Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 31 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1931 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
Das fahle Leuchten aus der eingedrückten Seitenbordluke des durch die mondhellen Wogen dahintaumelnden Wrackstumpfes behagte mir nicht.
Es war weder das Licht einer Laterne, die etwa ein armseliger Schiffbrüchiger als Notsignal angezündet haben konnte, noch sonst eine Lichtquelle irdischen Ursprungs.
Ein Mann, den das Schicksal auf einem nur noch mit der Spitze herausragenden Schiffskadaver grausam allein läßt, wird die Laterne nicht gerade innen in seinem engen, glutheißen, allerletzten Schlupfwinkel befestigen.
Und sonst?!
Was sollte sonst dort dieses gelbliche, matte, ungewisse Strahlen, umrandet von den zackigen Resten des Lukendeckels, so seltsam gespenstisch hinausschicken über das einsame, nächtliche Meer?!
… Ich hatte den Motor unserer kleinen Pinasse in vorsichtiger Entfernung gestoppt.
Der stumpfe Kegel der Wrackspitze, behängt mit den Trümmern des Bugspriets[1], mit Tauen, Leinen, Seetangbärten und triefenden Seegrasskalpen, mochte zu einem Segler gehören, der nun, aufgeschlitzt im Orkan durch ein Riff oder im Nebel und Regen gerammt durch einen Kollegen von der Dampferzunft, auf einer schwimmfähigen Ladung dahintrieb als dauernde Gefahr für die ganze Schiffahrt hier im glutheißen Golf von Mexiko.
Wir blieben ihm besser fern.
Diese Schiffsleichen sind tückisch wie Hexen, die sich an den Lebenden für das eigene Geschick rächen möchten, sind lauernde Bestien, die den letzten Todesstoß erwarten und doch vorher noch denselben Stoß austeilen möchten, sind die unbeseelten Wanderer abseits vom Alltag mit tierischen Vernichtungstrieben und unberechenbaren Launen.
Nein, das fahle Leuchten behagte mir gar nicht.
Etwas nicht näher zu bezeichnendes hinterlistig Drohendes und Lockendes und Warnendes und doch auch Neugier Entflammendes lag in diesem gelblichen, schwachen Schein, der zuweilen ein wenig heller aufglomm, dann wieder zusammenschrumpfte, aufs neue seine Leuchtkraft vermehrte und nie völlig gleichmäßig strahlte.
Mein einziger Gefährte hier auf der flinken Pinasse zeigte für den Wrackstumpf auch nicht die geringste Teilnahme.
Mr. Black saß neben mir am Steuer und säuberte mit seinem langen Schnabel melancholisch und mißvergnügt sein glänzend schwarzes Federkleid, zog die Schwungfedern der kräftigen Schwingen über die rote, feuchte Feinschmeckerzunge hin und kratzte sich in den Pausen dieser gründlichen Wochenwäsche sehr bedenklich mit den scharfen Krallen den rundlichen Kopf, als ob er damit andeuten wollte, daß unsere Abreise von der Santa Theresa-Lagune aus dem Kreis lieber Freunde und Schicksalsgefährten doch ein wenig zu übereilt gewesen sei.
Was wußte Mr. Black von der Unrast meines Blutes?! Was wußte er von dem beglückenden Rausch des Ungewissen, der gerade in solchen ziellosen Fahrten lag?!
Mr. Blacks Neigungen beschränkten sich auf den eng gezogenen Kreis eigenen Wohlbefindens. Die reich gedeckte Tafel der Lagune, die nun meilenweit hinter uns im Westen an Yucatans wenig bekannten Küsten lag, war ihm mit ihrer Überfülle an Krabben, Krebsen, matten Fischen und gedunsenen Fischkadavern ein wahres Schlaraffenland gewesen.
Mir nicht …
So traumhaft schön auch meines Freundes Mac Intocks weißes Haus dort zwischen Palmen und duftenden Büschen am weißen Strande gelegen hatte: Das Abenteurerblut, das nach neuem Erleben, nach neuen Wundern sich sehnte, hatte den raschen Entschluß gefördert: Um Mitternacht waren wir in aller Stille davongefahren, und jetzt, kaum anderthalb Stunden später, hatte mir das Füllhorn des Schicksals dieses Wrack bereits in den Weg geführt …
Nur eine Wrackspitze, nur ein magisches Leuchten, und doch eine Verheißung: Irgend etwas war mit diesem dahintaumelnden, von zerzausten Leinen und Tauen und Holzresten und Meerespflanzen traurig umwobenen Schiffsrest nicht ganz in Ordnung.
Eine Woge kam, hob die Pinasse, trieb sie vorwärts, – spielerisch wie einen leichten Kork, – und die Schwester dieser Woge, die soeben klatschend und schäumend gegen den stumpfen Kegel mit dem leuchtenden Auge brandete, hatte das im Wasser verborgene, immer noch feste Gefüge des Schiffskadavers ein wenig gedreht, – – schon war das Unheil da, die gierige Lanze des totwunden, seelenlosen Wanderers der Meereswüsten, eine scharfkantige, noch allzu lange Mastspitze, traf den Kiel meines eigenen Fahrzeuges, bohrte sich durch feste Planken mit bösem Stoß, warf mich halb vom Sitz, ließ Mr. Black angstvoll kreischend emporflattern und in eiligem Fluge westwärts davonstreichen, zurück zu den reichen Fleischtöpfen der grünen Lagune, zurück zu den Freunden, die nun, wenn der Rabe ohne mich sich einfand, in heißer Sorge meiner gedenken würden.
… Und die dritte und vierte Schwester der ewig fruchtbaren Wogensaat des Ozeans vollendete das Werk der Zerstörung.
Die gierige Lanze schnellte zurück, stieß nochmals zu, die Pinasse begann zu sinken, ein Wunder blieb es, daß ich mich und meine geringe Habe trockenen Fußes auf die Wrackspitze rettete …
Dicht vor mir sackte mein kleines Fahrzeug in die Tiefe, drehte im Todeskampf nochmals den Boden nach oben, zeigte mir im Mondlicht die beiden schenkeldicken Löcher und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Am Bugsprietrest hatte ich mich angeklammert, hatte nun schräg unter mir die offene Luke, sah in dem fahlen Leuchten nur einen fahlen Streifen, wollte mich an einem Tauende hinablassen in den engen Unterschlupf, und gerade da fuhr aus der Luke ein schleimiger Arm hervor, tastete nach oben, tastete nach meinen Füßen, – – ein zweiter ekler Arm folgte, nicht schnell genug hatte ich mit dem Messer zugeschlagen, ein dritter, vierter Fangarm eines Riesenkraken umschlang meine Füße, – ein Ruck, ein verzweifeltes Ringen, ich schwebte in der Luft, wurde hinabgezerrt, fühlte das lähmende Entsetzen eines unentrinnbaren Geschicks, – – Sekunden später erwachte der Wille zum Leben mit verstärkter Kraft, ich schlug und schnitt mit dem langen Jagdmesser zielbewußt diese widerlich-weichen, knorpeligen Schlangen in Stücke, ich arbeitete mich zurück zu meinem sicheren Hort, seilte mich fest, erwartete einen neuen Angriff durch die Fangarme des Riesentintenfisches, – – es erfolgte nichts …
Zwischen Tauwerk und Holzresten und Seepflanzen wanden sich zu meinen Füßen die abgesäbelten Stücke der Fangarme mit den breiten Saugnäpfen wie gallertartige halb durchsichtige, armdicke Reptilien.
Stücke von zwei Meter, drei Meter Länge …
So scheußlich anzuschauen, daß ich sie hinab in die See stieß, denn ihr Anblick erregte Übelkeit …
Aber das hämmernde Herz kam zur Ruhe, und der vorläufige Sieg über eines jener Ungeheuer, das an den Küsten Mexikos und im Karibischen Meer oft genug ganze Boote spurlos hatte verschwinden lassen, sollte nun schnellstens umgewandelt werden in eine endgültige Vernichtung des gefährlichen Feindes.
Daß diesem Untier nicht mit Pistolenkugeln oder einem Messerstich gründlich beizukommen war, wußte ich aus gelegentlichen Erzählungen meines Freundes Mac Intock, der bereits selbst einmal einen solchen Riesenkraken mit dem Stahlnetz, das er zum Schutz gegen Haifische vor der geheimen Einfahrt in seinen Lagunenwinkel versenkt hatte, durch Zufall gefangen und nur durch Explosivkugeln aus einer sogenannten Elefantenbüchse getötet hatte. Derselbe Mac Intock, dem ich meinen vorausgegangenen Tagebuchaufzeichnungen (Nachbar Dr. Tod) ein ehrenvolles Denkmal als dem unermüdlichen Erforscher der eigentlichen Quelle des Golfstromes setzen durfte, hatte auch in demselben Stahlnetz einen Riesenrochen von zwanzig Zentnern Gewicht an die Oberfläche befördert und hielt auf Grund seiner vielfachen seemännischen Erfahrungen mit allem Nachdruck die Ansicht aufrecht, daß die Tiefen der Ozeane noch zahlreiche Arten unbekannter Riesentiere bergen müßten. Womit er schon in sofern nicht ganz Unrecht haben mochte (um nur ein Beispiel anzuführen), daß erst unlängst eine bisher unbekannte Bärenart in Alaska festgestellt worden ist, die an Größe und Stärke den aus Indianergeschichten sattsam berühmten Grisly (Graubär) weit hinter sich läßt.
… Wie nun dem Kraken, der sich da unter mir in der Bugkammer des Wracks eingenistet hatte, mit einem alltäglichen Mittel beikommen?!
Pistole, Büchse, Messer schieden da vollständig aus. Ein Krake – und die Fangarme dieses Untieres mußten bis acht Meter lang sein – verblutet nicht, selbst wenn man ihm sämtliche Arme abhackt und den schleimigen Kadaver noch so sehr durchlöchert. Der Organismus dieser unheimlichen, vorsintflutlichen Geschöpfe ist so eigentümlich geartet, daß lediglich die Zerstörung der wichtigsten Organe den Tod herbeiführt.
Wenn ich Sprengstoff zur Verfügung gehabt hätte!!
Wer schleppt sich mit Dynamitpatronen herum, – – ich gewiß nicht! Ich hatte in der Pinasse lediglich das mitgenommen, was mir, dem Weltentramp, dem Wanderer abseits vom Alltag, seit Jahren notwendige Habe erschien.
… Mein Blick glitt über meine im prallen Tragesack eiligst verstaute Habe hin. Der Öltuchsack, vollgepfropft bis oben, zeigte Buckel und Kanten und verriet so die Lage der mir wohlvertrauten Gegenstände.
Da war die Karbidlaterne …
Da waren die beiden Blechbüchsen Karbid.
Ein Gedanke ward lebendig, formte sich blitzschnell zu verheißungsvollem Plan. Gewiß, meine Trinkwasserflasche, starkes Aluminium mit festem Trinkbecherschraubverschluß, mußte ich opfern.
Was tat es?!
Das Untier mußte verscheucht werden.
Töten?!
Das würde mir kaum gelingen …
Die Bestie mit dem berüchtigten Papageienschnabel aus horniger Masse füllte ja mit ihrem Leibe die ganze Kammer aus, und dieser Leib strahlte in demselben Lichte wie die harmlosen Leuchtquallen, die man selbst in der Ostsee antreffen kann.
Mein Plan war einfach, fußte auf der Explosivwirkung feuchten Karbids in luftdichten Gefäßen.
Mein Plan lockte sogar ein flüchtiges Lächeln auf meine braunen Züge. Lausbubenstreiche von einst tauchten in der Erinnerung deutlich greifbar auf … Wenn wir als halbwüchsige Bürschchen mit dem Segelboot hinaus in die Schären meiner Heimatstadt Göteborg gefahren waren, versorgt mit dicken Flaschen, Federposen, Korken, Draht und ungelöschtem Kalk … Wir kannten genau die Stellen, wo zwischen den Riffen zu bestimmten Zeiten die fetten Seelachse sich tummelten. Wir füllten die leeren Flaschen knapp zur Hälfte mit Kalk, verkorkten sie ganz fest mit Hilfe des Drahtes, nachdem durch den Kork eine der Federposenröhrchen gesteckt war, damit das Wasser allmählich den Kalk anfeuchtet, warfen unsere Fischgranate über Bord, ruderten ein Stück abseits und warteten, nachdem wir der Flasche noch zerhackte Köderstückchen hatten folgen lassen. Fünf Minuten, dann explodierte die Geschichte, dann wallte das grüne Meerwasser ein wenig auf, wurde milchig, und langsam kamen die fetten Lachse leicht betäubt mit an die Oberfläche, von wo wir sie nur mit dem Kescher ins Boot zu heben brauchten. – – Lausbubenstreiche …! Ich würde niemandem raten, den Versuch, auf diese Art zu einem billigen Fischgericht zu kommen, zu wagen, denn es ist ein Trick dabei, den ich hier nicht verraten werde. Im übrigen verbieten die Fischereigesetze derartige Fangmethoden – mit Recht! Wie schamlos zum Beispiel seiner Zeit deutsche Binnenseen durch Handgranaten, die sich kurz nach dem Weltkrieg noch in unrechten Händen befanden, geplündert worden sind, ist eines der traurigen Kapitel mißverstandener „Freiheit“, die ich sonst wahrlich jedem Volke und jedem Einzelindividuum gönne.
– Ich begann mit den einfachen Vorbereitungen zur Ausräucherung des Kraken.
Die Wasserflasche wurde angeseilt, halb mit Karbid gefüllt, dann pfropfte ich über das Karbid eine Lage zusammengeknülltes Zeitungspapier, schöpfte Wasser, schraubte rasch den Deckel fest und ließ die Flasche ebenso eilig an der Leine, mich weit vorbeugend, in die Luke hineinpendeln.
Was ich vermutete, traf ein: Die leuchtende Bestie packte mit den Schlangenarmen zu, riß die Bombe ahnungslos an sich, und bereits zwei Minuten später hatte das Wasser die Papierschicht durchdrungen, die Gasentwicklung setzte ein, steigerte sich zu ungeheurem Druck, und mit einem Knall, der dem einer kleinen Granate nicht viel nachstand, explodierte meine primitive Bombe, ich vernahm zu meinem Erstaunen den hellen, heiseren Schrei eines Menschen, ein riesiger schleimiger Leib glitt aus der Luke, fiel in die gurgelnde Flut, färbte das Wasser weithin mit der schwarzen Ausscheidung seiner Tintendrüsen, und – – nochmals erklang der heisere, jämmerliche Schrei, nur schwächer, beherrschter …
… Der Chinesenbengel lügt wie gedruckt.
Diese ausgemergelte kleine Gestalt mit den erstaunlich dicken Muskelwülsten, die unter den Resten seiner Jacke hervorlugen, mag halb verhungert und halb verdurstet sein, aber das Hirn ist klar und frisch, und Freund Jangse Schang läßt seine Asiatenphantasie mit harmlosem Grinsen die tollsten Bocksprünge vollführen.
Jangse hält mich für dumm.
Mag er.
Sein Pidgin-Kauderwelsch erhöht noch meine Freude an dieser Skala fetter Schwindeleien.
Weshalb lügt der Bengel?!
Asiatische Mentalität?! Freude daran, einen Europäer an der Nase herumzuführen?! Wohl kaum.
Seine Phantasien haben System. Wenn er einmal allzu dick aufgetragen hat, schwächt er das Unglaubwürdige durch die immer wiederkehrende Einstreuung: „Oh, ich sein krank, Missul, sehr viel krank …“ wieder ab und kaut eifrig an dem Stück Büchsenfleisch und lauert auf meine nächste Frage mit der schlecht verhehlten Angst vor der verlangten Antwort.
Jangse sitzt mit dem Rücken gegen die eiserne Tür gelehnt, die in den zweiten, leider fest verschlossenen Verschlag führt.
Über Jangse wäre nur zu sagen: Vielleicht vierzehn, zerlumpt, intelligentes Gesicht mit schlauen Schlitzaugen, – – und hervorragender Lügner!
Als ich den Kraken glücklich ausgeräuchert hatte, als ich dann hinabkletterte in die kleine Bugkammer, fand ich den gelben Bengel hinter zwei leeren Kisten vor, anscheinend halb tot vor Angst.
Ein Schluck Whisky, eine Büchse Konservenfleisch und zwei Zigaretten genügten, Freund Jangse zum vollendeten Romanschreiber zu machen. Er schrieb nicht, aber er plapperte im Eiltempo die unmöglichsten Dinge zusammen.
Mit der Anrede Missul statt Mister fand ich mich ab, nicht aber mit der Unverschämtheit, mit der Jangse Schang mir feiste Bären aufband.
„Oh Missul, ich sein nicht gewesen Schiffsjunge auf diese eiserne Brigg … Ich sein gewesen Kapitänsboy auf Dampfer, der haben gerammt Segelschiff … So sein, Missul … Ich stand an Reling, großer Knall, Dampfer auch eingedrückten Bug haben, ich über Bord fallen, sehr viel Sturm, ich schwimmen, klettern auf diese Wrack, das sein gewesen vor fünf Tagen. Missul … nein, vier Tagen, – – ich nicht genau mehr wissen, und dann gestern kamen scheußliche Bestie gekrochen durch Luke, ich schnell Kisten umkippen, verstecken mich, – – oh, waren schlimme Stunden, Missul …“
Er biß rasch in das Büchsenfleisch und korrigierte kauend: „Nein, nicht gestern kamen Bestie, heute erst … Sonst mich schon gefressen haben …“
Aha, dieses Romankapitel erschien ihm selbst verfehlt. Ein Krake hätte die Kiste wie Pappkartons umgekippt und den Bengel in aller Gemütsruhe verspeist. – Jangse hatte nie im Leben die Kisten als Versteck benutzt.
Lüge nur weiter, dachte ich, sog an meiner Zigarre und betrachtete die Vorschiffkammer mit tastenden Blicken.
Meine Karbidlaterne beleuchtete den öden, kahlen Raum mit ihrem kalten, weißen Licht und zischte dazu ganz leise wie eine bösartige Schlange, die aus Wut über ihre Gefangenschaft einen Fluchtweg sucht.
Jangse Schangs schmierig-gelbes schweißglänzendes Gesicht mit der winzigen Nase, den nur angedeuteten Lippen und der hohen, intelligenten Stirn, über der das wirre, schwarze Haar wie eine zerdrückte, alte Bürste sich sträubte, – dieses unverfälschte Gesicht eines Kanton-Chinesen erschien bei dieser grellen Beleuchtung wie ein aus Wachs modellierter Kopf im Schaukasten irgend eines Zahnkünstlers, denn das, was Jangses besondere Schönheit ausmachte, waren eben die formvollendeten, tadellos weißen Zähne, die infolge der Kürze der Lippen samt dem rosigen Gaumenfleisch in der Tat als Reklame für unauffälligen, erstklassigen Zahnersatz dienen konnten.
Nur das eingefrorene, halb nichtssagende, halb pfiffige Grinsen störte.
Und dann … das infame, freche Schwindeln.
Ich hatte genug davon.
Nahm die Zigarre zwischen die Finger, hielt die glühende Spitze dicht an Jangses winziges Näschen und meinte freundlich:
„So, nun wollen wir mal die Sache etwas anders aufziehen, Boy … Du hast die falsche Platte auf dein Grammophon gelegt, du hast geglaubt, hier so einen von Tropenglut und Whisky verseuchten Inglismanschädel vor dir zu haben: Irrtum, Boy, grober Irrtum!! Von deiner verlogenen Sorte sind mir schon ein paar Musterexemplare über den Weg gelaufen …“
Jangse bog den Kopf ganz nach hinten, um der Zigarre zu entgehen, und schlug dabei ziemlich grob gegen die eiserne Tür, an der er lehnte.
Daß diese Tür infolge der fast senkrechten Stellung des Wracks im Wasser – Heck nach unten – ebenfalls schief lag, und daß auch wir nicht auf dem eigentlichen Fußboden, sondern auf der Schottenwand zum Laderaum hin saßen, brauche ich kaum weiter zu erwähnen.
Jangse rieb sich betrübt den Hinterkopf, hustete laut, räusperte sich, hustete nochmals und rief mit seiner nicht gerade melodischen Stimme:
„Oh, Missul, – oh – oh –, – was da reden von falscher Platte … Ich das nicht verstehen. Ich nicht lügen, Missul können sein voller Vertrauen zu kleinem Jangse, – – noch nie lügen: Ich fallen über Bord, ich schwimmen, Brigg sinken, ich klettern, Untier kommen hier in die Kammer, ich Kisten nehmen, verstecken …“
„Stopp!!“
Meine Zigarre entfernte sich, Jangse legte den Kopf schief wie ein Papagei, der irgend etwas Auffälliges wahrnimmt, und aus den Schlitzaugen traf mich ein so lauernder, hinterhältiger Blick, daß meine linke Hand sich bereits zur Faust ballte.
Nein, es hätte keinen Zweck gehabt …
Also …
Auch ich grinste den Bengel Jangse genau so listig an und meinte vergnügt:
„Mein Boy, du bist das größte Weltwunder. Du hast etwas fertig gebracht, was noch keinem Lügner bei mir gelang: Du tust mir leid in deiner übergroßen Dummheit! – Bitte, da sind die beiden Kisten. – Dem Aufdruck nach waren Konserven darin … Der Größe nach warst du nie darin! Versuche es doch mal, in eine der Dinger hineinzukriechen! Deckel haben sie nicht … Also los! Du müßtest schon ein Schlangenmensch sein, wolltest du deinen elenden Kadaver darin plazieren, und selbst ein Schlangenmensch würde wohl kaum stundenlang in dem engen kantigen Behälter seine verrenkten Gliedmaßen ohne ernsteren Schaden für seine Gesundheit untergebracht haben! – Also, die andere Platte, Jangse!! Und die beginnt mit der Melodie: „Wo mag nur der Schlüssel zum Türchen sein?! Wo hat der Jangse den Schlüssel gelassen?“ – Du verstehst mich ganz gut, du feixendes, kleines Scheusal! Erstens fällt niemand, der bei einem Schiffszusammenstoß an der Reling steht, so mir nichts dir nichts über Bord. Das ist Unsinn. Und zweitens ist erwiesen: Als der Riesentintenfisch hier in die Kammer krabbelte, hast du dich nicht in eine der Kisten in sehr fragwürdige Sicherheit gebracht, sondern warst in der Nebenkammer, an deren Tür du jetzt mit deiner Kehrseite Wache hältst. Du hast den Schlüssel zu der Tür, du kamst heraus, als du die Explosion hörtest und durch das Schlüsselloch sahst, daß der Krake eiligst verduftete. – Her mit dem Schlüssel, Jangse, oder meine Faust fährt dir unter dein spitzes Kinn und gefährdet all deine Vorderzähne mitsamt den Kinnbackenknochen und …“
Und dann …
Hätte nicht das völlige Zusammenziehen der Schlitzaugen und das Anspannen der Gesichtsmuskeln Jangses mich rechtzeitig gewarnt, – ich wäre niemals dem blitzschnellen Messerstoß dieses kleinen gelben Teufels entgangen.
Blitzartig fuhr Jangses Pfote in die Lumpen der Jacke, blitzartig funkelte die lange Klinge im Laternenlicht …
Und flog klirrend gegen die Eisenwand, während des gelben Bengels übel zugerichteter Arm wie ein Bleiklotz herabsank.
Meine Faust hatte das Ellbogengelenk getroffen, und Jangse Schang hat noch tagelang eine blaugrüne, eigroße Beule und beträchtliche Schmerzen gehabt.
Meine Zigarre rollte zur Seite, im Nu hatte ich den Burschen unter mir, packte die Leine, an der ich in die Luke hinabgeklettert war, und machte aus Herrn Jangse Schang ein versandfertiges Bündel.
Natürlich hatte er den Schlüssel in der Hosentasche, – – was man so bei ihm noch Hosen nennen konnte …
„Also doch!“, sagte ich zu dem mich entsetzt anstierenden Burschen. „Nun werden wir ja sofort sehen, was du dort in jener Kammer versteckt hast, du …“
Ich verzichtete auf alles weitere …
Ich starrte jetzt den gelben Jungen doch verblüfft an.
Ein Chinese, der weint, ist eine große Seltenheit. Viele behaupten, die echten Chinesen, die reinblütigen, besäßen überhaupt keine Tränendrüsen.
Ein Chinese, der seine Gefühle durch Tränen verrät, „verliert das Gesicht“, wie diese Asiaten sich ausdrücken.
Und Jangse weinte.
Und das war nicht Komödie.
Das war fassungsloser Schmerz über ein mißglücktes Messerattentat.
Große runde Kindertränen perlten ihm über die Wangen. Sein Schluchzen klang wie das einer wimmernden Frau und griff mir ans Herz.
Meine Verblüffung wurde Staunen, und Staunen wurde Mitgefühl – trotz des Messers …
„Höre mal, Boy, – jetzt bist du ein noch größeres Weltwunder … Weshalb heulst du so verzweifelt?! Hast du etwa dort in der Kammer irgend etwas versteckt, das für dich einen Schatz bedeutet?! Ich will nicht gerade sagen, daß du irgend etwas Kostbares gestohlen und dort verborgen haben könntest, obwohl der Kapitänsboy eines Dampfers immerhin einige Gelegenheit hätte, verschiedenes bei Seite zu bringen, und im günstigsten Moment damit zu fliehen. – Rede, Jangse!!“
Der halbwüchsige Junge hatte sich mühsam aufrecht gesetzt. Er stöhnte vor Schmerzen, sein Oberkörper pendelte hin und her, – genau wie diese Wrackspitze unter dem Anprall der Wogen pendelte, die unablässig mit ihren Schaumkronen zum Lukenrand gierig emporleckten.
Seine tränenfeuchten Augen verrieten nichts als tiefen, tiefen Schmerz. Seine Züge waren versteinert durch eine Verzweiflung, die sogar das sanfte, höflich-listige Grinsen aus ihnen verscheucht hatte.
Jangse Schang war mir ein Rätsel.
Dunkel stieg da ein Ahnen in mir empor, daß dieses elende Wrack, von dem nur noch etwa drei Meter aus dem Ozean hervorragten, vielleicht Geheimnisse berge, die weit gefährlicher als das gespenstische Leuchten sein könnten, das mich vor einer Stunde hierher gelockt und das mich meine flinke Pinasse gekostet hatte.
… Und abseits vom Alltag liegen am unbekannten Wege die verhüllten Geschicke derer, die jener großen Welt des trügerischen Scheins entweder angewidert oder gezwungen oder gepackt von der ungewissen Sehnsucht nach einer Freiheit unbegrenzter Weite den Rücken kehren.
Abseits vom Alltag stehen die Grabkreuze derer, die mit weniger Glück als ich diese Pfade wandelten.
Und hier nun?!
Mondheller Ozean, Golf von Mexiko, ein einsames Wrack, fast ganz versunken, und in der Wrackspitze zwei Menschen, die das Schicksal zusammenführte und die nun einander gegenübersaßen, stille Fragen in den Augen, Zweifel in den Herzen, ohne Vertrauen zu einander, und doch aneinandergeschmiedet durch die große, erhabene, pfadlose Einsamkeit des Meeres, das kein Erbarmen kennt, das mit seinen Wogen tändelnd daherspringt und Wassertropfen verspritzt wie im Übermut, – – Tropfen, von denen nicht einer trinkbar …
Gespenst des Dursttodes …
Gespenst all derer, die dem Verderben einer Schiffskatastrophe entgingen und an einer Planke geklammert hofften … hofften … – worauf?!
Bis die höllische Glut der Sonne und der brennende Durst ihnen das Hirn zernagte und sie mit letztem, wildem Gelächter des aufflackernden Irrsinns hinabsanken in das Riesengrab der unbekannten Meerestiefen.
„Jangse“, sagte ich sehr ernst und lockerte seine Handfesseln, „wenn wir nicht innerhalb vier Tagen einem Schiffe begegnen, das uns aufnimmt, werden wir sterben … Oder – hast du Trinkwasser in der verschlossenen Kammer?“
Meine verwandelte Stimme öffnete seine Augen ganz weit.
Ihm schien die Erkenntnis aufzugehen, daß hier jemand zu ihm spräche, der nicht zu jener Dutzendware aus den Menschenfabriken der Städte der Zivilisation gehörte.
„Herr“, sagte er urplötzlich in fließendem Englisch, „bevor ich die Wahrheit spreche, muß ich fragen, ob ich es tun darf. Herr, ich bin nur ein armer, elternloser Chinesenjunge, aber ich bin … Jangse Schang aus der Familie Schang, die in Kanton tausend Köpfe zählt und in verflossenen Zeiten Zehntausende von Köpfen zählte. Aber nicht in einem einzigen der Köpfe war je der kleinste Gedanke, ein gegebenes Versprechen nicht zu halten. – Herr, ich habe gelogen. Ich werde nicht mehr lügen. In jener Kammer verbirgt sich eine Frau, die den Kelch des Leides auskostete bis auf den Grund. Ich werde sie fragen … Sage mir, wer du bist, und die Frau, die ich rettete, wird entscheiden …“
Die Entscheidung war bereits gefallen von meiner Seite.
Ich nahm Jangse die Fesseln ab, gab ihm den Schlüssel, gab ihm sein Messer, und erklärte ohne langes Herumreden: „Ich klettere wieder nach oben. Rufe mich. Aber sage der Frau, daß ich keiner von denen bin, die am fremden Leid mit weggewandtem Kopf vorübergehen. Mein Name ist Abelsen, ich bin Schwede von Geburt, ich verlor die Heimat durch ein Weib, das mich hinter Kerkermauern schickte. Jetzt bin ich nur noch Wanderer abseits vom Alltag … Bestelle ihr das, vielleicht versteht sie mich.“
… Der Morgen zieht herauf …
Im Osten erscheint der helle Schimmer des jungen Tages.
Mond und Sterne sind verschwunden. Der Ozean enthüllt seine leere Weite, und ich sitze oben am Rest des Bugspriets zwischen Tauwerk, Holztrümmern und Grasbärten des Meeres, mit denen der frischer gewordene Wind spielt.
… Sitze wie ein Jan Maat im Ausguck und warte …
Worauf?! –Die Frau kann diese schicksalsgebundene Gemeinschaft mit mir nicht ablehnen. Drei Menschen, nicht zwei, hat der Wind der unergründlichen Vorsehung hier zusammengeweht. Mich ausschließen von diesem engen, erzwungenen Zusammenleben?! Unmöglich!!
Ich warte …
Die Erörterung da unten dauert freilich für meinen Geschmack allzu lange. Eine Stunde ist verflossen. Muß Jangse, der sicherlich warm für mich eintreten wird, so übermäßig seine flinke Zunge benutzen, um die Bedenken der Frau zu zerstreuen?! Welche Bedenken?! Traut diese Fremde nur dem gelben Jungen?! Wer ist sie überhaupt?! Eine Weiße, eine Chinesin?!
Meine Gedanken taumeln müde im Kreise wie das versunkene Wrack, das nun, da der Anprall der Wogen wächst, keine angenehme Schaukel darstellt. Für Menschen mit Neigung zur Seekrankheit wäre mein Ruheplatz eine Folter.
Müde gleiten die müden Blicke über das Meer, das immer deutlicher sich herausschält aus der grauen, verschwommenen Decke nächtlichen Schlafes. Der ganze östliche Horizont erstrahlt in jenem seltsamen, kalten, klaren Licht, das der Zeit vor Sonnenaufgang eigen ist.
Eine jener schwimmenden Meereswiesen, die drüben auf den Untiefen bei Kap Catoche wuchern, und die, vom Sturm losgerissen, wie fahlgrüne, schlecht geschorene Riesenteppiche im Golf von Mexiko dann umherirren und schließlich an fremder Küste verfaulen, treibt gemächlich auf das Wrack zu, – eine dick verfilzte Masse mit einzelnen hellgrünen kränklichen Stengeln …
Ein Teppich, mindestens fünfzig Meter lang, mindestens ebenso breit.
Urplötzlich schnellt mein Kopf hoch …
Alle Müdigkeit schwindet. Heiß und kraftvoll braust das Blut durch die Adern.
Was ich sehe, weckt das Beste in mir: Die Liebe zur Natur und ihren Geschöpfen.
Ich habe Tiere besessen, die lange Monate meine Weggefährten waren. Sie gaben mir Treue und jene selbstlose Zärtlichkeit, die aus der reinen Quelle der Dankbarkeit entspringt. Sie gaben mir mehr als viele Menschen, die gleich farblosen Gespenstern, obwohl auch meine Weggenossen, im Dunkel der Vergangenheit versanken und in mir nichts zurückließen als das Gefühl: Sie gaben dir nichts, denn sie hatten nichts zu verschenken, sie besaßen selber nichts, waren Mitläufer der großen Herde, über der ständig der Dunst schamloser Selbstsucht schwebt.
Der Teppich hatte einen Buckel, einen Hügel, und auf diesem Buckel lag ein Baumstamm mit totem Laub, geknickten Zweigen, umsponnen von faulenden Lianen, Dornen, einst grellbunt blühenden anderen Kletterpflanzen: Eine tropische Baumleiche.
Und zwischen den dicken Ästen ruhte da in einer Wiege der rissigen, zerfetzten Rinde, deren losgeschälte Stücke hochgeklappt den fast schneeweiß gebleichten Bast zeigten, ein rostbraunes Tier mit drei helleren Rückenstreifen …
Wie tot …
Ich riß das Glas an die Augen …
Sah …:
Das Maul des Yucatanfuchses, jener seltsamen Kreuzung zwischen echtem Fuchs und Coyoten, klappte auf und zu in langen Pausen.
Wie das eines Fisches auf dem Trockenen.
