo es darauf ankam, und ich hütete mich, einen überflüssigen Zweifel laut werden zu lassen.

Balfour Severn fischte gerade mit der Gabel eine Zuckerbirne aus der Büchse, als unsere hastige Unterhaltung jäh eine Unterbrechung erhielt: Trasso knurrte, richtete sich mit den Vorderpfoten auf dem Burgwall auf, und ich, der ich vergessen hatte, Morstans Repetierbüchse zu entspannen, fuhr von meinem Klappstuhl hoch, als nun hintereinander neun Schüsse in die Wüste knallten …

Severus schöne Zuckerbirne aber lag in seinem Schoßes und ich hätte über Severns Gesicht gern lachen mögen, wenn Trasso nicht so wild gebellt hätte.

Ich trat ins Freie … Ein Blick nach Nordwest: Hundert Meter entfernt hielt ein Tuareg auf einem prachtvollen Reitdromedar und winkte mit einer langen weißseidenen Schärpe …

Hinter mir aus dem Zelt flüsterte Balfour Severn sichtlich belustigt:

„Ich muß mich verstecken … Bir Kassal kennt mich von Bell Abbas her … Er ist der übelste Halunke der ganzen Sahara …“

 

8. Kapitel.

Eine Fährte Thomas Holks?

Wenn dieser vornehme Tuareg, der so etwa die Allüren eines Schmieren-Herzogs hervorkehrte, eine Stunde früher seine Visite abgestattet hätte, würde er mich vielleicht mit seinem undurchsichtigen Gerede hineingelegt haben. Aber da ich wußte, daß wir eingekreist waren, und daß keine Maus ohne Willen und Wissen Evelyn Holks diesen Ring passieren konnte, hätte der edle Häuptling sein fließendes Englisch anderswo verwerten können.

Er trug das Gesichtstuch wie alle Tuaregs, er war tadellos gekleidet und bewaffnet, und auf seinem dünnen feinen Burnus klapperten ein paar Ordensauszeichnungen.

Bir Kassal saß mir gegenüber im Schatten des Zeltes, und als er das Gesichtstuch entfernte, zeigte er mir ein hellbraunes Gesicht mit wohlgepflegtem Spitzbart, – ein Salontuareg für Filmaufnahmen, hätte ein Leichtgläubiger wähnen müssen …

In Wahrheit, das merkte ich nach den einleitenden Sätzen – hatte ich es mit einem ganz gerissenen Schuft zu tun.

„Fremder“, begann er in steifer Haltung, „ich sagte dir, wer ich bin: Ein Tuareghäuptling, der alle Städte Nordafrikas kennt und der bei dem Präsidenten der französischen Republik gespeist hat …“

„Was wünschest du?“ – Sollte ich mir von diesem ebenso anmaßenden wie aufgeblasenen Burschen noch die Herkunft seiner Orden erzählen lassen?!

Bir Kassals schwarze eiskalte Augen ruhten prüfend auf Trasso.

Trassos Nähe behagte ihm nicht.

Mir ja.

„Fremder, wir Tuaregs übereilen nichts“, meinte er hochmütig. „Ich spreche nur mit dem, den ich kenne. Wer bist du?“

„Dein Feind!“, erwiderte ich klipp und klar.

Das hatte er nicht erwartet.

„Meine Feinde“, sagte er nach einer für ihn sehr notwendigen Pause, denn er mußte gegenüber so viel drohender Ehrlichkeit erst den richtigen Ton suchen, „… meine Feinde sind tot, Fremder.“

„Es genügt, daß ich lebe, und daß du weißt, daß ich Abelsen heiße. – Was wünschest du?“

Er schaute zu Boden. Seine Mundwinkel zogen sich herab.

Er überlegte.

Dann hob er den Kopf.

„Du wirst in der kommenden Nacht sterben, es sei denn, daß du … mich nicht weiter störst …“

Sein Gesicht hatte sich keinen Deut verändert. Er äußerte eben eine Tatsache, die für ihn Tatsache war, schon jetzt am Vormittag: „Du wirst in der kommenden Nacht sterben.“

Er lächelte etwas.

„Bir Kassal, du bist ein Narr und ein Schuft. – Trotzdem, nenne mir deine Bedingungen. Nicht, weil ich auf sie einzugehen gedenke, sondern weil ich etwas neugierig bin, weshalb Evelyn Holk mich aus dem Wege haben will.“

Mein Lächeln schien sich in seinem Gesicht widerzuspiegeln, aber es wurde das tückische Grinsen eines kaltblütigen Mörders daraus.

„Schuft …“, wiederholte er bedächtig. „Die Bedingungen fallen nun fort … Du hast den Tod gewählt, – du wirst bedauern, daß du je gelebt hast!“ Seine Stimme war wie ein Tremolieren und erinnerte an den Ton der Muschel.

„… Du hast Waffen, aber keine Patronen mehr … Wir haben dein Gepäck durchsucht und die Patronen mitgenommen, als wir Sir Morstan holten … Ich könnte dich jetzt schon töten lassen. Blicke zur Seite – nach Osten.“

Ich hütete mich.

Ich hatte die Pistole im Nu in der Hand …

„Ich blicke wohl besser dich an, Bir Kassal … – Du bist als Unterhändler gekommen … Deshalb lasse ich dich frei und ungehindert gehen … – Entferne dich. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Ich habe Patronen, bitte …!“

Ich hob meine Jacke … „Das sind etwa vierzig Schuß, Bir Kassal … Grüße Evelyn und frage sie, ob ich ihr vierzig Tote wert bin … Ich schieße selbst im Dämmerlicht nicht vorbei, – Gehe!“

Er stand langsam auf.

Ein Blick streifte mich, aus dem ich nicht recht klug wurde.

Enttäuschung, Ärger schimmerten darin.

Bedächtig stieg er über den Steinwall. Dann drehte er sich noch einmal um.

„Fremder, wenn du …“

Ich winkte – – mit der Pistole. Ein Aufglühen kam in seine Augen, das die dünne Hülle seiner brutalen Mörderseele zerfraß … Diese Augen waren seine echten Augen.

Stumm entfernte er sich, bestieg sein Tier und ritt nach Osten davon.

„Böse Geschichte!“, sagte Balfour Severn und arbeitete sich unter den Decken seines Lagers hervor. „Mr. Abelsen, dieser gebildete Bandit hat seit zwanzig Jahren seine blutbefleckten Pfoten in jeder schmutzigen Sache, die hier in Mittelafrika zwischen den neidzerfressenen Großmächten ausgetragen wurde. Er könnte die Ministerien von England, Frankreich und Spanien derart bloßstellen, daß man ihn … stumm machen wollte. Sein Stamm wohnt ja viel weiter südöstlich. Er entfloh, und seitdem ist er wie der ewige Jude, bald hier, bald dort, stets von einem Legendenkranz umwoben, stets auf Seiten der allerschlimmsten Schurken, aber nie zu fassen.“

Severn setzte sich.

„Schade, daß ich meine Waffen abgelegt hatte. Ich hätte den Kerl niedergeknallt, und ich wäre dafür befördert worden.“

Vieles ging mir durch den Kopf.

„Severn, weshalb töteten Sie ihn nicht in Bell Abbas?“

„Ahnungsloser Engel, Sie …!! Bell Abbas hat eine kleine Tuaregkolonie, und – – ich will noch ein paar Jahre leben. In Bell Abbas hätte ich keine Stunde länger gelebt. Das ist es!“

Auch ich ließ mich auf dem Feldstuhl nieder, Trasso war draußen außerhalb des Walles.

„Dann verstehe ich nur eins nicht: Wie konnte Evelyn Holk sich mit dem Burschen verbünden und wie kann sie ihn sogar beherrschen?!“

Severn deutete ein Achselzucken an.

„Abelsen, wenn wir erst mal diese Dinge bis auf den Grund untersuchen, wird so viel Schlamm aufgerührt, daß wir uns überhaupt nicht mehr zurechtfinden. – Warum Evelyn?! Ist sie nicht hübsch? Ist dieser Bir Kassal nicht ein brauner Romanheld?! Weiber bleiben Weiber … Die Geschichte von Eva mit der Schlange und dem Apfel wird ja stets sehr harmlos-erzieherisch erklärt, aber …“

Er hob erneut die Schultern …

Fügte leiser hinzu: „Auch Grace ist nicht unbeeinflußt geblieben. Ich will ehrlich sein: Dieser Tuareg kam zweifellos als Abgesandter Evelyns nach Bell Abbas und hatte mit Grace mehrere heimliche Zusammenkünfte, von denen ich leider zu spät erfuhr. – Jetzt möchte ich schlafen … Sollte Ihnen inzwischen ein rettender Gedanke kommen, wäre es sehr schön. Ich gebe für unser Leben keinen Penny … Vielleicht haben wir nur den einen Trumpf in der Hand, daß Evelyn nicht ahnt, daß ich nunmehr meine steifen Knochen behaglich hier bei Ihnen im Zelte ausstrecke … – Gute Nacht vorläufig …“

Gute Nacht, – – und die Sonne schien, es war gerade zehn Uhr vormittags.

Trasso trieb sich noch immer draußen herum, der arme Kerl wühlte im Geröll nach Mäusen, mit dem frischen Fleisch war es ja miserabel bestellt, und das Wolfsblut seiner Ahnen machte ihn genügsam: In der Not frißt der Teufel Fliegen, aber mein Schoßhündchen war kein Teufel, oder nur dann, wenn er angefallen wurde.

Ich hörte ihn kratzen und keuchen und das Poltern von Steinen und das dumpfe Kollern von Lehmbrocken. Es gab da in den Felsen eingebettete Lehmschichten, und diese Lehmbänder zeichneten sich von dem schwarzgrauen Gestein scharf ab. Dort hausten die Mäusefamilien neben kleinen Erdschwalben, Loch an Loch, und das feine leise Huit-Huit der pfeilschnellen Schwalben ertönte dumm und seltsam trostlos aus dem Sonnenglast hernieder.

Severn atmete tief, pustete, schnarchte. Ich saß draußen im Schatten und schrieb. Ich hatte ja so vieles nachzutragen in meinem Tagebuch.

Des öfteren musterte ich die tote Wüste und auch die kleine Oase. Ich traute Evelyn nicht … Sie konnte auch am Tage angreifen lassen. Es würde dann ein böses Hinschlachten von Menschen geben, denn ein Sturmlauf gegen unsere Festung war ziemlich aussichtslos – am Tage. Inzwischen hatte ich auch festgestellt, daß der Tuareg gelogen hatte: Mein Gepäck war nicht beraubt worden, die Patronenschachteln waren noch vorhanden.

… Evelyn und Bir Kassal, ein zu merkwürdiges Gespann! Ich kam von dem Gedanken nicht los, daß da irgend etwas nicht stimmte. Severns üble Meinung über Evelyn und den Schauerromanhelden verwarf ich vollkommen. Eine Evelyn wirft sich keinem farbigen Banditen an den Hals.

Überhaupt …

Ja – überhaupt, begann man erst nachzudenken, so steigen aus diesem bis oben gefüllten Gefäß, das mit Recht die Aufschrift „Spur ins Jenseits“ trug, immer stärkere Blasen hoch, die – aufgeblähte Fragen – oben zerplatzen und keine Antwort geben und nur den ganzen Inhalt trübten, denn am Boden des Gefäßes lagerte ja die häßliche Schlammschicht, die vielleicht ein Skelett bedeckte, das des Ingenieurs Holk, den man aus Profitgier beseitigt hatte … oder nicht … – Ich wußte es nicht.

… Trasso stört mich … Diese lärmende Mäusejagd ist denn doch kein Sport in dieser Gluthitze.

Ich schaue einmal über den Wall hinüber …

Natürlich, – Trasso hockt wieder in der einzigen schrägen Felsspalte, die der Hügel aufweist, und hält den Kopf ganz schief und beäugt seine „Arbeit“.

Unter ihm, hinter ihm liegen die Zeichen seiner Tätigkeit: Lehm …!!

Er ruht aus … Die Zunge hängt ihm handlang aus dem tropfenden Maule.

Dann schüttelt er sich, beginnt von neuem.

Das Loch, das er gebuddelt hat, kann ich nicht sehen, aber es muß recht umfangreich sein, denn er verschwindet zur Hälfte, seine Hinterbeine stemmen sich in den Boden, und er zerrt und zieht ruckartig an irgend etwas, das er gern aus dem Loche herausreißen möchte.

Plötzlich schnellt er zurück, steht still, im Maule hängt ihm ein Fetzen – – ja, ein Fetzen von einem bunten seidigen Gebetteppich.

Das wirkt auf mich wie eine Kampferspritze.

Ein Gebetteppich – – ein Lehmloch, – die Sache muß untersucht werden.

Severn hat derweil immerhin zwei Stunden geschlafen. Tut mir leid, – ich muß ihn wecken.

„Hallo, Severn!“

Dieser Mann, vielleicht dreiunddreißig alt, besitzt die volle Elastizität der Jugend, ist fast sofort munter.

„Was gibt es?!“

Ein paar erklärende Worte genügen.

„… Severn, Sie zeigen sich auf keinen Fall. Ihre Anwesenheit hier muß geheim bleiben … Passen Sie scharf auf.“

„Wird gemacht.“

Ich ziehe aus dem Steinverhau der Kuppe ein paar Felsbrocken unten heraus, bis das Loch groß genug ist. Severn wirft mir eine Decke zu, und mit der Decke über dem Leibe lasse ich mich in die Felsspalte hinab. Selbst der wachsamste Späher hätte nicht sagen können, was da geschah.

Trasso und ich kauern nebeneinander … Infolge der Krümmung der kleinen Kluft ist sie von keiner Seite einzusehen, nur von oben.

Die Öffnung im Lehm liegt nach Süden zu, nach der Oase hin. Trasso hat hier unglaublich geschuftet, und es ist kaum anzunehmen, daß er es nur eines Teppichfetzens wegen getan hat. Trasso wird ungemütlich, als ich ihm seinen Raub abnehmen will …

All das ist sehr sonderbar …

Ich betrachte den Fetzen, schüttele den Kopf, bücke mich und greife in das Lehmloch hinein … Meine Fingerspitzen berühren harten Lehm, – – dann ein rauhes Gewebe …

Von oben ruft der hinter dem Wall liegende Severn:

„Nun, was ist los, Abelsen?!“

„Ein Loch, dahinter ein Teppich … – Abwarten!“

Der kleine Feldspaten, Andenken an das weggeschwemmte Reich Kainar, beginnt den Lehm wegzustoßen.

Ich schwitze wie im Dampfbad, aber ich weiß, weshalb ich schwitze.

Das Loch wird größer, immer größer, und obwohl meine Handflächen Blasen bekommen, lasse ich nicht nach …

Atempause …

Die Laterne zischt, pufft, brennt …

Ich binde sie vorn an den Büchsenlauf und schiebe sie in den engen Einschlupf. Die Lehmbahn ist hier nur etwa fünfzig Meter dick, dahinter hängt drinnen der Teppich mit der von Trasso losgerissenen Ecke … An dieser Ecke vorüber gleitet die Laterne, drückt den Teppich nach innen, und meine Vermutung wird bestätigt: Trasso hat eine Höhle entdeckt, die bewohnbar gewesen sein muß!

Wieder frißt der Spaten den Lehm …

Minuten noch, und ich kann es wagen, überflüssiges Fett habe ich nie gehabt …

Trotzdem schicke ich Trasso als ersten hinein. Er verschwindet, – ich horche, ich höre nur sein Schnüffeln, kein warnendes Knurren …

Ich folge …

Der Teppich gibt nach, ist nur oben irgendwo befestigt. Ich richte mich auf, hebe die Laterne, und das kalte Karbidlicht enthüllt mir die Farbenpracht des Orients und einen Raum, der, hätte er Fenster, ein Prunkgemach eines algerischen Beys sein könnte.

Hier in dieser Naturgrotte, deren Wände, Decke und Boden mit Teppichen behängt oder belegt und mit Seidenstoffen bespannt sind, fehlt nur eins: Altorientalisches Mobiliar! – Die Einrichtung ist dürftig, – da stehen drei Feldstühle, ein Klapptisch, da liegen Decken und Teppiche und Felle, zu einem Diwan aufgeschichtet, und als einzigen Wandschmuck neben den Teppichen bemerke ich eine Riesenrosette von Waffen: Gewehre, Pistolen, Speere, afrikanische Schwerte, Büffelschilde mit Messingbuckeln, Dolche, – darunter zwei Sättel und ebenso prunkvolles Zaumzeug.

Der Klapptisch und die Klappstühle sind Beutestücke, stammen von einer europäischen Expedition. Drei der Gewehre sind neuere Büchsen. Auf dem Tisch, der keinerlei Staubspuren zeigt, liegen englische Reisewerke, englische Zeitungen älteren Datums und einige Bleistifte, sowie zwei Pfeifen mit zerkautem Hornmundstück.

Als ich mich nach Trasso umsehe, ist er verschwunden. Der eine Wandteppich bewegt sich noch, ich schlage ihn hoch, und vor mir liegt ein kurzer Stollen, der stark abwärts führt, der sich sehr bald wieder erweitert und mir den Blick in eine zweite kahle langgestreckte Felsenhöhle öffnet …

Dort drüben steht auch mein Wolfsbastard, Nase am Boden, tief geduckt, – – knurrt …

Die Laterne verschwindet schleunigst unter der Jacke.

„Trasso, – hierher!“ – – ganz leise.

Seine Krallen tappen, seine Schnauze berührt mein Bein.

Ich horche …

Die Totenstille hier, nur durch unsere krampfhaften Atemzüge in dieser fast unangenehmen kühlen Luft gestört, wird dennoch von fremden Geräuschen in das Ahnen eines gurgelnden, plätschernden unterirdischen Baches allmählich übergeführt. Ich höre etwas … Ein nie ersterbendes gleichmäßiges Murmeln, Zischen, Sprühen, und in der Dunkelheit malt mir die Einbildungskraft das Bild schäumenden Wassers …

 

9. Kapitel.

Bir Kassal spielt den Großmütigen.

Die Laterne glänzt in die Finsternis hinein, und auf dem körnigen Boden der Höhle – dort, wo Trasso sich so mißtrauisch meldete – zeichnet sich in dem feinen Steingruß ein einzelner Fuß ab – eine Sandalenspur, plump und kantig wie die mit Perlen benähten Sandalen des Schauerromanhelden.

„Trasso – – such!!“ – wieder ganz leise.

Der Wolfsbastard schleicht gebückt weiter, biegt rechts ab, es muß südliche Richtung sein, und leitet mich hinter die Einsturzstelle der Höhlendecke in eine Art Seitenkammer, wo das Laternenlicht sofort von glitzerndem, gleitenden Wasser zurückgeworfen wird.

Über die geneigte zackige Wand schäumt hier von oben ein breites dünnes Rinnsal hinweg, und seine Ursprungsstelle droben ist ein ebenso schmaler Riß wie seine Abflußstelle, kaum handbreit.

Trasso läuft hin und her, – er hat die Fährte verloren.

Ich prüfe die Beschaffenheit dieser kleinen Seitengrotte auf das genaueste, aber meine Hoffnung, es könnte hier einen Ausgang geben, ist eitel.

Ich kehre um.

Nicht enttäuscht …

Nein, – daß ich hier irgendwie einen Zusammenhang mit Thomas Holks unklarem Geschick und der Gegenwart entdeckt habe, beweisen mir die englischen Zeitungen und diese Fährte, die Trasso nun noch nach der anderen Richtung hin aufnimmt. Aber sie endet dort, wo Trasso zuerst knurrte, – der Mann, der vor kurzem (es kann keinen Tag her sein) hier seine Sandalenspur nur an dem einen Fleck zurückließ, ist dort wieder umgekehrt. Ob es Bir Kassal gewesen, steht dahin.

