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Band 4, Kapitel 31–39

31. Kapitel.

Das Versteck der Sphinx.

Abermals müssen wir, um den Zusammenhang der vielfachen Geschehnisse auf der treibenden Rieseninsel herzustellen, ein paar Stunden in die jüngste Vergangenheit zurückgreifen …

Und zurückgreifen zum Eisgestade einer anderen Bucht des weißen glitzernden Eilands …

Dorthin, wo die Sphinx mit Mafalda und Edgar Lomatz an Bord soeben gelandet war …

Wo eben zwei andere Personen aufgetaucht waren: die blonde Inge Söörgaard, die Schwester des umgekommenen Kapitäns des wracken Robbenfängers, und der Matrose Holger Tönsen, kein anderer als Fürst Iwan Alexander Sarratow, der rechtmäßige Gatte der großen Abenteurerin …

Ahnungslos waren Inge und Holger, in den Herzen noch das jubelnde Glück erster Zärtlichkeiten, der Sphinx genaht, in der sie aufatmend ihre Retterin vor der heimlichen Liebesgier der verrohten Gefährten begrüßt hatten.

Und ahnungslos war auch Mafalda willens gewesen, den Turm zu verlassen und die Fremden zu begrüßen …

Hatte schnell den Kopf wieder zurückgezogen …

Und selbst unter der Schminke, die ihren schönen und doch so verderbten Zügen für jenen Überfall auf Schloß Missamill die Maske eines chinesischen armseligen Hafenkulis verliehen – selbst unter dieser Schicht von Schminke war sie vor Schreck erblaßt …

Der Mann, den sie für tot gehalten, war noch am Leben …

Der Mann, dessen Vermögen sie vergeudet, dessen Millionen sie dem unersättlichen Teufel Monte Carlo geopfert, – den sie belogen, betrogen, dessen Namen sie in den Schmutz gezerrt hatte, – – ihn sah sie hier nun auf der funkelnden Kristallinsel nach fünf Jahren wieder …!

So sank sie unten im Führerraum in einen der Korbstühle, wie eine Kranke, unfähig, das rasende Herz zur Ruhe zu zwingen, unfähig, die hastenden Gedanken zu zügeln …

Lomatz schaute sie erstaunt und beunruhigt an …

„Mafalda, was …“

Und weiter kam er nicht mit der hastig hervorgestoßenen Frage …

Von draußen her ein lautes:

„Hallo – – dürfen wir an Bord kommen?!“

Das weckte die Fürstin …

Das gab ihr Kraft und Entschlußfähigkeit …

„Lomatz – es ist … mein Gatte …“ – Ihre Stimme war fremd und voller Angst … „Lomatz, mein Gatte, der Fürst … Mit einem blonden Weibe …“

Lomatz’ Gesicht verriet ungläubige, halb ironische Bestürzung …

„Gratuliere, Mafalda …!!“ meinte er nur …

Sie fauchte ihn an wie eine Katze …

„Du vergißt, daß mein Gatte fraglos mit zu den Leuten des Wracks gehört! Und mit diesen Leuten müssen wir uns verbünden … Wir sind nur zwei … Wir haben Verfolger hinter uns …! Laß deine törichten Scherze! Iwan Alexander und dieses Mädchen müssen verschwinden … – Geh an Deck … Sei schlau … Locke sie in eine der Kabinen … Wir besitzen genug der Mittel, die beiden zu überwältigen … – Geh – – er ruft abermals …!“

Lomatz lächelte insgeheim. Ihm war es ein Genuß, Mafalda einmal in Angst zu sehen … Er war gemein genug, sich an ihrer Verstörtheit zu weiden … Sie, die große Mafalda, war in diesem Moment so kläglich und klein … Sie suchte Hilfe und Schutz bei ihm, dem sie bisher stets ihre Überlegenheit bewiesen.

„Also dein Gatte, der Fürst …!“ wiederholte er bedächtig … „Nun, er wird kein Genie sein, wird uns schon in die Falle gehen … Wer eine Mafalda heiratet, ist ein Idiot, ein geiler Tölpel …“

Und dann stieg er die Treppe des Turmes empor – ging an Deck, trat an die Reling …

Auch er war noch in der Chinesenmaske … Und hielt es für ratsam, den beiden, die dort am Eisufer standen, sofort zu beweisen, daß er keiner der Schlitzäugigen …

Rief Holger Tönsen zu:

„Hallo, Master … Hallo … Hier Graf Gaupenberg, Besitzer der Sphinx … – Mit wem habe ich das Vergnügen?“

Und dachte: ‚Nun, der Fürst hat Geschmack …! Das Weib dort an seiner Seite ist ein anderer Schlag als Mafalda …! Diese blonden Frauenzimmer mit den weichen Zügen pflegen zum Teil heiße Herzen zu haben … Das schwarze Haar täuscht sehr oft …“

Schon rief der schlichte Matrose Holger Tönsen zurück:

„Hier zwei Schiffbrüchige, Master Gaupenberg, die mit zur Besatzung eines durch Feuer halb zerstörten Robbenfängers gehören … Unser Wrack liegt drüben an der anderen Seite des Eisberges in der tiefsten Bucht auf dem Ufer. Mein Name ist Holger Tönsen … Und meine Begleiterin hier ist Miß Inge Söörgaard, die Schwester des Kapitäns unserer Brigg, der vor Wochen ums Leben kam …“

Lomatz spielte den Aristokraten … Er spielte jeder Rolle …

„Bitte – vielleicht bemühen Sie sich beide an Deck,“ erklärte er liebenswürdig. „Lassen Sie sich nicht durch meine wenig vertrauenerweckende Maske stören … Meine Gattin und ich wurden unter abenteuerlichen Umständen zur Flucht gezwungen …“

Tönsen und Fräulein Inge folgten bereitwilligst der freundlichen Einladung. Als sie nun vor Lomatz standen, machte er ihnen eine höfliche Verbeugung …

„Ich heiße Sie an Bord der Sphinx willkommen … Gehen wir in eine der Kabinen hinab … Meine Frau entfernt nur die lästige Schminke und legt andere Kleidung an. Frauen sind nun einmal etwas eitel … – Bitte, Miß Söörgaard, – dort die Eisenleiter … Wohl etwas unbequem für junge Damen …“

Der Fürst Iwan Alexander Sarratow wußte nichts von der Sphinx, nichts von den Kämpfen um den Azorenschatz. Vier Monate lang hatten die Männer der Brigg ‚Harlasund’ in den Polargebieten Robben geschlagen und Häute und Tran gesammelt. Dann war das Unheil hereingebrochen – der Schiffsbrand … Und seit sieben Wochen lebten sie nun hier auf der schwimmenden Insel …

Ahnungslos war der Mann, der jetzt Inge Söörgaard mit dem reifen Herzen eines Vielenttäuschten liebte.

Unten im Turme stieß Lomatz dann die Tür nach dem Kabinengang auf, schritt voran … Öffnete eine der schmalen Metalltüren …

„So – – wenn ich bitten darf … Viel Raum bietet meine Sphinx nicht …“

Inge trat ein … Holger Tönsen folgte …

Das elektrische Licht brannte in der kleinen, behaglich eingerichteten Schiffskammer. Es war der gemeinsame Wohnraum der Sphinx. In der Mitte ein runder Tisch … Sechs Korbsessel … Schränke, Wandbretter mit Büchern …

„Ah – – Kultur!“ meinte Tönsen mit leichtem Lächeln und schaute sich um …

Lomatz deutete auf die Sessel …

„Nehmen wir Platz … Meine Frau wird sofort erscheinen … – Doch halt … Ich möchte Ihnen eine Erfrischung anbieten … Ich bin Deutscher, Mr. Tönsen … Entschuldigen Sie mich ein paar Minuten… Deutscher Wein als deutsches Willkommen …“

Er eilte hinaus …

Inge Söörgaard lauschte … Sie war durch die Wochen ständiger Angst auf dem Wrack mißtrauisch und vorsichtig geworden …

Dann ergriff sie Tönsens Hand, blickte den Mann ihres Herzens zaghaft an …

„Holger, ich weiß nicht … Dieser Graf Gaupenberg … gefällt mir nicht …“

Tönsen küte sie …

„Ich bin ja bei dir, Inge … Dein Argwohn ist auch kaum berechtigt. Der Herr ist Deutscher. Man merkt es an seiner Aussprache des Englischen … – Setzen wir uns … Ich habe zudem meine beiden Pistolen … Sei getrost, Inge … Uns wird hier nichts geschehen …“

Und er drückte sie in den einen Sessel … Setzte sich neben sie, behielt ihre Hand in der seinen …

„Wir sind hier sicherer als auf dem Wrack …“ flüsterte er wieder. „Dort umlauern dich die halb vertierten Gefährten … Dort konnte jede Stunde das Schlimmste geschehen … Auch Skanderup, der sich das Kommando angemaßt hat, besitzt nur bedingten Einfluß auf die Horde … Hier sind wir geborgen, Inge. Hier befindet sich eine Frau, eine Dame an Bord … Du wirst sehen, wie überflüssig deine Besorgnisse sind …“

Die Tür ging auf …

Lomatz trat ein. Er hatte sich das Gesicht rasch von der Schminke gesäubert, hatte auch ein blaues Bordjackett angezogen und sich durch Oberhemd, Kragen und Krawatte kultiviert. Daß diese Kleidungsstücke eigentlich Tom Booder gehörten, dem Verlobten Toni Dalaargens, störte ihn nicht. Die Jacke paßte leidlich, und das war die Hauptsache. In dieser Aufmachung wirkte er nun bereits weit standesgemäßer, so daß Inge Söörgaard ihre Bedenken gegen diesen Grafen überwand und sehr bald durch seine Liebenswürdigkeit völlig umgestimmt wurde.

Lomatz hatte eine Flasche Rheinwein und drei Gläser mitgebracht. Er spielte den Gastgeber mit so zwangloser Herzlichkeit, als ob er in der Tat ein deutscher Edelmann und Besitzer der Sphinx sei. Nur gab er sehr genau darauf acht, daß Tönsen und Fräulein Söörgaard gerade die Weingläser erhielten, die er für sie vorbereitet hatte. Auf deren Böden lagen ein paar winzige, kaum bemerkbare kristalline Stückchen eines langsam, aber unbedingt sicher wirkenden Betäubungsmittels.

Unter halb scherzhaften Worten füllte er die Gläser, meinte, daß man hier ja das zum Kühlen des Weines nötige Eis überreich zur Verfügung habe und trank seinen Gästen dann zu …

Das Gespräch drehte sich zunächst um den wracken Robbenfänger und dessen Besatzung. Der arglose Tönsen warnte den ‚Grafen’vor den Matrosen der ‚Harlasund’ und flocht dabei auch ein, daß er sich vorhin mit Inge verlobt habe, worauf Lomatz in angemessenen Redensarten seinen Glückwunsch anbrachte. Er war sehr zufrieden damit, daß die Leute der Brigg von Tönsen als rohe, gewalttätige, verwilderte Männer gekennzeichnet wurden. Hoffte er doch, daß Mafalda gerade eine so geartete Bande von wilden Gesellen am leichtesten für ihre Zwecke ausnutzen könnte.

Nachdem er durch allerlei Fragen sich so genauen Aufschluß über die Verhältnisse auf dem Wrack verschafft hatte, füllte er die Gläser aufs neue und begann nun über die Sphinx zu sprechen, erklärte, daß es sich um ein havariertes Luftfahrzeug handele und daß die Sphinx sich auf einer Weltreise befunden habe. – Seiner Phantasie fiel es nicht weiter schwer, Einzelheiten von einem Überfall auf das Luftboot zu erfinden und auch die Gründe anzugeben, die ihn und seine ‚Gattin’ zu der Chinesenmaskerade gezwungen hatten.

Im übrigen hörten Inge Söörgaard und Tönsen auf diese erdichtete Erzählung kaum mehr recht hin, da eine unüberwindliche bleierne Müdigkeit auch ihren Geist immer stärker umnebelte.

Ein krampfhaftes Gähnen verzerrte ihre Gesichter. Sie begriffen nicht recht, was mit ihnen vorging. Und als dann doch schließlich in Tönsens durch das Betäubungsmittel halb gelähmtem Hirn ein Argwohn aufdämmerte, daß der Wein vergiftet gewesen sein müsse, hatte er nicht mehr die Kraft, aus diesem Verdacht die notwendigen Folgerungen zu ziehen.

Seine nach der Jackentasche gleitende Hand sank ebenso schlaff herab, wie sein Kopf bereits haltlos hin und her baumelte … Er konnte die Pistole nicht mehr hervorholen, sah nur noch mit einem letzten verschleierten Blick, daß Inge bereits fest in ihrem Sessel schlief und daß der angebliche Graf Gaupenberg jetzt mit höhnischem Grinsen ihn anstarrte. Dann schwanden auch ihm die Sinne. Er rutschte nach vorn. Seine Stirn schlug auf den Tischrand. Und in dieser Stellung eines schwer Bezechten blieb er dann liegen.

Lomatz erhob sich, öffnete die Kabinentür und rief Mafalda herbei.

Die hatte mittlerweile in Agnes’ und Ellens Kabine die nötigen Kleidungsstücke für sich gefunden und war nun wieder zur verführerischen üppigen und so überaus pikanten Fürstin Sarratow geworden.

Ein fußfreier Sportrock, eine bastseidene Bluse und dazu ihr reiches, dunkles Haar in geschickter Frisur machten sie wie einst zu jener gewissenlosen, die Männer blendenden und berauschenden Erscheinung, der bisher nur ein einziger widerstanden hatte: Gerhard Nielsen!

„Erledigt!“ sagte Lomatz ganz laut. „Deine Herr Gemahl, liebe Mafalda, ist wirklich ein Idiot. Als er die Geschichte merkte, war’s zu spät …“ Dann lachte er ironisch auf. „Was dich interessieren wird, verehrte Freundin, er hat mir Inge Söörgaard als seine Braut vorgestellt. Er scheint anzunehmen, daß du längst selig entschlummert bist und in der Hölle Quartier bezogen hast …“

„Laß die rüden Späße!“ brauste Mafalda auf …

„Gestatte – glaubst du denn Anwartschaft auf den sogenannten Himmel zu haben?! Wir wollen uns doch gegenseitig nichts vormachen …!“

Die Fürstin Sarratow stand mit zusammengekniffen Lippen da … Schaute zu, wie Lomatz nun dem Matrosen Holger Tönsen die beiden Repetierpistolen aus den Jackentaschen zog und zu sich steckte …

„Wir müssen die beiden fesseln und knebeln,“ meinte sie darauf. „Am besten ist, wir tragen sie nach unten in den Raum, wo das Gold liegt. Wir müssen die Barren und all die anderen Kostbarkeiten ohnedies gut verbergen, indem wir Proviantkisten und anderes darüber aufhäufen … – An die Arbeit, Lomatz …! Je eher wir uns die Leute des Robbenfängers als Verbündete sichern, desto besser … Man kann nie wissen, was geschieht …!“ –

Eine halbe Stunde später waren der Azorenschatz und die uralten goldenen Geräte der Schatzkammer des Aztekenkönigs unter einer Schicht von Kisten, Fässern und anderen Dingen spurlos verschwunden. In einem Winkel des untersten Raumes des Luftbootes aber lagen nebeneinander Inge Söörgaard und Ivan Alexander Sarratow.

Inzwischen hatte Lomatz der Abenteurerin auch alles berichtet, was er aus Tönsen halb und halb über die Bewohner des Wracks herausgelockt hatte.

Die beiden Verbündeten standen jetzt im Turme der Sphinx. – Lomatz meinte bedächtig, als Mafalda sofort die Fahrt nach der anderen Bucht antreten wollte: „Wäre es nicht richtiger, wir versuchten den Schaden an der Zuleitung der Sphinxröhre am Heck auszubessern? Gelingt uns dies, so brauchen wir uns mit den Kerlen des Wracks überhaupt nicht einzulassen …“

Die Fürstin schüttelte energisch den Kopf. „Das kann Stunden dauern … Sind wir doch über die technischen Einzelheiten der Sphinxröhre zu wenig unterrichtet … – Mein Gefühl trügt mich nie, und ich ahne voraus, daß Gaupenberg hinter uns her ist … Beeilen wir uns … Wir dürfen uns auf offener See nicht zeigen … Glaube mir, man wird alle Dampfer durch Funkspruch verständigt haben! Werden wir jetzt am Tage gesichtet, sind wir verloren… Wir müssen Leute anwerben, die mit uns die Sphinx verteidigen … Wir zwei allein sind wehrlos, zumal wir nur über Repetierpistolen verfügen und einer von uns stets hier im Führerraum bleiben muß … – Ich werde die Trossen losmachen … Wir verlassen diese Bucht …“

Lomatz nickte nur … –

Wenige Minuten später schoß die Sphinx mit surrenden Propellern in das Meer hinaus, umrundete die schwimmende Eisinsel zur Hälfte und lief dann in die breite tiefe Bucht ein … –

Hier hatte sich auf dem Wrack des Robbenfängers vor kaum zehn Minuten eines jener Dramen abgespielt, wie sie gerade im Seemannsleben so häufig sich ereignen.

Einer der Matrosen, der längst gegen Skanderup, den energischen Koch und Führer der kleinen Schar, insgeheim gewühlt hatte, war einer Kleinigkeit wegen mit Skanderup in Streit geraten. Dieser Matrose, Lööfsen mit Namen, war ein Bursche von erst dreiundzwanzig Jahren, ein Riese von Gestalt, mit Bärenkräften, aber stumpf von Geist und völlig Sklave seiner einzigen Leidenschaft – er trank!! – Und gerade heute vormittag hatte er sich einen Zugang zu der gut verschlossenen Proviantkammer verschafft, hatte ein Brett losgewuchtet und eine Flasche Rum entwendet.

Er war nicht betrunken, als Skanderup ihm befahl, Brennholz für den Herd der Kombüse zu zerkleinern. Aber sein Atem verriet ihn, und in seinen blöden Augen glühte das Licht der Aufsässigkeit.

Skanderup maß den Riesen mit verächtlichen Blicken.

„Gehorche, Säufer …!“ befahl er mit jener unheimlichen Ruhe, die ihm bisher noch stets das Übergewicht über diese rohe Gesellschaft verliehen …

Aber Lööfsen wußte, daß er die Kameraden hinter sich hatte …

Mit tückischen Augen griff er rasch nach einer Harpune …

Holte zum Schlage aus …

„Bravo …!!“ brüllten die anderen … „Gib’s ihm, Lööfsen!! Was hat der Kerl uns zu kommentieren!“

Der Hieb kam blitzschnell und für den Koch vollkommen überraschend …

Die lange Eisenspitze der Harpune traf ihn mitten auf den Kopf …

Lautlos brach er mit zertrümmertem Schädel zusammen … Blut färbte die schmutzigen, fettigen Deckplanken …

Und als die Untat nun geschehen, standen die sechs Robbenschläger doch minutenlang wie erstarrt da und stierten auf den in letzten Zuckungen sich hin und her werfenden Körper des Mannes, den sie haßten, weil er ihnen den Zutritt zu Inge Söörgaards Kabine verwehrt hatte …

Auch der Riese Lööfsen war wie betäubt durch diesen Mord … Ein Menschenleben hatte er nun auf dem Gewissen … Die Alkoholdünste verflogen … Sein stumpfes Gesicht erblaßte langsam … Sein Mund öffnete sich … Unglaublich blöde, fast tierisch wirkte dieser Goliath …

Dann brüllte ein älterer Matrose:

„Los – ein Stück Eisen an die Beine …! Weg mit der Leiche! Und Rum herbei … für alle!“

Die Leiche flog über Bord … Man säuberte das Deck … lagerte sich um den Kessel, in dem einer der Bande eine Art kalten Grog gemischt hatte …

Die Sonne brannte heiß hernieder. Und doch strahlte die Eismasse der glitzernden Insel so viel Kälte aus, daß hier in der Bucht kaum drei Grad Wärme am Thermometer abzulesen waren …

In ihren Pelzjacken lagen die sechs auf Wolldecken um den Kessel herum …

Kerle, denen die Bärte und das ungeschnittene Kopfhaar die Gesichter von Urwaldmenschen verliehen … Verwildert, ungewaschen, stinkend nach Schweiß und Tran …

Das ganze Wrack stank … Im Lagerraum lagen die gefüllten Fässer … – Tran, eingesalzene Häute …

Sie soffen, die sechs … Soffen die Erinnerung an den Mord hinweg … Gröhlten Lieder … Rauchten … Freuten sich auf Inges und Tönsens Rückkehr …

„Würfeln wir um das Weib …!“ rief dann einer, dem die Sinnengier längst das Hirn zerfressen …

Sie würfelten … Jeder drei Wurf … Wer die meisten Augen machte, sollte Inge als erster besitzen.

Immer rüder wurden Rede und Gelächter, wilder die Flüche …

Ausgerechnet der älteste, ein Matrose von über fünfzig Jahren, war erster Sieger bei diesem vertierten Spiel …

Schweigend schauten die hohen Eiswände der Bucht diesem Frevel zu …

Mit heiserem Schrei strichen Möven über die Bucht und das Wrack hinweg …

Der Sieger bot seinen Gewinn dem Meistzahlenden an …

Man erhitzte sich bei dieser Auktionen …

Einer überbot den anderen …

Um Inge ging’s …

Um Inges Reinheit …

Und gerade als Lööfsen sein ganzes Geld dem Gewinner versprach, horchten die sechs plötzlich auf …

Hoben lauschend die Köpfe …

„Verdammt – – ein Flugzeug!“ keuchte einer …

Sie starten nach oben …

Aber der Äther blieb leer …

Dann bog die Sphinx um die nächste Ecke der Bucht.

Die sechs glotzten dem Propellerboot entgegen …

Torkelnd kamen sie an die Reling … Aus schwimmenden Augen stierten sie die Frau an, die dort auf dem leicht gewölbten Deck des merkwürdigen Fahrzeugs stand …

Mafalda …

Ein Lächeln um die roten Lippen …

Die sechs waren wie verzaubert …

Sie witterten heißeres Fleisch als das der blonden Inge …

Und bis dicht an die Eisplattform, auf der das Wrack ruhte, schoß die Sphinx heran …

Stoppte …

Sechs Meter entfernt …

Noch immer schwiegen die sechs …

Glotzten …

Dann legte das Luftboot an der Eisplattform an, und Mafalda rief zum Wrack hinüber:

„Wo ist Skanderup? Wer von euch ist Skanderup?“

Stille …

Bis einer der sechs mit schwerer Zunge log:

„Skanderup ist vorhin verunglückt … Er fiel drüben von der Wand und brach das Genick … Wir haben ihn nach Seemannsart begraben – hier in der Bucht …“

Mafalda prüfte die wilden Gesichter, ahnte die Wahrheit …

„Seid nur ehrlich!“ meinte sie mit demselben Dirnenlächeln. „Ihr habt ihn getötet … Wir wissen, wie es hier auf dem Wrack zuging … – Wollt ihr sechs in meine Dienste treten? Ich zahle gut … Ich brauche Leute, die sich vor Tod und Teufel nicht fürchten … Ihr sollt reich werden, wenn ihr Treue haltet … Kein Gericht der Welt wird euch wegen Skanderups Tod zur Verantwortung ziehen …“

Es kam Leben in die sechs Robbenschläger …

Das Weib dort auf dem Propellerschiff imponierte ihnen … Die machte nicht viele Worte … Und Skanderups Tod … – Es war besser, man stellte sich gut mit der Dame … Denn eine Dame war’s … Das merkten die sechs … –

Der älteste der Matrosen, der soeben seinen ‚Gewinn’ meistbietend hatte veräußern wollen, übernahm nun die Verhandlungen.

Mafalda war vorsichtig. Sie besaß Menschenkenntnis. Sie wußte genau, daß diese sechs Mann durch die wochenlange Fahrt auf der Eisinsel und durch den monatelangen Aufenthalt in den Polargebieten völlig verwandelt waren, daß alle schlechten Instinkte bei ihnen die Überhand gewonnen hatten und daß nur eins diese verrohten Seelen zu Treue und Gehorsam zwingen würde, die Hoffnung auf nie geahnten Reichtum!

Alles hatte sie schon vorher überlegt … Hatte von den Goldbarren eine Anzahl in den Turm gebracht. Das glänzende Metall sollte das Lockmittel sein …

Und – Mafalda gewann das Spiel …

Sechs Goldbarren warf sie hinüber …

Versprach jedem zehn der gelben schimmernden Ziegel …

Und die Kerle standen und prüften die Barren …

Ihre Gesichter wurden zahm … Der Alkoholrausch schwand … Ein anderer Rausch packte die schlichten Burschen … Ihre trägen Gedanken spielten mit lockenden Zukunftsbildern …

Jeder zehn Goldbarren …

Das bedeutete für sie das Ende des mühseligen Seefahrerdaseins, den Anfang von Nichtstun, von ewigen Feiertagen …

Der alte Matrose rief Mafalda zu, daß sie ihr dienen wollten, daß sie alles für sie tun würden, alles. –

Dann legte Lomatz die Sphinx in der Mitte des ovalen Beckens vor Anker. Das Beiboot wurde ausgesetzt, und Mafalda ruderte allein zum Wrack, hatte ein Fernglas mit, zwei Pistolen. Über der bastseidenen Bluse trug sie einen Mantel, der Kälte wegen. In den Taschen steckten die Waffen …

Zwei der Matrosen mußten sie dann zu einem der Hügel begleiten. Sie wollte Ausschau halten … Sie fürchtete Verfolger …

Und kaum oben auf dem Hügel angelangt – kaum das Fernrohr an den Augen, bemerkte sie im Südwesten ein fernes Fahrzeug. Ihr Blick war seemännisch geschult … Sie erkannte den Motorschoner ‚Ellinor’ … Dasselbe Schiff, das den Angriff auf Schloß Missamill gewagt, das Mr. Nulls Horde dort gelandet hatte …

Obwohl Mafalda nun mit Verfolgern gerechnet hatte, das Auftauchen gerade dieses Schoners verwirrte sie!

Wer war jetzt der Herr auf dem schnellen schlanken Schiffe? – Noch die Leute des berüchtigten Verbrechers, der in Neuyork unter dem Namen ‚Null’ oder ‚Sipa’ die verwegensten Taten begangen und den dann doch im Schlosse Missamill der Tod ereilt hatte?! – Oder befanden sich etwa jetzt auf der ‚Ellinor’ Gaupenberg und die Sphinxleute?! Hatten diese sich des Schoners bemächtigt und irgendwie die Fluchtrichtung der Sphinx erfahren?!

Jedenfalls, mochten Mr. Nulls Banditen oder die Sphinxleute den Schoner der treibenden Eisinsel entgegen steuern: Gefahr drohte!! Und diese Gefahr mußte man schleunigst durch geeignete Gegenmaßregeln abschwächen! Schleunigst!!

So ließ Mafalda denn die beiden Matrosen als Beobachter auf dem Eishügeln zurück und hastete nach der Bucht hinüber, ruderte zur Sphinx und verständigte Lomatz von dem Nahen des Feindes.

Edgar Lomatz hatte inzwischen mit den auf dem Wrack zurückgebliebenen Robbenschlägern von Bord zu Bord sich gemächlich unterhalten.

Der riesige Matrose Lööfsen war’s gewesen, der ihm stolz erzählte, wie er in der Eiswand der Bucht drüben hinter den aus dem Wasser ragenden Blöcken den Zugang einer halb mit Wasser gefüllten enormen Eishöhle entdeckt hätte und wie er und seine Kameraden mit Fackeln dort eingedrungen seien …

Und als Mafalda jetzt davon sprach, daß man am klügsten täte, die Sphinx irgendwo zu verbergen, nickte Lomatz und meinte sehr gelassen:

„Das Versteck ist schon gefunden, Mafalda … Drüben hinter den Eisblöcken soll ein Grotteneingang liegen, der allem Anschein nach für die Sphinx hoch und breit genug wäre. Bleib hier an Bord … Ich werde mit Lööfsen hinüberrudern …“ –

Das kleine Beiboot der Sphinx holte den Riesen vom Ufer ab und glitt dann quer über das weite Becken zwischen die Eiskolosse hinein, die an dieser Stelle wie eine Reihe von Klippen vor der Buchtwand aus dem grünen Meereswasser herauswuchsen.

Bisher hatte keiner der Leute des Wracks Inge Söörgaard und Holger Tönsen erwähnt. Jetzt wagte der etwas beschränkte Lööfsen die erste Bemerkung über die beiden Gefährten, die bisher von ihrem Spaziergang über die Eisinsel nicht wieder auf der ‚Harlasund’ erschienen waren …

„Mr. Lomatz,“ sagte er dummschlau, „haben Sie vielleicht, als Sie unseren Eisberg umrundeten, zwei von uns irgendwo am Ufer gesehen? Es fehlen nämlich zwei, ein Mädchen und Tönsen, ein Matrose …“

Lomatz hatte mit Mafalda schon vorher vereinbart, die beiden Gefangenen unten im Raum zu verschweigen.

Er schüttelte den Kopf …

„Wir bemerkten niemand … Was für ein Mensch ist denn dieser Tönsen?“

„Oh – ein aufgeblasener Narr!“ stieß der plumpe Riese grollend hervor. „Ein Kerl, der sich etwas Besseres dünkt … So ein ganz feiner, der wahrscheinlich anders heißt und verdammt viel auf dem Kerbholz hat …“

Das Gespräch verstummte …

Das Boot befand sich dicht vor dem Grotteneingang.

Lomatz berechnete mit den Augen, ob man die Sphinx wohl in die Eishöhle würde hineinbugsieren können … Es mußte gehen … Und wenn man dann noch den nächsten der Blöcke durch einen Sprengschuß nach der Grotte hin umstürzte, mußte die gewaltige Eismasse sich gerade vor den Eingang legen.

Das Boot kehrte um.

Lööfsen mußte dann die beiden Matrosen von dem Hügel zurückrufen, während die anderen drei in aller Eile die wertvollsten Dinge aus dem Wrack auf die Sphinx schafften und diese nun langsam durch das Beiboot mit aller Vorsicht in die Eisgrotte geschleppt wurde.

Als der Scheinwerfer der Sphinx jetzt das grünliche Dämmerlicht der Kristallhöhle in grelle Lichtfluten verwandelte, konnten Mafalda und Lomatz einen Ausruf des Staunens kaum unterdrücken …

Die wunderbarsten Beleuchtungseffekte zauberte der Scheinwerfer auf diesen Eiszacken und Eisnadeln, in diesen Spalten und Rissen der Höhlendecke und der zerklüfteten Wände hervor …

Selbst die rohen wilden Gesellen verstummten …

Still vertäuten sie die Sphinx an der einen Wand.

Dann mußten rasch noch die drei anderen mit dem Beiboot hereingeholt werden. Inzwischen hatte Lomatz schon aus den Vorräten der Sphinx eine Dynamitpatrone hervorgesucht …

Gerade als der Schoner dem schwimmenden Berge auf dreihundert Metern nahe gekommen, neigte sich der ein Eisblock unter dumpfem Knall und polterte in den Eingang der Grotte hinab, zerschellte und sperrte mit seiner wirren Trümmermasse den schmalen Zugang zu dem Versteck des Goldschiffes.

Immerhin blieben an einzelnen Stellen noch enge Löcher frei, durch die ein Mensch sich bequem hindurchwinden konnte.

Lomatz war’s, der durch eine dieser Öffnungen ins Freie kroch, sich außen gut verbarg und so den Schoner beobachten wollte, falls dieser die Bucht anlaufen sollte.

