Nachdem Nielsen das Motorbootes ‚Labrador’ und den alten wackeren Pasqual Oretto am Bollwerk unweit der Brooklyn-Brücke zurückgelassen hatte, setzte sich der frühere Taucher mit seiner frisch gestopften Seemannspiep auf die vertiefte Bank am Heck des Bootes und erfreute sich am nächtlichen Bild des lebhaften Hafenverkehrs.
Das war hier ein anderes Leben und Treiben als in seiner Heimatstadt Lissabon …
Das war ein dauerndes Heulen und Schrillen von Dampfsirenen, ein nimmer ermüdendes Geknatter von Motoren, Quietschen von Dampfwinden und Rasseln von Kranketten …
Wie seltsame Berge zeichneten sich die Riesenkonturen der Wolkenkratzer vom nächtlichen ausgestirnten Himmel ab …
Ganze Fensterreihen dieser Turmbauten waren erleuchtet …
Lichtreklamen warfen ihre farbige Buchstabenreihe wie Scheinwerfer in das Dunkel …
Pasqual gefiel dieser Betrieb …
Und doch, seine Heimatstadt war schöner, poetischer … Dies hier war lediglich auf Dollarjagd eingestellt – alles … alles … In Lissabon webte der Zauber einer ruhmreichen Vergangenheit andere Schönheiten in das Bild der alten Terrassenstadt …
Und Pasqual vergaß auch nicht, das zu befolgen, was Nielsen ihm eingeschärft hatte: Vorsicht und – – Augen auf!!
Der Hafentaucher von Lissabon beobachtete die Kais.
Da waren Hunderte von Menschen in Tätigkeit – in nächster Nähe …
Nur hier, wo die ‚Labrador’ vertäut war, gab es eine Lücke in den Schiffsreihen …
Hier waren am Bollwerk nur große Stapel leere Fässer aufgehäuft …
Pasqual dachte in seinem schlichten Sinn: ‚Wenn man uns wirklich beobachten sollte, was allerdings auch Nielsen kaum annimmt, dann stecken die Schufte hinter den Fässern … Geben wir also den Fässern eine Pinte Seemannsblick …’
Seine scharfen, noch so jugendlichen Augen prüften unter den buschigen dicken Brauen hervor diese Fässer immer wieder …
Er bemerkte nichts …
Dann schaute er einem Dreimaster nach, den ein kleiner Schlepper keuchend gen State Island durch den gelbbraunen Hafen treckte …
Wie er sich so noch über die schnittigen Formen des großen Seglers freute, krächzte plötzlich vom Bollwerksrand eine Stimme zu ihm herab …
„Hallo, Master Oretto … – Hallo …!!“
Er wandte den Kopf …
Die nahe Bogenlampe zeigte ihm einen gut gekleideten Chinesen …
Nun – wenn Pasqual eine Menschensorte gründlich haßte, so waren’s diese Gelben … Niemals vergaß er jene Nacht vor vierzig Jahren in Shanghai, als er in einer Opiumhöhle knapper Not mit dem nackten Leben davongekommen war …
„Was gibt’s?“ rief er nach oben …
Und wunderte sich, daß der Schlitzäugige seinen Namen kannte …
„Botschaft von Master Nielsen …“ krähte der Chinamann … „Darf ich an Bord kommen? – Sehr wichtig …“
Pasqual Oretto befühlte heimlich die rechte Jackentasche … Dort steckte der gute Browning aus Mr. Randercilds Waffenschrank …
„Nur zu, gelber Gentleman …“ meinte er ruhig.
Als der Chinese sich nun an Bord schwang, steckte Pasqual die Hand in die Jackentasche, schob die Sicherung der Repetierpistole zurück und legte den Finger um den Abzug …
Der Chinese zog seine Sportmütze und machte Pasqual eine Verbeugung …
„Von Worg & Co.,“ sagte er leise … „Detektivinstitut Worg & Co!“
„Weiß Bescheid … – Was gibt’s?“
„Mister Nielsen läßt bestellen, daß Sie das Boot in den North River bringen sollen – bis zu den Kais an der Börse … Das Boot wird dort gebraucht.“
Oretto betrachtete den Gelben von oben bis unten.
„Haben Sie einen Ausweis?“ fragte er. „Jeder Angestellte von Worg & Co. hat einen Ausweis …“
„Alles richtig, Master … Bittet …“
Der Gelbe zog eine Brieftasche hervor … Und als er es tat, sahen Pasquals Luchsaugen, daß der Kerl unter der Jacke einen dicken Gummiknüppel versteckt hatte …
Das war ja an sich bei einem Detektiv nicht weiter merkwürdig. Immerhin – wenn der Kerl ein Schuft war und mit dem Schlagstock zuschlug, während er den Ausweis prüfte … – Man konnte nicht wissen …
So stand er denn auf, trat einen Schritt zurück und nahm so das Papier in Empfang …
Die Hecklaterne des Bootes gab genügend Licht …
Pasqual überflog den Ausweis, ließ aber den Chinamann nicht aus den Augen …
Die Karte mit der aufgeklebten und gestempelten Photographie schien echt zu sein …
Orettos Mißtrauen schwand …
„Also Kong heißen Sie … Gut, hier haben Sie den Ausweis zurück … – Wo soll ich also hinsteuern, Mr. Kong?“
„Ich werde das Boot führen, Mr. Oretto … Machen wir vom Bollwerk los … Wir brauchen uns nicht zu beeilen, Mr. Nielsen sitzt bei Mr. Pannacroft, unserem Chef …“
Kong holte seine Zigarrentasche hervor …
„Wie gesagt, Mr. Oretto, wir haben Zeit … – Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten … Sind zwar nicht erstklassig … Für Importen langt unser Gehalt nicht. Ich bin nur einer von der dritten Abteilung, Mr. Oretto … Miß Maad gehört zur ersten. Die wird besser bezahlt …“
Pasqual bediente sich …
Dieser Kong war kein übler Bursche … –
Sie machten also die ‚Labrador’ vom Bollwerk los … Oretto stieg in den winzigen Maschinenraum hinab … Der Motor sprang an, und das Boot setzte sich in Bewegung.
Pasqual hatte die beiden Klappen der Lukentür offen gelassen … Das Lämpchen über dem Motor pendelte leicht hin und her …
Die Zigarre schmeckte … Der Motor arbeitete ruhig und gleichmäßig …
Pasqual gähnte und lehnte sich in die offene Luke … Kong winkte ihm vom Heck vertraulich zu …
Pasqual gähnte abermals … Donnerwetter – diese Müdigkeit …!! Das war merkwürdig … Der reine Gähnkrampf …!
Und – verdammt! – Vor seinen Augen verschwamm das Hafenbild so seltsam …! Alle Linien liefen durcheinander.
Ob etwa …
Und – er nahm die Zigarre aus dem Munde …
Prüfte mit der Zunge den Tabakgeschmack …
Oh – – da steckte irgend ein Teufelszeug drin …! Das war ja derselbe fade Beigeschmack wie Opium …
Oho!! Also so standen die Dinge … So!!
Pasqual tauchte unter den Lukenrand, befeuchtete die glimmende Zigarre mit Speichel und steckte die verderbliche Giftnudeln in die Tasche, trank einen Schluck kalten Tee aus der Flasche und setzte sich auf das Bänkchen neben dem Motor …
Überlegte … atmete tief, trank nochmals …
Die Erregung über Kongs Schufterei verscheuchte die Müdigkeit … –
Die ‚Labrador’ lief nach zehn Minuten in einen Bootshafen ein … Einsam und still war’s in diesem Bassin …
Kong hatte schon eine ganze Zeit von Pasqual nichts mehr zu sehen bekommen.