Wo blieb der Mann? Wo kam er her?

… Ich wünschte, ich könnte hier sorgfältiger suchen, aber Balfour Severn wird besorgt werden, und so belasse ich es bei flüchtiger Nachschau … In einer Ecke des Stollens finde ich beim Rückweg zur kleinen Prunkgrotte Küchengeräte, Geschirr, Konserven, Holz, – es muß die Küche des Mannes gewesen sein, der hier hauste und der in der obenauf liegenden englischen Zeitung den Artikel über Thomas Holks Erzfunde am Rande der Sahara dick angestrichen hat.

War es Holk selbst?!

Ich weiß es nicht …

Ich habe auch keine Zeit zum Nachgrübeln.

Ich stehe im Prunkgemach … Dort hängt der Teppich mit der zerfetzten Ecke … Dort fiel vorhin Tageslicht herein. Nun ist das Loch verstopft, verkeilt, und das Laternenlicht fällt auf einen Zettel am Boden …

Ich will mich bücken … Bücke mich, – – horche …

Draußen ein paar Schüsse, ein satanisches Geheul, – – Stille …

Ich reiße den Zettel hoch … Die flüchtige Bleistiftschrift verschwimmt …:

„Abelsen, sie greifen an … Ich habe das Lehmloch verstopft und alle Spuren ausgewischt … Ich werde mich bis zur letzten Patrone verteidigen … Falls die Sache schief geht, Sie wissen ja, wo meine Dromedare stehen, befreien Sie mich … Bir Kassal würde Sie abschlachten, – mich wird er schonen – vielleicht. – Severn.“

Mich wird er schonen – – vielleicht! – Armer braver Severn, soll dieses Ausharren auf verlorenem Posten nun ein Opfer von dir darstellen oder hattest du dabei irgendwelche Hintergedanken?!

Ich schätze die Opferfreudigkeit gewiß, aber ich fürchte, du kennst diesen von Europas Kultur mit angekränkelten Tuareg-Banditen und Intriganten doch zu wenig! Du glaubst, die Spuren von Trassos Tätigkeit genügend ausgetilgt zu haben. Ein Bir Kassal, immerhin ein Kind der Sahara, wird wissen wollen, wo ich geblieben bin, und Bir Kassals Methoden, hartnäckiges Schweigen zu brechen, sind kaum anders geartet als die der seligen, unseligen Lederstrumpf-Huronen, seine Augen werden auch kaum schlechter sein …

… Als ob sehr geräuschvolle Tatsachen dies beweisen wollten: Draußen poltern Steine, Geröll, werden Stimmen laut, und das dunkle, trotzdem messerscharfe Organ des Schauerroman-Banditenchefs übertönt das Rumpeln und Krachen und Knirschen sich aufhäufender Steinmassen und höhnt in blindem Haß:

„Verhungere dort unten, elender Spion! Nie wieder wirst du …“

… Eine neue Steinlawine prasselt, und alles wird still. Nur gedämpft vernehme ich noch das eifrige Mühen der Tuaregs, vor dem Loche eine Barrikade zu errichten, die all meinen Befreiungsversuchen trotzen wird. Das weiß ich. Bir Kassal ist gründlich. Für Halbheiten ist der Mann nicht zu haben.

Trotzdem empfinde ich keine Spur von Besorgnis um mein Leben.

Diese Grotten hier, das hat Bir Kassal verraten, sind ihm unbekannt. Er hält sie für eine Höhle wie so viele in den Felsenbergen der Sahara, er war noch nie hier unten, und der Abdruck der Sandale im feinen Geröllgruß drüben stammt nicht von ihm.

Flüchtig geht mir der Gedanke durch den Sinn, daß das Todeslied der Sahara hier einen neuen Vers erhalten hat … Die Muscheltöne haben damit nichts mehr zu schaffen, nur die Geheimnisse dieser Unterwelt sind wach geworden und strecken mir ihre Greisenhände hin, damit ich die Handlinien dieser uralten, zumindest sehr alten Rätsel meines steinernen Kerkers irgendwie deute.

Trasso sitzt abwartend neben mir, ohne viel Anteilnahme, ihm kommt alles recht, glückliche und peinliche Stunden, Gefahren oder Nichtstun, er ist der geborene Philosoph einer beneidenswerten Abgeklärtheit. Er sieht aufmerksam zu, wie ich nun diese Luxusgrotte genau durchsuche, wie ich jeden Wandteppich hebe, ob vielleicht noch irgendwo ein Stollen vorhanden sei. Ich finde nichts, ich habe auch nicht gehofft, hier etwas zu finden, und langsam kehren wir durch den sich senkenden Stollen in die kahle langgereckte Nebenhöhle zurück, in der das Wasser drüben murmelt und plätschert und deren Ausdehnung mir bisher fremd war.

Lichtschein der Laterne tanzt vor uns her, und wir schreiten hinein in das Unbekannte mit dem beglückenden Reiz der Neugier der Suchenden.

Die Grotte fällt nach Südost – mein Kompaß sagt es mir – steil ab, und die vielen Einsturzstellen der Höhlendecke und der mit hineingerutschte Wüstensand zeigen eins mit aller Bestimmtheit: Dieser Teil der Grottenwelt hat als Decke nur eine dünne Steinschicht, darüber lagern die Dünen und Täler des Sandmeeres, und an vielen Stellen fallen vor mir von oben herab glänzende dünne Sonnenstreifen durch schmale Ritzen des eingedrückten Gewölbes.

Dann hat dieses Reich der Tiefe ein Ende, und wir kehren um. Aber mit dem beschaulichen Rückmarsch ist es urplötzlich vorüber. Genau an derselben Stelle, wo Trasso die eine Fährte witterte, wird er unruhig, schnüffelt am Boden, will dann vorwärtsstürmen …

„Trasso, – – hierher!!“

Er kennt den gewissen scharfen Ton …

Er gehorcht zwar, aber er läßt mich auch darüber nicht im Zweifel, daß meine Einmischung ihm durchaus unpassend erscheint, er drängt mit aller Macht hinter jenen Geröllberg, wo das Wasser rieselt, und als ich die Ecke des Hindernisses umschritten habe, bleibe ich stehen.

Mattes Tageslicht leuchtet mir in breiter Bahn wie durch einen Perlvorhang entgegen.

Die Perlen sind das dünne Rinnsal, aber ein Teil des Steines, über dessen Fläche das Wasser hinabplätscherte, ist verschwunden, und jenseits des Perlvorhangs erkenne ich die Wände der Zisterne, des Schädelbrunnens.

Mißtrauen erwacht …

Will man mich nach oben locken?!

Kennt der Tuareg diese Höhlen doch trotz jenes trügerischen Zurufs, als er das Lehmloch verschütten ließ? Möchte er mich nur ohne Verluste der Seinen droben abfangen?!

Hängt dort nicht ein dickes Basttau im Brunnen von oben herab – so recht einladend?

… Bir Kassal, solltest du wirklich mit so plumpen Tricks arbeiten? Ich traue dir mehr zu … Sogar die geriebensten Schuftereien …

– Zunächst, – schauen wir uns diesen Ausgang genauer an.

Was alles in dem Abseitswanderer an Wissen und schnellem Erfassen technischer Einzelheiten von früher her noch lebendig, – all das quillt durch langer Jahre abenteuerliche Deckschichten wieder hervor, und das Rätsel des wechselnden Wasserstandes der Zisterne ist im Nu gelöst.

Die schräge Steinwand, über die der Zustrom der Zisterne vorhin im Dunkeln hinwegrieselte, ist ein Teil der Brunnenwandung, und jetzt hat man aus dieser Platte ein unregelmäßiges Stück gelöst und in natürlichen Steinzapfen nach innen gedreht.

So kommt es, daß ein Teil des Wassers in den Brunnen fließt, daß die Zisterne stark gefüllt ist und ihr Wasserspiegel mit dem Abfluß des glitzernden Vorhangs, der handbreiten Bodenspalte, in einer Höhe liegt und daß das überflüssige Naß durch diese lange schmale Kluft in unbekannte Tiefen entweicht.

… Ein anderer Gedanke zuckt jäh auf.

Verbargen sich Evelyn und Grace in dieser Grotte?

Der Gedanke wird beiseite geschoben, er ist zur Zeit unwichtig.

Ich kenne jetzt Zufluß und Abfluß der Zisterne, und vorläufig genügt mir dies.

Mit kritischem Sinn überdenke ich die Möglichkeit einer Gefahr, die mir durch Bir Kassals Hinterlist drohen könnte.

Könnte …

Bir Kassal – – nein!! – Wollte er mich fangen, hätte er es im Dunkel der Höhle bequemer gehabt. An meiner Person liegt ihm nichts, nur an meinem Verschwinden, Ausgelöschtwerden: Ich bin ihm unbequem!

Ein paar Kugeln mir und Trasso, und wir wären ausgetilgt gewesen.

Der, der mir dieses Schlupfloch zeigte, damit ich wieder emporklettern könnte zum Sonnenlicht, muß der noch lebende Bewohner dieser Unterwelt sein.

Thomas Holk?!

Vielleicht …

– Und weiter: Wenn dieses Wesen, das sich vor mir verbirgt, nicht genau wüßte, daß mir droben keine Gefahr mehr drohte, hätte es mir nie so einladend das Basttau dort in den Brunnen gehängt. Bir Kassal muß die Oase verlassen haben!

Ich beuge mich vor, der dünne Wasservorhang umspült mich, ich packe das Tau, ziehe mit aller Kraft …

Es hält … Trasso wiegt seine fünfzig Pfund. Trotzdem versuche ich es … Nehme ihn in den linken Arm, – es sind ja nur fünf Meter, – beiße die Zähne zusammen, und … schiebe meinen strampelnden Freund über den Zisternenrand in den grellen Sonnenschein.

„Trasso, – – such’!!“

Freund Wolfsbastard verschwindet, – ich klettere höher, schnell den Kopf vorgereckt …

Trasso läuft dort zwischen den Palmenstämmen hin und her, ohne viel Interesse …

Dann wendet er scharf, rennt die Kuppe empor, bellt, – – und hinter dem Steinwall richtet sich eine Gestalt auf, der der schmierige Turban ganz im Genick sitzt, so daß die rote Skalplocke ganz frei liegt: Sir Patrik Morstan!

„Hallo – Abelsen!!“

Aber dieser Abelsen hat seinen Kopf für sich, rutscht am Tau hinab, findet für die Füße auf dem Palmenstumpf Halt, schließt die Steintür der seltsamen Schleuse und gesellt sich dann erst denen zu, die er so schnell nicht wiederzusehen hoffte …

Morstan und Severn sind es …

Das Zelt ist noch da, das Gepäck, sogar zwei Reitdromedare und das Maultier, und das alles verschlägt mir die Rede.

Morstan hat an der Stirn eine Riesenbeule, eine bunte Pflaume, ein Horn. Severn trägt den linken Arm in der Binde.

„Wie kommen Sie hierher?!“, das ist alles, was ich über die Lippen bringe.

Sir Morstans Gesicht verrät übelste Laune.

„Und woher Sie?! – Eine verwünschte Gegend!“

Severn ist matt, aber höflich wie immer.

„Bir Kassal erklärte, er wünsche keine Weiterungen[3] mit der englischen Regierung … Er hat uns befohlen, abends nach Bell Abbas zurückzureiten …“

Sprachlos ist keine Bezeichnung für das, was ich empfinde.

„Und wo waren Sie derweil, Sir Morstan?“

„In einem dreckigen Tuaregzelt, irgendwo,– weiß nicht, wo … Die Kerle verbanden mir die Augen … Aber sie werden Morstan kennen lernen …“

Seine blauen Unschuldsaugen zwischen den Fettpolstern sprühten wie Vulkane.

Balfour Severn ergänzt gleichgültig: „Mit dem Widerstand bis zur letzten Patrone war es nichts. Die Kerle schossen mir durch den Unterarm, und Bir Kassal brüllte, mir würde nichts geschehen … Dann haben die Schufte das Lehmloch verschüttet, und bevor der Banditenchef sich empfahl, sagte er noch, auch Sie würde er später befreien … Im Augenblick habe er Wichtigeres vor … Die ganze Gesellschaft, es waren ihrer dreißig, hatten es verdammt eilig und ritten nach Südost davon … Sir Morstan folgte ihnen eine halbe Stunde … Aber sie behielten diese Richtung bei und jagten dahin, als ob ihnen der Teufel auf den Fersen wäre … Natürlich hätten wir Sie herausgebuddelt, Abelsen …“

Ich blickte Morstan fragend an.

„Mithin sind wohl auch die Wachen mit den Feldtelephonen, von denen Severn fabelte, verschwunden?“

Morstan nickte. „Alles weg – alles …! Wir können hier tun, was wir wollen. Und wir wollen, Abelsen, – – wir wollen, – – nämlich diesen Dingen auf den Grund gehen, – – so wahr ich Patrik heiße und einst Sergeant war!“

 

10. Kapitel.

Wieder am Märchenbrunnen.

Der Fleischschuß des netten, sympathischen Severn war nicht schlimm. Severn hatte nur sehr viel Blut verloren.

Die beiden Dromedare waren seine eigenen Tiere, mit denen er hierher geritten war, und die Tuareg hatten das Versteck der beiden Dromedare wohl längst gekannt.

Nachdem wir Kriegsrat gehalten und ich die Grotten dort unten genau geschildert hatte, fügte sich Sir Morstan meinen Vorschlägen, die den seinen allerdings sehr wenig entsprachen.

Der Rest des Tages verstrich ohne jeden Zwischenfall.

Die Sonne sank, die Dämmerung kam, und wir dachten an Aufbruch, als mit einem Male fernher, gleichsam drohend, die Stimme der Sahara sich dreimal meldete.

Wir horchten …

Wohl jeden von uns beschlich dasselbe Unbehagen.

Sollten wir wirklich die Kuppe preisgeben, die uns mehr Sicherheit bot als die offene Wüste?!

Ich hatte es gewollt, ich wurde schwankend.

Wir wurden immer noch beobachtet.

Die Todesmelodie der Sahara verklang, und wir drei starrten vor uns hin, unschlüssig, irgend eine Hinterlist witternd …

„Verdammte Evelyn!“, knurrte Morstan.

„Es bleibt bei unserem Entschluß!“, entschied ich gereizt.

„Die Verantwortung tragen Sie!“, murmelte der Subchef.

„Tue ich! – Los! Aufbruch!“

Das Zelt wurde verpackt, Sir Morstan kletterte auf seine bockbeinige Ziege von Maultier, und unsere Karawane trabte davon.

Wir hatten fünf Wasserschläuche, genügend Proviant, Waffen, Munition, es fehlte uns an nichts, nur an dem einen: Jener Zuversicht, die den Erfolg garantiert.

Ich ritt voran. Ich ahnte, daß Bir Kassal Spione in der Nähe hatte, aber ich wollte ihnen den Spaß verderben, und ich schlug eine Richtung ein, die durch tiefe, steinige Täler führte und als Ziel eine Hügelkette hatte, in deren Schluchten mich die Muschel vor Tagen gleichfalls genarrt hatte.

Zwei Stunden unterwegs, – jetzt hinein in die kahlen Felsenmassen, deren Glutodem uns den Schweiß aus allen Poren trieb.

„Backofen bei Nacht!“, schimpfte Sir Morstan, der mit seiner Maultierbestie dauernd Ärger hatte.

Der flache, zerklüftete Hügelrücken, den wir am Westende betreten hatten, fand uns nach einer weiteren Stunde in einer Schlucht am Ostende wieder.

Nun mochten Monsieurs braune Kerle suchen!

Wir waren dauernd im Zickzack durch die Steinwildnis geritten, und da die Spione notwendig droben die Kuppen benutzen mußten, konnten sie uns unmöglich im Auge behalten haben.

Wir lagerten. Es war kurz vor Mitternacht. Der Himmel war dunstig, der Mond nur ein verschwommener Fleck.

Nun warteten wir, ob die List geglückt sei.

Wenn die Stimme der Sahara sich meldete, hatten wir verspielt – vorläufig.

Es blieb still.

Morstan rauchte seine Giftnudel.

Wir sprachen nicht viel.

„Ein Uhr“, sagte Severn hoffnungsfroh.

Der Nachtwind war heute kräftiger als bisher …

Aber er kam von Nordost, und wir hörten nur sein Jaulen in den Klüften.

Vor uns dehnte sich eine Geröllhalde aus und verlor sich nach Süden in der Wüste … in einem Dünental, dessen Ränder von tanzenden Sandkörnern verschleiert waren.

„Bei dem Winde verweht jede Spur in einer halben Stunde“, meinte Severn zuversichtlich.

Ich tränkte mein Dromedar.

„Sir Morstan, es bleibt also bei unseren Vereinbarungen …“, bekräftigte ich nochmals. „Sie beide warten hier … Nach zwei Stunden brechen Sie auf … Sie wissen Bescheid …“

„Reden Sie nicht so viel!“

Minuten später trabte ich davon.

Immer noch spitzte ich die Ohren, ob nicht irgendwoher die Muschel sich meldete.

Ich hatte das Dünental fast erreicht, als ich hinter mir Schüsse zu hören glaubte … Ich konnte mich getäuscht haben … Die Todesmelodie der Sahara, auf die ich, gewitzigt durch tagelange böse Erfahrungen, so gespannt und mit einem nicht wegzuleugnenden Unbehagen geradezu gelauert hatte, mochte meine Sinne überreizt haben durch – – ihr Schweigen … Die Schüsse waren doch wohl nur Einbildung gewesen. Trasso hatte sich nichts anmerken lassen, seine schärferen Ohren waren mir bester Prüfstein, damit tröstete ich mich. Ich hatte auch keine Zeit, ich mußte vorwärts, wenn nicht auch diese Nacht meinen Händen entgleiten sollte wie eine leere Schale. Ich wollte einen Kern finden, nicht nur immer wieder nur das, was den Kern umschloß.

Das Reittier war tadellos und frisch. Wir hatten uns bei dem Herritt Zeit gelassen. Ich vermied nun alle Umwege, neben mir her flogen die Wölkchen des aufgewirbelten Sandes wie Streifen von Rauch, und erst in bekanntem Gelände nordöstlich der Zisterne machte ich einen weiten Bogen, um von Süden heranzuschleichen. Ich verbarg das Tier, tränkte es, gab ihm zu fressen, und Trasso und ich arbeiteten uns allein vorwärts. Der starke Wind war unangenehm, hatte anderseits sein Gutes, und als erst unser alter Höhenzug die Windstöße abfing, war ich gut gedeckt, nahm den Hund an die Leine und schob mich behutsam vorwärts. –

Schädelbrunnen, – ja, Lord Garling hatte ihn so genannt.

Die Bezeichnung paßte nicht mehr …

Ich lag droben auf einem Felsstück, gedeckt durch Steine, der begierig keuchende Trasso neben mir, und vor uns, keine dreißig Meter entfernt, saßen auf dem Wall der Zisterne wie damals die beiden Mädchen in den hellen, mantelähnlichen Gewändern, wieder eng umschlungen, aber – – kein sanfter Gesang wie damals kam über ihre Lippen, nein, sie saßen da wie geknickte Blüten, denen die Nacht des Schreckens die Tränen des Morgentaus in die Kelche zaubert.

Sie saßen da wie arme, hilflose Geschöpfe, und nur Grace Garling, die dunkelblonde, flüsterte zuweilen der bisher so selbstsicheren Evelyn mitunter ein paar Worte zu, ohne deren Tränenstrom zu bannen.