Und – der Schoner erschien …

Edgar Lomatz traute seinen Augen kaum, als er an Deck neben dem Freunde des Mr. Null, den er nur unter den Namen Le Baron kannte, Agnes, Ellen und Dr. Falz bemerkte …

Außerdem eine ganze Anzahl von Mr. Nulls Banditen, die jetzt aber offenbar mit den drei Sphinxleuten Frieden geschlossen hatten.

Er beobachtete weiter, wie der Schoner in der Nähe des Wracks Anker warf, wie Le Baron, Dr. Falz und zwei Chinesen ans Ufer ruderten und das Wrack des Robbenfängers durchsuchten.

Dann verließen Falz und der schlanke, sehnige Le Baron doch die Gestade der Bucht und wanderten eiligst dem einen Hügel zu …

Ahnten nicht – konnten auch nicht ahnen, daß die Sphinx in nächster Nähe … Waren auch zu vertrauensselig, was die Besatzung des Schoners betraf … Glaubten Agnes und Ellen in der Kajüte gegenüber der waffenlosen Mannschaft in Sicherheit … –

Lomatz wagte jetzt ein kühnes Spiel … Er kannte die Chinesen … Er rechnete auf deren Treulosigkeit und Goldgier … An Deck der ‚Ellinor’ tummelten sich nur Chinesen und die wenigen Weißen, die mit zu Mr. Nulls Piraten gehört hatten …

Lomatz erhob sich zwischen den Eistrümmern …

Wurde bemerkt …

Winkte …

Schnell brachte die verräterische Bande ein Boot zu Wasser …

Schnell verständigte man sich mit dem listenreichen Verbrecher …

Und Agnes und Ellen, die von alledem nichts hatten beobachten können, waren in der von innen verschlossenen Kapitänskajüte und im Besitz von vier Browningpistolen vollkommener überzeugt, daß ihnen nicht das geringste zustoßen könne, obwohl ihre Beschützer sich zur nächsten Eishügelkuppet begeben hatten. Die Fenster der Kajüte gingen auf das Deck hinaus. Sie konnten nur sehen, dass die Leute ein Boot bemannten … Dachten nichts Arges.

Und doch hatte Lomatz diesen rachsüchtigen Burschen, die bisher nur durch die Furcht vor Dr. Falz’ Unverwundbarkeit niedergehalten worden waren, bereits drei Pistolen ausgehändigt und ihnen auch ganz genaue Anweisungen erteilt, wie sie am leichtesten den Doktor und den Kapitän Le Baron überwältigen könnten.

So nahte denn nun die Schicksalsstunde des Gescheiterten …

Es war Le Barons letzter Gang gewesen, dieses Erklimmen des Eishügels und der Rückweg zum Schoner …

Das Boot, das ihn und Dr. Falz zur ‚Ellinor’ zurückbringen sollte, lag schon bereit.

Nichts verriet den beiden Deutschen, was hier inzwischen geschehen.

Das Boot erreichte den Schoner. Falz kletterte als erster die Strickleiter empor. Dann folgte der lange Hans – Graf Hans Samitten …

Ellen und Agnes hatten die Kajütentür geöffnet, kamen ihren Beschützern entgegen …

Noch immer erschien alles auf dem Schoner wie vordem …

Nichts fiel den Opfern dieser Banditen auf …

Selbst die drei Kerle nicht, die da an der Reling standen, die Hände tief in den Jackentaschen …

Und als der lange Hans nun an diesen dreien vorüberschritt, geschah das Entsetzliche – ein feiger Meuchelmord …

Drei Fäuste glitten aus schmierigen Taschen …

Drei harte kurze Knalle …

Drei Kugeln, die den Gescheiterten halb von rückwärts trafen …

Graf Hans Samitten fiel nach vorn auf das Gesicht …

Und gleichzeitig erhielt Dr. Falz einen Hieb mit dem starken Schaft einer Harpune mitten über den Schädel …

Brach gleichfalls zusammen …

Brüllend stürzten sich die Schlitzäugigen auf die beiden Frauen …

Bis zur Kajütentür des Heckaufbaus waren es nur vier Meter …

Und Ellen, geborene Barrouph, Ellen, einst Gefangene im unterirdischen Aztekenreich, brachte wirklich die ungeahnten Kräfte auf, die hilflose Agnes wie ein willenloses Geschöpf den gierigen Händen der allzu siegesgewissen Banditen zu entführen …

Als sie dann die Kajütentür ins Schloß warf, prallten gleichzeitig von außen ein paar der schlitzäugigen Bestien gegen das krachende Holz …

Doch – der Riegel lag bereits vor …

Und Stahlmantelgeschosse jagte das aschblonde tapfere Weib Georg Hartwichs jetzt durch die splitternde Türfüllung – auf gut Glück …

Draußen Schreie … Wutgebrüll …

Draußen lag Hans Graf Samitten starr und leblos auf den Deckplanken …

Gefallen für sein Vaterland, das er verloren gehabt, dem er nun das größte Opfer gebracht, sein eigenes Leben!

Den bewußtlosen Dr. Falz aber hatten die Banditen gefesselt und in eine Segelkammer des Vorschiffes geworfen …

Gerade da geschah’s, daß einer der Piraten, der von Lomatz als Ausguckmann bestimmt war, durch lebhaftes Winken vom Steilrande der Buchtwand das Nahen eines anderen Fahrzeuges anzeigte …

Und dieses Fahrzeug war, wie wir bereits wissen, der große Motorkutter ‚Schildkröte’ mit den anderen Sphinxleuten an Bord …

 

32. Kapitel.

Murat bewährt sich abermals …

Inzwischen hatten Lomatz und Mafalda, die von den Eisklippen an der anderen Seite der Bucht die Vorgänge auf Deck des Schoners genau verfolgen konnten, ein Boot herbeigerufen, das nun die Fürstin eilends zur ‚Ellinor’ hinüberbrachte.

Mafalda wollte versuchen, Agnes und Ellen zur Übergabe zu bewegen.

Sie ließ sich zunächst von dem Ausguckmann das nahende Fahrzeug beschreiben. Sie zweifelte keinen Augenblick, daß es sich um die Sphinxleute handelte. Sie hatte ja von der Schonerbesatzung bereits von den Funksprüchen gehört, die zwischen der ‚Schildkröte’ und der ‚Ellinor’ ausgetauscht worden waren …

Mit aller Vorsicht erkletterte sie jetzt das niedere Dach des Heckaufbaus von der Rückseite und rief dann, den Kopf über den Rand hinwegschiebend, nach der Kajütentür hin mit lauter Stimme Ellens Namen …

Ellen Hartwich horchte auf …

Verstand jedes Wort, das die hartnäckigste Feindin der Sphinxleute nun heuchlerisch ihr weiter hinabschrie.

Mafalda drohte nicht. Nein, sie machte die beiden Frauen, die sie unbedingt schonen wollte, um zwei Geiseln jederzeit zur Verfügung zu haben, nur darauf aufmerksam, daß die Besatzung der ‚Ellinor’, die soeben durch Ellens Schüsse abermals zwei Leute verloren hatte, die Kajüte stürmen würde und daß nach erneutem Blutvergießen keine Möglichkeit für sie bestände, Agnes und Ellen vor den Brutalitäten der Banditen zu schützen.

Agnes Gaupenberg, die gleichfalls alles mit anhörte, beschwor die Freundin, es nicht zum äußersten kommen zu lassen.

Ellen sah selbst ein, daß eine weitere Verteidigung der Kajüte zwecklos sei. Sie öffnete das eine Fenster zum Deck und beugte sich hinaus. Ihr Blick fiel auf die Leiche Samittens, traf unweit davon zwei tote Chinesen.

Den Kopf zur Seite wendend, hatte sie dann das Gesicht der Abenteurerin dicht über sich … und die Blicke der beiden Frauen, von denen jede die andere fürchtete und haßte, ruhten sekundenlang ineinander …

Dann sagte Ellen sehr bestimmt:

„Wir werden uns nur ergeben, wenn Sie, Mafalda Sarratow, uns die Gewähr bieten, daß wir ungehindert vom Bord dieses Fahrzeuges auf den Eisberg gelangen können und daß wir dort unbehelligt bleiben. Wir wissen, daß unsere Freunde sehr bald hier eintreffen werden. Hüten Sie sich also, uns den Banditen des Schoners zu überantworten. Ebenso verlangen wir, daß Dr. Falz uns mitgegeben wird, der nur bewußtlos sein kann. – Entscheiden Sie sich …!“

Mafalda überlegte kurz … erklärte dann:

„Ich bin einverstanden … Ich werde mit Ihnen und Dr. Falz an das Ufer rudern … Sie können mich niederschießen, wenn die Besatzung Sie angreifen sollte.“ –

Bei dieser Vereinbarung blieb es. Mafalda verständigte Lomatz von der Abmachungen und besprach mit ihm noch weitere Einzelheiten.

Dann wurde Dr. Falz an Deck geschafft. Er war bereits bei Bewußtsein, aber noch sehr schwach. Auf seinen Wunsch hin wurde auch Samittens Leiche in das Boot gelegt. Mafalda und Ellen ruderten. Die Fürstin hatte vorher schon betont, daß das Boot nur die benachbarte Bucht anlaufen und dort erst landen dürfte.

So geschah es auch …

Jetzt aber zeigte sich wieder einmal, wie sehr die gefährliche Abenteurerin gegenüber ehrlichen Naturen im Vorteil war.

Selbst Dr. Falz, der mit verbundenem Kopf am Steuer des Bootes saß, ahnte nichts Arges …

Auf Mafaldas Wink hatte er das Boot neben eine flache Uferstelle gedrückt, hinter der eine Halde von gewaltigen Eistrümmern sich die Buchtwand hinanzog.

Agnes stieg zuerst auf die Eisplatte hinüber, stützte dann den Doktor und half ihm gleichfalls auf festen Boden. Ellen, einen Browning in der Hand, bewachte Mafalda, die harmlos auf der Ruderbank saß …

Harmlos – – scheinbar …!

Ein blitzschneller Hieb mit dem Ruder gegen Ellens rechten Arm schleuderte die Waffe ins Wasser …

Gleichzeitig tauchten hinter den Blöcken der Eishalde sechs Chinesen auf…

Die Überrumpelung war geglückt … An Widerstand war für die drei Sphinxleute nicht zu denken … Vor den drohenden Pistolen der Piraten mußten sie sich auf Gnade und Ungnade ergeben.

Man fesselte ihnen flüchtig die Hände auf den Rücken … Verband ihnen die Augen … Und Le Barons Leiche flog, mit einem Eisenstück beschwert, ins Wasser.

Das Boot schoß davon … Kehrte in die große Bucht zurück … Man führte die drei Gefangenen ans Ufer …

Und hier war’s, wo Agnes Gaupenbergs die Augen verhüllendes Tuch ein wenig sich verschob. Sie erblickte die Eisklippen, sah, daß Lomatz soeben durch eine der Öffnungen in dem durch Trümmer versperrten Eingang zur Eishöhle verschwand …

Agnes stand mit dem Rücken nach der Buchtwand hin … Konnte die Arme bewegen … Genügend bewegen, um mit Hilfe ihrer Armbanduhr in die Eisfläche jene Zeichen einzukratzen, die nachher der kluge Murat entdeckte …

Dann brachte sie durch eine kurze Kopfbewegung die Augenbinde wieder bis über die Brauen empor und wartete das Weitere ab …

Man zwang die drei Gefangenen, sich durch die enge Öffnung zu winden … Man schaffte sie in die Kabinen der hier in der großen Eishöhle verborgenen Sphinx … Nahm ihnen die Fesseln ab und verschloß die Kabinen … –

Draußen in der Bucht war jetzt alles still und einsam …

Einsam lagen das Wrack des Robbenfängers und der Schoner da … Nirgends war mehr ein Mensch zu erblicken …

Hungrige Möwen schwebten über dem Kehrichthaufen neben dem Wrack, ließen sich auf den Abfällen nieder und hackten mit festen Schnäbeln nach stinkenden Speiseresten …

Eine Viertelstund verging …

Der Eisberg trieb langsam weiter gen Süden … in beständiger Drehung um sich selbst …

Das gefrorene Riesengebilde glitzerte, funkelte, tropfte unter der Einwirkung der Sonnenstrahlen … Von den steilen Buchtwänden schäumten kleine Wasserfälle herab …

Ein Seehund tauchte neben dem Schoner auf, äugte nach allen Seiten und kroch auf eine flache Uferstelle. Ein zweiter folgte …

Die Tiere sonnten sich. Ihre runden großen menschlichen Augen schweiften mißtrauisch umher …

Plötzlich wälzten sie sich wieder ins Wasser … Verschwanden …

Der Motorkutter ‚Schildkröte’ war soeben um die nächste Biegung erschienen … –

Eine Stunde später …

Die Sphinxleute hatten das Wrack und den Schoner leer gefunden, hatten die schwimmende Kristallinsel in allen Teilen durchsucht …

Nur eins entdeckten sie, die in die Eiswand eingekratzten Zeichen – den Pfeil und die drei Buchstaben!

Murat, Nielsen und Gipsy Maad suchten unermüdlich nach weiteren Spuren. Aber das harte Eis hatte keinerlei Fährten angenommen … Selbst Murats feiner Geruchssinn versagte, da die Sonne die Oberschicht der Eisflächen mit feuchtem Hauch überzog, der sich ständig erneuerte und in Tropfen zerrann …

Volle zwei Stunden kletterten Murat, Nielsen und Gipsy in der Nähe der Steilwand umher …

Der Pfeil mußte ja etwas zu bedeuten haben …!

Und doch – sie fanden nichts – – nichts! Lomatz hatte die Öffnungen in den Eistrümmern klug verschlossen … Niemand konnte ahnen, daß dieser Trümmerberg den Eingang der Eisgrotte verdeckte.

Um fünf Uhr nachmittags kehrten die drei auf die neben dem Schoner vertäute ‚Schildkröte’ zurück, wo inzwischen Toni Dalaargen und Mela Falz eine warme Mahlzeit zubereitet hatten. Auch Gaupenberg und Hartwich, die soeben abermals von einem Hügel Ausschau gehalten, stellten sich niedergeschlagen wieder ein.

In der Wohnkajüte des großen Kutters war der Tisch gedeckt. Betrübt und still nahmen die Sphinxleute Platz. Hoffnungsvoll und kampfbereit hatte man die Bucht angesteuert … Jetzt schien es gewiß, daß die Sphinx noch rechtzeitig entkommen war und daß die Schiffbrüchigen des Wracks und die Piraten des Schoners sich mit Mafalda und Lomatz verbündet hatten …

Nur ein einziger der stillen Versammlung war anderer Ansicht: Murat, der Homgori …!

Hastig schlang er, unten an der Tafel zwischen Pasqual und Knorz sitzend, das Essen hinunter. Er wollte den Rest des Tages zu erneuten Nachforschungen benutzen.

Dann erhob er sich als erster, erklärte in seinen tiefen Kehllauten:

„Murat wieder suchen gehen … Sphinx noch hier sein …!“

Gaupenberg nickte dem Tiermenschen freundlich zu.

„Braver Murat, es wird vergeblich bleiben …!“

Die anderen schwiegen …

Der Homgori verschwand hinaus …

Nielsen, der neben Gipsy saß, meinte plötzlich:

„Freunde, wir müssen immerhin damit rechnen, daß die Sphinx hier in einem sicheren Versteck noch verborgen ist … Wenn wir bis morgen früh nichts Neues entdeckt haben, wollen wir durch List zu erreichen suchen, was durch Beharrlichkeit nicht zu finden ist. Wir wollen den Eisberg dann verlassen. Aber Murat und ich werden hier auf der schwimmenden Insel bleiben. Wagen sich die Feinde dann aus ihrem Schlupfwinkel hervor, so geben wir dem Kutter Signale. Fangen wir die Sache vorsichtig und geschickt genug an, so müssen wir unsere Gegner doch überlisten. Jedenfalls darf diese Mutlosigkeit, wie sie jetzt hier unter uns herrscht, nicht länger andauern. Gewiß, wir haben in den letzten Tagen nur Fehlschläge erlebt, aber auch das wird wieder anders werden. Wir sind eben bisher mit unseren Feinden stets zu glimpflich umgegangen …“

Eine gewisse Erregung lag in Nielsens Worten, mehr noch, fast ein Vorwurf, der sich nur gegen Viktor Gaupenberg richten konnte.

Der schaute daraufhin den Gefährten ohne jede Empfindlichkeit offen an. „Sie mögen recht haben, lieber Nielsen …“ nickte er wehmütig ernst. „Aber vergessen Sie nicht, daß das Liebste, das mein Freund Hartwich besitzt, seine Gattin Ellen, und auch meine Frau sich in der Gewalt eines Weibes befinden, deren unauslöschlicher Haß gegen Agnes aus den unlauteren Quellen der Eifersucht fließt … Ich bin nicht mutlos. Daß aber die Angst um die beiden Frauen und um unseren Doktor meine Entschlußfähigkeit lähmt, kann vielleicht nur der begreifen, der sein Dasein so eng mit dem eines geliebten Wesens verkettet hat wie ich, und der anderseits einem Manne wie Doktor Falz unendlichen Dank schuldet … – Lieber Nielsen, auch in dem zweiten Punkt mögen Sie im Recht sein! Wir haben Mafalda und Lomatz stets zu zart angefaßt. Und – auch dies soll anders werden! Wir haben nicht die Befugnis, zu richten … Aber wir sind es uns selbst aus Selbsterhaltungstrieb schuldig, diese beiden Verbrecher endgültig unschädlich zu machen …“

Seine Stimme gewann immer mehr an Festigkeit.

„Sollten wir der beiden habhaft werden, so werden sie verschwinden – für immer! Oder besser, für so lange, bis unsere Mission erfüllt ist, bis wir das Gold dem deutschen Vaterlande ausgeliefert haben. Von meinen früheren Reisen her kenne ich hier im nördlichen Atlantik ein Inselchen, eigentlich nur ein großes Felsenriff, das sich zum Gefängnis für die beiden durchaus eignet. Dort werden wir sie bewachen lassen. Mein treuer Gottlieb und Freund Pasqual werden Gefangenenwärter spielen! Keine angenehme Aufgabe, aber eine unbedingt notwendige! – Vorwärts – durchsuchen wir nochmals den Eisberg! Wir haben bis Dunkelwerden noch drei Stunden Zeit … Nur Mela und Toni mögen hierbleiben. Sie genügen zur Abwehr jedes Angriffs, wenn wir den Kutter mitten im Becken verankern! – Vorwärts, – Nielsens leichte Gereiztheit ist nicht umsonst gewesen! Er soll mit uns zufrieden sein!“

Und zehn Minuten darauf waren die Sphinxleute bis auf die beiden jungen Mädchen von neuem in zwei gut bewaffneten Trupps unterwegs über die wechselvollen Eisgefilde des riesigen Polarwanderers …

Vergebens aber hatte man sich vor dem Aufbruch nach Murat, dem Homgori, umgeschaut. Der war nirgends an den Ufern der Bucht zu bemerken. –

Der eine Trupp, bestehend aus Gaupenberg, Dalaargen, Pasqual und Knorz, wandte sich nach links, wo die hohen Eishügel eine Berglandschaft von bezaubernder Schönheit bildeten.

Der andere unter Führung Nielsens – und ihm hatten sich Gipsy, Tom Booder und Georg Hartwich zugesellt – durchforschte in entgegengesetzter Richtung die weiße Insel.

Beide Trupps kamen sich sehr bald aus den Augen.

Einsam und still lag die große Bucht mit dem ovalen Wasserbecken nun wieder da. Mela Falz und das liebliche Tonerl, die jetzt als Tom Booders Bräutchen in kurzem förmlich aufgeblüht war, lehnten an der Backbordreling der ‚Schildkröte’, neben sich als wirksamste Waffe die Maschinenpistole, dazu vier Karabiner.

Mela, leicht geträumt, kräftig und frisch wie immer, war sich ihres verantwortungsvollen Postens wohl bewußt … Gaupenberg hat ihnen nachdrücklichst eingeschärft, bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr nicht nur Alarmschüsse abzugeben, sondern auch eine der roten Raketen aufsteigen zu lassen und nötigenfalls den Anker zu lichten und den Kutter aus der Bucht ins offene Meer zu steuern.

Die beiden jungen Mädchen ließen denn auch unaufhörlich die Blicke über die schillernden Eiswände schweifen und achteten auf jede Kleinigkeit, die irgend eine Gefahr vorher verkündet hätte. – Das Prinzeßchen war jetzt durch die letzten stürmischen Ereignisse und Abenteuer nicht mehr wie einst ein überaus zartes, scheues Geschöpfchen, sondern hatte ja zusammen mit den Freunden eine harte Schule durchgemacht. Sie, der es bisher unmöglich gewesen, auch nur eine Schußwaffe in die Hand zu nehmen, wußte mit einer Pistole nunmehr ebenso gut umzugehen wie Mela und Gipsy. –

Leise sprachen sie über die Möglichkeit, daß die Sphinx wirklich hier auf der Insel verborgen sein könnte. Mela Falz glaubte nicht recht daran. Sie konnte nicht ahnen, daß es auf der schwimmenden Inseln in den turmhohen Wänden dieser Bucht eine Grotte gab, die noch weit größeren Fahrzeugen als der Sphinx Raum gewährt hätte …

Und gerade als das Tonerl nun ihrerseits erklärte, sie könne sich über diese Dinge kaum ein Urteil erlauben, da erblickten beide gleichzeitig den zottige Murat, der von links her, wo eine Schlucht nach einem Schneefeld führte, gemächlich dahergeschlendert kam mit den ihm eigentümlichen Bewegungen, die noch so sehr an seine Abstammung mütterlicherseits errinnerten – an die Gangart der Gorillas …

Ganz gemächlich nahte er dem Buchtufer … So, als ob er nun selbst eingesehen hätte, daß seine Nachforschungen umsonst seien …

Am Ufer lag noch das Boot, das die Sphinxleute hinübergetragen hatte. Murat kettete es los, sprang hinein und ruderte auf den Kutter zu …

Mela sagte mit halbem Seufzer zu dem Prinzeßchen:

„Auch Murat hat das Suchen aufgegeben …! Und er war doch seiner Sache so sicher …!“

Dann legte das Boot an der kleinen Schiffstreppe der ‚Schildkröte’ an. Der Homgori band es fest und rief den Mädchen zu:

„Sphinx nicht hier … Murat nicht mehr suchen … Murat frieren …“

Seine gewaltige Stimme weckte ein mehrfaches Echo in den hohen Eismauern …

Er stieg die Treppe hinan und näherte sich den Mädchen …

Mela sah sofort, daß Murats kleine blitzende Augen noch stärker funkelten als sonst …

Sie begriff plötzlich …

Der Homgori spielte Komödie …

Murat hatte irgend etwas entdeckt, wußte aber, daß er beobachtet wurde und heuchelte Gleichgültigkeit …

Mela fragte flüsternd:

„Murat, was gibt’s?! Du hast etwas gefunden?“

Der Tiermensch fletschte mit einem Male die Zähne. Sein behaartes Gesicht nahm den Ausdruck tierischer Wildheit an …

„Still …!!“ gurgelte er hervor. „Nicht zeigen, daß sich wundern …! Murat sah Mafalda …!“

„Mafalda?!“ rief Toni Dalaargen ungläubig.

Da fuhr der Homgori sie ärgerlich an …

„Still …!! Sind Augen da von Feinde, die uns sehen …! Still …!! Wir schlau sein… Wir jetzt wissen, wo Sphinx – in große Höhle … Murat finden drüben an andere Bucht Spalte – ganz viel tief … Und aus Spalte es riechen nach Menschen, die schlucken Dampf aus Pfeifen …!“ Er schüttelte sich vor Abscheu, denn Tabakrauch war ihm unendlich widerwärtig … „Murat klettern in Spalte hinab – bald so, bald so …“ – Er deutete die vielfachen Krümmungen der Eisspalte durch Handbewegungen an … „War gut, daß Wände überall noch Risse hatten, sonst Murat wären gerutscht ganz nach unten … So aber Höhle sehen und Sphinx, die im Wasser liegen … Halbe Höhle voll Wasser von Bucht her … Auch Mafalda sehen … Auch Chinesen und Männer in Felle wie Murat …“ Er meinte die Leute des Robbenfängers.

Mela und Toni hatten atemlos zugehört …

Mela fragte ebenso gespannt:

„Hat denn die Höhle keinen Ausgang nach der Bucht hier?“

„Nein, Miß Mela – überall Eis … Aber Ausgang gewesen sein müssen … Jetzt aber Eisblöcke davor … Sonnenlicht kommen durch kleine Löcher hindurch … Und in große Loch Lomatz kriechen und nach hier beobachten … Müssen uns sehen … Also still – – und nicht verraten durch Augen … – Wenn Master Gaupenberg und andere zurück sein, dann Nacht abwarten … Werden Freunde befreien … Murat schon machen alles …“

Mela nickte ihm herzlich zu …

„Du bist ein treuer Gefährte, Murat … Wir schulden dir abermals Dank …“

Der Homgori dehnte den mächtigen Brustkasten und reckte die muskelstrotzenden Arme …

„Keine Dank, Miß Mela … Murat hier bei Sphinxleute Mensch geworden sein … Sphinxleute ihn gut behandeln… Murat alle lieben …“

„Oh – du bist ein Mensch mit goldenem Herzen,“ meinte das Tonerl fast zärtlich. „Auch wir haben dich alle lieb – alle … Du bist einer der Unsrigen … Du bist besser wie mancher, der …“

Da hatte der Homgori sich hastig abgewandt, schritt auf die Stelle zu, wo Gottlieb Knorz’ alter Teckel Kognak zu einer Kugel zusammengerollt sich sonnte …

Er wollte den beiden Mädchen verheimlichen, wie tief ihn deren Herzlichkeit und Güte rührte … Er war in Wahrheit ein Mensch … Seine Seele fühlte genau dieselben Regungen wie die all derer, die nur von Menschen abstammen.

Langsam ließ er sich neben dem halbblinden Hund auf die Deckplanken nieder und begann den Teckel sanft zu streicheln.

Längst hatten die beiden innigste Freundschaft geschlossen. Und oft war es geradezu komisch mit anzusehen, wie der riesige Affenmensch sich die Launen des Teckels mit Engelsgedult gefallen ließ. –

Mela und Toni schlenderten jetzt über Deck, vermieden aber sorgfältig, nach den Eisriesen an der anderen Buchtwand hinüberzublicken, obwohl sie jetzt genau wußten, daß dort der durch die Eistrümmer verdeckte Höhleneingang sich befand und daß mithin der in die Eisfläche eingeritzte Pfeil nur von einem der Gefangenen Mafaldas herrühren konnte und auf jene Stelle hindeuten sollte.

Flüsternd unterhielten sie sich wieder unter erörterten eifrigst die Aussichten eines Befreiungsversuches der drei Gefährten, wobei Mela betonte, daß sie am liebsten Murat nachts begleiten möchte…

„Es geht hier ja auch um meinen geliebten Vater,“ meinte sie innig. „Auch Gaupenberg und Hartwich werden kaum zurückstehen wollen … – Wenn sie nur erst alle wieder hier an Bord wären …! Ich vergehe vor Ungeduld …! Wie werden Sie sich freuen, daß wir jetzt wohlbegründete Hoffnungen haben, endgültig mit den Feinden abzurechnen …!“ –

Und doch dauerte es noch volle zwei Stunden, bis beide Trupps fast gleichzeitig wieder erschienen – müde und niedergeschlagen …

Murat war rasch mit dem Boot an das Ufer gerudert …

Aber erst, als alle dann in der Wohnkajüte versammelt waren, erstattete Murat, von Mela eifrig unterstützt, eingehend über seine wichtige Entdeckung Bericht.

Gaupenberg drückte immer wieder vor Freude und Dankbarkeit des Homgori nervige Hände …

Auch die anderen Sphinxleute umringten den Tiermenschen. Jeder wollte ihm etwas Liebes sagen. Jeder wollte ihm zeigen, wie sehr man ihn als völlig gleichgestellten Freund betrachtete …

Kein Wunder, daß die Abendmahlzeit in ganz anderer Stimmung verlief, obwohl jeder sich selbst sagte, daß für die kommende Nacht noch bange Stunden bevorständen.

Während die übrigen Sphinxleute so in der Kajüte hoffnungsfreudig beisammen saßen, hielten Knorz und Pasqual, die Unzertrennlichen, an Deck sorgsam Wache.

Mußte man doch immer mit irgendeiner Teufelei der in der Eishöhle verborgenen Banditenschar rechnen, die jetzt unter Lomatz’ und Mafaldas Führungs doppelt gefährlich war.

Der Sonnenuntergang mit seinem rötlichen Farbenspiel gewährte dann den Sphinxleuten noch ein Schauspiel von solch zauberhafter Wirkung, daß selbst Murat, der im allgemeinen für Naturschönheiten wenig Verständnis zeigte, durch den Anblick des im feurigsten rot erstrahlen Eisberges förmlich gebannt wurde.

Doch auch die Sonne versank …

Und die Dunkelheit kam …

Bevor noch die Sterne am Firmament erschienen, brachen Gaupenberg, Hartwich, Nielsen und Murat in aller Stille zu dem Befreiungsversuch auf.

Mela Falz, ebenso auch Gipsy mußten an Bord bleiben, obwohl sie inständig gebeten hatten, sie doch mitzunehmen.

Das Boot trug die drei Männer und den Homgori lautlos ans Ufer, wo sie es in einer Spalte sorgsam verbargen …

Dann wanderten sie auf Umwegen der benachbarten Bucht zu … Sie hatten zwei Strickleitern und drei Bootshaken mit – außer Waffen und Laternen. –

So begann diese Nacht auf der schwimmenden Insel.

Eine Nacht, in der die Sphinxleute kein Auge zutun sollten …

 

33. Kapitel.

Der Kampf in der Eishöhle.

Wenn Mafalda Sarratow und Edgar Lomatz jemals zwei wehrlose Menschen mit bestialischer Brutalität gefesselt, geknebelt und wie wilde Tiere in einen engen Raum eingepfercht hatten, dann waren es Inge Söörgaard und der Matrose Holger Tönsen, dieser Tönsen, der ja in Wirklichkeit kein anderer als Fürst Iwan Alexander Sarratow war, der rechtmäßige Gatte der großen Abenteurerin …

Zwischen ein paar der länglichen Kisten, in die man die Goldbarren auf Schloß Missamill von neuem verpackt hatte, lagen die blonde Inge und der Mann, den sie liebte und von dem sie ehrlich wiedergeliebt wurde, dicht aneinandergepreßt – zwei bewußtlose Menschen, die noch nicht ahnten, was das grausame Schicksal ihnen noch an Jammer und Herzeleid bescheren würde.

Über die Kisten waren ein paar große Stücke Ölleinwand gebreitet …

Eisig kalt war’s hier in dem untersten Laderaum der in der Eishöhle verborgenen Sphinx.

Der wechselvolle, überhastete Lauf der Ereignisse hatte weder Mafalda noch Lomatz Zeit gewährt, sich irgendwie um die beiden, bisher vor ihren Verbündeten sorgsam verheimlichten Gefangenen zu kümmern.

Nacht wurde es, bis Fürst Sarratow als erster allmählich wieder zu sich kam.

Sein durch das Betäubungsmittel halb gelähmtes Hirn begann nun langsam wieder die äußeren Eindrücke zu verarbeiten.

Dann hatte er doch schließlich festgestellt, daß er irgendwo in engster Berührung Leib an Leib mit Inge gefesselt und geknebelt lag …

Tiefste Finsternis ringsum …

Und dazu eine Kälte, die bisher nur deshalb weniger ins Bewußtsein drang, weil zwei aneinandergepreßte menschliche Körper hier einander die Eigenwärme erhielten.