Arme Kreatur! Wie lange magst du bereits, Spielball von Wind und Wellen, hilflos durch den Ozean treiben! Wie lange!! Deine Rippen sind zu zählen, aber dein Bauch ist unförmig aufgebläht … Du wirst vor Hunger Baumrinde und Blätter gefressen haben, und daß du überhaupt noch lebst, dankst du wohl nur deinem Instinkt, der dich zwischen den Rindenstücken Schutz von der stechenden Sonne suchen ließ.
Die fahlgrüne Wiese kommt näher …
Immer näher …
Und dann höre ich unter mir aus der Luke eine helle, mitleidige Frauenstimme:
„Ein verschmachtendes Tier!! Mr. Abelsen, wir haben einen Bootshaken, könnten Sie nicht …“
Die Stimme brach ab.
Ich habe mich vorgebeugt und ich blicke zum ersten Mal in Dagmar Hollerfreys kühles, kühnes Antlitz mit den graublauen, seltsam durchdringenden, fast strengen Augen.
… Zuweilen komme ich wahrhaftig in Versuchung, mich kräftig in den Arm zu kneifen, nur um nochmals die Gewißheit zu erhalten, daß all dies kein Traum.
Es hilft nichts.
Es ist so. Ich sitze in einem Smoking, der Dank meiner regelmäßigen Figur, obwohl „von der Stange“ gekauft, tadellos paßt, an einem Pfeiler des ersten Hotels in der berühmten Nevada-Stadt[2] Reno an einem pompös gedeckten Tischchen und erweise meiner Brotherrin Dagmar Hollerfrey all die Aufmerksamkeiten, die ein vorbildlicher Privatsekretär einer Millionärin als Gentleman spielend beherrschen muß.
Ich heiße zur Zeit (gefälschter Personalausweis, Kostenpunkt 500 Dollar, Fabrikant Mister Saul Mecheler, Carson City, finsterste Vorstadt) Gowin Short, bin glatt rasiert wie ein waschechter Yankee und stecke bis zum Hals in einer äußere anrüchigen Geschichte, die mir, wenn ich Pech habe, das Genick brechen kann – bildlich gesprochen.
Der Kellner, der uns musterhaft bedient, ist zweifellos einer der Privatdetektive, von denen diese Stadt der Ehescheidungen wimmelt.
Immerhin habe ich einige Lücken meiner Allgemeinbildung gänzlich ausgefüllt, weiß, daß der Staat Nevada, U. S. A., so ungefähr 300 000 Quadratkilometer Bodenfläche hat (man frage nicht, was für Boden!) und daß die 80 000 Einwohner mithin genügend Platz haben, sich beliebig auszudehnen. Auf den Quadratkilometer kommen mithin vier Menschen, etwas sehr wenig, anderseits kein Wunder bei diesem Lande der ungeheuren Felseinöden und Steinwüsten, in denen außer Wacholder- und Kieferngestrüpp der Wermutstrauch vorherrschend ist. Nevada wäre eben das ideale Land der Wermutfabrikation, wenn leider nicht ganz U. S. A. im Interesse der Alkoholschmuggler so ungeheuer alkoholfeindlich sein würde.
Jedenfalls: Wir hatten unser Ziel trotz aller gegnerischen Gewaltsmaßnahmen glücklich erreicht, Frau Dagmar würde in Reno die vorgeschriebenen sechs Monate ausharren, würde das Bürgerrecht in Nevada und damit zugleich das Recht auf schleunigste, kurzhändige Scheidung von ihrem Mustergatten erwerben.
Gestern früh waren wir hier angelangt. Das Hotel, eine auf neu lackierte Neppbude, hatte uns gastfreundlich (voller Preis 10 Dollar) aufgenommen, hatte auch gegen Krake, den Fuchs, nichts einzuwenden gehabt, nachdem ich für dessen unbedingte Stubenreinheit garantiert hatte, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dieser Stätte der Zivilisation den Rücken gekehrt, denn im Grunde war meine Aufgabe nun erledigt. Jangse Schang würde schon dafür sorgen, daß Frau Dagmar nicht etwa nochmals unter die Räuber fiele, deren Hauptmacher Mr. Bennett Hollerfrey war, – auch dies verständlich, denn eine Multimillionärin als Gattin zu verlieren, konnte einen so vornehmen Tagedieb wie Bennett nur sehr schmerzlich berühren. Er hatte ja bisher auch alles irgend Erdenkliche getan, diesem Schmerz zu entgehen.
Unser Tischchen im Speisesaal stand weit ab von der Quelle angeblich musikalischer Geräusche.
Die Jazzkapelle, nur Neger, hatten unsererseits auf Beifall nicht zu rechnen.
Der kleine, dicke Kellner mit dem verkniffenen heimtückischen Gesicht nahte mit dem letzten Gang, und Dagmar brach wohlweislich mitten im Satze ab …
Was sie soeben gesprochen hatte, war auch kaum für fremde Ohren bestimmt, und hatte selbst den meinen fast wehgetan.
Von einer so wundervollen Frau sich mit herzlichen Bitten bestürmen zu lassen, die man unmöglich erfüllen kann, ist eine Qual. Und Dagmar verstand zu bitten. Ihre ernsten Augen, jetzt hier in Reno förmlich aufgeblüht wie kostbare Knospen, die der Sonnenschein der Hoffnung in wenigen Stunden entfaltet zu schillernden Prachtgebilden, hingen in angstvoller Spannung auf meinem Gesicht, als der widerwärtige Schnüffler von Kellner sich entfernt hatte, und heischten eine bündige Antwort. Für Halbheiten war diese Frau nicht zu haben. Sie hatte ein einziges Mal in ihrem sorgenfreien Leben eine Torheit begangen, als sie auf den Wunsch ihres sterbenden Vaters den Sohn dessen langjährigen Teilhabers zu heiraten versprach. Seit sechs Jahren trug sie nun die unwürdigen Fesseln einer Scheinehe, seit fünf Jahren hatte sie die Scheidung betrieben, aber dem skrupellosen Bennett Hollerfrey war es ein Leichtes gewesen, jeden Beweistermin vertagen zu lassen, er arbeitete mit allen Mitteln, und hinter ihm standen als Helfer zahllose Kreaturen, die bereit waren, jeden Meineid zu leisten.
So wurde denn die berühmte Scheidungsstadt Reno für Dagmar die letzte Aussicht, einen eleganten Lump und Verbrecher endgültig abzuschütteln und ihren Mädchennamen Dagmar Egerlöv wieder annehmen zu dürfen.
„Antwort, Abelsen!“, flüsterte sie ganz leise. „Beharren Sie bei Ihrem Entschluß, Reno in wenigen Tagen zu verlassen?!“
Und ich?!
Ich hier inmitten geputzter Menschen, übereleganter Frauen, von denen gut drei Viertel nur zu demselben Zweck die Öde dieser aufgeplusterten „Großstadt“ ertrugen, – ich hier in einer Umgebung, die mich bedrückte, traurig stimmte, die mir das Mark aus den Knochen sog und das Hirn zerpulverte, – ich wie ein Narr herausgeputzt in Smoking und Lackschuhen, Seidensocken, blütenweißer Hemdbrust, – ich hineingestellt in eine mir verhaßte, weil verlogene und unfreie Welt des Scheins, – ich, vor wenigen Wochen noch ein echter Weltentramp, den das Abenteuer berauschte, und dem der Ozean andere Melodien sang wie drüben die Niggerkapelle, – – meine Antwort war längst fertig … längst …
Und scheute doch den kurzen Weg über die spröde gewordenen Lippen.
Einer Frau wegen …
Ich konnte die endlosen Tage, diesen endlosen Rausch von holder Weibesnähe im engen Boot nicht vergessen.
Das war es.
Mein Herz sprach mit.
Monatelang hatte es geschwiegen. Dagmar weckte wieder die ewige Sehnsucht der Geschlechter, weckte, was nur niedergehalten war durch erkünstelte Gründe, denn: Mann sein, ein ganzer Kerl sein, und Frauen meiden, das paßte nie zusammen! Das ist Lüge im Blut, das ist Unwahrhaftigkeit vor sich selbst!
„Antwort …!“
… Mein Blick weicht zur Seite, überfliegt den Saal, und wird urplötzlich hart und scharf.
Jangse Schang, mein kleiner Freund, steht dort in der weit offenen Tür zum Vestibül in seiner schmucken Dienertracht und blinzelt mich an, hebt die Hand, scheint zu husten, hält sie vor die schmalen Lippen und läßt sie sinken – im Bogen nach rechts, unauffällig, trotzdem vielsagend.
Und verschwindet mit seinen katzengleichen, schleichenden Bewegungen hinter einem der Palmenkübel.
Ein geringfügiges Zwischenspiel.
So mag es anderen erscheinen. Nicht mir. Jangses Handbewegung hat mir die Richtung gewiesen, und der Blick aus halb geschlossenen Augen gleitet zur Seite …
Ein Tisch mit drei Herren …
Von dem einen sehe ich nur das Profil. Die anderen kenne ich nicht.
Das Profil ist Offenbarung. Diese Bulldoggenschnauze vergißt man nie. Dieses vorgebaute Doppelkinn, diese breite, gemeine Nase, diese Speckfalten im Genick und diese unappetitliche, schweißglänzende Glatze, umgeben von schwarzem Haarkranz, sah ich zum letzten Male unweit der Stelle, wo die schwimmende Wiese uns drei Schiffbrüchigen nicht nur den halbtoten Yucatanfuchs, später Krake getauft, beschert hat.
In meinem Innern vollzieht sich ebenso jäh eine völlige Wandlung.
Speisesaal, billiger Tand von greller Beleuchtung und grellen Wandmalereien, Jazz, Parfüm, Schweißdunst, Speisegeruch, Smoking, Lackschuhe, – – alles entschwindet wie Spuk.
Bleibt nur Kulisse … Kümmert mich nichts mehr.
Mein wahres Ich erwacht, und dieses Ich hat die Welt von einem Ende zum anderen durcheilt auf schmalen, dornigen, trotzdem schillernden, freudigen Pfaden abseits vom Alltag. Hat sich seine eigenen Ansichten zurechtgeknetet über die Probleme der Menschheit, hat den Phrasenschwall der entnervten Scharlatane, auch Berühmtheiten genannt, verlachen gelernt und eins dazugelernt als Allergrößtes: Die Freude an der Natur! Und Natur ist Freiheit, Natur ist nicht das künstlich Gezüchtete, Natur ist Ungebundenheit.
Haben es nicht sogar die erkannt, die mit ihren feisten Bäuchen und superklugen Gesichtern hinter den Schreibtischen hocken und Naturschutzgebiete sicherstellen, nur damit über all dem trostlosen Theater mißverstandener Kulturbestrebungen nicht die letzte, seltene Pflanze und das letzte seltene Tier ohne Nachkommen dahinsiecht!
… Alles bleibt nur Kulisse …
Mir so unwichtig wie das Geraune der Stimmen, das in den Pausen der musikalischen Quacksalberei an- oder abschwellend wie Meeresbrausen durch den Saal zieht.
Die Bühne hat nur zwei Schauspieler jetzt: Den kurznackigen, blaurot angelaufenen Mr. Gordon Lowell und mich!
„… Antwort Abelsen“, meint die aschblonde Dagmar abermals …
„Ich bleibe, liebe Freundin …“
Meine Stimme mag seltsam hart trotz des behutsamen Flüsterns geklungen haben.
Ein erstaunter Blick trifft mich.
Dieser Frau braucht man die Wahrheit nicht zu verhehlen.
„Die … Schufte haben unsere Spur doch gefunden … Drüben sitzt ihres Gatten schlimmste Kreatur. Ein Jammer, daß ich damals auf den Schuß verzichten mußte … Gordon Lowell ist mit einer Kugel im Schädel zweifellos erträglicher als mit schwitzender Glatze und schmatzenden Lippen … Er leistet sich Hummer, Frau Dagmar, und die Gelder von Seiten Ihres liebenswerten Gatten scheinen wieder recht reichlich geflossen zu sein.“
Ich lächelte dazu. – Eine Gefahr, die man kennt, verliert die Hälfte ihrer versteckten Drohung, schrumpft zusammen.
Ich nehme mein Glas, gefüllt mit einer perlenden Limonade, und erinnere mich an Zeiten meiner kavaliermäßigen Verbeugungen und trinke Dagmar heiter zu.
Nur einen Augenblick hat sie die Fassung verloren.
„Wir mußten wohl damit rechnen, Mr. Short“, sagt sie, unmerklich die Achseln zuckend. „Ich weiß, welches Opfer Sie mir bringen …“
Sie trinkt, unsere Augen begegnen sich flüchtig, und was Worte bisher nie bezeugten, das lag in unseren Blicken.
„Seien Sie vorsichtig …!“, mahne ich ohne besonderen Nachdruck.
Diese prächtige Frau kennt ihren Herren Gemahl.
„Keine Sorge …“, – und sie lächelt verträumt über die böse Tatsache der Anwesenheit Mr. Gordon Lowells in dieser Stadt der Hoffenden, der Ränke, der tausend spähenden Augen und der bezahlten Verbrecher, die dieser oder jener Partei dienen – – bis zum Äußersten, bis zum Messerstich oder Pistolenschuß.
Elf Uhr … Der Fahrstuhl bringt uns in den zweiten Stock hinauf, der Liftboy, sicherlich auch an Schmiergelder gewöhnt, reckt die Ohren …
„Gute Nacht …“, – und Dagmars Zimmertür klappt ins Schloß.
Zehn Schritte weiter auf der anderen Seite des Flurs öffne ich Nr. 31.
Die Zahl hat mir gleich nicht gefallen. Umgekehrt ergibt sie 13, und so sehr ich auch frei von Aberglauben bin, so lange ich mich abseits der Zivilisation befinde: Hier auf diesem etwas unheimlichen Boden der Scheidungsstadt Reno wäre mir 32 lieber gewesen
Nr. 31 umfaßt Wohnsalon, Schlafzimmer, Bad, – sogenanntes Luxusappartement.
Da Mr. Lowell jetzt Reno beglückt hat, bin ich vorsichtig.
Rasch die Tür auf, blitzschnell hinein, blitzschnell zur Seite …
Und erst als Krake langsam über den Teppich trippelt und den Kopf an meinen Bügelfalten reibt, mache ich Licht und versperre die Tür.
Hm …
Freund Krake benimmt sich eigen.
Läuft zum vornehmen Schreibtisch und beißt zu und schlackert sich einen Tuchfetzen um die spitzen Ohren und knurrt heiser.
Freund Krake ist weder Fuchs noch Coyote noch sonst ein ausgesprochen reinblütiges Geschöpf.
Wildnispromenadenmischung …
Ein Fuchs knurrt nicht, ein Fuchs hat auch keine hellen Streifen auf dem Rücken. Ob Krakes Ahnen irgendwie sogar Hundeblut auf ihn vererbt haben? – Was er da grimmig zwischen den scharfen Zähnen schlackert, ist ein Fetzen Stoff aus einer hellgrauen Sporthose.
„Gib mal her, Krake …!“
Unser gegenseitiges Verhältnis ist längst vollkommen klar gestellt: Herr und treuer vierbeiniger Freund und Wächter! – Es hat einige Zeit gedauert, bis Krake sich zu meiner Ansicht über Gehorsam bekehrte, und es ist dabei nicht ganz ohne ernsthaftere Vermahnungen abgegangen.
Krake knurrt, öffnet das Maul, und ich betrachte mir den Stoffetzen genauer. Arme Hose, armes Bein, das in der Hose steckte, – wenn Krake zuschnappt, tut er es für seine Größe mit ähnlichem Erfolg wie sein Namensvetter, dem ich mit Karbid zu Leibe ging.
Den Rest kann ich mir unschwer zusammenreimen. Dort an der Erde stehen meine beiden neuen Koffer. Unter dem Koffergestell hat Krake sein Lager. Und wehe dem, der sich an die Koffer heranwagt.
Also … ein kleiner Einbruchsversuch in meiner Abwesenheit, Zweck der Übung: Durchsuchung meines Gepäcks!
Ich streichele Krake.
Meine Koffer können mir gefährlich werden. Waffenbesitz ohne Waffenschein: Zuchthaus!!
Hm …
Ob es nicht ratsam wäre, die gewissen Dinge anderswo zu verstecken?!
Ich lasse die Stabjalousien herab, nachdem ich aus dem Fenster geschaut habe, ziehe auch noch die Vorhänge zu …
Und drehe das Licht aus.
Man sagt, daß alle Türen in Reno und auch alle Wände wie Schleiertüll wären.
Sicher ist sicher … –
Und nach einer Weile sitze ich dann bei offenen Fenstern am Schreibtisch und habe links neben mir den zerbeulten, lieben alten Zinkkasten mit dem Deckel mit Gummileisten und dem vorzüglichen Schloß, das nur durch einen Kniff zu öffnen ist.
Durch die Fenster dringt die reine Nachtluft herein und die unreinen Geräusche aus dem Speisesaal.
Mag Nevada eine trostlose Wüstenei sein: Dieses Hochland hat den Vorzug einer köstlichen Champagnerluft, und den noch größeren, daß eine Meile außerhalb der Stadtgrenzen die echte, unverfälschte Wildnis zu finden ist.
Krake, zur Zeit im Sommerpelz und wenig ansehnlich, liegt zu meinen Füßen. Wie stets … eng zusammengerollt, ein großer Haarball, aus dem nur zwei spitze Ohren und die schwarzen Flecken der Fußballen hervorragen. Die lange buschige Rute reicht ihm bis über die gelblichen Lichter und die feine Nase mit dem üppigen Schnurrbart. –
Tagebuch schreiben …, – gestern begann ich hier die Geschichte, die erst noch einen Gesamttitel finden soll.
Gestern schrieb ich:
Das fahle Leuchten aus der eingedrückten Seitenbordluke des durch die mondhellen Wogen dahintaumelnden Wrackstumpfes behagte mir nicht …
Heute beginne ich mit:
3. Kapitel.
Im Lande der Wermutsträucher.
… Zuweilen komme ich wahrhaftig in Versuchung, mich kräftig in den Arm zu kneifen …
… Und habe, angeregt durch die Champagnerluft, nunmehr unsere Ankunft in Reno und die heutigen spätabendlichen Ereignisse getreulich verzeichnet.
Will nun auch das alles nachholen, was noch weit, weit im Süden im Golf von Mexiko sich abspielte, wahrlich Geschichten, die das Blut schneller kreisen lassen und die so endeten, wie es das Sprichwort sagt: Mit einem blauen Auge davonkommen!
Ich hatte mich vorgebeugt, ich sah die Frau, und ihre eigenartige Schönheit überraschte mich.
„Mr. Abelsen, wir haben einen Bootshaken. Könnten Sie das arme Tier nicht bergen?“
Besser hätte sich Dagmar bei mir kaum einführen können als durch diesen Hinweis auf dies arme, halb verschmachtete, halb tote Geschöpf …
Und geschickter als sie und der rattenhaft flinke Jangse hätten kaum zwei ausgepichte Jan Maate mir helfen können, die immer näher heranrückende, treibende grüne Wiese so zu lenken, daß ich schließlich mit Hilfe eines weiten Sprunges auf dem Baumstamm landete, auf dem mein jetziger Freund Krake wie eine Flunder nach Luft schnappte.
Daß der infame Baumstamm so naß und schlüpfrig war, daß ich sofort mit den Beinen abrutschte und durch den grünen Teppich hindurchfuhr und trotzdem mit den Füßen irgendwo festen Halt fand, – – Zufall das?!
Niemals, sage ich.
Bestimmung war es.
Denn unter dem wogenden Teppich und unter dem Baumstamm lag jenes Boot verborgen, das wir sonst vielleicht nie entdeckt hätten.
„Ein Boot, Frau Dagmar!“
Den Namen Hollerfrey hatte sie sich von vornherein strengstens verbeten.
Mit dem Bootshaken riß ich die Pflanzenwiese auseinander, legte so einen Teil des Bootes frei, – es war ein großer Kutter irgend eines modernen Dampfers, ein Rettungsboot mit Luftkästen und allen nur erdenklichen, praktischen Einrichtungen.
„Hallo, eine Leine her, Jangse!!“
Der Bengel Jangse warf die Leine, ich vertäute das Boot, und dann erst balanzierte ich weiter zu dem armen Füchslein, dem wir somit auch den Kutter zu danken hatten.
Als ich das Tier in die Arme nahm, schnappte es nach mir.
Als ich es nachher mit Büchsenfleisch fütterte und ihm Trinkwasser einflößte, knurrte es mich an.
Krake war anfänglich ein böser Wildling. Er mußte in einer der Kisten untergebracht werden, die Jangse angeblich gegen den echten Kraken als Schutz benutzt hatte. Aber all das blieb ja so völlig ohne Bedeutung gegenüber der weiteren Entwicklung der Dinge. Wir kamen überhaupt nicht recht zu Atem, wir drei hatten so übermäßig alle Hände voll zu tun, daß ich über Dagmar zunächst nichts als den Namen erfuhr, und einige Bemerkungen, die der Phantasie größten Spielraum ließen.
Unsere Hauptsorge galt dem Boot.
Das Boot war unsere Hoffnung, das Boot schleunigst seetüchtig und fahrtbereit zu machen, war Pflicht im eigenen Interesse.
Dagmar, deren einst weiß gewesener Flauschmantel – Bordkostüm für Reiche – die Schäden des lilaseidenen Schlafanzuges mildtätig bedeckte (weitere Garderobe besaß sie nicht, ihr Necessaireköfferchen mochte noch spinnwebdünne Leibwäsche enthalten), hatte mit Füchsleins Pflege genug zu tun, während der redselige Racker Jangse und ich das bis zum Rande gefüllte Boot, das nur auf den Luftkästen schwamm, eilends leer schöpften und dabei neue Löcher in die Meereswiese rissen, die sich nun vollends um die Nase des Wracks als grüner Umhang verankert hatte. –
Inzwischen war die Sonne aufgegangen.
Jangse und ich, naß wie frisch gebadete Pudel – bei Jangses Leinenlumpen machte dies freilich nicht viel aus – hatten auch den Baumstamm geborgen, man konnte nicht wissen, wozu er gut war, – wir hatten ihn soeben mit zwei Tauen an die Wrackspitze sicher festgezurrt, als über uns aus der Luke Dagmars Stimme ertönte …
Der frische Wind war indiskret genug, den Flauschmantel lüstern zur Seite zu schlagen und die Löcher in den weiten Schlafanzugbeinkleidern schamlos zu enthüllen.
Die Frau mit dem herben Munde kümmerte dies nichts. Sie hielt mein Fernglas in den Händen, sie wiederholte ihren erregten Ruf, der im Grunde doch nur Angenehmes für uns drei Schiffbrüchige enthielt.
„Ein Dampfer, – – eine Jacht!!“
Jangse horchte.
„Ho, wirklich Jacht?!“, und sein Gesicht verzog sich zur Grimmasse angstvoller Spannung. „Wieviel Schornsteine? Gelber Ring um weißen Schlot, he?!“
Dagmar spähte gen Osten.
Ihre Stimme war dumpf und verzweifelt, als sie meldete:
„Es ist die „Manhattan“, Jangse … Bei Gott, sie ist es … Soeben schiebt sich ihr Rumpf über den Horizont …“
Ich klettere eilends in die Luke.
„Bitte, das Glas …!“
Und klettere weiter zur Spitze, kauere neben dem Rest des Bugspriets.
So viel wußte ich doch bereits über die Abenteuer dieses ungleichen Paares, daß der Dampfer, der mit der Brigg im Gewitterregen kollidierte, eine große, elegante Privatjacht gewesen: Eigentümerin dieselbe Frau, die nun hier kläglich wie der dreckigste farbige Heizer tagelang im engen, eisernen Käfig einer Bugkabine auf verrotteten Segeln sich von dem Sturz in den kochenden Ozean erholt hatte, als beutegierigen Nachbar in der anderen Kammer das Untier der Tiefe, das die Schrecken und Qualen der Hitze, des zerschundenen Leibes und der in ohnmächtigem Groll kreisenden Gedanken noch erhöht hatte.
Die „Manhattan“ gehörte Dagmar Hollerfrey, war nach Galveston[3] unterwegs gewesen, von wo Dagmar und Jangse die Bahn bis Reno hatten benutzen wollen. Aus Europa, aus Kopenhagen war die Jacht gekommen, Dagmar, geborene Egerlöv, hatte dort Verwandte ihres Vaters besucht, hatte dort Ruhe finden wollen vor den Nachstellungen ihres schändlichen Gatten, hatte ihre Scheidungsklage in New York in redlichen Händen geglaubt, hatte der Besatzung ihrer Jacht ebenso blindlings vertraut, obwohl der kriecherische Übereifer des Kapitäns Gordon Lowell ihr längst mißfallen hatte.
Und dann war der Gewittersturm im Golf von Mexiko mitten in der Nacht mit Finsternis, ungeheuren Regengüssen und Kanonaden von Blitzen losgebrochen. Jangse, scheinbar ein nichtsahnender, blinder, ebenso vertrauensvoller, unbedeutender chinesischer Boy seiner Herrin, dessen Vater der Familie Egerlöv Jahrzehnte treu gedient, sah irgend eine Schurkerei voraus, hatte überall die Ohren gespitzt, war an Deck geblieben, merkte, daß der Schurke Lowell dicht hinter der mit gerefften Segeln und schleppendem Besanmast vor dem Orkan treibenden Brigg sich hielt, daß die Lichter der Jacht abgeblendet waren, daß zweifellos irgendwie seine angebetete Herrin durch einen schlau herbeigeführten Unfall beseitigt werden sollte.
Oh – Jangse war schlau, Jangse war ein Komödiant im Interesse seiner Herrin, von der er immer nur Gutes erfahren. Dieser Chinesenjunge, besser erzogen und gebildeter als die meisten seiner Art und Stellung, war zu oft über das Meer gekreuzt, um nicht vorauszusehen, was der überhöfliche, bestochene, trunksüchtige Kapitän beabsichtigte.
Ein Zusammenstoß mit der Brigg, der der Jacht nicht viel antun konnte, – eine vorgetäuschte Panik auf der „Manhattan“, die angeblich wegsackte, – – wie leicht war es, bei solchem Anlaß die unbequeme, energische Frau verschwinden zu lassen!
Nachher: Schiffsunfall, für den nur der Gewitterorkan verantwortlich war, falsche eidliche Aussagen vor dem Seegericht, Todeserklärung der Millionärin, und Bennett Hollerfrey erbte, belohnte seine Kreaturen, verspottete weiter Gesetz und Recht …
… All dies flüsterte mir der vor Aufregung zitternde Jangse zu, als er nun neben mir auf der Spitze der Wracknase hockte …
„Mr. Abelsen“, keuchte er weiter, „wissen Sie, weshalb die „Manhattan“ dort im Westen in langen Schlägen kreuzt? Glauben Sie mir, daß der Schuft Lowell nachträglich durch die Funkeinrichtung der Jacht erfahren hat, daß die Brigg „Berncastle“ hauptsächlich schwimmfähige Ladung hatte, daß er nun fürchtet, Frau Hollerfrey und ich könnten uns auf das treibende Wrack gerettet haben …! Es ist so. Lowell ist schlau. Lowell ist Satan, Teufel, – auch der Satan hat Hirn, und Lowells dicker Schädel hat zu viel Hirn! Mister Abelsen, sie werden uns mit den Ferngläsern erspähen, sie werden die Nacht abwarten, werden dann diese Nase wegrasieren, wir werden ertrinken, – so wird es sein!“
Es stimmte schon. Die Jacht kreuzte, suchte, rückte langsam näher. Noch war die Entfernung zu groß, bisher konnten wir nicht bemerkt sein, aber die Gefahr wuchs, – – was tun?!
Und Jangse Schang plapperte weiter … Seine Gesichtsmuskeln zuckten, seine Lippen verkrampften sich in Haß, seine Augen waren ganz klein, seine tadellosen Zähne leuchteten wie ein Raubtiergebiß, leuchteten wie Füchsleins Gebiß, das nach meiner Hand geschnappt hatte.
„… Mr. Abelsen, – ich schlich in Frau Hollerfreys Kabine, holte sie heraus, sie nahm nur ihr Geld, den Mantel und die leichten Lederschuhe mit. Wir eilten an Deck hinter eins der Rettungsboote, wir wollten abwarten … Die ganze Besatzung war betrunken, taumelte hin und her, brüllte, – – und der Kapitän und der Steuermann hatten leichtes Spiel … Der Regen fiel wie Hagel, man sah kaum die Hand vor Augen, und dann folgte der Rammstoß, traf die halbwracke Brigg gerade mittschiffs, auf der „Manhattan“ erloschen alle Lichter, auch in den Kabinen, Spritzer kamen über Bord, ganze Wellenberge, – und da wagten wir es, hatten jeder zwei Schwimmwesten, hatten vier weitere Schwimmwesten für die Blechkanne Wasser und die Konserven … Mr. Abelsen, die Ahnen meiner erhabenen Familie, die in Kanton viele reiche Leute zählt, waren mit uns … Ich zog Frau Hollerfrey in die Luke, ich hatte wie ein Teufel mit den Armen und Beinen gerudert, und wir … waren vorläufig geborgen …“
Jangses heiseres Stammeln, halb wuterstickt, jedenfalls von Haß und Rachgier triefend wie wir selbst, tönte an mein Ohr wie ferne Geräusche.
Was tun?!
Die Jacht rückte näher …
Jangse hatte schon recht: Man würde uns nicht schonen, man würde dem Wrack den letzten Todesstoß versetzen … auch uns!
Fliehen – mit dem Boot?!
Man würde uns sehen …
Was tun?!
Und all das, was viele Jahre einsamen Wanderns durch berauschende Einsamkeit in mir aufgehäuft, ward blitzschnell gesiebt, geprüft …
Es mußte ein Mittel geben, den spähenden Augen von drüben zu entgehen …
Und es gab ein Mittel …
„Jangse!!“
„Mr. Abelsen …?! Ich höre …“
„Junge, hole den Bootshaken … Hole das verrostete Beil aus der zweiten Kammer … Schlage die Äste von dem Baumstamm ab, die längsten …
– Arbeit?!
Nein – nicht Arbeit …
Unmenschliches Mühen …
Unerhörtes Ausnutzen aller Kräfte …
Denn der nasse, dicke, verfilzte Pflanzenteppich hatte Gewicht …
Zentner?!
Es war ein Kampf mit einer wassergetränkten, dicken Masse, die sich verzweifelt wehrte, den Ozean zu verlassen.
Sie mußte.
Dagmar stöhnte vor Überanstrengung. Sie hatte den Mantel abgeworfen, sie hatte jede Prüderie abgestreift, sie war nur Arbeitstier wie wir.
Solche Minuten schmieden unlösliche Bänder um drei Menschen.
Der rinnende Schweiß der sich berührenden Hände war das Blut stiller Blutsbrüderschaft.
Und dann für mich noch das eine, Wundervolle, Beseligende: Dagmars dünner Anzug, naß bis oben, zeigte den prachtvollen Leib einer geschmeidigen Venus, graublaue ernste Augen spendeten mir schweigend Dank, und als das mühsame Werk der Vollendung nahe, als der Schiffsrumpf, diese Wracknase der Brigg, nur noch einem treibenden Haufen von Baumstamm und Ästen, bedeckt mit grünem Wiesengewebe, unschuldsvoll glich, als ich die letzte, freie Stelle sorgsam bedeckte, da steckte mir Dagmar beide Hände hin …
„Mr. Abelsen, – das vergesse ich Ihnen nie!!“
Unsere Hände fanden sich …
„Für Sie – alles!“, – und da errötete die prächtige Frau, da lösten sich die Hände.
Jangse rief schon:
„Sie kommen!!“
Ja – sie kamen …
Weiß und stolz brauste die Jacht heran. umkreiste die schwimmende, grüne Masse, aus der so harmlos ein Stück Baumstamm, Äste, Zweige, hervorlugten …
Da sah ich Gordon Lowells blaurote Schnauze auf der Kommandobrücke.
Es kribbelte mir in den Fingerspitzen …
Ich hielt die Büchse umklammert, lugte durch den Sehschlitz …
Bange, lange, sehr bange Minuten …
Wenn Lowell die treibende Strauchinsel rammte?!
Aber er wagte es nicht …
Er vermutete wohl in der Tiefe noch mehr Baumstämme …
Und die Jacht wendete, verschwand gen Norden …
Abends machten wir das Boot klar, verließen zu Vieren das Wrack … Trafen tags darauf einen mexikanischen Dampfer, kauften Lebensmittel, Trinkwasser …
Nun sind wir in Reno, der Stadt im Lande der Wermutsträucher …
Ich spüre doch eine gewisse Nervosität. Kapitän Gordon Lowells Auftauchen hier in Reno würde selbst das harmloseste Gemüt mit dem mißglückten Einbruchsversuch bei mir in Zusammenhang bringen. Aber ganz abgesehen von dem Zeugfetzen, den Freund Krake erbeutet hat, – bei näherer Überlegung erscheint Lowells Verhalten unten im Speisesaal ebenso merkwürdig wie bedrohlich. Er hat von Dagmar keinerlei Notiz genommen, obwohl er uns trotz der trennenden Tische gesehen haben muß und seine Brotherrin doch bestimmt hier in Reno finden wollte und auch fand. Sie war Luft für ihn.
All dies deutet auf irgend einen neuen Plan hin, den Dagmars Gatte nebst Anhang sehr sorgfältig ausgeklügelt haben muß, beweist aber auch auf Seiten Lowells trotz des niederträchtigen Piratenstreiches im Golf von Mexiko das Vorhandensein eines starken frechen Sicherheitsgefühls, das im Grunde schwer erklärlich bleibt.