Enger als damals waren sie aneinandergerückt, und hielten einander mehr umklammert als umschlungen, starrten vor sich hin, führten die Tüchlein an die Augen und glichen durchaus zwei völlig aus der Bahn geworfenen Menschlein, die urplötzlich ein hartes Geschick erbarmungslos die eigene Ohnmacht und Unzulänglichkeit erkennen läßt.

Gespenstisch nahmen sich die beiden hellen Gestalten dort auf dem Steinwall aus, – vielleicht deshalb so unwirklich und so märchenhaft, weil die düstere Nacht ihre leicht glitzernden Gewänder seltsamer denn je flimmern ließ.

Märchenbrunnen …

Und dazu der weiße Knochenberg, dazu das Rauschen der Palmenkronen, die den Wind zu spüren bekamen und sich wie damals feierlich neigten vor den Gebeinen, – dazu meine spürenden Gedanken, die unruhig flatterten, die bei Lord Garling, dem um die Liebe seines Kindes besorgten Vater halt machten und sofort weiterirrten zu dem Banditenchef Bir Kassal …

Weshalb weinte Evelyn und ließ sich nicht trösten?! War in ihrem Herzen etwa jäh die Reue erwacht, daß sie das Schicksal ihres Vaters zum Ausgangspunkt einer neuen Lebensbahn gemacht hatte, die sie in die Reihen der Rechtsbrecher geführt hatte?! Was war sie im Grunde anderes als eine bessere Abenteuerin?! Besessen von Rachgier, von Haß, von grausamen Wünschen, für ihren Vater an denen Vergeltung zu üben, die ihn und sie selbst betrogen hatten!

Ihre Tränen konnten der Ausdruck eines Gefühls der Niederlage sein, nicht der Reue. Aber ich mochte nicht Richter spielen über ein Weib, deren Geschick mir halb verborgen, – denn Schicksal war es, das sie hineingehetzt hatte in so abenteuerliche unklare Verhältnisse, – es war ein bitteres Schicksal, und das Abseits hat mich gelehrt, behutsam abzuwägen, zumal ich eins nicht, nie vergaß: Ihre flammende Empörung, als Garling ihr vorgeworfen hatte, daß der weiße Knochenwall ihr Werk sei!

Märchenbrunnen …

Zwei Mädchen, aufgelöst in Schmerz, hilflos, so eng umschlungen, als hofften sie, irgend etwas Furchtbares in dieser engen Vereinigung leichter zu tragen.

… Trasso witterte Evelyn. Er liebte sie … Er wollte zu ihr. Er atmete schwer, keuchte und winselte leise mit den Windstößen um die Wette. Nur mein Befehl hielt ihn zurück.

Und – was würde weiter geschehen …?!

Der neue Tag war nicht mehr fern. Würden die Mädchen den Morgen hier abwarten, und wohin würden sie dann verschwinden?!

Ich hatte das Fernglas an den Augen … Ich suchte die Oase nach Tuaregs ab … Die Oase war leer.

Und als mein Glas wieder herumschwenkte, als vor den Linsen die hellen Gestalten greifbar nah erschienen, kam von Süden her gegen den fauchenden Wind die Melodie der Sahara über die Sandwogen geschwebt …

Evelyn hob den Kopf …

Die Mädchen horchten …

Jetzt begann das Tremolieren, – – dann war alles wieder still.

Evelyn machte sich aus Graces Armen frei und glitt auf den Boden, reckte dann die Arme hoch, als ob sie den fahlen Himmel anflehte, ihr irgendwie beizustehen, aber aus dieser eindrucksvollen Gebärde der Verzweiflung wurde ein wildes Aufbegehren. Sie schüttelte die Fäuste gegen einen unbekannten Feind, und – – wieder erklang die Muschel, und Grace zog Evelyn eiligst und ängstlich mit sich zur Zisterne …

Also doch!!

Erst verschwand Evelyn, dann Grace, und diesmal gab es keine Zweifel mehr: Der Märchenbrunnen verschluckte ein modernes, bitterernstes Märchen, verkörpert in den schlanken Gestalten zweier Europäerinnen, die ein Geheimnis gesucht und in Dornen geraten waren, die ihre Seelen marterten.

Sie verschwanden. Nichts geschah mehr.

Sie waren ausgelöscht wie nie dagewesen. Sie waren hinabgestiegen in die Felsenklüfte, die ich kannte, und die doch noch einen anderen Ausgang haben mußten.

Das Märchen war zerronnen. Vor mir lag nur noch der Schädelbrunnen, – aber eins wußte ich nun: In all dem Geschehen, das bisher mir das Abseits geschenkt hatte, war eine jähe Verwandlung eingetreten.

Evelyn war nicht mehr die Herrin der Todesmelodie der Wüste.

Evelyn gehorchte ihr.

Aus Herrin war Sklavin geworden.

 

11. Kapitel.

Der Bewohner der Unterwelt.

Ich möchte hier an dieser Stelle meiner Aufzeichnungen einen dicken Strich ziehen oder als ehrlicher Chronist schreiben: „Zweiter Teil:

Die Faust mit den drei Fingern.

Und müßte, um den gänzlichen Umschwung der Dinge anzudeuten, als Untertitel wählen:

Evelyn, die Sklavin.“

Eines ist nicht wegzuleugnen: Was bisher die Spur ins Jenseits an Irrungen und Wirrungen uns beschert hatte, gleicht einem harmlosen, allerdings sehr verzwickten Zusammensetzspiel … – Aus dem Spiel wurde tödlichster Ernst.

Die Stimme der Muschel war auch für mich eine sehr nachdrückliche Warnung gewesen. Bir Kassals Abzug mit den Seinen konnte nur ein Täuschungsmanöver gewesen sein, und Spieler und Gegenspieler hatten sich nur insofern anders gruppiert, als Evelyn Holks Einfluß auf den Tuareg jetzt irgendwie ausgeschaltet worden war. Evelyn und Grace, und das bereitete mir die ärgsten Sorgen! – schwebten ohne Rückhalt und Hilfe offenbar zwischen den Parteien, deren es nunmehr drei gab: Die gefangenen Europäer in ihrer Felskluft, darunter jetzt auch wieder Garling, Harris und Brighton, alle diese zur Untätigkeit verdammt, und dann wir drei, Morstan, Severn und ich, und schließlich Bir Kassal nebst zahlreichem Anhang.

Sehr rosig waren für uns drei die Aussichten gewiß nicht. Geschah nicht irgend ein Wunder, würden auch wir wohl sehr bald das zweifelhafte Vergnügen haben, Lord Garling an einer Stelle begrüßen zu können, wo wir lediglich den steilen Felswänden unsere ohnmächtige Empörung zuschreien konnten.

Aber gerade diese fast hoffnungslose Lage bewirkte wie stets bei mir ein Zusammenraffen all jener körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die hier allein eine Katastrophe abwenden konnten.

Ein leiser Hoffnungsschimmer verstärkte noch dieses zielbewußte Aufbegehren gegen die Ungunst der Verhältnisse: Morstan und Severn hatten sich sehr geschickt den Höhenzug entlanggeschlichen und meldeten jetzt ihre Ankunft durch leisen Zuruf. Sie lagen droben in derselben gekrümmten Kluft, wo Trasso das Lehmloch freigelegt hatte, und ich beeilte mich, zu ihnen zu gelangen, bevor noch die Morgendämmerung voll einsetzte.

Sir Morstan wies schweigend auf das wieder freigelegte Loch. „Abelsen, – den Fehler hätten wir nicht begehen dürfen. Die Tuaregs kennen nun die Grotten, sie sind sehr fleißig gewesen … Wir hätten die Barrikade wegräumen sollen. Bir Kassal wird sich doch gefragt haben, wie Sie an die Oberwelt zurückgelangt sind, und vielleicht entdeckte er auch den Zugang zum Brunnen – vielleicht …“

Morstan sprach hier nur etwas aus, was auch ich mir bereits zum Vorwurf gemacht hatte.

„Sehen wir nach, wie es dort unten steht“, erklärte ich nur. „Trasso – voran, mein guter Hund, damit wir in keinen Hinterhalt geraten!“

Jede Vorsichtsmaßregel war unnötig. Die Grotten waren leer. Wir verkeilten das Lehmloch von innen, wir fanden auch Mittel und Wege, die Steintür zum Brunnen abzusteifen, die nur nach innen zu öffnen war. Wir mußten hier unten die Nacht abwarten, droben in den Hügeln ohne Zelt wären wir der Hitze erlegen. – Daß die Tuaregs hier gewesen, bewies so manches: Die kostbarsten Teppiche fehlten, ebenso die modernen Gewehre der Wanddekoration, die Kerle hatten alles um und um gekehrt, zum Glück hatten sie die Konserven liegen lassen, die in der „Küche“ im Stollen aufgestapelt waren.

Sie waren noch brauchbar, und sie stammten alle aus einem Londoner Spezialgeschäft für Tropenproviant, – wir aßen, tranken Tee, losten die Wachen aus, und Severn kam als erster an die Reihe.

Ich gab ihm genaue Verhaltungsmaßregeln. Er sollte mit Trasso dauernd die Runde machen und insbesondere die große Grotte scharf beobachten. Der Gedanke, daß dort noch ein Ausgang vorhanden, ließ mich nicht los.

Morstan und ich benutzten die Decken und Kissen und Felle des Diwans als Lagerstätten. Ich schlief sofort ein, die kühle Luft hier unten förderte einen wirklich erquickenden Schlaf, und als Severn mich gegen elf Uhr vormittags als Ablösung weckte, war ich frischer denn je. Severn erklärte, nicht das geringste Verdächtige bemerkt zu haben. Auf ihn war genau so Verlaß wie auf Morstan. Diese beiden äußerlich so ungleichen Männer hatten eins gemeinsam: Alle Vorzüge ihres Berufes und eine selbstverständliche Hingabe an ihre Aufgabe, daß ihnen keine Gefahr etwas galt. Insofern paßten wir drei tadellos zusammen.

Nun war es an mir, mit Trasso die Grotten zu bewachen.

Schon beim ersten Rundgang ereignete sich in der großen langgestreckten Grotte etwas, das die schlimmsten Befürchtungen wieder aufleben ließ.

Daß die Höhlendecke hier stellenweise eingestürzt und der Wüstensand die Löcher ausgefüllt hatte, wollte nicht viel bedeuten. Wichtiger waren die schmalen Ritzen des Gewölbes, die Luftlöcher, und eine dieser Öffnungen gab Anlaß zu verschärfter Wachsamkeit. Ich war gerade in nächster Nähe, als durch das Loch ein Sandbach herabrieselte, dann hörte ich droben Schüsse, – zweifellos fand dort über mir in einem Dünental ein Kampf statt, das unregelmäßige Gewehrfeuer verharrte minutenlang an derselben Stelle, verstummte dann, und auch das Herabrieseln des feinen Wüstensandes hörte auf.

Da sich nichts weiter ereignete, begab ich mich schnell in die kleine Wohngrotte. Trasso war sehr unruhig und stürmte mir voraus, ich kam gerade noch zur rechten Zeit, die Felsstücke, die wir in das Lehmloch gekeilt hatten, zitterten und splitterten unter wuchtigen Hieben und Stößen, die von draußen geführt wurden, Morstan und Severn erwachten, und nach ein paar Pistolenschüssen, die ich durch die Spalten der Keile auf die mir unsichtbaren Beine der Gegner abgefeuert hatte, meldete sich plötzlich Bir Kassal.

Was er rief, blieb uns unverständlich. Er gebrauchte die Tuaregsprache, und gerade das bewies uns, daß er von unserer Anwesenheit in den Grotten nichts ahnte.

Aus seiner schrillen Stimme sprach eine ungezügelte Wut, und verschiedentlich benutzte er einen Ausdruck, der nur ein Name sein konnte, den er stets mit wildem Haß hervorstieß: Hadina!

Ich hatte derweil Severn in die Haupthöhle geschickt, damit er die Brunnentür bewache. Als die Tuaregs draußen sich nicht mehr meldeten und auch nichts weiter geschah, zwang ich Morstan und Severn, sich wieder niederzulegen. Wir mußten mit unseren Kräften haushälterisch umgehen, und es wäre gänzlich verfehlt gewesen, unnötig unseren Körper zu überanstrengen. Ich band Trasso vor dem Lehmloch fest, – sein Bellen würde jede Überrumpelung verhindern.

Ich schritt durch den Stollen in die Hauptgrotte hinab.

Bir Kassals Benehmen war mir unverständlich. Weshalb er sich der Tuaregsprache bedient hatte, konnte doch nur einen Grund haben: Er vermutete hier eine Person, die Hadina hieß, – er mochte Trassos Bellen nicht gehört haben, sonst würde er, der so fließend englisch und französisch sprach, auch uns gedroht haben.

Die Tür zum Brunnen kannte er noch immer nicht. Ich hätte sie ja auch kaum entdeckt, wenn nicht jemand anderes sie mir geöffnet hätte. Wer?! – Darüber hatte ich mir schon genügend den Kopf zerbrochen.

Plötzlich blieb ich stehen.

Es war genau die Stelle, wo Trasso den Sandalenabdruck gefunden hatte.

Ich horchte mit angespannten Sinnen …

Außer dem Rieseln des Wassers vernahm ich Töne, die nur von menschlichen Lippen kommen konnten.

Stöhnen, unterdrückte Schmerzenslaute …

Irgendwoher …

Hilflos blickte ich mich um.

Mein Gehör versagte …

Und jetzt geschah das Überraschendste: Etwas fiel von der Höhlendecke herab und klatschte auf den Lauf meiner Büchse auf und zerspritzte. Ein roter Fleck blieb zurück …

Ich schaute nach oben …

Das Gewölbe war hier sehr niedrig, hatte lange Zacken und tiefe Risse.

Ich richtete die Laterne auf die unebene Fläche, und da sickerte der zweite Blutstropfen herab.

Ich warf die Büchse weg, türmte Steine auf, packte eine der Zacken, drückte mit der Hand gegen eine flache kleine Stelle der Decke und … schob ohne Mühe die dünne Steintafel beiseite.

Gleich darauf turnte ich in das Loch hinein, – hinein in eine niedere mittelgroße Höhle, die nicht nur wohnlich ausgestattet war, sondern auch Oberlichtfenster hatte, – was mich am allermeisten überraschte. Weit weniger setzte mich der Anblick der stöhnenden Frau in Erstaunen, die nicht einmal mehr die Kraft gehabt hatte, ihr einsames Lager zu erreichen und nun zusammengekrümmt neben dem Loche ruhte, das zu uns in das untere Stockwerk hinabführte.

Diese Oberlichtfenster, eine vielleicht sehr großartige Bezeichnung für ein paar mit Glasscheiben überdeckte Risse, durch die ich droben genau Teile des schauerlichen Skelettzaunes erkannte, gaben genügend Licht: Ich hatte eine jüngere, tadellos gewachsene Araberin vor mir, die ganz wie ein Tuareg gekleidet war, nur daß sie unter dem braunen, von den Schultern gesunkenen Burnus ein helles, etwas phantastisches Seidengewand trug. Ihre Füße steckten in Sandalen, die viel zu groß sein mußten.

Sie war bei Bewußtsein, und sie war schön, ihr hellbraunes Gesicht hatte sogar trotz der Schmerzen, die sie litt, – einen etwas hochmütigen, herrischen Ausdruck.

Ich trug sie auf ihr Lager. Eine flüchtige Untersuchung zeigte mir, daß ihre stark blutende Schulterwunde von einem Querschläger herrührte, der, von der Silberagraffe der Achsel abgelenkt, den Knochen freigelegt hatte, ohne ihn zu zerschmettern.

Ich fand Wasserkrüge, Leinenstoff, und schon die erste Kompresse linderte die Schmerzen, die Frau schloß wie erlöst die großen dunklen Augen, und ich beeilte mich, Sir Morstan zu wecken und ein Medikament zu holen.

Nach wenigen Minuten war ein regelrechter Verband hergestellt, und ein Schluck Whisky erfrischte die Araberin so sehr, daß sie mir dankend zunickte.

Sie legte sich bequemer zurecht und beobachtete mich still. Als ich sie anredete, erwiderte sie ebenfalls in englischer Sprache, und ihre Ausdrucksweise war gewandt und gewählt und überhob mich der Mühe, sie lange ausfragen zu müssen. Anderseits machte ich mit ihr eine sehr unangenehme Erfahrung. Sie war nicht leicht zu behandeln, und sie verschanzte sich, was Einzelheiten anging, hinter einer bewußt anmaßenden Verschlossenheit.

„Du bist Hadina, und du wohnst hier schon längere Zeit“, hatte ich begonnen.

„Sie dürfen mich getrost Miß Hadina nennen“, entgegnete sie. „Ich hätte von Ihnen mehr Höflichkeit erwartet, Mr. Abelsen.“

„Entschuldigen Sie … – Sind Sie eine Tuaregfrau?“

„Ja und nein. Über meine persönlichen Verhältnisse werde ich sprechen, wenn wir uns besser kennen.“

„Sie leben schon lange hier …“

„Vielleicht, Mr. Abelsen …“

„Bir Kassal ist Ihr Feind …“

„Er ist jedes Menschen Feind, das dürften Sie sehr bald feststellen. Der Ruf dieses Mannes ist sehr schlecht, und seine Taten waren eine Kette von Verrätereien.“ – Jetzt hatte sie sich doch verraten. Ihre Augen besagten alles … Sie haßte den Tuareg.

Plötzlich erschien Sir Morstan in dem Loche und schwang sich zu uns nach oben. Er betrachtete Hadina nur flüchtig und meinte dann mit einem gewissen Respekt:

„Miß Hadina, ich gehe wohl nicht mehr fehl in der Annahme, daß Sie Bir Kassals verschwundene Gattin und die Tochter des letzten Sultans von Mossor sind, von dem ein Syndikat die Erz- und Silbergruben kaufte, die Thomas Holk entdeckt hatte. Ihre Gesichtszüge sind zu charakteristisch, als daß man sie vergessen hätte. Bir Kassal ist sehr eitel und ließ sich mit Vorliebe für illustrierte Zeitungen fotografieren. Damals trug er keinen Spitzbart.“

Frau Hadina lächelte spöttisch. „Wie geht es Ihren Tauben, Sir Morstan?! Sie sind ja vielleicht ein sehr kluger Mann, aber für Bir Kassal nicht klug genug. Auch nicht für mich.“

„Danke …!“ Morstans blaue Engelsaugen glitzerten belustigt. „Es stimmt schon, – die Brieftauben hätte ich durch einen tragbaren Sender ersetzen sollen, aber das wäre etwas unbequem gewesen. – Wo befinden sich Evelyn Holk und Grace Garling?“

Das war reichlich ungeschickt von ihm.

„Ich weiß nicht … Ich möchte jetzt ruhen, meine Herren … Ich bin durch den Blutverlust sehr geschwächt.“

Eine eisigere Abfuhr hätte sich Morstan kaum holen können.

Er murmelte irgend etwas von Unverfrorenheit – es konnte auch Unverschämtheit heißen – und wir zogen recht unbefriedigt ab.

Das war Hadina, einzige Tochter und Erbin des von den Großmächten abgesetzten Sultans von Mossor, der … urplötzlich gestorben war. Es sterben viele farbige Fürsten eines rätselhaften Todes, sobald sie sich unbeliebt machen. Der Sultan war nur ein Beduinenfürst gewesen, aber zur Not hätte er zehntausend Krieger stellen können, und das war eben zu viel des Guten … – Das Ganze nennt man Bereinigung der internationalen politischen Atmosphäre … Es klingt gut und riecht schlecht.

 

12. Kapitel.

Hadinas wahres Gesicht.