Zunächst suchte Iwan Alexander Sarratow nun die Hände aus den Strickschlingen herauszuwinden. Es gelang ihm nicht. Ebensowenig konnte er den Knebel aus dem Munde entfernen.

Während dieser Bemühungen bewegte er sich hin und her, soweit dies möglich war, und berührte wiederholt Inges Brust …

Das junge Mädchen stieß plötzlich einen gurgelnden, durch den Knebel erstickten Seufzer aus …

Sarratow-Tönsen merkte, daß der Geliebten das Bewußtsein zurückkehrte. Er verdoppelte seine Anstrengungen. Es schien ihm unfaßbar, daß er der Ärmsten nicht irgendwie ein liebes Wort des Trostes spenden konnte …

Der Knebel war ihm mit einer Schnur im Genick festgebunden. Endlich konnte er diese Schnur mit den Zähnen packen und in einem wilden Ruck über das Kinn reißen. Dann stieß er das Zeugstück mit der Zunge aus dem Munde und flüsterte rauh, doch in heißer Zärtlichkeit:

„Bist du bei Besinnung, Geliebte?! – Man hat uns schändlich behandelt … Niemals war dieser Elende, der uns überlistete, Graf Gaupenberg … Es war ein Verbrecher, und das Weib wird nichts anderes sein.“

Ingeborg Söörgaard konnte nicht antworten … Aber in gläubigem Vertrauen schmiegte sie jetzt ihre Wange an die des Mannes, der ihr junges Herz so ganz für sich gewonnen hatte …

Und diese Zärtlichkeit erwiderte Sarratow mit einem langen Kuß auf ihre Wange, da ja ihre Lippen noch durch die fest angezogene Schnur des Knebels gepeinigt wurden …

Dann raunte der Gelebten zu:

„Ich werde dich von dem Knebel befreien … Meine Zähne haben mir selbst bereits gute Dienste geleistet … Halte still, Inge … Wir werden uns dann auch gegenseitig die Stricke der Hände aufknoten … Sei getrost … Nicht lange mehr werden wir hier gefangen sein …“

Inge Söörgaard befand sich noch in halbem Dämmerzustand. Ihr trat überhaupt nicht ins Bewußtsein, daß diese enge Berührung in dem dunklen Kerker hier für ihre Schamhaftigkeit eine harte Probe bedeutete.

Kaum hatte sie nun mit Tönsens Hilfe den Knebel glücklich aus dem Mund stoßen können, als sie auch schon dankbar und aus tiefer Zärtlichkeit heraus den Mann ihres Herzens gleichfalls küßte …

„Oh Holger, was ist nur mit uns geschehen …!“ stieß sie dann leise hervor, und ihr warmer Atem umspielte des Fürsten Gesicht … „Weshalb nur hat der angebliche Graf uns in so brutaler Weise hier in diesen Raum eingezwängt und noch dazu …“

Sie schwieg plötzlich … Ihr wurde erst jetzt bewußt, wie dicht sie Leib an Leib mit Holger Tönsen zusammengebunden war …

Heiße Blutwellen strömten ihre schamvoll in das Gesicht. Sie versuchte den eigenen Körper zurückzudrängen. Doch zu gering war der freie Raum … Immer noch blieb der Geliebte ihr drängend nahe, empfand sie überdeutlich das Gewicht seines Leibes …

Sarratow begriff, was in der keuschen Mädchenseele vorging …

Um Inges Gedanken abzulenken, flüsterte er rasch:

„Ich werde mich ein wenig aufrichten … Versuche dann dich umzudrehen, damit ich deine Handfesseln erreichen kann …“

Sein Vorhaben gelang. Schon hatte Inge die Hände frei …

Jetzt knieten sie nebeneinander im Dunkeln, hatten mit den Köpfen die Ölleinwandstücke hochgewölbt.

Inge Söörgaard war kein verweichlichtes Großstadtkind … Inge hatte den Bruder, der als Kapitän den Robbenfänger ‚Harlasund’ befehligte, schon häufiger begleitet gehabt. Der Kapitän war tot, und Inge als Weise besaß jetzt nur noch einen einzigen Menschen, der sie schirmen und schützen konnte: Holger Tönsen! Daß der schlichte Matrose Anspruch auf einen anderen Namen und Titel hatte, ahnte sie nicht.

Und diese Inge, die auf der Unglücksfahrt der ‚Harlasund’ ihre Nerven und Kräfte noch mehr gestählt hatte, löste nun auch des Geliebten Fesseln.

Bald waren beide auch die Stricke los, die ihre Füße noch umschlangen …

Holger Tönsen befühlte seinen Körper …

Ah – man hatte ihm die Zündholzschachtel in der inneren Tasche der Pelzjoppe nicht abgenommen …

Also Licht – – Licht, damit er endlich feststellen konnte, wo sie sich befanden …

Und hinweg mit den Hüllen der Ölleinwand …!

Ein Zündholz flammte auf …

Und Inge und Tönsen sahen ringsum nichts als Holzkisten, sahen die gewölbten Bordwänden der Sphinx und drüben eine schmale eiserne Leiter, die nach oben führte …

„Also in der Sphinx!“ sagte Sarratow … „In der Sphinx sind wir eingesperrt …! Nun – wir werden auch wieder hinausgelangen …“

Das Zündholz erlosch …

Er rieb jetzt gleichzeitig zwei neue an, hielt sie steil, damit sie länger brannten …

„Holger – eine Laterne!“ rief Inge freudig … „Dort auf der Treppe steht sie …!“

Fürst Sarratow turnte schon über die Kisten hinweg und holte die Lampe …

Es war eine kleine Karbidlaterne, die gefüllt schien und tadellos brannte.

Sarratow-Tönsen sagte zu Inge, indem er auf die Unmenge von Kisten deutete:

„Der angebliche Graf Gaupenberg hat behauptet, die Sphinx sei ein Forscherschiff … Diese Kisten enthalten aber auf keinen Fall Proviant … Ich möchte eine zur Probe öffnen … Dort liegt ein kurzer Bootshaken, Inge … Reich ihn mir. Er wird als Brecheisen zu brauchen sein …“

Sehr bald hatte er den einen Kistendeckel aufgewuchtet. Inge hielt die Laterne, deren gelbliches Licht nun auf die Goldbarren fiel …

Holger Tönsen nahm einen davon heraus.

Sein Gesicht verriet eine ungeheure Verblüffung …

„Weißt du, was dies Ding wert ist, Inge?“ fragte er mit merkwürdig erregter Stimme. „Es ist … Gold, Inge, reines Gold …! Millionen wert …! Und – – um so rätselhafter ist mir nun dieser Mann, der sich Gaupenberg nannte, und dieses Weib, das wir nur flüchtig zu Gesicht bekamen …!“

Das junge Mädchen umklammerte seinen Arm …

Gerade auf sie, für die das Wort Millionen wie ein Traum war, machte des Fürsten Erklärung einen noch weit stärkeren Eindruck …

„Gold – – Millionen …?!“ flüsterte sie … „Oh Holger, dann ist die Sphinx ein Seeräuberschiff Es soll ja jetzt in den chinesischen Gewässern wieder Piraten in Unmenge geben … Und …“

Sarratow lachte leise auf …

„Du liebes Närrchen, – die chinesischen Gewässer sind denn doch ein wenig weit entfernt …! – Nein, Inge, diese Sphinx birgt andere Geheimnisse … Wir, die wir monatelang in den Polargegenden geweilt haben, wissen nicht, was sich inzwischen in den Kulturländern zugetragen hat … Vielleicht haben die Zeitungen bereits mit der Sphinx sich beschäftigt … Wir ahnen nichts von alledem … Aber – wir werden es erfahren! Wenn dieser angebliche Graf und seine Gefährtin allein an Bord sind, werden wir sie überrumpeln … Dieser Bootshaken genügt mir als Waffe!“

Und er legte den Goldziegel in die Kiste zurück und drückte den Deckel wieder zu.

Dann stieg er die Eisentreppe vorsichtig hinan … Inge blieb dicht hinter ihm …

Vorsichtig hob er die Falltür empor, die den Zugang zum Maschinenraum der Sphinx bildete.

Ebenso vorsichtig schaute er sich hier zwischen den Benzin- und Ölgeruch verbreitenden Motoren um …

Und horchte angestrengt …

Nirgends ein Laut … Tiefste Stille herrschte in dem Propellerboot …

Der Fürst winkte Inge …

Flüsterte: „Es muß jetzt Nacht sein … Meine Uhr ist leider stehen geblieben … Es wird glücken, Inge … Da – bewaffne dich mit diesem langen Schraubenschlüssel … Und – keine Schonung diesen beiden Verbrechern!“

Abermals ging es eine Eisenleiter hinauf … Wieder eine Falltür …

Fürst Sarratow stand nun im Kabinengang der ihm völlig unbekannten Sphinx …

Hier brannten an der Decke zwei elektrische Lampen.

Auch hier eine fast unheimliche Stille …

Wieder lauschte der Fürst eine Weile …

Inge war neben ihn getreten. Ihr Atem flog … Die Erregung zerrte an ihren Nerven …

„Sie schlafen!“ hauchte Tönsen-Sarratow … „Durchsuchen wir die Kabinen …!“

Die erste Tür ging auf …

Leer …

Die zweite war von außen verschlossen … Doch der Schlüssel steckte und ließ sich geräuschlos herumdrehen …

Der Laternenschein fiel auf das Bett …

Dort lag Doktor Falz mit verbundenem Kopf – – gefesselt …

Als das gelbliche Licht ihn traf, richtete er sich auf.

Sarratow war schon neben dem Bett …

„Ah – noch ein Gefangener der Verbrecher!“ sagte er halblaut … „Wer sind Sie?! Und wo …“

Ein leiser Aufschrei Inges ließ ihn herumfahren …

In der offenen Tür stand Mafalda … In der Rechten eine Pistole … Mit der Linken schaltete sie blitzschnell die Kabinenbeleuchtung ein …

Die hellen Strahlen der Deckenlampe ließen ihr rassiges, sündhaftes Gesicht deutlich erkennen …

Fürst Iwan Alexander Sarratow stierte das Weib wie ein Gespenst an …

Seine Gestalt glich einer Bildsäule … Seine Lippen zuckten …

Dann – ein halber Schrei war’s – ein Vorname:

„Mafalda – – – du?! Du …?!“

Die Fürstin lächelte ironisch …

„Grüß Gott, Herr Gemahl …!!“ Und ihr Blick streifte Inge …

„Grüß Gott, Iwan Alexander Sarratow …! In der Tat – ein unverhofftes Wiedersehen …!! Für dich etwas peinlich, mein Lieber …! Du hast dich heute ja verlobt, wie mir mein Freund Lomatz berichtete … Du nennst dich jetzt sehr bescheiden Holger Tönsen … Und bist doch mein Gatte, Fürst Sarratow …!“

Wieder schaute sie die blonde Inge höhnisch an …

Die war jedoch viel zu fest von des Geliebten Ehrenhaftigkeit überzeugt, als daß sie diese hohntriefenden Worte für ernst genommen hätte …

Sie glaubte lediglich, daß Holger diese reife, berückend schöne Frau von früher her kennen würde …

Und sagte nun ohne jede Erregung zu Mafalda:

„Wer Sie auch sein mögen … Sie werden mir den Glauben an meinen Verlobten nicht nehmen! Holger ist ein Ehrenamt … Holger hat …“

Mafalda lachte bösartig auf …

„Ehrenmann …?! – Fragen Sie ihn doch, ob ich nicht seinen Namen mit Recht trage …! Er ist Fürst Sarratow, mein Gatte …! Fragen Sie ihn doch!“

Der Fürst stand mit zusammengekniffenen Lippen da …

Sein Blick suchte den Boden … Er fühlte sich schuldig … Schuldig, weil er Inge doch insofern getäuscht hatte, als er ihr seine Vergangenheit verschwiegen …

Und wie das blonde stattliche Mädchen ihn jetzt so schuldbewußt den Kopf immer tiefer senken sah, da taumelte sie förmlich zurück …

„Holger … Holger, du schweigst?! Holger – es kann ja nicht wahr sein … Holger, du …“

… Bisher hatte Dr. Dagobert Falz den untätigen Zuschauer gespielt …

Jetzt aber griff er ein…

Mit staunenswerter Gelenkigkeit hatte er zwei Sätze vorwärts getan …

Und warf Mafalda mit Gewalt zur Seite …

Und da – erwachte auch Sarratow aus dumpfer Niedergeschlagenheit …

Packte zu … umklammerte den zarten Hals des Weibes, das ihm Hab und Gut vergeudet und seinen Namen entehrt hatte …

Auch Inge zeigte sich der Lage gewachsen …

Ein leichter Hieb mit dem Schraubenschlüssel traf Mafaldas rechtes Handgelenk … Die Pistole fiel auf den Bastteppich der Kabine …

Und Sarratow schleppte die halb Erwürgte zum Bett, drückte sie in die Kissen …

Sein fahles Gesicht war unheimlich verzerrt …

Inge löste bereits Doktor Falz’ Stricke …

Man fesselte Mafalda … und der Fürst preßte ihr einen Knebel in den Mund …

Dann wandte der Doktor sich an Inge, sagte leise:

„Mein Kind, wir sehen uns heute zum ersten Male … Ich bitte Sie aber als alter welterfahrener Mann, verurteilen Sie nicht vorschnell Ihren Geliebten! Er wird Ihnen fraglos alles erklären … Diese Verbrecherin hat längst das Recht verwirkt, sich Fürstin Sarratow zu nennen …!“

„Also … ist es doch wahr …!“ meinte Inge tonlos … Und ein Ausdruck von herber Fremdheit erschien auf ihrem bleichen Gesicht. So schaute sie Sarratow an – ablehnend und fast feindselig. Zu niederschmetternd waren für sie diese Eröffnungen gewesen. Sie hatte blindlings vertraut, und diese Enttäuschung konnte sie unmöglich sofort überwinden …

Der Fürst streckte ihr rasch mit bittender Gebärde die Hand hin …

„Inge, es ist jetzt nicht die rechte Zeit und Gelegenheit, mich zu verteidigen …“ meinte er weich. „Die Umstände verlangen, daß wir zuerst an unsere Freiheit denken … Aber glaube nur, ich habe dich nicht betrügen wollen, was meine Person und meine Lebensverhältnisse betrifft. Seit Jahren nenne ich mich Holger Tönsen … Nie wieder wird Fürst Sarratow, den ich gleichsam sterben ließ, auferstehen …“

Das junge Mädchen legte nur zögernd ihre Hand in die seine …

„Es wird sich … nichts an der Tatsache ändern, daß du … verheiratet bist, Holger,“ sagte sie traurig. „Es muß alles zwischen uns aus sein. Deine Freundin will ich bleiben, denn du hast es stets nur gut mit mir gemeint …“

Sie zog ihre Hand zurück und wandte sich an Doktor Falz:

„Und jetzt – – wollen wir handeln …! Befehlen Sie … Sie scheinen dieses Propellerboot besser zu kennen als Holger und ich …“

Falz stand schon halb im Kabinengang, hatte schon die Pistole Mafaldas aufgehoben …

„Folgen Sie mir …! Verschließen Sie die Kabine und nehmen Sie den Schlüssel mit, Tönsen … Es gibt noch genug zu tun für uns …!“

Fürst Sarratow blickte nochmals nach dem zerwühlten Bett hin, auf dem die wehrlose Mafalda lag …

Ihre dunklen Augen waren weit geöffnet … Und diese Augen glühten in übermenschlichem Haß …

Der Fürst schrak vor diesem Anblick einer finsteren Rachsucht zurück, drehte sich angewidert um und schaltete das Licht aus.

Dann versperrte er die Tür und steckte den Schlüssel in die Tasche.

Inzwischen hatte Dr. Falz bereits die nächsten zwei Kabinen geöffnet …

Aber erst in der dritten fand er Agnes Gaupenberg, in der nächsten dann auch Ellen Hartwich …

Agnes, die ja als einzige wußte, daß die Sphinx hier in einer Eishöhle lag und daß sowohl die Besatzung von dem Wrack des Robbenfängers als auch die Piraten des Schoners mit Mafalda und Lomatz sich verbündet hatten, blieb dann mit Ellen im Kabinengang zurück, nachdem man festgestellt hatte, daß die Schiffskammern sämtlich leer waren.

Sarratow, Falz und Inge öffneten vorsichtig die in den Turm führende Tür und erblickten auch hier niemanden.

Es war in dem niederen Raume völlig dunkel. Nur sekundenlang hatte Tönsen die Laterne aufblitzen lassen, barg sie dann wieder unter der Jacke.

Aber die Turmluke über der steilen Leiter stand offen … Draußen gewahrte man mäßige Helle, die nur von ein paar auf dem Deck stehenden Laternen herrühren konnte.

Der Fürst erklomm die Leiter und hob den Kopf behutsam über den Lukenrand hinaus …

Zog ihn jedoch sofort wieder zurück …

Auf der Turmplattform hatte Lomatz sich ein Lager aus Decken hergerichtet … Zum Glück kehrte er der Luke den Rücken zu.

Auf dem Vorschiff aber lagerten die anderen Feinde – eng nebeneinander, – – bewacht von Lomatz, der bisher nicht einen einzigen Blick ins Innere der Sphinx zugelassen hatte …

Neben ihm lagen drei gespannte schußbereite Pistolen … Beständig behielte er die gefährliche Bande dieser Verbündeten im Auge … Traute ihnen nicht … Er erwartete sehnsüchtig den Augenblick, wo der Kutter der Sphinxleute die Bucht des Eisberges wieder verlassen würde … Und allzu langer würden die Feinde sich hier auf der schwimmenden Insel kaum mehr aufhalten. Sie mußten ja nur zu bald das Zwecklose ihrer Nachforschungen einsehen …

So … hoffte er …

Noch schlief die Bande auf dem Vorschiff … Alkohol hatte sie müde gemacht – gerade so viel Alkohol, daß sie nicht trunken geworden waren, nicht an Gewalttätigkeiten dachten …

Still war’s in der weiten Kristallgrotte …

Das mißtönende Schnarchen der Schlafenden waren die einzigen Laute, die diese Stille störten … –

Ein seltsames Bild bot diese Eishöhle jetzt dar, ein phantastisches Gemälde …

Im Lichte der vier Laternen, die das Deck der Sphinx beleuchteten, schillerten die Eiswände durchsichtig wie Glas, warfen feine Lichtreflexe nach allen Seiten. Tausend Lämpchen schienen an der Decke der Grotte zu glühen und spiegelten sich in dem kleinen Wasserbecken wieder, das die Höhle zur Hälfte füllte …

Inmitten dieser zauberhaften milden Beleuchtung lag die vertäute Sphinx. Ihre Backbordseite schmiegte sich an einen Eisblock, der eine natürliche Landungsbrücke bildete … –

Lomatz sah nach der Uhr …

Um Mitternacht wollte er Mafalda wecken, die unten in einer der Kabinen schlief … Dann sollte sie ihn hier ablösen … Dann würde er durch eine der Öffnungen des versperrten Grotteneingangs kriechen und Ausschau nach dem Kutter der Sphinxleute halten.

Er war müde … gähnte laut und lange …

Immer wieder fielen ihm die Augen zu …

Und in solchen Momenten schossen dann blitzschnell bunte Traumgesichte durch sein Hirn …

Er schrak wieder hoch … nahm sich vor, den drohenden Schlaf noch energischer zu bekämpfen …

Wußte nicht, daß ganz in der Nähe – drüben hinter dem Eisblock – eine Gestalt kauerte, die genau beobachtete, wann ihm der Kopf schlaftrunken nach vorn fiel …

Jetzt … huschte diese Gestalt an Bord …

Murat war’s … Murat, einer der vier Sphinxleute, die glücklich durch die Eisspalte mit Hilfe der Strickleitern hier hinabgelangt waren …

Lomatz war wiederum eingenickt …

Neben dem Turme reckte sich des Homgori mächtige Gestalt hoch …

Die riesige Faust des Tiermenschen schmetterte wie ein Hammer gegen das Verbrechers Schläfe …

Lomatz sank ohne Laut vornüber auf das Gesicht, und Murat glitt blitzschnell die Turmleiter hinab, prallte hier im Dunkeln gegen Sarratow, der schon mit dem Bootshaken zuschlagen wollte … als Falz hastig rief:

„Gut Freund …!! – Murat, wir sind’s …! Braver Murat, wie bist du denn …“

Der Homgori unterbrach ihn:

„Nicht reden viel …! Murat folgen … Freunde außen warten … Sehr gefährlich … Feinde schlafen auf Deck … Wenn erwachen, viele Kugeln …“

Und er klomm die Leiter wieder hinan …

Die anderen ihm nach …

Eilten über den Eisblock …

Und dort hinter zwei anderen Blöcken tauchten nun Nielsen, Gaupenberg und Hartwich auf …

Agnes flog dem Geliebten mit halb unterdrücktem Jubelruf um den Hals … Auch Ellen lag in des Gatten Armen …

Fest hielten sich die Liebenden nach der tagelangen Trennung umschlungen …

Doch Falz drängte zur Eile …

Auch Murat flüsterte brummend und unwillig:

„Weiter, – – in Spalte kann nur einer emporklettern … Dauert lange …“

Schon zu viel Zeit hatte man hier verloren …

Der Fausthieb des Homgori hatte Lomatz’ starken Schädel nicht zertrümmert … Er kam wieder zu sich

Ein Blick zeigte ihm die Schatten dort am Ufer der Grotte … Er erkannte Frauengestalten … Die Gefangenen also – – Die Sphinxleute waren in der Höhle! Der Gedanke gab gab ihm Kraft …

Ein Schuß knallte da …

Noch einer …

Alle sieben Patronen der Browningpistole feuerte er gegen den Feind …

Schreiend – brüllend fuhr die Horde der Schläfer empor …

Und – – Fürst Sarratow taumelte plötzlich … Seine Hand griff nach der Brust … Die Sinne schwanden ihm …

Inge fing den Sinkenden auf … Murat nahm ihr den Verwundeten ab …

Man hetzte weiter – tiefer in die Grotte hinein – dorthin, wo von der Decke die Strickleiter herabhing.

Lomatz’ Stimme trieb jetzt die wilde Horde zum Angriff …

Aber Kugeln pfiffen jetzt aus der Dämmerung des Grottenwinkels hervor …

Ein wahres Schnellfeuer bestrich das Deck der Sphinx …

Drei – vier Mann brachen zusammen …

Die übrigen duckten sich hinter die Reling …

Umsonst tobte Lomatz mit Flüchen gegen die feigen Verbündeten … Gaupenberg und Hartwich deckten den Rückzug der Ihrigen …

Nielsen half den Frauen an der Strickleiter empor.

Murat trug den Fürsten nach oben …

Unablässig feuerten die Sphinxmänner, hatten den großen Vorteil für sich, daß das Deck der Luftschiffes beleuchtet war, während sie selbst durch den Schatten des Gegenlichts geschützt waren …

Ihre Stahlmantelgeschosse durchschlugen die Reling.

Immer wieder gab es Tote und Verwundete …

Gewiß – auch Lomatz und die Kerle auf dem Vorschiff erwiderten die in rascher Folge aufblitzenden Schüsse … Doch auf Seiten der Sphinxleute gab es nur einen Verletzten, den Fürsten Sarratow …

Dann erklomm auch Hartwich die Strickleiter …

Gaupenberg schoß jetzt mit zwei Pistolen …

Bis es auch für ihn Zeit wurde, an den Rückzug zu denken …

Er sprang hinter den Eistrümmern hervor …

Eine Kugelsaat pfiff um ihn herum …

Wie die Teufel stürmten jetzt die Feinde heran …

Aber Murat und Nielsen rissen die Strickleiter mit dem daran hängenden Gaupenberg mit wenigen gewaltsamen Rucken in die Höhe …

Und ein Eisblock, längst bereitgehalten, sperrte nun polternd das Ende der Spalte ab … –

Atemlos, keuchend und schweißtriefend standen die Sphinxleute auf dem Eisplateau der Nachbarbucht neben der Spalte …

Auf dem Eise lag Sarratow … Neben ihm knieten Dr. Falz und Inge…

Das Mädchen weinte …

Falz hatte die Schußwunde untersucht …

„Brustdurchschuß – nicht allzu schwer!“ sagte er nun tröstend zu Inge … „Beruhigen Sie sich, mein Kind … Ich werde ihm helfen … Ich bin Arzt …“

Gaupenberg beriet mit Hartwich und Nielsen. Agnes und Ellen hatten ihnen rasch berichtet, daß von der Eishöhle ein Ausgang nach der großen Bucht führte, der aber durch einen Sprengschuß verschüttet worden sei.

Nielsen erklärte sich bereit, mit Murat zusammen die Spalte zu bewachen, damit die Banditen nicht etwa von hier aus den Kutter angriffen.

Die Übrigen sich zu ihrem Kutter hin in Marsch. Gaupenberg und Hartwich trugen den Fürsten, der noch immer ohne Bewußtsein war.

 

34. Kapitel.

Die zweite Explosion …

In der Eisgrotte sah es jetzt für Lomatz und Mafalda nach diesem überaus wirksamen Feuerüberfall durch die Sphinxleute höchst bedenklich aus.

Von den achtzehn ‚Verbündeten’ waren nur noch zwölf am Leben, und drei von diesen schwer verwundet. Die ohne eine Verletzung Davongekommenen, darunter auch der junge Riese Lööfsen, machten Lomatz für diese Niederlage verantwortlich.

Der hatte inzwischen die Kabinentür im Inner der Sphinx aufgebrochen und Mafalda befreit.

So standen nun die Fürstin und Lomatz an Deck, eng umringt von den neun brutalen Gesellen, die schreiend und drohend erklärten, sie hätten keine Lust, sich ebenfalls noch niederknallen zu lassen … Sie wollten lieber mit den Sphinxleuten draußen Frieden schließen … –

Die Partie stand für Mafalda und Lomatz minutenlang so schlecht, daß wenig gefehlt hätte, und die gereizte Bande wäre über sie hergefallen, um sie dem Feinde draußen auszuliefern.

In dieser verzweifelten Lage griff Mafalda zu einem letzten Mittel, die Horde wieder gefügig zu machen. Sie erinnerte an die Goldschätze im Laderaum der Sphinx – an die Milliarden, die doch wohl ein tapferes Ausharren wert seien!

Sie verstand es vortrefflich, den Leuten die Möglichkeit zum Entkommen klarzumachen … Ihr reger Geist hatte schon einen Ausweg gefunden …

„Kameraden – wir werden die Sphinx schnellstmöglich reparieren, werden die zerstörte elektrische Zuleitung zur Sphinxröhre ausbessern – jetzt sofort! Dann können wir hier das Luftboot aufsteigen lassen, bis dicht unter die Grottendecke … Und diese wird stellenweise kaum ein paar Meter dick sein … Wir bohren Löcher in das Eis, bringen Sprengpatronen an und schaffen uns so einen Ausgang nach oben hinaus …! Habt Vertrauen zu mir und Lomatz! Was glaubt ihr wohl, wird mit euch geschehen, wenn ihr euch den Sphinxleuten ergebt? Man wird euch nach Neuyork schaffen … Ihr werdet vor Gericht gestellt – – und der elektrische Hinrichtungsstuhl ist euch gewiß! Nur im Bund mit uns liegt eure Rettung!“

Die wilde Horde war verstummt.

Der Riese Lööfsen kratzte sich den struppigen Kopf … Er war hier jetzt tonangebend … meinte nun halb verlegen:

„Was Sie da soeben vorschlugen, Miß, hat Hand und Fuß …! Also – – es sei …! Versuchen wir’s! Wir sind noch immer unser elf … Und Waffen haben wir genug …“

Mafalda gab ihm die Hand, lächelte ihn an, den jungen Goliath – mit einem Lächeln, daß ihm das Blut in jäher Welle ins Gesicht schlug … Wünsche wurden in ihm lebendig, die sich bisher nicht an diese feine schöne Dame herangetraut hatten …

Wünsche eines kraftstrotzenden jungen Leibes …

Und die Fürsten Sarratow spürte dieses ungezügelte, urwüchsige Begehren wie ein magnetisches Fluidum …

Mafalda brauchte Mannesliebe – brauchte wilde Stunden, Sinnentaumel in starken Arme …

In Stunden tierischen Rausches erneuerten sich ihre Kräfte …

Und jetzt sagte sie zu dem Matrosen Lööfsen, der nach Tran, schlechtem Tabak und Alkohol stank:

„Kommen Sie, Lööfsen … Ich will Ihnen zeigen, wie man die Sprengkörper anbringt – und ein höllisches Feuer entzündet …“

Sie sagte es mit dem halb frechen, halb verträumten Lächeln einer lockenden Bajadere …

Ein unterdrücltes Stöhnen kam aus der mächtigen Brust des Riesen … Er taumelte hinter ihr her die Turmtreppe hinab …

Und die an Deck der Sphinx Zurückbleibenden schauten ihnen nach …

Chinesen, Europäer – – Gesindel, dem jetzt dieselbe Flamme das Blut zum Sieben brachte …

Lomatz nur lachte kurz auf – verächtlich, wegwerfend …

Er allein war erhaben über derlei Wünsche … Er war stärker als diese Gefühle des Körperlichen … Selten, daß sie ihn bezwangen, ganz selten nur …

Und befehlend rief er der neidischen Horde zu:

„Vorwärts …! Baut ein Hängegerüst am Heck des Luftbootes … Ich hole die Werkzeuge …! Und zwei von euch als Wachen an die Ausgänge der Höhle … – Die Leichen werft über Bord … Und gebt den Verwundeten Rum, daß sie ihre Schmerzen nicht mehr spüren!“

Die Bande zerstreute sich …

Lomatz stieg in die Sphinx hinab …

Im Kabinengang hielt er vor jeder Tür … Lauschte angestrengt…

Lachte wieder lautlos in sich hinein …

Hätte nicht gelacht, wenn er die Wahrheit geahnt haben würde … – Eine halbe Stunde später saß der Matrosen Lööfsen dicht neben der in heißer Erschlaffung daliegenden Fürstin auf dem Bettrand …

Mafalda hielt seine Hand und flüsterte auf ihn ein …

Mafalda warb einen Genossen für neuen Frevel … Sie wußte genau, eines Tages, wenn die Flucht mit der Sphinx gelungen, würde Edgar Lomatz zum Verräter werden, würde sie … beseitigen … Sie wußte es ganz genau. Sie kannte ihn. Lomatz war nicht der Mann, der den Azorenschatz mit irgend jemandem teilte … Eines Tages würde er sie betrügen … Sein Hirn war erfinderisch genug …

Aber – sie wollte ihm zuvorkommen … Sie wollte ihn auslöschen mitsamt der anderen Schurken …

„Lööfsen,“ flüsterte sie leise, „höre mich an … Wenn die Sprengkörper befestigt sind, wenn alles vorbereitet, um uns einen Weg in den Äther zu öffnen, dann werde ich darauf dringen, daß noch ein paar Dynamitpatrone angebracht werden … Dann werden die Zünddrähte dieser Sprengkörper in meiner Hand sein, auch die Batterie … Und … du wirst den Strom einschalten … Ich werde dir alles erklären … Unter den fallenden Eismassen lassen wir die übrigen begraben – alle … alle …! Mit dir allein will ich fliehen … – Verstehst du mich, Lööfsen …“

Das braunrote Gesicht des jungen Simson erbebte förmlich … Er starrte das Weib an … Er schaute in den Abgrund ihrer Seele …

„Wir beide werden fliehen, Lööfsen … Nur wir … Ungezählte Stunden der Liebe werde ich dir schenken … Wir werden über Reichtümer gebieten, wie sie nie zwei Menschen zur Verfügung standen …“

Lööfsen starrte sie an … Über dem Abgrund dieser Weibesseele, der ihn erschreckte, lag wie ein Schleier die Hoffnung auf neue Umarmungen …

Er nickte wie betäubt …

Mafalda richtete sich auf und küßte ihn …

Der Gestank seines ungepflegten Leibes weckte ihre Gier von neuem … In diesem Gemisch ekler Gerüche lagen Kraft und unerschöpfliches Mannestum …

Lööfsens Brust arbeitete …

Seinen Lippen entrang sich ein dumpfes Brüllen – wie der Brunstschrei des wilden Hirsches …

Der ungeheuerliche Mordplan wurde zum festem Gedanken in den Armen dieser Abenteurerin …

Dann – stieß Mafalda den zum Sklaven gewordenen von sich …

Ihr Gesicht veränderte sich jäh …

Wie ein Zittern war es durch den Leib der Sphinx gegangen …

„Sie … schwebt!“ rief die Fürstin … „Lööfsen – – sie schwebt …!! Die Sphinx ist, was sie war: Bezwingerin der Lüfte! – Lööfsen – – ans Werk!!“

Sie erhob sich vollends …

Ordnete das prachtvolle zerwühlte Haar, brachte ihre Kleider in Ordnung …

Stumpf stand der Mann neben ihr … Sein Hirn war leer … Seine Blicke hingen an dem geröteten Gesicht dieses Weibes, die ihm ein unfaßbares Rätsel …

Und sie stiegen an Deck …

Laternen brannten … noch mehr als vorhin …

Und dicht über der Sphinx wölbte sich jetzt die Eisschicht der Grotte … funkelte, tropfte …

Lomatz kommandierte, hatte bereits in der Kombüse der Sphinx im Herdfeuer Eisenstangen zur Rotglut erhitzen lassen … Zischend fraßen diese nun Löcher in den Eisdom … Wurden wieder aufs neue erhitzt …

Ein wilder Eifer hatte die Horde ergriffen … Keiner kümmerte sich um Mafalda und den jungen Riesen, keiner mehr dachte an das Weib, das sie doch alle begehrten.