Die Gegner holen jetzt bestimmt, ich ahne es, zu einem letzten, entscheidenden Streiche aus. Gegen wen wird er zuerst fallen? Gegen mich?! Oder gleichzeitig gegen Dagmar, Jangse und mich?! Wie gedenkt man Dagmar beizukommen?! Bei mir und Jangse ist das schon einfacher. Besonders bei mir. Meine Rolle als Privatsekretär Gowin Short ist in demselben Augenblick ausgespielt, wo diese feinen Banditen den Nachweis erbringen können, daß meine Papiere, auf Mr. Gowin Short lautend, einem verkommenen und seit einem Jahr toten Bankbeamten in Galveston gehört haben.
… Ich habe die Feder weggelegt und grübele vor mich hin. Die Lage für uns drei erscheint mir immer kritischer, je genauer ich die Einzelheiten prüfe. Jangse war es, der den Mann hier in Reno aufstöberte, von dem wir die Personalpapiere kauften, und Dagmar gab das Geld dazu her. Bei der Strenge der Einwanderungsgesetze würde schon das genügen, auch Dagmar und Jangse in einen Prozeß zu verwickeln.
Meine Nervosität wird zu sorgenvoller Unruhe. Die Zigarre schmeckt mir nicht mehr, sie liegt im Aschbecher und glimmt im Luftzug der offenen Fenster weiter und schickt den rasch verwehenden Qualm weiter nach oben.
Meine eigene Person tritt bei alledem völlig in den Hintergrund. Aber Dagmar …
Dagmar ist mir nicht mehr irgend eine beliebige Frau von pikantem Reiz, die meine Nerven ins Schwingen brachte. Dagmar ist mir teuerste Kameradin geworden, vertraute Freundin, und was hinter dieser sorgfältig von beiden Seiten gehüteten Maske der Freundschaft sich verbirgt, wissen wir beide ganz genau. Die Lippen verschweigen es, und die Augen verraten es …
Ich entsinne mich einer jener märchenhaft schönen Mondscheinnächte, als wir bereits westlich von Galveston in einer Bucht einer der Laguneninseln ankerten, die dort so zahlreich wie in der Adria unweit der marmornen Traumstadt Venedig. Jangse, diesen geriebenen Schlingel, hatten wir nach Galveston hineingeschickt, damit er Lebensmittel besorgen könne. Und damals hatte ich Dagmar von meinem Südseeerlebnis erzählt, von der Insel Malmotta, von meiner toten Jane, von deren meerumspülten Korallengrab.
Es gibt nun einmal Stunden, Stimmungen, in denen selbst dem Verschlossensten der Mund überfließt.
Jane war tot … Jane lebte damals weiter, und wenn der Wind in Dagmars Nordlandhaarfülle spielte, wenn ihre Augen träumerischen Glanz erhielten, wenn ihre schicksalsherbe Stimme einmal weich und zart die Worte formte, dann war es Jane, die neben mir in der Silberbahn des Mondes saß und Vergangenheit zur Gegenwart werden ließ.
In jenen nächtlichen Stunden hatte zwischen Dagmar und mir jenes feine Schwingen der Seelen im Gleichtakt begonnen, das schüchtern und scheu „Freundschaft“ sich nennt.
Und jetzt?!
Sorgenvolle Unruhe um Dagmars Freiheit, mehr noch, um ihr Leben …
Die Gegner waren nicht wählerisch in ihren Mitteln, die Millionenbeute zu ergaunern. Hätte sich dieser perfide Kampf irgendwo in der Wildnis abgespielt, wo das eherne Gesetz des Stärkeren gebietet und lediglich die sichere Hand am Büchsenkolben den Streit entscheidet, – wie leicht wäre die Abrechnung mit diesen Banditen gewesen!
Hier aber?!
Hier drohte ein neu erbautes, solides Gefängnis, hier drohte die leider so häufig irrende Gerechtigkeit mit ihren durch papierene Gesetze geschützten Schergen, hier war ich eingekreistes Wild, war außerdem der immer noch dräuenden Gefahr ausgesetzt, daß der bewußte Steckbrief, dessen Krallen noch immer allzu scharf geblieben, mir vollends einen Strick drehen würde …
… Und wieder lege ich die Feder hin.
Freund Krake hat jäh den Kopf gehoben, äugt nach der Flurtür, richtet sich vollends auf, stellt die Ohren nach vorn …
Ich bin bereits auf den Beinen …
Höre an der Türfüllung das leise Kratzen …
Jangse!
Ich kenne sein Signal …
Öffne …
Und herein huschen zwei Gestalten, ein alter graubärtiger Chinese im schäbigen Sportanzug, der ihm viel zu groß ist, und Freund Jangse …
„Tür verriegeln, – – Licht aus!!“
Jangse zischte wie eine Schlange …
„Nicht viel fragen, Mr. Abelsen …“, fügt er ebenso eilig hinzu. „Wir müssen fliehen … Hier ist eine Strickleiter … Nehmen Sie nur das Nötigste mit … Aber ihre Waffen … Ihre Fenster gehen nach dem Garten des Hotels hinaus, der ist jetzt leer, dunkel … – Schnell also.“
„Und Frau Dagmar?!“
Die Frage ist kaum über meine Lippen geschlüpft, als ich eine warme, weiche Hand im Dunkeln fühle.
„Jangse hat mich derart herausgeputzt, Freund Olaf …“ Und ein leises Lachen folgt. „Jangse hat auch hier seine Beziehungen … – Doch davon später … Schnell, – – nur schnell … Sechs Polizeibeamte und vier Detektive stehen bereits in der Vorhalle und warten nur auf den Sheriff von Reno …“
Schnell?! – Ich kenne die Gefahr …
Ich packe, stopfe das Nötigste in den Rucksack, Jangse befestigt die Strickleiter, Dagmar nimmt Freund Krake in die kräftigen Arme, und Jangse schwingt das eine Bein über die Fensterbrüstung …
Im Flur Stimmen, schwere Schritte …
„Hinab mit dir, Jangse!!“
Und der flinke Bursche rutscht in die Tiefe, ich helfe Dagmar, nehme ihr Krake ab, – – das Herz jagt, – es handelt sich um Sekunden, ich muß diese Sekunden, die wir so notwendig brauchen, irgendwie erschleichen.
Rufe: „Hallo – was soll es?!“
… Folgt die übliche peinliche Redensart: „Im Namen des Gesetzes – öffnen Sie!!“
„Sofort – – gern! Aber ich komme gerade aus der Badewanne, – – einen Augenblick … Ich bin splitternackt … sofort … nur die Hosen, meine Herren …“
Ob es gelingen wird? Ob sie Verdacht schöpfen?! Die Tür aufbrechen ist kein Kunststück …
Ich warte nicht, bin am Fenster, packe die Strickleiter, Krake als Schoßhündchen ist höchst hinderlich, ich habe nur die eine Hand zur Verfügung, aber Jangse hält unten die Strickleiter straff und etwas schräg, ich fahre in die Tiefe, die Holzsprossen zerschinden mir die Schenkel, dann ein hartes Aufprallen, Dagmar stützt mich, zieht mich in den Schatten der großen, dicht belaubten Pflaumenbäume, – – über uns ein Krach, ein Knall, eine drohende Stimme: „Halt, ich …“
… Ja, ich weiß schon: „Ich schieße!“ – Versuche es nur, – – wir sind bereits am Holzzaun, sind bereits auf dem Nachbargrundstück, eilen über den finsteren Hof, stehen vor einer Pforte, die eigentlich verschlossen sein sollte …
Ist offen …
Vor uns die Seitengasse, – niedere Häuschen, ein Laden am anderen, – Reno ist eben nur Wüstenmetropole, und die Wolkenkratzer werden durch die Gebäudemassen der Getreidemühlen und Schmelzhütten ersetzt. In dieser Gasse blinken die Lichter eines Autos, eines schweren Lastwagens, am Steuer sitzt ein grinsender Chinese, hinten im Wagenkasten sind Kisten aufgestapelt, Jangse winkt mir, ich reiche Dagmar Freund Füchslein zu, der Motor knattert bereits, Jangse reißt mich in eine leere Kiste, die Kante schlägt mir gegen den Kopf, aber wir fahren, rumpeln, rattern, unser Chauffeur nimmt jede Ecke mit Virtuosität, wir kommen überhaupt nicht zur Besinnung, bis das Lastauto irgendwo hält, bis Jangses zischender Pfiff mich hochreißt, – wir springen, sind irgendwo in einer öden Vorstadtstraße, mitten in Chinatown, wo an achthundert schlitzäugige Asiaten hausen, werden in eine Torfahrt gestoßen, das Auto knattert weiter, das Tor fliegt zu, und im Lichtschein einer Stallaterne, die an einem Stock befestigt ist, sehe ich einen uralten Chinesen, der drei gesattelte Gäule hält, der die linke Krallenpfote Dagmar hinstreckt und kurz und bündig eine Summe nennt …
„Achthundert Dollar …“
Umsonst ist nicht mal der Tod. – Dagmar zieht ihre Brieftasche, zahlt, – der alte Mann brabbelt einen blumenreichen Dank, Dagmar hat freiwillig hundert Dollar mehr gespendet, und der Greis verneigt sich noch tiefer …
„Jangse haben Karte mit … Mr. Abelsen, Sie Kompaß haben?!“
„Ja doch …“
„Dann schon finden Weg … Aber reiten genau wie Karte, Mister, und Vorsicht bei dritte Ranch hinter Tal bei Südspitze von Pyramiden-See … Jangse schon wissen, und …“
Merkwürdig …:
Dagmar hat es überaus eilig, dem Alten ins Wort zu fallen. „Mr. Abelsen wird auch die Schwierigkeiten überwinden … Man macht hier in Reno wirklich zu viel Aufhebens von der Mormonen-Farm. Schließlich sind diese Sektierer, die da den östlichen Grenzstaat Utah beherrschen, hier in Nevada kaum so einflußreich, daß sie auf eigene Faust Polizei spielen können …“
In diesen Sätzen der Frau, die ich liebte, schwang trotz der betonten Gleichgültigkeit gegenüber einer mir noch unbekannten Gefahr ein leichter Ton von versteckter Angst mit. Ich fühlte dies. Zwischen Menschen, die sich seelisch näher stehen, soll es ja eine besondere Art von Übertragung feinster, innigster Regungen geben.
Bisher waren in der Unterhaltung zwischen Dagmar und mir oder Jangse und mir weder die Mormonensekte noch eine Ranch, also eine Viehfarm, irgendwie erwähnt worden. Ich sah mich hier zwei völlig neuen Gefahrenquellen gegenüber, und mein mehr als erstaunter, vielleicht sogar etwas unwillig fragender Blick ließ Dagmar denn auch in äußerst auffälliger Weise erröten und den Kopf senken.
Der alte Chinese kam ihr unbewußt zu Hilfe.
„Schnell wegreiten“, brabbelte er mit seinem zahnlosen Munde und deutete auf die gesattelten Gäule, mit denen nicht viel Staat zu machen war. Mit Nevadas Viehzucht ist es nicht weit her. Dieses endlose Land schöpfte einst seine Reichtümer im vollsten Sinne des Wortes aus dem Boden. Aber die Zeiten der Goldfunde sind vorüber, die Bevölkerung ging bis auf 42 000 Menschen (1900) zurück, heute sollen es achtzigtausend sein, davon 5000 Indianer, – ob es mit den achtzigtausend seine Richtigkeit hat, möchte ich bezweifeln. Welcher Farmer bringt wohl den Mut auf, sich in einem Lande, das zur Hälfte aus pfadlosen, trostlosen Wüsteneien besteht, niederzulassen, wo jeder Quadratmeter Boden künstlich bewässert werden muß und wo die spärlichen, fruchtbaren Täler längst in fremden Händen sind oder so endlos weit von jeder Eisenbahn entfernt liegen, daß die Gründung einer Farm einer freiwilligen Verbannung gleichkäme! Die berühmten Comstockgoldminen in den Waschoe-Bergen, die 1877 noch für 150 Millionen Edelmetall hergaben, sind erschöpft, neuere Funde, die vorübergehend einen Einwandererstrom anlockten, erwiesen sich als Blender, salzige große Seen, Salzsümpfe und spärliche Flußläufe, die der Reisende von der Eisenbahn aus beobachtet, täuschen nur Fruchtbarkeit und Wasserreichtum vor. –
Dagmar hatte es sehr eilig sich in den Sattel zu schwingen, ich nahm Freund Krake an den Lasso, wählte den starkknochigen Gaul und ritt voran. Der greise, chinesische Helfer, der bei dieser Flucht das beste Geschäft gemacht hatte, öffnete eine Lattentür, die in dürftige Weizenfelder führte, und auf einem Landwege, der mehr feinkörnigen Steinschutt als Sand enthielt, trabten wir in die dunkle Nacht hinaus …
Monate waren es her, seit ich einen Pferderücken zwischen den Schenkeln hatte, das Knarren eines Sattels vernommen und den Schweißdunst eines Gaules gespürt hatte.
Mit dem starkknochigen Braunen, der auf den ersten Blick nicht gerade viel versprach, hatte ich doch einen guten Griff getan. Gewiß, der magere Klepper mochte lange Zeit im Zuggeschirr Lasten geschleppt haben und war als Reitpferd verliedert. Wir freundeten uns trotzdem schnell miteinander an, und als wir nun erst aus den Feldern heraus und in die kahle Wüste gelangten, als ich einen scharfen Trab und streckenweise sogar einen flotten Galopp vorlegte, wußte ich genau, was ich dem Braunen zumuten konnte.
Nicht so angenehm waren die ersten drei Stunden für Dagmar und den guten Jangse. Sie wurden, obwohl ganz leidliche Reiter, mit ihren Tieren nicht recht einig, und besonders Jangses dickköpfiger Rotfuchs zeigte so allerlei Untugenden, die nur durch eisernen Schenkeldruck und sichere Zügelführung zu beseitigen gewesen wären. Das Vieh scheute vor jedem helleren Sandfleck, vor jedem im Nachtwinde rauschenden Busch und erlaubte sich auch sonst gelegentliche Bocksprünge, die unter anderen Umständen vielleicht so manche erheiternde Szene in diese stille, wilde Hatz gemischt hätten.
Die Nacht war sehr dunkel. Finsteres Gewölk zog träge in breiten Streifen über das Firmament und verschluckte immer wieder die schmale Mondsichel und die wenigen Sterne. Wenn nicht der helle Wüstensand gewesen wäre, hätten wir Schritt reiten müssen, um nicht etwa in eine der zahllosen Felsspalten zu stürzen, die zumeist ganz unvermittelt den Boden durchzogen, immerhin als dunklere Streifen erkennbar, denen man ausweichen konnte. Der Wind war, obwohl wir erst den 3. September hatten, eisig wie im Winter und erinnerte daran, daß wir uns hier in durchschnittlich 1300 Meter Höhe befanden. Ich hatte mir von Jangse die Wegkarte geben lassen, die der alte Chinese und Roßhändler (wer weiß, was er sonst noch an anrüchigen Geschäften trieb!) wohl eigenhändig entworfen hatte. Ein Kunstwerk war es keineswegs, und sich in diesen Strichen, Strichelchen, punktierten Linien und grob hingehauenen Namen zurechtzufinden, erschien zunächst ziemlich aussichtslos. Nachher bat ich ihm diese erste herbe Kritik im Geiste jedoch aufrichtig ab, denn der würdige Mr. Lipu Schang hatte die Marschroute auf dem großen Pergamentpapier doch so genau für jeden Landfremden bezeichnet, daß es stets nur eines ganz kurzen Aufenthaltes und noch kürzeren Einschaltens der elektrischen Taschenlampe bedurfte, um an zweifelhaften Stellen die Richtung nicht zu verlieren.
Wir ritten zumeist nach Nordost. Einmal sahen wir von einer Kuppe aus rechts von uns eine feurige Schlange in weiter Ferne durch die Finsternis kriechen: Es war der Nachtzug nach Reno, der von Salt Lake City, der Mormonenhauptstadt kommend, bis San Franzisko geht. Dann wieder bogen wir größeren Farmen aus, die uns sicher gefährlich werden konnten, da sie Fernsprechverbindung nach Reno hatten, und ich bestimmt damit rechnete, daß die Polizei die Farmer ringsum alarmieren würde. Wo wir also teergeschwärzte Masten von Hochspannungs- oder Telephonleitungen bemerkten, waren wir ganz besonders vorsichtig.
Im übrigen wäre über diese ersten drei Stunden unserer Flucht wenig zu sagen.
Zu einer Aussprache über die Ereignisse im Hotel in Reno und über Jangses rechtzeitige Warnung und seine Beziehungen zu dem greisen Landsmann kam es nicht, da ich meine Gedanken vollständig auf den ungebahnten Weg konzentrieren mußte. Daß ich trotzdem immerfort an Dagmars seltsames Verhalten auf dem Hofe des alten Chinesen denken mußte, daß mir allmählich so gewisse Bedenken aufstiegen, ob Dagmar und Jangse nicht doch noch andere Geheimnisse zu hüten hätten und mir vieles verschwiegen haben mochten, besserte meine Laune keineswegs, die schon darunter erheblich litt, daß die beiden hinter mir immer wieder miteinander zu flüstern hatten und daß Jangse scheinbar seine verehrte Herrin zu irgend etwas zu überreden suchte, wovon die Frau, die doch jetzt mir ihr Geschick vertrauensvoll in die Hand gelegt, vorläufig nichts wissen wollte. Ich schnappte mitunter einige Sätze auf, und doch war es unmöglich zu erraten, was eigentlich den strittigen Grund zwischen Dagmar und Jangse bildete.
Dann, und das war ziemlich genau drei Stunden nach dem Beginn des Rittes, vernahm ich aus Dagmars Munde dicht hinter mir zum ersten Male den erregt hervorgestoßenen Ausdruck „Reiter am Himmel“ mit dem mir ebenso unverständlichen Nachsatz: „Er würde nur sein Leben dabei aufs Spiel setzen, – und das will ich nicht!“
Jangses Antwort entging mir, da ich dicht vor uns eine Gruppe von fünf Steineichen bemerkte, die in einer Art Mulde zwischen dichtem Gestrüpp wuchsen. Es waren nur sehr kümmerliche Bäume, und doch hatte der alte Lipu Schang auf seiner Karte diesen Platz als erste Rast besonders vermerkt.
Zweifellos war es der richtige Platz, die Eichen standen in einer Linie von Osten nach Westen, und die mittelste war auch die größte, genau wie auf des alten Schang buntscheckiger Skizze. Ich konnte stolz darauf sein, die Richtung so genau eingehalten zu haben, und da weiterhin keine Farm mehr vorhanden, sondern nur ein Dorf höchst friedlicher und zivilisierter Piute-Indianer (ohne Telephonverbindung), sollten wir hier den Pferden zwei Stunden Ruhe gönnen.
Ich ließ meinen Braunen in Schritt fallen, wandte mich im Sattel um und bedeutete Dagmar und Jangse, vor der Mulde abzusteigen und meinen Braunen so lange halten, bis ich das flache, buschreiche Tal erst einmal genau durchsucht hätte.
– – Jetzt, wo ich diese Zeilen in unserem Versteck niederschreibe, kann ich getrost einflechten, daß ich damals angesichts der fünf Eichen auch nicht im entferntesten ahnte, was sie mir bescheren sollten.
Die Mulde war ein flaches Tal auf einem sonst kahlen, steinigen Hügelrücken und lag wie ein großer, schwarzer Fleck inmitten der völlig öden Wüste da. Wir hatten in der letzten Stunde nirgends mehr die Anzeichen von Zivilisation bemerkt, die uns bis dahin in Gestalt von Holzmasten mit Isolatoren und Drähten, Auto- und Wagenspuren und gelegentlichen fernem Lichtschein mehr beunruhigt als erfreut hatten.
Die Kultur lag hinter uns.
Nevada zeigte uns hier sein wahres, ungeschminktes Antlitz, und das war das Gesicht trostloser Einöde, Sanddünen, Felsenmassen, tiefer Felstäler und spärlichen Gestrüpps und eilig davonhuschender, feiger Coyoten und noch flinkerer Waldkaninchen, Hasen und einzelner Hirsche.
Die Wildnis, die ich liebe, hatte wieder einmal von mir Besitz ergriffen, und ihr unnennbarer Zauber, der Rausch der Einsamkeit, das Glück der unbegrenzten Weite dehnten mir die Brust wie einem Genesenden, der endlich wieder nach langem Aufenthalt in muffigen Krankensälen im frischen Grün eines frühlingsfrohen Parkes dahinwandelt.
Ich fühlte diese innerliche Freiheit, und ich fand mich zurück zu mir selbst nach diesen beschämenden Tagen, wo ich, angeblich Dagmar Hollerfreys Sekretär, von Galveston bis Reno im eleganten Pullmanwagen der Eisenbahn und später im Hotel mich selbst verleugnet hatte und ein elender Komödiant geworden war.
Der Komödiant lag im Hotelzimmer in Reno: Der feine Smokinganzug!!
Der bessere Abelsen schlich nun, die Büchse im Arm und Füchslein Krake am Lasso dicht neben sich, im wetterfesten Reitanzug lautlos durch das Gestrüpp und ließ Augen und Ohren spielen und erinnerte sich an Zeiten, wo neben ihm dieser oder jener Freund und Weggenosse ebenso lautlos dahingeglitten war und wo ungewisse Gefahren hinter Busch und Baum gelauert und einen ganzen Kerl verlangt hatten, ihnen rechtzeitig wirksam zu begegnen.
Es war wie ein Rausch …
Es war die Wildnis, die mich abermals verheißungsvoll grüßte, mit der Fülle ihrer nächtlichen Stimmen, aus denen das geübte Ohr das Harmlose, Natürliche oder das Bedrohliche, Wesensfremde hervorsieben sollte.
Kundschaftergang … Nachts … Im fremden Lande, auf fremdem Boden. – Das war doppelter Anreiz, das war doppelte Freude, freiwilliges Anspannen der Sinne, freiwillige, freudige Wachsamkeit.
Und noch eine Freude war es: Füchslein Krake bewährte sich! War nicht schlechter als Hondu, der Puma, den ich einst besessen, war nicht schlechter als jener zahme Wolf, der mir von Kanadas endlosen Wäldern bis hinab zur großen Halbinsel Niederkalifornien treu gedient hatte.
Füchslein aus Yucatan, dir war es auch nicht in der Wiege gesungen worden, daß du einst am Rande des steinernen Rückgrades berühmter Goldländer, wie Kalifornien und Nevada, – am Rande der Ausläufer des berühmten Felsengebirges dahintrippeln und dein rostbraunes Schnäuzchen durch blühende Wermutsträucher zwängen müßtest! Sei zufrieden, kleiner Freund Krake, – du warst dem Tode bereits recht nahe, und du hast einen Herrn gefunden, der bereits vieler Tiere verständnisvoller Beherrscher und Kamerad gewesen.
Füchslein Krake, du gefällst mir immer besser. Erst hier in der Wüste weckst du in mir treues Gedenken an einen deiner Artgenossen im fernen Afrika, an einen langohrigen, fahlgelben Fennek[4] mit großen Puppenaugen … genau wie Fennek hebst du die rechte Vorderpfote, bleibst stehen, legst die Ohren nach rückwärts und pendelst sanft mit der buschigen Rute. Sollte dieses Tal doch nicht so ganz einwandfrei sein?!
… Vor mir ein heller Sandstreifen, dahinter eine schwarze Wand von Krüppelkiefern und Wermutsträuchern … Was ficht dich an, kleiner Krake?! In diesen Einöden treiben sich nicht einmal üble Strolche umher, die alle Ursache hätten, bewohnte Gegenden zu meiden. Hier, Freund Füchslein, würden Hunger und Durst und Tageshitze mit solchen Wildlingen schnell und gründlich aufräumen. Also – was gibt es, kleiner Krake?!
… Es wird schon etwas geben da vor uns in dem Dickicht … Krakes Rute pendelt nicht mehr, die Ohren richten sich nach vorn, die Nase hebt sich …
Krake windet …
Und duckt sich zusammen …
Also doch!! Dort vor uns steckt irgend etwas, das nicht so recht hierher gehört.
Was?!
Ein Tier? – In Reno erzählte der fette, spionierende Kellner so beiläufig, daß sich aus den Schluchten und Wälder der Sierra Nevada noch immer zuweilen braune und graue Bären in die Wüste hinabwagen und Rinder und Schafe zerrissen und Menschen anfielen … – Mein skeptisches Lächeln reizte ihn … Er brachte eine Zeitung, es war kurz vor dem Frühstück, und Dagmar war noch nicht im Speisesaal erschienen. Er legte die Zeitung vor mich hin, deutete auf einen langen Artikel, triumphierte: Da stand tatsächlich eine gruselige Geschichte von einem riesigen Grisly, der eine Kuh weggeschnappt hätte.
Und …
Seltsam: Jetzt erst fällt mir ein …:
In dieser Zeitung, die ich aus Langerweile flüchtig durchblätterte, las ich ja auch denselben Ausdruck, den auch Dagmar vorhin Jangse gegenüber gebrauchte: Der Reiter am Himmel!
Ist mein Hirn durch Smoking und Lackschuhe so träge geworden, daß ich jene kurze Notiz so völlig vergessen konnte? Sie hatte freilich für mich sehr stark den fragwürdigen Beigeschmack einer aus schreibfreudigen Redakteurfingern überphantasievoll gesogenen Sensation der sogenannten „Sauren Gurken-Zeit“ gehabt, schon der Titel war für die Bewohner eines so gänzlich poesielosen Landes wie Nevada geradezu verdächtig: Zeitungsente! Denn den wetterharten Gestalten der Farmer einen „Reiter am Himmel“ aufzutischen, mochte vielleicht drüben im Mormonenlande Utah angehen, wo es trotz Abschaffung der Vielweiberei unter den „Heiligen der letzten Tage“ immer noch etwas toll hergehen soll.
Und der Inhalt jenes Artikels?! Ich habe ihn doch noch gegenwärtig. Aber die finstere Buschwand da vor mir verlangt restlose Sammlung der Gedanken für nur gegenwärtige Dinge, und diese Dinge sind, mögen sie sich nachher als noch so geringfügig erweisen, für uns drei Flüchtlinge in jedem Falle ernst genug, um ihnen nur mit allergrößter Behutsamkeit zu nahen.
Ich will versuchen, in den Buschstreifen von der anderen Seite einzudringen, vielleicht ist dort das Gelände günstiger, denn hier, wo ich den hellen Sandstreifen passieren müßte, würde schon ein gut gezielter Steinwurf genügen, mich ohne viel Lärm kampfunfähig zu machen.
… Falls ein Mensch in dem Gestrüpp steckt! Oder gar einige Leute, die trotz all unserer Vorsicht uns hier abfangen möchten …!
Es bleibt eine eigentümliche, ungeklärte Situation, und Freund Krakes Benehmen ist auch nicht dazu angetan, meine Bedenken zu zerstreuen. Im Gegenteil, als ich mich nun ganz still rückwärts schiebe und an dem dünnen Lederlasso zerre, den die Piute-Indianer, neben den Schoschonen die gewerbefleißigsten und handelstüchtigsten Nevadas, noch genau so kunstvoll zu flechten verstehen wie in jenen Zeiten, als die Rothäute auch hier als erbarmungslose Freiheitskämpfer den vordringenden Einwanderern und Goldsuchern die Ochsenkarren nebst allem Hab und Gut und dazu die Skalpe abnahmen, – als ich an dem dünnen Lasso Freund Krake tiefer in das dichte Gestrüpp zurückziehen will, stemmt er die vier Beine steif und schräg in den Sand und läßt sich halb abwürgen, bevor ich ihn glücklich in Griffnähe habe und ihn kurzer Hand beim Genick packe, um nicht durch seine Bockbeinigkeit noch mehr kostbare Zeit zu verlieren. Er sträubt sich jetzt nicht weiter, aber hier in der Finsternis der Blättervorhänge glühen seine Augen eigentümlich grünrot wie jene seltsamen Achate, die von den Piute auch auf dem Bahnhof von Reno feilgeboten und die gern gekauft werden und von denen niemand recht weiß, wo die Indianer sie in den zahllosen Schluchten der Wüste finden mögen. Erst außerhalb des dichten Unterholzes setze ich Füchslein Krake wieder ab und schlängele mich im Bogen der verfänglichen Stelle zu …
Was diese Tage inmitten von Menschen, deren Sinnen und Trachten einzig und allein auf die Befriedigung einer durch die Gewohnheit fast geheiligten Selbstsucht gerichtet war – Verdienen, Dollar-Machen, gut leben –, mir an fremdem Gift eingeimpft haben, wird in der kalten, schneidenden, reinen Luft der Wildnis und in diesen Augenblicken der Erwartung einer unbekannten Gefahr wieder restlos ausgeschieden.
Wanderjahre über den Erdball durch die Schönheiten mannigfacher Einsamkeiten waren mir strenge Lehrjahre. Freunde, die mit mir in eins verschmolzen und mir ihr Bestes schenkten, wurden mir wahre Förderer jener nie oder selten gedruckten Kenntnisse, die man auf den Wegen abseits vom Alltag notwendiger braucht als die zwecklosen, ausgetüftelten Menschheitsprobleme, die die Menschen immer noch aus sich selbst heraus gelöst haben.
Der Wind kam fast direkt von Westen, von den weißen Schneemützen der Hochgebirge an den Grenzen Kaliforniens. Also hielt ich mich nach Osten, wo der ins Freie streichende Luftstrom weder meine Witterung einem Raubtier noch das Knirschen des Sandes unter meinen Stiefeln einem menschlichen Feinde zutragen konnte.
Freund Krake war freilich weit versessener darauf, die Geschichte etwas kurzhändig zu klären, und drängte immer wieder scharf nach links ab, wo die letzte der fünf Eichen über die düsteren Wellen der nächtlichen Büsche hinwegragte.
Wer Tiere studiert hat, wird auch aus dem Verhalten eines Yucatan-Bastards, wie Krake es war, seine bestimmten Schlüsse ziehen.
Ausgeschlossen, daß ein Raubtier in der finsteren Kulisse steckte, sagte ich mir sehr bald. Ausgeschlossen auch, daß von dorther die Ausdünstung lauernder Männer uns anwehte. Krake war ja eine äußerst mißtrauische Seele, war herb und unzugänglich, nicht einmal Jangse wagte es, ihn zu streicheln. Dagmar allerdings, – – da kam der Urwaldkavalier bei Krake zum Vorschein, und zuweilen wirkte es geradezu komisch, wie er Frau Dagmar respektvoll den Hof machte.
Wir hatten sehr bald den Nordrand der Mulde erreicht, und ausgerechnet jetzt hatte auch Vater Mond, der heute nur seine schmale Sichel zeigte, die seltene Liebenswürdigkeit, ein wenig zwischen den schwarzen, ziehenden Wolkenbänken hindurchzulugen und mir im Sandboden die mehrfache Fährte von Reitern zu zeigen, die als schmale, zerstampfte Rille in eine Lichtung des Gestrüpps sich verlor und gen Norden in der endlosen Wüste verschwand.
Die Fährten waren frisch, es war zweifellos ein Trupp von mindestens acht Leuten gewesen, aber sie waren längst auf und davon, und was sie auch hier vorgehabt hatten, – die Luft war rein, Füchslein Krake zog noch emsiger am straffen Lasso, und Minuten später standen wir vor der Eiche und einem splitternackten, hochgewachsenen Indianer, der mit Riemen nur allzu sorgfältig an den Baum gefesselt und noch brutaler geknebelt war.
Der Mond verkroch sich wieder.
Ich mußte die in Reno gekaufte Taschenlampe einschalten, um mir diesen unfreiwilligen Nacktkulturfreund näher anzuschauen.
Als der Lichtstrahl über ihn hinwegglitt, bemerkte ich erst, daß die schlanke Rothaut, deren Gesichtszüge etwas unheimlich Finsteres und Drohendes an sich hatten, über und über mit großen, schwarzen Ameisen bedeckt war. Der Mann stand mit den nackten Füßen tatsächlich in einem Ameisenhügel, den man flach zertreten hatte.
Das Gefühl des Mitleids mit diesem sicherlich vor Kälte halb erstarrten und durch die Schmerzen zahlloser Bißwunden der wütenden Ameisen gefolterten Menschen kam bei mir zunächst weniger als Antrieb zu eiliger Hilfeleistung in Betracht. Dazu waren die Gesichtszüge des Indianers in ihrer fast abstoßenden Wildheit zu wenig sympathisch, und erst, als ich entdeckte, daß eine dünne Linie der eifrig krabbelnden Insekten sogar die Nasen- und Ohrenlöcher als Angriffspunkte erwählt hatte, begann ich zu begreifen, daß der Ärmste Höllenqualen ausstehen mußte. Einzelne dunkle Blutstropfen rannen ihm aus den von den Ameisen förmlich verstopften Naslöchern, und so schnell wie damals ist mein Jagdmesser wohl selten durch die Schlingen von Riemen geglitten, und so hastig habe ich nie die zerschundenen Gelenke eines gefesselt Gewesenen mit kaltem Tee aus der Feldflasche gebadet wie damals. Ich half ihm, die Ameisen abzustreifen, ich sah nur, wie er durch kräftiges Blasen das blutdürstige, kleine Gesindel aus der Nase entfernte, wie er – immer noch ohne ein Wort – im Gestrüpp seine achtlos weggeworfenen Kleidungsstücke zusammensuchte und mit wahrhaft erschreckender Ruhe in seinen wildledernen Anzug schlüpfte, unter dem er nur ein gestreiftes, derbes Wollhemd und ebenso derbe Unterbeinkleider trug, die ihm gleichzeitig die Strümpfe ersetzten.