Er war zufrieden, lief jetzt vom Heck nach der Maschinenraumluke, sprang hinein und stellte den Motor ab …
Pasqual lag zusammengekrümmt am Boden …
Kong gab ihm einen derben Fußtritt …
Oretto stöhnte nur …
Der Chinese wollte rasch wieder ans Steuer … War schon halb zur Luke hinaus, als sich von hinten zwei Seemannshände, Handschuhnummer elf, um seinen dünnen Hühnerhals legten …
Kong zappelte, stieß mit den Beinen um sich … Da drückte der grimme Pasqual ihm die Schlagadern zu … Kong ward bewußtlos …
Die ‚Labrador’ prallte gegen eine Jacht, schrammte mit dem Bug an einem zweiten Boot entlang und lag dann still.
Oretto fesselte den gelben Schuft in aller Ruhe und stieg an Deck, sah sich um…
Auf einer Motorjacht erblickte er drei Männer in weißen Anzügen … Sie schienen auf die ‚Labrador’ aufmerksam geworden zu sein. Eine rief Pasqual an …
Der bat, der Master möge doch an Bord kommen.
Es geschah. Der junge Amerikaner ruderte im Beiboot zur Jacht herüber.
Pasqual hütete sich, die Wahrheit zu berichten. Das, was er erfand, gelang durchaus glaubwürdig. Außerdem machte Oretto auch auf jeden den Eindruck eines grundehrlichen Jan Maats.
Der Amerikaner verständigte seine Freunde und blieb auf der ‚Labrador’, bis diese am Bollwerk unterhalb der Brooklyn-Brücke lag.
Pasqual bedankte sich und erklärte, sein Herr würde die Sache schon der Polizei melden. Den schuftigen Chinesen würde er bis dahin als Gefangenen auf dem Boot behalten. Der junge Master zog denn auch ab, ohne weiter eine unangenehme Neugier zu zeigen.
Pasqual prüfte die Fesseln des Schlitzäugigen und schleppte ihn in einen Verschlag neben dem Maschinenraum. Der Kerl war bei Bewußtsein, und der biedere Hafentaucher konnte es sich nicht verkneifen, ihm eine gehörige Standpauke zu halten, die jedoch auf das Geldgesicht keinerlei Eindruck machte. Aber er nahm ihm auch die Zigarrentasche ab, in der sich noch vier fraglos gleichfalls präparierte Zigarren befanden.
Mittlerweile war es eine Stunde nach Mitternacht geworden. Pasqual saß wieder am Heck auf der vertieften Bank und hegte nun für Nielsens Personen die allerernstesten Besorgnisse, da der Steuermann ihm versprochen hatte, sofort Nachricht zu geben, wenn der Gipsy Maad gefunden habe oder – seine Rückkehr zum Boot sich allzu lange verzögern sollte.
Der alte Portugiese, durch das Erlebnis mit dem falschen Detektiv außerordentlich mißtrauisch geworden, gelangte nach einer weiteren Stunde zu der festen Überzeugung, daß Nielsen etwas zugestoßen sein müsse. Ihm war nun klar, daß die Ankunft der ‚Labrador’ hier in Neuyork beobachtet worden sein mußte, mithin auch die Abfahrt von Schloß Missamill. Man hatte Nielsen eben eine Falle gestellt, und dieser Anschlag mußte geglückt sein.
Um halb drei ereignete sich dann etwas Neues …
Zwei Polizisten kamen den Kai entlanggeschlendert, machten neben dem Motorboot halt und riefen Pasqual an …
„Hallo, Master … Hier ist keine Liegestelle für Boote … Sucht einen anderen Platz …“
Oretto wollte einem längeren Hin und Her mit den Beamten aus dem Wege gehen und erhob sich sofort …
„Ich erwarte nur meinen Herrn …“ erklärte er … „Ich werde im Strom kreuzen …“
Und er kletterte auf den Kai und löste die beiden Taue …
Doch die Beamten schienen plötzlich Verdacht geschöpft zu haben …
„Ihr habt doch Papier bei euch, Master?“ fragte der eine ziemlich barsch …
Pasqual, bereits wieder an Deck, erwiderte, er gehöre zu dem Dampfer ‚Sonora’, der draußen bei Liberty Island ankere. Papiere habe er nicht dabei …
Plötzlich sprangen die beiden Polizisten an Deck …
Da das Boot bereits losgemacht war, nahm die Strömung des East River es langsam mit fort …
Der Portugiese war lange genug zur See gefahren, um das Verhalten der Polizisten zum mindesten für ungewöhnlich und ungebräuchlich zu finden. Sein Argwohn lebte jäh auf. Im Nu hatte er die Hand wieder in der rechten Jackentasche … und brüllte den beiden Männern ein drohendes „Hände hoch!“ zu …
Die ganze Erscheinung des breitschultrigen Pasqual war durchaus dazu angetan, Leute mit nicht ganz sauberem Gewissen zu erschrecken …
Die Browning in seiner Faust hatte außerdem etwas noch Bezwingenderes an sich …
Die Uniformierten … gehorchten … Dieser Angriff war ihnen allzu unvermutet gekommen …
Und da sie sich außerdem jetzt vollkommen ruhig verhielten, wußte Oretto genau, was die Glocke hier geschlagen hatte …
Indem er fortwährend auf die beiden zielte, ließ er das Boot getrost weitertreiben …
Dann hatte der eine der Kerle doch die Sprache wiedergefunden … Er machte einen kläglichen Versuch, den Alten einzuschüchtern …
Pasqual lachte ihn aus…
Da rannte die ‚Labrador’ auch schon gegen einen Dampfer an, der jetzt nachts seine Ladung löschte … Von der Reling her brüllte jemand herab:
„Verflucht – bleibt mit eurem Kahn gefälligst …“
Mitten im Satz stoppte der Mann …
Deutsch hatte er gerufen … Deutsch fügte er hinzu:
„Alle Teufel – was geht denn dort auf dem Kutter vor …?!“
Eine Tauschlinge flog herab, legte sich um den Flaggenstock der ‚Labrador’ …
Und drei – vier deutsche Matrosen kletterten nun an einer Strickleiter zu Pasqual hinab …
Der klärte sie auf … Behauptete, die beiden Uniformierten seien Gauner – nichts weiter …
Ein amerikanischer Zollbeamter beugte sich oben über die Reling … Hörte zu … mischte sich ein …
Man brachte die angeblichen Policemen an Bord der ‚Bremensia’, und der Zollbeamte, der jeden Polizisten aus diesem Hafenbezirk kannte, erklärte, die Schufte trügen die Uniform zu Unrecht …
Pasqual warf derweil den Motor der ‚Labrador’ an, rannte zum Steuer und machte, daß er davonkam … Die leichten Morgennebel auf dem Hudson verschluckten es schnell … –
Oretto steuerte heimwärts – gen Missamill … Mit trübsten Gedanken hockte er am Steuer …
Erst als er den Hafen hinter sich hatte, als die langen Wogen des offenen Ozeans Schaumspritzter über das Deck fegten, lebte er wieder auf. Der Kampf mit der See war ihm in dieser Stimmung gerade recht.
Um halb sieben morgens tauchte halbrechts das Vorgebirge Missamill mit dem Schlosse auf. Der neue Tag war längst angebrochen.
Pasqual brachte die ‚Labrador’ geschickt zwischen die beiden Wellenbrecher vor dem unterirdischen Jachthafen, lief zum Maschinenraum, stellte den Motor ab und vertäute das Boot …
Oben vom Rande der Steilküste, wo zwischen Parkmauer und Abgang der schmale Weg sich hinzog, standen zwei Detektive, die zu den Parkpatrouillen gehörten. Oretto winkte sie herbei. Er hatte es eilig, gebot ihnen nur, daß sie auf den gefangenen Chinesen achtgeben sollten und begab sich ins Schloß, wo er zunächst Gottlieb Knorz weckte.