Lööfsen packte mit zu …

Und die Fürstin lehnte neben Lomatz an der Reling, sagte jetzt achselzuckend:

„Dein Lächeln ist Narrheit, lieber Freund … Ich brauchte diese Nervenanspannung … – Im übrigen mußt du die Löcher für die Sprengkörper weiter über den Umfang der Sphinx ausdehnen … Die Öffnung darf nicht zu klein werden …“

„Gestatte, von technischen Dingen verstehe ich denn doch etwas mehr,“ meinte Lomatz achselzuckend. „Wir haben auch nur noch zwölf Dynamitpatrone zur Verfügung. Die Eisdecke ist durchschnittlich fünf Meter dick. Wir müssen die Sprengkörper sehr hoch treiben. Überlaß das alles nur mir …“

Mafalda schwieg …

Das Deck der Sphinx zeigte überall Wasserlachen … Wo die glühenden Stangen sich in das Eis einbohrten, schossen kleine Bäche herab …

Mafalda schwieg und dachte an die fünf Dynamitpatrone, die sie heimlich beiseite geschafft hatte …

Sie würden ihr gute Dienste leisten … Zufällig würde sie nachher die Sprengkörper finden … Lomatz würde dann schon damit einverstanden sein, die Patronen noch zu verwenden … Und dann … mußte ihr Plan gelingen … Mußte …

Und die Fürstin lächelte unmerklich …

Tigerin Mafalda war sprungbereit … –

Lomatz hatte sich entfernt. Ließ jetzt die Eisenstangen zusammenbinden, damit die eingeschmolzenen Löcher noch mehr emporgetrieben würden …

Die Männer arbeitete mit Feuereifer …

Bald war’s soweit, daß die ersten Sprengkörper in die Öffnungen eingeführt werden konnten … Zugleich mit den elektrischen Leitungsdrähten, die später mit einem Schlage die Zündung bewirken sollten …

Mafalda half jetzt. Die Doppeldrähte mußten vereinigt, mußten zu der Batterie geleitet werden, die an der Seitenwand der Höhle hinter einem Eisblock aufgestellt wurde …

Die Fürstin hatte Lööfsen mit ans Ufer genommen. Sie hatte das kleine Beiboot der Sphinx an Tauen bis zum Wasserspiegel von dem schwebenden Luftfahrzeug hinabgelassen und war an einer Strickleiter hineingeklettert.

Hinter dem Eisblock zeigte Mafalda dem jungen Goliath die Handgriffe, wie er den Strom auf ihren Wink einschalten müßte …

Lööfsen nickte nur …

Ihm begann vor dem Verrat zu grauen …

Aber noch war die Erinnerung an Mafaldas heißen Körper zu frisch in seiner Erinnerung …

„Du hast mich also verstanden?!“ fragte die Fürstin ein wenig scharfen Tones …

„Ja – ich habe verstanden,“ entgegnete er zögernd … „Nur … nur – – wie … wie wollen Sie, da doch die Sphinx in den tiefsten Winkel der Grotte gebracht wird, wenn die Sprengung erfolgt, – wie wollen Sie es da so einrichten, daß … daß die Kameraden mit … mit … zerschmettert werden …? Das … das eine verstehe ich noch nicht …“

„Oh – du wirst sofort auch darüber beruhigt werden,“ lächelte Mafalda und blickte schräg nach oben zur Sphinx, die dort unter dem schillernden Gewölbe wie ein verankerter Freiballon hing … „Komm nur, – ich werde jetzt alles … meinerseits vorbereiten … Komm nur … Und damit Lomatz keinerlei Verdacht schöpft, muß ich mich oben persönlich einer gewissen Gefahr aussetzen …“

Sie kehrten auf die Sphinx zurück. Das Boot ließen sie im Wasser, kletterten an der Strickleiter empor …

„Fertig!“ rief Lomatz Mafalda zu … „Soeben habe ich die letzten Dräthe mit der Hauptleitung verbunden … – Ist an der Batterie alles in Ordnung?“

„Alles, Freund Edgar … – Wäre es nicht vielleicht praktisch, das Hängegerüst vom Heck hier oben unter der Höhlendecke zu befestigen?! Ich meine für den Fall, daß an den Leitungen etwas nicht in Ordnung ist, also die Sprengung versagt … Dann könnte man doch die Sphinx dort belassen, wo wir sie zu ihrem Schutze hinbringen müssen …“

Lomatz schüttelte den Kopf …

„Überflüssig …!! Zu zeitraubend auch … Ich werde die Leitungen nochmals prüfen … Das genügt… Und die Batterie schalte ich dann persönlich ein …“

Mafaldas Augenlider hatten sich für einen Moment halb geschlossen …

Ihr Plan schien gefährdet – nur für einen Moment.

Aber – Lomatz hatte diesen Plan nun selbst abgeändert … Wenn er die Batterie einschalten wollte, dann … würde er die Sphinx niemals mehr erreichen … Dann würde sie ohne ihn durch die Öffnung der Höhlendecke entfliehen …

Und – – Mafalda sagte:

„Du hast recht … Es wird schon … klappen, Freund Edgar … Ein Fachmann wie du wird nichts versäumen …“

Und … dachte: ‚Nur die Rückkehr zur Sphinx wirst du versäumen, Freund Edgar …! Du hast dir soeben selbst den Deckel deines Sarges geöffnet …’

Hastig stieg sie unter einem Vorwand in die Sphinx hinab … Nun wollte sie die Dynamitpatrone doch noch zum Vorschein bringen … Jetzt sollten diese den Erfolg noch sicherer machen … –

Lomatz merkte nichts, als die Fürstin heuchlerisch erklärte, soeben in dem Vorratsraum in einer Kiste noch diese fünf Sprengkörper entdeckt zu haben …

„Oh – natürlich benutzen wir sie noch!“ meinte er eifrig. „Wir werden durch sie das zu sprengende Loch verlängern können …“

Und er erteilte die nötigen Befehle … Fünf weitere Öffnungen wurden eingeschmolzen … Fünf neue Zuleitungen mit den Batteriedrähten verbunden. –

Inzwischen war es drei Uhr morgens geworden …

Lomatz ließ jetzt steifen Grog an die Leute verteilen, auch Konservenfleisch und Schiffszwieback. Er selbst spürte keine Ermüdung. Er war überzeugt, daß die Eisdecke der Grotte in solcher Ausdehnung einstürzen würde, daß die Sphinx bequem das Freie gewinnen konnte …

Er triumphierte … malte sich in Gedanken bereits die Enttäuschung der draußen lauernden Feinde aus, die vielleicht gehofft hatten, die hier in der Höhle Eingeschlossenen auszuhungern oder sonstwie zur Aufgabe zu zwingen …

Anderes noch malte er sich aus …

Und wilder Hohn glitt wie Gewitterleuchten über seine Züge …

Mafalda Sarratow …!! Oh – sie sollte sich wundern …! Mit dem Robbenschläger hatte sie ein Schäferstündchen gehalten, hatte nicht bedacht, daß sie ihrem Verbündeten so die beste Gelegenheit bot, diese Horde von Verbrechern auf seine Seite zu bringen …

Oh – er hatte die Zeit gut genutzt, hatte schlau die schon rege Eifersucht dieser Banditen bis zu Haß und Mordgedanken geschürt …

Mafalda Sarratow würde niemals diese Flucht mitmachen … Sie und der junge Hühne würden ausgeschaltet werden …

Alles war genau verabredet …

Und – wäre Lomatz seiner Sache nicht so sicher gewesen, dann hätte er niemals gewagt, seine treulose Verbündete auch nur eine Sekunde in der kritischen Zeit der Explosion an Bord der Sphinx allein zu lassen. –

So webte denn allseits Verrat und Heimtücke seine verderblichen Fäden um das Goldschiff …

Schon – stets war es so gewesen … stets! Das Gold strömte häßliche, verderbliche Dünste aus, umnebelte die Köpfe und Herzen, schuf Niedertracht, Haß, Feindseligkeit …

Das Gold war die Quelle allen Schlechten … Es war das Verderben der Menschheit von jeher – der Fluch des Weltalls … Und doch anderseits der Schöpfer von Kulturwerten, der Lebensodem von Handel und Wandel, – – ein Widerspruch, der nie zu lösen sein wird! –

Nun waren auch die fünf letzten Dynamitpatrone in die Eislöcher eingeführt, diese verkeilt, damit der Druck der Explosion sich nach allen Seiten gleichmäßig verteilen konnte … Die Zuleitungen waren sorgfältig verbunden, und die Sphinx konnte sich jetzt in den äußersten Winkel zurückziehen, wo die Eismassen im Herabpoltern ihr nichts anhaben konnten.

Das Luftboot senkte sich … Die Antriebswellen drehten langsam, trieben es in den schützenden Grottenwinkel, gut hundertfünfzig Meter weg von dem Orte der Gefahr …

Hier landete es vollends auf dem Eisboden, lag still … Die Propeller schwangen noch einige Male und verharrten dann ohne Bewegung …

Lomatz rief jetzt alle Leute von dem Vorschiff zusammen. Auch Mafalda trat hinzu.

Er hielt eine kurze Ansprache, warnte davor, daß vielleicht jemand aufrecht stehend die Explosion beobachten wollte … Jeder solle sich lang auf das Deck legen …

Was er sagte, war genau überlegt, war nur die Einleitung für den Angriff auf Mafalda und ihren Goliath von Liebhaber …

Dann verließ Lomatz die Sphinx, kletterte an der Außenleiter hinab und eilte dem großen Eisblock zu, hinter dem die Batterie aufgebaut war.

An Deck der Sphinx hatten sich jetzt alle Mann hinter die Reling gelegt. Mafalda und Lööfsen kauerten neben dem Turm … Dicht hinter den beiden aber waren zwei Chinesen und zwei Matrosen des Robbenfängers …

Und diese vier waren dazu ausersehen, das Bubenstück zu vollbringen. Diese vier paßten den richtigen Augenblick ab …

Lööfsen wurde mit einer Eisenstange niedergeschlagen … Mafalda zu Boden gepreßt – – gebunden.

Und nicht viel hätte gefehlt, und die Banditen wären hier sofort sie hergefallen

Der Fürstin war dieser Angriff so überraschend gekommen, daß sie nicht einmal um Hilfe rief oder sich zu wehren versuchte …

Sie war auch zu klug, diese vertierten Burschen durch irgend etwas zu reizen. Sie ahnte die Wahrheit, daß dies einzig und allein Lomatz’ Werk war!

Unsägliche Wut ließ ihre Zähne wie im Fieberfrost aufeinanderschlagen …

Lomatz – – ihr Besieger!! Lomatz, den sie hatte verderben wollen!!

Nun lag sie wehrlos da …

Wartete …

Wartete wie all die übrigen auf die Explosion der Sprengkörper, auf den Lärm der zusammenstürzenden Höhlendecke … –

Lomatz hockte hinter dem Eisblock. Neben ihm stand eine Laterne. Vor ihm der Holzkasten mit der Zündbatterie …

Er konnte von hier aus die Sphinx undeutlich erkennen …

Wartete ebenfalls …

Dann schwang jemand auf der Sphinx eine Laterne im Kreise: das Zeichen, daß Mafalda und Lööfsen überwältigt seien …!

Lomatz streckte die Hand nach dem Schalthebel der Batterie aus, schmiegte sich noch enger an den Eisblock, der ihn vor dem Luftstoß der Explosion schützen sollte.

Seine Finger berührten den kalten Messinghebel …

Einen Moment noch zauderte er …

Blitzartig schoß ihm gar der Gedanke durch den Kopf, daß der Luftstoß vielleicht so gewaltig sein könnte, diesen Eisblock umzuwerfen und ihn selbst zu zermalmen …

Doch – diese Anwandlung von Furcht ging vorüber …

Fester preßte er Lippen und Zähne zusammen …

Er fühlte den kalten kleinen Messinghebel … Nur ein Ruck – und …

Da … hatte er den Hebel schon herumgedrückt …

Und … schräg über ihm ein dumpfes Krachen – ein Klingen und Dröhnen der Eismassen, ein ungeheurer Lärm, ein Poltern und Donnern …

Gewaltige Eisblöcke flogen herab, stürzten in das Wasserbecken …

Neue Teile der Wölbung bröckelten ab …

Ein Blick nach oben zeigte ihm die Höhlendecke als eine sich noch ausdehnende Öffnung – weit größer, als sie für die Maße der Sphinx nötig gewesen …

Den Nachthimmel sah er – die Sterne …

Triumphierte …

Das Spiel war gewonnen!

Nun – – hin zur Sphinx …

Und dann hinaus in den Äther …

Er sprang auf …

Rannte los… Vorwärts …

Und – – da geschah das andere …

Da war’s, als packte eine Riesenfaust den Verbrecher und schleuderte ihn meterweit ins Leere …

Da war ein zweiter noch stärkerer Knall wie der Donner einer Geschützsalve erklungen …

Da waren von dem versperrten Eingang der Eisgrotte her zentnerschweres Stücke wie Geschosse durch die Luft geprasselt …

Und – dieser Eingang lag plötzlich frei …

Breit und hoch wie einst wölbte sich das offene Eisportal …

Edgar Lomatz aber ruhte blutend zwischen Massen von Eisgeröll …

In tiefer Bewußtlosigkeit …

Das Gold … hatte sich auch an ihm gerächt …

 

35. Kapitel.

Mißlungen …?!

Nielsen und Murat hatten bekanntlich die Bewachung der Eisspalte übernommen, die unweit der Nachbarbucht in die Kristallkugel hinabführte. Dieser oben rechts breite Kluft war durch einen Eisblock zwar verschlossen worden, mußte aber dennoch unter ständiger Aufsicht gehalten werden, weil immerhin die Möglichkeit vorlag, daß die Feinde dort unten einen Ausfall versuchten!

Die Nacht auf der schwimmenden Inseln war empfindlich kalt. Die gewaltige Eismasse hatte nach Sonnenuntergang die Temperatur bis auf zwei Grad Wärme herabgedrückt. Man hatte daher auch aus dem Kutter ‚Schildkröte’ für die beiden einsamen Wachposten dort oben auf dem windigen Plateau sowohl ein kleines Zelt aus Ölleinwand als auch in diesem Zelt einen Bodenbelag aus Brettern hergerichtet, ferner einen Hartspirituskocher aufgestellt und Eßwaren und Getränke herbeigeschafft

Gottlieb Knorz und Pasqual Oretto waren es gewesen, die all diese Dinge auf einem rasch zusammengezimmerten Schlitten den Freunden zugeführt hatten und dann auch noch beim Bau des Zeltes halfen.

Diese Arbeit nahm einige Zeit in Anspruch. Als Knorz und der Portugiese sich dann wieder entfernten, nachdem sie den Gefährten noch von dem recht bedenklichen Zustand des verwundeten Fürsten Sarratow Mitteilung gemacht hatten, war es doch zwei Uhr morgens geworden.

Die beiden bejahrten Unzertrennlichen, wie man Knorz und den Taucher zu nennen pflegte, wanderten gemächlich, den Schlitten hinter sich herziehend, der großen Bucht wieder zu und besprachen die durch die Befreiung der drei Sphinxleute neu geschaffene Lage auf ihre bedächtige Art.

Plötzlich, als sie gerade eine Mulde des Plateaus zwischen den beiden Buchten passierten, stolperte Knorz über ein Hindernis, das er trotz des hellen Sternenlichtes nicht bemerkt hatte, schlug lang hin und erhob sich mit einer leisen Verwünschung über seine Unachtsamkeit. Pasqual half ihm mit einem Scherzwort wieder auf die Beine …

„Das kommt davon, wenn man die Augen nicht offen hält!“ brummte Gottlieb und beschaute seine zerschundenen Hände. Dann drehte er sich um und suchte nach dem Hindernis, an dem sein rechter Fuß Widerstand gefunden …

„Hm – ich sehe nichts – – merkwürdig!!“ meinte er verwundert. „Glattes Eis …! Da strauchelt man doch nicht!“

Auch Pasqual schüttelte den Kopf. Aus einem anderen Grunde …

Mit einem Male kniete er nieder …

Und im selben Moment drang aus einem etwa faustgroßen Loche im Eise ein dunkles Etwas hervor …

Pasqual packte zu …

Rief auch schon:

„Knorz – eine warme Eisenstange …! Da – – verschwindet sie wieder!“

Gottlieb bückte sich, befühlte das Loch … Legte sich jetzt lang auf das Eis und preßte das linke Ohr gegen die kleine Öffnung …

Und – – horchte … horchte …

Hörte leises Raunen …

Menschliche Stimmen …

Sprang wieder auf …

„Pasqual, die Eisenstange kam aus der Eisgrotte!“ rief er erregt. „Pasqual, die Schurken hatten die Eisenstange heiß gemacht … Die haben irgend etwas vor …! – Zurück zum Zelt! Wir müssen es Nielsen melden …!“

Der Portugiese nickte …

„Ganz recht, Amigo, ganz recht …! Laufe nur hinüber … Ich bleibe hier und beobachte. Ich glaube, die Kerle wollen sich einen Ausweg hier nach oben bahnen, wollen durch die Grottendecke hindurch …! – Wäre kein schlechter Gedanke …!“

Gottlieb eilte davon …

Es waren kaum hundert Meter bis zum Zelt und bis zur Eisspalte. Murat wanderte draußen auf und ab. Der mächtige Homgori sah jetzt noch unförmige als sonst aus, da er sich zum Schutz gegen die Kälte zwei Wolldecken um den zottigen Leib gebunden hatte.

Nielsen saß im Zelt und kochte Tee … Die Karbidlaterne beleuchtete sein braunes sympathisches Gesicht, das einen versonnenen Ausdruck zeigte.

Gerhard Nielsen hatte gerade an Gipsy Maad, seine tapfere Kameradin gedacht …

Hm – Kameradin?! Das stimmte nicht mehr ganz! Das war Selbstbetrug …! – Und halb ärgerlich korrigierte Nielsen diese Bezeichnung und setzte dafür etwas anderes, lieberes, zärtlicheres …

Es half ja doch alles nichts … An der Tatsache ließ sich nicht mehr rütteln … Auch ihn hatte nun das große Unheil in den Klauen: die Liebe …!!

Er hatte sich dagegen gesträubt mit Händen und Füßen … Er hatte Gipsy so und so oft bitter wehe getan … Er wußte, sie liebte ihn! Und sie hatte niemals daraus einen Hehl gemacht, ohne je unzart oder aufdringlich zu werden … Sie mochte geahnt haben, daß er sich ja nur ‚aus Prinzip’ der Einsicht verschloß, sein Herz endgültig verloren zu haben …

Und Nielsen seufzte, schmunzelte dann … Gipsy – – kleiner Racker! Sie hatte nun wirklich gesiegt …!

Da – trat Knorz ein – sehr hastig, ließ das Zeltleinen des Eingangs hinter sich zufallen und sagte ebenso überhastet:

„Herr Nielsen, die Schufte bohren Löcher nach oben … Soeben bin ich über eine warme Eisenstange gestolpert und lang hingeschlagen …! Zum Glück! Sonst hätten wir kaum bemerkt, was dieser infame Lomatz da wieder ausgeknobelt hat …!“

Nielsen sprang sofort auf, löschte den Spirituskocher …

„Ich komme mit, Gottlieb … Die Sache muß ich mir ansehen …“

Sie traten aus dem Zelt, verständigten Murat und liefen der Mulde zu, wo Pasqual derweilen genau achtgegeben hatte, ob nicht etwa noch neue Löcher im Eise ausgeschmolzen würden.

Doch – er hatte nichts gesehen, sagte nur zu Nielsen:

„Ich wette, die Schurken stellen Sprengkammern her … Hier dieses Loch, das bis zur Oberfläche reicht, ist gegen ihren Willen entstanden … Es liegt im tiefsten Teile der Mulde …“

Gerhard Nielsen legte sich auf das Eis und tat dasselbe wie vorhin Gottlieb. Er horchte in die Öffnung hinein …!

Richtete sich nach einer Weile wieder auf …

„Ich höre in der Tat Stimmen … Leider war jedoch nichts zu verstehen …“

Dann versuchte er in das Loch hineinzusehen …

Und zu seiner Überraschung gewahrte er denn auch wirklich dort in der Tiefe, wo die eingeschmolzene Öffnung sich trompetenartig erweiterte, einen Lichtschimmer und konnte sehr bald auch die Deckplanken der Sphinx, einen Teil des Turmes und hin und her eilende Gestalten unterscheiden, die mit Eisenstangen hantierten.

Er erhob sich …

„Jawohl – Sprenglöcher!“ sagte er nur. „In der Sphinx gibt es genügend Dynamitpatrone …! Das Gesindel will durch die Höhle hinaus. Die Sphinx schwebt dicht unter der Decke … – Knorz, Pasqual, – Ihr bleibt bei Murat … Einer beobachtet durch dieses Loch, das Lomatz fraglos nur deshalb so hoch emporgetrieben hat, um die Dicke der Eisschicht festzustellen. Ich will zum Kutter … Wir müssen Gegenmaßnahmen treffen … – Wiedersehen, Freunde …!“

Und er schritt eilends davon, verschwand zwischen den Eishügeln, kam dann auf ein kleines Schneefeld und … stutzte …

Eine Gestalt war vor ihm aufgetaucht, eine Gestalt, deren fester, elastischer Gang Gipsy Maad verriet.

Schon stand die junge schneidige Amerikanerin dicht vor ihm …

Nielsen brummte scheinbar ärgerlich:

„Was tun Sie denn hier so allein, Gipsy …?! Glauben Sie, dieser Eisberg ist die Strandpromenade von Long Island?! – Sie irren …!! Hier lauert Gefahr … Überall …!“

Gipsy Maad lachte ihn an …

„Was ich hier tue?! Ich wollte Sie und Murat besuchen … Untätigkeit ist mir verhaßt … Schlafen kann man ja doch nicht … Auf dem Kutter sind alle Mann munter, und …“

Nielsen lachte nun gleichfalls …

„War lieb von Ihnen, diese Besuchsabsicht, kleine Gipsy …“

Dann nahm er plötzlich ihre beiden Hände …

„Ich denke, Gipsy, wir erledigen die Geschichte hier ohne viele Worte …“

Seine Augen strahlten Zärtlichkeit … Seine Stimme vibrierte leicht …

„Wie es um uns beide steht, Gipsy, wissen wir längst … Ich war ein Dummkopf, daß ich so lange mich sträubte … Ich habe dich lieb, Gipsy … Genau so lieb wie du mich …!“

„Oh – – das ist unmöglich …! Ich habe dich viel, viel lieber, Gerhard …“

Und mit anmutiger Zartheit schmiegte sie sich an seine Brust und küßte ihn …

Mit der Kameradschaft war’s endgültig vorüber …

Nielsen hätte nie geglaubt, daß weiche Mädchenlippen solche Seligkeit spenden können …

Würde ihn nicht das Pflichtgefühl an den Ernst der Lage erinnert haben, – er hätte hier noch stundenlang seiner Gipsy bewiesen, daß er sie mindestens so lieb hatte wie sie ihn – mindestens!

Arm in Arm wanderten sie weiter …

Mit heißen Gesichtern, brennenden Lippen und pochenden Herzen …

Nielsen erzählte, von dem Loch im Eise, das bis in die Grotte hinabging …

Und Gipsy vergaß über diesem Neuen die bräutliche Seligkeit und wurde gleichfalls wieder die schneidige, kluge Detektivin der Weltfirma Worg & Co., Neuyork …

„Natürlich schmelzen sie Sprenglöcher in das Eis,“ nickte sie eifrig. „Wie denkst du dir unsere Gegenmaßnahmen, Gerhard? Sollen wir die Banditen etwa durch die Eisplatte angreifen?! Das würde sehr viel Blut kosten, fürchte ich …“

Nielsen meinte harten Tones:

„Wir werden die Schurken auch ohne Blutvergießen klein bekommen, – Sprengung gegen Sprengung!“

Gipsy verstand sofort …

„Du denkst an die Torpedos, Gerhard?!“ rief sie … „Unsere harmlose ‚Schildkröte’ hat ja zwei Torpedolancierrohre – ein Spleen Josua Randercilds, der uns jetzt sehr zustatten kommt!“

„Allerdings! Und die sechs Metallzigarren gehören mit dazu! Einem Torpedo ist der Eisverhau vor dem Eingang der Grotte niemals … Die Eisbarrikade fliegt auseinander, und wir drohen der Bande dann, einen zweiten direkt in die Höhle zu feuern …! Glaube mir, kleine Gipsy …! Die Horde kapituliert, wenn wir ihnen freien Abzug versprechen und nur die Auslieferung Mafaldas und Lomatz’ verlangen!“

„Oh – das nehme ich ebenfalls an … – Gerhard, daß wir auch nicht früher die Torpedos berücksichtigt haben …!!“

„An das Beste denkt man gewöhnlich zuletzt,“ lächelte der blonde Nielsen zärtlich. „Beweis, du und ich!! Wochenlang hat es gedauert, bis ich einsehen lernte, daß nur Gipsy Maad für mich das einzig passende Frauchen wäre! – Doch jetzt – mehr Tempo, mein Liebling! Beeilen wir uns … Gaupenberg wird sich wundern, was wir für Nachrichten bringen!“

Als sie dann die Schlucht hinabkletterten, die sich durch die steilen Eiswände der großen Bucht bis zum Wasserbecken hinabzog, sahen sie den langen schlanken Kutter mitten in der seeartigen Ausbuchtung im milden Sternenlanz vor Anker liegen …

Machten nun doch einen Augenblick halt und genossen schweigend dieses wunderbare Bild einer Hochgebirgslandschaft mit Gletschern und schwimmenden Eishügeln fast andächtig und in der stillen Herzensfreude ihres jungen Glücks …

„Wie schön das alles ist,“ sagte Gipsy leise …

„Und doch – diese schwimmende Insel trägt das Verderben mit sich …“ sagte Nielsen sehr ernst. „Die Eisberge sind der Fluch des nördlichen Atlantik … Und gerade dieses treibende Ungetüm ist doppelt gezeichnet: Mord und Hinterlist bewohnen es! Dort in der Kristallhöhle lagert … Gold …!! Wir haben bereits zur Genüge erfahren, was das bedeutet …! Gold – Triebfeder alles Gemeinen!! Gold, Goldgier, der Fluch der Menschheit …! Was nützt diese nächtliche Schönheit, wenn wir selbst uns schon wieder mit Gedanken beschäftigen müssen, wie wir Menschenleben vernichten! – Komm, kleine Gipsy! Wir haben an anderes zu denken …“

Und am Ufer lag ein Boot. Sie stiegen ein, langten bei dem Kutter an …

Tom Booder und sein liebliches Bräutchen gingen auf Deck hin und her. Das Tonerl rief den beiden Ankommenden zu:

„Herr Nielsen, ist denn etwas geschehen?! Wo sind Knorz und Pasqual?“

Gipsy war schon die Schiffstreppe hinan …

Jetzt kam bei ihr für einen Moment doch einzig und allein die Freude über ihr Herzensglück um Durchbruch …

Sie umarmte Toni Dalaargen …

All diese weiblichen Mitglieder der Sphinxbesatzung standen ja wie Schwestern miteinander …

„Tonerl,“ flüsterte sie dem Prinzeßchen zu … „Tonerl, wir haben uns verlobt … Du kannst uns gratulieren …“

Das gab denn nun zunächst ein herzliches Durcheinander von frohen Worten. Bis Nielsen scheinbar grimmig meinte:

„Ich sag’s ja, wenn erst Liebe irgendwo mitzureden hat, vergißt man Pflicht, Gegenwart und Feinde! – Also hören Sie, Booder, die Kerle in der Eisgrotte wollen auskneifen …! Nähere Einzelheiten erzähle ich in der Kajüte …“

„Wohin ich nicht mit hinab darf,“ erklärte der lange Tom achselzuckend. „Ich habe Deckwache … Und mein Tonerl leistet mir Gesellschaft … – Bin neugierig, wie die Bande aus der Mausefalle entschlüpfen könnte … Stelle mir das nicht ganz einfach vor …“

„Lomatz ist ursprünglich Techniker gewesen,“ gab Nielsen kurz Bescheid. „Er will die Deckenwölbung der Höhle sprengen … Keine große Sache das, wenn man Dynamitpatrone zur Verfügung hat … – Nun wissen Sie die Hauptsache … Bis nachher …“

Und er zog Gipsy mit sich fort …

Unten in der Wohnkajüte des großen Kutters fanden sie die beiden Ehepaare Gaupenberg und Hartwich, ferner den Herzog von Dalaargen und Mela Falz um den länglichen Tisch versammelt vor … Dr. Falz weilte in einer der Kabinen bei dem schwerverwundeten Fürsten, und Inge Söörgard wich gleichfalls nicht von dem Schmerzenslager des Mannes, dem ihre Liebe gehörte und der doch niemals ihr eigen werden konnte.

Gaupenberg sah es Nielsen sofort an, daß sich etwas von Wichtigkeit ereignet haben mußte …

Nielsen erstattete Bericht …

Als er dann sofort seinen Vorschlag erwähnte, den Grotteneingang durch einen Torpedoschuß freizulegen, ergriff Graf Gaupenberg seine Hand …

„Nielsen, Sie haben uns schon so manches Mal herausgehauen …! Hartwich, Dalaargen und ich beraten hier schon eine halbe Stunde, wie man den Banditen ohne Verluste endgültig das Handwerk legen könnte … – Gehen wir an Deck … Sehen wir uns die Uferwand genau an …“

Die Männer begaben sich wieder nach oben.