„Abelsen“, sagte Morstan unten zu mir recht mißvergnügt, „diese Frau ist eine harte Nuß. Sie haßt alle Europäer wie die Sünde, und wir haben von ihr nichts zu erwarten. Natürlich weiß sie mehr als wir, aber eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß sie uns irgendwie zu Hilfe käme. Die Hoffnung geben Sie nur auf.“

Wir schritten der kleinen Grotte zu. Severn schlief noch. Trasso lag lang vor dem Lehmloch und hatte die Ohren nach vorn gestellt. Da hier alles in Ordnung war, kehrten wir um. Wir hatten den Stollen noch nicht erreicht, als draußen dasselbe Poltern begann, das wir schon kannten: Die Tuareg verschütteten die Lehmöffnung.

„Zweckloser Spaß“, meinte Morstan.

Trasso knurrte, ich verwies ihn zur Ruhe, und wir schritten weiter.

Wir waren uns nun darüber klar, daß Bir Kassals Kenntnis dieser Grotten nur sehr ungenügend sein konnte. Er glaubte, Hadina sei durch das Lehmloch hier hinabgeflüchtet, und er überlegte sich gar nicht, daß doch unbedingt ein zweiter Ein- und Ausgang vorhanden sein müsse.

Die Auffindung Hadinas hatte uns beide doch erregt, und unwillkürlich kamen wir immer wieder auf sie zu sprechen, als wir nun vor dem rieselnden Wasserband Halt machten. „Die Frau weiß alles“, betonte Morstan nochmals. „Sie könnte uns sehr nützlich sein. Ich behaupte, sie kennt auch die Lage der Schlucht, in der all die Weißen als Gefangene stecken.“

„Wann trennte sie sich von Bir Kassal?“ – Ich stellte gerade diese Frage in bestimmter Absicht.

„Hm, – den unkontrollierbaren Gerüchten nach vor fünf Jahren …“

„Also etwa zu derselben Zeit, als Evelyn Holk mit Bir Kassal sich verbündete.“

Morstan war hellhörig.

„Ach so, – – Eifersucht etwa?!“

„Ich vermute … – – Ich vermute auch, daß Evelyn Holk jetzt erst bemerkt hat, daß dieser Romanbandit sie begehrt.“

„Donnerwetter!“ – Morstan qualmte noch eifriger seine entsetzliche Giftnudel. „Daher die Tränen, wie Sie erzählten, Abelsen. Sie können damit schon recht haben. Unsere Aufgabe wird immer komplizierter. Erstens, – wir müssen die Weißen befreien, wir wissen aber nicht, wo sie stecken. Garling, Harris und der junge Brighton sind ihrer Behauptung nach vier Tage unterwegs gewesen, bevor sie hier als zerlumpte Strolche anlangten. Mithin liegt das Versteck weit nach Süden zu. Wie wir es finden sollen, weiß ich nicht. – Und zweitens: Evelyn und Grace sind jetzt Gefangene Bir Kassals genau wie die übrigen Europäer, werden jedoch hier in der Nähe, also getrennt von den anderen, bewacht. Wo?! – Keine Ahnung! – Drittens: Wie sollen wir drei an die braunen Schufte heran?! Es sind ihrer dreißig, alle tadellos bewaffnet und beritten, und viele Hunde sind des Hasen Tod. Also – auch eine Preisfrage!! Eine ganz verdammte Geschichte das, Abelsen!! Dabei liegt mir und Balfour Severn das „Milieu“ hier ganz und gar nicht. Wir sind an Londoner Kaschemmen, Spielhöllen und feine Lasterstätten nebst zugehörigem Publikum gewöhnt, nicht an die Sahara. Wenn ich lebend heimkehre, werde ich einen Kursus „Der Detektiv im Abseits“ einrichten lassen und Sie als Professor vorschlagen. – Mann, grinsen Sie nicht! Bedenken Sie, mein Ruf steht auf dem Spiel! Die Regierung erwartet von mir hier Zauberkunststücke! Hat sich was! Wir sitzen in der Tinte, Abelsen.“

„Nicht so arg, wie Sie glauben“, tröstete ich. „Lassen Sie es nur erst wieder Nacht werden, dann will ich Ihnen beweisen, daß ich zu dem Kerker der Europäer keine Stunde brauche.“

„Morstan riß die Augen auf. „Wie – keine Stunde?“

„Nein. Garling und Harris und der nette James sind damals bei miserablem Wetter immer im Kreise geritten, behaupte ich, Garling nimmt das selbst an.“

„Sie meinen?! – Etwa … etwa die Berge dort im Süden mit den drei Ausläufern, die Faust mit den drei Fingern?! – Nein, alter Freund, da sind Sie auf dem Holzwege, aber gründlich! Die Berge kenne ich, das sagte ich Ihnen schon. Ich bin nicht umsonst mit meinem Taubenkäfig und dem Maultierschinder als abgerissener Händler hin und her gezogen, ich habe jeden Fleck untersucht, der …“

„… und haben auch diese Grotten nicht gefunden, Morstan! – Haben Sie Geduld… – Ich habe wieder Hunger. Essen wir …“

Abends sieben Uhr hatte Frau Hadina leichtes Fieber. Ich hatte den Verband gewechselt, und als ich nun neben ihrem Lager saß und von droben bereits die Abendröte durch die halb mit Sand bedeckten „Oberlichtfenster“ hereinflutete, suchte ich ihr ins Gewissen zu reden. Sie lag mit großen, übergroßen glänzenden Augen da, und die zarte Fieberröte auf ihren lichtbraunen Wangen machte ihr Gesicht nur noch anziehender. Ich wollte nicht Diplomat sein, ich fuhr sofort das schwerste Geschütz auf.

„Glauben Sie, Frau Hadina, daß eine Miß Evelyn Hock jemals Bir Kassal lieben könnte?! Da kennen Sie die Engländerin schlecht. Der Tuareg war ihr nur Mittel zum Zweck – zu einem Zweck, der mir noch verschleiert ist. Jetzt hat Bir Kassal allerdings die Maske fallen lassen. Hörten Sie Evelyn in der verflossenen Nacht weinen?“

Sie schaute mich groß an.

„… Und hörten Sie die Muschelhörner … Evelyn und Grace gehorchen dem, was wir „Stimme der Sahara“ nennen …“

„Ich … schlief …“, sagte sie leise.

Dann schloß sie die Augen und schien zu überlegen. Um ihre vollen, aber fein geschwungenen Lippen zuckte es zuweilen.

Plötzlich richtete sie sich auf. Sie war an Strapazen gewöhnt, sie war abgehärtet und sicherlich auch kerngesund. Das leichte Fieber machte ihr nichts aus, und die Fleischwunde mußte sich dank der zweckmäßigen Behandlung bald schließen.

„Ich traue keinem Europäer“, sagte sie hart. „Beweisen Sie mir Ihre Behauptungen … Ich bin zu oft belogen worden … Von Evelyn Holk auch … Mein früherer Gatte, denn Bir Kassal ist nur noch mein Todfeind – wollte mich loswerden, als dieses weiße Mädchen hier erschien und ihn für sich gewann, für ihre Pläne. Ich mußte fliehen, – ich kenne Bir Kassal. – Also – beweisen Sie es mir, und ich werde mich dann entscheiden …“

Sie ließ sich wieder zurücksinken und winkte mir verabschiedend zu. –

Beweisen?!

Ja, das konnte ich, falls Evelyn und Grace auch in dieser Nacht wieder aus der Zisterne wie Wassernixen emporstiegen und den Schädelbrunnen zum Märchenbrunnen machten. Aber darauf durfte ich selbst nicht warten. Ich hatte anderes vor … Morstan mochte das Nötige in die Wege leiten. –

Wir drei einsamen Gefährten saßen nun in der Wohngrotte beieinander und berieten. Jede Einzelheit wurde festgelegt, jede Schwierigkeit erwogen. Frau Hadina war zum wichtigen Faktor in unserer Rechnung geworden. Wir fühlten alle drei, daß die Stunden der Entscheidung nahten, wir hatten alle drei jenen sechsten Sinn, Instinkt genannt, und Balfour Severn betonte, auf seine Vorahnungen könnte er sich verlassen.

„Ich habe vorhin von einem Tanzsaal, rauschender Musik und eleganten Tänzern und stark unbekleideten Tänzerinnen geträumt“, sagte er mit Nachdruck. „Das bedeutet immer Blutvergießen, üble Schießereien und Tote und Verwundete …“ – Es war zehn Uhr geworden.

Über uns hinweg fegte ein scharfer Wind. Der Himmel war bewölkt …

Ich hatte die Brunnentür geöffnet und mich bis zum Zisternenrand emporgeschwungen. Das Wetter war günstig … Mondschein und Sternenlicht hätten mir nicht gepaßt.

Nach kurzem vorsichtigen Rundblick kletterte ich an der aus den Teilen eines Klapptisches hergestellten Stange wieder hinab. Das Wasser im Brunnen war gesunken, und ich leuchtete in die Einbuchtung der nach Süden zu gelegenen Zisternenwand hinein. Diese Höhlung war tiefer, als ich es geglaubt hatte. Ich kroch hinein. Es war ein sehr unappetitliches Geschäft, denn nicht nur die nassen Moose und Flechten beschmutzten meine Kleider, sondern auch Salamander, fingerlange Tierchen, schienen diesen Platz als nächtlichen Versammlungsort auserkoren zu haben. Ich mußte sie erst mit der Hand ins Wasser fegen. Sie waren sämtlich blind, eine Abart jener blinden Höhlenmolche, deren Sehorgane, da die Tiere im Dunkeln leben, verkümmert sind.

Die Karbidlaterne beleuchtete das schmierige Gestein.

Würde sich meine Vermutung bestätigen …? Severn hatte hier nichts gefunden … Aber ich mußte etwas finden, denn es mußte hier eine zweite Steintür vorhanden sein, die, dafür sprach droben die Bodenbeschaffenheit, mir einen unterirdischen Weg nach Süden freigeben würde.

Denn jene felsige, nur mit dünner Sandschicht bedeckte Bodenwelle, die auf die Faust mit den drei Fingern zulief und die gleichmäßig alle Sanddünen durchschnitt und die Täler als nacktes Gestein durchzog, konnten sehr wohl eine Verbindung enthalten, die den Schädelbrunnen mit der Faust zu einem Geheimnis der Tiefe zusammenschweißte.

Ich nahm mein Messer.

Ich steckte es schnell wieder weg …

Und schneller, als ich es hier niederschreiben kann, verschwand ich nach unten, Morstan zog mich und die Stange durch die Tür …“

„Anlehnen, – – nur anlehnen“, keuchte ich. „Ich habe Stimmen gehört …“

Ich bedeckte die Laterne …

Das kühle Naß träufelte auf erhitzte, erregte Gesichter …

In der Zisterne war es dunkel.

Jetzt ein Lichtschein aus der Einbuchtung …

Eine Hand erschien, eine kalte Petroleumlaterne …

Eine schmale braune Hand …

Dann eine Stange mit einem eisernen Haken und dicken Buckeln …

Kreischend krallte sich der Haken in den Zisternenrand …

Eine Gestalt schwang sich empor …

Wir hielten den Atem an …

Es war Evelyn …

Dann folgte Grace Garling … – –

Also doch!!

Aber da war noch etwas in der Einbuchtung, noch eine Laterne, – – oder besser nur ihr Lichtschein … Und in dem Lichtschein ein Strich, – ein Flintenlauf …

Eine gekünstelt sonore Stimme, die des Banditenchefs, rief Evelyn nach: „Also nach zwölf Stunden, Miß Holk!! Und Sie, Miß Garling, tun gut, Ihrer Freundin nachdrücklichst zuzureden, denn, – nun, Sie kennen die Sachlage ja! Hoffen Sie nicht auf irgend einen Retter …! – So, Sie können sich nun bis Mitternacht im Freien bewegen …“

Der Lichtschein verschwand … Ebenso der Büchsenlauf.

Bir Kassal hatte sich zurückgezogen.

„Schuft!!“, sagte eine leise vibrierende Frauenstimme hinter uns.

Nicht einmal Trasso hatte von Frau Hadinas lautlosem Heranschleichen Notiz genommen.

Ich drückte die Steintür zu und hob die Laterne.

Die Tochter des letzten Sultans von Mossor lächelte verächtlich.

„Ich danke Ihnen, Mr. Abelsen … Den Beweis, daß Bir Kassal Evelyn droht, haben Sie mir erbracht. Sie haben jedoch nicht mit einer sehr einfachen Tatsache gerechnet: Daß mein Haß gegen meinen Gatten der Eifersucht entsprang, und daß ich nun hoffe, ihn für mich zurückzuerobern. Ich weiß, was er tun wird: Er wird Evelyn Holk den Behörden ausliefern, weil sie es war, die all die Männer, die einst ihren Vater betrogen hatten und mit schuld an seinem Tode waren, rücksichtslos abfangen ließ und zur Strafe einkerkerte … Dieses Mädchen, angeblich eine jener kühlen Engländerinnen, die sich den Wissenschaften verschrieben haben, ist entflammt von einer Rachgier, die gerade in ihrer kalten Rücksichtslosigkeit tief unter jenen verbrecherischen Anlagen steht, die mehr einer leidenschaftlichen Natur zuzuschreiben sind. – So, nun wissen Sie, woran Sie mit mir sind … Sperren Sie mich hier ein, tun Sie, was Sie wollen, – Ihr Schicksal ist besiegelt. Ich gebrauche sonst nicht jene billigen Redensarten, an denen ihr Europäer euch berauscht. Mein Vater starb, – – ihr werdet sterben. Bitte – da bin ich! Fesselt mich, knebelt mich, macht, was ihr wollt! Ich … hasse euch alle!“

Sie hatte die Stimme zuletzt gesenkt … Aber der grelle Hohn, den sie uns in die verblüfften Gesichter spie, wirkte um so nachhaltiger.

Hadina war nicht die erste dunkelhäutige Frau, die ich hatte beobachten dürfen mit ihren feinsten Seelenschwingungen.

Nach meinen Erfahrungen war es ganz ausgeschlossen, daß die Tochter des Sultans von Mossor jemals vergessen oder verzeihen konnte, daß ihr Gatte ihr nur deshalb nach dem Leben getrachtet hatte, um den Weg zu Evelyn von einem störenden Hindernis zu befreien.

Morstan und Severn blickten mich überrascht an, als ich sehr höflich erklärte:

„Frau Hadina, Sie schätzen uns Europäer doch recht unrichtig sein … Wenn Sie uns verraten wollen, – – bitte … Dort ist die Steintür … Ich werde Ihnen in der Zisterne nach oben helfen. Oben finden Sie Bir Kassals Wachen …“

Der Lichtstrahl der Laterne schien sie plötzlich zu blenden. Sie drehte den fein modellierten Kopf zur Seite.

„Das … hat Zeit“, sagte sie überstürzt und schritt eilends davon, um über den Steinhügel in ihr einsames Gemach zurückzukehren.

– Ich habe andere Dinge erlebt als diese Szene. Ich habe im Abseits mein Leben oder das anderer mit geringster Aussicht auf Erfolg verteidigen müssen. In meinem Hirn sind unauslöschlich eingebrannt jene kritischen Sekunden, wo Leben und Tod sich die Wage hielten und wo ein Sandkorn genügt hätte, die Todesschale hochschnellen zu lassen.

Es bedarf nicht immer jener übermäßig erhitzten und erhitzenden Situationen, um sich Sieger zu fühlen.

Hier genügte mir Sir Morstans halblaute Anerkennung:

„Donnerwetter, das Weib hat uns bluffen wollen!!“

„Allerdings. Erst wollte sie Evelyn verderben, dann Bir Kassal … Und das ist echt Orient. Wenn Mohammed nicht ein so skrupelloser Diplomat gewesen wäre, würde nicht noch heute der Islam die verbreitetste Religion der Welt sein. – Entschuldigen Sie mich … Ich möchte doch besser die hellbraune Semiramis woanders einquartieren …“

 

13. Kapitel.

Die Spur ins Jenseits verweht …

Als ich mich durch das Loch in der Höhlendecke emporschwang, stand Frau Hadina im äußersten Winkel ihres Steingemachs neben allerlei Kisten und Ballen und versuchte mit der unverletzten rechten Hand (der andere Arm lag in einer Schlinge) einen Stein aus der Naturwand herauszuziehen.

Sie hatte mich nicht gehört. Über uns ging es sehr lebhaft zu. Obwohl die sogenannten Oberlichtfenster nun verhängt waren, bemerkte ich von der Seite doch rötlichen Lichtschein. Offenbar hatte eine Karawane, die durch die starken Winde der letzten Tage die wenigen Wasserstellen verschüttet gefunden hatte, doch trotz all der warnenden Gerüchte den Schädelbrunnen aufgesucht. Da auch hier die Felsendecke nur dünn sein konnte, hörte man auch das Brüllen der Kameltreiber, das Trampeln der Tiere und die häßlichen Schreie dürstender Maultiere.

Hadina wandte ihre letzte Kraft an, den sorgfältig eingefügten Stein zu lockern. Sie hatte sich an die Wand gelehnt, und ihre ganze Haltung verrieten ebensoviel Mutlosigkeit wie Schwäche.

Diese Frau war klug. Ob sie sich durchschaut sah?

Endlich hatte sie den Stein in der Hand, griff in die Öffnung hinein und brachte einen Gegenstand zum Vorschein, der mir vielleicht eine Überraschung bereitet hätte, wenn diese Grenzgebiete der Sahara noch das gewesen wären, was sie vor dreißig Jahren bedeuteten: Tummelplatz von Räuberhorden, Schauplätze ewigen Krieges zwischen Beduinen, Negerhorden und Schutzwachen der Karawanen. – Die Zeiten sind vorüber. Nur im Geheimen vermag in diesen endlosen unbewohnten Gebieten selbst heute nur raffinierteste Schlauheit blutige Vorgänge zu verschleiern. Telegraphenlinien, Telephonmasten verunzieren die Wüste … Autobusse rattern durch die Unendlichkeit, und Flugzeuge versorgen die einsamen Blockhäuser tagtäglich mit allem Nötigen.

Der, der da glaubt, unverfälschte Romantik im Innern der Sahara oder auch in den Grenzstrichen, die mehr abseits liegen, noch vorzufinden, täuscht sich. Sogar die Nomaden sind anspruchsvoll geworden. Der Weltkrieg hat auch das seinige dazu beigetragen, diese Entwicklung auf einer trügerisch-aufsteigenden Linie zu beschleunigen.

Frau Hadina hatte der Wandhöhlung einen Telephonhörer entnommen.

Der Hörer selbst überraschte mich nicht.

Aber mit wem verkehrte die einsame Frau auf diese moderne Art der Fernverständigung?!

Hadina kehrte mir den Rücken zu.

Sie nahm wohl an, wir würden uns nicht weiter um sie kümmern.

Ich hatte die Laterne mit der Jacke bedeckt. Es brannte hier nur eine Petroleumlaterne, und es war halbdunkel. Die Nickelteile des Hörers glänzten trotzdem. Ich schlich näher. Der Boden war mit Bastteppichen belegt. Die Karawane droben wurde noch lebhafter. Ich vernahm das gedämpfte Schnurren der Telephonglocke.

Und dann kam der Augenblick, wo ich doch wie von einem Peitschenschlag getroffen zusammenfuhr.

Hadina hatte sich mit halblauter Stimme gemeldet:

„Sind Sie noch wach, Mr. Holk …?“

Holk – – Holk?!

War das denn möglich?! Beherbergte denn dieser Schädelbrunnen mit seinen Grotten und Höhlengängen noch mehr Geheimnisse?!