Er erzählte ihm seine Erlebnisse und rief dann telefonisch das Detektivinstitut Worg & Co. an, erkundigte sich nach Gerhard Nielsen …
Niemand wußte dort etwas neues von dem Steuermann.
Dies genügende Oretto. Nielsen war also wirklich ‚geschnappt’ worden!
Gottlieb Knorz ging Gaupenberg und Hartwich zu wecken, die jetzt nach der Entführung ihrer Frauen in ein gemeinsames Zimmer bezogen hatten. Pasqual erstattete dann nochmals Bericht.
Der Gefangene wurde mit verbundenen Augen ins Schloß gebracht. Auch Randercild, Doktor Falz und Fredy Dalaargen fanden sich in des Milliardärs Arbeitszimmer ein.
Der Chinese, ein Mensch von etwa dreißig Jahren, mit einem verschlagenen Fuchsgesicht, blieb allen Fragen und Drohungen gegenüber stumm.
Das nutzlose Verhör zog sich bis halb acht hin und sollte gerade abgebrochen werden, als Jacques Elvan, Randercilds Privatsekretär, Einlaß begehrte. Er war soeben von Neuyork zurückgekehrt, wo er den Sarg für den toten Hausmeister besorgt hatte.
Elvan, schlicht und frisch wie immer, begrüßte die Anwesenden und seinen Herrn und zog sich wieder zurück, da Randercild ihm bedeutete, daß er seiner jetzt nicht bedürfe.
Der Chinese wurde dann unten im Keller in ein sicheres Gelaß eingesperrt. Randercild war entschlossen, ihn hungern zu lassen, bis er sich zu einem Geständnis bequemte, in wessen Auftrag er gehandelt habe.
Die Herren begaben sich dann wieder in des Milliardärs Arbeitszimmer, das jetzt so häufig zu Beratungen ernster Art diente.
Die gedrückte Stimmung hatte durch Pasquals Bericht noch zugenommen. Selbst Dr. Falz war ratlos, wie es schien. Wenigstens beteiligte er sich mit keinem Wort an der lebhaften Aussprache über das, was man nunmehr unternehmen solle.
Randercild läutete nochmals das Detektivinstitut Worg & Co. an. Jetzt meldete sich der Chef Ephraim Pannacroft persönlich.
Und – wieder ein Unglücksbotschaft! Auch Gipsy Maad war verschwunden!
Der kleine Milliardär fragte ganz verstört:
„Sie glauben also, die Null hat Gipsy ebenfalls wegschnappen lassen?!“
„Ohne Zweifel,“ kam Pannacrofts Stimme zurück.
Randercild legte den Hörer zurück … schaute die Umsitzenden an …
„Gipsy Maad ist ebenfalls in der Gewalt der Null,“ sagte er tonlos …
Niemand rührte sich … Die Herren stierten wie niedergeschmettert vor sich …
Nur einer blickte durch die Fenster mit sinnendem Ernst auf das Meer hinaus … Erklärte plötzlich: „Ich werde nach Neuyork fahren …“
Der eine wahre Dagobert Falz, der Einsiedler von Sellenheim, der Geheimnisvolle …
Fügte hinzu: „Tom Booder mag mich begleiten … Wir nehmen das Motorboot. Booder ist Seemann … Fragt nichts, Freunde … Vertraut auf mich!“
Gaupenberg war aufgesprungen. Angst um sein geliebtes Weib flackerte in seinen Augen …
„Herr Doktor, – Sie kennen den Verräter, der hier im Schlosse Missamill weilt … Sie …“
Falz hatte ihm durch eine ruhige Handbewegung Schweigen geboten …
„Vertrauen Sie auf mich, lieber Graf …!“ meinte er herzlich. „Ich pflege stets erst dann einzugreifen, wenn die Dingen von der Gegenseite auf die Spitze getrieben werden … – Was ich weiß, werde ich in Neuyork verwerten …“
Eine solche Ruhe und Zuversicht lag in seinen Worten, daß Gaupenberg ihm nur schweigend die Hand drückte. –
Gerade als eine halbe Stunde darauf die ‚Labrador’ mit Dr. Falz, Tom Booder und dem lieblichen Tonerl an Bord, denn das Prinzeßchen wollte ihren Verlobten durchaus begleiten, Schloß Missamill verlassen wollte, hatte der Detektiv, den man vor des gefangenen Chinesen Kellergelaß als Wache postierte hatte, entdeckt, daß der Schlitzäugige sich an seinen Beinkleidträgern aufgeknüpft hatte – scheinbar …!
Der Detektiv war ein erfahrener Mann, dem nichts so leicht entging. Und der Selbstmord des Chinesen durch Erhängen war nur vorgetäuscht worden. Der Tote hatte im Genick eine kaum sichtbare Wunde – nur ein Pünktchen mit blaurotem Kranz …
Er war mit einem ganz dünnen Stilett erstochen worden. Und dieser neue Mord konnte nur in der kurzen Zeit verübt worden sein, nachdem man den Gefangenen in den Keller gebracht hatten und ging, den Detektiv zu holen, damit er die Wache übernähme.
Trotz dieses neuen unheimlichen Geschehnisses ging die ‚Labrador’ kurz darauf in See …
Doch über den Zurückbleibenden lag es wie eine schwere Lähmung … Man wagte kaum mehr laut zu sprechen … Das Gefühl steter Unsicherheit lastete wie ein Bann auf den Sphinxleuten. Sie merkten, daß sie hier jetzt gegen eine Macht kämpften, die ganz anders geartet war als die Feinde, von denen sie und der Azorenschatz bisher bedroht wurden … – gefährlicher als Mafalda, Lomatz und deren Anhang.
Herr Tschang Lu, Antiquitätenhändler im Neuyorker Chinesenviertel, Besitzer eines Grundstücks, das man mit Recht als das Muster einer Gaunerhöhle bezeichnen konnte, hatte den Befehlen des Sipa, des Mr. Null, gemäß die Fürstin Sarratow etwa um dieselbe Stunde, als das Motorboot mit den drei Sphinxleuten an Bord die Fahrt nach Neuyork antrat, aus ihrer Zelle mit verbundenen Augen in sein Haus gebracht und ihr hier sein Schlafzimmer für ihre Toilette überlassen.
Mafalda fand auf dem Bett ausgebreitet vier verschiedene Kostüme. Auf dem Diwan aber lagen allerlei andere Dinge, die sonst gewöhnlich nur in einer Schauspielergarderobe zu finden sind.
Nach einer Stunde klopfte Tschang Lu bescheiden an die Tür und fragte, ob die hochgeehrte Mistreß bereits fertig sei.
Mafalda öffnete…
Der hagere Tschang stierte sie wie einen Geist an.
Dann grinste er, dienerte und rief wie in hellem Entzücken:
„Oh – die hochgeehrte Fürstin ist in der Tat eine große Künstlerin …“
Mafalda beachtete des kriecherische Chinesen blumenreiche, endlose Lobhudeleien nicht weiter, warf einen letzten prüfenden Blick in den großen Schrankspiegel und sagte kühl:
„Steht das Auto bereit?“
„Sehr wohl… Draußen vor dem Hause … Das heißt – vor dem Hintereingang der Nebenstraße.“ –
Das Auto war ein sehr eleganter geschlossener Wagen. Vorn saßen ein Chauffeur und ein Diener, – beides Chinesen, in tadelloser Livree …
Der Kraftwagen verließ Neuyork und glitt durch saubere Vorstädte, durch Wälder und Felder, zuletzt an der Meeresküste entlang, auf tadellosen Straßen gen Missamill …
Vor dem Haupteingang des Parkes hielt das Auto.
Der Pförtner kam herbei und fragte die Dame in Trauer, die sich etwas zum Fenster hinausbeugte, nach ihrem Begehr.
Außer dem Pförtner waren noch zwei Detektive in der Nähe.