Vor dem durch mächtige Eistrümmer verschütteten Grotteneingang ragten fünf riesige Blöcke aus dem Wasser hervor – Eisklippen, zwischen denen jedoch genügend Raum sich befand, um einen Torpedoschuß direkt gegen den versperrten Zugang abzugeben. Die Entfernung vom Kutter zum Zielpunkt betrug etwa hundertfünfzig Meter …

„Es muß gelingen,“ meinte der in solchen Dingen erfahrene Hartwich, der ja seinerzeit U-Bootsteuermann gewesen … „Ich traue es mir sehr wohl zu, den Torpedo richtig anzubringen … Nur dürfte die durch die Explosion entstehende Flutwelle den Kutter arg hin und her schleudern, was uns anderen nichts schaden dürfte, nur an unseren Patienten denke ich, den Fürsten … Man müßte ihn eigentlich an Land bringen, was indes bei seinem bedenklichen Zustand kaum anzuraten ist …“

Gaupenberg schickte nun den Herzog in die Kabine des Verwundeten hinab, um Dr. Falz zu befragen, wie er sich zu dem Plane stelle.

Als Fredy Dalaargen leise die Kabinentür öffnete, traf er Inge hier allein an.

Mit strahlenden Augen teilte sie ihm mit, daß Dr. Falz sich soeben nebenan ein wenig niedergelegt habe, da die gefährliche Herzschwäche des Fürsten vorerst behoben sei …

Dalaargen nickte dem jungen Mädchen herzlich zu.

„Nur Mut, Fräulein Söörgaard … Nur Mut …! Der Fürst ist zäh … Ein glatter Lungenschuß heilt ganz von selbst …“

Dann betrat er die Nebenkabine …

Dr. Dagobert Falz schlief bereits. Der Herzog rüttelte ihn wach …

„Verzeihen Sie, Herr Doktor,“ meinte er mit jenem Respekt, den hier jeder vor dem Einsiedler von Sellenheim hatte …

Falz ließ sich die Sachlage schildern … Erklärte darauf, daß man den Kranken nur von allen Seiten durch Kissen stützen solle, um nachteilige Wirkungen durch starke Schwankungen des Kutters auf den Patienten zu verhüten …

„Ich werde das persönlich besorgen, lieber Dalaargen,“ fügte er hinzu. „Sagen Sie nur dem Grafen, daß man auf Sarratow keinerlei Rücksicht zu nehmen brauche. Ich bringe ihn schon durch. Das Schlimmste, die Kreislauschwäche durch die Verletzung der Lunge, ist überstanden … Im übrigen ist Nielsens Gedanke, mit einem Torpedoschuß die Grotte zu öffnen, das sicherste Mittel, die Sphinx wieder zurückzuerobern!“

Der Herzog eilte an Deck zurück … –

Es galt nun, den Kutter ein wenig zu drehen, damit der Bug des Fahrzeuges mit den beiden Unterwasserrohren genau dem Ziele zugekehrt würde.

Der Heckanker wurde also gelichtet und mit Hilfe des Bootes an anderer Stelle wieder versenkt, so daß man die Ankertrosse straffer spannen konnte.

Hartwich überwachte das Manöver.

Als die ‚Schildkröte’ sich in der richtigen Stellung befand, wurde noch ein zweiter Heckanker ausgeworfen, damit die Flutwelle der Explosion den Kutter nicht etwa losrisse. Außerdem brachte man noch zwei Stahltrossen ans Ufer, die dort vertäut wurden.

All dies hatte geraume Zeit in Anspruch genommen.

Jetzt mußte Tom Booder schleunigst die drei Wächter an der Eisspalte der Nachbarbucht davon verständigen, daß der Schuß auf den Grotteneingang in kurzem abgefeuert werden würde und daß sie genau achtgeben sollten, daß die in der Grotte Eingeschlossenen nicht etwa durch die Spalte das Freie zu gewinnen suchten.

Toni begleitete ihn. Nielsen schärfte den beiden noch ein, doch ja um jene Mulde des Plateaus, die schon von weitem zu erkennen sei, einen großen Bogen zu machen, denn niemand könnte voraussehen, ob Lomatz die Vorbereitungen zur Sprengung der Höhlendecke nicht schon soweit beendet habe, daß er die Sprengschüsse hochgehen ließ …

Booder und Toni wurden ans Ufer gerudert und kletterten die Schlucht empor. –

Hartwich, der jetzt mit Nielsen und Gaupenberg unten im Torpedoraum weilte, wartete zehn Minuten … In dieser Zeit mußten Booder und Toni die Eisspalte drüben erreicht haben …

Der Graf hatte seine Uhr in der Hand … Hartwich prüfte nochmals die Visiervorrichtung … Nielsen hielt den Abzugshebel …

„Noch zwei Minuten …“ meldete Gaupenberg.

Auch diese hundertzwanzig Sekunden verrannen …

Der Graf steckte die Uhr ein …

„Los …!!“ rief er – und hielt sich an einem Türgriff fest … –

Oben an Deck kauerten Dalaargen und Gipsy hinter der Reling …

Schauten hinüber zu den Eisklippen …

Spürten jetzt die leichte Erschütterung des Schiffsrumpfes, sahen die leicht gekräuselte Bahn des unter Wasser hinschießenden Torpedos …

Und da … hörten sie vom fernher einen dumpfen Knall …

Ein Zittern ging durch die Eismasse …

„Die Höhlendecke …!!“ flüsterte der Herzog heiser.

Eine gewaltige Explosion riß ihm das letzte Wort vom Munde weg …

Eine ungeheure Fontäne sprang am Fuße der Uferwand zwischen den Riffen auf …

Ganze Eisblöcke flogen umher …

Kleinere Eisstücke prasselten auf das Deck des Kutters herab.

Eine Riesenwoge wälzte sich auf die ‚Schildkröte’ zu …

Überflutete das Deck …

Dalaargen hatte noch im letzten Moment Gipsy mit dem linken Arm umschlungen … Mit der rechten Hand umkrampfte er die Oberstange der Reling …

Brausend ging die Welle über sie hinweg …

Der Kutter tanzte taumelnd auf den Wogen …

Pitschnaß waren Gipsy und der Herzog …

Drüben aber in der Uferwand dehnte jetzt eine weite Öffnung … Die Riffe waren verschwunden …

Nielsen, Gaupenberg und Hartwich stürmten an Deck …

„Gelungen!!“ rief Nielsen … „Gelungen …!! Und jetzt – jetzt werden wir …“

Neben ihm Gipsys seltsam schrille Stimme …

„Dort … dort oben – – die Sphinx …!! Dort über dem Plateau …“

Wie gelähmt standen die Sphinxleute …

Das Luftboot schoß höher und höher … Unaufhaltsam – bald nur noch ein Punkt im Äther … Bald – – nichts mehr – – verschwunden im ausgestirnten Firmament …

 

36. Kapitel.

Der Kerker zweier Verbrecher.

Pasqual Oretto hatte getreulich den Befehl Nielsens befolgt und durch das enge Loch in der Eisdecke der Grotte das Tun und Treiben der Feinde beobachtet, soweit ihm dies möglich war.

Viel konnte er nicht erkennen … Nur schattenhafte Gestalten … ein paarmal auch Mafalda, durch ihre Kleider von den übrigen sich unterscheidend …

Zuweilen erhob er sich und schritt hastig auf und ab, um sich zu erwärmen. Dann brachte Gottlieb ihm vom Zelte her einen Becher Tee …

Die Unzertrennlichen unterhielten sich ein paar Minuten. Als Knorz nun gleichfalls einen Blick in die Eishöhle hinabwarf, sah er gerade noch, wie die Sphinx sich senkte und langsam aus dem Gesichtsfeld entschwand …

„Pasqual,“ rief er da und stand rasch wieder auf den Füßen, „es wird Zeit, daß wir von hier uns zurückziehen … Die Sphinx liegt nicht mehr an ihrer bisherigen Stelle … Vielleicht haben die Schufte die Sprengladungen fertig …!“

Und er zog Oretto mit sich fort …

Die beiden liefen dem Zelt zu, bemerkten neben dem treuen Homgori zwei der Freunde: Toni und Tom Booder …!

„Hallo – wir wollten euch gerade holen,“ meinte der lange Tom und drückte ihnen die Hände. „Nielsen war vor der Mulde, und bei uns muß in wenige Minuten der Torpedoschuß abgefeuert werden … Wir sollen hier gut achtgeben, daß die Bande nicht etwa durch die Eisspalte emporwill …“

Murat fletschte die mächtigen Hauer, was zuweilen bei ihm auch das Lachen ersetzte …

„Keiner hier herauskommen, Master Booder,“ meinte er und deutete auf ein Dutzend zentnerschwerere Eisstücke am Rande der Spalte … „Murat jedem schlagen Schädel ein, und …“

Was er den Banditen sonst noch antun wollte, konnte er nicht mehr über die Wulstlippen bringen …

Der Eisboden wankte plötzlich …

Wie die Wellenbewegungen eines Erdbebens ging es durch die Gletschermassen …

Dann ein dumpfes Krachen – ein paar helle kreischende Töne …

Und dort, wo sich die Mulde auf dem Plateau befunden hatte, dort trieb das Eis gleichsam mächtige Blasen, sank wieder in sich zusammen und stürzte in gewaltigen Blöcken in die Grotte und in das Wasser hinab …

Einzelne Stücke waren weit emporgeschleuderter worden, prasselten nun aus der Luft wie verderbliche Hagelschlossen nieder …

Toni hatte vor Schreck leise aufgeschrieen … Booder drängte sie jetzt in das Zelt, wo sie einigermaßen geschützt war …

Knorz, Pasqual und Murat aber liefen unbekümmert durch den Eishagel der neuentstandenen Öffnung zu …

„Das Lumpenpack entwischt uns!“ brüllte Knorz … „Heran an das Loch in der Höhlendecke …! Die Pistolen bereit …! Wir wollen uns ihnen zeigen …! Schießt auf die Sphinxröhre …! Ihr wißt ja Bescheid! Sie dürfen nicht entkommen …!“

Und als die drei nur noch einige Meter vom zackigen Rande der Öffnung entfernt waren, kam von der großen Bucht der Knall des Torpedoschusses wie das Echo eines fernen Gewitters herüber …

„Hurra!!“ brüllte Gottlieb jetzt … „Die Unseren sind am Werk …!! Beweisen wir, daß es hier durch dieses Mauseloch für die Banditen kein Entschlüpfen gibt …!“

Inzwischen hatten sich aber auch unten in der Eishöhle die Dinge wieder zu Gunsten Mafaldas geändert …

Die durch Lomatz verführte buntgemischte Horde von Chinesen, weißen Verbrechern und meuternden Matrosen hatte genau beobachten können, wie Lomatz durch den Luftdruck der Explosion des Torpedos fortgeschleudert wurde und nun regungslos zwischen den Eistrümmern lag …

Auch Mafalda, obwohl gefesselt, hatte sich halb aufgerichtet … und bemerkte so diese für ihren treulosen Verbündeten so verhängnisvolle Wirkung der zweiten Explosion …

Sie sah, daß der Eingang der Grotte freigelegt war …

Und hatte auch schon im Moment die Situation richtig erfaßt …

„Nehmt mir die Fesseln ab, wenn euch euer Leben lieb ist!“ schrie sie den wie versteinert dastehenden Banditen zu. „Keiner von euch weiß die Sphinx zu lenken! Ich werde uns retten …! Schnell – weg mit den Riemen …!!“

Die Kerle wußten nur zu gut, daß sie nun den Sphinxleuten auf Gnade und Ungnade sich würden ergeben müssen …

Einer sprang zu …

Sein Messer glitt durch die Strickwindungen …

Und schon stieg Mafaldas in den Turm hinab …

Das Sehrohr war halb ausgeschraubt … Sein Spiegel zeigte ihr die Umgebung …

Ihre Hände packten die Schalthebel …

Die Sphinx hob sich vom Boden …

Die Propeller arbeiteten …

Rückwärts glitt das Luftboot der Öffnung in der Höhlendecke zu …

Mafalda starrte auf den Sehspiegel …

Sekunden entschieden jetzt ihr Schicksal …

Ihre Lippen waren fest aufeinandergepreßt … Mit ungeheurer Energie zwang sie sich zur Ruhe …

Sie wußte, ein einziges falsches Steuermanöver, und die Sphinx würde über den Bereich des Loches hinwegleiten …

Die Propeller liefen leer … Das Luftboot senkte sich etwas …

Nun lag das Loch in der Eisdecke gerade über ihm …

Mafalda drückte das Höhensteuer herum …

Betätige gleichzeitig den Auftriebhebel …

Ganz schräg stand die Sphinx, das Heck dem Loche zugekehrt …

Und – noch schräger neigte sie sich … Plötzlich – so plötzlich, daß die Leute das Deck in wirrem Knäuel entlangrollten … und ein paar über die Reling in die Tiefe sausten …

Langsam passierte das Luftboot so die weite Öffnung …

Nur drei der Banditen klammerten sich noch am Turme fest …

Und – – drei andere Männer sprangen da in verzweifeltem Anlauf vom Rande des Eisloches auf die flüchtende Sphinx … drei, die hier mit fiebernden Nerven gewartet hatten.

Als erster flog Murat an Bord, bekam die Reling zu fassen, hielt Knorz, der etwas zu kurz gesprungen war, noch glücklich am Jackenzipfel fest, schnellte ihn vollends empor …

Pasqual landete glücklicher, denn jetzt hatte Mafalda die Sphinx bereits wieder fast vollends in horizontale Lage gebracht, hatte den Auftrieb verstärkt …

Die Sphinx schwebte noch mehr empor … Und wie ein Pfeil schoß sie plötzlich den Sternen entgegen …

Murat sah die drei, die hier noch übriggeblieben …

Der Homgori duckte sich zusammen … Mit einem einzigen Satz schnellte er sich vor … Verzichtete auf jede Waffe … Seine Riesenfäuste genügten ihm …

Die Kerle waren noch halb betäubt … Und Murats seltsame, unheimliche Erscheinung wirkte noch lähmender …

Der Homgori schlug zweimal zu … Den dritten, einem Chinesen, drückte er den Kopf nach hinten …

Ein gellender wahnwitziger Schrei … Ein schreckliches Knacken der Genickwirbel … Leblos sank der Schlitzäugige zusammen …

Und ehe Knorz noch eingreifen konnte, flogen die drei über Bord – ins Leere …

Eine wilde tierische Wut hatte sich Murats bemächtigt …

Wieder schnellte er herum … Sein Haß, seine Mordlust galt Mafalda … nur diesem Weibe …

Und abwärts glitt er die Turmleiter …

Stand vor der völlig überraschten Fürstin …

Nichts von den Vorgängen an Deck hatte ihr der Sehspiegel gezeigt, der hierfür zu hoch hinausgeschraubt war …

Taumelnd wich sie vor dem verzerrten Gesicht des Tiermenschen zurück …

Blutleer wurden ihre Wangen … Grauen lag in dem Blick der weit aufgerissenen Augen …

Aber dieser Abenteurerin Nerven waren selbst solchen jähen Schrecken gewachsen …

Ein Sprung nach rückwärts … in den Kabinengang …

Hinein in eine offenstehende Kabine …

Die Tür knallte zu … Riegel wurden vorgeschoben …

Mit voller Kraft warf Murat sich gegen das Holz … Es krachte … Hielt aber …

Und – – diese Sekunden retteten Mafaldas das Leben …

Knorz und Pasqual tauchten auf …

Gottliebs drohende Stimme besänftigte den Homgori.

Wild keuchend stand Murat, brüllte nur:

„Dort … ist sie …!! Dort …!! Murat will Agnes rächen … Murat …“

Gottlieb rief abermals:

„Zurück, Murat …!! Frau Agnes wird es niemals billigen, daß du dich an Mafalda vergreifst! Es ist bereits genug Blut, übergenug Blut geflossen …!“

Und er zog den nur wenig sich sträubenden Homgori in den Turm …

Pasqual blieb als Wache neben der Kabinentür.

Knorz aber prüfte den Höhenmesser, erschrak etwas.

Zweitausend Meter …!

Es war höchste Zeit, daß man die Sphinx wieder sinken ließ …!

Und er schob den Hebel herum …

Das Luftboot glitt wieder abwärts … Schneller, immer schneller…

Das Sehrohr zeigte Knorz schräg unten auf dem matt schillernden Ozean den weißen Fleck des Eisberges.

Jetzt, wo das Schwerste überstanden, merkte er erst, wie sehr ihn die Aufregungen dieser letzten zehn Minuten mitgenommen hatten. Seine Knie zitterten … Er zog einen der Sessel an die Schaltbretter und ließ sich hineinsinken …

Ein tiefer Atemzug, ein befreiender Seufzer – und der alte treue Diener des Hauses Gaupenberg fand seine Ruhe wieder, nickte Murat freundlich zu und meinte:

„Geh an Deck, Murat … Winke den Freunden … Wir werden sehr bald dicht über dem Eisberg schweben …“

Die Sphinx glitt abwärts …

Und dort in der Tiefe auf der schwimmenden Kristallinsel, dort auf dem großen Kutter, standen noch immer die Sphinxleute …

Jetzt nicht mehr verzweifelt über das Mißlingen des Torpedoangriffs auf die Eisgrotte, der im übrigen ohne jede nachteiligen Folgen für den Kutter und den verwundeten Fürsten Sarratow geblieben war …

Jetzt freudig erregt, die Landung der Sphinx erwartend, von deren Deck der treuen Murat mit beiden Armen eifrig winkte …

Dann legte sich das Luftboot ganz sacht neben den Kutter auf das stille Wasser des Beckens …

Gaupenberg sprang als erster hinüber …

Preßte Murats Hände … Eilte in Turm hinab …

„Gottlieb, mein Alter, – das vergesse ich dir nie!!“

Und er schloß den braven Knorz in seine Arme …

„Gottlieb, wir sind wieder vereint … Die Sphinx ist unser …!! Das Gold ist wieder in unserem Besitz! Und jetzt werden wir dafür sorgen, daß Mafalda und Lomatz nicht eher die Freiheit gewinnen, bis wir dem deutschen Vaterlande die Milliarden übergeben haben!“

* * *

Eine Stunde später … Der noch immer bewußtlose Lomatz war aus der Eishöhle an Bord der Sphinx gebracht worden. Seine Verletzungen waren nicht weiter gefährlich. Dr. Falz verband ihn, und nach einiger Zeit kam Lomatz dann auch zur Besinnung und fand sich in der Gewalt der Sphinxleute wieder. Er fand sich als Gefangener in einer Vorschiffkammer, wo man ihm ein Lager hergerichtet hatte. In der Nebenkabine war Mafalda untergebracht. Beide wurden ständig bewacht. Sie waren mit Ausnahme des Fürsten Sarratows und Inge Söörgaards die beiden letzten Überlebenden des Schoners ‚Ellinor’ und der Besatzung des Robbenfängers.

Inzwischen hatte eine Beratung der Sphinxleute stattgefunden. Es galt, sich darüber schlüssig zu werden, wie man die beiden Schiffe nach Neuyork zurückbringen könnte, ohne allzu viel Zeit damit zu verlieren. Gaupenberg wollte jetzt möglichst rasch die Verhandlungen mit der deutschen Regierung hinsichtlich der Übernahme des Goldes in die Wege leiten und ebenso bald die beiden Verbrecher in der Faluhn-Klippe internierten.

Auf Nielsens Vorschlag wurde nun mit Schloß Missamill Funkverbindung hergestellt, nachdem die Apparate des Schoners wieder in Ordnung gebracht worden waren. So erfuhr denn Jusoa Randercild schon früh morgens die Ereignisse auf der schwimmenden Insel und versprach, unverzüglich vier Flugzeuge mit den nötigen Besatzungen für den Kutter und den Schoner abzusenden.

Diese vier Doppeldecker trafen bereits nachmittags gegen drei Uhr ein. Mittlerweile hatten die Sphinxleute ihr Luftboot wieder bezogen. Fürst Iwan Alexander Sarratow, der seit einigen Stunden fieberfrei war und sich auch bereits flüsternd mit seinen neuen Gefährten verständigen konnte, hatte den Wunsch ausgesprochen, daß er an Bord der Sphinx bleiben dürfe. Auch die blonde Inge, die jetzt völlig allein auf der Welt dastand, hatte Agnes Gaupenberg, mit der sie rasch vertraut geworden war, schüchtern gebeten, ihr auch wieder die Pflege Sarratows zu überlassen …

Etwas so Rührend-Verschämtes hatte dabei in ihren klaren Augen gelegen, daß Agnes, die ja selbst übergenug an Liebesleid erfahren, sofort erkannte, wie im Herzen dieser Einsamen zwei Gefühle miteinander stritten: die Liebe zu Sarratow und doch auch das Bewußtsein, sich von diesem Manne, der einer anderen gehörte, trennen zu müssen. Wie immer hatte auch hier die Liebe gesiegt. Vielleicht hatte die blonde Inge ihr Gewissen durch die Gedanken an Sarratows schwere Verwundung beschwichtigt, die eine zärtliche aufopfernde Pflege erforderte. –

So kam es denn, daß die Gruppe der Sphinxleute abermals um zwei Gefährten vermehrt wurde. Und nachmittags fünf Uhr erhob sich das Luftboot leicht und schnell von dem gewaltigen Eisriesen, während die Schiffe sowie auch die Flugmaschinen die Heimkehr nach Neuyork in entgegengesetzter Richtung antraten.

Der Himmel hatte sich in den letzten Stunden mit dichtem Gewölk überzogen. Ein hohler Wind strich in kurzen Stößen über den Atlantik hin. Im Osten stand eine schwarze Wolkenwand, über die zuweilen ein fahles Leuchten hinlief.

Die Sphinx jagte mit surrenden Propellern in etwa zweihundert Meter Höhe gen Norden.

Im Führerraum des Turmes standen Gaupenberg, Hartwich und Nielsen. Sie sprachen über die Faluhn-Klippe, die man in drei Stunden zu erreichen hoffte.

In diesem Teile des Atlantik, der von keiner einzigen Dampferlinie mehr durchschnitten wurde, gab es außer der wenig bekannten Faluhn-Klippe nur noch eine zweite, freilich weit größere Felseninsel namens Jan Mayen.

Was Gaupenberg, der das Faluhn-Riff einmal vor Jahren besucht hatte, über dieses winzige Felseneiland jetzt den Freunden berichtete, war sowohl für Nielsen als auch für Hartwich völlig neu, obwohl beide doch von Beruf Seeleute und in der Welt weit umhergekommen waren …

„Ich hatte meinen Freund Montgelar auf einer Tour zum Nordkap begleitet,“ erzählte Gaupenberg mit sehr ernster Miene. „Montgelars Segeljacht geriet dann auf der Rückfahrt in einen Orkan … Wir flohen vor dem Unwetter, und nach stundenlangem Kampf mit dem Sturme tauchte gegen Morgen die Faluhn-Klippe vor uns auf … – eine wild zerklüftete Felsmasse von kegelförmiger Gestalt, durch die sich in der Mitte ein natürlicher Kanal hindurchzieht, so daß man es eigentlich mit zwei Felseneilanden zu tun hat, die jedoch beide kaum vierhundert Meter Durchmesser haben. – Wir liefen in den Kanal ein und waren dort geborgen. Montgelar hatte nun unter den Leuten seiner Jacht einen uralten, aber noch äußerst frischen Matrosen, einen gebürtigen Hamburger, der in seiner Jugend jahrelang auf Walfischfängern gedient hatte und der die Faluhn-Klippe genau kannte. Dieser Matrose, ein Seemann vom alten Schlage, lebte noch völlig in allerlei abergläubischen Vorstellungen, glaubte steif und fest an den Fliegenden Holländer und an den Klabautermann und warnte uns eindringlich davor, die Jacht zu verlassen und die Klippe zu betreten, da diese der Heimathafen des gespenstischen Fliegenden Holländers sei … – Graf Montgelar lachte gutmütig, beruhigte den biederen Alten und ließ sich an Land rudern. Ich selbst war nach der vorausgegangenen Sturmnacht doch zu müde, um in den Felsen herumzuklettern und legte mich schlafen. Gegen zehn Uhr vormittags weckte man mich. Mein Freund war noch nicht zurückgekehrt, und der Kapitän fürchtete, ihm sei etwas zugestoßen. Inzwischen waren ja in der Tat vier Stunden verflossen, und was Montgelar so lange Zeit in der kleinen Felswildnis des nördlichen Teiles der Klippe aufhalten könnte, erschien auch mir merkwürdig und beunruhigend …“

„Er … war verschwunden …,“ sagte da Georg Hartwich sehr bestimmt, der ebenso wie Nielsen gespannt zugehört hatte …

Und Nielsen wieder rief:

„Nein – Sie fanden ihn tot auf, lieber Graf … Er war abgestürzt …“

Gaupenberg schüttelte traurig den Kopf …

„Beides trifft nicht zu … Wir entdeckten ihn lebend in einer der engen Schluchten … Lebend – – aber geistig tot …! Er … hatte … den Verstand verloren …“

Gaupenberg schwieg und nickte den Gefährten trübe zu …

„Ja – einen Wahnsinnigen brachten wir auf die Jacht zurück … Einen Mann, der kein Wort mehr sprach, der nur in den Augen und dem seltsam verfallenen Gesicht einen Ausdruck namenlosen Grauens hatte … – Montgelar ist fünf Monate später in einer Privatirrenanstalt gestorben, ohne je wieder eine Silbe geäußert zu haben … Er schwand dahin, welkte wie ein kranker Baum, dessen Wurzeln man vergiftet hat. Bis heute weiß niemand, was er auf der Faluhn-Klippe erlebt, was ihn den Verstand gekostet hat. – Gewiß, jener alte Matrose hat behauptet, meinem Freunde sei damals der Fliegende Holländer in Person erschienen … Natürlich ein … Unsinn! Immerhin – es ist besser, daß wir drei diese Geschichte, die nun zwölf Jahre zurückliegt, für uns behalten, da ja einige von uns, die das Los bestimmen wird, als Wächter für Mafalda und Lomatz die Klippe werden bewohnen müssen …“

Die drei schwiegen jetzt.

Es waren aufgeklärte, vielerfahrene Männer … Und doch umwehte sich jetzt das Rätselhafte, Unheimliche, das all diesen uralten seemännischen Sagen anhaftet, zumal wenn diese in gewisser Weise zu persönlichen Erlebnissen in Beziehung treten …

Minuten vergingen …

Hartwich beobachtete den Höhenmesser, den Kompaß und die anderen Apparate …

Nielsen sann vor sich hin …

Bis der Graf wieder zu sprechen begann:

„Damals, als wir Montgelar auf der Nordhälfte der einsamen Klippe suchten, die vielleicht alle zehn Jahre einmal von einem Schiffe gesichtet wird, – damals fand ich in einer der Schluchten eine trockene, langgestreckte Höhle, die man unschwer für unsere beiden Gefangenen als Kerker herrichten kann. Sie hat zwei schmale Eingänge und läßt sich bequem durch eine Steinmauer in zwei Räume teilen … Dort sollen Mafalda und Lomatz nun Gelegenheit haben, über ihre Schandtaten nachzudenken …“

Hartwich hatte sich plötzlich erhoben und über den Spiegel des Sehrohres gebeugt …

„Die Faluhn-Klippe …!!“ rief er … „In fünf Minuten landen wir …!“

„Gerade noch rechtzeitig, um dem Gewittersturm zu entgehen,“ nickte Nielsen … „Da – hören Sie nur …!! Der Himmel gibt die ersten Alarmschüsse ab! Ein Gewitter soweit nördlich pflegt es nicht sanft zu meinen … – Lassen Sie die Sphinx sich noch mehr beeilen, lieber Hartwich …! Setzt der Gewitterregen erst ein, so werden wir nicht mehr die Hand vor Augen sehen können …“

Gerd Hartwich schob den Hebel der Motorsteuerung weiter herum …

Die Propeller pfiffen ihr höchstes Lied …

Die Sphinx jagte dem nahen Ziele zu …

Gaupenberg und Nielsen stiegen an Deck. Hier trafen sie hinter dem Turme unter Wind die beiden Unzertrennlichen, Knorz und Pasqual, und den Homgori an … Die drei saßen eng aneinandergedrückt auf dem Deck und schauten gen Osten, wo die Gewitterwolke nun bereits den ganzen Horizont verfinstert hatte …

Die über die Sphinx hinwegstreichende Zugluft war so stark, daß Gaupenberg und Nielsen sich an der Reling festhalten mußten.

Sie sahen die Faluhn-Klippe …

An der Ostküste brandete das Meer in mächtigen Schaumbergen …

Düster und unfreundlich wirkte das schroffe, kahle Felsgestade …

Doppelt düster bei dieser fahlen Beleuchtung …

„Armer Montgelar!“ sagte Gaupenberg mehr zu sich selbst … Und gedachte in stiller Trauer des bedauernswerten Freundes, der in so jungen Jahren und auf so unerklärliche Art hier auf der Faluhn-Klippe in geistige Umnachtung verfallen war …

Gerhard Nielsen aber meinte laut und doch mit einer gewissen Scheu:

„Die Mär, daß der Fliegende Holländer hier seinen Hafen haben soll, ist nicht schlecht erfunden …! Die Felsen dort sind in der Tat …“

Er brach mitten im Satz ab …

Ein Bündel von Blitzen war aus der schwarzen Wolkenwand hervorgefahren …

Die graue Dämmerung des nahenden Unwetters wurde für Sekunden in grelle Helle verwandelt …

Die Sphinx war tiefer gegangen, war keine hundert Meter mehr von den steilen Ufern des Südteiles entfernt.

Und im blendenden Lichte der elektrischen Entladungen hatten die beiden Männer gleichzeitig auf einer vorspringenden Felskanzel einen einzelnen Mann bemerkt.

Einen schlanken Mann im blauen Segleranzug, mit Seglermütze …

„Montgelar!!“ schrie Gaupenberg gellend …

Da war die Lichtfülle schon erloschen …

Und – – die Felsenkanzel drüben wieder leer …

Nielsen blickte den Grafen starr an …

Er war blaß und wie versteinert, sagte jetzt merkwürdig gepreßt …

„Bei Gott, Nielsen, – der Mann glich meinem Freunde so auffallend, daß ich …“

Und schwieg, machte eine energische Handbewegung.

„Unsinn …!! Montgelar ist tot … Ich habe seinem Begräbnis beigewohnt … Eine Ähnlichkeit hat nicht genarrt …“

Er holte tief Atem …

Nielsen sagte achselzuckend:

„Nur unangenehm, daß sich doch offenbar Leute auf der Faluhn-Klippe befinden …! Wir werden vorsichtig sein müssen …!“

Die Sphinx schwebte bereits über dem Kanal, der die Klippe in zwei Teile zerschnitt … senkte sich rasch …

Hartwich manövrierte tadellos. Glatt landete das Luftboot zwischen den hohen Granitwänden auf stillem Wasser …

 

37. Kapitel.

Der Hafen des Fliegenden Holländers.

Der Wettergott hatte es mit den Sphinxleuten gut gemeint. Wenige Minuten, nachdem ihr Fahrzeug in der Mitte des hier etwa sechzig Meter breiten Meeresarmes verankert worden war, ging ein Platzregen nieder, vor dem alles schleunigst unter Deck flüchtete. So war die Sphinx denn doch noch bei leidlich heller Beleuchtung niedergegangen, und so hatten auch Gaupenberg und Nielsen sich überzeugen können, daß der Kanal leer war, daß kein fremdes Schiff hier weilte.