Es waren keine fünf Minuten vergangen, als er, ein im Lederwams und weiten Lederhosen und weichen Reitstiefeln und verknittertem Filz völlig Verwandelter, stumm auf mich zutrat, mir die Hand schüttelte, und nur ein einziges Wort sprach, das sein Name sein mußte:
„Koipato …!“
Der Name fand den Weg zurück zu jenem Artikel über den „Reiter am Himmel“, mein Gedächtnis arbeitete schnell …
„Wie, – Koipato, der Jäger?!“
„Man sagt so, Mister …“ – Und wieder trat da der Mond hervor und beschien des offenbar für Nevada zur Berühmtheit gelangten Schoschonen-Indianers grimme, düstere Züge.
Er wandte sich weg, glitt abermals in die Büsche, ein flackerndes Licht glomm auf, wurde zur brennenden Fackel aus trockenem Reisig, und Koipato, tief gebückt, suchte nach schlecht verwischten Spuren, kniete nieder, wühlte Sand und Steine auf und brachte unter einer Wolldecke eine gute Repetierbüchse, eine Pistole, Messer, Patronengurt, Lasso und andere Kleinigkeiten zum Vorschein.
Ich war neben ihn getreten.
Als letztes barg er ein Beil mit reich geschnitztem Stiel aus ölgekochtem Buchenholz mit zwei kleinen halbmondförmigen Schneiden.
Alles andere hatte er auf die Decke gelegt, nur das Beil hielt er mit beiden Händen, preßte die Doppelschneide flach gegen die Stirn und blieb so kniend eine geraume Weile in derselben Stellung.
Die Reisigfackel brannte auf dem Sande …
Ihr Lichtschein überflog zuckend das scharfe, junge Profil dieser etwas unheimlichen Rothaut. Büsche und Eichen rauschten unter einem stärkeren Windstoß lauter und eindringlicher auf …
Ich ahnte, was Koipato so inbrünstig, so lautlos in sich einsog und zu drohendem Schwur werden ließ.
Ich war froh, daß ich nicht in der Haut eines der Kerle steckte, die den Jäger Koipato dort an die Eiche gefesselt hatten, damit die Ameisen ihn fräßen und schließlich nur noch gelbliche Knochen in den Lederriemen hingen. Nein, Koipato zum Feinde haben, war unbedingt ein „totsicheres“ Geschäft, – es war schon lohnender, andere Beziehungen zu ihm zu unterhalten, ob es doch für uns drei Flüchtlinge ratsam war, mit einem so finsteren Gesellen, dem die Hälfte der Bewohner Nevadas heimlich ein schnelles, aber desto unsanfteres Hinscheiden insgeheim wünschte, während die andere Hälfte ihn vergötterte, längere Zeit zusammenzubleiben, das war eine äußerst kitzliche Frage. Auf Koipatos Dankbarkeit zu rechnen, die er mir doch unbedingt schuldete, fiel für mich, da lediglich Gefühls- und Anstandsmoment der anderen Seite, völlig unter den Tisch. Ich hatte in dieser Hinsicht denn doch schon allzu schlechte Erfahrungen gemacht, die sich in den knappen Satz prägen ließen, mit dem „die Leute vom jenseitigen Ufer“ ihre guten Geschäfte machen: „Ausnutzen, Dankbarkeit mimen, und sobald das Ausquetschen der Zitrone mühsam wird, die kalte Schulter zeigen.“
Koipato mochte selbst entscheiden. Abschütteln wollte ich ihn auf keinen Fall, dazu war mir seine ganze finster-unheimliche Persönlichkeit doch zu interessant.
Er schien sein „Gebet“ beendet zu haben, erhob sich, steckte seine Sachen zu sich, warf seine Wolldecke malerisch um die Schulter und fragte:
„Wo haben Sie Ihr Pferd, Mister?“
„Drüben …“ Ich deutete nach Südwest. „Mein Name ist Abelsen, Koipato, und das Mister können Sie sich schenken.“
Er nickte nur, und eine halbe Stunde später hatte er uns noch fünfhundert Meter weiter nördlich zu einer einsamen Felsengruppe geführt, zwischen deren schützenden Mauern wir nicht nur getrost ein Feuer anzünden konnten, sondern auch eine natürliche, sehr tiefe Regenwasserzisterne vorfanden, die Koipato erst durch das Lüften einer Steinplatte freilegte.
Wir tränkten unsere Pferde, wärmten uns am Feuer, und Dagmars scheue Blicke schweiften immer wieder zu des Schoschonen fast regungsloser Gestalt hinüber, die etwas abseits, in die Wolldecke gehüllt und eine kurze, qualmende Holzpfeife zwischen den gesunden Zähnen, einer düsteren Statue gleich kaum zuweilen den Kopf hob.
Mir schien es, als ob der Jäger aufmerksam und erwartungsvoll in die Ferne lauschte.
Die Kälte hatte jetzt, wo der Morgen nicht mehr fern, noch zugenommen, auch der Wind war noch frischer geworden, säuselte und jaulte in den Felszacken über uns und ließ den Rauch des Feuers sehr schnell zerflattern.
Ich wußte, wie bedrückt sich Dagmar und Jangse durch des Schoschonen Anwesenheit fühlten, es herrschte eine trübselige, peinvoll schweigsame Stimmung, – – und dann vernahmen wir deutlich außerhalb der Felsen ein helles, freudiges Wiehern, über Koipatos junge, starre Züge flog es wie ein Blitz von stolzer Genugtuung, und ein tadellos gebauter, gesattelter Rappe mit glänzenden, klugen Augen, rosigen Nüstern und wehender, geflochtener Mähne erschien im Lichtkreis des Feuers, tänzelte vorsichtig an uns vorüber, rieb seine Schnauze an des Jägers Schulter und trat bescheiden zur Seite und richtete den leuchtenden Blick auf den unwillig knurrenden Krake, dem dieser Nachzügler denn doch allzu selbstherrlich sich uns beigesellt zu haben schien.
Der Rappe war zweifellos das beste Pferd, das ich seit Jahren gesehen.
Man hätte Koipato darum beneiden können.
Nach einer Weile erhob sich der Schoschone, sattelte seinen Rappen ab und trug Sattel und Zaumzeug zu einer Stelle hinüber, wo ein paar spärliche Gräser wuchsen. Das Pferd folgte ihm, begann die armseligen Halme abzurupfen, und sein Herr, die Büchse im Arm und die Wolldecke über dem Rücken, wandte sich dem Ausgang dieses Felsenzirkus zu, rief dabei halblaut den verschlafenen Jangse an: „Mitkommen, – Gras holen!“
Freund Jangse warf mir einen fragenden Blick zu …
„So gehe doch!“, meinte ich gereizt.
Ich war froh, mit Dagmar einige Zeit allein sein zu können.
Als ich sie anschaute, las sie wohl in meinen Augen den bescheidenen Wunsch, über so manche Dinge, die ich jetzt in so ganz anderem Lichte sah, ehrlichen Aufschluß zu erhalten.
Sie wurde nervös, legte rasch ein paar trockene Kiefernäste in das Feuer und sagte seltsam fahrig und verlegen:
„… Ich hatte über Koipato in einer Zeitung in Reno verschiedenes gelesen, daher meine Bemerkung Ihnen gegenüber, er sei kein wünschenswerter Gefährte …“
„Dagmar!!“ – Die förmlichen Anreden hatten wir unterwegs stillschweigend gestrichen.
Der stille Vorwurf mußte deutlich herauszuhören sein. Nochmals wiederholte ich ihren Vornamen und griff dann nach ihrer Hand.
„Nennen Sie das Kameradschaft, Dagmar?!“
Die flackernde Glut färbte ihr Antlitz rosig wie ein farbiger Sonnenuntergang.
Ihre Hand war eiskalt. Ihr Kopf behielt die gezwungene Haltung bei.
„… Ich hätte so vieles zu fragen … Zunächst: Wie konnte Jangse so schnell Anschluß an die Chinesenkolonie in Reno finden, wie konnte er so viel Spione mobil machen, daß er uns rechtzeitig zu warnen vermochte? Wir waren nur etwa anderthalb Tage in Reno. Auch Jangse ist kein Zauberer.“
Antwort?!
… Nur das Knallen trockener Äste in der Glut.
Nun, – dann mußte ich eben andere Saiten aufziehen, – ich habe noch nie Statist gespielt, wo ich ein Schauspiel persönlich inszeniert hatte.
Meine Stimme wurde schärfer. „Dagmar, diese Flucht aus Reno, entschuldigen Sie, macht auf mich immer mehr den Eindruck eines sehr sorgfältig vorbereiteten und sehr schlau durchgeführten Planes, mich fernerhin als Reisemarschall und Beschützer an Ihre Seite zu fesseln, mich aber über Ihre wahren Absichten im unklaren zu lassen. Ich habe über vieles angestrengt nachgedacht, ich habe die Einzelheiten dieser Flucht zergliedert, und ich will davon nur das eine herausziehen: Der alte Pferdeschacherer Lipu Schang, der uns die Skizze auf Pergamentpapier lieferte, muß zu dieser Zeichnung Stunden gebraucht haben. Und doch ist dieser Schuft Gordon Lowell als Agent Ihres Gatten erst mit dem Abendzuge in Reno eingetroffen, behauptet Jangse wenigstens. Und der lügt wie gedruckt. – Habe ich Recht mit alledem?“
Die Wärme meiner Finger teilte sich Dagmars Hand mit, – mein Herz schlug ganz ruhig, aber in ihren Fingern spürte ich den jagenden Pulsschlag heftigster Erregung.
Antwort?!
… Nichts als kaum hörbare Seufzer und ein festeres Zusammenpressen der Lippen.
Ein schmerzliches Gefühl bitterster Enttäuschung wollte sich meiner bemächtigen.
Es ist hart, es ist geradezu heimtückisch vom Schicksal, wenn man wie ich hier solchen Undank erntet. Und dies noch von einer Frau, die schon allein durch ihre eigenen Lebenserfahrungen zu jener innerlichen Reife hätte gelangt sein müssen, deren beste Frucht stets der beherzigenswerte Satz bleiben wird: „Lerne nur nicht aus den Fehlern anderer, sondern handele nach diesen Lehren!“
Was ich sonst für Dagmar noch empfand, spielte hier nur eine Nebenrolle. Wäre Dagmar ein hilfsbedürftiger Mann gewesen, die Enttäuschung wäre ja die gleiche geblieben. Und doch wollte ich nicht vorschnell urteilen oder verurteilen. Es kann verwickelte, dunkle, gefährliche Begleitumstände irgend eines scheinbar bisher durchsichtigen Geschehens geben, die gerade ein Weib zu verheimlichen trachtet, weil diese Begleitumstände den zarten Frauensinn am empfindlichsten treffen.
Ich versuchte ein letztes.
„Dagmar, ich behaupte auch, daß Sie und Jangse längst von diesem indianischen Jäger Koipato weit mehr gewußt haben, als in einer der Zeitungen in Reno gestanden haben kann. Schon bevor wir hier mit dem Schoschonen zusammentrafen, fing ich ein paar Brocken Ihrer leisen Unterhaltung mit Jangse während des Geschwindrittes auf. Sie sprachen von dem Reiter am Himmel, Dagmar, und – jetzt besinne ich mich darauf – in Ihres treuen, gelben Dieners Antwort war der Name des Schoschonen mit enthalten. – Nun, wie ist es damit?!“
Jetzt war ihre Hand heißer als die meine, aber ihr Herzschlag hatte sich beruhigt, und sie schien zu irgend einem Entschluß gelangt zu sein, blickte mich voll an, strich mit graziöser Bewegung das aschblonde Haar mehr aus der Stirn und flüsterte eindringlich:
„Mein lieber Freund, mein lieber Kamerad, Koipato ist der grimmigste Feind eines Mannes, den ich unbedingt finden und sprechen muß … – Ich bitte Sie herzlich, verlangen Sie jetzt keine näheren Erklärungen von mir. Der Zeitpunkt wird kommen, wo ich kein Geheimnis mehr zu hüten habe – vielleicht sehr bald! Sie sollen auch kein falsches Bild von mir gewinnen, Olaf, – ich ertrüge es nicht, gerade von Ihnen verkannt zu werden. Ja, es ist richtig: Jangse war bereits vor vielen Monaten in meinem Auftrag in Reno, und seine Beziehungen zu dem alten Lipu Schang, der übrigens das Oberhaupt einer der vielen chinesischen Geheimbünde ist, die gerade die Weststaaten der Union wie ein Netz überziehen, datieren von Jangses damaligem Besuch in Reno her. Ich mußte mir Verbündete sichern, rechtzeitig sichern, und den Erfolg sehen Sie jetzt: Wir wären niemals glücklich entronnen, wenn des alten Lipu Schangs ausgedehnte Hilfsmittel nicht so glänzend für uns gearbeitet hätten.“
Dagmar hatte sich in einen heiligen Eifer hineingeredet, mich von ihrer ehrlichen Gesinnung zu überzeugen. Wie von selbst war sie mir nähergerückt, wir saßen jetzt eng beieinander, und diese Nähe erinnerte mich freudevoll an die traumhaft schönen Nächte auf dem Golfe von Mexiko im sanft dahingleitenden Boot.
Nächte, in Mondlicht getaucht, – das Meer ein glitzernder Strom versteckter Zärtlichkeit: So war es gewesen, so hatten wir beide es empfunden.
… Und sie sprach weiter, ohne jede Scheu, mit ihrer weichen, seelenvollen Stimme, in der stets der feine Unterton der Melancholie wie dunkle Mollakkorde mitschwangen:
„Nein, mein Freund, es war kein Plan entworfen, Sie … weiterhin an mich zu fesseln, wie Sie sich vorhin ausdrückten … Nein, bestimmt nicht! Andererseits gebe ich zu: Hätten die Dinge diese Entwicklung nicht genommen, Olaf, würde ich Sie gebeten haben, mich in die Wüste ostwärts des Humboldt-Sees, der ja mehr ein riesiger Salzsumpf ist, zu begleiten.“
„Des … Reiters am Himmel wegen?“, fragte ich geradezu und vermied alle Diplomatenkünste.
„Ja!!“
Es wurde ihr schwer, dieses kurze Ja. Aber sie hatte doch in den letzten Minuten zu stark darum gebangt, daß sich zwischen uns eine Scheidewand aufrichten könnte, daß eine Entfremdung eintreten müßte, – und der Preis war ihr zu hoch. Deshalb ließ sie nun doch abermals ein Stück des Vorhanges emporgleiten und zeigte mir, daß sie, die Multimillionärin, die heiß umkämpfte Erbin und bedauernswerte Gattin eines jämmerlichen Burschen von vornehmem Tagedieb, hier im Lande der Wermutsträucher irgendwie an einem Manne interessiert sei, der für Nevada, Utah, Kalifornien und Dakota längst eine Art Reklamestück geworden: Der Reiter am Himmel!
Fast wörtlich war noch der Inhalt jenes Zeitungsartikels mir gegenwärtig:
Der Reiter am Himmel ist abermals in letzter Zeit mehrfach beobachtet worden. Für diejenigen unserer Leser, die noch nicht über unsere „Hauptattraktion“, über Nevadas dunkelstes Rätsel, genügend informiert sein sollten, holen wir folgendes nach. – Vor etwa vier Jahren entgleiste ein Güterzug, der den Zirkus Banasty von Salt Lake City nach Reno bringen sollte, dicht hinter der Eisenbahnbrücke über den Humboldt-Fluß, und aus einem zertrümmerten Tiertransportwagen entkamen zwei vorzügliche Reitdromedare arabischer Abstammung in die Wüste und konnten nicht mehr eingefangen werden. Drei Monate später bemerkte ein Farmer am Quens-River in einem der ödesten Teile der Wüste früh morgens einen Dromedarreiter, der scheinbar in der Luft dahinritt und nach einiger Zeit wieder verschwand. Sehr bald wurde derselbe Reiter auch anderswo beobachtet, stets jedoch innerhalb der Wüsteneien östlich des Humboldt-Sees, die sich etwa bis zu den Santa Rosa-Bergen und bis zur Grenze des Mormonenstaates Utah hinziehen. Die wildesten Gerüchte tauchten auf, man sprach von Luftspiegelungen, von Sehtäuschungen, man photographierte den Dromedarreiter sogar, man schickte Polizei aus, schließlich fanden sich sogar abenteuerliche Großstädter ein, die „den Reiter am Himmel“ abfangen und auf Herz und Nieren prüfen wollten. Vor zwei Jahren erschien auch eine Filmgesellschaft, die den „Stoff“ an Ort und Stelle ausschlachten wollte … Aber: Nicht einem einzigen Menschen ist es bisher geglückt, auch nur des Dromedarreiters Fährten zu entdecken, geschweige denn ihn selbst zu stellen und auszufragen. Und genau so liegen die Dinge noch heute: Der Reiter existiert, erscheint immer wieder, immer nur als durch die Luft dahintrabendes Phantom! Was es mit ihm auf sich hat, weiß niemand. Sogar unserer zweiten lokalen Berühmtheit ist es bisher nicht gelungen, den Reiter am Himmel zu erwischen, und was unser bester Jäger, Fährtensucher und Reitkünstler nicht erreicht, wird auch eine ganze Schwadron Kavallerie nicht erzwingen: Dem Reiter am Himmel je aus naher Entfernung ins Gesicht zu sehen.
… Das also war der Reiter am Himmel, das war die „Zeitungsente“, die „Phantasieblüte“ der sauren Gurken-Zeit, wie ich diese seltsame Geschichte etwas voreilig eingeschätzt hatte.
Und nun?!
Diese Frau hier neben mir, Dagmar Hollerfrey, geborene Egerlöv, hatte soeben zugegeben, daß sie und sicherlich auch Jangse über den Reiter am Himmel weit mehr wüßten als die Herren Redakteure der 32 in Nevada erscheinenden Zeitungen und Wurstblättchen.
Dagmar hatte es zugegeben, wenn sie sich freilich auch mir gegenüber vorsichtiger ausgedrückt hatte: Sie müsse „den Mann“ unbedingt finden und sprechen, hatte sie geäußert, und dieser Mann war nach ihrem eigenen Geständnis: Der Reiter am Himmel!
… Ein Zwischenfall da …
Urplötzlich hatte sich der eng zusammengerollt neben mir liegende Freund Krake zu voller Höhe aufgerichtet und starrte wie gebannt über unsere Köpfe hinweg auf ein paar Krüppelkiefern, die hoch oben auf den Felsen wuchsen.
Auch ich war im Nu auf den Beinen.
Auch ich glaubte hinter dem im Winde wehenden Bäumchen eine verdächtige Bewegung zu sehen, hatte schon die Büchse im Anschlag, – – da senkte Füchslein Krake wieder den hochgereckten Kopf, schnüffelte nur noch ein wenig und tat sich behaglich nieder.
Trotzdem hatte Dagmar sich verfärbt.
„Olaf, was war es?!“
Ich zuckte die Achseln … „Mag ein Tier gewesen sein, Dagmar … Kein Grund zur Beunruhigung …“
Ich schwindelte.
Ich machte mir so meine eigenen Gedanken über den Schatten da oben.
Und als nachher der Schoschone und Jangse reich beladen mit Gras zurückkehrten, flüsterte ich Jangse schnell zu:
„Hat sich Koipato draußen von dir getrennt?“
„Ja … Vielleicht fünf Minuten …“
Also das war es!
Koipato, der grimme Feind des Reiters am Himmel, hatte die Sache sehr schlau angefangen, hatte Jangse mit sich genommen und dann Dagmar und mich belauscht.
Er war der Schatten droben auf dem Felsen gewesen. –
Noch finsterer und verschlossenerer als bisher erklärte er jetzt, nachdem er den Pferden ihre Ration zugeteilt hatte:
„Wollen Sie die erste Wache übernehmen, Mr. Abelsen? – Wir müssen hier zwischen den Felsen bleiben. Draußen in der Wüste blinken überall die Scheinwerfer der Autos der Verfolger. Hierher wagten sie sich nicht …“
Er machte eine Pause und starrte noch düsterer in die Glut des Lagerfeuers.
„… In diesen Felsen wurde 1889 eine Goldgräberkarawane von weißen Banditen überfallen und bis auf den letzten Mann niedergemetzelt. Die Räuber sollen ungeheuere Schätze davongeschleppt haben, und jetzt …“ – des Schoschonen Broncegesicht überflog ein verächtliches Lächeln – „glauben die Narren in den Städten und auf den Farmen, daß der Reiter am Himmel einer der Ermordeten sei – ein Geist, der ruhelos die Wüste durchstreife, nach den Gebeinen seiner Gefährten suche, die die Wölfe verschleppt haben, und daß er gerade hier sein Standquartier hätte …“
Koipato schnitt eine wilde Grimasse.
„Ich wünschte, er käme einmal her, der Dromedarreiter …!! Dann …“ – und er klopfte gegen den Kolben seiner Büchse, schritt abseits, wickelte sich in seine Decke, schob den Sattel unter den Kopf und kümmerte sich nicht weiter um uns.
Dagmars Augen waren groß und starr vor Entsetzen. Diese Augen glitten angstvoll hin und her, als müßten hier noch irgendwo die Totengerippe der Goldgräber herumliegen.
Ich beruhigte sie …
Und dann führte ich sie in den geschütztesten Winkel, baute ihr rasch aus Zweigen eine Schutzwand, überließ ihr meine Schlafdecke, gab Jangse noch einen bestimmten Wink und schritt mit Krake am Lasso ins Freie.
Ich kannte Koipatos Zuversicht, die Verfolger würden sich aus abergläubischer Scheu nicht bis zu unserem Felsenversteck wagen, nicht recht teilen. Was ich bisher von den Bewohnern Nevadas, von der staatlichen Polizei und insbesondere der Landbevölkerung gesehen hatte, war durchaus nicht dazu angetan, diese zumeist hageren, sehnigen, braunen Gestalten, denen die Bergluft und der reine Odem der Hochlandwüsten Gesichter und Hände mit dauerhafter Sonnenpatina überzogen hatte, irgendwie als Gegner leichtfertig einzuschätzen.
Ich war gespannt, ob es wirklich zuträfe, daß die Wüste von umherirrenden Lichtstreifen der Autoscheinwerfer derart belebt sei, wie der fragwürdige Schoschone es angedeutet hatte.
Ich war vorsichtig, blieb zunächst im Schutze der Felsblöcke des schmalen Eingangs, der nach Westen gerichtet war, und erklomm eine stärkere Kiefer, die mir einen weiten Rundblick gestatten würde, setzte mich auf eine Astgabel, knickte einige hinderliche Zweige ab und hielt sorgfältig Umschau.
Wir waren von Südwest gekommen. Dort hatte ich zu suchen.
Koipato hatte nicht übertrieben.
Durch die Finsternis des Horizonts, die noch kein Schimmer des jungen, nahenden Tages lichtete, zuckten hier und dort helle Streifen. Es konnten nur die Autos von Farmern sein, die man telephonisch zu einer Jagd auf uns aufgefordert hatte. Die weißen Lichtfinger griffen, unregelmäßig aufzuckend, in die Dunkelheit hinein, waren jedoch sämtlich so weit entfernt, daß von ihnen bisher keine Gefahr drohte. Nur etwas gefiel mir nicht: Es lag nahe, daß die Wagen von Reitern begleitet sein würden, und wenn die Reiter Hunde mit sich führten, konnte unsere Fährte, die freilich meilenweit über kahlen Felsboden der Täler hinlief, verfolgt werden.
Ich nahm mein Fernglas und prüfte mit dessen Hilfe sehr sorgfältig das kritische Gelände. Auch das half nicht viel, ich bemerkte zwar nichts Verdächtiges, aber ich gab mich auch keineswegs einem Sicherheitsgefühl hin, das hier sehr leicht hätte verhängnisvoll werden können. Bei dem Charakter dieser Wüstenlandschaft mit ihren zahllosen tiefen Einschnitten, Hügelreihen, Felspartien und buschreichen flachen Sandtennen konnten sich einige Reiter unbemerkt recht nahe heranpirschen.
Sehr hinderlich bei dieser Ausschau nach den Verfolgern war die Mulde mit den fünf Steineichen, deren Kronen aus der Vertiefung hoch emporragten.
Ich verließ die Kiefer, ich wollte unseren Schlupfwinkel einige Male umrunden und mich dann bis zu der Mulde schleichen, in der ich den allzu schweigsamen Schoschone-Jäger aus seiner gefährlichen Lage befreit hatte. Und der Dank hierfür?! Nicht ein Wort der Aufklärung hatte Koipato gefunden, nicht mit einer Silbe darüber gesprochen, wer ihn dort einem grauenvollen Tode hatte überantworten wollen. Im Grunde hatte er überhaupt kaum einige Sätze geredet, das allernotwendigste, – – ein unheimlicher Geselle, diese Rothaut, dabei zweifellos ein gebildeter, jüngerer Mann – ich schätze ihn auf dreißig – von allerdings sehr zweifelhafter Berühmtheit, sicherlich in einem der kultivierten Schoschonendörfer an der Ostgrenze des Staates in einer der gut geleiteten Schulen erzogen und erst später, vielleicht dem ererbten, wilden Blute seiner Vorväter folgend, zum ruhelosen, gefürchteten und doch auch äußerst volkstümlichen Trapper geworden. Ich wußte zu wenig von ihm, um mir von seiner widerspruchsvollen Persönlichkeit ein richtiges Bild entwerfen zu können, ich wollte auch nicht übereilt auf eine bestimmte Ansicht mich festlegen, – – bisher traute ich ihm jedoch ebenfalls nicht, und Freund Jangse war verständnisvoll genug, auf Schlaf zu verzichten und zum Schutze Dagmars die Pistole bereit zu halten. Wenn Koipato glaubte, hier bei uns im Trüben fischen zu können, würde er sich arg täuschen.
Ich hatte Füchslein Krake unten an der Kiefer festgebunden und nahm ihn nun wieder mit auf den Rundgang um die Felsen. Zweimal umkreiste ich diese in immer weiteren Abständen, so daß ich schließlich den fünf Eichen ziemlich nahe kam und nur noch eine kurze Strecke halb kriechend zurückzulegen brauchte.
Der bisher recht kräftige Wind, der in unregelmäßigen Stößen von den weißen Schneemützen der Sierra Nevada über die Wüste gefegt hatte, schlief immer mehr ein.
Tagesanbruch nahte, wenn auch der östliche Horizont noch dunkel. Es mochte jetzt vier Uhr morgens sein. Meine alte, brave Armbanduhr war stehengeblieben. Die prickelnde Champagnerluft dieser Wildnis bekam ihr nicht.
Wie leicht, gesund und anfeuernd diese Luft war, verspürte ich jetzt an mir selbst. Vorhin am Lagerfeuer hatte ich minutenlang mit einer bleiernen Müdigkeit gerungen, hatte sie überwunden, und ich fühlte mich leichter, frischer, beweglicher denn je.
Füchslein Krake trabte trippelnd neben mir her, – Wildkaninchen erregten seine Jagdlust, auch ein paar Hasen flitzten vorbei, und die Hauptmasse der vierfüßigen Bewohner dieser Einöden, die in Kolonien lebenden Präriehunde, brachten Krake fast zur Verzweiflung. Oft genug hoffte er einen der feisten rotbraunen Burschen zu erwischen, aber diese dickschädligen Gesellen, die von den Naturforschern halb zu der Familie der Eichhörnchen, halb zu der der Murmeltiere gezählt werden, sind scheuer als Füchsleins eigene Artgenossen. Präriehunde heißen sie nur, weil ihr Bellen dem junger Hunde gleicht. Mit den Murmeltieren haben sie eins gemeinsam: Die Wachsamkeit! Zieht die Familie auf die Weide, so werden regelrechte Posten aufgestellt, und deshalb wird es auch einem Reiter sehr selten glücken, diese ganz interessante Sippe einmal in größerer Zahl zu überraschen. Früher, als die Prärien am Missouri und andere fruchtbare Steppengebiete noch Tummelplatz von Büffeln, Wildpferden und skalplüsternen Rothäuten waren, kamen die Präriehunde überall in zahllosen Mengen vor. Mit der von Osten nach Westen über den nordamerikanischen Kontinent vorschreitenden Zivilisation und der Benutzung der Prärien zu Weideflächen und Getreidebau machten auch diese Tiere wie einst die Indianer die große Wanderung gen Westen in die vegetationsärmeren Steppengebiete mit und sind heute nur noch in den Einöden in größerer Menge anzutreffen, – übrigens genau wie das auerhahnähnliche Präriehuhn, Wölfe, Bären, Coyoten und Klapperschlangen. Daß der Präriehund in seinem ausgedehnten Bau friedlich mit der kleinen Erdeule und der Klapperschlange zusammenhaust, ist Tatsache, aber all das Gerede von der Giftfestigkeit der Präriehunde (man verglich ihn mit dem Igel, dem ein Kreuzotterbiß nichts antut), ist längst widerlegt. Diese friedliche, eigenartige Gemeinschaft von Präriehund, Eule und Klapperschlange ist als sogenannte Notgemeinschaft aufzufassen: Die Herrschaften lassen sich gegenseitig in Ruhe, weil die Umstände sie dazu zwingen, das heißt die immerwährende Verfolgung durch stärkere Gegner, unter denen der Mensch an erster Stelle steht.
Vor der Mulde gab es eine ganze Menge der bekannten Präriehundhügel, zwischen denen glattgetretene Pfade kreuz und quer hindurchliefen. Ich benutzte einen dieser schmalen Wege, obwohl der Duft des Unrats der Tiere, – ihre Bauten halten sie sehr sauber – nicht gerade angenehm war. Krake trippelte jetzt mißmutig hinterdrein, und wir waren bereits dem Rande der Bodensenkung recht nahe angekommen, als ich hinter einer Biegung ein Paar Stiefel bemerkte, die unfehlbar nicht lediglich als Reklame für eine Schuhfabrik hier hingelegt sein konnten, dazu waren sie doch schon zu schadhaft …
Sie bewegten sich auch, und der Mann, dem sie gehörten, rauchte eine Zigarette. Ich roch es.
Krake verhielt sich ganz still. Zum Glück.
Mir gefiel diese Begegnung sehr wenig, denn ich mußte wohl damit rechnen, daß der Stiefelbesitzer nicht allein hier hinter dem Hügel auf der Lauer liege.
Langes Überlegen gab es hier nicht. Ich mußte zurück, und wir drei (ob Koipato sich anschließen würde, blieb fraglich) konnten nur schleunigst weiter nach Nordost flüchten, wo die Wildnis auf unendliche Strecken auch nicht eine einzige Siedlung enthalten sollte, ausgenommen die vom alten Pferdehändler Lipu Schang besonders vermerkte Ranch, also eine kleinere Farm, die „dritte“ Ranch der Wegkarte.
… Gefahr! Für viele etwas Lähmendes, Bedrückendes, für viele etwas Berauschendes, Nerven, Muskeln, Hirn zu höchster Kraftentfaltung Anspornendes.
Gefahr, Abenteuer: Die Merksteine am Wege abseits vom Alltag! – Und ich habe sie lieb, diese Merksteine, aus denen ein Jungbrunnen sprudelte, der die Schlacken der innerlichen Trägheit wegspült wie der Gießbach die hinderlichen Sandmassen.
Drei Meter lautlos rückwärts, immer die Augen auf die bewußten Reitstiefel gerichtet, deren Sporen nur ungezähnte Rädchen hatten – verrostet, verrottet, aber die Riemen gut gefettet, genau wie die vielfach geflickten Stiefel.
Dann verschwanden die Fußröhren, dafür erschien ein riesiger Schlapphut, darunter ein braunes, schmales Gesicht, und eine Stimme, bissig und humorvoll zugleich, meinte sehr friedfertig:
„Da müssen Sie schon etwas früher aufstehen, Mister, wenn Sie mich reinlegen wollen!“
Die glimmende Zigarette im Mundwinkel wippte vergnügt wie das Schwänzchen einer eiligen Bachstelze, – weniger vergnügt glotzte mich das schwarze Auge einer recht klobigen langen Coldpistole an.
Der Mann hatte unbedingt recht. Bevor ich schußfertig werden würde, konnte man zuerst einen Sarg für mich bestellen. Ich war wirklich zu spät aufgestanden.
„Lassen Sie Ihren Schießprügel liegen und bemühen Sie sich bitte näher heran“, fügte der kaltschnäuzige Geselle hinzu. „Halten Sie aber Ihren Bastard von Fuchs recht fest, wahrscheinlich beißt das Vieh, und ich möchte in Ruhe zu Ende frühstücken. Also bitte …“
Die nachlässige Energie, die aus dem ganzen Verhalten dieses Fremden sprach, warnte mich. Diese Sorte von Leuten kenne ich. Die reden nicht viel, und ihre Kugeln sind flinker als ein rascher Kinnhaken.
Der Mann machte mir Platz, und ich erblickte auf dem Boden eine Wolldecke, einen kleinen Spirituskocher, zwei Aluminiumteller und Messer, Gabel und Löffel und einen dampfenden Teebecher.
Da der Fremde sich halb in ein Wermutgestrüpp gedrückt hatte, war von seinem Gesicht nicht viel zu erkennen. Sein Anzug – Sportform aus graugrünem Cord – war vielfach geflickt, und der weiche, zerplatzte Gummikragen um den Hals und die hellrote Krawatte sowie ein gestreiftes Hemd mit Einsatz verrieten eine gewisse Eitelkeit.
Die Coldpistole behielt die Richtung auf meine Brust unverändert bei.
„Was tun Sie hier?“, begann der Mann das gemütliche Verhör.
„Unterwegs nach Salt Lake City“, erwiderte ich kurz.