Die Dame in Trauer, eine Greisin mit welken, vornehmen Zügen, die durch den schwarzen Schleier hindurchschimmerten, erklärte mit zitteriger Stimme, sie wünsche den Grafen Gaupenberg zu sprechen. Ihr Name täte nichts zur Sache … Sie sei eine alte Bekannte des Grafen.
Der Pförtner, eingedenk seiner strengen Verhaltungsmaßregeln, erwiderte höflich, ein Graf Gaupenberg sei ihm unbekannt. Das Schloß gehöre Mr. Josua Randercild.
„Dann melden Sie mich Mr. Randercild in sehr dringender Angelegenheit,“ beschied ihn die Greisin.
Der Pförtner verbeugte sich, betrat sein Häuschen hinter dem Tore und meldete die Besucherin telefonisch im Schloß an.
Randercild, Gaupenberg, Hartwich, Dalaargen und Knorz saßen im Garten. Auf der Terrassentreppe hockte in der prallen Sonne der treue Homgori Murat und bemühte sich, mit einem Hundekamm sein zottiges Fell zu strähnen.
Als ein Diener die Meldung des Pförtners überbrachte und betonte, die alte vornehme Dame in Trauer habe zunächst den Herrn Grafen zu sprechen gewünscht, schauten dessen Weggefährten sich beunruhigt an. Ihre Anwesenheit hier hatte ja so lange wie möglich Geheimnis bleiben sollen.
Gaupenberg, der sofort ahnte, daß dieser Besuch irgendwie mit Agnes’ und Ellens Entführung zusammenhängen müsste, bat den Milliardär, der Dame in Trauer bis zur Parkpforte entgegengehen zu dürfen.
„Tun Sie, was Sie für richtig halten, lieber Graf,“ meinte der kleine Milliardär achselzuckend. „Es kann eine Spionin sein … Sie kann im Auftrage der Null handeln. Alles mögliche kann geschehen. Nach den bösen Erfahrungen, die wir in diesen Tagen gemacht haben, traue ich niemandem mehr.“
Gaupenberg erhob sich. „Ich nehme meinen Browning mit, Randercild … So leicht laß ich mich nicht überrumpeln …“
Er schritt davon …
Auch Murat hatte dieses Gespräch mit angehört – Murat, der treue Tiermensch, in dessen breiter Brust ein so dankbares tapferes Herz schlug …
Murat folgte Gaupenberg – allerdings auf einem für gewöhnliche Sterbliche ungangbaren Pfade! Durch die Baumwipfel! –
Mafalda, die Dame in Trauer, war ausgestiegen und vor dem Parktor langsam auf und abgegangen, ständig beobachtet von dem Pförtner und den beiden Detektiven …
Durch die Gittertür sah sie nun Gaupenberg ganz allein herankommen. Sie triumphierte … Sie freute sich über seine müde Haltung, seine schlaffen Bewegungen. Er schien um viele Jahre gealtert. Agnes’ Entführung hatte ihn offenbar bis ins Lebensmark getroffen …
Ein gebeugter Mann … – Und doch lebte im Herzen der Fürstin Sarratow jetzt urplötzlich alles das wieder auf, was sie für Viktor Gaupenberg einst empfunden hatte.
Mit schmerzlicher Gewißheit fühlte sie, daß Graf Viktor trotz allem der eine bleiben würde, den sie wahrhaftig geliebt hatte – – und noch liebte. –
Gaupenberg sagte leise zu dem Pförtner: „Bitten Sie die Dame in den Park …“
Er erkannte Mafalda nicht.
Selbst als sie dann dicht vor ihm stand, als die alte brüchige Greisinnenstimme fragte: „Graf Gaupenberg, nicht wahr?“ – verbeugte er sich wie vor einer Fremden …
„Gaupenberg …“ stellte er sich vor … Und wartete, daß die Verschleierte nun ihren Namen nennen würde.
Sie sagte nur: „Wenn es Ihnen recht ist, Herr Graf, biegen wir dort in jenen Parkweg ein …“
Sie sprach deutsch – mit ganz geringem fremdländischen Akzent …
„Verzeihung, gnädige Frau …“ meinte Gaupenberg weltmännisch … „Ich möchte Sie erst bitten, mir zu erklären, wer Sie sind und wie Sie meinen Aufenthalt hier erfahren haben …“
„Ich könnte Sie belügen, Herr Graf … Ich bin … die Besitzerin des … des vornehmsten Bordells in Neuyork …“
Sie sagte es mit einer gewissen schmerzlichen Resignation …
„Ich habe einst bessere Tage gesehen,“ fügte sie wie in trübem Sinnen hinzu … „Mein wahrer Name würde Sie an Ihre deutsche Heimat erinnern … Hier nenne ich mich Borrison … Meine Gäste nennen mich Tante Borrison … Ich bin keine von jenen Sklavenhalterinnen, die ihre Mädchen schlecht behandeln … Nein, ich bin wie eine Mutter zu den armen gesunkenen Geschöpfen …“
Gaupenberg war über diese Angaben im ersten Moment völlig benommen …
Eine Bordellinhaberin?! Hier bei ihm?! Was wollte sie …?!
Eine Art Beklemmung preßte plötzlich sein rascher schlagendes Herz zusammen …
„Bitte – treten wir in den Schatten …“ sagte er rauh und deutete auf den Parkweg linker Hand …
Sie schritten weiter …
Die Kühle der hohen Bäume und wispernden Blätter umfing sie …
Frau Borrison sprach unvermittelt:
„Es liegt in der ganzen Art meines … Gewerbes, daß ich Beziehungen zu allerlei Leuten unterhalte, und daß mir meine zwanzig Pensionärinnen allerlei zutragen, was sie von ihren Liebhabern hören … Gestern Vormittag wußte ich, daß die in den Zeitungen so oft erwähnte Sphinx hier in Missamill gelandet ist. Gestern mittag kam dann ein Agent zu mir, den ich zum ersten Male sah. Er bot mir zwei neue Pensionärinnen an. Seine ganze Art, wie er sich über diese Dame äußerte, fiel mir auf …“
Gaupenberg war mit einer ruckartigen Bewegung stehen geblieben …
Sein blasses, bekümmertes Gesicht war noch fahler geworden …
„Und … und …?“ presste er mühsam hervor … „Reden Sie doch weiter, Frau Borrison …!“
„Ich wies den Mann ab … Er kam mir allzu anrüchig vor, Herr Graf,“ erklärte Frau Borrison bedächtig. „Nachmittag hörte ich von einem der Mädchen, daß hier aus dem Schlosse zwei junge schöne Frauen geraubt sein sollen … – Ihre Gattin und die Ihres Freundes Hartwich. Unwillkürlich dachte ich da an den Agenten, der so geheimnisvoll über sein Angebot mit mir verhandelt hatte. Diese Gedanken ließen mir keine Ruhe. Deshalb bin ich hierher gekommen, Herr Graf … – Ich will sie nicht ängstigen. Ich kann mich täuschen. Es mag sich um andere weibliche Personen handeln. Aber …“
„Nun – – aber …?!“ – Und Gaupenberg stierte die Greisin fragend an …
„… aber … der mir leider völlig fremde Agent, der sich Myers nannte und natürlich niemals so heißt, verlangte von mir, falls ich die beiden Pensionärinnen aufnehmen wollte, daß ich sie strengstens von den anderen trennen müßte und … – Nun, kurz, sie sollten bei mir wie Gefangene leben! Und derartiges tut Tante Borrison nicht, Herr Graf. – Mehr kann ich Ihnen nicht angeben. Höchstens noch, daß Myers ein Mann mit dunkelblondem Vollbart und bucklig war …“
Gaupenbergs Herz flatterte Entsetzen …
„Ich … ich danke Ihnen, Frau Borrison,“ stieß er klanglos hervor … „Ich danke Ihnen herzlich … – Oh – bitte besinnen Sie sich in meinem Interesse auf jede Einzelheit dieses Besuches des Agenten … Ich will Ihnen anvertrauen, daß Hartwichs und meine Frau sich in der Gewalt jenes Verbrechers befinden, den die Neuyorker Polizei nur unter dem Namen ‚die Null’ kennt … Dieser Schurke …“
Frau Borrison fiel ihm hastig ins Wort …
„Ah – – die Null …!! Jetzt fällt mir ein, Myers sprach von einem Freunde namens Sipa … Und Sipa ist die chinesische Bezeichnung für Null. Dieser Sipa habe die Mädchen in Verwahrung … Ja, so sagte er …“
Gaupenbergs Lippen zuckten …
„Und – und mehr können Sie mir nicht mitteilen, Frau Borrison?“
„Leider nein … Nur – Myers war bucklig …“
„Das sagten Sie schon …“
„So?! – – Ja – die Jahre, die Jahre!! Mein Gedächtnis wird schwach … – Ich bitte Sie noch, Herr Graf, mir nicht etwa die Geheimpolizei ins Haus zu schicken … Ich könnte wirklich nichts mehr angeben.“
„Keine Sorge, Frau Borrison … Ich danke Ihnen nochmals … Ich …“
Gaupenberg fuhr sich mit der Hand über die schweißfeuchte Stirn. Er wußte kaum mehr, was er redete …
Schweigend geleitete er die Greisin zum Parktor zurück – bis an das Auto, drückte ihr die Hand und schaute dem Kraftwagen fast blöde nach … –
Als er die Terrasse wieder betrat, fand er alle im engen Kreise um Pasqual Oretto herum. Der hatte vor wenigen Minuten sein Zimmer verlassen und auf dem Weg an Gaupenbergs Zimmer vorüber auf dessen Türschwelle einen Zettel gefunden. Lila Maschinenschrift …
Wie all die Mitteilungen der Null …
Gaupenberg sah verstörte Gesichter …
Hartwich kam ihm entgegen …
Fahl – zitternd …
„Viktor, die Null hat sich abermals gemeldet …“
Gaupenberg nahm aus Randercilds Hand den verhängnisvollen Wisch … Las:
„An den Grafen Gaupenberg und die Sphinxleute!