Nur zwei waren als Wache an Deck geblieben, die sich freiwillig hierzu erboten hatten: Nielsen und Gipsy Maad, das jüngste Brautpaar!

In lange Ölmäntel gehüllt, die Krägen hoch ins Gesicht gezogen, wanderten die beiden nun ununterbrochen an der Reling des Luftbootes entlang, umrundeten das Deck und tauschten hin und wieder eine Bemerkung. Arm in Arm gingen sie, in den Herzen Seligkeit und das Bewußtsein ihrer gegenseitigen innigen Liebe.

Nielsen begann nach einer Weile auch von Gaupenbergs Erzählung und von der Männergestalt auf der Felskanzel zu sprechen …

„Du gehörst jetzt zu mir, Gipsy,“ sagte er in seiner schlichten innigen Art. „Vor dir habe ich keinerlei Geheimnisse …“

Die junge Detektivin lausche den Worten ihres Verlobten mit derselben Spannung, wie Nielsen und Hartwich dies vorhin im Turme getan hatten …

Und als Nielsen zum Schluß erklärte, daß ihm das Auftauchen dieses Unbekannten hier auf der Faluhn-Klippe sehr wenig behage, zumal der Mann doch beim Nahen der Sphinx schleunigst sich unsichtbar gemacht hatte, gab Gipsy ihm in dieser Beziehung völlig recht.

„Unsere Wache hier an Deck hat damit eine ganz andere Bedeutung bekommen,“ meinte sie. „Wir müssen unbedingt trotz des Regens, der uns leider alles ringsum in graue Schleier hüllt, außerordentlich auf jede Kleinigkeit achtgeben … Ein Schiffbrüchiger kann dieser Fremde niemals sein … Und ob er hier allein sich aufhält, möchte ich bezweifeln …“

Nielsen preßte ihren Arm an sich …

„Nun – wir beide werden uns kaum überrumpeln lassen, nicht wahr?! Wir beide haben schon andere Dinge erlebt, ganz andere! Wir haben mit Mr. Null abgerechnet, und das war fraglos ein Verbrechergenie! – Ah – – der Regen läßt nach, und auch das Gewitter zieht südwestlich vorüber … Bald wird es wieder hell werden … Es ist ja erst acht Uhr, und bis zum Anbruch der Nacht haben wir dann noch mindestens eine Stunde Zeit, die beiden Hälften der Klippe abzusuchen … – Sieh, man erkennt schon die Ufer … Und dort – ein Stückchen blauer Himmel.“

Sie standen jetzt neben dem Turme …

Und da war’s, daß Gipsy Maad auf der Turmplattform an dem Sehrohr etwas Besonderes bemerkte. Eine schmale Weinflasche hing dort, festgebunden am Hals mit einem geteerten Bindfaden. Ein Kork steckte oben im Flaschenhals und ragte noch ein Stück heraus.

Nielsen, durch Gipsy auf die Flasche aufmerksam gemacht, meinte kopfschüttelnd:

„Das Ding war vorhin noch nicht da … Sollte etwa …“

Und – schwieg, blickte Gipsy unsicher an …

Die beendete seinen Satz:

„… sollte etwa jemand während des Regens doch hier an Deck gewesen sein und uns auf diese Weise eine Botschaft übermittelt haben?! – Nicht wahr, Gerd, das wolltest du doch sagen …?“

„Allerdings …!“

Er hatte die Flasche schon abgeschnitten und zog nun den Kork heraus.

In diesem war unten ein Stäbchen hineingedrückt, um dieses ein Stück Papier gerollt und mit einem Zwirnsfaden umwickelt.

„Hallo!“ rief Nielsen da. „Eine Flaschenpost …!! Das einsame Faluhn-Riff begrüßt uns recht geheimnisvoll!“

Dann entfernten sie den Faden und rollten das Papierstück auf …

Mittlerweile war es doch so hell geworden, daß sie die wenigen mit Tinte geschriebenen Zeilen problemlos lesen konnten.

Englisch war’s … Und lautete:

Ich ersuche Sie, meinen Hafen binnen zwölf Stunden zu verlassen, andernfalls ich von meinen Machtmitteln Gebrauch machen werde.

Der Fliegende Holländer

Gipsy und Nielsen starrten auf die steile energische Handschrift …

„Kurz und bündig!“ meinte Nielsen dann ironisch. „Der Fliegende Holländer als Kinderschreck – – etwas albern, Mr. Unbekannt …!!“

Gipsy jedoch schien anderer Ansicht.

„Ich verstehe etwas von Handschriften, Gerd,“ sagte sie nachdenklich. „Und diese Schrift verrät Charakter, Energie und Ehrlichkeit … – Ich möchte davor warnen, diese Botschaft zu mißachten … – Rufen wir Gaupenberg und Hartwich …“

Nielsen hob sofort den Turmdeckel empor. Unten im Führerraum hatte sich Murat ein Lager aus Decken hergerichtet, da alle Kabinen und sonstigen Kammern besetzt waren. Nielsen schickte ihn zu Gaupenberg und Hartwich. Die beiden erschienen denn auch sogleich an Deck, wurden von der Auffindung der Flaschenpost unterrichtet und lasen dann gemeinsam den Zettel.

Der blaue lichte Fleck am Himmel hatte sich jetzt immer mehr ausgedehnt. Es war wieder fast taghell geworden. Nielsen und Gipsy bemerkten denn auch zu ihrem größten Erstaunen, wie Graf Gaupenbergs Hände, die das Stück Papier straff hielten, zu zittern begannen, wie seine Gesichtsfarbe sich veränderte und seine Blicke wie entgeistert an dieser charaktervollen Handschrift hingen …

Dann rief Gaupenberg mit seltsam brüchiger Stimme:

„Bei Gott – es ist Ortwin Montgelars Handschrift!!“

Hartwich blickte den Freund zweifelnd an …

„Viktor, auch Handschriften ähneln sich …!“

„Nein – niemals in dieser Weise, Georg! Niemals! Ausgeschlossen!! – Ich stehe hier vor einem unfassbaren Rätsel. Ich betonte ja schon vorhin, daß der Mann auf der Felsenkanzel mich sehr – allzusehr an den toten Montgelar erinnerte … Und jetzt hier gleichsam ein zweites Lebenszeichen eines Verstorbenen: seine Schrift – die Tinte noch frisch!! – Was bedeutet das?! Und …“

Gipsy Maad unterbrach ihn …

„Entschuldigen Sie, Graf Gaupenberg … Ich weiß, was das bedeuten kann! Ihr Freund Ortwin Montgelar ist eben nicht tot! Wer weiß, wer an seiner Stelle begraben worden ist …! Es wäre nicht das erste Mal, daß zum Beispiel ein Geisteskranker zu ganz raffinierten Mitteln gegriffen hätte, um auf diese Weise ‚seine Freiheit’ zu erlangen …!“

Nielsen lachte halb ärgerlich …

„Aber Gipsy, das sind doch Phantastereien …! Ich bitte dich, wie sollte …“

Die junge Amerikanerin sagte da sehr bestimmt:

„Montgelar hatte hier damals, als man ihn geisteskrank in der Schlucht wiederfand, etwas erlebt, das seinen Verstand zerstörte, anderseits aber nachher in ihm eine unüberwindliche ebenfalls krankhafte Sehnsucht nach der Faluhn-Klippe weckte. Ich bleibe dabei, Graf Montgelar haust hier in dieser Einsamkeit, und gerade diese Unterschrift des Zettels ‚Der Fliegende Holländer’ spricht mit für diese meine Überzeugung. Der alte Matrose hatte Montgelar von dem Seemannsaberglauben erzählt, dieses Riff sei der Hafen des Gespensterschiffes … So hat denn auch in Montgelars krankem Hirn die fixe Idee sich eingenistet, er selbst sei der Fliegende Holländer …“

Die drei Männer jedoch wollten an diese Deutung nicht recht glauben. Doch Gipsy verteidigte ihre Ansicht immer leidenschaftlicher …

Da tauchte Dr. Dagobert Falz, der Allverkehrte, in der Turmluke auf.

Gaupenberg rief ihm entgegen:

„Herr Doktor, Sie kommen im rechten Augenblick … Ich möchte Ihr Urteil hören …“ – Und er berichtete Falz in aller Kürze das Nötige, wobei er wiederum betonte, daß die Handschrift der des Grafen Ortwin Montgelar vollkommen gliche.

Dr. Falz prüfte den Zettel.

„Allerdings – die Schrift ist keine Stunde alt, das sieht man,“ meinte er sinnend. „Ich möchte mich der Ansicht Fräulein Gipsys anschließend. Montgelar lebt! Und – wir werden ihn finden! Diese Klippe hier, dieses Doppelinselchen, ist so winzig, daß man notwendig Spuren der Anwesenheit eines Menschen und auch diesen selbst entdecken muß … – Der Himmel ist zur Hälfte wieder klar … Suchen wir, Freunde! Wir werden einen Unglücklichen finden!“

Hier brachen sie die Erörterungen dieser noch völlig ungeklärten Dinge ab, die nun auch die übrigen Insassen der Sphinx, angelockt durch den plötzlich wieder vom blauen Himmel herabstrahlenden Sonnenschein an Deck erschienen. Nur Fürst Iwan Alexander Sarratow und Inge fehlten. Inge weilte am Krankenlager des Fürsten und hatte das Anerbieten der anderen Frauen, sie ablösen zu wollen, vorläufig in ihrer sanften, wenn auch sehr bestimmten Art abgelehnt. Da Sarratows Befinden zu irgendwelchen Besorgnissen keinen Anlaß mehr gab, war die Stimmung der Sphinxleute heiter und zuversichtlich, und selbst als Gaupenberg nun den um ihn Versammelten gleichfalls von dem Inhalt der Flaschenpost und den damit zusammenhängenden Geschehnissen Mitteilung machte, konnte dies der Freude über die Rückeroberung der Sphinx und über die Wiedervereinigung nur wenig Abbruch tun.

Dr. Falz drängte, man solle mit der Durchsuchung der beiden Klippenhälften sofort beginnen. An Bord blieben nur Tom Booder und Tonerl, ferner Dalaargen und Mela zurück. Alle übrigen ruderten in dem kleinen Beiboot zum Nordteile des Riffs hinüber und bildeten hier eine Kette, die sich langsam durch die Felswildnis einen Weg bahnte. Jeder war mit einer Browningpistole bewaffnet, selbst die Frauen. Murat trug für alle Fälle sogar die Maschinenpistole. Er hatte seinen Platz am äußersten linken Flügel.

Man ließ sich Zeit und durchstöberte jede der kleinen Schluchten auf das sorgfältigste. Unzugängliche tiefe Felslöcher wurden mit Hilfe von Strickleitern und Karbidlaternen besichtigt.

Trotzdem dauerte die Durchsuchung des Nordteiles nur eine halbe Stunde.

Dann brachte das Beiboot die bewaffnete Macht über den Kanal zur Südseite. Diese war bedeutend zerklüfteter und schwerer zu übersehen. Man ging hier sogar noch sorgfältiger vor. Gaupenberg und Agnes waren es, die dann auch die von Gaupenberg seinerzeit hier entdeckte Höhle mit den zwei Eingängen betraten und recht genau durchforschten.

Man fand nichts. Lediglich in einer Bucht nach Südost das Wrack eines Seglers, einer Brigg, die hier bereits jahrelang liegen mußte. Viel war von dem Schiffe nicht mehr übrig. Immerhin – es wurde genügend Bretter und Balken für die Herrichtung der beiden Kerker liefern, meinte der praktisch Nielsen, der mit seiner Gipsy bis unten in den mit Wasser angefüllten Laderaum des Wracks hinabgeklettert war.

Im übrigen entdeckte man auch hier auf der Südhälfte keinerlei Spuren der Anwesenheit von Menschen.

So waren denn die Sphinxleute, als der Sonnenuntergang mit seiner Farbenpracht Himmel, Meer und die kahlen Felsen in rötlichen Glanz tauchte, sämtlich auf einer unweit des Kanals gelegenen Kuppe versammelt, um dieses Schauspiel bewundernd zu genießen.

Von hier aus konnte man beide Teile der Faluhn-Klippe bequem überblicken.

Ringsum schillerte der Ozean einsam und leer in rosigem Licht … rollten die Wogen des Atlantik und zerschellten mit gewaltiger Musik an den vorgelagerten kleinen Riffreihen der Ostküste …

In andachtsvollem Schweigen standen die Sphinxleute …

Und doch lag über dieser Versammlung treuer Gefährten eine ungewisse Sorge. Wer war der Mann, der sich hier als Herr des Doppelinselchens aufspielte?! Und – wo hauste er?! Wo hatte er sein Versteck, wie würde er sich den Sphinxleuten gegenüber fernerhin verhalten?! War’s wirklich Graf Ortwin Montgelar?! Und – war er allein?!

Gaupenberg hatte sich jetzt doch zu der Ansicht bekehrt, daß Montgelar lebe, daß nur er der Absender der Botschafter sen könne. Andere wieder, so besonders Gottlieb Knorz, Pasqual, Hartwich und der Herzog von Dalaargen, mochten an diese Lösung des Rätsels nicht glauben, die doch immerhin den vorliegenden Umständen sich am besten anpaßte. –

Die Sonne versank …

Die Abenddämmerung kam …

Leichte Dunstschleier zogen über die See hin … Und schon bald wurde es empfindlich kühl. Jetzt empfand man, daß man sich bereits in nördlichen Breiten befand.

Dr. Falz mahnte zur Rückkehr auf die Sphinx.

Nochmals schauten alle wie Abschied nehmend gen Westen, wo der rosige Schimmer am dunstigen Horizont immer mehr verblaßte …

Agnes, an Gaupenberg gelehnt, fröstelte leicht …

Ein seltsames Gefühl beschlich sie plötzlich. Es war ihr, als ob mit einem Male unbekannte Schrecknisse sich ihr offenbarten …

Ein stärkeres Zittern überlief ihre schlanke Gestalt. Ihr Blick ruhte auf dem Westausgang des Kanals, der die Klippe von Ost nach West in wenigen Windungen durchschnitt …

Und dieser Blick, den eine unbekannte Macht förmlich an dieselbe Stelle bannte, wurde starr und angstvoll …

Agnes Lippen öffneten sich …

„Dort – – dort …!!“ rief sie heiser … „Dort … auf dem Wasser …!!“

Und sie hob den Arm …

Zeigte auf den Kanalausgang, den gerade eine leichte Dunstwolke in feinen Schleier hüllte …

Dort … war ein Zweimaster von uralter Bauart zu sehen …

In gespenstischem Glanz leuchteten die Masten, die Rahen, der gesamten Umriß … Und doch alles seltsam verschwommen …

Schlaff hingen die Segel …

Und das Fahrzeug strebte trotzdem in raschem Lauf dem offenen Meere zu …

An Deck keine Seele …

Die Fenster der altertümlichen hohen Deckaufbauten strahlten hell …

Dann hatte das unheimliche Schiff den Windschutz der hohen Klippe hinter sich. Die noch immer recht frische Brise schwellte die Segel …

So zog es dahin …

Ein getreues Abbild alter Vorstellungen, die abergläubische Seeleute sich von dem Fliegenden Holländer gemacht hatten …

Zog weiter und weiter … Tauchte in stärkerem Nebelgebilde ein – verschwand darin …

Die Nebel zerflatterten …

Aber – der so gespenstisch strahlende Segler war nicht mehr zu sehen …

Nirgends … nirgends …

Wie leergefegt war der dämmrige Ozean …

Selbst mit den besten Ferngläser vermochten man keine Spur des seltsamen Fahrzeuges mehr zu entdecken … –

Jetzt wich der Bann von der schweigenden Versammlung …

Nielsen rief:

„Ich habe schon allerlei erlebt! Doch dies geht über mein Fassungsvermögen! Wo kam der Zweimaster her?! Doch aus dem Kanal! Aber im Kanal ankert nur unsere Sphinx …! Der Kanal war …“

Hartwichs überlaute Stimme da:

„Dort ist er wieder – dort nördlich – wie hingezaubert – – der Fliegende Holländer …!!“ Und – seine Stimme war anders als sonst … Seine Stimme war die eines Mannes, der gleichfalls vor etwas Unfaßbarem steht …

Vier – fünf Ferngläser richteten sich auf das Gespensterschiff …

Und Gaupenberg wandte sich an Dr. Falz …

„Herr Doktor – – Ihre Ansicht?“

Der Einsiedler von Sellenheim hob leicht die Schultern …

„Ein Rätsel, lieber Graf, – auch mir …! Von einer Sinnestäuschung kann hier kaum die Rede sein … Wir alle sehen das Schiff … Wir sehen, daß seine verschwommenen Konturen in fahlem Lichte schimmern … Und wir alle denken wohl an denselben großen Meister – Richard Wagner, an seine Oper, die denselben Titel trägt: der Fliegende Holländer!“

Abermals Stille …

Abermals spürte jetzt jeder von ihnen etwas wie das Wehen übernatürlicher Mächte …

Dann glitt das ferne Schiff in die Dunstmassen des Horizontes hinein, tauchte nicht mehr auf …

Alle wandten sich still dem Kanal wieder zu, verließen die Kuppe und ruderten an Bord zurück. –

Eine halbe Stunde drauf saß man in der Wohnkajüte bei der Abendmahlzeit zusammen. An Deck wachten Murat, Knorz und Pasqual.

Noch immer lag eine seltsame Stimmung über der Tafelrunde. Man war einsilbig und bedrückt. Gaupenberg hatte soeben erklärt, daß man unter diesen Umständen den Gedanken aufgeben müsse, Lomatz und Mafalda hier auf der Faluhn-Klippe zu lassen …

„Es gibt gewisse Dinge, die uns Menschen unbegreiflich sind,“ hatte er hinzugefügt. „Dinge, die in das Reich des Übernatürlichen gehören. Wir von der Sphinx wissen dies … Wir haben vieles erlebt, was anderen Sterblichen verschlossen bleibt … Und dennoch, von einem Geisterfahrzeug oder dergleichen kann hier keine Rede sein! Menschen steuern es – Menschen, die sich uns gegenüber feindlich zeigen könnten, selbst wenn mein Freund Ortwin Montgelar zu ihnen gehören sollte …! – Nein – als Kerker für unsere beiden Gefangenen kommt diese Klippe nicht mehr in Betracht. Aber – dem Geheimnis dieses Fliegenden Holländer will ich auf den Grund gehen! Wir bleiben hier, bis wir Klarheit haben! Handelt es sich doch mit um Ortwin Montgelar! Lebt er, so werde ich es erzwingen, daß ich ihn zu Gesicht bekomme!“

„Bravo!“ rief Nielsen. „Bravo, – mir ganz aus der Seele gesprochen! Wir werden abwarten … Nach zwölf Stunden sollten wir diesen Kanal verlassen, so hieß es in der Flaschenpost. Diese Frist läuft um sechs Uhr morgens ab. Wir werden uns bis dahin genügend ausgeruht haben, werden mit frischen Kräften all dem begegnen, was man gegen uns unternehmen sollte – man: der Fliegende Holländer!“

Niemand widersprach zunächst …

Aber zwischen Agnes und Ellen saß jetzt hier mit an der Tafel die bescheidenen stille Inge Söörgaard …

Sie war’s, die dann leise erklärte, indem sie Gaupenberg ängstlich anschaute:

„Herr Graf, ich bin Norwegerin, bin in der bekannten Fischerstadt Bergen beheimatet gewesen … Ich möchte Ihnen nicht verschweigen, daß an den Küsten meines Vaterlandes und ebenso auf Island und bei allen Robbenfängern, die in diese Meeresbreiten kommen, die Sage vom Fliegenden Holländer seit zwei, drei Jahren wieder aufgelebt ist … Mehr noch, als wir mit unserer Brigg ‚Harlasund’ vor fünf Monaten nordwärts segelten, als mein Bruder noch lebte und niemand ahnte, daß die Brigg nur als Wrack auf einem Eisberg die Polargewässer wieder verlassen sollte, da … ist uns der Fliegende Holländer begegnet – in einer Sturmnacht … Und das Aussehen des Schiffes war genau so, wie sie es vorhin mir beschrieben haben … Keine menschliche Seele war an Deck … Ganz dicht segelte er an uns vorüber … Und von dem Augenblick an war mein Bruder still und bedrückt … Die Matrosen vielleicht noch mehr … Denn – eine Begegnung mit dem Gespensterschiff soll ja Unheil bringen. Bei uns traf dies zu … Von der Besatzung der ‚Harlasund’ leben nur noch Sarratow und ich. Die Brigg selbst ist zur Hälfte durch Feuer zerstört … Ein Wrack, das bald auf dem Meeresgrund ruhen wird. – Außer uns haben noch viele andere Fahrzeuge den Fliegenden Holländer gesichtet. Norwegische Zeitungen brachten lange Artikel … Der Kapitän eines Frachtdampfers hat das Geisterschiff sogar im Nebel beinahe gerammt … Und er hat ebenfalls keine lebende Seele an Deck bemerkt … – Ich bin nicht abergläubisch gewesen, Herr Graf. Jetzt – – bin ich’s geworden …“

Sie senkte den Blick wieder …

Und – noch leiser:

„Ich würde von hier fliehen, Herr Graf, – – fliehen …!! Denken Sie an die ‚Harlasund’ …!“

Gaupenberg sagte freundlich, aber energisch:

„Fräulein Söörgaard, der Kapitän eines Geisterschiffes schreibt keine Zettel – schreibt nicht mit der Handschrift meines Freundes Montgelar! – Wir bleiben …!“

„Bravo!“ rief Nielsen abermals. „Dieser Fliegende Holländer ist Menschenwerk! Jemand hat das gespenstische Fahrzeug wieder erscheinen lassen! Und daß dies nicht lediglich zu dem Zweck geschehen, um andere Schiffe zu schrecken, ist wohl selbstverständlich. Ob nun Graf Montgelar oder ein anderer der Kapitän des schillernden Zweimasters ist, wir wollen und werden das Geheimnis enthüllen! Und – ich werde die Nacht draußen auf der Kuppel zubringen … Ich will feststellen, ob das Fahrzeug zurückkehrt!“

Gipsy Maad, die neben ihrem Verlobten saß, erklärte sofort, daß sie ihm dort draußen auf der Spitze der höchsten Felsen Gesellschaft leisten würde, wenn sich noch jemand bereitfände, mit ihnen dort zu wachen.

„Denn wir beide allein – das verstößt ja gegen den Anstand!“ fügte sie mit schelmischem Lächeln hinzu. „Also – wer hält noch von den Freunden mit?! Wir könnten uns diese nächtliche Wache ja ganz gemütlich machen … Wenn wir ein Zelt dort auf der Klippe erbauen und einen der Petroleumkocher mitnehmen, dann hätten die anderen es im Zelte warm und behaglich und es brauchte nur immer einer von uns draußen zu patrouillieren und das Meer zu beobachten.“

„Praktisch wie immer!“ rief Dalaargen … „Weiß Gott, Miß Gipsy, Sie sind ein reizender Allerweltskerl! – Wie ist’s, Mela, wollen nicht auch wir beide uns zu dieser Expedition melden?!“

Und Melanie Falz war sofort einverstanden …

„Oho!!“ meinte da Tom Booder, „wenn zwei von uns drei Brautpaaren sich opfern, werden Tonerl und ich nicht zurückstehen …! Auch wir schließen uns an, – nicht wahr, Tonerl?!“

„Wenn du gern möchtest, Tom … Ich bin gewiß einverstanden …“

Dr. Falz, der in tiefem Sinnen bisher vor sich hingestarrt hatte, hob jetzt den Kopf …

Der Blick seiner ernsten Augen flog mit rätselhaftem Ausdruck über die drei Brautpaare hinweg, blieb einen Moment auf dem frischen Antlitz seines einzigen Kindes haften und … senkte sich wieder …

Nur ein verstohlener Seufzer entfloh seinem Munde – fast unhörbar …

Und doch hatte Gipsy, die junge Detektivin, das alles beobachtet, fragte nun etwas scheu:

„Herr Doktor, hegen Sie irgendwelche Bedenken gegen meinen Vorschlag?“

Der Einsiedler von Sellenheim fuhr sich mit der schmalen gelehrten Hand wie abermals in tiefen Gedanken über die hohe Stirn …

Eine Weile schwieg er …

Dann erwiderte er leise, indem er den Blick gegen die getäfelte Decke der großen Kabine richtete …

„Man soll dem Schicksal nicht in den Arm fallen, Miß Gipsy … Ich habe mir ist abgewöhnt, die Vorsehung zwingen zu wollen … Man soll den Dingen ihren Lauf lassen …“

Gaupenberg beugte sich etwas über den Tisch … Diese rätselvollen Worte beunruhigten ihn …

Und genau wie er starrten nun auch alle übrigen den Doktor fragend und erwartungsvoll an …

Man hoffte noch auf eine nähere Erklärung dieser vieldeutigen Sätze …

Als Dagobert Falz stumm blieb und in derselben Haltung mit halb zurückgebogenem Kopf weiter verharrte, sagte Graf Viktor leise:

„Herr Doktor, sollten Sie vielleicht …“

Falz fiel ihm ins Wort … Der geistesabwesende Zug in seinem Gesicht war jäh wieder verschwunden … Seine Augen, bisher wie verschleiert und scheinbar in unendliche Fernen des Weltenraumes gerichtet, ruhten auf des Grafen gebräuntem Antlitz …

„Nicht doch, lieber Graf …!“ meinte er energisch … „Mögen unsere Freunde nur ausführen, was Miß Gipsy vorgeschlagen hat … Ich kann nur wiederholen, man soll der Vorsehung nicht in den Arm fallen!“

Und nach kurzer Pause:

„Was ich soeben in Form einer der Visionen, die sich mir so häufig kundtun, geschaut habe, mag als eine neue Prüfung bewertet werden … Wir von der Sphinx sind nun einmal losgelöst aus dem Kreise der übrigen Menschen … Was das Schicksal gerade mit uns noch vorhat, ahnen wir nicht … Vielleicht sind wir zu Großem bestimmt – zu ganz anderem, als wir heute noch wähnen … Vielleicht will eine höhere Macht uns auf eine Mission vorbereiten, die nichts mehr mit dem Goldschatz der Azoren zu tun hat … Ich – – weiß es.“

Gaupenberg bat jetzt in jener respektvollen Art, die keiner aus dem Kreise dem geheimnisvollen Einsiedler von Sellenheim gegenüber vermissen ließ:

„Und – würden Sie uns diese Vision nicht vielleicht … näher beschreiben, Herr Doktor? – Sie werden begreifen, daß …“

Falz winkte gütig ab …

„Nein, lieber Graf … Auch das hieße schon die Vorsehung meistern wollen …! – Außerdem ist das, was ich soeben als klares Bild gesehen habe, so … phantastisch, ja unwirklich, daß ich zweifele, ob es sich später bewahrheiten wird … Nicht alles, was ich in dieser Form schaue, tritt ja zu … Ich habe häufig in letzten Tagen Visionen gehabt, die für den nüchternen Verstand in unsere Ziele und Zwecke sich nicht einreihen läßt … Nur deshalb sprach ich von … einer Mission, die unser vielleicht wartet – vielleicht …“ Und mit energischer Handbewegung: „Beenden wir das Thema … Helfen wir den drei Brautpaaren bei den Vorbereitungen zu ihrer nächtlichen Wache …“

Wie ein lähmender Bann lag es jetzt wieder über den hier in der Kabine Versammelten … Ähnlich wie vor einer Stunde, als man das rätselhafte leuchtende Schiff beobachtet hatte …

Dr. Falz erhob sich und wünschte der Tafelrunde gesegnete Mahlzeit …

Allmählich wich dieser Druck von den Seelen der Sphinxleute … Sie alle waren bereits zu sehr auf außergewöhnliche Erlebnisse eingestellt, als daß sie sich allzu lange mit unklaren Befürchtungen gequält hätten.

Als jedoch eine halbe Stunde drauf die sechs Gefährten von Hartwich im Beiboot der Sphinx an Land gerudert wurden, hatte der Doktor mit seltsamer Innigkeit seine Mela in die Arme geschlossen und auf die Stirn geküßt, hatte ihre zugeraunt:

„Werde glücklich, mein Kind …!“

 

38. Kapitel.

Die Wacht auf der Kuppe.

Die drei Brautleute hatten zwei große Karbidlaternen mit sich genommen, außerdem alles, was dazu nötig war, ihnen die Nacht auf der kahlen Felsgruppe in dieser frischen Winterluft behaglich zu machen …

Denn daß man sich hier auf der Faluhn-Klippe bereits in nächster Nähe der Polarzone befand, merkte man nicht lediglich an dem wundervollen Nordlicht, das drüben am Horizont in geradezu köstlichen Farben flammte und nur zuweilen für kurze Zeit an Kraft verlor, um dann doppelt stark von neuem seine zuckenden Lichtbündel zu den Sternen emporzusenden …

Nein – auch der Wind war jetzt gegen zehn Uhr abends eisig kalt und die Temperatur konnte allerhöchstens ein Grad Wärme betragen … –

Nielsen, Tom Booder und der Herzog schleppten sich jeder mit einem großen Packen. Gipsy ging mit der einen Laterne voran und trug noch vier lange Ruder, die man als Zeltstangen benutzen wollte. Das Tonerl und Mela bildeten das Ende des kleinen Zuges. Erstere hatte eine Petroleumkanne in der Hand, und Mela wieder hatte sich den Petroleumkocher als Gepäckstück ausgewählt.

Der unverbesserliche Nielsen, den ja so leicht nichts aus dem seelischen Gleichgewicht brachte, war trotz der fragwürdigen Erlebnisse hier auf der Klippe und trotz Dagobert Falz’ seltsamen Reden in einer fast ausgelassenen Stimmung …

Ein paar scherzhafte Bemerkungen von ihm hatten genügt, auch bei den anderen eine heitere Laune zu erzeugen, zumal man sich allgemein von dieser nächtlichen Wache mehr eine harmlose Zerstreuung als ein etwa ernstes Abenteuer versprach.

Man war jung … Und die Liebe wob um diese drei Paare ihre zarten hoffnungsvollen Bande … –

Das Zelt war sehr bald errichtet. Man hatte genügend Segelleinwand mit, um eine doppelte Zeltwand herzustellen. Matten und ein Teppich, dazu Kissen und Decken wurden über das kahle Gestein im Inneren gebreitet. In der Mitte stand der Petroleumkocher mit seinen beiden großen Brennern … Ein wassergefüllter Kessel verhieß in kurzem wärmenden Tee … Die beiden Laternen hingen an den Zeltstangen und machten den Aufenthalt in dem engen Raum noch gemütlicher …

Toni und Mela lagen zwanglos auf den Matten … Dalaargen und Tom Booder hockten wie die Türken neben ihnen, rauchten und … rissen billige Witze über den Fliegenden Holländer …

Gipsy und Nielsen aber hatten draußen die erste Wache übernommen … Sie waren warm angezogen, trugen dick gefütterte Mäntel, hatten jeder ein Fernglas umgehängt und schritten so über das kleinen Plateau hin …

Das Meer rings um die Faluhn-Klippe gleißte schwach im Widerschein des Nordlichtes … Man konnte auch mit bloßem Auge hunderte von Metern weit alles recht genau erkennen … Die Kuppe lag ja überaus günstig. Selbst der Meeresarm zwischen den beiden Teilen der kleinen Felseninsel war bequem zu überblicken. Der frische Wind hatte die Nebelgebilde entführt.