Thomas Holk sollte hier leben?!

… Ich horchte …

Frau Hadina sprach weiter – hastig, eindringlich, mahnend:

„Mr. Holk, wagen Sie sich heute auf keinen Fall ins Freie … Sie wissen, daß Sie der einzige Europäer sind, mit dem ich nicht nur Mitgefühl empfinde, sondern für den ich unendlich viel freiwillig auf mich genommen habe … Ich bin verwundet worden … Heute hätte Bir Kassal mich fast erwischt … Er ist wachsamer denn je … Drei Weiße haben sich meiner angenommen, aber ich traue ihnen nicht. – Ich muß das Gespräch abbrechen … Ich rufe Sie nachher nochmals an, gegen ein Uhr morgens …“

Jedes Wort hatte ich gehört, Schritt für Schritt war ich zuletzt zurückgewichen und verließ nun das Felsgemach.

Ich war so benommen von dem Erlebten, daß Sir Morstan mich wiederholt fragen mußte, was denn eigentlich geschehen sei.

Ich zog ihn und Severn nach dem Stollen hin.

„Holk lebt“, flüsterte ich. „Es ist Tatsache … Und Frau Hadina spielt seine Beschützerin …“

„Sie sind übergeschnappt!“, sagte der Subchef. „Total übergeschnappt! Holk mag noch am Leben sein, aber …“

„Sie gestatten, Morstan: Die beiden stehen telephonisch miteinander in Verbindung.“

Ich erzählte Einzelheiten.

Morstans Äuglein wurden riesengroß.

„Der Deubel mag aus dieser Hadina schlau werden!“, meinte Severn kopfschüttelnd.

„Der ganze Kram ist wie ein Wunderknäuel“, – Morstan schmiß seine Zigarre Trasso gegen den Schädel. „Verdammter Köter, der glotzt uns an, als ob er sagen wollte: Anfänger!!“

„Das sind wir“, bestätigte ich. „Wir wissen im Grunde gar nichts, wie sich nun herausgestellt hat. Wenn Hadina den Vater Holk schützt, wird dieselbe Hadina doch nicht die Tochter ins Unglück stürzen wollen. Ich glaube, wir unterschätzen diese Frau.“

Drei Männer und ein Hund starrten tiefsinnig vor sich hin.

Das lange Schweigen, das nun folgte, stellte uns kein gutes Zeugnis aus.

„Die Karre ist festgefahren …!“, knurrte Morstan.

„Und wie!“, nickte Severn.

„Wenn schon Weiber die Fingerchen mit in der Tunke haben – – ich danke!!“, brummte der Subchef seinen Oberinspektor an. „Und auch Sie rennen einem Unterrock nach, Sie … Sie …“

„… Erlauben Sie: Miß Grace trägt Reithosen!“

„Werden Sie nicht frech!! – Abelsen, was halten Sie von der Pastete?“

„Ich?! – Ich werde mein Programm durchführen. Sobald die Karawane dort droben zur Ruhe gekommen ist, will ich …“, – im selben Augenblick fiel mir etwas ein.

„Schnell, – – öffnen wir die Zisternentür ein wenig … – Licht aus!“

Ich hatte die bewegliche Steinplatte kaum geöffnet, als ein Schöpfeimer niederklatschte …

Aber der, der die Leine hielt, ließ sie schnell fallen.

Droben war Totenstille eingetreten …

Und in diese Stille hinein erklang wie ein drohender Geisterruf fernher und doch selbst hier unten deutlich vernehmbar die Todesmelodie der Sahara.

Einmal …

Nochmals …

Und dann brach droben der ungeheure Lärm der Panik aus: Schreien, Brüllen, Heulen, – – und Morstan lachte bissig: „Kenne ich!! Genau wie damals zwischen den drei Fingern der „Faust“, – Sie besinnen sich, Abelsen …!“

Ja – das war Panik …

Und das dauerte fünf Minuten …

Dann erstarb der Lärm …

Der Schädelbrunnen hatte die Lebenden verjagt. Nur die Gebeine der Toten blieben zurück und wir hier unten, ein Weib, drei Männer, ein Wolfsbastard.

Evelyn und Grace waren natürlich längst, schon beim Nahen der Karawane, wieder in die Zisterne geschlüpft. – Ein einziges Unbegreifliches blieb bei alledem, und Morstan betonte dies auf Grund seiner Irrfahrten als algerischer Händler. „Abelsen“, und seine rauhe Stimme klang versonnen, „ich kenne doch die Scheu der Karawanenleute vor diesem Brunnen. Wenn wirklich Wassermangel die abergläubischen Kerle hierher treibt, – weshalb suchen sie nicht die noch weit weniger verrufene „Faust“ dort im Süden auf?! Weshalb fiel heute droben kein heimtückischer Schuß, – – bisher war es stets so, daß ein paar braune Burschen Blut lassen mußten und den Gegner nie zu sehen bekamen … – Da stimmt irgend etwas nicht.“

Balfour Severn, dem die Sorge um Grace Garling weit mehr am Herzen lag als diese theoretischen Erörterungen, sagte mahnend: „Sir Morstan, wollen Sie die Geschichte noch verwickelter machen?! Abelsen hatte doch die Absicht …“

… Ein dumpfer Krach folgte …

Wir schnellten herum und blickten zur Felsendecke empor.

„Die Steinplatte!“, rief Severn und war mit langen Sätzen unter dem Zugang zu Frau Hadinas Behausung.

… Wir hatten etwas versäumt, und das rächte sich nun: Hadina hatte die Öffnung durch die Steinplatte verschlossen, und diese spottete aller Anstrengungen. Ebenso blieb alles Klopfen umsonst. Hadina meldete sich nicht.

Morstan grobste mich gereizt an: „Ihre Schuld! Ihre Idee war es, die hellbraune Prinzessin mit Handschuhen anzufassen!! Nun haben wir den Salat!! Das Weib hat Sie zum Narren gehalten. Das ganze Telephongespräch war Bluff. Sie sollten es hören, und Sie zogen darauf prompt die blödsinnigsten Schlußfolgerungen. Nun renken Sie die Geschichte wieder ein, mein Lieber … Ich habe keine Lust, den Knochenwall draußen zu erhöhen!“

„Still! Ich höre etwas!“

Ich stand auf dem Steinhügel unter der Platte und preßte das Ohr gegen den Stein.

Ich vernahm über mir ein Poltern, als ob dürre dicke Äste aufgeschichtet werden.

Aber es war in diesen Geräuschen noch etwas anderes: Metallisches Klirren mischte sich in das Poltern, und dieses Klirren ließ mich stutzen.

Ich mußte Gewißheit haben.

„Morstan, her mit unserer Stange …! Ich muß nach oben … Dort draußen bei der Zisterne geschehen Dinge, die vielleicht mit dem Auftauchen der Karawane irgend etwas zu tun haben. Severn, öffnen Sie vorsichtig die Brunnentür … Aber – Licht aus!“

… Das plätschernde Wasser rieselte mir in den Nacken, dann war ich im Zisternenloch, kletterte bis zum Rand, sah den feinen Staubsand wie Wolken um die Steinmauer flattern, kroch ins Freie und horchte.

Die Palmen der kleinen Oase rauschten und knisterten stärker denn je, der Wind hatte gedreht, kam von Südwest und jaulte und rumorte in dem Knochenberg genau so tückisch mit schrillem Winseln wie hier in den Felsbrocken der Schutzmauer.

Zuweilen fuhren ganze Spritzer von Sand über die Mauerkrone hinweg, und als wieder eine dieser dichten Kaskaden emporstäubte, benutzte ich sie als Schleier, schwang mich über die Mauer und kroch auf den Schädelwall zu, wandte mich sofort dorthin, wo die Oberlichtfenster von Hadinas Felsenheim unter dem Gürtel von Gerippen versteckt lagen, und erspähte trotz der schwachen Beleuchtung innerhalb dieses Totenringes, der unten stellenweise vier Meter breit war, eine Gestalt, – – durch die Rippen eines Dromedars und unzählige andere locker geschichtete Gebeine hindurchblickend.

Es war Hadina. Sie bewegte sich sehr unbeholfen, die Wunde hinderte sie, aber die zähe Energie dieser Frau überwand auch diese Pein. Sie mußte Schmerzen leiden, trotzdem blieb sie bei ihrem mir unklaren Tun, bis ich, gedeckt durch eine Sandwehr, dicht neben ihr war.

Mit der unverletzten rechten Hand zerrte sie gerade ein langes Bündel in das Fenster, – dann eine flache Kiste, dann noch ein Bündel, – – und tauchte in die Öffnung ein und war verschwunden.

Was sollte das?! Sollte die so flüchtige, ungewisse Vermutung, die ich vorhin betreffs der kurzen Anwesenheit der Karawane hier gehegt, doch den Tatsachen entsprechen? Dann war dieses Weib noch weit schlauer und gefährlicher, als ich es je gedacht, – dann hatte sie ihre geheimen Pläne auf lange Sicht vorbereitet gehabt, und Thomas Holk, der Totgeglaubte, war doch ihr Verbündeter, obwohl vieles dagegen zu sprechen schien.

Unter diesen Umständen war es sehr schwer, einen bestimmten Entschluß zu fassen. Ich zauderte noch. Gewiß, ich hätte mir den Zutritt zu Hadinas Felsengemach jetzt hier erzwingen können. Aber – würde sie meine Einmischung nicht zu verhindern wissen? Ich blickte nochmals in den Wall von Gerippen hinein. Die Öffnung, bisher deutlich zu erkennen, war verschlossen, – nicht durch die dicke Glasscheibe, durch grauschwarzen Stein.

Jemand zupfte mich am Ärmel.

Es war Severn …

„Abelsen, ich habe die zweite Tür im Brunnen gefunden, in der Einbuchtung … Aber das Ding regt und rührt sich nicht …“

„Das war leider anzunehmen … – Bringen Sie mir Trasso her, Severn … Sie und Morstan bleiben dann unten … Ich will zur „Faust“ … Die Sachlage hier spitzt sich bedenklich zu. Die Karawane hat Frau Hadina Gewehre und Munition geliefert, und diese Waffen sind für die weißen Gefangenen Bir Kassals bestimmt … Beeilen Sie sich … Wir müssen versuchen, hier ein Blutbad zu verhindern. Jedenfalls: Holk lebt! Die Spur ins Jenseits ist eine Fährte zu einem Lebenden geworden … Fragen Sie nichts … Ich muß Trasso mitnehmen …“

Severn gehorchte widerwillig.

Minuten später war Trasso neben mir …

 

14. Kapitel.

Bir Kassals falsche Rechnung.

Es war kein Sturm, der über die Sahara fegte. Aber es war ein kräftiger, sehr kräftiger Wind, und die fliegenden Sandmassen, der bewölkte Himmel und eine für diese Gebiete fast unwahrscheinliche Dunkelheit erleichterten mir mein Vorhaben und machten anderseits alle Bemühungen der Tuaregs, durch ihre Wachen den Brunnen ständig zu beobachten, so ziemlich zwecklos.

Das Dromedar, mit dem ich gestern von Nordost her bis in die Nähe der „Faust“ gelangt war, lag zwischen den Felsen am Boden und fühlte sich in seinem Versteck offenbar sehr behaglich.

Von hier aus bis zu den Bergkuppen waren es kaum noch zweitausend Meter. Ich mußte von Süden in die Berge einzudringen suchen, – nur so fand ich genügend Schutz durch den fliegenden Sand. Auf der Südseite zwischen den langen Ausläufern vermutete ich irgendwo das versteckte Lager Bir Kassals und der Seinen, – die Gegend war mir zu gefährlich.

Ich trabte in schmalen Tälern dahin, Trasso an der Leine zehn Meter voraus, – nur Trasso konnte mich vor einem Hinterhalt schützen.

Sehr bald wurde der Boden felsig, zeigte Geröllmassen, einzelne Felsgruppen tauchten auf, – – mein treuer vierbeiniger Freund wich zur Seite, windete scharf und drängte wieder vorwärts. Eine einzelne ruppige Palme stand hier inmitten von Steinen und mannshohen düsteren Felsen, und niemals hätte ich mich so blindlings weitergewagt, wenn nicht mein Hund ohne jedes Zeichen feindlicher Angriffslust mich in diese entlegene Steinwildnis geführt hätte.

Auch hier orgelte und jaulte und winselte in allen Tonarten der trockene Wüstenwind, auch hier schwankte die arme Palme hin und her und verneigte sich vor den verheißungsvollen Windstößen, die so viel versprachen und nichts hielten: Obwohl das Gewölk in schwarzen Fetzen und in festgeballten Massen über das Firmament hinwegzog, fiel kein Tropfen Regen.

Das Dromedar kniete nieder, ich glitt aus dem Sattel, nahm Trasso kürzer an die Leine und schlich weiter …

Stand still …

Vor mir am Fuße der Palme schimmerte eine halb verhüllte Laterne, und Evelyn Holk und Grace Garling knieten neben einem Loche zwischen dem Wurzelwerk und den Steinen und zogen soeben eine Wolldecke hervor. Die Decke rollte auseinander. Sie enthielt drei Repetierbüchsen.

Die Mädchen trugen jetzt beide Reitanzüge. Beide hatten bereits Ledergurte um die Hüften geschnallt, und an den Gürteln hingen Pistolentaschen und Ferngläser.

Trasso wollte winseln …

Ich hielt ihm das Maul zu …

Es genügte, daß der Wind hier seine Stimme vernehmen ließ.

Aber mein Trasso liebte die blonde Evelyn, und Hundeliebe ist ungestüm und nie berechnend.

Evelyn schrie leise auf. Trasso war vorgeprellt und wedelte und kratzte mit den Vorderpfoten.

„Sie, Mr. Abelsen?!“

Die Mädchen waren aufgesprungen. Blicke trafen mich, die alles andere als Freude verrieten. Grace war verlegen, Evelyn machte ein sehr ablehnendes Gesicht.

„Sie sehen – ich und Sie werden sich damit abfinden müssen, Miß Holk … – Wie kam es, daß Sie entfliehen konnten? Tauchte die Karawane so plötzlich auf, daß Sie beide den Zisternenweg vermeiden konnten?“

Evelyn streichelte Trasso. „Ja … Es mag so gewesen sein.“

Grace warnte sanft. „Evelyn, sage doch die Wahrheit. Wir beide allein werden nur wieder Fehlschläge erleiden.“

Die Hellblonde zauderte noch. Ich hatte das Gefühl, als ob die Freundschaft der beiden bereits einen Riß bekommen hätte.

„Die Karawane hatte eine Vorhut von zwanzig Bewaffneten“, erklärte Evelyn trotzig. „Diese Reiter erschienen ganz überraschend, und wir hätten sie nicht so schnell bemerkt, wenn wir nicht wieder auf dem Brunnenrand gesessen hätten.“

„Das heißt also: Ihre Tuareg-Wächter konnten nichts gegen Sie unternehmen. Ich verstehe. Mit dem Bündnis mit Bir Kassal ist es nichts mehr, der alte Herr hat die Maske fallen lassen, und unter der Maske zeigte sich das wahre Gesicht des Liebhabers weißer Frauen …“

Evelyn errötete. Aber ihre Augen wurden hart und geringschätzig. „Er ist ein Narr, der mit seinem Leben spielt … Er droht mir, und auf den ersten Blick mögen die Dinge gegen mich sprechen. Wenn ich unrichtig handelte, werde ich die Folgen tragen, falls – – mir nicht das … Andere gelingt.“

„Also die Befreiung der Gefangenen, unter denen sich auch wieder Lord Garling befindet?“, fragte ich mehr im Tone einer Behauptung.

Und auch hier wieder – wie in diesem seltsamen Spiel schon einmal – folgten nun schlagartig Frage und Antwort. Evelyn wollte sich dagegen sträuben, ihre geheimsten Gedanken enthüllt zu sehen. Sie gab es bald auf. Mehr noch, sie wurde immer kleinlauter und verzagter, auch sie streifte gleichsam die männlich-brutale, eines Mädchens unwürdige Maskierung ab und … brach schließlich in Tränen aus.

Freilich bestätigte sie mir ja nur zumeist längst Bekanntes. Bir Kassal begehrte sie, und der erste Anstoß für ihn, Evelyn dieses Bündnis selbst zu kündigen, ward dadurch gegeben, daß diese blonde gelehrte Walküre, die hier in der Sahara an einer sehr dunklen Räuberromantik teilgenommen hatte, ihn hinterging und Vorbereitungen dazu getroffen hatte, Garling, Harris und Brighton die Flucht zu ermöglichen. Das war zu derselben Zeit, als ich durch die Stimme der Sahara keinen Schlaf mehr gefunden hatte, und auch diese Sirenenklänge – wie richtig hatte ich sie eingeschätzt! – waren kein Zufall, sondern hatten mir gegolten, mir, in dem Evelyn einen nützlichen Freund witterte. Ich war ja ein einsamer Reiter, ein völlig Neutraler, und das wußte Evelyn. Die Tuareg-Spione hatten mich richtig eingeschätzt. Doch die Dinge nahmen einen anderen Verlauf, als Evelyn vorher berechnet hatte, Garling, Harris und Brighton flohen zu früh, Bir Kassal schöpfte Verdacht, und um nicht selbst in schwerste Bedrängnis zu geraten, mußte Evelyn ihren gefährlichen Verbündeten zu überzeugen suchen, sie hätte niemals gegen ihn intrigiert.

Die näheren Umstände der Flucht der drei Sahara-Vagabunden, die mir stets etwas ungeklärt und widerspruchsvoll erschienen waren, hatten nun ihre sehr einfache Lösung gefunden: Evelyn hatte hinter allem gesteckt und ihre Flucht erst ermöglicht.

Bir Kassal ließ sich nicht so leicht täuschen. Als Evelyn und Grace erst wieder in seiner Gewalt waren, gab er sich so, wie er wirklich war. Er verlangte Evelyn zum Weibe, – dann sollten die Gefangenen frei sein, und um eine Schranke zwischen den beiden Mädchen aufzurichten, teilte er auch Grace rücksichtslos mit, weshalb Lord Garling von Evelyn gehaßt würde: Thomas Holks wegen!

Des Tuareghäuptlings Erwartungen wurden enttäuscht. Grace sagte sich nicht von Evelyn los, sie kannte die Schuld ihres Vaters, und Evelyn hatte durch die Begünstigung der Flucht der drei nur bewiesen, daß sie aus Liebe zu Grace etwas gewagt hatte, das ihr zum Verhängnis wurde … Bir Kassals Hoffnung, Evelyn vollkommen zu isolieren, war eitel gewesen, die beiden schicksalverbundenen Mädchen schlossen sich nur noch enger aneinander an.

In dieser Nacht entkamen sie dann. Evelyn hatte hier bei der einsamen Palme in kluger Voraussicht Waffen und Kleidungsstücke verborgen, und daß Trasso die Fährte seiner Freundin gefunden hatte, war nur folgerichtiges Geschehen, kein glücklicher Zufall.

So saßen denn hier beim Lichte der stinkenden Laterne zwischen Felsen und Sandwehen drei Menschen, und ein Hund beieinander und warteten, daß der reumütige Strom der Tränen eines blonden, allzu energischen und allzu draufgängerischen Mädels versiegen und daß sie das Letzte enthülle: Wo die Gefangenen, dreißig Europäer, zusammengewürfelt aus fünf Nationen und alle irgendwie mitbeteiligt bei dem großen Schwindel des sogenannten Mossor-Erzgruben-Syndikats bis auf den jungen, arglosen Brighton, in ihrer stillen Felsenkluft steckten.

Grace hatte die Weinende an sich gezogen und suchte sie zu beruhigen.