Drei Tage Bedenkzeit. Dann tue ich, was schlimmer als der Tod wäre für die, die in meiner Gewalt sich befinden.
Ich verlange von dem Azorenschatz zwei Milliarden. Falls am dritten Tage nicht am Flaggenmast des Schlosses eine weiße Fahne weht, handele ich! –
die Null“
Gaupenberg sank in den nächsten Rohrsessel …
„Randercild,“ rief er heiser, „Randercild, gibt es in Neuyork ein vornehmes Bordell, das einer Frau Borrison gehört?“
„Allerdings – – Tante Borrison …! Aber kein Bordell, nein, die Bezeichnung paßt nicht … Es ist ein Haus, in dem es in den Gesellschaftsräumen hergeht wie in einem Salon der besten Kreise … Trotzdem …“
„Diese Frau Borrison war bei mir, war die Besucherin,“ sagte der Graf matt und trostlos …
Und dann erzählte er …
Um ihn herum ein unheimliches Schweigen …
Hartwichs Augen, sonst blaugrau wie die Gerhard Nielsens, waren dunkel vor Schmerz und Grimm.
Auch Mr. Elvan, der Privatsekretär, war anwesend … Niemand dachte in dieser erregten Stimmung daran, daß man ihn als den Dingen ferner Stehenden nicht in alles eingeweiht hatte. Er hielt sich wie stets bescheiden zurück, lehnte an der Terrassenbrüstung und rauchte in langsamen Zügen mit der Gelassenheit eines klugen, diskreten Menschen seine sandfarbene Zigarre
Zum Glück war keine der Damen in der Nähe. Mela Falz, die schwarze Yvonne und die zarte Ninon befanden sich im Park. Toni Dalaargen war mit Dr. Falz und ihrem Verlobten Tom Booder nach Neuyork unterwegs, und die übrigen weiblichen Mitglieder der Sphinxbesatzung hatte ‚die Null’ gekapert … –
Gaupenberg meinte jetzt in seiner verzweifelten Stimmung:
„Es ist mir unmöglich, die Dinge weiter so treiben zu lassen … Wir haben einsehen müssen, daß wir diesem Verbrecher gegenüber machtlos sind … Ich hege sogar die ernstesten Befürchtungen für unsere drei Freunde, die jetzt mit der ‚Labrador’ nach Neuyork fahren. Ebenso wenig wie wir haben die Detektive des Instituts Worg ausgerichtet. Ich bin entschieden dafür, daß man nunmehr die Geheimpolizei verständigt.“
Hartwich rief ungestüm: „Ganz meine Meinung!! So geht’s nicht weiter! Wir erleiden Schlappe auf Schlappe! Gipsy Maad ist verschwunden, Nielsen ist verschwunden …! Wie soll das enden?!“
Gottlieb Knorz nickte gleichfalls und meinte:
„Wir hätten uns sofort an die offizielle Polizei wenden sollen … Wir haben nur Zeit verloren …“
Da meldete sich Jaques Elvan – ohne jede Aufdringlichkeit:
„Die Herren entschuldigen meine Einmischung … Immerhin kenne ich die hiesigen Verhältnisse als geborener Neuyorker so genau, daß ich Ihnen nur raten könnte, unsere anerkannt tüchtige Geheimpolizei in Anspruch zu nehmen …“
Randercild sagte leicht ironisch:
„Ja – diese Geheimpolizei, die seit Monaten dem Mr. Null ohne Erfolg nachspürt!“
Nur Pasqual Oretto meinte jetzt: „Ich warne vor diesem Schritt! Der Schurke, der uns den Krieg erklärt hat, würde sich sofort rächen … Im Interesse unserer Freunde, die seine Gefangenen sind, muß ich eine solche Maßregel verwerfen.“
Ratlos schaut Gaupenberg von einem zum andern.
Wieder meldete sich Jaques Elvan …
„Freilich – an diese Gefahr für die Gefangenen habe ich nicht gedacht. Der Besuch Frau Borrisons und das, was sie Ihnen, Mr. Gaupenberg, mitgeteilt hat, erinnert mich an das traurige Schicksal der beiden Schwestern Godfroy, die vor zwei Monaten in Neuyork verschwanden und vor vierzehn Tagen durch einen Zufall in einem Bordell in San Franzisko aufgefunden wurden … Auch bei dieser Verschleppung zweier Mädchen soll ein Buckliger, den Zeitungsberichten nach, eine Rolle gespielt haben …“
Er verbeugte sich vor dem Milliardär …
„Im übrigen haben Sie ganz recht, Mr. Randercild, die Polizei hat diesmal versagt … Vollkommen …! Meine Befürwortung des Vorschlages Mr. Gaupenbergs war gut gemeint …“
Stille folgte …
Die beklemmende Stille vollkommener Hilflosigkeit.