Dort unten lag die Sphinx – eine graue Spindel … Auf dem Deck schlenderte Hartwich … Soeben hatte er Nielsen und Gipsy mit der Mütze zugewinkt …

Aus dem Zelte, das infolge der hellen Beleuchtung im Inneren wie ein schwach strahlender Kegel schimmerte, erklang Tonerls klingendes Lachen …

Und da war’s, daß Gerhard Nielsen seiner Gipsy Arm preßte und ernst und eindringlich sagte:

„Meine Scherze vorhin waren Berechnung, Liebling … Sie kamen nicht aus einem sorglosen, sondern aus einem recht besorgten Hirn …“

„Ich weiß es, Gerd … Du wolltest nur die flaue Stimmung beseitigen … Ich weiß es …“

Sie waren stehen geblieben, dicht am Rande der Uferwand, die nur hier an dieser einen Stelle sich wie ein Hohlweg schräg zum Meere hinabsenkte, während rechts und links davon das Gestade senkrecht abfiel.

Unter ihnen rauschte die Brandung … Der weiße Gischt ballte sich zusammen, und blasige Schaumgebilde hatten sich diesseits der vorgelagerten Klippenreihen im stillen Wasser angesammelt und schimmerten wie Schneeflächen …

„Du hast recht, Liebling!“ meinte Nielsen nach kurzer Pause … „Ich beurteile die Dinge hier noch weit ernster als Gaupenberg, Hartwich und Dr. Falz. An übernatürliche Vorgänge glaube ich nicht – wenigstens nicht hier! Daß es Übernatürliches gibt, ist uns Sphinxleuten gelehrt worden. Aber der Fliegende Holländer ist Menschenwerk und zwar Menschenwerk zu dunklen Zwecken …“

„Graf Montgelars Werk!“ warf Gipsy ein …

„Das können wir bisher nur vermuten, Liebling … Viele Geisteskranke, die lediglich von einer fixen Idee besessen sind, machen im übrigen völlig den Eindruck von Gesunden … Die fixe Idee wird für andere nur gefährlich, wenn sie dem Kranken gleichsam in den Bereich dieser abnormalen Gedankengängen hineingeraten – wie wir! Wir gelten dem Fliegenden Holländer als Störenfriede … Wir werden ja sehen, was sich nach Ablauf der Frist ereignet … In jedem Falle werden wir es so einrichten, daß wir beide nach sechs Uhr morgens die Wache wieder übernehmen … Wir haben die besten Nerven, Gipsy … Und – es ereignet sich bestimmt etwas!“

Noch niemals hatte die junge Amerikanerin ihren Verlobten so ernst und geradezu besorgt sprechen gehört …

Sie schmiegte sich an ihn …

„Gerd, du denkst an die Worte des Doktors …“

„Ja …! Falz, behaupte ich, weiß genau, daß wir neuen Schrecknissen entgegen gehen … – Komm, wandern wir weiter … Es wird immer kälter …“

Fredy Dalaargen trat aus dem Zelt, in jeder Hand einen Becher Tee …

„Hallo!“ rief er … „Hallo – ich bringe die Wärmflasche, Nielsen … Heißen Tee mit Rum und Zucker – durchaus gebrauchsfertig …“

Er stieg vorsichtig über das Geröll hinweg …

„Donnerwetter – hier weht ja ein nettes Lüftchen …!! Da – bitte … Trinken Sie …“

Er schaute nach Norden …

„Köstlich, dieses Nordlicht …! Ich sehe es zum ersten Male … – Wie steht’s denn mit dem Fliegenden Holländer?! Ich schätze, wir sehen das Gespensterschiff nie wieder! Tom Booder ist da soeben auf eine glänzende Lösung gekommen … Er meint, es könnte sich um eine Filmfabrik handeln, die hier in aller Heimlichkeit Aufnahmen zu einem Großfilm ‚Der Fliegende Holländer’ macht … Amerikanische Filmleute arbeiten mit allen Kniffen, damit ihnen niemand eine Idee stiehlt … So kann man auch unschwer die Begegnung des ‚Fliegenden’ mit anderen Schiffen erklären, von der Inge Söörgaard sprach …“

Nielsen trank einen langen Schluck …

„In der Tat – eine glänzende Lösung!“ nickte er lachend. „Daß wir auch nicht früher darauf gekommen sind …!! Gratulieren Sie dem wackeren Tom zu dieser geistigen Erleuchtung, lieber Herzog … Eigentlich hätte es unter diesen Umständen gar keinen Zweck mehr hier zu wachen … Nun, wir können es ja trotzdem … Man möchte doch gern die Bekanntschaft dieser Filmherrschaften machen … – Da – besten Dank …! Es hat vorzüglich gemundet …“

Auf Gipsy hatte den Becher bereits geleert …

Dalaargen fröstelte, warf noch einen Blick nach dem wundervoll in allen Farben strahlenden nördlichen Himmel hinüber und meinte:

„Dann also auf Wiedersehen um zwölf Uhr, wenn Mela und ich Sie beide ablösen … Im Zelt ist’s gemütlicher …“

Er eilte davon …

Gipsy Maad meinte leise:

„Ob Mela wirklich ebenfalls so harmlos ist …?!“

„Und – an die Filmidee glaubt?! – Nein, Liebling, – ausgeschlossen … Mela kennt ihren Vater zu gut … Auch sie spielt nur Komödie vor den anderen.“

Und sie begannen aufs neue die Kuppe zu umkreisen, Arm in Arm, ständig nach allen Seiten beobachtend …

Dunkel und einsam lagen die Felsmassen der Faluhn-Klippe da … Verschlafene Möwen erhoben sich zuweilen von den unzugänglichen Steinwänden, kreisten als Punkte in der Luft und stießen heisere Schreie aus.

Gipsy und Nielsen spürten jetzt die Wärme des heißen Trankes in allen Gliedern … Und Gipsy gähnte verstohlen …

„Es war zu viel Rum in dem Tee,“ sagte sie wie entschuldigend …

„Schadet nichts, Liebling … Desto fester werden die anderen schlafen … Mögen Sie …! Ich werde sie nicht wecken … Wir beide halten uns schon bis zum Morgen auf den Beinen …“

„Das sind noch sieben Stunden, Gerd …“

„Wenn schon …!! Sieben Stunden mit dir, mein Liebling, – die vergehen schnell …“

Und er umschlang sie, küßte sie … –

Im Zelte hatte das Tonerl soeben das zweite Glas Tee mit Rum leer getrunken … Blinzelte müde in das Licht der einen Karbidlaterne …

Tom Booder erzählte ein Erlebnis aus seiner Seemannslaufbahn … Aber keiner hörte recht hin … Das Zelt war zu stark erwärmt, und jeder wünschte nur, daß einer den Anfang machte und sich zum Schlafen niederstreckte.

Tonerl kämpfte heldenhaft gegen die Müdigkeit an… Und … unterlag … Ihr Köpfchen sank auf das Kissen, und sofort atmete sie tief und ruhig, war eingeschlafen …

Dalaargen flüsterte Mela zu …

„Mein Schwesterlein geht uns mit gutem Beispiel voran …!“

Und fünf Minuten drauf regte sich nichts mehr in dem engen Zelt …

Nur Mela Falz war noch wach …

Ganz leise erhob sie sich …

Verließ das Zelt … Die als Vorhang dienende Wolldecke fiel hinter ihr zu.

Langsam schritt sie Nielsen und Gipsy entgegen … Blieb vor ihnen stehen …

„Ich finde keine Ruhe,“ sagte sie schlicht … „Mein Vater hat sich so sonderbar ernst von mir verabschiedet, als wir die Sphinx vorhin …“

Gipsy Maad hatte ihre Hand ergriffen …

„Wir ahnten es … Du bist nicht so harmlos wie die anderen … Auch wir hegen unbestimmte Besorgnisse … Dein Vater wird nicht ohne Grund bei der Abendtafel …“

Da war’s Nielsen, der nun seiner Verlobten ins Wort fiel …

„Das Wetter ändert sich … Der Wind ist nach Norden umgeschlagen … Der Nebel kommt … Für uns sehr böse … Jede Aussicht wird uns versperrt … Seht nur, dort rücken sie an, die ersten Nebelfetzen, der Vortrupp sozusagen … Und dahinter die Hauptmasse – wie eine ganz niedrige ziehende Wolke … In wenigen Minuten sind wir eingehüllt …“

Über den grauen Nebelgebilden schimmerte weiter das prächtige Nordlicht …

Näher und näher kamen die wallenden Vorhänge.

Nielsen zog den Mantel aus, half Mela hinein …

„Ich hole mir eine Decke,“ meinte er … „Ich friere nicht so leicht … Außerdem ist es eine alte Erfahrung, daß die Kälte nachläßt, sobald Nebel aufzieht.“

Er schritt dem Zelte zu, vermied jedes Geräusch, als er den Vorhang hob und eine der noch zusammengerollten Decken aufnahm …

Einen flüchtigen Blick schenkte er den drei Schläfern.

Dann kehrte er zu den beiden Mädchen zurück …

Wunderte sich, daß sie sein Kommen gar nicht beachteten …

Eng aneinandergeschmiegt standen Gipsy und Mela da, starrten gen Osten – zur dortigen Einfahrt des Meeresarmes zwischen den beiden Riffhälften hinüber …

Und auch Nielsen sah nun, was die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen ablenkte …

Der Nebelvortrupp hatte die Nordhälfte der Felseninsel bereits umklammert …

Zarte graue Schleier lagerten auch über den Außenriffen … Und dort inmitten dieser dünnen Gewebe aus feinsten Tröpfchen schimmerte ein großes helleres Etwas mit gänzlich verschwommenen Konturen …

Bewegte sich mit dem Nebel nach Süden vorwärts.

Näherte sich also auch dem kleinen Plateau …

Keiner der drei hier oben sprach ein Wort …

Keiner wagte zu sprechen … Sie hielten unwillkürlich den Atem an …

Die Augen waren starr auf das Große, Helle, gerichtet …

Und dieses Etwas bekam verwischte Gestalt …

Glänzende Striche zeichneten sich ab – zwei Masten.

Dann war auch der Schiffsrumpf mit den altertümlichen Deckaufbauten zu erkennen …

Es war – – der Fliegende Holländer …

Und Mela flüsterte tonlos:

„Das … Gespensterschiff …!“

Nielsen aber schüttelte nun den lähmenden Bann durch eine energische Kopfbewegung ab …

„Es gibt keine Gespensterschiffe,“ sagte er hart.

Und seine Hand versenkte sich in die Jackentasche … holte die Browningpistole hervor …

„Für alle Fälle …!!“

Jetzt schien das Schiff mit den leuchtenden Umrissen draußen vor den Riffen zu ankern …

Da kam die Hauptmacht der Nebelgebilde heran.

Das gespenstische Bild wurde wieder unklarer …

Bald nur noch wie vorher ein heller Fleck …

Und – der blieb … Der blieb an derselben Stelle.

Nebel wallte jetzt auch hier oben auf der Kuppe …

Feinste Tröpfchen legten sich auf die heißen Gesichter der drei … Alles ringsum war grau in grau … Nur der matte Kegel des Zeltes hinter ihnen war zu sehen … Und vor ihnen … der Fliegende Holländer …

Gipsy sagte gedämpft:

„Wir müssten die Freunde auf der Sphinx benachrichtigen …“

Aber Nielsen erklärte:

„Wer will sich den Hals brechen, Gipsy?! Wer kann in dieser Dunkelheit über die Felsen klettern?!“

Und wieder starrten sie hinüber nach dem rätselhaften Fahrzeug …

Gerade dort standen sie, wo der schräge Teil der Steilwand wie ein Hohlweg zum Meere hinablief …

Mela rief plötzlich …

„Da – eine Schiffsglocke läutet …!“

Man hörte die einzelnen Schläge ganz genau …

Nielsen zählte sie …

„Mitternacht …,“ sagte er dann …

Worauf es Gipsy entfuhr:

„Geisterstunde!!“

Voll und tief waren die Klänge der Schiffsglocke gewesen …

„Ob man’s nicht auf der Sphinx vernommen hat?“ fragte Mela Falz scheu und gedrückt …

„Glaube ich nicht, Fräulein Mela,“ erwiderte Nielsen. „Der Wind nimmt den Schall nach Süden …“

Und abermals schwiegen sie …

Noch dichter wurden die Nebelschleier … Der helle Fleck schimmerte immer matter und blieb doch sichtbar.

„Ich will’s doch wagen,“ sagte Gerd Nielsen unvermittelt … „Ich klettere zum Meeresarm hinab und rufe die Wache der Sphinx an … Wir können im Beiboot ganz gut bis zu den Außenriffen … Wir müssen sehen, was es mit diesem Schiffe auf sich hat …“

Gipsy Maad umschlang ihn …

„Niemals, Gerd …! Du bleibst …! Ich … fürchte mich …“

Er spürte, daß sie zitterte …

„Gipsy!!“

„Oh – siehst du denn nicht …?! Mela – auch du nicht …?! Da … dort … unten … unten am Hohlweg …!!“

Nun sahen es auch die anderen …

Nichts als helle kleine Gebilde, die durcheinanderwogten …

Klein im Vergleich zu dem völlig verschwommenen Schiffe draußen … Und doch vielleicht von Menschenlänge …

Wogende Flecke …

Als ob Irrlichter, unendlich vergrößert, hin und her tanzten … –

Nielsen biß sich in die Unterlippe …

Teufel nochmal, – packte jetzt auch ihn etwa ein leises Grauen?!

Lächerlich …!!

Und er machte sich aus Gipsys Umschlingung frei …

„Wartet hier … Du hast deinen Browning, Gipsy … Und Sie, Fräulein Mela, wecken die anderen im Zelte … Das sind Menschen dort unten – Leute von dem verfl … lixten Schiffe!“

Er wollte den Hohlweg hinunter …

Wollte …

Gipsy hing wieder an seinem Halse …

„Gerd, das ist Wahnsinn! Du – als einzelner …!! Dann – – komme ich mit …! Der Anfall von alberner Furcht ist vorüber …!“

Mela Falz war bereits zum Zelte geeilt …

Undeutlich war ihre Stimme zu vernehmen …

Dann die Dalaargens …

Und Nielsen und Gipsy stierten abwärts …

Die hellen Flecke bewegten sich – näherten sich … Nahmen Form und Gestalt an …

Menschen … Männer …

Gelblich strahlend – wie durchtränkt von St. Elmsfeuer …

Männer in altmodischer Tracht – mit Pluderhosen, mit seltsamen Röcken, breitkrempigen Hüten, an denen Federn wallten …

Gestein knirschte unter ihren schweren Stiefeln …

Ein Dutzend Leute … Zu zweien … Voran ein dreizehnter … Genauso gekleidet …

Und nun waren sie oben – dicht vor dem jungen Paare … – das … langsam … zurückwich …

Nielsen hatte die Pistole erhoben … Er stemmte sich gegen Gipsys Kraft, die ihn rückwärts zerrte …

Der dreizehnte war keinen Meter mehr von der Pistolenmündung entfernt …

Nielsen riß sich los …

Rief …

„Halt – oder ich schieße …!“

Er sah das Gesicht des Mannes – spitzbärtig, hager, funkelnde Augen …

Der Mann hatte die Linke leicht auf den Griff des langen Stoßdegens gelegt, der ihm an der Seite im breiten Ledergürtel hing … Die Rechte hielt eine jener alten klobigen Luntenpistolen, wie sie zurzeit des Dreißigjährigen Krieges benutzt wurden …

Der Mann machte halt …

Die anderen traten neben ihn …

Jetzt eilten Dalaargen und Tom Booder herbei …

Der Herzog brüllte heiser:

„Nielsen – wir kommen …!!“

Seine Stimme klang unnatürlich …

Vom Zelte her Tonerls schriller Angstruf …

„Wer sind Sie?“ fragte Nielsen den Fremden …

Er war wieder vollständig seiner selbst … War Gerhard Nielsen, der keine Nerven kannte …

Acht Schuß in der Browning … Das genügte ihm …! Und neben ihm Gipsy, Dalaargen, Tom, ebenso bewaffnet … Das genügte …!!

„Wer sind Sie?!“ wiederholte er in englischer Sprache …

Der Fremde blieb stumm …

Nielsen beobachtete …

Die Kleider der Leute waren fraglos mit einem Leuchtstoff durchtränkt …

Wut stieg in ihm hoch …

„Was soll dies Possenspiel, Herr?! Mit dergleichen imponieren Sie uns nicht!“

Und Tom Booder:

„Falls Sie Filmleute sind – wir werden schweigen!“

Und Dalaargen:

„Machen Sie gefälligst das Maul auf …! Mit ihrer Maskerade richten Sie hier nichts aus!“

Der Fremde lachte jetzt … nur leise … Aber ein abscheuliches Lachen, das ins Ohr wie ein Messer schnitt …

Nielsen fuhr leicht zurück …

Es begann ihm plötzlich vor den Augen zu flimmern.

Er sah noch, wie der Fremde eine kurze Tabakpfeife in den Mund schob …

Dann schienen die dreizehn strahlenden Gestalten im wilden Wirbel durcheinander zu tanzen …

Der Boden schien ihm unter den Füßen zu weichen …

Er spürte, daß er langsam vornüber sank …

Seine Hände griffen in die leere Luft …

Die Pistole entfiel ihm …

Wie aus endlosen Fernen hörte er noch Gipsys Schrei …

Dann – nichts mehr …

Wie hingemäht lagen die sechs von der Sphinx …

Hingemäht wie durch ein Wunder …

Und die dreizehn mittelalterlichen Gestalten, jeder eine Tabakspfeife im Munde, beugten sich über die Reglosen …

Ein stiller Zug setzte sich durch den Hohlweg hinab in Marsch …

Einsam nun die Felskuppe, das Zelt … Nichts als Nebelgebilde flatterten um das kleine Plateau …

Nur drüben jenseits der Riffe der große helle Fleck – der Fliegende Holländer …

Dieser Fleck schwand allmählich …

Ein heiserer Wutschrei gellte dort auf …

Ein Schrei, der niemals aus menschlicher Kehle gekommen sein konnte, – – überlaut, selbst den dichten Nebel durchstoßend …

Wer des Homgori Murat gewaltige Stimme kannte, der wußte, wer dort drüben in grenzenlosem Ingrimm diesen Schrei dem geheimnisvollen Schiffe nachgesandt hatte …

 

39. Kapitel.

Agnes Gaupenbergs Seligkeit …

Georg Hartwich sah den Nebel kommen … Er stand neben dem Turme an Deck der Sphinx und schaute zur Kuppel empor, hatte soeben noch dem Freunden dort oben zugewinkt …

Schleier hüllten die Felsgestade ein … Graue Nebelfetzen versperrten ihm die Aussicht …

Unzufrieden nahm er seinen Weg rund um die Reling wieder auf …

Ihm erging es nicht anders als Nielsen, Gipsy und Mela. Er ahnte irgend ein böses Ereignis voraus! Er wurde die Gedanken an Dr. Falz’ rätselvolle Andeutungen nicht los … Sie lasteten auf ihm wie ein atembeklemmender Druck …

Zuweilen blieb er stehen und lauschte in die graue Finsternis hinein … Er konnte kaum weder vom Bug noch vom Heck der Sphinx her den dicken Mittelturm erkennen … Alles ringsum wallte Grau in Grau …

Und weiter dachte er an die Botschaften des Mannes, den Viktor Gaupenberg bestimmt für seinen Freund Montgelar hielt – diese Flaschenpost, die hier an Bord gebracht worden war, ohne daß jemand auch nur den leisen Schritt eines Fremden vernommen hatte …

‚Wenn Sie uns jetzt überfallen, werde ich eine Überrumpelung kaum verhüten können,’ ging’s ihm in seiner Sorge um die Sicherheit des Luftbootes durch den Kopf …

Der stämmige Seemann pflegte nicht lange zu zaudern …

Die Gefährten brauchten Ruhe und Schlaf. Aber einer war da, dessen Körper allen Anstrengungen spielend leicht widerstand: Murat!

Hartwich stieg die Turmleiter hinab. Der treue Homgori hatte sich im Führerraum ein Lager zurechtgemacht. Eine einzelne elektrische Lampe brannte hier. So leise Georg Hartwich auch war, die feinen Instinkte des Tiermenschen weckten Murat. Er warf die Decke ab, richtete sich auf …

„Was sein, Mr. Hartwich?“

„Ich habe Arbeit für dich, Murat … Draußen liegt dicker Nebel … Man sieht kaum die Hand vor Augen … Du sollst im Beiboot die Sphinx umrudern … Möglich, daß der Nebel bald wieder weicht …“

Der Homgori warf die Wolldecke um die breiten Schultern …

„Gut, Mr. Hartwich … Murat rudern … Ganz ausgeschlafen … Bewegung Murat nur lieb …“

Er reckte die langen muskulösen Arme und gähnte, zeigte sein prachtvolles Panthergebiß …

An Deck angelangt schüttelte er verwundert den flachen Schädel …

„Oh – wie dunkel …!! – Sehr gut, Mr. Hartwich … Murat rudern leise und horchen … Murat alles hören …“

Dann kletterte er an der Außenleiter hinab in das kleine Aluminiumboot, legte die Blattruder in die Dollen und kettete das Boot los …

Langsam trieb er das leichte Fahrzeug von der Sphinx weg in die düsteren Schleier hinein …

Ließ die Riemen stets nach wenigen Schlägen sacht über die Wasseroberfläche streichen und lauschte …

Von der Sphinx sah er nichts mehr und doch kannte er stets genau die Stelle, wo sie zu suchen war. Er – – roch sie … Seine Sinne glichen denen eines Urwaldtieres. Es war ein Erbteile mütterlicherseits, ein wertvolles Erbteil, das im Verein mit seiner menschlichen Intelligenz ihn über das Menschengeschlecht hinaushob.

Er roch die Sphinx … Jedes Schiff, das Maschinen besaß, roch nach Öl, hatte seinen typischen Geruch …

Bald wurde ihm dieses enge Umkreisen der Sphinx langweilig … Er zog die Kreise weiter …

Und – – horchte plötzlich auf …

Ein fernes Klingen erreichte sein Ohr – – ganz schwach …

Ein Klingen wie die Töne einer Schiffsglocke …

Murat saß regungslos auf der Ruderbank …

Überlegte …

Eine Schiffsglocke …!! Er kannte diese Töne von Randercilds Jacht her … Die lag nun längst als Wrack an den Riffen von Gouadeloupe … Ein Schiff also hier in nächster Nähe der Faluhn-Klippe … Etwa das Gespensterschiff?! – Und ihm fiel wieder ein, was Pasqual Oretto ihm über die Sage vom Fliegenden Holländer erzählt hatte …

Ein paar stille, kräftige Ruderschläge ließen das Beiboot vorwärtsschießen … Dem Ostausgang des Meeresarmes entgegen …

Wieder lauschte der Homgori …

Hörte nichts mehr …

Nochmals ein paar Schläge …

Das Brandungsgeräusch wurde plötzlich stärker … Murats wußte, daß er sich nun in der Einfahrt befand.

Er wandte den Kopf. Seine kleinen tiefliegenden Augen suchten die Nebelmassen zu durchdringen …

Dann – – sah er wirklich etwas …

Etwas helles – einen langen hellen Fleck … Als ob dort weit vor ihm eine Riesenleuchte flammte, die selbst dies graue Gebräu besiegte …

Der fliegende Holländer …!!

Murat hatte ja mit beobachtet, wie das geheimnisvolle Schiff vor Stunden über den Ozean gesegelt und dann verschwunden war …

Aberglaube, Gespensterfurcht kannte er nicht … Er fürchtete sich vor nichts … In der Tasche seiner weiten Seemannshosen steckte außerdem der Revolver, den seine Freunde ihm längst überlassen … Murat war auf diese Waffe ebenso stolz wie auf die Freundschaft der Sphinxleute. Er gehörte mit zu ihnen. Keiner behandelte ihn als Tier … Er liebte sie … Er hatte sein Leben mehr als einmal für sie gewagt…

Er ruderte weiter …

Vorsichtig – alles klug berechnend …

Der helle Fleck vor ihm nahm bestimmtere Formen an …

Wurde zu den Konturen eines Zweimasters mit hohen Aufbauten … Etwa so wie die Fahrzeuge, mit denen der große Kolumbus Amerika gefunden.

Murats Boot lag jetzt inmitten der äußeren Riffe.

Inmitten der auslaufenden Wogen der Brandung.

Der Homgori fürchtete, daß es hier beschädigt werden könnte. Er erkletterte eine größere Klippe und zog es hinter sich nach oben … Um ihn her gurgelten die Wasser.

Er starrte hinüber zu dem Gespensterschiff … Es schaukelte jenseits der Brandung – blieb an derselben Stelle …

Murat war vielleicht achtzig Meter entfernt … Er hatte Augen wie ein Falke … Dort an Deck gingen Männer hin und her … Männer, deren Kleidung genauso leuchtete wie der ganze Zweimaster …

Vier Mann zählte der Homgori – nur vier …

‚Wenn ich durch die Brandung hindurch käme …!’ dachte er … ‚Nur vier Mann …!! Und wenn ich …’

Aber dieser Gedankenfaden zerriß …

Murats Augen hatten ein Boot erspäht – rechts von seiner Klippe, die ihn und das kleine Aluminiumfahrzeug barg …

Ein großes Boot … leuchtend wie das Schiff … Strahlende Gestalten darin …

Urplötzlich war’s aus dem Nebel aufgetaucht, hatte, getrieben durch vier Ruderpaare, die Brandung durchquert …

Der Homgori beobachtete weiter … Den für den mächtigen Leib viel zu kleinen Schädel vorgereckt, die Wulstlippen halb geöffnet, – so glich er einer unförmigen Statue …

Hin und wieder, wenn der Wind die grauen Dünste dichter zusammenballte, wurde das Bild des Schiffes und des sich ihm nähernden Bootes undeutlicher …

Aber gerade jetzt, als das große Boot neben dem Zweimaster anlegte, zerflatterten die feuchten Schleier ein wenig …

Murat erkannte, daß man irgend etwas aus dem Boote an Deck des Schiffes brachte, – etwas wie große Bündel, die nicht leuchteten …

Die Sehschärfe der Augen des Homgori reichte doch nicht hin, die ersten drei dieser Bündel als das zu unterscheiden, was sie in Wirklichkeit waren: bewußtlose Menschen!!

Nein – erst als jetzt ein viertes Etwas aus dem Boot emporgehoben wurde, stutzte der Affenmensch …

Das … war doch eine Frau gewesen … Das konnte nur die Prinzessin Toni Dalaargen gewesen sein … Dieses hellgraue Sportkostüm besaß nur sie …

Murats Zähne rieben sich plötzlich knirschend aneinander …

Er hatte die Wahrheit durchschaut. Sechs Bündel – sechs Menschen – – die sechs Gefährten, die auf der Kuppe hatten wachen wollen …!

Und – das große Boot war ja auch dort von rechts erschienen … Dort oben lag die Kuppe … Von dort hatte man also jetzt die sechs Sphinxleute überfallen und gewaltsam entführt …!

Wut loderte in dem leicht erregbaren Homgori auf.

Eine wilde, ohnmächtige Wut …

Und einen Schrei stieß er aus – einen Schrei, der das Grollen der Brandung übertönten und durch die Nebelschleier flog wie der Ton einer Trompete …

Dann hatte Murat auch schon sein winziges Fahrzeug in die gurgelnde schäumende Flut hineingestoßen.

Die sechs Freunde – – retten – – retten … – das war sein einziger Gedanke …

Er ruderte … Die Riemen bogen sich … Wogen klatschten über Bord … Halb im Wasser saß der Homgori … Aber – die Brandung lag hinter ihm …

Er ruderte … Seine Muskeln gaben her, was alles sie an unverdorbener Kraft besaßen …

Den Kopf hielt er halb gedreht, damit er das Geisterschiff nicht aus den Augen verlor …

Das Aluminiumboot tanzte über die Wellen …

Vorwärts – nur vorwärts …

Murat stieß heulende Laute aus … Seine Erregung war wie flackernder Wahnsinn …

Mordgier gleißte in den kleinen Augen. Das Menschenblut in seinen Adern wurde überflutet von dem tierischen Erbteil seiner mütterlichen Ahnen …

An nichts dachte er … ‚Nur – – vorwärts …!! Retten – – Morden, zwischen diese Männer dort fahren wie ein Teufel …!’

Und näher kam sein Boot dem Zweimaster …

Er war kaum noch zehn Meter entfernt …

Nur noch fünf Meter …

Und – da geschah’s …

Da – – begann das Geisterschiff zu versinken …

Glitt vorwärts – und versank – – immer rascher – immer rascher …

Ein einzelner Mann war nur noch an Deck, schleuderte etwas dicht vor Murats Füßen, eilte in die Heckkajüte, während die ersten Wogenkämme über die Reling fluteten …

Des Homgori mächtige Gestalt war in fassungslosem Schreck zusammengesunken … Seine Arme hingen schlaff herab …

Er blickte auf das Unbegreifliche! Das Schiff war verschwunden … Auch die Mastspitzen tauchten nun in die Tiefen des Ozeans hinab …

Nichts mehr …

Nebel … Nebel … Wogen … rollende Wogenkämme …

Und eine dieser gierigen Wellen hob das kleine Boot empor und trug es pfeilschnell den Außenriffen wieder zu …

Da … erwachte der Homgori …

Packte die Riemen fester …

Fünf Minuten drauf langte er bei der Sphinx wieder an … Triefend, frierend … –

Hartwich hörte, wie das Beiboot gegen die metallene Außenhaut der Sphinx stieß …

„Hallo – wer da?!“

„Murat …!“

Der Homgori schwang sich die Eisenleiter empor …

Steuermann Hartwich zog die Blende von der großen Laterne …

„Was gibt’s …?!“

Er sah, daß Murat vollkommen durchnäßt war … Sah in des Tiermenschen rechter Hand eine … Sektflasche – dickbauchig, im silbernen Halse noch den Pfropfen …

„Was gibt’s …?! So rede doch …!“

Der Homgori stieß einen heulenden Ton aus …

Dann keiften Worte, Sätze über seine zuckenden Lippen …

Er schilderte, was er erlebt … Und was er erzählte, trug nur allzu sehr den Stempel der Wahrheit … –

Georg Hartwich sagte dann nur:

„Komm, wir müssen Gaupenberg und Dr. Falz wecken – auch Pasqual und Gottlieb …“

Er fieberte förmlich, der stämmige Steuermann … und bewahrte doch äußerlich die Ruhe … Nur äußerlich allerdings … –

Abermals fünf Minuten später saßen in der großen Kabinen die bestürzten Männer und der triefende Homgori … Nochmals erstattete Murat Bericht …

Man fiel mit Fragen über ihn her. Jeder wollte Einzelheiten wissen. Nur Dr. Falz saß still in seinem Korbsessel, ein halb schmerzliches, halb nachsichtiges Lächeln um die bärtigen Lippen …

Bis er dann mit erhobener Stimme sagte:

„Freunde, ihr dürft nicht bezweifeln, daß auch das Allerletzte von Murats Erlebnissen der Wahrheit entspricht, das Versinken des Zweimasters! – Ihr verwirrt den armen Murat nur durch eure vielen Fragen …“

Pasqual Oretto meinte unwillig:

„Herr Doktor, ich habe mich zwanzig Jahre auf allen Weltmeeren umhergetrieben, bevor ich dann in Lissabon Hafentaucher wurde … Ich weiß, wie sehr gerade Nebel unsere Sinne verwirrt … Nebel täuscht nicht nur das Ohr über die Richtung des Schalles, sondern auch die Augen, vergrößert Dinge ins ungemessene und gibt ihnen anderer Formen … Murat ist das Opfer einer Sinnestäuschung geworden. Nicht das Meer verschluckte den Zweimaster, sondern der Nebel … Dabei bleibe ich … Und das scheint mir auch die Ansicht der meisten hier zu sein …“

Er blickte die ernsten Gesichter der Gefährten entlang … Sie nickten zögernd … Nur Dr. Dagobert Falz behielt sein schwache Lächeln bei … Schwieg aber.