Ich hatte mich gehütet, von Frau Hadina und Holk zu sprechen, – für derart schwerwiegende Nachrichten waren Evelyns Nerven zu überreizt. Trasso lag dicht zu Evelyns Füßen, und seine großen klugen Augen schauten sie unverwandt an, während er leise und eigentümlich winselte.

Dann – und in einer Beziehung freute ich mich dessen – fiel irgendwo in der Nähe ein Schuß.

Ein Schuß in diesen Wüsteneien ist für die, die seelisch mit dem Sandmeer und Bergen ringsum durch ihr geheimnisvolles Treiben verwachsen sind, wie das Alarmsignal für eine ruhende Truppe vor dem Feinde.

Evelyn Holk war halbes Kind dieser Wildnis geworden und wußte sehr wohl, daß um diese Stunde bei dieser Dunkelheit eine Kugel nur einem Menschen gelten kann.

Im Nu war sie auf den Beinen, war sie wieder Evelyn Holk, die selbst die Muschel benutzt hatte, um die Stille der Nacht mit rätselvollen Schrecken zu erfüllen.

„Ein Schuß!“, flüsterte sie. „Und um diese Stunde, bei diesem Wetter!“

Ihr Blick suchte den meinen … In meinen Augen las sie nur dieselbe quälende Unruhe und Ungewißheit, die sie selbst empfand.

Wir horchten. Es erfolgte nichts weiter. – Zunächst nicht … Aber dieser einzelne Schuß stimmte mich mehr als bedenklich. Ich sah meine Pläne bedroht, ich hatte visionär ein ungewöhnliches Bild geschaut: Frau Hadina mit dem Telephonhörer, den „toten“ Holk anrufend! – Das Bild glitt durch mein Hirn wie ein Schatten und hinterließ doch Spuren. Ich erinnerte mich jäh an die Waffen, die von der Karawane so schlau und so heimlich der Gattin Bir Kassals sicherlich des Verwendungszwecks geliefert worden waren.

Ich faßte nach Evelyns Hand. „Schnell, – wo befinden sich die Gefangenen?“

„Ganz in der Nähe, drüben in den Bergen …“

„Führt von der Zisterne ein Höhlengang bis zu diesem Kerker?“

Evelyn schaute mich mit grenzenlosem Erstaunen an. „Wie kommen Sie denn auf den Gedanken, Mr. Abelsen?!“

Also nicht … – Oder … sie wußte nichts davon.

„Aber es läuft doch ein natürlicher Stollen in die Berge?“, forschte ich hartnäckig.

„Das ist richtig … Dieses endlose Höhlengebiet ist für die Sahara nichts Besonderes …“

„Und wo mündet der Ausgang in den Bergen drüben, die Sir Morstan „die Faust“ nennt? Bezeichnen Sie mir die Stelle genauer … Schnell!“

„Es gibt da eine Schlucht, in der ein einzelner kegelförmiger Hügel sich erhebt und die Schlucht liegt von hier genau südwärts … Es ist mehr ein breites ansteigendes Tal, und …“

Der begonnene Satz klang in einem unterdrückten Aufschrei aus …

Unsere Köpfe waren zur Seite geschnellt …

Da war sie wieder, die unheimliche Todesmelodie der Sahara, und so nahe erklangen die Töne, daß ich mit einem Fußtritt die Laterne in ein Erdloch beförderte.

Trasso knurrte laut … Der Wind jaulte noch lauter …

Noch lauter schrillte das Tremolieren der Muschel und beschleunigte unseren Herzschlag.

Ich dachte an mein Dromedar draußen in den Dünen … Das Tier konnte uns verraten.

„Warten Sie hier …!“

Ich eilte davon, – ich stolperte, ich verfehlte den Weg, den ich gekommen, – eine Sanddusche empfing mich, – wie feiner Pulverschnee bei Wintersturm glitten und flogen die Sandkörner aus dem Nichts in das Nichts …

Ich tappte weiter …

Wie durch Schleier sah ich den Kopf meines Dromedars …

Da ertönte die Muschel von neuem …

So nahe, daß ich mich sofort niederwarf …

Vor mir ein Aufheulen, ein schriller Todesschrei … Trasso hatte einen Tuareg niedergeworfen. … Gestalten wuchsen aus dem Boden … Schüsse keiften bissig, – Kugeln pfiffen durch den stäubenden Sand …

Etwas Heißes strich mir über das Kinn …

In solchen Augenblicken gab es kein Besinnen.

Das Dromedar erhob sich … taumelte …

Ein brutaler Fausthieb …

Neue Schüsse …

Dann nahmen uns die Dunkelheit und die wehenden Fahnen des Sandes schützend auf …

Die beiden Mädchen?!

… Ich half ihnen besser, wenn ich am Leben blieb …

Und Evelyn würde schon wissen, was sie tun müßte, um ihren einstigen Verbündeten zu entgehen.

 

15. Kapitel.

Das Felsengefängnis.

Daß mein Reittier, das mehrfach getroffen sein mußte, sehr bald unter mir zusammenbrechen würde, merkte ich schon nach wenigen Minuten dieser tollen Flucht, der ich trotz allem bewußt die eine Richtung gegeben, die mich den Bergen näherführte. Das arme Dromedar stolperte immer häufiger, und das Bewußtsein, daß wieder einmal ein Geschöpf, dessen Dienst mir wertvoll gewesen, sein Leben für mich lassen mußte, bedrückte mich auch in dieser Minute mit derselben Schwere, als handelte es sich um Trasso, der mich so rechtzeitig vor der Umzingelung gewarnt hatte.

Ich hielt an, wir waren auf ein Geröllfeld geraten, das Tier stöhnte kläglich, und kaum war ich aus dem Sattel geglitten, als es sich langsam zur Seite legte und mit einem schauerlichen Todesschrei verschied.

Ich durfte mich hier nicht lange in voller Gestalt zeigen, hier gab es keine Sandschleier, und eilends suchte ich Deckung hinter den nächsten Hügeln. Es waren kahle Felsen, und als ich geradeaus blickte, gewahrte ich weit vor mir in einiger Höhe in dem dunklen Kranz der Berge gegen den lichteren Himmel ein großes lateinisches W, das heißt zwei Taleinschnitte, dazwischen einen spitzen Kegel.

Ich hatte also doch gerade die Richtung gewählt, die mich dem Ziele nahegebracht hatte. Der Felskegel dort konnte nur die von Evelyn Holk bezeichnete Örtlichkeit sein.

Kaum eine Viertelstunde darauf schlich ich zwischen Gestrüpp, großen Steinen und einzelnen Palmen näher an den Fuß des seltsamen Naturbildes heran und umrundete es zweimal, ohne etwas Wesentliches zu entdecken.

Ich überlegte mir nochmals Evelyns Angaben, und ich erkannte, daß sie doch zu ungewiß gewesen, um hier auf gut Glück etwas zu suchen, das im Grunde weit unwichtiger war als der Kerker der Europäer.

Als ich in die rechte Seite der Schlucht einbog, in der es noch dunkler war, spürte ich plötzlich einen Geruch, der mir unter weniger bedrohlichen Umständen eine Verwünschung oder ein nachsichtiges Lächeln entlockt hätte.

Da war ein Gebüsch, da war ein schräger Felsen, und hinter diesem glühte ein rotes Pünktchen. Ich erkannte im Anschleichen zwei sitzende Gestalten, und ich erlebte nun wenigstens die eine Genugtuung, daß Sir Morstan seinen stinkenden Glimmstengel vor Schreck verlor, als ich den beiden Weltstadtgaunerfängern urplötzlich zuzischte: „Hände hoch!! Oder es knallt!“

Balfour Severn erkannte meine Stimme. „Es hat schon geknallt, Abelsen … Einer der Tuaregs ist im Himmel.“

Für derartige Witze war ich nicht aufgelegt.

„Was tun Sie beide hier?! Sie können auch uns in den Himmel verhelfen, wenn Sie …“

„Stopp!!“, brummte Morstan schlechtgelaunt. „Denken Sie, wir bleiben in einer Höhle, in der plötzlich ganz finstere Kerle auftauchen, die uns allerhand unzweideutige Unliebenswürdigkeiten zurufen?! Nein, wir sind durch die Zisterne ausgerissen, und das war nicht Feigheit, Abelsen … Die Tuaregs hätten uns niedergeknallt …“

Ich war etwas sprachlos.

„Tuaregs?! Woher kamen sie?“

„Von oben, aus Frau Hadinas Gemach … sehr plötzlich, lieber Freund … Wir aßen gerade.“

„Und es waren bestimmt Tuaregs?“

„Nein, es waren Riesenschlangen und Elefanten. – Haben Sie noch mehr so geistreiche Fragen auf Vorrat?!“

„Vielleicht … – Also Sie flüchteten, und auf der Flucht erschoß Severn einen Tuareg … – Und was tun Sie hier?!“

Morstan lachte gluckernd. „Halten Sie uns für Idioten, Abelsen?! Als ob nicht auch ich längst ahnte, daß die Gefangenen hier in diesen verwünschten Bergen stecken?! Hier in dieser Schlucht liegt z. B. so viel frischer Kameldünger herum, daß ich kaum annehmen kann, ein Einsiedler wollte hier ein Mistbeet errichten. Wir warten auf die Tuaregs, und wenn mich nicht alles täuscht, kommen dort bereits einige dieser Burschen das Tal aufwärts, Sie selbst hören ja gar nicht mehr zu, sondern glotzen dauernd nach links …“

Jedes weitere Wort erübrigte sich. Sie kamen wirklich, aber als die zehn Reiter sich aus der Dunkelheit herausgeschält hatten, erlebten wir eine sehr unangenehme Überraschung: Evelyn und Grace befanden sich als Gefangene unter ihnen, und die Haltung der Mädchen bewies eine so tiefe Niedergeschlagenheit, daß Morstan grimmig flüsterte:

„Befreien wir sie, sofort, Abelsen, – schießen wir die Kerle ab! Los doch!“

„Werden Sie wohl schweigen!! Keinen Laut!“ Mein ärgerlicher Ton half, und der Subchef verstummte.

„Sie beide rühren sich nicht vom Fleck!“, befahl ich ebenso kurz angebunden. „Ich hoffe, die Tuaregs sollen die Mädchen zu dem Kerker schaffen. Ich will ihnen folgen, und von dem Geschäft verstehen Sie nichts! Wer hier eine Zigarre raucht, sollte besser nach London zurückkehren und eine Kaltwasserheilanstalt aufsuchen!“

Morstan murmelte ein kleinlautes „Danke, – gut gegeben!!“

Der Trupp war links um den Kegel verschwunden und in eine enge Seitenschlucht eingebogen, die gerade nur einem Dromedar Platz bot. Die Tuareg ritten in Reihe, und da dieser schmale Kanon noch dunkler war, konnte ich den braunen Burschen leicht auf den Fersen bleiben.

Der Weg, den sie wählten, war außerordentlich schwierig und lief dauernd kreuz und quer. Zweimal ging es über schmale Felsengrate, wo die Tiere geführt wurden. Nach einer reichlichen halben Stunde hielten sie an. Vor ihnen klaffte ein Abgrund von etwa sieben Meter Breite, der Abhang drüben war genau so steil und kahl, und trotzdem ahnte ich, daß ich nun endlich einem Geheimnis auf die Spur kommen würde, das seit Jahren mit allergrößter Schlauheit vor aller Welt verborgen gehalten worden war.

Der eine Tuareg setzte eine Muschel an den Mund, und der bekannte Todessang der Sahara ertönte dreimal, jedoch ohne das Finale, ohne jenes gräßliche Tremolieren.

Drüben (ich hatte das Glas an den Augen) war der Oberrand des Abhangs mit hohen Felstrümmern bedeckt. Vier Leute tauchten dort auf, und dann schoben sich zwei Balken vorwärts, zwischen denen eine Art Hängebrücke baumelte. Die Balken waren aus mehreren Palmenstämmen zusammengefügt und besaßen als Stützen dicke Taue, die die Vorderenden etwas anhoben und nach den höchsten Zacken hinüberliefen.

Die Einrichtung war einfach und praktisch. Es dauerte keine Minute, und die Balkenenden berührten den diesseitigen Rand. Zwei Leute kletterten hinüber, hinter ihnen die Mädchen, die drüben von den anderen Tuaregs in Empfang genommen wurden, – die Brücke wurde eingezogen, und – – ich war bitter enttäuscht.

Ich hatte allen Grund dazu.

Morstans knappe Angaben über die Vorgänge in den Grotten an der Zisterne hatten mich zu der Überzeugung gebracht, daß Frau Hadina sich inzwischen nicht nur mit Holk, sondern auch mit den Gefangenen selbst in Verbindung gesetzt hatte und daß die angeblichen Tuaregs dort drüben einige der Gefangenen gewesen waren, die die frisch gelieferten Waffen abgeholt hatten.

Es mußte sich so verhalten, es mußte eine Verbindung von Frau Hadinas Felsgemach bis zu der Kerkerschlucht geben, und das, was ich verhüten wollte, konnte jeden Augenblick eintreten, bevor mir Gelegenheit gegeben war, ein entsetzliches Morden zu verhindern.

Wenn ich bisher meine Nerven noch völlig in der Gewalt gehabt hatte: Jetzt wurde ich angesichts dieses Mißerfolges für Minuten derart verwirrt und zerfahren, daß ich wie im Traum wieder hinter den Tuaregs herschlich. Die Leute fühlten sich ganz sicher. Einer blieb etwas zurück und steckte seine Pfeife an. Als das Zündholz auflohte, sah ich, daß dem langen Kerl an einer Schnur vor der Brust die Muschel baumelte. Die anderen bogen bereits in einen schmalen Felsgrat ein …

Die nächsten Sekunden entschieden alles …

Ein Fausthieb, ein Stoß, – – der Tuareg rutschte über den Grat in die Tiefe und blieb unten bewußtlos liegen. Die übrigen hörten das Poltern des nachstürzenden Gerölls, aber sie glaubten nur an einen Unfall, berieten kurz und setzten ihren Weg fort, da sie im Augenblick für den Verunglückten doch nichts tun konnten.

Ich hatte die Muschel. Nach einer weiteren halben Stunde wußte ich, weshalb der Felsenkerker bisher nie von jemandem entdeckt worden war. Die Schlucht, nein, der Abgrund, zog sich im Viereck um einen flachen Berg herum wie ein Wallgraben. Ohne eine der Brücken konnte niemand an diesen Berg heran. Ich begriff bei alledem nur eins nicht: Lord Garling, Sir Harris und James Brighton mußten doch, als sie flüchteten, die Brücke passiert haben. Weshalb hatten sie dies nicht erwähnt?! Gab es doch noch eine andere Möglichkeit, den Abgrund zu überqueren?!

An der Südseite des Wallgrabens hatte ich hüben und drüben ein paar schief gewachsene Palmen bemerkt. Die Kronen berührten sich fast und die Bäume erweckten bei sorgfältigerem Hinsehen den Eindruck, daß sie künstlich in diese Lage gebracht waren.

Ich erkletterte den günstigsten Palmenstamm, und – was fand ich?! Die Krone war sehr geschickt durch Zweige noch verstärkt worden, und diese Art „Maskierung“, die ich bereits kannte, verhüllte hier zwei Stangen, die durch Eisenschlaufen verbunden werden konnten.

Die so verlängerte Stange reichte bis zur nächsten Krone drüben, und das Hinüberturnen, nur drei Meter, war nicht weiter gefährlich, wenn man nur die nötige Vorsicht anwandte.

… Ich war drüben – – endlich!

Ich fühlte mich Sieger, aber man soll bescheiden bleiben, und mein Triumph zerrann nur zu schnell in ein Empfinden ärgster Selbstvorwürfe. Ich war unbedacht vorgegangen, – das rächte sich.

Kaum hatte ich festen Boden erreicht, als sich hinter einem Steine blitzschnell eine Gestalt erhob, die mit vorgestrecktem Arm in der mir nur zu gut bekannten erkünstelt-gemessenen Art Bir Kassals eisig kalt befahl:

„Lassen Sie Ihre Büchse fallen, Mr. Abelsen.“

Hinter dem Schauerroman-Banditenchef ragten zwei Büchsenläufe und zwei Tuaregköpfe über einen Busch hinweg.

Im ersten Moment dachte ich an Widerstand.

Dann kam mir zum Bewußtsein, daß Bir Kassal hier persönlich eine Schwierigkeit beseitigte, die mir noch viel Kopfzerbrechen bereitet hätte.

Ich gehorchte.

Der Tuareg winkte, und drei seiner Leute banden mir die Hände auf dem Rücken zusammen.

„Sie sind nun Nummer 33, Mr. Abelsen …“ meinte Bir Kassal mit höflicher Niedertracht … „Mein Kerker füllt sich … Es wird fast zu eng da unten … Sie werden ja sehen …“

Das erste Morgendämmern zog herauf, als der Korb an dem dicken Seil mit mir in die Schlucht hinabglitt. Bir Kassal hatte mich keines Wortes mehr gewürdigt, und zweifellos war es auch nur theatralische Pose bei ihm, daß er mir das Fernglas und die Pistolen beließ, – ich sollte fühlen, wie sicher er sich selbst fühlte und wie gering er meine Bewaffnung und mich einschätzte.

Der Korb stieß unten auf, und ich kletterte heraus. Ich hatte die Hände wieder frei, und ich blieb neben der schroffen, übergeneigten Felswand stehen, um das Dämmerlicht dieses tiefen Felsenvierecks mit den Augen zu durchdringen. Das Quietschen der Winde dort oben, über deren Trommel das Tau nun wieder aufrollte, blieb das einzige Geräusch, bis ich nebenher noch das feine Murmeln und Plätschern von Wasser vernahm und gleichzeitig auch meine Augen den kleinen Teich inmitten des Felsenkessels sowie die ihn umgebenden Palmen und Sträucher und Grasflächen gewahrten.

Das also war Evelyn Holks Kerker für die Männer, die sie mitschuldig an dem Tode ihres Vaters glaubte!

Ein sonderbares Gefühl beschlich mich … Es schien so widersinnig, daß ein junges Mädel, frisch, gesund, klug, ehrgeizig und doch auch in vielem allzu skrupellos, seit Jahren mit einer Erbarmungslosigkeit, die ihrer Jugend Hohn sprach, sich zur Rachegöttin aufgeworfen und Europäer hinterlistig hierher verschleppt hatte, weil wieder elendes Geld, die schäbige Raffgier, ihren Vater und sie selbst aufs schlimmste benachteiligt hatte. – Gab es für diese Handlungsweise eine Erklärung? – Ja, – vielleicht die eine: Evelyn Holk war ihres Vaters einziges Kind, ihre Mutter war früh verstorben, und zwischen Vater und Tochter sollte nach Morstans Angaben ein so zartes, inniges, allerengstes Ineinanderaufgehen bestanden haben, daß die kühlen Londoner darüber gelächelt hatten.

– Es wurde nun sehr schnell immer heller, obwohl der Himmel bezogen blieb. Das geisterhafte Licht des Morgengrauens zeigte mir allmählich alle Einzelheiten.

Zeigte mir aber auch dicht neben mir ein rührendes Bild. Dort rechts lagen Steine, wuchsen Sträucher, wucherte etwas fahles Gras. Der Platz war durch einen Zaun von Stöcken und Reisen umfriedet. Milchziegen ruhten dort, und inmitten der Ziegen lagen Evelyn und Grace dicht beieinander und eng umschlungen wie Kinder in tiefem Schlafe.

Evelyn … Und Grace, die Tochter Lord Garlings, des Gründers des betrügerischen Erzgruben-Syndikats, zwei junge Wesen, denen in der großen Welt Liebe und Glück winkte und die hier in der Sahara Abenteuer überstanden hatten, von denen diese große Welt nichts ahnte.