Bis Fredy Dalaargen herausplatzte:
„Es muß doch aber etwas geschehen …!“
Der Privatsekretär erklärte bedächtig:
„Abwarten scheint mir das Ratsamste zu sein … Abwarten, bis der Verbrecher, wenn er hier die weiße Fahne wehen sieht, sich irgend eine Blöße gibt … Gerade bei den Verhandlungen, die er doch hinsichtlich der Übergabe der von ihm verlangten Milliarden einleiten muß, wird er fraglos mehr aus sich heraustreten. Außerdem ist es doch immerhin möglich, daß Mr. Falz etwas in Neuyork ausrichtet.“
Die Umstehenden schwiegen bedrückt. Alle empfanden die Untätigkeit als eine harte Nervenprobe – härter als eine Sturmflut von persönlichen Gefahren …
Der treue Gottlieb seufzte vernehmlich …
„Es ist zum Verrücktwerden!“ murmelte er …
„Es ist schlimmer als das Fegefeuer!“ rief Georg Hartwich. „Unsere Frauen als Bordellware, – – das ertrage ich nicht …!!“
Und – in diesem Augenblick, wo die vier Versammelten finster vor sich hinstarrten, erschienen in der offenen Flügeltür der Terrasse … Tom Booder und Toni Dalaargen …
Beide in einer seelischen Verfassung, die durchaus der ihrer Freunde entsprach …
Alle schauten die beiden an … als würden sie ahnen, daß irgend etwas Neues geschehen …
Und nichts Gutes …
Tom Booder blieb jetzt stehen, holte tief Atem …
„Wir … wir sind ohne Dr. Falz zurückgekehrt,“ sagte er mit rauher Stimme … „Ein großer, mit Chinesen bemannter Motorkutter begegnete uns … Wir mußten stoppen … Zehn Kerle zielten auf uns … Dr. Falz nahmen sie mit …“
Georg Hartwich stieß einen Seemannsfluch aus, der für Tonerls zarte Ohren keineswegs geeignet war.
Toni Dalaargen begann zu weinen – fassungslos … – Ihre Nerven streikten …
Tom Booder führte sie rasch in ihr Zimmer nach oben …
Die Zurückbleibenden wagten einander kaum anzusehen …
Das Gefühl der Hilflosigkeit wuchs ins Unermeßliche.
Steuermann Hartwich hatte die Fäuste geballt … Seine Stirn lag in dicken Falten …
Dann sagte Gaupenberg tonlos:
„Nun ist auch der Doktor uns genommen … Gerade er, der den Verräter kannte, der hier für den großen Verbrecher tätig ist …“
Jaques Elvan hob erstaunt den Kopf …
Meinte zögernd: „Verzeihung, Mr. Gaupenberg … Und … der Hausmeister Roussell? Ist denn Roussell nicht dieser Verräter gewesen?“
„Nein, zum Teufel …!“ platzte Randercild heraus. „Wir haben hier nur so getan, als ob wir ihn für schuldig hielten, Elvan! Von Selbstmord keine Rede!“
Elvan machte ein unglaublich verblüfftes Gesicht …
„Es ist schon so!“ nickte Josua Randercild …
„Mein alter Roussell soll aber gerächt werden, und wenn ich all mein Geld dafür hergeben sollte …!!“
Der Privatsekretär konnte sich noch immer nicht von seinem Erstaunen erholen.
„Ja – aber wenn Roussell unschuldig war, dann … dann befindet sich der Spion noch immer im Schlosse …!“ meinte er halb ungläubig. „Dann müßte man doch …“
Randercild polterte dazwischen …
„… Müßte – – müßte …!! – Lieber Elvan, den guten Willen, den Schuft zu entlarven, haben wir alle … Aber mit dem guten Willen allein ist hier verdammt wenig getan, wie auch Ihnen nun wohl klar sein dürfte … Mr. Null triumphiert auf der ganzen Linie, und wir sind die Besiegten…“
„Vorläufig!“ rief Gaupenberg. „Ich habe mir’s überlegt … Mr. Elvan hat recht! Diese Verbrecher werden schon irgend eine Dummheit begehen, wenn sie den Erpresserlohn in Empfang nehmen wollen … Ich werde mich gedulden. Ich will lediglich Mr. Pannacroft, den Chef des Detektivinstituts anrufen und ihn bitten, in aller Stille seine Nachforschungen fortzusetzen … Eine halbe Million zahle ich dem, der mir Nachricht über den Verbleib der Unsrigen bringt …“
Auch Hartwich stimmte dem zu.
So war denn ein Entschluß gefaßt worden, der vielleicht den ganzen Umständen nach wirklich als der einzig richtige erschien … –
Randercild zog sich mit Elvan in sein Arbeitszimmer zurück, um die Frühpost zu erledigen. Einige wichtige Schreiben verlangten persönliche Erledigung durch den Privatsekretär, der denn auch mit seinem Auto gegen zehn Uhr vormittags nach Neuyork jagte.
Die Herren der Sphinxbesatzung hatten sich inzwischen mit Ausnahme Tom Booders, der seiner Braut auf dem Balkon ihres Zimmers Gesellschaft leistete, in den Park begeben und saßen nun in einer der großen schattigen Taxuslauben mit Mela Falz und den beiden Gouadeloupe-Sennoritas zusammen in bequemen Gartenstühlen.
Auch die jungen Mädchen waren in alles eingeweiht worden.
Mela Falz hatte die Unglückskunde von der Gefangennahme ihres Vaters mit größter Fassung angehört. Fredy Dalaargen, ihr Verlobter, hatte dabei zärtlich ihre Hände in die seinen genommen, um Mela in diesem Augenblick recht innig seine Liebe und mitfühlende Sorge zu beweisen.
Die rotblonde Tochter des Einsiedlers von Sellenheim hatte dann jedoch mit bewundernswerter Ruhe erklärt:
„Um meines Vaters Leben brauchen wir uns nicht zu ängstigen. Wir alle wissen, daß er genau wie Freund Pasqual Oretto dem Tode entgehen muß, mag dieser sich ihm auch in noch so bedrohlicher Gestalt nahen. So beklagenswert dieses Ereignis also insofern ist, als mein Vater den Spion des Neuyorker Verbrechers fraglos durchschaut und erkannt hatte, seinetwegen wollen wir unsere trübe Stimmung nicht noch vergrößern …“
In diesem Taxusrondell war man vor Lauschern sicher. In der Mitte erhob sich eine Eiche, deren Zweige künstlich wagerecht gezogen waren und angenehm Schatten spendeten. Es war ein prächtiger Baum mit dunklem, fast blaugrünem Blätterdach. Aus seiner kanadischen Heimat hatte man ihn hierher an die Meeresküste verpflanzt, und die Seeluft war dem Fremdling tadellos bekommen.
Die Gespräche der Männer flossen müde und schleppend dahin. Niemand wußte so recht ein Thema zu wählen, das dem allgemeinen seelischen Zustand sich anpaßte. Unwillkürlich kehrten die Gedanken aller doch stets wieder zu der Frage zurück, die wie ein Verhängnis über dem Zauberschlosse Missamill schwebte: Wer ist der Spion der Null? Wer hat Albert Roussell ermordet? Wer hat den gefangenen Chinesen erstochen und dann aufgeknüpft, um einen Selbstmord vorzutäuschen? –
Plötzlich dann in der Krone der Eiche ein stärkeres Rauschen der Blätter – ein Schütteln der Zweige, – – und mit einem Male erschien in dem grünen Blätterdach Murat, der Homgori …
Geschickt rutschte er jetzt am Stamm hinab…
Blickte die hier Versammelten nacheinander an und schritt auf Gaupenberg zu, hockte sich neben dessen Gartenstuhl nieder und sagte in tiefen Kehllauten und in seinem holprigen Englisch:
„Gut zuhören, Master Gaupenberg, was Murat sprechen … Murat in Baumkronen war … Schwarze Frau, die kam mit Auto, gesehen hat … Dann dort sein, wo mit Frau sprachen – oben in Ästen von dicker Baum … Gute Nase Murat haben … Riechen, wenn jemand kennen, ob wirklich sein … Schwarze Frau nach Geruch Mafalda gewesen …“ Und sein halb menschliches, halb gorillaähnliches Gesicht verzog sich zu einer Grimasse unerbittlichen Hasses …
Dann wiederholte er noch lauter:
„Schwarze Frau war Mafalda … Genau Geruch von Mafalda … Murat nie sich irren … Jede Mensch riechen anders …“
Alles starrte den Homgori an …
Gaupenberg hatte sich zu dem Tiermenschen hinabgebeugt …
Er schien nachzudenken …
Dann rief er mit verzerrter Stimme:
„Murat hat recht … Ich bin blind gewesen … Jetzt weiß ich’s gewiß – es war Mafalda Sarratow …!!“
Totenstille …
Dann Hartwich – unnatürlich ruhig:
„Ich werde Frau Borrison anrufen … Das erspart uns lange Erörterungen … Das klärt alle Zweifel.“
Er schritt eilends davon.