Gaupenberg, dem der Steuermann Hartwich vorhin die Sektflasche übergeben hatte, sagte nun, indem er den großen Kork aus dem Flaschenhals entfernte:

„Sehen wir, was diese zweite Flaschenpost enthält …!“

Und genau wie bei der ersten Botschaft dieser Art war in den Kork unten ein langes Stäbchen hineingedrückt, um das mit einem Faden eine Papierrolle befestigt war.

Man umdrängte den Grafen jetzt. Die Spannung war aufs höchste gestiegen …

Viktor Gaupenberg strich das Papierblatt glatt. Seine Augen nahmen denselben Ausdruck ungläubigen Staunens an, als er hier abermals die Handschrift seines bedauernswerten Freundes wiedererkannte …

Diesmal waren es Bleistiftzeilen – wieder englischer Text …

Sie haben mich aus meinem Hafen vertrieben. Sollten Sie das, was Sie hier erlebten, irgendwie der Öffentlichkeit preisgeben, so werden Sie Ihre sechs Gefährten nicht wiedersehen, die im übrigen an Bord meines Schiffes mit aller Höflichkeit behandelt werden sollen. – Schweigen Sie also! Von Ihrem unverbrüchlichen Schweigen wird es abhängen, ob Sie die sechs nach Ablauf eines Monats wiedersehen werden. – Die Faluhn-Klippe werde ich nicht mehr betreten. Genau einen Monat vom heutigen Tage, dem 5. September, an gerechnet, können Sie sich zur Entgegennahme Ihrer Freunde am Vorgebirge Retorta der Azoreninsel San Miguel wieder einfinden.

Der fliegende Holländer

Die Köpfe der Sphinxleute waren emporgeschnellt.

Zwei Namen schlugen wie eine Bombe ein …

Kap Retorta – – San Miguel …!!

Unweit dieses Vorgebirges hatte ja das Goldschiff auf dem Meeresgrunde gelegen …!! Dort hatte man es aus den Tiefen des Ozeans emporgeholt!!

„Ist’s ein Zufall, daß dieser Geheimnisvolle uns gerade dorthin bestellt?!“ rief Gottlieb Knorz …

Und er sprach nur die Gedanken aller aus …

Gaupenberg blickte Dr. Falz fragend an …

„Herr Doktor, Ihre Ansicht?“ bat er respektvoll.

„Liebe Freunde, mich müßt Ihr vorläufig bei Euren Beratungen und Entschlüssen aussparen … Ich stehe Euch gleichsam mit gebundenen Händen gegenüber. Ich kann nur wiederholen: ‚Ich werde der Vorsehung nicht ins Handwerk pfuschen.’ Ich darf es nicht – in unser aller Interesse … Und dies sage ich, obwohl mein einziges Kind, meine Mela, mit entführt worden ist.“

Er nickte den Gefährten leicht zu und verließ die große Kabine.

Stille herrschte hier – noch minutenlang …

Bis Hartwich leise erklärte:

„Er – – weiß mehr, als wir ahnen, der Doktor! Er könnte, behaupte ich, wohl so ziemlich alles uns deuten, was wir hier an Rätselhaftem erlebt haben …! – Anderseit, wenn ein Mann wie er nichts von seinem Wissen verrät, muß er dazu seine schwerwiegenden Gründe haben … – Nur in einem Punkte können wir nun beruhigt sein. Unseren sechs Freunden wird nichts Böses geschehen, denn wir – – werden schweigen, was wohl selbstverständlich ist …“

Gaupenberg nahm an dem langen Tische Platz …

„Bitte – setzen wir uns … Die jetzt notwendige Beratung dürfte längere Zeit dauern …“

Und doch mußte diese Beratung noch verschoben werden, da jetzt Agnes und Ellen die Kabine betraten. Sie hatten sich in aller Eile notdürftig angekleidet, und Graf Viktor berichtete den beiden jungen Frauen nun in knappen Worten die letzten Ereignisse …

„Ein direkter Anlaß zur Besorgnis unserer Freunde wegen ist also nicht vorhanden,“ beendete er seine kurze Schilderung. „Und dies umso weniger, als ich mit aller Bestimmtheit dabei bleibe, daß der Fürst des geheimnisvollen Zweimasters mein totgeglaubter Freund Ortwin Montgelar ist. Dies hier …“ – und er hob den Zettel empor – „ist abermals so gewiß Montgelars Handschrift, wie ich ihn gestern auf der Kuppe wiedererkannt habe!“

Die Freunde saßen jetzt um die Tafel herum. Es fehlten nur Fürst Iwan Alexander Sarratow und seine Pflegerin Inge Söörgaard, ferner die beiden gefangenen Verbrecher Mafalda und Edgar Lomatz, die im Vorschiff in kleinen Verschlägen sicher untergebracht waren. –

Den Hauptpunkt der nun folgenden Beratung bildete abermals die Frauge, wo man Mafalda Sarratow und Edgar Lomatz bis auf weiteres festsetzen solle. Die ursprüngliche Absicht, die Höhle im Südteil der Faluhn-Klippe als Kerker herzurichten, mußte man aufgeben, da Hartwich mit Recht betonte, der ‚Fliegende Holländer’ könnte sehr wohl hierher zurückkehren und dann vielleicht doch Gegenpartei ergreifen, als er die beiden Gefangenen befreite.

Gewiß – Gaupenberg widersprach dem sehr energisch. Für ihn war der Fliegende Holländer eben Graf Montgelar. Und er hob seinerseits hervor, daß die sechs Gefangenen des Zweimasterkapitäns doch ohne Zweifel mit Montgelar nähere Beziehungen anknüpfen und diesen über Mafalda und Lomatz aufklären würden.

Trotzdem wurde beschlossen, nur noch den kommenden Tag auf der Faluhn-Klippe zu bleiben, und diese Zeit zu einer abermaligen Durchforschung des Doppelinselchens zu benutzen. Man hoffte eben, daß man schließlich vielleicht doch noch zwischen den zerklüfteten Felsmassen irgend etwas entdecken könnte, daß über den wahren Charakter des gespenstischen Fahrzeuges Aufschluß geben würde.

Nun stand jedoch die Hauptfrage wieder offen. Was sollte mit Mafalda Sarratow und Lomatz geschehen?!

Die beiden an Bord behalten, war aus den verschiedensten Gründen unmöglich und wenig ratsam. Ganz besonders wies jetzt Agnes in ihrer bescheidenen, zartfühlenden Art darauf hin, daß man schon Inge Söörgaard gegenüber die Pflicht habe, Mafalda von Bord der Sphinx zu entfernen …

„Inge liebt den Fürsten … Und unsere Pflicht ist es, eine Begegnung zwischen diesem und seinem verbrecherischen Weibe, daß er niemals mehr als seine Gattin anerkennt, zu verhüten … Vergrößern wir die Tragik dieser Liebe nicht dadurch, daß wir Mafalda fernerhin mit uns nehmen …!“

Gottlieb Knorz, der links von Agnes saß, flüsterte ihr zu:

„Bravo, Frau Gräfin …!“

Dann bat er ums Wort …

Auf seinem dunkel geträumten hageren Gesicht mit der messerscharfen Hakennase lag ein feines Schmunzeln.

„Wir zerbrechen uns hier die Köpfe, wo wir Lomatz und Mafalda einsperren könnten … Und dabei haben wir doch die Absicht, nunmehr endgültig mit der deutschen Regierung die Verhandlungen inbetreff der Übernahme des Schatzes einzuleiten. Dies können wir am besten von Deutschland aus. Wenn wir – und so lautet mein Vorschlag – nachts mit der Sphinx auf der Felseninsel im Heißen Moor unweit der Gaupenburg landen, wenn dann Pasqual und ich die Sphinx, den Schatz und die beiden Gefangenen dort bewachen, dann haben Sie, Herr Graf, und die anderen im Schlosse Ihrer Ahnen die beste Gelegenheit, diese Unterhandlungen insgeheim zu beginnen, während wir inmitten des doch völlig unzugänglichen Heißen Moores den Schatz und die Verbrecher hüten …!“

Gaupenberg starrte seinen treuen alten Diener einen Moment ganz verblüfft an …

Und Georg Hartwich kam ihm mit der Erwiderung auf Gottliebs so einfachen und so tadellosen Ratschlag zuvor …

„Gottlieb – – glänzend!!“ rief er. „Ich wüßte nicht, was dagegen einzuwenden wäre …! Von mir aus genehmigt …!“

Und seine junge Gattin meinte freudig:

„Oh – dann würde ja auch ich die Gaupenburg kennenlernen, wo die romantische Geschichte des Azorenschatzes begonnen hat …!“

Graf Viktor aber blickte still seiner Agnes in das feine Gesichtchen …

Sie hatte den Kopf gesenkt … Um den nun voll erblühten Mund zuckte es …

Die Erinnerungen, die sich für die junge Gräfin Gaupenberg an das Stammschloß des Geschlechts derer von Gaupenberg-Gaupa knüpften, waren zu trüber Art, als daßAgnes Sehnsucht nach dem trutzigen alten Bauwerk gehabt hätte … Doch – in dem benachbarten kleinen Trinkbade Sellenheim wohnte ja Agnes’ altes Mütterlein … Und das gab den Ausschlag …

Sie schaute auf … Ihr Blick begegnete dem des Geliebten …

Sie nickte ihm zu, nahm seine Hand …

„Meine Mutter …!!“ sagte sie leise …

Graf Viktor verstand sein junges Weib …

„Ich danke dir …!“ flüsterte er zurück …

Und laut und energisch:

„Gut denn! Am Abend dieses Tages, der nun sehr bald heraufzieht, wird die Sphinx Kurs nach Südost nehmen …! – Dir aber, mein treuer alter Gottlieb, einen kräftigen Händedruck … Dein Vorschlag traf das richtige … Die Insel im Heißen Moor wird den Schatz bergen – auf deutschem Boden wird er ruhen, bis die Regierung mit uns einig geworden, wie die Milliarden zum Besten des Vaterlandes verwertet werden sollen …!“

Jetzt erst bemerkte Agnes das Fehlen ihres väterlichen Freundes Dagobert Falz, des Einsiedlers von Sellenheim …

„Wo ist der Doktor?“ fragte sie erstaunt … „Wollen wir denn eine so wichtige Entscheidung ohne ihn treffen, Viktor?“

Graf Gaupenberg erwiderte nur:

„Dr. Falz hat es abgelehnt, sich an unserer Beratung zu beteiligen …“ Das klang ein wenig gereizt, und Gaupenberg suchte diesen Eindruck durch den Nachsatz zu verwischen: „Man muß auf des Doktors Eigentümlichkeiten Rücksicht nehmen. Er weiß mehr als wir – über das, was uns noch bevorsteht … Es wäre freilich besser, er teilte uns mit, was ihm seine rätselhafte Gabe über unsere nächste Zukunft verkündet hat.“

Agnes drückte heimlich des geliebten Mannes Hand … Dann erhob sie sich still und verließ die große Kabine.

Alles schaute ihr nach …

„Sie … geht zu Dr. Falz,“ meinte Ellen Hartwich leise … „Vielleicht bringt sie uns die Aufklärung … Falz liebt Agnes wie sein eigenes Kind …“

Die anderen schwiegen …

Eine erwartungsvolle Stimmung lag über der kleinen Versammlung … –

Agnes hatte denn auch wirklich des Doktors Kabine aufgesucht, hatte leise angeklopft …

Des Einsiedlers von Sellenheim tiefe Stimme forderte sie zum Eintreten auf. Falz saß an dem kleinen Klapptisch und hatte die elektrische Pendellampe tief herabgezogen. Vor ihm lag ein großer Bogen Papier, bis zur Hälfte bereits mit einer kleinen schmucklosen Schrift gefüllt …

Falz nickte Agnes freundlich zu …

„Setz’ dich hier zu mir, mein Kind … – Hat man dich hergeschickt, damit ich den Freunden Auskunft gebe über das, was ich gerne verschweigen möchte?“

„Nein – nicht geschickt, Herr Doktor,“ erklärte Agnes freimütig. „Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen. Soeben ist beschlossen worden, am Abend nach Deutschland zurückzukehren und den Schatz und unsere beiden Gefangenen vorläufig auf der Insel im Heißen Moor unterzubringen. Viktor will dann von der Gaupenburg aus mit den Regierungsstellen in Verbindung treten … Er glaubt jedoch, daß sich wieder Hindernisse …“

Dr. Falz nahm da plötzlich ihre Hand in die seine …

„Mein Kind, ich könnte dir im Vertrauen auf deine Verschwiegenheit die … Vision schildern, die mich dazu bewog, vorläufig mit meinem Rate zurückzuhalten … Ich … werde es nicht tun … Nur eins sage ich dir schon jetzt, und ich wiederhole eigentlich nur Worte, die ich bereits vorhin gesprochen. Wir Sphinxleute sind von der Vorsehung zu Besonderem bestimmt! Weder die Goldbarren des Azorenschatzes noch die Reichtümer König Matagumas, die wir jetzt mit zu dem Schatz rechnen, werden jemals in der Weise Verwendung finden, wie dies deinem Gatten und Georg Hartwich in Gedanken vorschwebt … – Niemals!“

Agnes schrak leicht zusammen …

„Dann … dann wäre also all das, was wir erlebt und gelitten, umsonst gewesen, Herr Doktor?!“

„Nein, nicht umsonst …! Fasse all dieser Abenteurer, diese körperlichen und seelischen Leiden als eine Reihe von Prüfungen auf, die uns lediglich für Höheres vorbereiten sollen …“

Seine Stimme war immer leiser geworden … Sein graues Haupt bog sich zurück, und die klugen gütigen Augen richteten sich auf die getäfelte Decke der Kabine …

Und Agnes spürte nun, wie ihres väterlichen Freundes Hand die ihre mit immer festerem Druck umspannte.

Es war ihr da, als ob aus seinem Körper ein besonderes Fluid zu ihr hinüberströmte …

Unwillkürlich folgte sie der Richtung der Blicke des Einsiedlers …

Fahle Blässe breitete sich über ihr Antlitz …

Und sie sah … nicht mehr die Decke der Kabine … Die Täfelung war verschwunden … Ein heller unregelmäßiger Kreis lagerte dort oben – wie gleißenden Nebelgebilde, die zunächst wie vom Winde getrieben durcheinanderwallten … Bald aber bestimmte Formen annahmen …

Bäume entstanden, färbten sich zu sattem Grün – tropische Bäume, beladen mit seltsamen Früchten … Büsche entstanden, deren Zweige sich bogen unter der Last farbenfroher Blüten …

Eine tropische Waldwiese jetzt … Von einer Klarheit, als ob Agnes Gaupenberg im Sonnenlicht mitten darin stände …

Und – drüben am Rande der weiten Lichtung die Sphinx … Daneben ein großes Blockhaus, aus dessen Tür soeben zwei junge Frauen traten – jede … ein Kind auf dem Arm …

Agnes hielt den Atem an …

Die eine dieser Frauen war sie selbst … Die andere Mela Falz …

Und die beiden Frauengestalten mit dick geschwollenen Leibern wandelten über das im Winde wogende Gras – plaudernd, lachend … Glücksschein in den Augen … Junge Mütter, Mutterseligkeit im Herzen … –

Dann – – verschwand das Bild …

Und Dagobert Falz’ linke Hand fuhr Agnes nun leicht über die Stirn …

Sie schrak zusammen …

Hörte Falz’ Stimme:

„Mütter eines neuen Menschengeschlechts … Schöpferinnen neuer Bewohner unseres Planeten …“

Dann starrte sie dem väterlichen Freunde fassungslos in das freundliche Greisengesicht …

Falz lächelte …

„So, mein Kind, nun geh und erkläre unseren Freunden, daß sie tun sollen, was der Augenblick ihnen eingibt … Über den Sternen thront eine Macht, die uns leiten wird … Menschenwille ist nur Schicksalswille … Wir glauben selbstständig zu handeln und sind doch nichts als Werkzeuge … – Geh, mein Kind … Dein Dasein wird gesegnet sein …“

Agnes erhob sich, noch immer wie halb im Traum.

Das, was sie als Vision geschaut, Mutterseligkeit im strahlenden eigenen Blick –, diese Seligkeit erfüllte jetzt ihr Inneres … Ihr Herz pochte rascher … Süßes Ahnen durchrieselte ihren Leib …

Und wortlos schritt sie hinaus – den Kabinengang hinab … Betrat den Raum, wo die anderen sie erwarteten …

Und mit diesem wie von einem übergroßen Glücke leuchtenden Antlitz stand sie hier vor den Gefährten.

Viktor Gaupenberg starrte sein junges Weib an.

„Agnes …?!“ rief er leise …

Sie ging zu ihm … küsste ihn … richtete sich wieder auf … sagte mit freudiger Gewißheit:

„Dr. Falz hat mir gezeigt, daß wir auf dem rechten Wege sind …! – Verlangt von mir keine nähere Erklärung, Freunde … Laßt uns den Rest der Nacht der Ruhe pflegen …“

Und sie zog den Gatten mit sich fort – hinüber in die Kabine, die sie bewohnten …

Hier schlang sie ihm die Arme um den Hals … legte ihre Wange an die Seine …

„Viktor, Viktor, ich … werde dir ein Kind schenken … Mein Leib ist gesegnet …“

Er preßte sie an sich …

„Agnes, wer …“

„Oh – – nichts fragen, Viktor … Zerstöre nur nicht diese überirdische Seligkeit … Ich weiß – –: Ich habe mich mit meinem … Kinde gesehen …!!“

* * *

In der großen Kabine waren jetzt nur noch Gottlieb Knorz, Pasqual Oretto und Murat geblieben …

Die beiden wackeren Alten rieben mit Decken und Tüchern den zottige Murat trocken …

„Trink!“ sagte Knorz dann und reichte dem Tiermenschen ein gefülltes Weinglas … „Dieser Portwein wird dir eine Erkältung fernhalten …“

Aber Murat war für Derartiges nicht zu haben, roch vorsichtig und meinte:

„Das nichts für Murat sein …“ Und er schüttelte sich vor Abscheu …

Pasqual lachte …

„Dann her damit …! Ist zwar nur Zuckerwasser für Damenkehlen … Immerhin – hinunter damit!!“

Gottlieb holte für den Homgori eine trockene Hose und eine wollene Jacke. Und Pasqual schaltete inzwischen den elektrischen Ofen ein, dessen vier Glühkörper denn auch sehr bald eine recht behagliche Wärme ausstrahlten. Murat kauerte sich dicht vor dem Ofen nieder und verzog sein behaartes Gesicht zu einem zufriedenen Grinsen …

„So sehr gut sein …,“ meinte er dankbar. „Murat gar nicht mehr frieren … Murat bald ganz trocken sein … Dann wieder auf kleine Insel hinüberrudern …“

„Oho!!“ rief Pasqual. „Schlafen werden wir, Freund Murat …! Was sollen wir denn auf der verdammten Klippe, wo der Nebel noch immer seine nassen Schwaden ausbreitet?!“

Der Homgori kraute jetzt die zottige mächtige Brust.

„Sehr viel dort sollen, Master Oretto,“ erwiderte er pfiffig … „Murat doch etwas gefunden haben, als wir abends Südhälfte absuchen … Murat schweigen, weil zu wenig sein, um viel davon zu reden …“

Die beiden biederen Alten wurden aufmerksam.

„Drücke dich klarer aus, lieber Murat,“ meinte Gottlieb und half dem Tiermenschen in die wollende Jacke … „So, das ist besser für dich als drei Gläser Portwein … – Und jetzt – raus mit der Sprache …! Was hast du gefunden?!“

„Eisenstange mit Griff, Mr. Gottlieb … Eisenstange, die in Loch hinabgeht und nur wenig heraussteckte … War ein Stück Moos über Griff gelegt … Stück Moos, wo sonst nur kahler Felsen … Murat gute Augen … Moos gehören nicht dorthin, und Murat mit Fuß wegschieden … Dann sehen Eisengriff, bücken und daran ziehen … War aber nicht herauszuziehen aus Loch … War fest … Da Murat weitergehen und nachher, als Schiff auftauchen, Fliegender Holländer, nicht mehr daran denken …“

„Oh – du bist ein Schafskopf!“ grollte Gottlieb ärgerlich … „Wie konntest du diese Entdeckung nur verheimlichen?! Sie kann von allergrößter Bedeutung sein …!“

Der Homgori schnitt ein brummiges Gesicht …

„Nur Eisenstange mit Griff …!! Sonst nichts!!“ Beteuerte er nochmals …

Pasqual Oretto lachte ärgerlich auf …

„Gottlieb hat ganz recht …! Du bist ein Schafskopf! Wenn du auch im übrigen ein braver Kerl bist, den wir alle gern mögen … – Aber niemals hättest du diesen Fund bis jetzt unterschlagen dürfen … – Rücke noch etwas näher an den Ofen heran, Murat … Ich will jetzt einmal nach den Gefangenen sehen und auch Miß Inge fragen, ob sie vielleicht irgend etwas braucht … Dann können wir getrost die Sphinx für einige Zeit verlassen …“

Gottlieb aber hatte hiergegen doch Bedenken …

„Ob wir nicht besser meinen Herrn oder Steuermann Hartwich wecken?!“ meinte er unsicher.

Pasqual zuckte die Achseln …

„Wozu das, Freund Knorz?! Wenn wir die Turmluke hinter uns verschließen und den Schlüssel mitnehmen, kann niemand in die Sphinx hinein … – Nur kein Aufsehens von der Sache machen …! Vielleicht ist wirklich nichts dran …! – Ich gehe jetzt also … Werde auch gleich zwei Laternen mitbringen … In wenigen Minuten bin ich wieder da …“

Er schritt den mit einem Bastläufer belegten Kabinengang zum Bug hinab und riegelte hier zunächst die Tür der kleinen Vorratskammer auf, in der Mafalda Sarratow untergebracht war.

Man hatte der Fürstin nur die Hände gefesselt und ihr auch sonst nach Möglichkeit diese Kerkerhaft erträglich gemacht, obwohl sie derartige Rücksicht wahrlich nicht verdiente.

Mafalda lag auf der Matratze und schien zu schlafen. Als der Lichtschein der Laterne ihr über das Gesicht glitt, erwachte sie …

Pasqual Oretto prüfte ihre Handfesseln … Sie ließ es ruhig geschehen. Nur ein Blick unauslöschlichen Hasses traf das braune faltige Gesicht des treuen Portugiesen, der längst völlig sich als Zugehöriger zur Mannschaft der Sphinx betrachtete.

Dann leuchtete Pasqual noch die Kammer ab, untersuchen die Holzwände und die Tür, denn einem Weibe wie der Fürstin war nicht zu trauen …

Schließlich sah er ein, daß Mafalda bisher keinerlei Vorbereitungen zu einem Fluchtversuch getroffen haben konnte, riegelte die Tür wieder ab und legte vor den mittleren Eisenriegel das Vorhängeschloß. Den Schlüssel hängte er an einen Nagel neben der Tür.

In der Kammer gegenüber lag Lomatz. Mit ihm hatte man weniger Umstände gemacht. Er war auch an den Füßen gefesselt, außerdem noch durch zwei dünne Stahltrosse, die man ihm um die Brust geschlungen, an die Seitenwände der Kammer festgebunden.

Auch er erwachte bei Pasquals Eintritt …

Er jedoch schwieg nicht, wie die Fürstin es getan …

Weinerlichen Tones, in allem ein vollkommener Komödiant, bat er um einen Trunk Wasser …

„Seit Stunden hat sich niemand um mich bekümmert, Sennor Oretto …,“ klagte er … „Wie ein Stück Vieh liege ich hier …“

Das, was er dann noch verlangte, konnte Pasqual ihm nicht gut abschlagen.

So band Oretto ihn denn los, ließ ihm nur die Handfesseln und führte ihn nach dem Baderaum der Sphinx …

Nachher sperrte er ihn in derselben Weise wieder ein und konnte nun, nachdem er hinsichtlich der beiden Gefangenen beruhigt war, einen Blick in die Kabine werfen, wo Inge Söörgaard neben dem Krankenlager des Fürsten in einem Korbsessel vor Müdigkeit eingeschlafen war …

Auch Fürst Iwan Alexander Sarratow schlief …

Sein blasses Gesicht wurde von dem matten Schein des kleinen Lämpchens nur gestreift … Er atmete tief und ruhig. Seine Genesung machte gute Fortschritte, und wenn Inge nicht aus inniger Liebe so äußerst besorgt um ihn gewesen wäre, hätte sie diese Nachtwache sehr wohl einem anderen der Sphinxleute überlassen können …

Pasqual zog sich leise wieder zurück, drückte vorsichtig die Tür zu und betrat die große Kabine, wo Knorz soeben für seinen alten Teckel Kognak, der bisher mit bewundernswerter Standhaftigkeit alle Strapazen ertragen, ein Lager neben dem elektrischen Ofen herrichtete.

Murat aber saß jetzt vor dem Wandschrank, in dem hauptsächlich die Obstkonserven aufbewahrt wurden, und leerte mit den Fingern eine große Büchse Birnen, trank nun noch zum Schluß den süßen Saft aus und sagte dann:

„Jetzt hinüberrudern … Murat wieder trocken und satt …“

Die drei stiegen dann mit ihren Laternen die Turmleiter empor. Es war jetzt vier Uhr morgens.

Zu ihrem Erstaunen sahen sie oben an Deck, daß die dichten Nebelmassen verschwunden waren. Der Wind hatte nach Süden gedreht, und die Faluhn-Klippe reckte ihre zackigen Schroffen trotzig zum ausgestirnten Nachthimmel empor … Auch das Nordlicht war nun wieder in all seiner Schönheit sichtbar und leuchtete den drei Gefährten bei dem eiligen Gang über die Südhälfte der Klippe.

Murat fand die Stelle, wo die fingerdicke Eisenstange in einer Vertiefung unterhalb des kleinen Plateaus aus einem engen Loche des Felsbodens zwischen Geröll herausragte, mit verblüffender Sicherheit, obwohl die ganze Gestaltung des zerklüfteten Gesteins dies außerordentlich erschwerte – für die Sinnesorgane eines gewöhnlichen Menschen. Der Homgori aber war ein ganz anders geartetes Geschöpf. In vielem war er seinen Freunden weit überlegen.

Kopfschüttelnd befühlten Knorz und Pasqual den eisernen Griff, der durchaus dem einer Zugglocke glich.

Vergebens versuchten sie auch, den Griff irgendwie zu bewegen. Er ließ sich weder heben noch tiefer hineinstoßen, drehen …

„Und doch hat das Ding etwas zu bedeuten!“ rief Pasqual keuchend und zog von neuem mit aller Kraft … „Es muß etwas zu bedeuten haben …!! Da – die Stange läßt sich ganz wenig zur Seite drücken … Sie muß sehr lang sein und tief in das Gestein hineinreichen …“

Murat drängte ihn zur Seite …

Sagte: „Murat wieder versuchen … Ich mehr Kräfte haben …!“

Er bückte sich …

Steckte die Riesenpranke in den Griff …

Alle seine Muskeln spannten sich …

Er zog … zog … ruckte – ruckte von neuem.

Und da – links von den dreien, wo der Abhang des Plateaus glatt und senkrecht wie eine Mauer war, ein mißtönendes Kreischen wie von rostigen gewaltigen Türangeln …

„Hurra!!“ brüllte Gottlieb … „Wir haben’s – – wir haben’s!! Und ließ den grellen breiten Strahl der Karbidlaterne auf die schroffe Felswand fallen …

Ein viereckiges Stück derselben drehte sich nach innen, ein Stück, das wohl drei Meter hoch und etwa ebenso breit war …

Knorz eilte vorwärts …

Leuchtete in die hinter der Steintür liegende Grotte hinein …

Pasqual und Murat traten neben ihn …

Die bewegliche Felsplatte schwang nun von selbst vollends nach innen auf …

Oretto machte drei Schritte vorwärts und streckte die Laterne vor …

„Weiter!“ meinte Gottlieb ungeduldig …

Aber der alte Portugiese faßte in die Tasche …

„Eine Browning tut manchmal gute Dienste,“ meinte er … „So – jetzt vorwärts! Und du, Murat, deckst uns den Rücken … Nimm nur ebenfalls deine Pistole zur Hand …!“

Behutsam durchschritten sie den Eingang …

Laternenlicht streifte hier in dem natürlichen Gewölbe über eine Reihe von … Särgen hin …

Kunstvolle, große und reich geschnitzte Eichensärge waren’s … Zwölf an der Zahl …

Pasqual zählte …

„Wahrhaftig – ein Dutzend!! – Wie kommen diese Särge ausgerechnet hierher?!“

Kaum gesagt … links von den drei Gefährten ein dumpfer Krach – ein Kreischen rostiger dicker Türangeln. Die Steintür hatte sich wieder geschlossen!!

„Schadet nichts!“ brummte Oretto. „Die werden wir schon wieder öffnen … – Hallo – – was liegt denn dort am Boden …?! – Wie – – eine kurze Tabakpfeife …?! Und – noch halb gestopft … Eine sehr schöne Pfeife … Ganz modern … Ein Silberring um das Mundstück … – Leuchte doch mal, Gottlieb … Mir scheint, hier ist in den Silberring etwas eingraviert … Ich muß ihm erst blank reiben … So – nun sehe ich die Buchstaben deutlicher … Eine Widmung ist’s … – Ah – – bei der Heiligen Jungfrau, – – hier steht zu lesen:

V. v. Gaupenberg s. l. O. v. Montgelar
Hammerfest, d. 4. 7. 1913

Das heißt also: ‚Viktor von Gaupenberg seinem lieben Ortwin von Montgelar …!’ – Und wenn ich kein Dummkopf bin, diese Pfeife hat Montgelar fraglos damals hier in der Grotte verloren, als man ihn nachher als Geisteskranken oben auf der Klippe wieder auffand!!“

Knorz nahm die Tabakpfeife, nickte nachdenklich …

„Ja – ich besinne mich jetzt … Ich hatte meinen Herrn damals nicht begleitet. Aber er erzählte mir nach seiner Rückkehr zur der Gaupenburg, daß er in der nördlichsten Stadt Europas, in Hammerfest, seinem Freunde Montgelar eine norwegische eigenartige Tabakpfeife dediziert habe … Ohne Zweifel ist dies hier das Geschenk aus jenen Tagen, und Graf Montgelar muß es hier zurückgelassen haben, nachdem ihm irgend etwas in dieser Grotte den Verstand geraubt hatte – vielleicht ein ungeheurer Schreck, vielleicht auch etwas anderes …“

„Entsetzlich!“ sagte Pasqual mit Nachdruck. „Auch wir waren doch erschrocken, als wir die Särge hier sahen …“

Knorz schüttelte den Kopf. „Ich kannte den Grafen Montgelar persönlich, lieber Pasqual. Das war kein Mann, der beim Anblick eines Dutzends von Särgen den Verstand verliert – ausgeschlossen! – Entsetzen – – gewiß, dann aber anderer Art …“

Und er schob die Pfeife in die Tasche und leuchtete die Höhle nochmals ab …

 

(Schluß des vierten Bandes.)