Das Schicksal würfelt mit Menschenseelen … Das wird stets so bleiben. Aber daß diese beiden Mädchen hier inmitten einer Ziegenherde völlig ermattet ausruhten und im Schlaf Vergessen gefunden, rührte mein Herz. – Es waren Kinder des Schicksals, Spielbälle des Fatums … wie ich! Wie – – wir alle.

Mein Blick schweifte weiter. Der quadratische Kessel enthielt an den Süd- und Ostwänden, wo die Sonne am wenigsten traf, Hütte an Hütte, auch einige Zelte. Alles war sauber, ordentlich, sogar winzige Vorgärtchen hatten die Gefangenen angelegt.

Es war niemand zu sehen.

Meine Augen suchten anderes. Ich sah, daß der Teich in der Mitte dieses Felsengefängnisses einer Quelle sein Dasein verdankte, die unter einem Steine hervorrieselte, ich sah weiter, daß der kleine klare See einen Abfluß nach Osten hatte und dort in der östlichen Wand ein Loch klaffte, vor dem das Wasser einen Halbkreis bildete, sich staute und das Loch ausfüllte. – Es konnte nur derselbe Wasserlauf sein, der drunten in der Wüste die Schädelquelle speiste und dort in der großen Grotte den glitzernden, über die Steintür gleitenden Vorhang bildete.

Doch meine Augen suchten anderes.

Ich suchte Anzeichen für den unterirdischen Pfad zu Frau Hadinas Steingemach und Holks Zelle.

Seltsam …

Nun war ich am Ziel meiner Wünsche, und ich hätte bestimmt angenommen, daß mein Tatendrang zu grellen Flammen auflodern würde.

Dem war nicht so.

Denn das Gesamtbild dieser Schlucht selbst im kalten Lichte des erwachenden Tages war friedvoll und fast schön für die Umwelt da draußen.

Die Wüste mit ihrer Gluthitze schien eine Hölle im Vergleich zu diesem bescheidenen Paradiese. Garling hatte ja betont, daß es den Gefangenen nie an etwas gefehlt habe.

Schon die Hütten mit den blanken kleinen Fenstern bewiesen das.

Das hier war keine Stätte, an der die Gefangenen gequält worden waren.

Evelyn war eine milde Rächerin gewesen.

– Ich stand noch immer am selben Fleck. Eine Verpflichtung drängte sich in mir immer klarer auf: Was auch immer geschehen, – hier sollte kein Blut fließen, hier sollte es weder Ankläger noch Angeklagte geben, dieser ungewöhnliche Konflikt mußte friedlich gelöst werden – trotz Hadinas entgegengesetzten Absichten und trotz Bir Kassals unsympathischer Persönlichkeit!

An der Südseite ein Geräusch – das Knarren einer Tür … Aus einer der Hütten trat James Brighton, nur mit einem Lederschurz bekleidet, straff, muskulös, tadellos gewachsen wie ein junger Gott … Er schritt zum Teiche, sprang hinein, kam wieder ans Ufer und begann einen wilden Indianertanz, der wohl die Freiübungen ersetzen sollte.

Ich schielte seitwärts. Die Mädchen waren erwacht und starrten Brighton wie einen Tollhäusler an. Er hielt jetzt inne, ordnete seinen Lendenschurz und sein Haar und pfiff dazu einen schmissigen Niggersong.

Die Ziegen meckerten … Erdschwalben kreisten mit hellem Huit-Huit …

Plötzlich erspähte Brighton uns. Er wurde feuerrot. Seine mangelhafte Kleidung ergänzte er schnell durch einen Zweig.

Evelyn erhob sich. „Mr. Abelsen, Sie auch hier?!“

James kam näher, verneigte sich. Die Ziegen eilten ihm entgegen.

Er lächelte verlegen. „Das … das Frühstück“, sagte er stockend – ihm fiel wohl nichts Passenderes ein – „wird sofort bereitstehen. Ich muß nur erst die Ziegen melken. Sie wissen, Miß Evelyn, das war von jeher meine Aufgabe …“

Die kräftige Gestalt Brightons mit dem grünen Zweig als Feigenblatt und seine so gänzlich aus dem Zwangsrahmen der Umstände herausgeglittenen Worte wirkten so komisch, daß drei Menschen darüber lächelten …

Brighton sah es und lachte gleichfalls.

„Ja – es ist eine verrückte Welt!“, meinte er strahlend. „Die Hauptsache aber, – Sie sind hier, Miß Evelyn … Wir waren sehr besorgt um Sie beide …“

Seine grauen ehrlichen Augen leuchteten glückselig, als Evelyn Holk erwiderte:

„Mitgefangen, mitgehangen, James …! – Wie geht es Lord Garling?“

„Er rasiert sich gerade … Es ist dank Ihrer Fürsorge ein komfortables Gefängnis…“

… Oben quietschte die Winde …

Der Korb kam herab. In dem Korbe hockte mit wütendem Gesicht Sir Morstan, zwischen den Lippen eine Zigarre, die gehörig qualmte.

„Abelsen“, brüllte er, „der Teufel hole Sie!! Die Tuaregs haben uns erwischt … Severn kommt sofort hinterdrein, auch Ihre Wolfskanaille von Hund!“

„Haben Sie wieder geraucht, Sir Morstan?!“, fragte ich sehr anzüglichen Tones.

Er hustete nur … –

Trasso war bis auf einige Hautschrammen gänzlich unverletzt. Wie Severn erzählte, war er urplötzlich in der Schlucht erschienen, und die Tuaregs hatten ihn dann unbelästigt gelassen.

– Sollte das abermals eine großzügige Geste Bir Kassals sein?! – Der Banditenchef begann mir einige Kopfschmerzen zu bereiten.

 

16. Kapitel.

Hinter Gitterstäben.

Es war hier unten den Gefangenen althergebrachte Gewohnheit, die Mahlzeiten gemeinsam im Freien einzunehmen. So auch dieses erste Frühstück, bei dem ich nun sämtliche Insassen der Kerkerschlucht kennenlernte. Wir saßen am Teiche unter den Palmen, und ich studierte heimlich die einzelnen Gesichter. Ich wunderte mich, daß nicht einer dieser Herren irgendwie Frau Hadina erwähnte, – ich selbst war durch langjährige Erfahrungen viel zu gewitzigt, irgend etwas preiszugeben, und Morstan und Severn richteten ihr Verhalten vollkommen nach dem meinen ein. Auch sie schwiegen über gewisse Dinge.

So munter und redselig unsere Zuchthäuslerkolonie auch war, – irgend etwas stimmte hier nicht. Lord Garling zum Beispiel hätte doch niemals ein Einverständnis mit Frau Hadina vor uns geheim gehalten, und ein solches Bündnis bestand unbedingt, nur – und das wurde immer unzweideutiger – waren daran nicht alle Gefangenen beteiligt.

Auch Morstan, ein sehr schlauer Fuchs, fühlte dies heraus, nahm mich nachher beiseite und erklärte in seiner derben Art:

„Abelsen, wir wollen mal alle Mätzchen sein lassen. Ich weiß Bescheid … Was geht hier vor? Zweifellos sind auch die Gefangenen in zwei Lager geteilt. Der eine Teil hält es mit der schönen Hadina und hat Waffen bekommen und spielte Tuaregs, der andere Teil soll – – ja was eigentlich?! – Wie gefallen Ihnen zum Beispiel die fünf Gentlemen, die sich so etwas abseits hielten?!“

„Gar nicht! Wir werden aufpassen … Die fünf und noch sechs weitere bilden eine Art Geheimklub und waren über mein Erscheinen keineswegs beglückt.“

„Das fühlte ein blindes Huhn mit dem Schnabel! – Also aufpassen!! Vor Einbruch der Dunkelheit wird ja doch nichts geschehen.“

„Glauben Sie?! Ich bin genau entgegengesetzter Ansicht. Die Tuaregs können sich am Tage mit nur einer Wache droben begnügen, und die anderen können ausschlafen, was sie genau so nötig haben wie wir. Die vergangene Nacht verlief etwas stürmisch, wie Sie zugeben werden. Schlafende Männer zu überfallen ist sehr leicht, und auf denselben günstigen Umstand uns gegenüber rechnen die elf Verschworenen wohl auch uns gegenüber.“

Der Subchef blickte mich scharf an. „Und Thomas Holks Rolle bei alledem?!“

„Ich kenne sie nicht, Morstan, ich sehe zur Zeit nur, daß die bewußten elf Gentlemen sich zur Zeit nach ihren nebeneinanderliegenden Hütten hinschlängeln und derart krampfhaft gähnen, als müßten sie nach den Anstrengungen des Frühstücks wieder der Ruhe pflegen. Ich bin ja schließlich nur ein sehr unnützes Möbel als Globetrotter, Morstan, immerhin fällt mir auf, daß die vier Hütten dieser Herrschaften an der Westwand liegen, daß zwischen den Hütten Ställe eingebaut sind, in denen Schafe blöken, und daß diese Ställe einen unsichtbaren Verkehr von Hütte zu Hütte erleichtern, womit Verschwörern nur gedient ist …“

Morstan las mir jede Silbe von den Lippen ab. Sein Gesicht, das in der „Ruhelage“ wirklich nicht geistreich wirkte, war vollkommen verändert. „Mit einem Wort: Sie vermuten den Zugang zu dem Verbindungsstollen in einer jener Hütten, Abelsen, und Sie nehmen an, die Kerle werden sich jetzt in aller Stille entfernen.“

„Ja. Ich warte eine halbe Stunde, dann werde ich den Monsieur Doux, Mineningenieur a. D. und Hauptaktionär a. D. des Mossor-Syndikats, meine Antrittsvisite machen … Garling liebt diesen Herrn sehr wenig, sie wechseln kaum ein Wort miteinander, und … – still, der Lord schlendert herbei … – Nun, Mylord, haben Sie ein Anliegen, Sie sehen so sehr ernst aus, obwohl Sie doch allen Grund hätten, recht froh zu sein, da Ihre Tochter Ihnen mit derselben Liebe und Herzlichkeit zugetan ist wie früher und …“

Garling unterbrach mich mit einer ungewissen Handbewegung. „Mich bedrückt anderes, Abelsen. Ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß seit einiger Zeit hier in unserem Kerker das gute Einvernehmen stark getrübt war, weil eine gewisse Gruppe von Leidensgefährten sich von uns absonderte. Ich glaube, sie haben Heimlichkeiten vor uns, und …“

„Das glaube ich auch, das wissen wir sogar, Mylord. Die Dinge sind jedoch noch nicht spruchreif. So leid es mir tut, und so hübsch sich dort drüben das Bild der angehenden Brautpaare macht, ich muß dieses Idyll stören. Bir Kassal hat als echter Kavalier den jungen Damen genau wie uns, also Morstan, Severn und mir, großmütig die Pistolen belassen. Aber wir brauchen die Waffen. Ich fürchte, wir gehen äußerst ungemütlichen Stunden entgegen. Entschuldigen Sie … Und, Morstan, – keinerlei auffälliges Benehmen, – die Gentlemen beobachten uns zweifellos.“

Garling schaute mich sehr prüfend an. Er stellte dann schnell noch eine Frage, die etwas recht Nebensächliches zu betreffen schien.

„Können Sie herausbringen, Abelsen, wie gerade die elf mit Zigaretten versorgt werden, während wir anderen nur Rauchtabak erhalten? Sie haben diese Zigaretten immer in ihren Hütten genossen, aber ein Zufall …“

Ich lachte, – schon der Beobachter wegen …

„Na, Bir Kassal hat ihnen die Zigaretten nicht geliefert, Mylord … Die Lieferantin war eine Frau, die in ihrer Eifersucht sogar Waffenschmuggel betreibt. – Wiedersehen …“

Der verblüffte Garling brachte kein Wort mehr heraus. – Eine halbe Stunde später klopfte ich an die Tür von Monsieur Charles Doux’ Hütte. Trasso war neben mir. Mein Klopfen blieb umsonst, und genau so erging es mir nebenan bei den anderen zweifelhaften Herrschaften.

Jetzt hieß es, jede Rücksicht fallen lassen. Wir erbrachen die von innen versperrten Türen, und der Tuaregwächter droben schaute verwundert zu.

Mochte er …

Ich verließ mich auf Trassos Nase, und selbst ohne diese hätten wir in Doux’ Hütte in der Rückwand die Balkentür und dahinter in der Steinspalte die sauber durch eine Felsplatte verschlossene Öffnung gefunden. Um den Tuareg zu täuschen, mußten alle übrigen im Schatten der Palmen sitzen bleiben, und nur zu sechs drangen wir in den breiten Höhlengang ein, der sich sehr bald stark senkte und dann eine Strecke weit von einem Bächlein durchflossen wurde, das aus einem Riß hervortrat und in einer Spalte nachher wieder verschwand … Die Frage nach den besonderen Verhältnissen dieser Verbindungswege zur Zisterne und den Grotten dort war hiermit geklärt. Es liefen zwei getrennte natürliche Stollen bis dahin, der eine mündete in Frau Hadinas Felsgemach, der zweite zusammen mit dem Bächlein im Brunnen. Nur diesen letzteren kannte Bir Kassal, und der andere, den wir nun benutzten, mußte uns auch zu Thomas Holk führen.

Trasso drängte mit aller Kraft vorwärts. Ich hatte ihn an der Leine, wir liefen streckenweise, die Laternen hatten wir halb umhüllt, zuweilen horchten wir auf.

Wir alle fühlten Jagdfieber, wir ahnten ja, daß wir hier vor der Enthüllung außergewöhnlicher Zusammenhänge standen, denn schon allein Thomas Holks Leben und Tun und Treiben in diesen endlosen Höhlengebieten war für uns in undurchdringlichstes Dunkel gehüllt.

Wenn er von Bir Kassal gefangengehalten und bewacht wurde, – wie hatte er dann zu einem so innigen Einverständnis mit Frau Hadina gelangen können? –

Wir waren der Lösung des Rätsels näher als wir glaubten.

Trasso blieb plötzlich stehen.

Die Höhle war hier sehr breit und niedrig. Der Hund bog dann scharf nach links zur westlichen Wand ab, beschnupperte das Gestein und begann wie toll zu kratzen.

„Laternen her, Morstan!“

Da war tatsächlich eine tadellos sauber gearbeitete Steintür. Ich stieß sie auf, Trasso winselte, und wir betraten zögernd eine ovale Grotte, die eine zweite Tür aus dicksten Eisenstäben hatte. Außerhalb dieser Tür lag ein Tuareg in dem anderen Stollen, der zum Brunnen führte.

Die Grotte war wohnlich hergerichtet. Auf dem Bett hinter einem Vorhang ruhte ein gefesselter Mann mit totenblassem, faltigem Gesicht. Er war bei Bewußtsein.

Lord Garling schrie auf …

„Holk, – – Sie?!“

Thomas Holks Stricke fielen zerschnitten von seinen Gelenken. Ich half ihm auf die Beine.

„Ah, – Lord Garling! Diese Minute gleicht vieles aus! Die Vergangenheit mag begraben sein.“ – Er sprach es mit tiefer, bewegter Stimme, und er drückte Garling fest die Hand.

„Was geht hier eigentlich vor?“, fragte er dann fast in einem Atem. Seine Wangen röteten sich etwas, und in seine Augen trat ein eigentümlicher Ausdruck von Geistesabwesenheit. „Es waren Tuaregs hier, – sie erstachen meinen Wächter mit Speeren, nachdem dieser ahnungslos die äußere Holztür geöffnet hatte …“ Er deutete auf das dicke Gitter. „Frau Hadina hatte mir noch versprochen, daß wir heute noch mit Bir Kassal und Charles Doux abrechnen würden … Ich verstehe das wirklich nicht … Ich möchte einmal anrufen, wir haben nämlich Telefonverbindung, die ich nachts heimlich gelegt hatte … Die Apparate hatte sie aus Algier beschafft, und von jener Steintür“ – er sah sie offen – „wußten nur wir etwas … Nein, ich begreife das nicht … Hier muß doch …“ – er strich sich verwirrt über die Stirn und lächelte hilflos. „Ich … ich kann meine Gedanken nur schwer zusammenhalten, meine Herren … Bedenken Sie, seit November 1908 hause ich hier, das sind über fünfzehn Jahre … Und daß ich überhaupt noch lebe, verdanke ich nur meiner Energie. Ich … wollte leben und mich rächen … Und dann kam dort die Steintür noch hinzu und … und das Andere … Das war ja wenigstens ein Lebensinhalt selbst für einen so niederträchtig Betrogenen wie mich … Das war – – ein Ziel!! Was sollte ich in England?! Meine Frau ist tot, mein Kind desgleichen, – meine Freunde werden zu Verrätern an mir, und …“

„Ihr Kind ist nicht tot“, sagte Garling scheu und schuldbewußt. „Ihre Evelyn befindet sich sogar in allernächster Nähe, und …“

Thomas Holk taumelte mir schlaff in die Arme. Seine Beine versagten ihm den Dienst. „Das kann nicht wahr sein … Hadina zeigte mir Evelyns Todesanzeige, und weshalb sollte sie …“

… Er schwieg, – Garling hatte seine Hand gepackt.

„Bei Gott, – sie lebt, Holk! Fassen Sie sich doch. Dieses Weib, diese Hadina, hat da mit Ihnen ein sehr heimtückisches Spiel getrieben … Die Leute, die Sie für Tuareg hielten, waren … waren Europäer, für die das Weib Waffen besorgt hat, um Bir Kassal und seine Leute töten zu lassen … aus Eifersucht … auf Ihre Evelyn, lieber Holk!“

Thomas Holks Augen weiteten sich. Er stand wieder aufrecht da. Tiefe Röte flog ihm bis zur Stirn.

„Oh – ich begreife nun!! – Eifersucht?! Auf Bir Kassal? Das mag ein Nebenmotiv sein … Das Hauptmotiv kenne ich jetzt, endlich! – Aber wenn die Dinge so liegen, lassen Sie uns eilen … Bei alledem habe ich auch ein Wort mitzureden, und wahrlich nicht das leiseste!“ Er reckte sich … „Ich bin kein entnervter Zuchthäusler, – kommen Sie, geben Sie mir eine Waffe … Denn alles andere verschaffte das Weib mir, nur keine Schußwaffen, stets fand sie Ausflüchte … Kommen Sie. Verhüten wir das Schlimmste … Denn, so wahr ich Thomas Holk heiße: Das Schlimmste wäre, wenn ich nicht meine Rache fände!“

Er hatte die Oberlippen emporgezogen … Seine gesunden Zähne blinkten wie ein Raubtiergebiß.

Ich hielt ihn zurück.

„Mr. Holk, besitzen Sie einen Nachschlüssel zu der Gittertür dort?“

„Ja. Weshalb?“

„Weil wir die Leiche des Tuareg dort aus dem Stollen wegschaffen müssen … Auch das Blut muß verschwinden … Schnell … Frau Hadina wird mit ihren elf Verbündeten durch jenen Stollen bis zum Lager Bir Kassals vordringen. – Schnell … Öffnen Sie …“

Es geschah …

Vier Minuten später geschah etwas anderes.

 

17. Kapitel.

Kampf der Dämonen.

Wir hatten auch die äußere feste Balkentür verschlossen und horchten nun.

Wir vernahmen Schritte, leise Stimmen …

Sie kamen von Nordwest und entfernten sich nach Südost den Stollen hinab.

„Türen auf!“, befahl ich.

Die Gefahr, daß die Verschworenen draußen Blutspuren entdecken könnten, war glücklich vorübergegangen.