„Hm, weite Strecke, Mister … Weshalb benutzen Sie nicht die Eisenbahn?!“ Er lachte leise und dann kam es: „Sie müssen mir keine Märchen erzählen, – auf wieviel Jahre Zuchthaus haben Sie zu rechnen? Kleiner Mord, he?! Oder bescheidener Bankraub? – Hätten nicht gerade Nevada beglücken sollen, Sie …! Wir sind hier ein ganz moderner Staat, Sir, moderner als New York … Elektrischer Stuhl?! Unsinn! Hierbei uns befindet sich neben dem Gefängnis in Carson City, der Hauptstadt, eine Räucherkammer … Haben Sie davon gehört?“
„Ja … Die Gaskammer, meinen Sie. In Nevada wird jedes Todesurteil durch Blausäuregas vollstreckt. Weiß ich alles …“
„Leider leider …“ Er lachte wieder … „Und so ein Pech zu haben! Ausgerechnet All Mac Austin vor das Pistolenrohr zu kriechen!! Pech!!“ Er klappte mit der Linken den Jackenaufschlag zurück, und ich sah den silbernen, eigentümlich geformten Stern.
„… Bin nämlich Sergeant All aus Winnemucca dort im Osten, – ganz nettes Städtchen … an der Zentralpacificbahn, die ja von Norden her auch unseren Staat beehrt. Sind da in Winnemucca letztens zehntausend Dollar verloren gegangen nach einer bescheidenen Knallerei, und die ehrlichen Finder sollen gebeten werden, in unserer Räucheranstalt in Carson-City Platz zu nehmen, bis ihnen die Lust an solchen Scherzen für immer vergeht … Wie wäre es, wenn Sie mitkämen, Mister?! Das Rotfell Koipato soll ja auch mit von der Partei gewesen sein, – wo steckt der Schoschone?!“
Die Lage war kritisch …
War …
Sergeant All Mac Austin aus Winnemucca war jedoch auch seinerseits nicht früh genug aufgestanden …!!
Es bleibt immer ein Fehler, bei einem Gegner nur die Hände zu beobachten und die unteren Extremitäten zu vernachlässigen. Auch ein Bein kann urplötzlich hochschnellen und eine Pistole zur Seite schlagen und einer Faust Gelegenheit geben, den bewußten nachteiligen Schlag gegen die Herzgrube zu landen.
Jedenfalls: Sergeant All sackte zusammen, im Augenblick hatte ich ihn gebunden, kniete noch über ihm, als eine Hand meine Schulter berührte (Füchslein Krake war mit Lasso auf Präriehundjagd ohne Erlaubnis unterwegs) und eine sehr undeutliche brabbelnde Stimme zischelte:
„Mr. Abelsen, den Polizeispion Sie nur überlassen dem alten Lipu Schang … Ich gleich denken, Sie werden haben Hindernisse auf trockenem Pfad durch Wüste, ich machen großes Geschrei in Reno, – – drei Pferde gestohlen, Diebe fliehen, nach Westen, ich sagen, – und ich nehmen Auto und fahren hinter reiche Frau Hollerfrey drein, – – Chinesen immer schlauer als Polizei, alte Chinesen noch schlauer, so alte wie ich ganz schlau. Jetzt machen, daß weiterreiten … Ich werden den Sergeant dort einpacken in Auto … Soll sich wundern, wo nachher sein … – Also – – jetzt reiten, schnell …“
Der Vorschlag war ja zweifellos der Lage entsprechend, nur … ich wurde eines unbestimmten Mißtrauens nicht recht Herr, daß einmal der ganz schlaue Mr. Lipu Schang den noch immer bewußtlosen Mac Austin etwa direkt gen Himmel spedieren könnte, und daß zweitens derselbe ganz schlaue zahnlose, schlitzäugige Gauner keineswegs aus so selbstlosen Beweggründen mit seinem Benzinroß bis hierher gegondelt sei. – So allgemach hatte ich nun von dieser Überfülle von Geheimniskrämerei die Nase gründlichst voll bekommen, mein Bedarf an Leckerbissen dieser Art war gedeckt, und die sehr naheliegende Vermutung, Herr Lipu Schang und der Schoschone-Jäger, den der Sergeant doch wohl nicht grundlos des Raubes beschuldigt hatte, könnten hier bei den fünf Eichen ein Stelldichein zwecks Besprechung weiterer ähnlicher kleiner Eigentumsvergehen mit kleinen Knallereien verabredet gehabt haben, veranlaßte mich denn auch zu der bescheidenen Anfrage, was der sehr weise Herr Lipu Schang von dem mit so zweifelhaftem Ruf belasteten Koipato eigentlich hielte.
„… Koipato ist nämlich zufällig zu uns gestoßen, sehr würdiger Lipu Schang, oder sagen wir genauer, er war dort drüben an der östlichsten Eiche mit neuen Riemen aus Hirschhaut in einem Ameisenhaufen splitternackt festgebunden und geknebelt. Ich befreite ihn … Nun lagern wir drüben zwischen den Felsen.“
Selbst wenn ein Asiate schon fünfzig Jahre in Amerika gelebt hat, er bleibt Asiate. Eine Gefühlsregung wird sich sehr selten auf seinem Antlitz wahrnehmbar widerspiegeln, und selbst die äußerste Todesgefahr – ich hatte Beispiele dafür – zaubert nur ein rätselvolles Grinsen um die dünnen Lippen.
Doch diese Nachricht traf den Alten mitten ins Herz. Sein Unterkiefer sank herab, die Augen weiteten sich, eine Art unheimlichen Gurgelns kam aus seiner Kehle, und dann ward das zerknitterte, zerfurchte Gesicht zur wilden Fratze tödlichen Hasses.
Auch diese Veränderung war nur Sache des Augenblicks.
Erstaunlich, wie höflich der Alte bereits wieder grinste und gleichmütig zischelte:
„Sehr gut das sein … Koipato sein ehrliche, beste Rothaut, nur mit großer Wut in Seele gegen Feinde, Mr. Abelsen. Sie ihm vertrauen können vollständig, – ich meine Hand legen in Feuer für ihn, ich schwören bei meine erhabene Ahnen, daß der Schoschone noch treuer sein wie ich oder kleiner Jangse … – So, nun gehen schnell, – – schnell reiten … Sie Karte haben … Sie Karte zeigen Koipato und erzählen, daß ich, Lipu Schang, werden Sergeant kein Haar krümmen …“
Er hatte höchst feierlich die Arme über der Brust gekreuzt und sich dreimal nach Osten verneigt.
Dann reichte er mir seine Krallenpfote, deren Gichtfinger wie gelbe, vertrocknete Mohrrüben aussehen, und wiederholte ernst:
„Jetzt gehen … All Mac Austin bei mir gut [aufgehoben …“][5]
Wie gut, das konnte ich damals noch nicht wissen und weiß es auch leider bis auf den heutigen Tag noch nicht …
… Schnell weiterreiten …!!
Gut gesagt …
Wo aber steckte der verflixte Krake?!
Gewiß, ich hatte ihn bereits an einen bestimmten Fingerpfiff mit Trillerabschluß gewöhnt, der, falls er nicht beachtet wurde, einige Jagdhiebe einbrachte.
Gewiß, ich pfiff …
Ich lief in der sehr ausgedehnten Präriehundsiedlung mit ihren zahllosen Wohnhügeln, die man etwa mit Biberbauten vergleichen könnte, wütend hin und her und pfiff immer wieder.
Von Krake keine Spur …
Ich belegte Freund Krake mit Ausdrücken, die nicht gerade salonfähig waren. In Gegenwart Dagmars hätte ich mich unbedingt mehr beherrscht, denn Dagmar liebte Krake, und so manche Strafe ward ihm durch ihr Eingreifen geschenkt.
Schließlich gelangte ich in den östlichsten Teil der Kolonie vor einen vereinzelten Bau, dessen Größe auf das Heim des Häuptlings der Präriehunde oder auf ihr Parlamentsgebäude hinzudeuten schien. Die Indianer haben ja von jeher behauptet, die nächtlichen Massenversammlungen der Präriehunde (eine Tatsache!) dienten nur dem Zweck gemeinsamer Beratung wichtiger Fragen, und der amerikanische Zoologe Dr. Maddsen, der das Tierleben der Prärien und Wüsten Nordamerikas wie kein anderer mit unendlicher Geduld studiert hat, erklärt allen Ernstes, daß nach einer solchen Massenversammlung, die er mit dem Fernrohr beobachtete, die gesamte Kolonie eine Stunde später ihre Wohnsitze meilenweit anderswohin verlegt habe, da eine anhaltende Dürre eine Hungersnot heraufzubeschwören drohte.
Jedenfalls: Freund Krake steckte in diesem Sandhügel, ich hörte ihn im Innern fürchterlich aber sehr gedämpft keifen und knurren, und ahnte daher schon, daß sein Jagdeifer ihn in eine etwas bedrängte Lage gebracht haben müßte.
Es stimmte.
In dem Hauptschlupfloch des Baues lag noch das freie Ende des Lassos, und als ich daran zog, heulte Krake noch jämmerlicher.
Krake saß fest.
Wie aber?!
Verschüttet war er nicht, sonst hätte er nicht derart deutlich sich melden können.
Nur eins konnte geschehen sein: Daß den vielleicht verlassenen Bau – die Hauptröhre war auffallend weit – ein Wolf als Standquartier erwählt und daß dieser Wolf sich in Krakes Fell verbissen hatte.
Das war eine böse Geschichte.
Ich warf mich vor der Röhre lang hin und schob den Kopf hinein.
Krake witterte mich und winselte nur noch.
Mit den Händen befühlte ich die Röhre, suchte sie zu erweitern, kratzte den Sand weg, schob ihn nach rückwärts, und … stieß mit den Fingern an ein Brett, fühlte nochmals, wühlte nochmals, und hatte in kurzem den sehr schlau über den mit Brettern ausgelegten Stollen gebreiteten Sand entfernt, konnte nun weiterkriechen, hatte die Taschenlampe eingeschaltet und sah mich nach zwei Metern bereits in einem äußerst wohnlichen Höhlengemach dem armen Krake gegenüber, der mit dem rechten Vorderlauf in einem Tellereisen (Schnappeisen) hing.
Er hatte noch Glück gehabt. Das Eisen hätte den Knochen wohl glatt durchschlagen, wenn es ihn senkrecht getroffen hätte, der Vorderlauf war jedoch schräg eingeklemmt, und außer einigen Hautfetzen und etwas Blutverlust war Füchslein Krake noch recht glimpflich weggekommen.
Nachdem ich das Tier rasch befreit hatte, schaute ich mich in diesem sonderbaren Versteck genauer um. Die Wände, der Fußboden und die Decke waren durch festes Geflecht dicker Kiefernäste und junger Stämmchen sauber abgestützt oder gedielt, die Einrichtungsgegenstände waren sämtlich aus rohen Kistenbrettern gefertigt: Ein Tisch, ein Stuhl, ein flaches Bett, ein Wandschrank und ein Wandbrett, auf dem Haufen von Zeitungen und einige Bücher lagen.
Am erstaunlichsten an dieser Wohnung eines menschlichen Präriehundes war ein eiserner Ofen mit Blechrauchfang, dazu Kessel, Pfanne, Geschirr und Holzvorräte.
In der Mitte der Höhlendecke hing an einem Eisendraht eine große Stallaterne mit Petroleumbrenner. Um die Batterie meiner Taschenlampe zu schonen, zündete ich die Laterne an und ging nun auf weitere Entdeckungen aus. Es gab hier wirklich allerlei zu entdecken, und schon das Wandbrett brachte mich auf eine ganz bestimmte Fährte.
In einem der Bücher (es war der Roman von Zane Grey „Der eiserne Weg“) las ich in kraftvollen Zügen innen auf dem ersten Blatt:
All Mac Austin,
Winnemucca.
Konnte denn das stimmen?! Sollte denn der Polizeisergeant hier einen Unterschlupf errichtet haben, falls er einmal gezwungen war, wochenlang in der Wüste die Spur entflohener Verbrecher zu verfolgen?!
Die anderen Bücher trugen nicht den Namen des Besitzers, das eine war eine genaue Geschichte der Entstehung des Staates Nevada und seiner Hauptorte von Thomas O. Bryll, Carson City, 1920, – also neueren Datums.
Die Zeitungen wieder stammten aus Reno, Carson City und dem Bergwerkstädtchen Eureka und reichten über einen Zeitraum von drei Jahren zurück, die jüngste war vom 2. August dieses Jahres.
Dann kam der Wandschrank an die Reihe.
Inhalt: Eine alte Vorderladerbüchse, zweiläufig, gut im Stande, dazu Kugeln, ein Blechfäßchen Pulver, Zündhütchen und mehrere abgetragene Kleidungsstücke sowie verschiedenes Handwerkszeug und ein alter Ledersattel nebst Zaumzeug.
Sehr genau suchte ich in den Taschen des Lederanzuges und des Pelzrockes aus Wolfsfellen. Aber ich fand nichts, gar nichts.
Nun wandte ich mich dem eisernen, kleinen Kochofen zu. Oben auf den Ringen stand ein Aluminiumtopf mit Deckel.
Ich wollte den Deckel emporheben … Meine Hand fuhr zurück, der Deckelgriff war warm!!
Warm!!
Also war der Topf noch vor kurzem benutzt worden.
Ich befühlte den Ofen.
Der war kalt.
Dann erst hob ich den Deckel ab: Leer und sauber der Topf, aber meine Nase verriet mir, daß man darin Tee gekocht hatte!
Tee …!! Und All Mac Austin hatte draußen am Rande der Mulde keine fünfhundert Meter von hier entfernt Tee getrunken, als er mich so freundlich einlud, dicht vor ihm Platz zu nehmen!!
Gab es da überhaupt noch einen Zweifel?!
Nur Austin konnte zeitweise diesen Schlupfwinkel benutzen, nur er konnte ihn auch hergestellt haben!
Immerhin ein merkwürdiger Heiliger, dieser All Mac Austin! Ein Beamter mit stark romantischem Einschlag …
Überhaupt: Der Mann hatte mir recht gut gefallen, – der war nicht nur „Schablone“, der hatte seine besondere Eigenart, ohne mit Originalität irgendwie brillieren zu wollen.
Sinnend stand ich noch immer neben dem Ofen dicht an der so fein versteckt gewesenen Hauptröhre dieses seltsamen Präriehundhügels. Füchslein Krake war derweil ungeniert auf das mit Wolldecken belegte Lager gesprungen und leckte eifrig seine verletzte Pfote. Das war auch für ihn vorläufig die beste Kur. Nachher wollte ich ihm die Wunde schon sorgfältig verbinden.
Allzu nachdenklich hatte mich diese Erdwohnung gestimmt …
Erst Freund Krakes ruckartiges Hochfahren warnte mich.
Ich schnellte herum, – ich entging so gerade noch dem heimtückischen Messerstoß, den ein in dem Stollen liegender Kerl mit gelbbraunem, länglichen Gesicht, schwarzem Hängeschnurrbart und vorstehenden, übergroßen oberen Schneidezähnen mit voller Kraft nach mir geführt hatte.
Ich sah dieses Gesicht, halb überschattet von einem Schlapphut mit Kinnriemen, nur wenige Sekunden, da der feige Angreifer blitzschnell zurückwich.
Ich vergaß es nie, dieses Gesicht, zumal ich es bereits kannte.
Meine schlanke, aschblonde Dagmar trug freilich kein Bild ihres verbrecherischen Gatten Bennett Hollerfrey bei sich, aber der kleine Jangse besaß eine gute Photographie dieses erbärmlichen Wichts und – kennzeichnend für ihn – hatte diesem Bilde unterhalb des Halses ein paar tüchtige Messerstiche versetzt.
Bennett Hollerfrey war nicht zu verkennen. Diese schlaffen, fahlen Züge mit den müden Augen und dem zynischen Lächeln um den schnurrbartumrahmten Raubtiermund prägten sich jedem ein. Es lag ein Etwas in diesem Gesicht, das gleichzeitig abstieß und anzog, das Widerwillen erregte und doch auch Interesse erweckte. Es war das Gesicht eines völlig skrupellosen Genußmenschen.
Bevor ich irgend etwas gegen den Flüchtling, den ich niemals hier in Nevada vermutet hätte (auch Dagmar glaubte ihn in New York[6], unternahm, löschte ich erst einmal sehr rasch die Laterne aus, um nicht etwa von draußen niedergeknallt zu werden.
Dann schaute ich vorsichtig durch den Stollen ins Freie.
Die Dunkelheit draußen war doch bereits durch den ersten helleren Schimmer des nahenden Tages so weit gemildert, daß ich genau all die Dinge mit den Augen erfassen konnte, die innerhalb des immerhin eng begrenzten Gesichtsfeldes lagen.
Von Bennett Hollerfrey war nichts mehr zu sehen. Ich glaubte auch nicht recht daran, daß er es wagen würde, nach dem mißglückten Anschlag in der Nähe zu bleiben. Hätte er Begleiter gehabt, würde er wohl von vornherein anders gegen mich vorgegangen sein. Zumindest waren diese Begleiter nicht in nächster Nähe, und noch ein anderer Umstand gab mir zu denken und erhöhte mein Sicherheitsgefühl: Hollerfrey hatte offenbar nicht gewagt, eine Schußwaffe gegen mich zu benutzen, er fühlte sich also selbst halb und halb bedroht, vielleicht durch die Anwesenheit des alten Chinesen oder durch die Nähe unseres Lagers.
Trotzdem schickte ich zuerst Füchslein Krake am Lasso ins Freie und folgte erst, als das kluge Tier durch nichts die Nähe eines Fremden verriet. Dann aber trieb mich die Angst um Dagmar in wildem Lauf, der Freund Krake in meinen Armen erspart blieb, unserem Felsenversteck zu, und so atemlos und so unerwartet langte ich neben dem nur noch schwach brennenden Feuer an, daß ich Koipato und Jangse bei eifriger, leiser Unterhaltung überraschte.
Der Schoschone merkte sofort, daß etwas Besonderes vorgefallen sein müßte.
Mit demselben finsteren Gesicht und glühenden Blick, die seine Erscheinung so unheimlich machten, fragte er schroff und fast befehlend:
„Was ist geschehen, Mr. Abelsen?! Rasch, – – müssen wir aufbrechen?!“
Wir?!
Er rechnete sich also doch vollkommen zu uns. Wenn mir der alte Lipu Schang nicht vorhin so aufrichtig versichert hätte, man dürfe Koipato volles Vertrauen schenken, würde ich dies jetzt wohl kaum getan haben. Der Schoschone war ja zweifellos eine kraftvolle, männliche Persönlichkeit, aber das düstere, fast Grausame und Mitleidlose seiner Züge und ein gewisses, vielleicht ungewolltes Prunken mit der strotzenden Fülle seiner Muskeln und seines für eine so ebenmäßige Gestalt fast gewaltigen Brustkorbes konnten niemals jene frohe, ungezwungene Zuneigung wecken, die ich einst für die beiden mir besonders wertvollen Freunde aus der indianischen Rasse empfunden hatte: Für Coy Cala, den Araukaner, und für Taskamore, den Siouxnachkommen.
„Wir müssen aufbrechen …“ Ich faßte mich ebenso kurz. „Lipu Schang warnte mich … Nehmen Sie Ihren Rappen, Koipato, und bewachen Sie draußen den Eingang.“
„Lipu Schang?!“ – Es war nicht der Schoschone, der dies rief. Der kleine, sehnige Jangse starrte mich ungläubig an.
„Ja, Lipu … – Sattele die Pferde … Rede nicht viel!“
Koipato war schon verschwunden. Ihm hatten ein paar Griffe genügt, Sattelzeug und anderes vom Boden aufzunehmen – sein prächtiges Pferd folgte ihm von selbst.
Dagmar war wach. Sie trat hinter ihrer Schutzwand hervor und bewies zu meiner Freude eine Ruhe und Selbstbeherrschung, die so manche andere Frau kaum aufgebracht hätte. Ich unterließ es absichtlich, ihr von meiner Begegnung mit ihrem Gatten zu erzählen, erwähnte auch ebensowenig den etwas geheimnisvollen Sergeanten All Mac Austin und beschränkte mich nur auf die Mitteilung, wo ich Lipu Schang getroffen hätte und daß Freund Krake durch ein niederfallendes Felsstück verletzt worden sei.
In wenigen Minuten konnten wir aufbrechen. Als wir zwischen den Felsblöcken hindurch ins Freie ritten, fanden wir den Schoschonen hinter einigen Sträuchern nach Nordwesten zu, er saß im Sattel, hatte sich jedoch tief herabgebeugt und winkte uns sehr herrisch zu, abzusteigen und die Pferde beim Zügel zu nehmen.
Die nächtliche Dunkelheit war derweil jenem Zwielicht gewichen, das in den Sommermonaten so rasch in die kalte, klare Helligkeit kurz vor Sonnenaufgang übergeht.
Die Wüste war weithin zu überblicken.
Sie schien menschenleer, tot, grausam in ihrer Unfruchtbarkeit und in den harten Übergängen von helleren Sandstrichen zu schwarzen Felspartien.
Es war derselbe Wüstencharakter, den auch die berüchtigte Mojave-Wüste in Südkalifornien zeigt, nur daß dort infolge der Nähe des Stillen Ozeans bereits phantastischere, tropische Pflanzenarten die herbe Leere mit helleren Farben beleben: Kakteen aller Art bis zum baumartigen Riesenkaktus, Palmen und Dattelbäume.
Wir hielten neben dem Schoschonen.
„Die Wildnis lebt“, sagte er hart und unfreundlich. „Die Wildnis ist keine Reitbahn in einer großen Stadt …“
Der Vorwurf war an meine Adresse gerichtet. – Ob er zutraf?! – Was wußte Koipato von mir? Nichts, so gut wie nichts. Wie sollte er auch?! Er mußte mich für ein Greenhorn, für einen blutigen Neuling in derlei Abenteuern halten. Wir hatten bisher kaum eine handvoll Worte miteinander gewechselt.
Seine dunklen Augen hatten mein Gesicht nur flüchtig gestreift und wandten sich wieder gen Süden.
Ich hatte das Fernglas schon bereit, ich bemerkte das Auto, das sich dort weit, weit jenseits der fünf Eichen durch die pfadlose Wildnis schlängelte. Es war das einzige, das ich wahrnahm.
„Es ist Lipu Schang“, meinte auch ich nicht gerade sehr liebenswürdigen Tones.
Dann prüfte ich die anderen Himmelsrichtungen, schob das Glas in das Futteral und half Dagmar in den Sattel, deren Mienenspiel deutlich verriet, wie unsympathisch ihr der Schoschone und sein geradezu herausforderndes Verhalten war.
Auch Jangse stieg auf, sein übler Klepper bockte, und um ein Haar wäre der brave Bengel in dem dichten Gestrüpp gelandet.
Koipato ritt voraus, bog sofort in eine Senkung ein, die uns am Rande eines Salzsumpfes, aus dessen Mitte ein paar heiße Quellen zischend meterhoch emporschossen, mehrere Meilen weit gen Westen entlangführte. Nach einer halben Stunde zog ich des alten Lipu Schang Wegkarte zu Rate. Auch der Sumpf war darauf durch Striche angedeutet, und die dick punktierte Linie, die wir einhalten sollten, bog jetzt auf einer endlosen Hochebene, die nicht einmal Wachholdersträucher gedeihen ließ, wieder nach Nordost ab. Als Kennzeichen, wo wir die Richtung ändern sollten, waren drei größere Kiefern vermerkt, von denen die mittlere vom Sturm geköpft war.
Ich war gespannt, ob Koipato, der dauernd etwa fünfzig Meter vor uns blieb, bei diesen Bäumen nach rechts abschwenken würde.
Er tat es.
Dies konnte kein Zufall sein. Der Schoschone kannte den Weg zu dem fernen Versteck, das vorläufig unser Reiseziel bilden sollte, genau so gut wie der greise Chinese – oder umgekehrt: Lipu Schang kannte den Weg durch Koipato, – dies war wohl das wahrscheinlichere.
Vor uns lag nun einer der ödesten, kläglichsten Wüstenstriche ganz Nevadas, – eine flache Tenne mit wenigen Sand- oder Felsenhügeln von geringer Höhe.
Und doch hatte gerade diese trostlose Einöde auch ihre schwer zu schildernden Reize. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, und das Farbenspiel der hellen Sandflächen, der grauen Geröllpartien und der schwarzen, kahlen Felsen wirkte deshalb wie ein buntes Schachbrett, weil der Sand, in seiner Farbigkeit noch nicht durch die Sonnenbestrahlung beeinträchtigt, klar und scharf seine verschiedenartige Zusammensetzung aus verwitterten Gesteinen zeigte: Hellgrau, gelb, braunrot und rötlich.
Und dann der Horizont, der noch in Dunst gehüllt war: Eine verschwommene Linie, die in ihren höchsten Spitzen dieser Dunstwolken bereits feurig aufglühte unter den Strahlen des Tagesgestirns, das uns selbst noch verdeckt war.
Wie feinste rosige Schleier zog sich diese Dunstschicht in der Ferne entlang, schmolz zusammen, war schließlich nur noch ein schmaler Nebelstreifen, dessen obere Kante wie ein Transparent schimmerte.
Koipato hatte seinen Rappen mit einem scharfen Pfiff zum Stehen gebracht.
In demselben Augenblick bemerkten auch wir … den Reiter am Himmel.
Zum ersten Male sah ich, wenn auch unter anderen Umständen, ein Bild wieder, das mich schon in meinen Jugendtagen wie etwas Überirdisches gefesselt hatte …
Dagmar, dicht neben mir, stieß einen seltsamen, schrillen Schrei aus.
Ihr Gesicht war bleich, die Augen übergroß, – ihre Hand umkrallte meinen Ärmel.
„Olaf, – – das also ist er!!“
Sie war wie versteinert, ihre Stimme klang ganz fremd, ihre Hand zitterte, aber ihr Blick verfolgte unverwandt die Gestalt des Himmelsreiters, des Mannes im Dromedarsattel.
… Reiter am Himmel …
Es traf schon zu: Er schien am Himmel dahinzutraben, denn die klare Wüstenluft und der Dunststreifen am Horizont riefen hier dieselbe Sehtäuschung hervor, die man morgens bei windstillem Wetter vom Meeresstrande aus ähnlich beobachten kann. Dann scheinen Dampfer und Segler, die am Horizont ihre Bahn ziehen, ebenfalls in der Luft zu schweben, hoch über der Meeresfläche.
Hier dieselbe Täuschung, wie ich sofort erkannte: Der Dromedarreiter trabte in schärfstem Tempo von Südost nach Nordwest, war also für uns von rechts aufgetaucht und jagte am Himmel dahin wie ein unirdisches Wesen auf unirdischem Reittier.
Die Umrisse von Mann und Tier waren bald verschleiert, bald scharf umrissen, – leider hatte mich die Erscheinung so stark gefesselt, daß ich zu spät das Fernglas hervornahm …
Der Reiter am Himmel verschwand nach vielleicht acht Minuten, indem Dromedar und Reiter sich in Nichts aufzulösen schienen … Der Reiter war eben ganz plötzlich nach rechts abgebogen und in einer Senkung untergetaucht.
Dagmars Hände lösten sich von meinem Ärmel.
Wohl halb unbewußt murmelte sie nochmals:
„Also – – das war er!“
Er?!
… Ich habe allzeit vorzügliche Augen gehabt.
Der Mann dort hoch zu Dromedar war meiner festen Überzeugung nach Bennett Hollerfrey!
– Koipato wandte sich langsam im Sattel um.
Unter dem Hutrand blitzten seine Augen wie glühende Kohlen.
„Unendlich oft sah ich ihn so“, rief er uns mit eigentümlich heiserer Stimme zu. „Die Narren dort in den Städten glauben, er sei nur eine müßige Erfindung … Obwohl es Tollkühne gab, die ihn sogar photographierten und noch Tollkühnere, die ihn zum Mittelpunkt eines albernen Films machen wollten und versuchten, einen zweiten Reiter an den Himmel zu zaubern, einen ihrer sogenannten Künstler … Mit Autos und Dromedaren rückten sie an, – ihnen gelang es nie, dieses Spukbild zur rechten Zeit und unter den richtigen Bedingungen auftauchen zu lassen, dazu muß man die Wüste und ihre Eigentümlichkeiten kennen … wie er, wie …“
… Ein schrilles Auflachen, und der Schoschone trabte weiter.
Ich schaute Dagmar an. Ein paar Tränen rannen ihr über die farblosen Wangen.
„Olaf, es hat mich bis ins Innerste erschüttert“, flüsterte sie mit schwerer Stimme. „Und dazu dieses häßliche Lachen Koipatos, der mir geradezu unheimlich als Mensch ist …“
Jangse war mit völlig nichtssagendem Gesicht Zeuge dieser Szene. Er blickte mit einer gekünstelt gleichgültigen Miene dem Schoschonen nach und zeigte auch nicht das geringste Interesse für seiner Herrin mir unverständlichen Schmerz.
Ich wollte Dagmar etwas fragen, nur eine einzige, kleine Frage: Ob Bennett Hollerfrey wirklich der Reiter am Himmel gewesen sei. – Hätte sie die Frage bejaht, dann wäre ich in all diesen Unklarheiten wenigstens einen kleinen Schritt vorwärts gekommen.
Ich fragte nichts. Es wäre lieblos gewesen, sie in dieser verzweifelten Stimmung auch nur durch Neugier zu belästigen. Ich wollte mich nicht eindrängen in ihr Vertrauen, – nur die freiwillige Gabe hätte für mich Wert gehabt.
Ich schwieg.
Wie sie …
Und schweigend ritten wir Koipato nach, der bereits weiter voraus war und scheinbar schlaff und nachlässig im Sattel hing. Jangse folgte uns mit Füchslein Krake am Lasso, Krake hinkte etwas, aber die Hautschramme war zu unbedeutend, ihn wesentlich zu stören, und seine blanken Lichter gierten immer wieder nach den Präriehügeln hinüber, an denen wir vorüberkamen.
Die Sonne schien, und als sie erst ihr grelles Licht mit einiger Kraft über die öde Wildnis streute, verschwand vieles von den farbenfrohen Reizen des unfruchtbaren Schachbrettbodens, während als Ersatz andere Schönheiten lebendig wurden: Ein Fernblick, der uns nach jeder Richtung Neues bot, der uns im Westen jenseits der Südecke des riesigen Humboldt-Sees die Schneehäupter der Sierra Nevada enthüllte, im Osten einen grünen, vegetationsreichen Hochlandstrich, durch den sich der Humboldtfluß hindurchschlängelte, nach Nord und Süd aber nur das unendliche Sand- und Steinmeer der Wüste mit eingestreuten kahlen Kuppen und zackigen Bergspitzen.
Koipato, der Jäger, hielt sich auch weiterhin von uns fern. Einsam trabte er vor uns dahin, für nichts schienen sein Auge und Ohr empfänglich, der helle Schrei des kreisenden Bergadlers ließ ihn genau so unberührt wie der durchdringende Pfiff eines anderen hellbraunen Raubvogels, der kaum dreihundert Meter vor uns wie ein Geschoß herabsauste und mit einem Junghasen in den Fängen träge wieder emporstieg und gen Westen davonstrich.
Nach einer halben Stunde, so berechnete ich mir, mußten wir etwa den Weg des Reiters am Himmel kreuzen.
Das Gelände stieg etwas an, wurde steinig, nackter Fels trat zu Tage, und meine Hoffnung, etwa die Fährte des Dromedarreiters entdecken zu können, zerrann angesichts dieses harten Bodens in nichts.
Ich nahm des alten Lipu Schangs Wegkarte zur Hand und prüfte mit Hilfe des Kompasses, ob Koipato als Führer immer noch die uns vorgeschriebene Richtung einhielte. Jenseits dieser unendlichen, grauenhaft öden Tenne mußte die bewußte Ranch liegen, die wir zu vermeiden hatten. Auf der Skizze waren wieder zwei einzelne Felszacken als Merkmal eingezeichnet, wo wir, diesmal nach Osten hin, in größerem Bogen ausweichen sollten. Bisher war der finstere Schoschone genau auf der punktierten Linie Lipu Schangs geblieben.
Es wurde immer heißer. Die völlige Windstille ließ über dem Boden jene Schicht flimmernder Luft entstehen, die den Eindruck, man ritte über einen riesigen, flachen, geheizten Backofen hin, nur noch verstärkte.
Müde trabten die Pferde, unlustig, fast gereizt in ihrem Widerwillen gegen diese Pein der erbarmungslosen Sonnenstrahlen. Schweigsam wir Menschen, jeder den eigenen Gedanken nachhängend, die wahrlich bunt genug sein mußten. Bei mir waren sie es bestimmt, ich kam nicht los von all den Fragen, die immer wieder mich überfielen und überfallen mußten, denn dort vor mir ritt ein Mann, der wie ich ein Heimatloser war, und um den sich förmliche Sagenkreise häuften, die ihn einmal zum selbstlosen Helden, dann wieder zum frechen Wegelagerer und Erpresser machten. Nur über eins waren sich diese Gerüchte einig: Daß Koipatos wilde Tapferkeit über jeden Zweifel erhaben war, daß er viele Landstriche von Wolfsrudeln gesäubert hatte, und daß seine sogenannten Verbrechen nur darin bestanden, von den Viehzüchtern noch ein extra Kopfgeld für jedes erlegte Raubtier einzuziehen, dies freilich oft unter Drohungen, falls die reichen Farmerherren mit ihren Luxusautos ahnungslos nach Reno oder Carson City für ein paar vergnügte Tage unterwegs waren. Dann sollte es diesen Geizkragen (viele waren es nicht, die anständigen Farmer zahlten freiwillig) oft genug widerfahren sein, daß urplötzlich hinter einer dicken Wachholderwand am Wege der finstere Koipato hervorsprengte und – in dem Punkte ein grimmer Witzbold – mit erhobener Büchse um einen Schluck „echter“ Limonade bat … Und da die „echte“ Limonade, sonst Whisky oder Brandy oder Feuerwasser genannt, nun einmal in der ganzen Union verboten ist, und da die berühmten flachen Hüfttaschen mit „Echtem“ in Nevada, Utah und Dakota ansehnliche Größe besitzen und der Strafrichter dem derart Bewaffneten Gefängnis zudiktieren muß, sollten es die Herrschaften stets vorziehen, sich mit einigen Dollars loszukaufen … Auf die Art zog Koipato seine Belohnung für die Raubtiervertilgung ein.