Fünf Minuten später wußte man, daß ‚Tante Borrison’ heute früh niemals Neuyork verlassen gehabt hatte …
Gaupenberg meinte mit finsteren Augen:
„Nun sind wir also im Bilde …! Mafalda und Lomatz haben sich mit der Null zusammengetan … Mafalda war als Dame in Trauer hier, um uns durch die fein erfundene Geschichte von den neuen Pensionärinnen, die ihr angeboten worden seien, zu schrecken … Wir sollten von vornherein gefügig gemacht werden …“
Und Pasqual Oretto, der nie ein Wort zu viel sprach, nickte und sagte:
„Ja – eine versteckte Drohung war’s … Ein Satansstreich …! Doch wir werden diese Entdeckung ganz für uns behalten … Wir sind hier, Yvonne und Ninon eingerechnet, unter uns – nur die Sphinxleute …! Es soll kein Mißtrauen gegen Randercild bedeuten, wenn wir auch ihm verschweigen, was jetzt eine schwere Last von uns nimmt … Die Null wollte uns nur einschüchtern … Die Null hat die erste Niederlage erlitten. Dieser Streich ist mißglückt! Wir können dem Kommenden mit größerer Ruhe entgegensehen … Wir werden übermorgen die weiße Flagge hissen … Und dann wird die Null sich eine zweite Blöße geben …“
Der kleine spindeldürre Mr. Ephraim Pannacroft, Chef des Detektivinstituts Worg & Co., saß um dieselbe Zeit in seinem Privatbüro am riesigen Diplomatenschreibtisch und hörte den Bericht eines seiner Leute an, die mit der Überwachung der Teestube des Chinesen Sung Lo Schen betraut worden waren.
Der Detektiv fuhr jetzt nach kurzer Pause fort:
„Wir haben ferner ermittelt, daß eine Anzahl der Bewohner des Chinesenviertels in aller Heimlichkeit seine Grundstücke verkauft … Zu diesen Leuten gehört auch jener Tschang Lu, der Raritätenhändler, den wir schon lange im Verdacht haben, Hehlergeschäfte zu betreiben. Vier von uns haben sich als angeblich desertierte Matrosen jetzt bei Sung Lo Schen eingemietet … Auch Jolling und Bret Caag sind mit darunter. Jolling ist auf diesen Gedanken gekommen. Der Teestubenbesitzer hält sie im Stalle verborgen. Damit wir anderen uns mit ihnen verständigen können, haben wir verabredet, daß Jolling Brotkügelchen, in denen sich dünne Röllchen beschriebenen Seitenpapiers befinden, aus dem Stallfenster über die Hofmauer wirft, wo ein anderer von uns als Bettler verkleidet, als halb gelähmter Neger, den Tag über am Straßenrand hockt und so jederzeit die Papierkügelchen auflesen kann. Bisher ist jedoch keine solche Nachricht über die Mauer gelangt …“
„Bravo!“ rief Pannacroft begeistert. „Boys, das habt ihr tadellos gemacht … – Hallo … Das Telefon …“
Er nahm den Hörer in die Hand …
„Hier Worg & Co., ja … – Ach, Mr. Gaupenberg … Etwas Neues …? – So – die Fürstin im Bunde mit der Null …? – – Als Tante Borrison war sie bei Ihnen? – – Unerhört …!! – – Keine Sorge, Mr. Gaupenberg … Ich kann Sie beruhigen … Wir haben eine Fährte gefunden … Mehr sage ich vorläufig nicht … Ob es noch dazu kommt, daß Sie die Flagge hissen werden, ist sehr fraglich, Mr. Gaupenberg. Unternehmen Sie jedenfalls nichts weiter. Die Gefangennahme des Mr. Falz ist uns sogar sehr wertvoll … – Schluß … Habe es eilig …“
Pannacroft wandte sich an den Detektiv …
„Tobin, der Grab meldet mir, daß vor anderthalb Stunden Dr. Falz auf See von einem mit Chinesen bemannten Motorkutter geschnappt worden ist … Jetzt haltet vor der Teestube gut die Augen auf, ob in den nächsten Stunden dort nicht eine große Kiste oder dergleichen abgeladen wird …“
„Soll geschehen … – Ich gehe dann, Mr. Pannacroft.“
Und Detektiv Tobin, der als Straßenhändler verkleidet war, machte sich schleunigst auf den Weg zum Chinesenviertel.
Um halb zwölf beobachtete der inzwischen genau instruierte Bettler, daß tatsächlich eine mächtige Kiste von einem Lastauto durch vier Chinesen gebracht, aber in das des Händlers Tschang Lu getragen wurde.
Der Bettler gab einem Arbeiter, der eine Straßenlaterne in Ordnung brachte, ein Zeichen …
Der kam heran und schenkte dem Bettler die Hälfte seines Frühstücksbrotes …
Um drei Viertel zwölf wußte Pannacroft, daß Dr. Falz fraglos irgendwo in Tschang Lus Hause steckte …
„Das Netz wird dichter,“ schmunzelte er… „Heute Nacht packen wir zu … Ich werde mich nachmittags mit der Polizei in Verbindung setzen … Es wird ein Treiben auf gelbe Hasen werden, wie es …“
Rr…r…r…r…r…r… – schrillte das Telephon …
„Hier Worg & Co.,“ rief Pannacroft in die Muschel.
„Hier Mr. Null … – Falls Sie nicht sofort Ihre Leute aus der bewußten Straße abrufen, werden sowohl die beiden Frauen als auch Gipsy Maad nach China für ein Bordell eingeschifft …!“
Pannacroft grinste …
Dieses Grinsen konnte Mr. Null ja nicht sehen …
Pannacroft spielte den Ängstlichen …
„Sie irren … Wir haben keine Leute in irgendeiner Straße … Wir haben von Mr. Gaupenberg soeben die ausdrückliche Order erhalten, nichts zu unternehmen, was …“
„Ich warne Sie!!“ rief die heisere Stimme nur noch, und dann blieb es still …
Pannacroft lachte …
„Dummkopf …!! Deine Intelligenz beginnt zu versagen …!!“ Und er machte sich zum Ausgehen fertig …
Auf seine Art …
Wurde zum schlichten Austräger einer Delikatessenhandlung …
So verließ er das Haus, trug seinen Korb mit der grellbunten Firmenaufschrift, der bis oben mit Attrappen gefüllt war und doch allerlei Kleinigkeiten enthielt, durch stille Nebenstraßen bis zu dem Hotel fünften Ranges, in dem der fromme Reverend nachts verschwunden war – jener fahle Mann in der Tracht der Geistlichen, von dem Pannacroft mit voller Bestimmtheit annahm, daß es Mr. Null, der berüchtigte Unbekannte sei.
Pannacroft erkundigte sich im Hotel lediglich nach der Wohnung des Nachtportiers. Und wieder eine Viertelstunde später saß er in einer Gasse am Hafen in einem uralten Häuschen diesem Manne gegenüber, den schon der Mulatte, einer seiner Angestellten, ausgeforscht hatte.
Fünfzig Dollar öffneten des Portiers Hirn und Mund und ließen ihn durch Handschlag Verschwiegenheit versprechen.
Pannacroft forschte nach den allergeringsten Einzelheiten, was den Reverend Mr. Golding betraf, – so hatte sich der Leichenhafte stets im Hotel genannt.
Das Gedächtnis des Mannes, der nachts die Gäste und die kurzfristigen Liebespärchen in das Absteigequartier einließ, war durch das Geld merkwürdig geschärft worden.