Keiner von uns kannte das geheime Lager des Banditenchefs und seiner Leute und Reittiere.

Wir folgten mit äußerster Vorsicht, wollten jedoch auch nicht so weit zurückbleiben, daß wir nicht mehr rechtzeitig eingreifen konnten.

Ich selbst war noch immer im Besitz der Muschel, die ich dem Tuareg abgenommen hatte. Man hatte mich nicht durchsucht, und ich trug sie unter dem losen Hemd und der offenen Jacke.

Wir merkten bald, daß Hadina und ihre elf Verbündeten es sehr eilig gehabt hatten. Wir bekamen in den gewundenen Höhleneingängen kein Laternenlicht mehr zu sehen, und als der Boden nun anstieg, wir also bereits in den Bergen waren, begannen wir zu laufen.

Noch fünf Minuten, – dann vor uns ein wahrer Riesendom, – in der Ferne Lichtpünktchen, die sich jedoch nicht bewegten, also feststehende Laternen …

Zuweilen wurden diese Lichtpünktchen verdeckt …

Gestalten schoben sich zwischen uns und Bir Kassals Höhlenlager.

Jeden Augenblick konnte dort vor uns das Morden beginnen …

Wir hätten rufen, brüllen können.

Die Muschel tat wirkungsvollere Dienste.

Die Stimme der Sahara, die in diesen Tiefen der Erde wohl je kaum erklungen war, erschütterte die stille kühle Luft mit ihren dumpfen, dröhnenden, unheimlichen Tönen.

Ich hatte die Muschel am Munde, und ich hetzte dahin wie ein flüchtiger Hirsch, neben mir der kampflustig bellende Trasso …

Und doch kamen wir zu spät …

Das Echo von Schüssen, vielfach zurückgeworfen von den Gewölben und Wänden des Felsendoms, war lauter und aufstachelnder als die Todesstimme der Sahara. Dieser Widerhall schwoll in solcher Stärke an, daß man glauben konnte, in dieser unterirdischen Welt bekämpften Dämonen einander oder es tobe ein Gewitter, dessen elektrische Entladungen ganz kurz aufeinander folgten.

Das Aufblitzen der Schüsse, das Hin- und Herwogen wie sinnlos durcheinander hastender Gestalten war so verwirrend und wirkte im Verein mit dem trommelfellerschütternden Getöse so lähmend, daß ich einen Augenblick in meinem tollen Dahinstürmen verhalten wollte. Aber der Gedanke an das blutige, sinnlose Morden dort vor mir riß mich weiter fort, – es war nicht anders, als ob ich an einem Seil, das mir die Brust beengte und eine ungeheure Zugkraft besaß, willenlos dem Schauplatz dieser bestialischen Mordgier entgegengetragen wurde.

Schreie, Brüllen, grelle Zurufe vermehrten den unheimlichen Lärm …

Eine der Laternen war offenbar in einen Vorrat von Gras gefallen: Plötzlich flackerte eine dünne Flamme auf, wuchs an Höhe und Umfang und beleuchtete die düstere Szene mit zuckenden Lichtern.

Draußen schien die Sonne …

Hier in dem Felsendom war es Nacht, herrschte Finsternis selbst in den Seelen der Menschen, und genau wie das Strohfeuer nur eine Beleuchtung spendete, die das Grauen vor diesem Geschehen erhöhte, ebenso war die entfesselte Wut der Kämpfe, waren Todesangst, Vernichtungswille und Selbsterhaltungstrieb die unedlen Flämmchen in diesen menschlichen Seelen …

Der einzige, der mit mir gleichen Schritt hielt, Balfour Severn, warf plötzlich den Arm hoch und feuerte im Laufen …

„Abelsen, – – Frau Hadina!“, keuchte er vor Atemnot …

Ich sah es …

Wir waren nahe genug heran.

Ich sah aber noch mehr.

Das Feuer griff um sich, griff auf die Lagerstätten der Tuaregs über, und die knisternde Glut schickte dicke Rauchwolken zur Decke empor.

Frau Hadina war zusammengesunken … Drei Schritt weiter stand Bir Kassal, einer der wenigen, die bisher unverletzt geblieben.

Selbst die Verwundeten, die am Boden lagen, setzten den Kampf fort … feuerten, stützten sich auf den linken Arm, haben Pistolen und Büchsen, drücken blindlings ab, besessen von jenem Blutrausch, der das eigene nahe Ende vergessen läßt.

Bir Kassal duckte sich …

Edward Doux’ Kugel traf nicht …

Außer Doux und dem Banditenchef waren nur noch acht Männer aufrecht stehend diesem Mordrausch entgangen.

Der Tuareghäuptling schnellte vorwärts, sein Burnus glitt zu Boden, und seine hohe, kräftige Gestalt, biegsam, elastisch, muskelstrotzend, schien blindlings gegen des Verräters Doux erhobene Pistole anzurennen. Seine Gesichtszüge, fast unkenntlich durch das herabrinnende Blut eines Streifschusses, hatten etwas so Dämonisches, daß Doux, ein kleiner hagerer Mann mit einem ausgesprochenen Vogelgesicht, mit dem Abdrücken zauderte.

Hadina, halb über einen hohen Bocksattel gefallen, mühte sich, den rechten Unterarm auf die Sattelstange zu stützen …

Zwei Schüsse knallten gleichzeitig … Doux taumelte zurück, und über ihn hinweg stolperte Bir Kassal, – ein langes gekrümmtes Messer blinkte, und der Tuareghäuptling rollte nach dieser letzten Anstrengung zur Seite.

Urplötzlich wurde es still …

Nur das Knistern und Fauchen der Flammen dort an der rechten Wand, wo die rote Lohe wie eine glühende Mauer, die ins Gleiten geraten, sich immer noch ausdehnte, und das schwere Stöhnen einiger Todwunden unterbrachen das beklemmende Schweigen, das uns, die wir zu spät gekommen, die Herzen zusammenpreßte.

Thomas Holk drängte sich vor.

Sein Gesicht, gebleicht durch den endlosen Aufenthalt in den Tiefen der Erde, war wie heller kalter Marmor.

Die fünf Gegner, die jetzt noch übrig geblieben, drei Weiße und zwei Tuaregs, rührten sich nicht.

Mit dem Erwachen aus der Ekstase des Kampfes war über sie jene bleierne, gleichgültige Müdigkeit gekommen, die jeder kennt, der mit zitternden Nerven in ungeheurer Erregung den Tod ausschickte und den Tod jede Sekunde erwartete.

Es war der unausbleibliche Rückschlag nach dieser wahnwitzigen Aufpeitschung des eigenen Ichs.

Thomas Holk sagte laut: „Werft die Waffen weg … Es ist … genug!!“

Er fand Gehorsam …

Die fünf da hatten keinen eigenen Willen mehr.

Holk beugte sich über Hadina …

Ihr Kopf lag auf dem Sattel, ihre Augen hafteten an der Stelle, wo Bir Kassal lag.

„Hadina, hören Sie mich …?“

Aus ihrem linken Mundwinkel lief ein dünner Blutfaden zu dem fein modellierten Kinn.

Ihr Blick wandte sich langsam Thomas Holk zu …

„Hadina, Ihre Rechnung war falsch … Sie wollten mich bestehlen, wie mich bereits andere bestohlen haben, und Sie trieben ein verwerfliches Spiel, – alle sollten verlieren, nur Sie sollten gewinnen … Die Tochter des eigenwilligen, ehrgeizigen, ränkesüchtigen Sultans von Mossor verfolgte phantastische Ziele, das weiß ich nun. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe, Hadina: Ihr Blut, Ihre Herkunft und die Berührung mit europäischer Zivilisation sind schuld. Ich bedauere Sie, und das ist keine Redensart. Ich verzeihe Ihnen, denn ich werde mich nie zum Richter über Menschen aufwerfen, deren Charakterentwicklung durch ihre Umwelt und ihre Lebensbahn eine Richtung in die Tiefe nehmen mußten.“

Er kniete neben ihr nieder und untersuchte die Wunde.

Wir anderen blickten nicht hin …

Wir mühten uns um die Sterbenden …

Sir Morstan winkte den fünf erstarrten Überlebenden: „Packt mit an … Löscht das Feuer … Öffnet den Ausgang … Der Qualm erstickt uns.“

Mit einem Male glitt ein breiter Strom Sonnenlicht in den raucherfüllten Felsendom hinein.

Wasser zischt über die Lohe hin, und schwarze Wolken zogen durch den Eingang hinaus in die Schlucht, in der der spitze Felskegel sein kahles Gestein dem heute glasklaren Himmel entgegenreckte.

Als ich Frau Hadina vorsichtig hinaus auf die Schattenseite der Schlucht trug, schlug sie die Augen zu mir empor …

„Abelsen – – neben ihm … neben Bir Kassal … Das Sterben wird mir leichter werden.“

 

18. Kapitel.

Thomas Holks Geheimnis.

Das Sterben, der letzte Schritt aus dem Diesseits, in das unbekannte Jenseits, hielt überreiche Ernte.

Alles andere verblaßte dagegen …

Ich hatte mit Severn die Freunde aus dem Felsenkerker herbeigebracht … Der Tuareg, der Wachtposten, war leicht zu überwältigen gewesen.

Thomas Holk hatte sein Kind nur kurze Zeit an sich gedrückt. Aus seinen Zügen wollte der weltferne, versonnene Ausdruck nicht weichen.

Schreckensbleich schauten die Mädchen über die lange Reihe stiller Gestalten und über die schnell hergerichteten Lagerstätten der Todwunden hinweg …

Hadina ruhte neben Bir Kassal, wie sie es gewünscht hatte. Beide lebten noch, – wie lange noch?! Der unerbittliche Tod grub ihnen seine alle Schärfen austilgenden Zeichen in die farblosen Gesichter.

Der Tuareghäuptling drehte matt den Kopf nach seinem Weibe hin.

Beider Blicke hingen ineinander, ohne Haß, ohne Feindseligkeit.

All das war ausgetilgt.

Zwei Sterbende schauten sich an, und ihre Augen wurden weich und erfüllt von einem inneren Licht, das aus dem besten Teile ihrer Seelen emporleuchtete.

Dann schob Bir Kassal seine Hand hinüber in die seines Weibes.

Er lächelte schmerzlich …

Er wollte sprechen …

Nur blasiger, rötlicher Schaum trat über seine Lippen, und die leise weinende Evelyn trocknete diese Lippen, die sie hintergangen hatten. Auch das war vergessen.

Hadina erhob sich halb, schmiegte sich in den Arm ihres Mannes, und ihr Kopf sank auf seine Brust.

Wir, Zuschauer des allerletzten Ausgangs einer der Tragödien der Sahara, die vielleicht niemals ihresgleichen finden wird, wagten uns nicht zu rühren.

Das große Rätsel Liebe, immer verkörpert in einem leidenschaftlichen, unduldsamen Weibe, enthüllte uns seine nie zu ergründenden Abgründe und strahlenden Wipfel eines so leicht zerstörbaren Glücks.

Bir Kassal streichelte das dunkle Haar seines Weibes, und dann nahm er ihren Kopf in seine Hände und hob ihn …

Er schaute in ein paar gebrochene Augen.

Hadina war tot.

Er sah es …

Ein ergreifender Ausdruck von Zärtlichkeit durchleuchtete seine Züge. Er starrte die Tote an, und als ihm die Kraft versagte, fiel Hadinas Kopf gegen seine Wange …

So starb auch er: Geliebt, gehaßt, – – und zuletzt doch wieder geliebt. –

– Wir hatten die Toten begraben, wir wußten, daß noch mehr Gräber folgen würden.

Vor der sengenden Mittagshitze waren wir in die Höhle geflüchtet, die Mädchen sorgten für eine Mahlzeit, und allmählich fanden wir uns wieder zu uns selbst zurück.

Thomas Holk blieb still und zerstreut.

Als wir beieinander saßen, begann er unaufgefordert zu sprechen.

„Ich habe es mir lange überlegt, ob ich euch, meine Freunde, auch das Allerletzte der Geheimnisse des Schädelbrunnens zeigen soll, – oder seiner Grottenwelt, das ist ja schließlich dasselbe. Ich sagte Ihnen, Abelsen, daß es etwas gegeben hat, das mich aus den Krallen des Wahnsinns befreite. Mein Kerker hätte mich dem Irrsinn zugeführt, wenn nicht diese seltsamen, verschlungenen Höhlengebiete mir einen inneren Halt geboten hätten, ein – – Ziel, eine Arbeit!

Ich wollte frei sein … Ich wollte flüchten, und deshalb untersuchte ich die Wände meines Kerkers mit aller Sorgfalt … Meine Wächter schliefen zumeist, wenn sie mich schlafend wähnten. Die Gittertür und die Balkentür schienen ihnen fest genug, mich von der Außenwelt abzusperren. Jahre vergingen, und in diesen Jahren stellte ich die Rillen her, die in die dünne Wand zum zweiten Stollen nachher zur Steintür wurden. Felsstücke dienten mir als Werkzeuge, und die unendliche Geduld, die derjenige lernt, der die Freiheit erringen will, zermürbte Gestein durch Gestein.

Dann war diese Arbeit vollendet …

Ich hatte ein Schlupfloch, und ich irrte durch die Höhlen, die Bir Kassal nicht kannte … Diese Höhlen, meine Freunde, enttäuschten mich bitter. Ich ging von neuem ans Werk, aus diesen Grotten einen Ausgang zu erzwingen. Wieder verstrichen Jahre … Ich fand eine Stelle, wo ich Licht schimmern sah, Sonnenlicht, aber als ich auch hier den Durchbruch vollendet hatte, war eines Tages die tiefe Schlucht dort für andere zum Kerker geworden, und ich mußte meine Versuche anderswo wiederholen. So schuf ich den Zugang zu Frau Hadinas Versteck, so lernte ich Hadina kennen, die mir erzählte, Evelyn sei tot. Ich habe Evelyn hier bis heute nie zu Gesicht bekommen.

Er strich sich leicht über die Stirn.

„Nun das Andere, das Wichtigere – und die Erklärung für Hadinas Verrat.

Bei meinen heimlichen Streifzügen durch den nördlichen Stollen, der mir ja allein zugänglich war, entdeckte ich gegenüber meiner Geheimtür in der zerklüfteten Grottenwand eine durch Gewölbezacken gut verborgene enge Spalte …

Dahinter eine neue Höhle, die von einem unterirdischen Wasserlauf durchquert wurde, der Boden dort war nicht Fels, sondern lehmiger Sand.

Aber vielleicht ist es richtiger, Sie alle begleiten mich … Bis auf die, die für die Verwundeten sorgen müssen.

Eine halbe Stunde später zwängten wir uns einzeln durch die Felsspalte.

Acht Laternen erleuchteten Thomas Holks Arbeitsplatz.

Es war eine langgestreckte Grotte, – lautlos glitt das im Laternenlicht schimmernde Wasserband durch den feuchten Boden, der überall aufgewühlt war.

Spaten, Hacken und andere Werkzeuge lehnten neben prall gefüllten Ledersäcken, die bereits zugebunden waren.

Nur ein Sack, erst halb voll, zeigte uns seinen mattblanken Inhalt: Gold, Goldkörner in allen Größen!

Holk hatte den Arm um sein Kind geschlungen.

„Evelyn, – dies hier ließ mich meinen Schmerz vergessen, dies hier lenkte mich ab, dies hier gab dann Hadina die Möglichkeit, Waffen zu besorgen … Gold ist Macht … Aber Gold ist auch eine große Verführerin, die uns schwache Menschen in die Irre leitet … – Hadina ist tot. Ich habe ihr verziehen. Hadinas Plan ging darauf aus, allein über diese Millionen zu verfügen … Sie ist tot … Und hiermit soll auch die Vergangenheit getilgt sein. Kein Wort mehr davon, – blicken wir vorwärts, nicht hinter uns … Die Zukunft wird uns geläutert finden, uns alle. Es schadet niemandem, wenn er einmal durch Finsternis und Schlamm watet. – – Verlassen wir diesen Raum, ich sehne mich nach der Sonne … Ich habe die Sonne so endlos lange entbehren müssen …“

Er küßte sein Kind, – – dann kehrten wir zurück in die leuchtende Fülle des Tages, und keiner von uns sprach ein Wort.

*

Tage sind vergangen.

Wir haben das Lager wieder am Märchenbrunnen aufgeschlagen droben in den Hügeln, und abends, wenn der Mond die kleine Oase in Zauberlicht taucht, sorgen Evelyn und Grace dafür, daß die Zisterne zum Märchenbrunnen wird.

Sie sitzen auf dem Steinrand der Einfassung, und sie singen wie einst, nur mit frohen, lebenswarmen Stimmen, und wir Männer hocken beieinander und sprechen leise über dies und das und freuen uns der beiden sangesfrohen Nixen und lachen über Trasso, der da unten neben Evelyn kauert und zuweilen den Kopf hebt und den Mond anjault …

Und wieder kommt ein Abend, an dem es um die Zisterne still und einsam geworden ist …

Trasso und ich stehen droben auf der Kuppe und sehen gen Norden im milchigen Dunst der nächtlichen Wüste den endlosen Troß der Karawane der abziehenden Freunde verschwinden …

Dann erklingt fernher plötzlich die lockende Stimme der Sahara …

Wie einst …

Heute in anderer Bedeutung: Abschiedsgruß, – – die Spur ins Jenseits läuft in das Land der Lebenden zurück.

Da setzte auch ich die Muschel an die Lippen, und kraftvoll und dröhnend ertönt meine Antwort: „Lebt wohl – – glückliche Heimkehr!“

Die Stimme der Sahara zittert verhallend über die Sanddünen, – – von drüben, ganz schwach, ein letztes Echo …

Dann hat die Ferne all die Menschen in ihren weichen Mantel eingehüllt, die mir Freunde geworden sind im Abseits.

Sie streben dem Leben entgegen, das ihnen so vieles verheißt …

Ich verharre hier an dieser Stätte, mir selber treu, Wanderer auf Abseitspfaden, nur beflügelt von der einen Hoffnung:

Daß diese, meine Welt mir fernerhin schenken möge, was sie mir bisher gegeben: Die Freude an der Freiheit, Natur und allen Geschöpfen …!

Mehr fordere ich nicht … –

Meine Hand sinkt auf meines Hundes Kopf, und der so leise und kläglich winselnde Trasso schaut zu mir auf …

„Vergiß Evelyn, Trasso … Du hast mich!“

… Und da erklingt zum allerletzten Male fernher, vom Nachtwind getragen, die Melodie der Sahara …

Erklingt wie ein Hauch …

Verklingt wie ein Hauch …

– Ich wende mich meinem Zelte zu, vor dem die beiden Tuaregs das Lagerfeuer schüren und den dampfenden Kessel bewachen …

Mein fester Schritt läßt die braunen Burschen emporblicken. Ich nicke ihnen lächelnd zu …

Ich weiß, sie werden mich nie verstehen, ich werde ihnen immer ein Rätsel bleiben. Ihre primitiven Seelen können es nicht begreifen, daß ich die Freunde mit den goldenen Millionen davonziehen ließ und nichts davon begehrte – – nichts …

„… Macht schnell, – Teller her …! In einer Stunde reiten wir weiter!“

„Wohin?“, fragt der eine bescheiden.

– Ja – – wohin?!

… Ins Abseits – neue Pfade …!

 

Nächster Band:

Die Frau vom Leuchtturm.

 

 

Anmerkungen:

  1. Text ergänzt.
  2. Garling ist der Vater von Grace Garling. Evelyn die Tochter von Thomas Holk. Der Satz macht keinen Sinn.
  3. Weiterungen: Unerwünschte, unangenehme Folgen.