… Abermals mochte eine Viertelstunde verstrichen sein. Noch war kein Ende dieses glühenden Hochplateaus abzusehen.
Wieder brachte da der Schoschone seinen Rappen durch den zischenden Pfiff zum Stehen.
Ich hatte nur darauf gewartet.
Die gelbe Wolke, die sich vorhin im Norden mit überraschender Schnelligkeit über die Horizontlinie geschoben und dann nach allen Seiten seltsame hauchdünne Strahlen wie gelbliche Rauchstreifen ausgeschickt hatte, erinnerte mich zu eindringlich an ähnliche Erscheinungen in anderen Weltgegenden.
Ich hielt neben dem Schoschonen, der die harten, scharfen Augen unverwandt auf jenes Gewölk gerichtet hatte.
„Black Blizzard“, sagte er nur …
Wenn ich mir nicht vorhin in der Erdhöhle des menschlichen Präriehundes etwas eigenmächtig jenes Werk über Nevada in die Tasche gesteckt und nicht jetzt unterwegs zuweilen darin geblättert hätte, würde ich diese Bezeichnung „Black Blizzard“ nicht verstanden haben.
Mit Blizzard bezeichnet man gewöhnlich jene winterlichen, tagelangen Orkane, die, verbunden mit eisiger Kälte, in den sogenannten Präriestaaten unendliche Verheerungen anrichten.
Black Blizzard, schwarzer Blizzard, ist ein Staubsturm, nicht weniger gefürchtet als der „White Blizzard“, der weiße Schneeorkan.
„Gefahr?“, frage ich den Schoschonen leise.
Ein seltsamer Blick traf mich.
„Sie dürfen nicht vergessen, daß der Staub und Sand dieser Wüsten überall mit Natronsalzen durchsetzt ist …“, meinte er sehr ernst, und ein Zug von Besorgnis trat in sein verschlossenes Gesicht. „Kein Tier, kein Mensch kann diesen Staub atmen. Ich hatte gehofft, die Wolke würde sich nach Osten wenden. Wir müssen dorthin ausweichen …“, er winkte nach Westen, „obwohl die Mormonenranch uns dann allzu nahe ist. – Galopp …!!“
Galopp?!
Gewiß, Dagmar hielt sich prächtig im Sattel, aber der arme Jangse?!
Und die Felsen dort im Westen, zwischen denen der Schoschone wohl Schutz zu finden hoffte, waren noch so unendlich fern.
Jangse hing wie eine Zecke auf seinem Schinder, die sich am Hals des Gaules festsaugen wollte. Der arme Bengel hatte den Hals des bockbeinigen Pferdes innigst umklammert, sein schweißtriefendes Gesicht verschwand unter der flatternden Mähne, und sein Stöhnen und Ächzen mischte sich in den Hufschlag und in das dumpfe Brausen, das von rechts her aus der finsteren Wand, die jetzt über die Wüste eilte, immer schriller werdend herüberklang.
Koipato mußte seinen Rappen immer wieder zurückhalten, um uns nicht zu verlieren. Er hätte sich in kurzem in Sicherheit bringen können, und auch mein Brauner bewies jetzt, daß er weit mehr leistete, als ich vermutet hätte. Dabei hatte ich noch Füchslein Krake im Arm, gab auch stets auf Dagmar acht, denn der rissige Boden, die häufigen feinen Sandwehen und die Erdlöcher der großen Feldmäuse brachten ihr Tier mehr als einmal zum Stolpern.
Eine drückende, qualvolle Schwüle lastete über uns, man fühlte das Unwetter in allen Nerven, klebriger Schweiß bedeckte die ganze Haut, mein Herz hämmerte wie unter dem Einfluß unerhörter Anstrengungen, und der Atem kam nur keuchend und stoßweise aus der beengten Brust. Den Pferden erging es nicht anders. Weißliche Schweißflecken bildeten sich am Halse, mit jedem Sprung fast wurden sie unsicherer, man spürte ihre Angst, – ihr Instinkt warnte sie, und immer aufs neue versuchten sie nach Süden auszubrechen.
Das schrille Brausen steigerte sich zum pfeifenden Heulen, – die endlose Wand von Sand und Staub schien grauschwarz, war wie ein Granitblock, der auf kurzen, granitenen Füßen über die Erde raste.
Raste – nicht eilte …
Man hat die Stundengeschwindigkeit eines Blizzard mit 180 Kilometer angegeben, – was ich hier beobachtete, entsprach diesen Messungen vollkommen.
Felspartien, die soeben noch im klaren Sonnenschein scheinbar weit ab von der unheimlichen Wand entfernt gewesen, verschwanden im Nu, – und ich sah mit zusammengebissenen Zähnen endlich das Zwecklose dieser Flucht vor dem Verhängnis ein …
„Koipato, – – dort die Präriehundsiedlung, – – Koipato, – – halt!!“
Und wenn ich eine Stimme wie ein Riesenlautsprecher gehabt hätte: Die Stimme des Blizzard war die eines Giganten, und ich nur ein Menschlein, ein Nichts gegenüber den entfesselten Naturgewalten.
Dann hatten die östlichen Ausläufer des Stauborkanes die Sonne erreicht.
Ein grauschwarzes Tuch legte sich vor die Quelle des Lichtes, und in Sekunden war es finster wie in einem Keller, in dem heulende Dämonen sich bekämpften.
Ich konnte gerade noch Dagmars Pferd zurückreißen, – mein Brauner stand von selbst, – wir befanden uns inmitten der ausgedehnten Präriehundsiedlung, ich sprang ab, ich warf Dagmar flach auf den Boden, ich konnte hier nicht zart und geduldig mit meiner Gefährtin umgehen, ich zwang die Pferde in die Knie, sie legten die Köpfe freiwillig in den Sand, – – die Wolldecken herunter, die Ecken mit Steinen belastet, – – und dann kauerten zwei Menschen, drei Tiere hinter einer der Präriehundbauten, über sich die Wolldecken – im Finstern, fühlten sich nur, sahen sich nicht …
„Festhalten, die Decken!“, brüllte ich…
Und dann brach es auch schon über uns herein wie der Schlag mit einer weichen Keule …
Sand, Staub, Steine belasteten unser Zelt,– das Heulen draußen ward zur infernalischen Musik, – – Zentner bedrückten uns, die Lungen rangen nach Luft, die Decken schmiegten sich in dicken Falten an unsere Leiber, immer schwerer wurde die Last, immer knapper der Sauerstoff …
Regungslos lagen die Pferde …
Regungslos auch wir …
Füchslein Krake war dicht vor mir, seine Rute kitzelte mein Gesicht, – – und über uns hinweg zog der schwarze Staubsturm, eine Armee von Teufeln, schlimmer als König Etzels Hunnenscharen, lärmender als ein wahnwitziger Chor von unerlösten Geistern …
„… Olaf, ich ersticke …!“
Eine neue Sandlast preßte mich nieder …
Dagmars Stimme war so seltsam deutlich …
Hatte der Blizzard bereits sein Wüten eingestellt, war er vorübergezogen?!
„… Olaf, ich ersticke …!“
Und dann links von mir ein überlautes Prusten, Schnauben …
Mein Brauner rappelte sich hoch …
Seine Kräfte genügten, der Sand rutschte von der einen Wolldecke, – – Licht, Luft fielen in unser Staubgrab, über uns lachte die Sonne …
Und gen Süden zog die grauschwarze Mauer weiter ihres Weges …
Um uns her Sanddünen …
Von den Hügeln der Präriehundkolonie war nicht einer mehr zu sehen …
Nach Westen zu war ein förmlicher Wall aufgehäuft …
Und unter diesem Walle lagen vielleicht Koipato und der arme Bengel Jangse begraben … – Sie suchen?!
Ich war mühsam auf eine Dünenspitze gewandert, warf mich sofort wieder in den Sand.
Was ich sah, erschreckte mich nicht weniger, als der Gedanke, daß der Schoschone und Jangse unter jenen Sandbergen erstickt sein könnten …
… Wir leben hier in dem Versteck, das uns Lipu Schangs Weisheit angewiesen, wie echte Vagabunden …
Wir leben inmitten von etwa sechzig Präriehunden, die wir nie belästigen, und auf die wir jede erdenkliche Rücksicht nehmen.
Es ist ein grünes Fleckchen Erde inmitten einer endlosen Wildnis, eine Oase in der Wüste, ein Geschenk der Natur für Tier und Mensch.
Im Südteil der Kings-Berge liegt diese kleine Oase, in einem Tale, das einen einzigen Zugang hat. Die Randberge erscheinen von hier aus gesehen sehr bescheiden, wer aber von der Wüste her sich nähert, sieht sich plötzlich vor einem Gewirr steiler Schluchten, reitet vielleicht einen Halbkreis um diese Festungsgräben und wählt eine andere Richtung, denkt nur, hier gäbe es ja doch nichts zu holen …
Er irrt sich …
Der Eingeweihte findet schon den schmalen, gefährlichen Brückensteg zwischen den Abgründen, und hat er erst einmal den Engpaß hinter sich, das Tor des Tales, so erquickt sein Auge der frohe Anblick von Steineichen, Kiefern, riesigen Wachholderbüschen, Flächen von Wermutsträuchern, Wiesen von Büffelgras, Gestrüpp der Silberbeere, und in den Felsritzen die Behänge des Saftdorns.
Hier leben wir nun seit acht Tagen. Hier beweist Jangse seine Kochkünste, hier finde ich Zeit und Stimmung, all das in meinem lieben alten Tagebuch nachzuholen, was ich nachholen mußte und fast nachgeholt habe.
Zumeist sind wir nur zu vieren, Krake eingerechnet, in diesem Paradiese, – Freund und Bruder Koipato ist viel unterwegs, ist wohl ruheloser denn je.
Daß die Präriehunde hier seit langem an die Gegenwart von Menschen gewöhnt sind, merkte ich ihrem Verhalten sofort an. Nur vor Krake haben sie Angst. Im übrigen gehen sie ohne Scheu ihren täglichen Verrichtungen nach, und da sie zweifellos die ursprünglichen Entdecker und Inhaber dieses geheimen Paradieses waren, betrachten wir sie als zumindest gleichberechtigt und leben in unseren drei Erdhöhlen und inmitten dieser freundlichen Natur – – wie die Vagabunden, die einmal irgendwo Station machen und sich gründlich ausruhen.
Erdhöhlen …
Drei … Genau nach dem Muster jener anderen Höhle gefertigt, in der mich beinahe Bennett Hollerfreys Messer erwischt hätte.
Drei … Und untereinander verbunden, sogar mit Fenstern versehen, die nach der Talwand zeigen und die von Dornenranken halb verdeckt sind. Auch die Eingänge sind etwas unbequem, doch im Nu zu maskieren. Und käme ein Fremder hierher, dem wir nicht begegnen möchten, er könnte lange suchen, sehr lange. Er würde auch schleunigst wieder davongehen, denn das Paradies hatte schon in der Bibel seine Schlange, und unser Paradies kann notfalls auch beißen. –
Vagabunden …!
… Sagt Dagmar so oft … – Ich wünschte nur, ihre Stimme wäre ausgeglichener, und ihre vorsichtigen, häufigen Bitten bezögen sich nicht gerade auf den Reiter am Himmel.
… Nun ist es wieder Abend geworden.
Koipato ist seit gestern unterwegs. Wir drei anderen sitzen unter den Eichen im hohen Grase und genießen das verblassende Abendrot. Das heißt: Füchslein Krake hat für das Farbenspiel des Abends wenig Sinn und nagt an dem Hirschknochen, der noch ansehnliche Reste Fleisch aufweist.
Gerade vor uns haben wir „die Wildnis“ oder „das verbotene Land“, wie die Nordhälfte des Tales, die nur ein Gewirr von Felstrümmern darstellt, genannt wird. Dorthin darf nur der Schoschone. Dort stehen zwar gut versteckt unsere Pferde, aber ihr „Stall“ liegt ganz vorn zwischen den ersten Felsblöcken, und wenn ich die Tiere versorgt habe, mache ich sofort wieder kehrt, denn ich habe es Bruder Koipato in die Hand gelobt.
Dagmar sagt versteckt gähnend, sie sei müde vom Nichtstun. Dagmar ist in Wahrheit verärgert. Vorhin tippte sie wieder behutsam an, ob wir es nicht einmal ohne Koipato wagen könnten. – Es …!! Und das bedeutet: Die Suche nach dem Reiter am Himmel. – – Ich wußte mir keinen anderen Rat mehr, denn Dagmar wird geradezu unvernünftig mit ihrem Drängen, obwohl sie genau weiß, was auf dem Spiel steht, und ich erwidere nur: „Mormonenranch, – haben Sie die Nacht vergessen, Dagmar?!“ – Sie erschauerte, ihr Gesicht wurde steinern, und fast demütig erhob sie sich, wünschte mir gute Nacht, behielt meine Hand wie immer zwischen den Fingern und schenkte mir jenen langen, vertrauten Blick, dessen Bedeutung nur unser und Krakes Geheimnis ist. Dann ging sie, gefolgt von Jangse, der mit hängenden Schultern hinter ihr her schlurfte, und ich hatte das Tal und die noch rosig angehauchten Gipfel der Randberge und ihre silbernen Streifen der Büffelbeere, die man ihres Laubes wegen auch Silberbeere nennt, all die herbe Schönheit unserer friedlichen Kolonie emsig sich vermehrender Präriehunde ganz allein für mich … – Ich schreibe im scheidenden Licht eines Tages, der nun der siebente ist, den wir hier verbracht haben … – –
… Was ich sah, erschreckte mich nicht weniger als der Gedanke, daß der Schoschone und Jangse unter jenen Sandbergen erstickt sein könnten.
Durch die Einöde, die sich jetzt nach dem Abzuge des Schwarzen Blizzard wieder beruhigt hatte, deren Aussehen jedoch gründlich verändert war, zog eine Kette von neun Reitern, das zehnte, letzte Pferd trug nur einen in Decken gehüllten, verschnürten Ballen, war jedoch ebenfalls gesattelt.
Neun Reiter, von Nordost nach Westen im müden Schritt, – alles hagere, sehnige Gestalten, alle gekleidet wie die einfachen Farmer, die ich nicht nur aus den Straßen Renos und von den kleinen Bahnhöfen Nevadas bereits kannte. Vertrocknete, derbe Burschen, die meisten mit kurzen Vollbärten, einige auch mit grauen, würdigen Patriarchenbärten, die selbst bis zum Ledergurt ihrer Wollhemden reichten. Sie ritten dahin wie ein Leichenzug, es war keine Spannkraft in ihren mageren, muskulösen Körpern, – etwas Unheilvolles begleitete sie wie ein dräuendes Gespenst: Mein Glas zeigte mir, daß das letzte Pferd einen Toten trug.
An der Nordecke des Sandwalles machte der vorderste Halt und ließ die anderen aufrücken, sie bildeten einen engen Haufen von Pferdeleibern und wetterharten Männern, – – der Tote mit seinem Gaule hielt sich mehr zurück, und der Gaul senkt den Kopf noch tiefer. – Wie auf ein geheimes Zeichen kam plötzlich ungeheure Lebendigkeit in die stumme, schlaffe Schar, die Männer flogen aus den Sätteln, verteilten sich, kurze Pionierspaten wühlten in den Sandmassen, und ein Pferdebein wurde freigelegt, – – Koipatos edler Rappe erhob sich, taumelte etwas, sank vorn in die Knie, raffte sich abermals auf und lief einige Schritte, schnupperte, wieherte, – die Männer schaufelten dort noch eifriger, Jangses Gaul wurde aus dem Loche gezogen, dann zwei Menschen: Der Schoschone und Jangse selbst!
– Weshalb blieb ich hinter meiner Sanddüne, weshalb winkte ich sogar Dagmar eilfertig nach rückwärts zu, sich auf keinen Fall zu zeigen?!
Ein Verdacht nur, durch nichts begründet, eine flüchtige Vermutung zuerst: Ich hatte sofort an die Unbekannten gedacht, die dort im Süden bei den fünf Eichen den Schoschonen hatten langsam morden wollen. Ich hatte ja auch dort die Zahl der Reiter den Spuren nach auf neun etwa geschätzt …
Vor mir: Neun – und ein Toter!
Ich bin stets vorsichtig gewesen, ich habe Geduld gelernt, und dieses geduldige Warten trägt oft mehr gute Früchte als vorschnelle Eile.
Jangse und Koipato lagen wie tot im Sande, und die Männer bemühten sich um sie. Die Sonne schien, das Unwetter war vorüber, aber die Mienen der neun, von denen die meisten Hängeschnurrbärte trugen, die den gebräunten Gesichtern einen gewissen brutalen, verschlagenen und hinterlistig-feierlichen Zug verliehen, kamen mir düsterer vor als schwefelgelb umrandete Gewitterwolken der Tropen.
„Eine unheimliche Bande!“, dachte ich, – – und mit einem Schlage tauchte da vor mir wie eine Vision das entsprechende, ergänzende Bild auf, wie ich den Schoschonen an der Eiche ameisenübersät gefunden und wie er über seine Peiniger auch nicht ein Wort verloren hatte. – Mit solch eindrucksvoller Deutlichkeit sah ich das Bild des an die Eiche gefesselten Mannes, daß ich mein Hirn förmlich zwingen mußte, diese vielsagende Sehtäuschung wieder auszuschalten und mir lediglich die Vorgänge zu übermitteln, die sich dort vierhundert Meter vor mir abspielten.
Und als meine Augen gehorchten, als jener finstere Chor von fragwürdigen Reitern jetzt bei Seite trat und zweifellos beriet, was man mit dem aus dem Sande Herausgegrabenen anfangen sollte, als ein paar der sehnigen Kerle sich mißtrauisch umschauten und ich nicht schnell genug Kopf und Fernglas zurückziehen konnte, tauchte neben mir Fran Dagmar auf.
Auch sie lag flach im Sande, aber ihr Gesicht war zu einer Maske hellsten Entsetzens erstarrt. Hilflose Angst flammte in ihren übergroßen Augen, und die zitternden Lippen konnten nur das eine wie von tiefstem Grauen durchbebte Wort finden:
„Die Mormonen …!!“
Ich verstand sie nicht sofort.
„Haben Sie die neun da drüben gesehen, Frau Dagmar?“
Sie nickte nur.
„Und was wissen Sie von Ihnen?“
„Es sind die Todfeinde Koipatos … Ich wünschte, Jangse hätte mich nicht erst in der letzten Stunde darüber aufgeklärt … Der Schoschone hat Jangse dies für alle Fälle anvertraut, und … doch begreife ich nicht alles, Olaf, – nein, – – ich … ich möchte so gerne offen zu Ihnen reden, aber ich darf nicht, es handelt sich dabei auch um den Reiter am Himmel und …“
Ihre Nerven versagten. Wie ein verängstigtes Kind umklammerte sie mich, … verbarg ihren Kopf …
„Olaf, – das ist ja das Entsetzliche: Mein Mann ist ebenfalls Mormone, und …“
Ihr bitterliches Schluchzen brach jäh ab, als ich sie recht zartfühlend fragte:
„Ist Bennett Hollerfrey der Reiter am Himmel?!“
Sie bog schnell den Kopf zurück.
„Wie kommen Sie nur auf den Gedanken, Olaf?! Nein, nein, – – wenn Hollerfrey jemand zu fürchten hat, dann ist es gerade der Dromedarreiter! Deshalb wird er sich auch persönlich nie nach Nevada wagen, deshalb hetzte er seine Kreaturen hinter uns her …“
Ich konnte jetzt nicht länger darüber schweigen, daß sie sich in diesem Punkte schwer irrte.
Es war eine rein brüderlich, schützende Bewegung, als ich sie halb an mich zog und ihr behutsam die Wahrheit beibrachte: Wie ich die Sandhöhle durch Freund Krakes unerlaubte Jagdgelüste gefunden hatte, wie Bennett Hollerfrey einen heimtückischen Messerstich anzubringen versuchte … „Er war es bestimmt, Dagmar, ein Irrtum ist ganz ausgeschlossen, Jangse hat mir seine Photographie gezeigt, und mein Gedächtnis für Gesichtszüge ist vortrefflich.“
Ich hatte von diesen Eröffnungen eine ganz andere Wirkung vermutet, – der erleichterte Seufzer, mit dem die vielgeprüfte Frau ihren Kopf an meine Schulter bettete, überraschte mich, noch mehr die leisen Worte:
„Dann … lebt er nicht mehr lange …! Vielleicht …“
Sie stockte jäh, richtete sich kerzengerade auf, wurde sehr bleich, starrte mich fragend an und hauchte atemlos:
„Olaf, … das zehnte Pferd mit dem Bündel. Olaf, seien Sie ehrlich: Es ist ein Toter in die Decken gewickelt … Sie vermuten das ebenfalls, Olaf …“
„Ja!“
Ihr Kopf sank nach vorn.
„Dann … bin ich … frei, Olaf … – Hollerfrey ist tot. Ich weiß es, ich fühle es … – Frei!! Ich danke dir, Reiter am Himmel, du gabst mir die Freiheit zurück …! Ich versündige mich nicht durch diesen Dank, denn Bennett Hollerfrey war einer der ärgsten Schurken, den je diese Stadt der Fanatiker am Großen Salzsee ausgebrütet hat! Meinen Vater hat er auf dem Gewissen, meinen Bruder stempelte er zum Verbrecher, mich suchte er zu ermorden, – Sie wissen am besten, Olaf, daß er kein Mittel scheute!“
Sie hatte wieder nach meinen Händen getastet, sie hatte mich klar und offen angeschaut. „Olaf, versündige ich mich, daß ich mich freue, frei zu sein von diesen kläglichen, widerlichen Fesseln?! Versündige ich mich?! Denken Sie an das Wrack, an den Riesentintenfisch, an die Jacht Manhattan, an …“
„Wollen Sie sich verteidigen, Dagmar, wo jedes Wort überflüssig ist?!“
Und wieder nahm ich sie in die Arme, – und Füchslein Krake war Zeuge, daß Dagmar mich küßte.
Füchslein Krake, angeseilt zwischen den Pferden zwischen den verwehten Hügeln der Präriehundkolonie, hatte sich vorwärtsgearbeitet, lugte über die tiefere Düne, und seine funkelnden Augen, seine spitze, schnüffelnde Schnauze brachten mich aus einem Traumland in die Gegenwart zurück.
Wie unverantwortlich leichtsinnig von mir!!
Keine vierhundert Meter gen Nordwest hielten neun Kerle, die den Schoschonen haßten, Kriegsrat – oder berieten vielleicht einen Urteilsspruch. Und ich?! – – „Dagmar, verzeihe, – – die Pflicht!“ Und ich schob mich höher, lugte hinüber, sah nach Norden zu gerade noch die Linie von elf Reitern über den Rand eines Hügels in die Tiefe tauchen.
– Verfolgung damals … Unvergeßlich so manche Momente aus diesen vier Stunden, die wir uns mit dem Reiterzuge stets auf einer Höhe hielten, – in denen wir all die Listen und Schliche anwandten, ihnen so nahe zu bleiben, daß wir noch rechtzeitig eingreifen könnten, falls die neun Finsterlinge es wagen sollten, ihre Gefangenen etwa niederzuschießen und samt den Pferden in einem der Salztümpel verschwinden zu lassen.
Das Landschaftsbild hatte sich geändert. Die Strecken völlig toter Wüste lagen hinter uns, durch Hügel und über kleine Plateaus ging es immer gen Norden, bis vor uns ein Tal sich öffnete, Steinhäuser auftauchten, weidende Herden, sehr viel Schafe darunter.
„Die Mormonenranch“, flüsterte Dagmar enttäuscht. „Und ob wir Koipato und Jangse wiedersehen werden, wenn sie erst einmal …“
… Und schwieg …
Ihren Lippen entschlüpfte ein Schrei, – – und auch ich hatte alle Mühe, meine Erregung zu meistern.
… Wir sahen den Reiter am Himmel zum zweiten Male … Aber unter gänzlich veränderten Umständen.
Dagmar und ich hielten zu Pferde in einer dichten Gruppe von Wacholderstauden. Vor uns senkte sich der Boden, weit vor uns lag die Mormonenranch in der Tiefe. Rechts von uns ritten die neun finsteren Gesellen mit ihren Gefangenen über eine steinige Ebene hinweg auf die Ranch zu. Den Nordostrand dieser Ebene bildeten kahle Felsenhügel, von denen man jedoch nur die unteren Teile sah, da eine fahle, langgestreckte Wolke die Spitzen in flachem Bogen bedeckte.
Und auf diesem Wolkenbogen scheinbar jagte der Dromedarreiter, von Norden kommend, in flottester Gangart dahin, in Wahrheit wieder ein „Reiter am Himmel“, wieder wie am frühen Morgen bald scharf umrissen, bald wieder verschwommen, nicht größer als ein Kinderspielzeug aus einer Bleifigurenschachtel, die vielleicht die Aufschrift trägt „Afrikanische Oase und Beduinen“.
Dennoch eine Panik hervorrufen, – hätte ich sie nicht miterlebt, würde ich sie für unmöglich gehalten haben.
Die Mormonen hatten ihre Gäule zurückgerissen, hielten, starrten empor zum Wolkenbogen, – – und hieben die scharfen Radsporen in die Flanken ihrer Pferde, preschten jetzt, weit zerstreut, wie toll ihrer Niederlassung zu …
Das war nicht nur Flucht, das war sogar mehr als wildestes Entsetzen: Es war jener Zustand von unsinniger Angst, die nur einen Wunsch kennt: Rette sich, wer kann!!
Panik!!
Und doch hatte der junge, baumlange Kerl, der die Pferde Koipatos und Jangses am Lasso führte, als einziger der Rotte ausgesprochenes Pech. Aus Bequemlichkeit hatte er das freie Ende des Leitriemens hinten am Sattel befestigt, bekam nun das Messer nicht schnell genug zur Hand, um den Lasso zu zerschneiden, – des Schoschonen Rappe bockte, der Mormone stierte wild um sich, die anderen waren bereits weit voraus …
Der Kerl setzte mit seinem Pferde zu verzweifeltem Sprunge an, – vielleicht zerriß der Riemen, – der Gaul schnellte vorwärts, fiel zurück, begrub den Reiter unter sich, warf sich noch einige Male hin und her und lag still.
„Vorwärts, Dagmar …!!“
In wenigen Minuten waren wir neben den Gefangenen, – weiter hinten stand träge der gesattelte Gaul mit dem verschnürten, großen Packen, – Koipato war kaum frei, als er den Rappen herumwarf und die Wolldecken zerschnitt … Für einen Augenblick sah ich in dem Schlitz der Decken ein fahles Gesicht, dann hatte der Schoschone dem Pferde schon einen kräftigen Hieb versetzt, es trabte weiter, verschwand zwischen den Kiefern im Norden, – ich hatte um den schwer verletzten Mormonen mich bekümmern wollen, Koipato rief mir eine Warnung zu …: „Keine Zeit, – – nur weiter!!“, und abermals ging es nun gen Osten in die Wüste hinein, ging durch steinige Täler, über kahle Hügel, durch ein paar Bäche mit salzverkrusteten Ufern, – – kein Wort wurde gesprochen, nur einmal erklärte Koipato mit grimmem Lächeln: „Wie viele von den Schuften glauben Sie, Mister Abelsen, jetzt hinter uns?! – Es sind sicherlich ihrer hundert … Große Betversammlung hatten sie auf der Ranch, all diese aus Utah ausgewiesenen Halunken, die man leichtfertigerweise hier in Nevada duldete und sich ansiedeln ließ! Hundert mindestens, Mr. Abelsen, und die Bande wird alles daran setzen, uns nicht entkommen zu lassen! Sie wissen schon, was auf dem Spiele steht, die haben jeder ein Sündenregister, das zu lebenslänglicher Zwangsarbeit ausreicht! – Nur weiter …!“
Als die Dunkelheit anbrach, ritten wir im Schritt auf den einen Ausläufer der Kings-Berge zu, machten vor den tiefen Schluchten, vor den Festungsgräben unseres kleinen Paradieses, halt, und Koipato entfernte sich zu Fuß, kehrte nach einer Stunde zurück und geleitete uns in die sichere Oase hinein, zeigte uns die drei versteckten, bequemen Erdbehausungen im Südteil des Tales, versorgte die Pferde, sorgte für ein kräftiges Nachtmahl und schickte dann Dagmar und Jangse kurzerhand zu Bett.
„Sie beide werden die Ruhe und den Schlaf brauchen“, meinte er nicht mehr ganz so finster wie bisher. „Schlafen Sie getrost, Frau Dagmar … Auch das, was es noch sonst zu erledigen gibt, wird getan werden.“
Dagmar starrte ihn groß an. Der Lichtschein der Laterne und das Herdfeuer hier im Hauptraum enthüllte auch jede Linie des etwas wilden, verschlossenen Broncegesichts des Schoschonen.
„… Was es noch sonst zu erledigen gibt?!“, fragte Dagmar tastend. „Wie soll ich das verstehen?!“
„So, wie Sie es haben möchten: Daß eine alte Schuld gesühnt werden wird, daß die Namen der Verwandten derer, die einst hingemordet wurden, sämtlich festgestellt sind und daß auch Aussicht besteht, selbst den Rest zu finden, Frau Dagmar!“
Sie trat rasch noch näher heran an ihn.
„Koipato, also sind Sie …“
Er ließ sie nicht aussprechen, was ihr auf den Lippen schwebte. Zum ersten Male lächelte sie halb zärtlich, halb versonnen. Sein Gesicht war gänzlich verändert, aus den blanken, klaren Augen strahlten Güte, Freude und Begeisterung.
„Ich bin – das mag vorläufig genügen – der Schoschone-Jäger … – Gute Nacht, Frau Dagmar …“, sagte er herzlich.
Sie hatte ihm beide Hände hingestreckt.
„Koipato, ich möchte Ihnen danken … herzlichst danken, – so herzlich, als wären Sie mein armer, verschollener Bruder … Und auch entschuldigen muß ich mich bei Ihnen … Wie grundfalsch habe ich Sie beurteilt! Freilich, auch Sie hätten etwas früher die Maske lüften können. Sie haben vor uns Komödie gespielt, Sie zeigten sich uns als ein …“
Ein stilles Lachen ließ sie verstummen.
„Nevada kennt mich nicht anders, Frau Dagmar … Für Nevada bin ich der letzte, echte Indianer von einst … Man hat auch behauptet, ich hätte sogar schon einige Bestien skalpiert. Stimmt auch: Vierbeinige Bestien, denen ich den ganzen Pelzrock abzog, wie das so üblich … – Aber nun – ruhen Sie sich aus, Frau Dagmar … Gute Nacht“. –
Und dann saßen Koipato und ich draußen im Freien unter den Eichen, über uns den ausgestirnten Himmel, um uns her die Stille der Talwände, vor uns ein geheimnisvolles, stilles Leben und Sich Regen in den zahllosen Präriehundbauten.
Die Tiere flitzten hin und her, führten ihre Jungen auf die Weide, sammelten Laub und trockene Gräser für ihre Nester, trieben ihre Liebesspiele, bissige Männchen kläfften sich böse an, – eine Hundezüchterei mit reichem Nachwuchs schien da vor uns im Halbdunkel zu liegen.
Ich rauchte behaglich eine der Zigarren, die ich vorhin aus dem reichen Vorrat der Erdbehausung zu mir gesteckt hatte, und der Schoschone sog ebenso behaglich an seiner Holzpfeife.
„Was ich Ihnen mitteilen darf, will ich gern zu Ihrer Aufklärung berichten“, meinte er ganz von selbst. „Sie müssen bedenken, daß es hier ja nicht allein um meine Geheimnisse geht, sondern daß mein Leben in den letzten Jahren ganz eng verschmolzen war mit dem eines anderen Mannes …“
„Des Reiters am Himmel …“, warf ich sehr bestimmt ein.
„Bedauere, – diesen Punkt wollen wir nicht berühren, vorläufig nicht. Ich möchte nur andeuten, daß dieser andere Mann genau wie ich schuldlos in eine halb vergessene, verbrecherische Tat mit hineinverstrickt worden ist, daß weiter auch Mormonen damals an diesem … Massenmord beteiligt waren, daß ein Teil dieser Mormonen aus der Sekte ausgestoßen und auch aus Utah verbannt wurden, sich hier mit ihrem Anhang in Nevada niederließen, mehrere Farmen gründeten und sich scheinbar in nichts gegen die Gesetze vergingen, ihrem Glauben treu blieben, sich sogar als Missionare für die Idee „der Heiligen der letzten Tage“ betätigten und doch insgeheim Dinge trieben, die ihre ganze Sippe zu gefährlichen Verbrechern stempelten.“
Koipato sprach sehr langsam, sehr behutsam, wog jedes Wort ab und peinigte mich damit mehr, als ich es auf die Dauer vertrug. Er hatte nun völlig hier vor uns die sorgsam einstudierte Maske des grimmen Wilden abgestreift, er redet wie jeder gebildete Mensch, nur – – er übersah eins bei seiner vorsichtigen Zurückhaltung: Daß mich diese hartnäckige Geheimniskrämerei verletzen mußte! Ich glaubte, ein gewisses Anrecht auf Vertrauen zu haben, ich hatte Dagmar und Jangse in vielen kritischen Stunden selbstlos beigestanden, und daß Dagmar und der Reiter am Himmel einerseits und Koipato und der Himmelsreiter andererseits eng, ganz eng miteinander verknüpft waren, bedurfte keiner Erörterung mehr. Weshalb also dieses behutsame Herumreden um Dinge, die in meiner Brust genau so gut behütet waren wie etwa bei dem braven Bengel Jangse, der zweifellos weit mehr wußte als ich!
Möglich, daß ich damals mit einer sehr unwilligen Handbewegung den Rest meiner Zigarre weggeschleudert habe … Möglich, daß Koipato als Sohn der Wildnis jenes feine Fingerspitzengefühl besaß, daß ihn erraten ließ, weshalb ich auf jede Zwischenbemerkung verzichtete.
Er schwieg plötzlich.
Die Mondsichel war noch höher gestiegen, die Sterne schienen noch heller, und ein großer, räuberischer Uhu, der bisher in der geknickten Spitze einer Kiefer gelauert hatte, hielt nun wohl seine Zeit für gekommen und schwebte blitzschnell in schrägem Gleitflug hernieder, um eins der jungen, possierlichen Präriehündchen zu erwischen.
Der Schoschone war noch flinker.
Bisher hatte ich von ihm nicht ein einziges, irgendwie hervorragendes Jägerstücklein zu sehen bekommen.
Die Schnelligkeit, mit der er sein zweischneidiges Beil jetzt nach dem Uhu schleuderte, war eine verblüffende Leistung.
Schwer wie ein Klotz schlug der große, braune Nachtvogel in den Sand, während sein haarscharf am Halse abgetrennter Kopf das schwirrende Beil noch eine Strecke weit begleitete, bis beide in einen Grashügel sanken.
Koipato knüpfte an diesen Zwischenfall an, als er nun nach meiner Hand griff und so herzlichen Tones erklärte, daß ich von diesem ehrlichen Gefühlsausbruch völlig überrascht war:
„Ich kenne Sie besser, als Sie es glauben, Mr. Abelsen. Und so wahr ich soeben den Raubvogel tötete, der den Frieden dieses Tales nicht stören sollte, ebenso gewiß hat die Kugel des Reiters am Himmel das Mormonenpferd niedergestreckt, das so jäh im Sprunge zusammenbrach, – ebenso gewiß würde ich Ihnen, der Sie mir bereits mehr als nur Zufallsgefährte geworden, alles ohne Einschränkung mitteilen – gerade Ihnen, dem Freunde und Bruder des großen Taskamore, mit dem Sie durch die Wälder Südkanadas südwärts zogen bis zur Halbinsel Niederkalifornien. Die amerikanischen Zeitungen verspottet man oft wegen ihrer Sensationsmeldungen, – – Sie ahnen wohl nicht, daß Sie vor drei, vier Monaten sogar für Nevada eine sehr berühmte Persönlichkeit waren, Mister Abelsen … Ich wünschte, auch zwischen uns würde eine Freundschaft entstehen, die stärker ist als die Bande des Blutes. Ich bin nur Koipato, der Schoschone-Jäger … Und ich darf nicht frei und offen sprechen, – die Gründe werden Sie einst schon als schwerwiegend genug anerkennen …“
Seine Hand ruhte in der meinen, und ich hätte ihn tief verletzt, wenn ich es ihm noch irgendwie nachgetragen hätte, daß er zum Stillschweigen nun einmal verpflichtet war, noch mehr aber hätte ich ihn gekränkt, wenn ich seine mir so bescheiden dargebotene Freundschaft zurückgewiesen hätte. Gerade weil er ein Mensch von so ausgesprochener, persönlicher Eigenart war, hatte er mir, ohne daß ich es sofort erkannte, vom ersten Augenblick an gefallen. Koipato war mir lieb geworden, weil er eben Koipato war.
Genau so schlicht wie er erwiderte ich nur:
„Ich freue mich, – seien wir Brüder im Geiste, Freunde in der Gefahr, Kameraden voller gegenseitigen Vertrauens … Ich biete dir alles, Koipato, – und dieser Händedruck zwischen Männern mag unseren Bund besiegeln.“
Über den Randhöhen des Tales zog da in dünner, feuriger Bahn eine Sternschnuppe dahin.
Koipato sagte leise: „Ich danke dir … Der leuchtende Stern wird dem Reiter am Himmel mitteilen, daß unsere Hände sich gefunden haben. Auch der Himmelsreiter ist mein Bruder, und somit ist er auch der deine. Ob du ihn jedoch je von Angesicht zu Angesicht schauen wirst, – – ich weiß es nicht.“
„Und Dagmar?“, fragte ich schnell.
Er zögerte etwas. „Dagmar wird ihn sehen und sprechen – ein einziges Mal, und dann wird der Reiter am Himmel nie wieder auftauchen …“
Ein Zufall war es, der mich nach links blicken ließ, wo das Tal, erfüllt von Steinschutt und Steinblöcken, uns allzeit daran erinnerte, daß jenseits dieser Anhöhen die kahle, tote Wüste und gen Norden der Bergzug der Kings-Mounts sich hinzog …
In dem finsteren Winkel jenes Talwinkels, den wir nicht betreten sollten, glühte ein Licht auf, ein kleiner, weißer Punkt, erlosch, tauchte eine Strecke weiter wieder auf, – – und so fort bis zu einer einzelnen Zacke an der Höhe der Talwand.
„Koipato, dort die Lichter …“
„Der alte Lipu Schang ist allgegenwärtig“, meinte der Schoschone nur, erhob sich, wünschte mir gute Nacht und holte seine Wolldecken, um im Freien zu schlafen. Mich selbst schickte er mit freundlichem Scherz in die Erdbehausung: „Selbst ein schlechtes Bett ist besser als der harte Erdboden nach solchem Tage … – Gute Nacht.“
Über alledem sind nun sieben Tage verstrichen. Wir vier leben hier im Paradiese, dem Schlaraffenland, Koipato ist Großmeister dieses Schlaraffenlandes, versorgt uns mit frischem Fleisch, Trinkwasser, sogar mit Früchten und ist häufig abwesend – – wie jetzt.
Aber dieser Garten Eden, auch das erwähnte ich bereits, hat auch seinen Hüter der Schwelle, seinen Engel mit dem feurigen Schwerte, der uns drei, Dagmar, Jangse und mich, in diesem Paradiese festhält: Wir haben Koipato versprechen müssen, auf keinen Fall ohne ihn das Tal zu verlassen!
Dagmar ist höchst unzufrieden mit dieser Zusage. Dagmar ist etwas verärgert in ihrem Höhlenbau hinabgestiegen, in dem sie wie eine verwunschene Prinzessin nachts haust, – am Tage gehört Dagmar mir und Füchslein Krake, der immer noch behaglich nach den Präriehündchen schielt und dann zuweilen einen Jagdhieb bekommt. –
… Ich habe nun meine Aufzeichnungen bis zur verschwommenen Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart vollendet.
Es ist heute wieder eine wunderbar klare, wenn auch kühle Nacht, und die Laterne, die zuletzt meiner flüchtigen Feder leuchtete, stört mit ihrem rötlichen Lichtkreis und ihrem Petroleumdunst die zarten, feinen Farben dieser ungewissen Dämmerung.
Sie erlischt, ein letzter Qualmfaden schießt in die Höhe, und ich erhebe mich, um den gewohnten Rundgang um das Tal zu erledigen und droben am Engpaß, dem Eingang, hinter dem Steinblock hervor über die weite Wüste zu spähen – wie allabendlich.
Koipatos langes Fernsein beunruhigt mich etwas. Bisher war er nie länger als vierzehn Stunden abwesend, jetzt sind es bereits fast anderthalb Tage, und dabei hat er doch beim Abschied erklärt, er würde wahrscheinlich in kurzem zurück sein.
Mit der Büchse im Arm schlendere ich durch die glatten Gassen der Präriehundkolonie, Füchslein Krake trottet vor mir her, aber die Bewohner dieser flachen Grashügel lassen ihn heute gleichgültig, er ist satt, und sogar der satte Tiger verschont ein Zebukälbchen, wenn die Hirten in der Nähe sind. So heißt es wohl in einem indischen Sprichwort, – und ein chinesisches besagt ähnlich: „Der mit Beute beladene Dieb wirft den Sack mit den gestohlenen Hühnern weg, um den Beutel mit Geld aufzuheben, … falls kein Polizeibeamter in der Nähe ist.“ – Freund Krake ist genau so mit Vorsicht zu genießen, seine Tugenden gedeihen nur im Schatten eines dicken Rohrstocks.
Ich klettere den Saumpfad empor, der zum Engpaß führt, und die Felsplatte, die ihn verschließt, finde ich unangetastet, die Holzstützen stehen fest, nichts ist hier verändert, – an dieser steinernen Tür vorbei blicke ich hinab zu den steilen Schluchten, zu den Festungsgräben, und die Augen wandern weiter und … sehen nichts, nur die Sand- und Steinwildnis, nur die schwarzen Konturen der oft so wunderlich geformten Wacholderbüsche und die Skelette abgestorbener Kiefern, denen irgend ein Black Blizzard einmal sämtliche Nadeln, Zweige und sogar die Rinde entführte.
Skelette, sagen die Nevada-Bewohner – und es trifft zu: Diese vom Orkan getöteten und von der Sonne gebleichten Stämme, deren Harzüberzug gerade die weißen Salze des Wüstensandes festhält, gleichen verkrümmten Knochenmännern und haben schon so manchen Fremden, der sie vom Eisenbahnzug im Mondlicht sah, nicht wenig erschreckt.
Nein, – die Wüste verrät mir nichts über die Gründe des langen Fernbleibens Freund Koipatos, und ich wende mich wieder zurück und setze den Rundgang fort, komme an unserem „Pferdestall“ vorüber, klopfe meinem Braunen den Hals und reiche ihm wie jeden Abend auf flacher Hand ein Stückchen Zucker, das er stets sehr vorsichtig ergreift und desto eiliger zerkaut.
… Übrigens eine Spende, die regelmäßig Krakes allerhöchstes Mißfallen erweckt, und über die er mit heiserem Knurren quittiert: Futterneid!!
Merkwürdig …: Heute nicht!
Was hat Krake nur?!
Ich kenne ihn doch … So steif stemmt er die Vorderpfoten nur in den Sand, wenn irgend etwas nicht ganz geheuer ist!
Krake ist Statue geworden.
Nicht einmal der buschige Schweif pendelt …
Ich bücke mich, beobachte ihn.
Seine Augen starren in den düsteren Winkel des Tales gen Norden – also dorthin, wo für mich verbotenes Gelände liegt.
Ich habe es Koipato versprochen: Die steinige, felsige Nordhälfte des Tales ist sicher vor mir! Daß dort irgend etwas zu finden, weiß ich ja. Freund Koipatos Bemerkung, als ich ihn auf die huschenden Pünktchen aufmerksam machte, war vielsagend genug, und daß diese Bemerkung den alten Lipu Schang, den Pferdehändler und Geheimbündler, erwähnte, war noch bedeutungsvoller.
Wie sollte ich wohl die nächtliche Szene dort im Süden bei unserem Felsenversteck vergessen haben, als ich den rauhen, allzu scherzhaften Sergeant All Mac Austin aus Winnemucca niedergeboxt hatte und als dann der greise Lipu so urplötzlich wie ein Theatergeist auftauchte und Mac Austin mitzunehmen und irgendwo abzusetzen versprach!
Alter Gauner Lipu, – – so schlau wie du bin ich längst!
… Aber jetzt hier Füchslein Krakes Benehmen – nein, das behagte mir gar nicht …
Behagt mir genau so wenig, wie einst das fahle Leuchten des echten „Kraken“ in dem Wrackstumpf …
„Hallo, Krake, – was gibt es denn?!“
Krake ist Statue, bleibt Statue …
Und jetzt … höre ich etwas … Ein fernes dumpfes Stöhnen …
Verstummt wieder …
Wird zum Röcheln …
Lebt wieder auf …
Mein Körper strafft sich.
Dort in der steinernen Öde und Finsternis der Felsblöcke ganz hinten im Nordwinkel stöhnt ein verwundetes Tier.
Pferde stöhnen so, schwer verletzte Pferde.
Oder …?!
… Ein seltsamer Ton kommt aus der Finsternis, – Krake drückt sich an meine Waden, ich verarge es ihm nicht, der heisere Schrei eines Tieres dieser Art hat schon manchen Wüstenschakal in die Flucht getrieben, schon manche Hyäne davonhumpeln lassen …
Ich horche …
Qualvolle Minuten …
Dann wieder dieser helle, heisere, keifende Schrei, so schwer in seiner Eigenart zu kennzeichnen, es sei denn, man besäße eine verbeulte Trompete und verstopfte ihre Öffnung und versuchte einen Ton zu blasen, recht hell, – das wäre dann so etwa der Schrei eines dieser Tiere, die so hochbeinig sind und so dumm und hochmütig dreinschauend aussehen.
– Ein Versprechen hält man …
Selbst ein so wunderliches wie das, den Nordteil zu meiden. Freund Koipato bat darum, wir versprachen es, und Dagmar und Jangse machten sich darüber weiter keine Gedanken …
Ich?!
… Ein Versprechen darf man brechen. Der Schoschone ist noch nie so lange weggeblieben, und jetzt stöhnt da vor mir ein verwundetes Tier.
„Krake, hierher …!“
Soeben hatte er ausreißen wollen.
„Feigling, du kommst an die Leine, und wir werden erst mal die Laterne holen.“
Ich drehe mich um. Vor mir steht schmal und schlank der Bengel Jangse.
„Was treibst du denn hier, Jangse?!“
Da legt er los … „Mr. Abelsen, ich konnte nicht schlafen … Im Bett sind so viel Flöhe …“
Das stimmte. Flohrein waren die Sandwohnungen nicht.
„… Ich wollte noch etwas frische Luft schöpfen, Mr. Olaf … Ich hörte den Schrei …“
Seine Stimme ist schrill und fiebert …
„… Es war der Schrei eines Dromedars, Mr. Olaf … Ich habe einige Male kämpfende Dromedarhengste gesehen … in Zoologischen Gärten …“
„Und ich auf freier Wildbahn, mein Junge, drüben in Afrika … Etwas weit bis dorthin … Desto näher haben wir es bis zu unserem verwundeten Dromedar, kleiner Jangse, – es ist verwundet … Hole die große Laterne und die Reiseapotheke, – flink, aber wecke Frau Dagmar nicht.“
Jangse Schang aus der berühmten Familie Schang, Kanton, mit viertausend Ahnen und einem Stammbaum, der schon mehr ein Urwald ist, in dem die ersten Schangs noch als Affen umherhopsten, – blinzelt verlegen-verlogen mit den Augen und grinst und zischelt angstvoll: „Wir dürfen nicht, Mr. Olaf …! Koipato hat es verboten und …“
„Und wenn Koipato und der Reiter am Himmel dieser Schwefelbande von Mormonen in die Hände gefallen sind?!“
„Oh erhabene Ahnen – – das Unglück!!“, stammelt Jangse entsetzt und flitzt davon.
Nur Jangse kann so rennen.
Nur Jangse kann so lügen und so treu sein … Daß Dagmar noch lebt, verdankt sie ihm allein. Hätte er nicht die Flucht von der Jacht Manhattan vorbereitet, Dagmar wäre heute längst nicht mehr, und Bennett Hollerfrey würde die Millionen des alten Herrn Hjalmar Egerlöv mühelos geschluckt haben. –
In den letzten Minuten ist das heisere Wehklagen und dumpfe Stöhnen des verwundeten Tieres nicht mehr erklungen. Wie sehr diese Töne auch unsere Pferde aufgeregt haben, verraten ihre Unruhe, ihr Scharren, Stampfen und die lebhaft spielenden Ohren. Freund Krake freilich ist wieder mutiger geworden und schnüffelt mit langgerecktem Hals nach jener Talecke, in der, das weiß ich nun, der Reiter am Himmel sein geheimes Asyl gehabt hat – – oder noch hat, denn den Gedanken, daß etwa Koipato und der Dromedarreiter von den Mormonen abgefangen und erschossen worden sein könnten, weise ich mit aller Entschiedenheit von mir. Seltsam genug ist es, daß gerade die Person des alten Lipu Schang mit dieser meiner hoffnungsvollen Zuversicht in engster Verbindung steht, – seltsam genug, daß ich dem greisen, zahnlosen Chinesen eine Machtfülle zutraue, die ich irgendwie näher nicht bezeichnen könnte. Aber ich kenne die Chinesen, die da verstreut über die ganze Welt als bienenfleißige, anspruchslose Handwerker und Händler in eng geschlossenen Kolonien inmitten der Millionenstädte oder in den Hafenorten leben, in[7] ein geheimes Band vereint sind sie alle, ohne daß sie ausgesprochene Geheimbündler zu sein brauchen: Das zähe Festhalten an ihren uralten Überlieferungen und die Liebe zu ihrer Heimat!
… Jangse kommt mit der Laterne, hinter ihm Dagmar in ihrem Reitanzug, völlig angekleidet, die Büchse in der Hand, den Filzhut fest aufgestülpt. Ihr Gesicht ist ohne Farbe, und das einzige, das sich über ihre Lippen ringt, ist der angsterfüllte Satz: „Mein Gott, was werden wir finden?!“
Diese Frau, einst gehetzt, gefoltert, gedemütigt durch einen Menschen, den nun endlich das wohlverdiente Schicksal erreicht hat, war bisher erstaunlicherweise Herrin ihrer zermürbten Gedanken gewesen. Diese Frau, die mir den Traum einer zarten Neigung abermals erfüllt hatte, lehnte sich hilflos an mich und starrte mich mit tränenschweren Augen an. Ich mußte sie stützen, mußte sie wie ein Kind führen durch dieses Labyrinth von Geröll und Felsblöcken … Ein mühseliges Klettern oft, ein noch mühseligeres Suchen nach einer Fortsetzung eines Weges, der kein Weg war, nur Steinwildnis, – ich hätte nie geglaubt, daß dieser Teil so unzugänglich wäre.
Endlich ein enger Durchschlupf zwischen zwei Felswänden, und das Laternenlicht bescheint eine roh errichtete Mauer, die eine offene Grotte abschließt. Eine Balkentür ist in diese Mauer eingefügt, – die Tür steht halb offen, und in der Tür liegen auf dem körnigen Steinboden die Hinterfüße eines Dromedars, über dessen Hufe leichte, zierliche Pferdehufeisen festgeschraubt sind.
Dagmar drängt mich bei Seite, reißt Jangse die Laterne aus der Hand, steigt über die Beine des Dromedars und ruft in die Grotte hinein:
„Austin … Austin, – – bist du hier?!“
Aber die Herzensangst kennt keine Logik.
Und nochmals:
„Austin, – – ich bin es, Dagmar …! Melde dich doch!!“
… Was ich vermutet, was ich mir aus den bunten Steinchen einzelner Vorgänge zusammenfügte als ungewisses Bild, höre ich jetzt von Dagmars Lippen.
Mit ihrer Kraft ist es vorbei …
Sie läßt die Laterne fallen, flüchtet in meine Arme:
„Olaf, – – der Reiter am Himmel ist mein Bruder Austin, und der Sergeant All Mac Austin aus Winnemucca und der Dromedarreiter sind ebenfalls ein und dieselbe Person: Mein armer Bruder, den Hollerfrey unter Mordverdacht brachte …“
… Dann sitzt Dagmar in dem aus Brettern und Aststücken zusammengebastelten Sessel und schaut mit verkrampften Lippen zu, wie Jangse und ich Austins Höhle genauer durchsuchen.
Das tote Reitdromedar – drei Kugelschüsse zähle ich – ist gesattelt, gezäumt, ist ohne seinen Herrn mit letzter Kraft schmerzgefoltert den bekannten Weg zurückgeeilt. – Hinter einem Verschlag aus geflochtenen Wänden steht das andere Reitdromedar, sehr unruhig, sehr unfreundlich zu uns, es ist ein prächtiger Dromedarhengst, der tückisch nach mir beißt und auskeilt. Aber ich verstehe mit diesen launenhaften Tieren umzugehen, ich werde mich auch mit diesem anfreunden, – zunächst habe ich andere Sorgen.
Die Höhle ist ähnlich ausgestattet wie die anderen unterirdischen Behausungen Austin Egerlövs und seines Bruders Koipato. In dem Bretterschrank steht eine lange, schwere Repetierbüchse mit Zielfernrohr und Schalldämpfer. Auf einem Wandbrett liegen zwei verbeulte Filzhüte mit Kinnriemen und … drei aus Baumflechten hergestellte künstliche Schnurrbärte[8] mit Gummibändern zum Befestigen. Bücher, Zeitungen, Patronen, ein Ofen, Kochgeschirr, Holzvorrat, ein Regal Konservenbüchsen, ein Faß Trinkwasser sind auch vorhanden.
Nach Norden zu senkt sich die Grotte zu einem rissigen breiten Felsgang, und zwanzig Meter weiter mündet dieser Gang zwischen Wacholderstauden, Krüppelkiefern und zwei kümmerlichen Eichen im Freien, in einem sonst kahlen, steinigen Tale.
Jangse und Dagmar sind mir gefolgt, Krake schnuppert am Boden, wo eine bereits eingetrocknete Blutspur das Tal entlang gen Südost wahrscheinlich in die offene Wüste läuft. Hier ist das jetzt tote Dromedar, das Austin bei seinem letzten unglücklich endenden Ritte benutzt hatte, entlanggekommen.
Dagmar fleht mich leise an, irgendwie zu helfen, einzugreifen … „Wir müssen Austin finden – wir müssen!!“ – Sie hat sich inzwischen erholt, sie hat die Schwäche niedergerungen, ihre graublauen Augen strahlen vor verzweifelter Energie.
„Wir müssen, Olaf …!! Nur keine Zeit verlieren!!!“
… „Und doch nichts übereilen!“, warnte ich. Ich muß überlegen. Ich möchte nochmals die Grotte durchsuchen, denn mir liegt daran, über einen bestimmten Punkt Aufklärung zu erhalten. Die vorwärtshuschenden Lichtpünktchen hingen irgendwie mit Lipu Schang zusammen, – was bedeuten sie?!
„Kommt mit …!“
Ich nehme Dagmars Arm und spreche ihr Mut zu. Ich schaue mich nochmals in der Grotte um, trete durch die Balkentür ins Tal, beleuchte mit der Laterne die Talwand und die hohe Steinzacke, an der das letzte Pünktchen aufglomm. Wir leben ja schließlich in einem Zeitalter, wo es nicht weiter erstaunlich ist, selbst im ödesten Gebiet die Errungenschaften moderner Technik vorzufinden.
Als ich damals nachts die huschenden Lichtpünktchen sah, dachte ich sofort flüchtig an eine Reihe kleiner Glühbirnen, die in den Ritzen des Gesteins versteckt sein könnten und die durch eine Trockenbatterie den nötigen Strom erhielten.
Ich suchte weiter, und finde …
Genau das finde ich, was ich finden wollte: Neben der Tür in der roh gefügten Mauer einen einfachen Stromunterbrecher, auf ein Brettchen montiert. Als ich den kleinen Hebel herumdrückte, glühten die Lämpchen auf – – alle auf einmal, und diese kleinen weißen Pünktchen, erkenne ich nun, sind nichts anderes als Wegweiser hinauf zu jener Felsenzacke hoch über der Talwand. Überall dort, wo ein Pünktchen leuchtet, ist auch eine Stufe in das Gestein gehauen, und die fast senkrechte Wand besitzt so einen Pfad, der für den Uneingeweihten ganz unsichtbar zur Höhe führt.
Ich bin überzeugt, daß diese Anlage erst ganz kürzlich hergestellt wurde, daß die Lämpchen nur für mich und für den Fall der Not bestimmt waren.
„Wartet, – ich bin sofort wieder bei euch!“
Dagmar möchte mit, es ist unmöglich, selbst mir bereitet dieser Weg Schwierigkeiten, – endlich stehe ich neben der Zacke, leuchte mit der Laterne umher und sehe an einer glatten Stelle des Felsblocks unklare Schriftzeichen, offenbar mit einem Gemisch von Fett und Lampenruß hingemalt:
„Für den Fall der Not: Die Rakete liegt unter der Steinplatte! Abschießen!“
Steinplatte? – Es kann sich nur um die dort handeln, eine große dünne Platte.
Ich wuchtete sie hoch. In Öltuch gewickelt liegt da eine sehr große Rakete mit langem Raketenstock, daneben ein Gestell aus Ästen, um die Rakete bequem abfeuern zu können.
Die Chinesen sind Künstler in der Herstellung von Feuerwerkskörpern, und diese Rakete ist keine Fabrikarbeit, der alte Lipu dürfte das große Ding mit echt chinesischer Sorgfalt verfertigt haben.
– Die Zusammenhänge dieser neuesten Entdeckungen sind klar. Koipato hat doch mit unvorhergesehenen Zwischenfällen gerechnet, vielleicht riet Lipu Schang ihm, mich in versteckter Art darauf hinzuweisen, daß es eine Möglichkeit gäbe, Hilfe herbeizurufen.
Ungewöhnlich genug sind all diese Dinge – – und das wahre Geheimnis des Reiters am Himmel kenne ich noch immer nicht.
Eiligst wird die Rakete auf das Gestell gelegt, ich richte dieses so, daß die Rakete in schrägem Fluge gen Süden emporsteigen muß, – mein Feuerzeug knistert, die kurze Zündschnur brennt, ich trete bei Seite, und mit jähem überlautem Zischen, einen feurigen Funkenschweif hinter sich lassend, fährt das Geschoß den Sternen zu, explodiert in großer Höhe mit beträchtlichem Knall, und läßt eine grellgrün strahlende Leuchtkugel zurück, die an einer Art Fallschirm oder Ballon mit dem Winde gen Südost treibt und minutenlang sichtbar bleibt.
Wirklich, – ein Kunstwerk, diese Rakete … Falls Lipu der Hersteller sein sollte, werde ich ihm die Hand drücken.
Ich habe bereits das Glas an den Augen, suche den südlichen Horizont ab, warte, und … dort in der Ferne blinkt ein zweiter grüner fliegender Smaragd auf, – – nach Osten zu ein zweiter, ein dritter, alle meilenweit entfernt.
Jetzt ist es an uns, auch persönlich einzugreifen, ich kehre zu Dagmar zurück, – – „Wo ist Jangse, Dagmar?“
„Er sattelt die Pferde … – Olaf hast du Hoffnung?!“
„Ja … Die Mormonen müssen längst gemerkt haben, daß auch andere Spione, Chinesen, hinter ihnen her sind. Sie werden keinen Mord wagen … – Nun höre zu, Dagmar …“
Sie lächelt tapfer.
„Du und Jangse, ihr nehmt meinen Braunen als Packpferd mit … Ihr verlaßt das Tal und wartet auf mich vor den Schluchten. Ich werde den Dromedarhengst satteln, – man kann nicht wissen, wozu es gut ist … Ich bin sehr bald bei euch, seid vorsichtig, es ist nicht ausgeschlossen, daß die Mormonen das schwer verwundete Dromedar verfolgt haben. Krake behalte ich bei mir.“
„Du willst …?“, beginnt sie erstaunt.
„Beeile dich, – – ja, ich will … vielleicht …“
Wir trennten uns, – Mit dem bissigen Dromedarhengst habe ich meine liebe Not. Das Tier ist wohl nur an seinen Herrn, an Austin Egerlöv, gewöhnt, und nur durch Geduld und einige Tricks gelingt es mir, das störrische Dromedar zu satteln. Ich nehme auch Austins Zielfernrohrbüchse mit, seine Hängeschnurrbärte …
Freund Krake, wieder am Lasso, führt mich in leichtem Trab auf der Blutfährte durch das Tal in die offene Wüste. Der Sitz im Dromedarsattel verlangt so allerlei, aber afrikanische Erinnerungen und Erfahrungen helfen mir, der Dromedarhengst und ich sind uns rasch einig, das Tier läuft vorzüglich, stößt wenig und scheint sich zu freuen, wieder einmal Bewegung zu finden.
Ich lasse Krake jetzt frei, und verlasse mich ganz auf seine feine Nase. Wir biegen nach rechts von der Blutfährte ab, treffen Dagmar und Jangse, und zurück geht’s dorthin, wo die kaum mehr sichtbare Spur des angeschossenen Tieres, nur ein halb verwehter Strich, schnurgerade nach Südost auf eine felsige Hügelkette zuläuft.
Der scharfe Wind, der jetzt, wo der Morgen nicht mehr fern, immer eisiger geworden ist, schleudert feine Sandfontänen hoch, die tänzelnd davon eilen und wieder in sich zusammensinken. Als wir die kahlen Hügel erreicht haben, wird Füchslein Krake unsicher. Die Blutfährte ist hier schwerer zu wittern, der Boden ist mit Unrat einer nahen Kolonie von Präriehunden bedeckt, und wahrscheinlich hat das angeschossene Dromedar auf diesem harten, bequemeren Boden infolge geringerer Anstrengung auch weniger geschweißt.
Krake läuft hin und her, auch ich suche nach der Spur, Dagmar wird ungeduldig, schilt auf Krake, und nur Jangse bewahrt eine bewundernswerte Ruhe, die schon mehr Gleichgültigkeit ist. Dann entdecke ich in einem Seitental einen helleren Fleck am Boden, ein erschossenes Pferd ohne Sattel und Zaumzeug.
Sollte etwa hier in der Nähe unseres Talparadieses – wir sind bisher kaum drei Meilen geritten – der Kampf zwischen Austin Egerlöv und Koipato einerseits und den Mormonen andererseits stattgefunden haben?!
… Krake findet die Fährte wieder, und jetzt durchirren wir kreuz und quer die Hügelwildnis, die von diesen Schluchten und Rinnen durchschnitten wird und als Gelände, da zu unübersichtlich, äußerst gefährlich ist. Ich habe Füchslein an den Lasso genommen, Dagmar und Jangse sind mit dem Packpferd, meinem Braunen, hundert Meter hinter mir, wir haben Zeichen verabredet, ich spüre geradezu die Nähe des Feindes, und besonders ein paar frische Reste von nicht sorgsam genug entferntem Pferdedünger haben mich nachdrücklichst gewarnt.
Das verletzte Dromedar scheint hier planlos hin und her gelaufen zu sein, bevor es den Heimweg ohne seinen Herrn antrat und doch noch eine letzte Pflicht treu erfüllte: Uns zu warnen!
Die Felswüste wird hier immer wilder, trostloser. Zwischen kleinen, völlig kahlen Felskuppen mit zackigen Spitzen ziehen sich finstere Abgründe hin, dann wieder tauchen Salztümpel auf, neue Schluchten, und in diesem Labyrinth der grauenvollen Öde schleichen wir im Schritt dahin, sind längst abgestiegen, führen die Tiere am Zügel und halten die Waffen bereit.
Nur Jangse bummelt gelangweilt hinterdrein. Ich bin stehen geblieben, – da, wieder Reste frischen Pferdedüngers, den man mit Steinschutt bestreut hat. Dagmar kommt heran, ihr Gesichtsausdruck verrät die quälende Sorge der Ungewißheit, und ich vermag sie nicht einmal ehrlich zu trösten, denn der helle Schimmer im Osten, der nahende Tag, wird uns noch mehr gefährden.
„Jangse …!“
Der brave Boy hebt den Kopf.
„He, Sie wünschen, Mr. Olaf?!“
„Sage mal, wie bringst du es nur fertig, so gleichgültig zu sein …?!“
Er grinste etwas. „Oh, Lipu Schang ist mein Großvater, Mr. Olaf, und wenn Lipu Schangs Raketen aufgestiegen sind, ist es schlechte Zeit für die Heiligen der letzten Tage – vielleicht wirklich „letzte Tage“, Mr. Olaf …“
Ich muß mich erst etwas erholen von dieser Überraschung.
„Dagmar, wußten Sie, daß Jangse der Enkel des Alten ist?“
Ein wenig verlegen nickt sie.
„Dann lebt auch wohl noch dein Vater, mein Junge?“
„Er lebt – sehr …“ Jangses Oberlippe zieht sich hoch, und die Augen leuchten. „Die Familie Schang ist überall in den Staaten zu finden … – He, – ist das nicht eine Rauchsäule, Mr. Olaf? Dort gerade vor uns …?“
Er hat Recht – dünner Rauch.
„Wartet hier … Behaltet Krake bei euch!“
Ich suche mir mühsam einen Weg durch diese grausame Wildnis, die nur einzelne Grasbüschel, wenige Wacholderstauden und Knüppelkiefern gedeihen läßt. Ich biege Abgründen aus, ich gelange wie durch Zufall auf ein flaches, schmales Plateau, lasse den Dromedarhengst niederknien und krieche die letzte Strecke.
Die dünne Rauchfahne habe ich vor mir.
Ich liege am Rande eines schroffen, weiten Tales, in dessen Südwinkel die hellen Kristallufer eines salzigen Tümpels schimmern.
Mein Herzschlag setzt aus …
Das Blut braust mir in den Ohren.
Dort in der Tiefe lagern mindestens neunzig jener finsteren Burschen, Reitpferde stehen umher, und mir genau gegenüber am Stamme einer einzelnen Steineiche erkenne ich zwei Männer: Koipato und den Reiter am Himmel, beide gefesselt, geknebelt, – vor ihnen brennt das kleine, wenig qualmende Feuer …
… Ein feines Versteck hat diese Bande sich ausgesucht. In ganz Nevada dürfte es keine so schwer passierbare Felswildnis und kein so günstiges Gelände für dunkle Schurkenstreiche geben wie dieses. Ohne die dünne Rauchfahne hätte ich die ungemütlichen Herrschaften nie gefunden, die insgeheim Verbrechen begehen sollen – – welcher Art? – Ich weiß es nicht.
Jedenfalls hockt jetzt die üble Gesellschaft dort wie zur Beratung im Kreise beieinander, und ein baumlanger, greiser Kunde steht da und redet und fuchtelt mit den Händen und deutet auf die Gefangenen, klopft auf seinen Gewehrkolben – sehr vielsagend – und blickt stier und wild im Kreise umher.
Die Tageshelle nimmt zu …
Die Mormonen dort, Ausgestoßene ihrer eigenen Sekte, stimmen jetzt offenbar über einen Antrag des Alten ab …
Hände werden emporgehoben, die Mehrzahl stimmt für den Antrag.
Ein eisiger Hauch kriecht mir über den Rücken. Es ist nicht nur der kalte Wüstenwind, es ist … Furcht, Angst um das Leben der beiden Gefangenen dort.
Dünne Nebelfetzen streichen über das Plateau, – – unten in der Tiefe hat sich der Kreis aufgelöst, und einige jüngere Burschen, blond und straff und helläugig, binden die Gefangenen los, schleifen sie über den Boden zum Salztümpel …
Helfen, eingreifen?! Wie?! Vielleicht ein paar der Kerle niederknallen, – – und dann?!
Dann wird die Bande uns hetzen, wird Dagmar fangen, wird …
… Ein Gedanke schlägt in mein Hirn ein wie ein kalter Strahl, – ich sehe ein Bild vor mir: Die Panik der Mormonen, als sie den Reiter am Himmel dicht vor ihrer Ranch gewahrten und auseinanderstoben wie ein Volk Rebhühner vor dem Habicht.
Panik hervorrufen, – das hieß Zeit gewinnen, und darauf kam es an.
Die Umstände waren günstig, die dünnen Morgennebel, die über das Plateau zogen, mußten die Täuschung unterstützen, und die Überraschung der Mormonen mußte um so größer sein, als sie doch glaubten, endlich den Reiter am Himmel erwischt zu haben. Das Auftauchen eines zweiten würde sie aus ihrem Mordrausch in ärgste Bestürzung zurückschleudern, und wenn es mir glückte, die Kerle noch durch ein paar Schüsse erst einmal nach dem Talausgang zu drängen, der dem Salztümpel gegenüberlag, konnte ein wenig Schnellfeuer die Bande wohl vollends verscheuchen … – konnte!
… Es mußte gewagt werden.
Ein letzter Blick zeigte mir die ganze Bande jetzt am Ufer des Salzmorastes versammelt, wo der Sprecher, der alte hagere Kerl, vor den beiden Opfern stand und ihnen wahrhaftig aus einem Erbauungsbuche noch eine Predigt vorzulesen schien.
Ich beeilte mich. Der Dromedarhengst ließ mich ruhig in den Sattel steigen, trabte an, ich befestigte einen der Schnurrbärte, gab dem Filzhut noch die nötige Form, entsicherte die Büchse, hängte meine eigene über den Sattelknopf und erschien am Talrande hoch über der Mörderversammlung inmitten eines langen Nebelstreifens, der gemächlich und flach über das Plateau zog und die Füße meines Tieres mit verhüllte.
Zunächst bemerkte mich niemand.
Die satanische Schadenfreude, die sich in den Gesichtern der meisten Mormonen wiederspiegelte, schien auf die beiden Gefangenen, denen man bereits Steine an die Füße gebunden hatte, wenig Eindruck zu machen. Sie standen kerzengerade da, Austin Egerlöv lächelte sehr vergnügt, und der Schoschone hatte wieder seine grimmigste Miene aufgesetzt.
Inmitten des nach dem Salztümpel zu offenen Halbkreises dieser finsteren Gesellen, die leider wie so viele „Heilige der letzten Tage“ viel deutsches Blut in den Adern hatten, las der alte Fanatiker noch immer sein Sprüchlein ab, hielt das Buch dicht vor die Augen und zeigte mir sein Profil mit einer ungeheueren Adlernase.
Der Dromedarhengst stand auf Schenkeldruck wie eine Mauer, er war wohl an das Schießen aus dem Sattel gewöhnt, und die Kugel der Zielfernrohrbüchse machte der üblen Komödie dort unten rasch ein Ende, das Buch flog dem greisen Gauner aus den Fingern, vielleicht flog auch ein Stück Finger mit, – – einen Augenblick Stille, dann ein vielstimmiger Schrei, ein angstvolles Emporstieren von zahllosen Augenpaaren zu der halb im Nebel verhüllten Gestalt, – – dann ein einzelner Schrei von der anderen Talseite: Dort standen Dagmar und Jangse neben einem Felsblock, aber eine unsichtbare Gewalt zog sie sofort nieder, und zu meiner Enttäuschung galt jetzt das zweite Aufkreischen der Bande nicht mehr mir, sondern der keineswegs imponierenden Gestalt des alten Lipu Schang, der soeben durch den steilen Eingang das Tal betreten hatte und gemächlich auf die Mormonen zuschritt, eingehüllt in einen schäbigen, fleckigen kaftanähnlichen Automantel, auf dem Schädel ein Seidenkäppchen, die Hände in die Ärmel gesteckt, – – eine dürftige Erscheinung, und doch ein Entsetzen verbreitend, das mich, den zweiten Reiter am Himmel, völlig in den Schatten drückte.
Lipu Schang, auf schäbigen Sandalen dahinschlurfend, hatte ein dünnes, hartes Grinsen um den faltenreichen, eingefallenen Mund …
Lipu Schang blinzelte mit den Augen, als ob ihn die Sonne blendete …
War der alte Mann wahnsinnig?!
Eine einzige Kugel konnte ihn fällen, – er schien an diese Möglichkeit gar nicht zu denken, er machte erst dicht vor den Mormonen halt, die scheu zur Seite wichen und noch scheuer zu Boden blickten.
Lipu Schang sprach etwas.
Was, konnte ich nicht verstehen. – Keinen Befehl, aber er nickte dabei den Gefangenen zu und verneigte sich höflich. Er tat nun irgend etwas, und zwei der jüngeren Mormonen sprangen übereifrig zu und zerschnitten die Fesseln Koipatos und Austins.
Wieder sagte Lipu etwas und machte eine Kopfbewegung nach einer Sandmulde hin.
Gehorsam warf die Bande ihre Waffen in den Sand, Büchsen, Pistolen, Messer häuften sich, und das alles geschah ohne das geringste Anzeichen von Wut: Die Mormonen machten ganz den Eindruck von Leuten, die sich in ihr Schicksal ergeben hatten.
Der alte Schang nickte zufrieden und zog jetzt die Hände aus den Ärmeln, hatte in jeder Hand eine mächtige Coldpistole und schien einen neuen Wunsch zu äußern, der von der ganzen Bande prompt erfüllt wurde: In vier Reihen setzten sie sich an der Talwand in das Geröll, während nun erst auch Austin Egerlöv und Koipato etwas lebhafter wurden, sich bewaffneten und die Mormonen beobachteten.
Lipu Schang, dieser Oberregisseur einer Wüstentragödie, die wert gewesen wäre, in all ihrer packenden Schlichtheit im Film verewigt zu werden, winkte jetzt mit der einen Pistole nach dem Taleingang hinüber, und erst da wurde so manches erklärlich, was bisher mehr an gutgemeintes Theater erinnert hatte: Hinter den Steinen und Felsblöcken erhoben sich etwa dreißig gut bewaffnete Leute, die Hälfte davon berittene Nevada-Polizei, deren Aufgabe es war, Viehdiebstähle zu verhüten und dieses Land der Wermutsträucher und Wüsten rein zu halten von jenem Gesindel, das in so dünn besiedeltem Gebiet einen braven Farmer über Nacht ruinieren kann.
Hinter dem Trupp der fünfzehn Beamten (der Rest waren bewaffnete Chinesen) erschienen noch ein paar Herren in Reitanzügen, die Dagmar höflich hinabgeleiteten. Als letzter kam der Bengel Jangse mit Krake am Lasso, und Jangses Gesicht war ein einziges fideles Grinsen, als ob er hier den besten Witz der Weltgeschichte miterlebte.
Koipato hatte mir derweil schon verschiedentlich zugerufen und zugewinkt, aber ich war noch immer so völlig in Anspruch genommen von diesen in ihrer Art unheimlichen Vorgängen, die sich dort im Tale so lautlos abspielten, daß erst Dagmars energisches Hutschwenken mich veranlaßte, mein Reittier in Trab zu setzen und mich dem Taleingang zuzuwenden, wo ich hinter den Felsen vier gefesselte Mormonenposten, einen Trupp Pferde und zwei Chinesen und zwei Polizeibeamte antraf, die mich freundlich begrüßten.
Meinen künstlichen Schnurrbart hatte ich bereits weggeworfen, und als ich nun als erstem Koipato die Hand drückte und dieser dem „Reiter am Himmel“ kräftig auf die Schulter klopfte und schmunzelnd meinte, ob ich wohl in Sergeant Mac Austin den Himmelsreiter vermutet hätte, – als Dagmar freudestrahlend dem Bruder im Arme hing und Lipu Schang mir dann sehr würdevoll die Herren in den feinen Reitanzügen als hohe Polizei- und Gerichtsbeamte vorstellte, da fand ich all dies ja an sich sehr nett und schön, nur brannte mir eine Frage auf den Lippen, die ich unbedingt sofort beantwortet haben wollte:
„Sagen Sie nur, Lipu Schang, – weshalb hatte die Bande so gräßliche Angst vor Ihnen?!“
Einer der feinen Herren mit den drohenden Titeln klärte mich höflich auf.
„Lipu Schang war früher zu den bewegtesten Zeiten Nevadas, als noch der Strang als letzte Krawatte für arme Sünder benutzt wurde, unser Henker und nebenbei auch der beste unserer Detektive, Mr. Short“, – er betonte den Namen. „Sie heißen doch Gowin Short, Mister, – – na also!“
Ich verstand ihn: „Abelsen“ sollte hier unter den Tisch fallen … Es lief ja noch immer der bewußte Steckbrief …
Ich schaute den greisen Lipu verdutzt an. Er nickte nur mit einem gewissen, melancholischen Ernst und meinte nicht ohne Würde: „Es waren böse Jahre für Nevada damals … Nachdem die Goldminen nichts mehr hergaben, nahm die Bevölkerungszahl ständig ab, und die wenigen arbeitsfreudigen Farmer, die aus den erschöpften Minendistrikten Acker- und Weideland hervorzuzaubern hofften, litten unter Viehdieben und Räuberbanden in so schrecklicher Weise, daß die Regierung endlich energisch durchgriff. Ich schäme mich wahrlich nicht, daß ich fünfundzwanzig Jahre diesem Lande treu gedient habe, – was man ja auch genügend anerkannt und belohnt hat. Nevada schenkte mir weite Ländereien, ich besitze drei Farmen, und daß es neuerdings abermals für mich Arbeit gab, davon mag Ihnen Austin Egerlöv erzählen … – Jetzt, meine Herren, wollen wir zunächst über die Mormonen Gericht halten. Das alte Gesetz Nevadas mit all seinen den Umständen angepaßten Härten besteht zum Teil heute noch. – Sheriff von Winnemucca, ich erhebe Anklage wider diese Mormonen wegen jahrelangen Vieh- und Pferdediebstahls. Wir wollen eine freie Jury nach dem alten Gesetz bilden, Mr. Loow ist als Advokat mit der Verteidigung beauftragt, zwölf freie unbescholtene Bürger Nevadas treten vor und bilden diese Jury.“
Der Sheriff war ein kleiner, sehniger Herr mit einem äußerst markanten Gesicht.
„Es sei!“, entschied er ebenso feierlich.
Die Jury setzte sich aus sechs Polizeibeamten, die vorher für die Zeit der Gerichtssitzung aus dem Staatsdienst entlassen wurden, und aus sechs älteren Chinesen zusammen.
Die Mormonen protestierten hiergegen. Ihr Sprecher, der adlernasige baumlange Alte, wies darauf hin, daß Weiße nur von Weißen abgeurteilt werden dürften, und erging sich in endlosen Redereien, die ihm garnichts halfen.
– Wir hatten uns als Zuschauer abseits gesetzt, – mich langweilten diese Vorbereitungen, ich war enttäuscht über diese für meinen Geschmack recht fade Verwässerung des Ausklangs von Geschehnissen, die ein weit dramatischeres Ende verdient hätten. Ich machte hieraus auch kein Hehl gegenüber den Geschwistern Egerlöv und Koipato, worauf diese drei untereinander merkwürdige Blicke tauschten und Koipato schließlich erklärte:
„Dieses Gericht über die Mormonen ist von ganz untergeordneter Bedeutung, Olaf. Du wirst schon auf deine Rechnung kommen, glaube mir. Lipu Schang wird dafür sorgen, daß wir nachher mit Bennett Hollerfreys intimstem Anhang noch besonders uns auseinandersetzen können, und dann erst wirst du das wahre Geheimnis des Reiters am Himmel kennenlernen. – Jetzt gib nur auf die Verhandlung acht, auch sie wird dir Überraschungen bringen.“
… Lipu Schang klagte an:
„Hohe Jury, ich beschuldige all diese Mormonen, seit vielen Jahren auf folgende Weise die Viehzüchter bestohlen zu haben. Es handelt sich hierbei um eine gut organisierte Bande, denen allerlei Hilfsmittel zur Verfügung standen. Mittelpunkt des Treibens dieser Diebe war die sogenannte Mormonenranch, wo das gestohlene Vieh vorläufig untergebracht und auf Lastkraftwagen bei guter Gelegenheit weggeschafft wurde. – Die Diebe gingen auf folgende Art vor. Da sie direkten Diebstahl scheuten, vertauschten sie wertvolle Kühe, Rinder, Stiere und auch Pferde auf fremder Weide nachts gegen mitgebrachtes ganz minderwertiges Vieh aus, und dies stets so, daß der Besitzer erst nach Tagen, oft erst nach Wochen merkte, daß seine Herde recht unansehnlich geworden war. – Ein Zufall war es, daß Mister Austin Egerlöv, der hier auf meine Fürsprache vor vier Jahren bei der Polizei als All Mac Austin eingestellt wurde, bei der Nachprüfung einer rein persönlichen Angelegenheit als erster den Verdacht schöpfte, wie die Viehbestände der Farmer in äußerst raffinierter Art wertlos gemacht wurden. Leider merkten die Mormonen nur zu bald, daß ihnen der „Reiter am Himmel“ dauernd auf den Fersen war, und wurden immer vorsichtiger. Trotzdem haben wir in den letzten sechs Monaten das Treiben der Bande restlos aufgeklärt, kennen ihre Abnehmer in den Nachbarstaaten und werden ihnen fünfzig Fälle von Rindervertauschung und zwanzig von Pferdevertauschung einwandfrei nachweisen. Ich bitte, als ersten Zeugen Mister Austin Egerlöv zu hören.“
Inzwischen war die Sonne längst aufgegangen, und das Bild des hell erleuchteten Tales mit den an der Felswand hockenden Mormonen, der auf Steinen sitzenden Jury und den zwanglos weidenden Pferdetrupps war nun so malerisch und eigenartig, daß auch diese Gerichtsverhandlung unter freiem Himmel mich unwillkürlich packte und mich zum aufmerksamen Zuhörer werden ließ.
Den Verlauf der Verhandlungen im einzelnen zu schildern, hat auch für mich selbst kein Interesse, zumal die Dinge urplötzlich eine ganz andere, für einige Mormonen sehr kritische Wendung einnahmen.
Koipato trat als Zeuge vor. – Dieser moderne Indianer, besser vorgebildet als so mancher Weiße, beschuldigte jetzt acht der Mormonen, die sämtlich in der hintersten Reihe saßen, des versuchten Mordes und benannte mich als Zeugen dafür, daß ich ihn nackt in dem Ameisenhaufen vorgefunden hätte, und verlangte Auslieferung dieser acht an den Sheriff der Indianerniederlassung, auf deren Gebiet der Mordversuch verübt sei. – Ich bestätigte als Zeuge Koipatos Angaben, betonte jedoch, daß ich die acht Mormonen nicht als die bezeichnen könnte, die den Schoschonen an den Baum gebunden hatten.
Die Jury entschied: „Das Verfahren gegen die acht wird eingestellt, sie werden Koipato und Austin Egerlöv zum Transport nach dem großen Indianerdorfe übergeben, – die Verhandlung gegen die übrigen wegen Viehdiebstahls geht weiter.“
Allmählich merkte ich, daß diese ganze Gerichtssitzung ein zweifellos vorher zwischen dem alten Lipu Schang, Koipato und Austin genau verabredeter Schachzug war, um jene acht Mormonen, die übrigens sämtlich Hollerfrey hießen, in ihre Gewalt zu bekommen, denn schon der eine Umstand, daß weder Austin Egerlöv noch Koipato Anklage wegen des hier in diesem Tale vorbereiteten Mordversuchs erhoben und nicht einmal ihre Gefangennahme irgendwie berührten, war vielsagend genug.
Die Jury gab wegen der Viehdiebstähle folgenden Spruch ab:
Sämtliche Angeklagten werden zu je drei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit bei dem öffentlichen Straßenbau Nevadas und zur späteren Landesverweisung verurteilt. Ihr Vermögen fällt dem Staate zu, der es für die Hebung der Landwirtschaft und Viehzucht und zur Entschädigung der Farmer zu verwenden hat. Gegen dieses Urteil gibt es keine Berufung, da es sich auf die alten Gesetze aus Nevadas Notzeiten stützt.“
– Daß die Mormonen jetzt wie die Unsinnigen tobten und fluchten, wurde von niemandem beachtet. Die berittene Polizei hatte genügend Stahlhandfesseln mit, und daß der Büchsenkolben erst einige ganz Rabiate etwas zur Vernunft bringen mußte, war auch nur der Schade dieser lächerlichen Hitzköpfe, – – wir hatten derweil mit unseren acht „Hollerfreys“ genügend zu tun, banden sie auf ihre Pferde fest, verabschiedeten uns von den hohen Herren und ritten gen Osten in die Wüste hinaus.
Außer den Geschwistern Egerlöv, Koipato, Jangse und mir waren noch mit von der Partie der alte Lipu Schang und drei chinesische Farmer, darunter Jangses Vater, der einst bei Dagmars Eltern lange Zeit Hausmeister und erster Koch gewesen.
Unsere Gefangenen, die, wie schon erwähnt, sämtlich zu der weitverzweigten Familie Hollerfrey gehörten, hingen mit äußerst mißvergnügten Gesichtern auf ihren Pferden. Natürlich hatten sie anfänglich mit großem Geschrei gegen diese Absonderung von den anderen und gegen ihre Auslieferung an uns protestiert, waren dann aber sehr still geworden, wurden sogar überbescheiden, als sie merkten, daß sie ihrer wohlverdienten Strafe doch nicht mehr entgehen könnten. Es waren Leute aller Altersstufen, und der älteste von ihnen war jener hagere greise Fanatiker, der den beiden „Verurteilten“ am Rande des Salzsumpfes die frommen Sprüchlein vorgelesen hatte: Bennett Hollerfreys Großvater war es, und Bennets Vater befand sich auch unter den Sektierern.
Dagmar, Austin und ich ritten voran. Austin, der Reiter am Himmel, hatte wieder seinen Dromedarhengst bestiegen, er erzählte mir vieles über sein romantisches Doppelleben als Sergeant Mac Austin und als „Himmelsreiter“, und ich erfuhr so, daß er eigentlich nur durch Zufall auf den Gedanken gekommen sei, die beiden Dromedare, die aus dem Güterwagen nach dem Eisenbahnunglück entwichen waren und die er halb verdurstet am Rande der Kings-Berge fand, für seine besonderen Zwecke zu benutzen, damit er leichter weite Strecken zurücklegen und seine Identität mit dem Polizeisergeanten All aus Winnemucca bequemer verbergen könnte.
Aber über eins sprach er auch jetzt nicht: Über den verborgenen Zweck seines Auftretens als Himmelsreiter!
Ich fragte nichts, mir genügte es zu wissen, daß noch an diesem Tage die völlige Aufklärung der noch ungelösten Fragen erfolgen würde.
Wir bogen sehr bald nach Süden ab, ich merkte genau, daß Austin in dieser Wildnis jeden Busch und Baum und Hügel kannte, und daß unser nächstes Ziel keineswegs jene große Niederlassung der Schoschone-Indianer sei.
Ohne Zwischenfall langten wir am Nachmittag am Südrande einer großen Hochebene an, und hier fragte Dagmar mich – Austin hatte sich seinem Freunde Koipato zugesellt – mit zärtlicher, leiser Stimme, ob mir dieses gewaltige Plateau mit seinen frischen Sanddünen nicht bekannt vorkäme. Ich bejahte, – es war dieselbe Hochebene, auf der uns der Black Blizzard überrascht hatte, – es war jenes Plateau, wo die Mormonen Koipato und Jangse aus dem Sande herausgeschaufelt und nachher mit nach der Mormonenranch hatten nehmen wollen.
Dagmar war durch die Wiedervereinigung mit ihrem einzigen Bruder noch freier, glücklicher und zufriedener geworden, und wie sehr sie dem im Grunde äußerst lebenslustigen und vergnügten Bruder glich, trat jetzt erst so recht in Erscheinung, sie kam mir jünger, frischer und heiterer vor, obwohl zuweilen doch wieder jener ernste, melancholische Zug in ihrem leicht gebräunten, schönen Gesicht erschien, der daran erinnerte, daß uns noch heute Stunden allerernstester Abrechnung mit den acht Hollerfreys bevorstanden.
Wieder nach zwei Stunden gewahrte ich in der Ferne jene Felsgruppe, in der wir nach der Befreiung Koipatos gelagert hatten, und sehr bald tauchten auch jene fünf Eichen in der buschreichen Mulde auf, – – hier vor der Felsgruppe machte Austin halt, blieb jedoch im Sattel und wandte sich an die Gefangenen, die scheu und beklommen kaum die Köpfe zu heben wagten.
„… Es war im Jahre 1889, im Herbst, als eine Wagenkarawane von Goldsuchern, die aus den westlichen Golddistrikten Nevadas mit reicher Beute wieder in die Oststaaten zurückkehren wollten, dieses Felsenrund als Nachtlager wählte. Die Goldsucher, drei Familien mit Frauen und Kindern, hatten schon nachmittags gemerkt, daß eine Reiterschar stets in ihrer Nähe blieb, sie fürchteten einen Angriff, verschanzten sich und entgingen doch nicht dem Tode. Die Angreifer waren Mormonen, die von Utah her häufig über die Grenzen kamen und schon des öfteren Goldgräber überfallen hatten. Ihr Anführer war ein gewisser Hiram Hollerfrey, der Großvater Bennett Hollerfreys, den ich vorgestern in ehrlichem Kampf erschossen habe.
Bei diesen Banditen, die ihr blutiges Handwerk schlau zu verheimlichen wußten, befand sich ein junger Däne, ein gewisser Hjalmar Egerlöv, der sich dem Trupp ahnungslos angeschlossen hatte. Hiram Hollerfrey belog ihn und wußte ihm vorzuschwatzen, daß die Goldgräber den Mormonen Pferde und Zugochsen gestohlen hätten, für die man lediglich entsprechende Bezahlung verlangen wollte. So beteiligte sich denn dieser Egerlöv, mein Vater, an dieser Einkreisung dieser Felsengruppe, und erkannte die Wahrheit erst, als die Banditen das fürchterliche Blutbad begannen. Er suchte das unmenschliche Morden zu verhindern, sah jedoch bald ein, daß er als einzelner nichts ausrichten könnte, und daß man ihn niederschießen würde, falls er sich einmischte.
Und diese seine Feigheit vergaß er niemals mehr, obwohl es Gründe genug gibt, ihn von eigener Schuld zumindest zum Teil freizusprechen. Mitten in der Nacht, als die Mormonen die Leichen vergruben, tat er etwas, das späterhin auch für seine Kinder von Bedeutung werden sollte: Er schaffte den schwersten der ledernen Goldsäcke heimlich bei Seite, verbarg ihn, bestieg seinen armseligen Maulesel, denn er war selbst nur ein halb zerlumpter, erfolgloser Goldgräber, und entfloh, wurde verfolgt, entkam glücklich und ward später in New York ein reicher, angesehener Kaufmann. – Die Namen jener Mormonen kannte er nicht, da die „Heiligen der letzten Tage“ sich untereinander nur mit „Bruder“ und mit ihren biblischen Vornamen anzureden pflegten.
Jahrzehnte waren vergangen. Da erschien in dem Geschäft meines Vaters ein gewisser Bennett Hollerfrey, hatte mit ihm eine geheime Unterredung, und fortan war mein Vater nur noch ein Schatten seiner selbst.
Bennett Hollerfrey wurde Prokurist der Firma, wurde deren unbeschränkter Herr, mein Vater verstarb plötzlich am Herzschlag, kurz darauf wurde ich unter Mordverdacht verhaftet, entfloh auf abenteuerliche Art, und meine Schwester, seelisch ganz zusammengebrochen, erfüllte unseres Vaters angeblichen Herzenswunsch und heiratete den ihr wenig sympathischen Hollerfrey. Gleich nach der stillen Hochzeit merkte sie, daß Bennett in unseres Vaters einstigen Räumen andauernd nach irgend etwas suchte. Da sie ihm mißtraute, verriet sie nichts von dem Fach in der Wandtäfelung des Arbeitszimmers, öffnete es heimlich und fand eine Art Tagebuch, in dem unser Vater seine damalige Schuld offen eingestand und auch die Beiseiteschaffung des Goldsackes erwähnte, ohne jedoch den Ort näher zu bezeichnen, wo der Ledersack verborgen lag. Da in diesen Aufzeichnungen unseres Vaters der Anführer der Banditen kurz mit „Hiram“ und dessen Sohn mit „Josua“ benannt war, da Dagmar ferner wußte, daß ihres Gatten Vater „Josua“ mit Vornamen und dessen Großvater „Hiram“ hieß, stieg sofort in ihr ein schrecklicher Verdacht auf. Sie vertraute sich dem treuen Hausmeister Fuschi Schang, Jangses Vater, an, der inzwischen aus Nevada bereits Nachricht erhalten, daß ich dort bei Lipu Schang glücklich angelangt sei. Fuschi Schang reiste mit dem Tagebuch nach Nevada, und Dagmar strengte die Scheidungsklage gegen Bennett Hollerfrey an, da dieser ihr verschwiegen hatte, Mormone zu sein. Mag auch die Vielweiberei unter den Mormonen gesetzlich abgeschafft sein, es bleibt Tatsache, daß jeder Mormone stillschweigend sich das Recht anmaßt, sogenannte Hausgenossinnen aufzunehmen. Mithin ist einer Christin nicht gut zuzumuten, eine Ehe mit einem Mormonen einzugehen. Aber Bennett Hollerfrey, durch keinerlei Gewissensbedenken beschwert, verstand es, die Scheidungstermine immer wieder vertagen zu lassen. Meine Schwester hätte vor Gericht auch angeben können, weshalb Hollerfrey überhaupt nach New York gekommen: Doch nur, um von unserem Vater zu erfahren, wo jener Sack Gold vergraben liege, – sie wollte jedoch unseres Vaters Andenken schonen und schwieg über diese Dinge.
Ich selbst wurde noch immer steckbrieflich gesucht, obwohl jeder Eingeweihte einsehen mußte, daß Bennett den Mann erschossen haben mußte, den ich ermordet haben sollte.
Lipu Schangs Einfluß verschaffte mir die Einreichung bei der Polizei von Nevada, – kurz darauf begann ich auch den Reiter am Himmel zu spielen, wobei mir Koipato getreulich half, denn auch er hatte mit den Mormonen abzurechnen, die seinen eigenen Vater der Teilnahme an jener Niedermetzelung der Goldsucher beschuldigt hatten, ohne jedoch hiermit viel Glauben zu finden.
Meine Bemühungen gingen nun dahin, das Versteck jenes Goldsackes zu entdecken, sehr bald aber merkte ich, daß auch eine Anzahl Mormonen in aller Stille offenbar dasselbe versuchten.
Jahre vergingen. Meine Schwester kämpfte um ihre Freiheit, Bennett Hollerfrey hintertrieb die Scheidung, und wollte nur darein willigen, wenn Dagmar ihm fünf Millionen[9] als Abfindung überließ.
Was weiterhin geschah, ist bekannt.“
Austin Egerlöv machte eine kurze Pause.
„Erwähnen muß ich noch, daß wir Verbündete hier in Nevada, und das waren Koipato, Fuschi Schang, Lipu Schang und ich und Lipus Getreue, inzwischen die Namen der nächsten Verwandten der hier ermordeten Goldsucher mit vieler Mühe festgestellt hatten, und daß wir Geschwister nun, um unseres Vaters Schuld zu sühnen, diesen Leuten die fünf Millionen zukommen lassen wollten, die Bennett zu erpressen suchte. – So, jetzt wollen wir zu den fünf Eichen hinüberreiten … Dort werde ich beweisen, wie seltsam die Vorsehung mitunter spielt.“
Er trabte davon auf die östlichste Eiche zu, an der ich damals Koipato nackt und von Ameisen bedeckt vorgefunden hatte.
Vor diesem Baume in der Lichtung des Gestrüpps wurden der alte Hiram und sein Sohn Josua losgebunden und von ihren Pferden gehoben. Austin nahm ihnen auch die Handschellen ab und befahl: „Wühlt den Ameisenhaufen am Fuße der Eiche auseinander!“
Die beiden Mormonen zögerten, aber Lipu Schangs strenge Bemerkung, daß die Eiche einen sehr nützlichen, dicken Ast hätte, an dem sich ein Lasso mit einer Schlinge leicht befestigen ließe, wirkte so prompt, daß die beiden finsteren Gestalten eiligst mit Holzstücken den Boden freilegten und plötzlich zurückprallten: Sie hatten gleichzeitig einen Teil eines Sackes aus dickstem Büffelleder von Sand, Blättern und Ameisen gesäubert, und ihre Gesichter wurden fahl und verzerrt, als Koipato jetzt feierlich erklärte:
„Ihr wolltet mich hier sterben lassen, weil ihr wohl ahntet, daß ich mit dem Reiter am Himmel im Bunde sei, den ihr mehr fürchtet als eine strenge Jury. Ihr ahntet nicht, daß ich mit den nackten Füßen immer tiefer in den Ameisenhaufen einsank und daß ich schließlich spürte, ich stände auf einem Ledersack, der harte, körnige Klümpchen enthielte. – Der letzte Beweis eures damaligen Verbrechens und eurer neuesten Schandtaten ist jetzt durch die Auffindung dieses Goldes erbracht, das restlos den Verwandten eurer Opfer gleichfalls zufallen soll. – Grabt den Sack vollends heraus …! Und damit ihr an diesem Golde wenigstens einige Freude habt, sollt ihr ihn abwechselnd zu Fuß bis zum Schoschonendorfe schleppen dürfen!“
Das grimme Gesicht Koipatos und Lipu Schangs wiederholtes Liebäugeln mit dem bewußten wagerechten Ast trieb die beiden Banditen zu eifrigster Arbeit an.
Keuchend hoben sie den Sack heraus, der gut anderthalb Zentner wog. – –
Erst morgens erreichten wir das große Schoschonendorf an einem Nebenfluß des Humboldt-River.
Unsere acht Mormonen waren mehr tot als lebendig, denn anderthalb Zentner auf dem Rücken tragen und streckenweise traben müssen, erschöpft auch die besten Kräfte.
… All dies hier schreibe ich in dem blitzsauberen Häuschen meines Freundes Koipato …
Wenn ich durch das Fenster über die im Tale wogenden Getreidefelder blickte, wenn ich weiterhin in der Ferne den grauen Strich der öden Wüste erkenne, dann bedauere ich fast, daß nun auch dieser Weg abseits vom Alltag am Rande der Zivilisation ausklingen wird wie alle übrigen …
Soeben setzt Füchslein Krake mit elegantem Sprung durch das offene Fenster, und dann erscheint im Fensterrahmen Dagmars lachendes Gesicht …
„Lege die Feder weg, Olaf … Ich möchte dir etwas erzählen …“
„Weiß ich schon, Dagmar … Jangse war vorhin hier … Die acht Mormonen sind zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt worden …“
„Oh, darauf hatte ich gehofft, Olaf …“, – aber ich wollte dir etwas anderes mitteilen … Hat Koipato dir gegenüber einmal die Satansfarm erwähnt?“
Ich kann nur verneinen.
„Was ist es damit, Dagmar?“
„Nun, sowohl Austin wie Koipato glauben, daß der Besitzer jener Farm…“, – sie bricht mitten im Satze ab …
Fernher, wo sich an das Dorf das kleine Bergwerksstädtchen Ralgate anschließt, das seit Jahren kaum mehr fünfhundert Einwohner zählt, ertönen Schüsse …
„Olaf, was bedeutet das…?!“, flüstert die schöne Dagmar lauschend und ängstlich …
Abermals Schüsse …
… Über die graue Wüste ergießt sich die zarte Röte des Sonnenuntergangs … Die Nacht naht …
Dieser Weg abseits vom Alltag verklingt nun doch mit dem Schlußakkord des unregelmäßigen Gewehrfeuers und mit dem sanften Druck, mit dem Dagmar sich an mich schmiegt. Ich bin zu ihr ans Fenster getreten, wir horchen …
Der ferne Lärm schwillt an …
Sämtliche Hunde des Schoschonendorfes werden munter …
… Über der fernen grauen Wüste des Wermutstrauchlandes Nevada blinkt immer feuriger das Sonnengold des scheidenden Tages …
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