„Mr. Pannacroft,“ sagte er mit schlauem Lächeln, „dieser fromme Mann ist mir seit langem ein wandelndes Kreuzworträtsel. Ich löse sehr gern Rätsel. Ich habe, wenn ich gerade ein paar Minuten Zeit hatte, durch ein von mir in die Tür von Nr. 11 gebohrtes Löchlein den Menschen häufiger beobachtet. Und jedes Mal hat er sich maskiert, hat sich einen Spitzbart vorgelegt, eine Perücke aufgesetzt, sich geschminkt und seinen Rock, der von beiden Seiten zu tragen ist, umgedreht. Das Schlaueste aber – er hat eine Gummikugel bei sich, die er aufbläst und die einen Buckel vortäuscht …“
„Oh – sehr fein!“ stieß Ephraim Pannacroft hervor …
„Noch feiner ist die Fixigkeit, mit der er all das erledigt … Verblüffend! Drei – vier Minuten, und ein ganz anderer Mensch steht im Zimmer, der dann durch das Fenster auf das Garagendach klettert und verduftet … Vorher zerwühlte er noch das Bett und wäscht sich die Hände, damit das Zimmer benutzt aussieht …“
„So ein Kerl …!! – Noch was?!“
„Ich denke, das ist schon übergenug, Mr. Pannacroft …!“
Und der Detektivchef legte nun nochmals fünfzig Dollar zu den vorigen …
„Hören Sie genau hin … Wenn dieser Golding wieder bei ihnen erscheint, dann benachrichtigen Sie sofort einen Gast, der heute als Mr. Smith bei Ihnen im Hotel Wohnung nehmen und sich mit Ihnen in Verbindung setzen wird …“
„Soll geschehen … Ich danke vielmals für das Geld … Man kann es brauchen, Mr. Pannacroft …“
„Sie erhalten nochmals hundert Dollar, wenn wir den Kerl im Hotel erwischen. – Good bye …“
Pannacroft schleppte seinen Austrägerkorb weiter durch Straßen und Parkanlagen, bis zum Chinesenviertel … bis zu der bewußten Straße, wo die gelbe Brut ihre dunklen Geschäfte abwickelte …
Der alte Negerbettler hocken noch am Straßenrand … Ein Arbeiter reparierte eine Laterne, hämmerte, auf einer Leiter stehend, daran herum und schien sich um nichts anderes zu kümmern.
Der Austräger der Delikatessenhandlung stellte seinen Korb auf den Bürgersteig, ruhte aus und rauchte eine Zigarette an … Gab dem Bettler eine kleine Münze … Und nahm aus dessen Hand mit Taschenspielerfertigkeit ein Papierkügelchen …
Nach einer Weile schlurfte er davon …
Das Kügelchen strich er in einem Speisehaus glatt, wo er sich einen Imbiß leistete … Es war eine Nachricht Jollings, die aus dem Stallgebäude der Teestube über die Mauer geworfen worden war.
Sie lautete kurz und vielsagend:
Händler Tschang Lu war bei Sung Lo Schen … Kam aus Waschküche neben Stall … In Waschküche gewaltiger Herd mit großem scheinbar eingemauerten Kupferkessel. Kessel läßt sich herausheben. Darunter Schacht mit Leiter – fraglos Verbindungsweg zu Tschang Lu. –
Jolling
Ephraim Pannacroft lächelte sehr zufrieden.
Er kehrte in sein Büro zurück und veränderte sich rasch, rief dann durch den Hausapparat einen seiner Leute herbei und schickte ihn nach dem Absteigehotel im Chinesenviertel.
Dann gab es anderer Arbeit für ihn. Klienten kamen und gingen. Aufträge wurden notiert und die Erledigung eingeleitet.
Mittags ein Uhr meldete der Mann, der die Laterne ausgebessert hatte, daß ein Europäer – blondbärtig, bucklig – den Laden Tschang Lus betreten habe, aber sofort in die Privaträume weitergegangen sei.
Mittags zwei Uhr meldete der Bettler, daß ein Europäer, blondbärtige, bucklig, die Teestube verlassen habe, – derselbe, der Tschang Lu besucht hatte. Ein anderer Agent von Worg & Co. war dem Buckligen gefolgt, der ihm jedoch dann im Menschengewühl des Warenhauses Palperson entschlüpfte.
‚Schade …!’ dachte Ephraim Pannacroft. ‚Mir wäre er nicht entwischt …’
Und er überlegte nochmals mit aller Gründlichkeit, ob es wirklich ratsam sei, heute schon den Plan zu verwirklichen, den er vormittags beschlossen hatte. Nein – er stieß den vorigen Entschluß um und erteilte andere Befehle …
Die bewußte Straße im Chinesenviertel und die Rückfronten der betreffenden Grundstücke wurden noch enger eingekreist. Zwanzig Leute in den verschiedensten Verkleidungen bildeten ab drei Uhr nachmittags eine unauffällige Kette um die Fuchsbaue der Schlitzäugigen. – –
In einem Holzverschlag des Stalles der Teestube saßen auf leeren Kisten vier ältere Matrosen – echte Jan Maate, zwei rothaarige Iren darunter, alle tiefbraun mit blauroten Whiskynasen …
Vier, die nie Matrosen gewesen … die aber alles waren, was sie sein wollten … Vier der besten der Firma Worg & Co …
Zum Totschlagen der Zeit würfelten sie … Rauchten kurze Pfeifen mit zerbissenen Mundstücken …
Ein verstaubtes Fensterchen spendete vom Hofraum her Licht …
Sung Lo Schen kam und brachte ihnen Mittag … Alles in einen Henkelkorb verpackt … Reis mit Hamelrippen, Früchte und Eislimonade …
Verächtlich wiesen die vier das Getränk zurück …
„Besorge Whisky, Sohn des Himmels,“ meinte Jolling mit heiserem Baß. „Besorge eine ganze Flasche … Wir zahlen …“
Sung Lo Schen hatte vorhin mit Mr. Gordon, dem Vertrauten des Sipa, eine Unterredung gehabt … mit Gordon, dem Buckligen …
Mr. Gordon war ärgerlich gewesen, weil Sung Lo Schen fraglos vier Spione aufgenommen hatte. Er gab ihm Verhaltungsmaßregeln, die hier nun zur Folge hatten, daß der Gelbe erklärte, er würde seinen ‚Gästen’ eine Flasche Whisky für fünfzig Dollar überlassen.
Das war im Lande des Alkoholverbots ein so unerhört billiger Preis, daß Jolling sofort Unrat witterte.
Als Sung dann mit der Flasche erschien, schenkte Jolling die Gläser voll und reichte eins dem biederen Teestubenbesitzer …
Der trank auch, eilte dann aber auffallend schnell hinweg …
„Er wird das Zeug wieder von sich geben,“ grinste Tom Jolling und goß den Inhalt der Flasche in einen Eimer mit Blechdeckel, der in einer Ecke duftete …
„Was nun?“ fragte der kleine Bret Caag. „Man beargwöhnt uns … Man hat uns betäuben wollen … Unsere Anwesenheit hier ist zwecklos geworden …“
Jolling nickte mißmutig …
„Wir müssen einen plausiblen Grund zum Verduften finden … In einer Viertelstunde werden wir die Betrunkenen spielen, in die Teestube gehen und Radau machen – auch Scherben …! Ihr versteht! Mag Sung nur die Polizei holen oder uns hinausschmeißen … Es ist so der beste Abgang für uns. Hier sind wir unseres Lebens nicht mehr sicher …“
Es geschah, wie vorauszusehen …
Nachdem die vier Maate in der Teestube Tassen, Stühle und einen Spiegel zerschlagen hatten, drohte Sung mit der Polizei …
„Lausige gelbe Kröte!“ brüllte der kleine Caag da … „Polizei – – Polizei, du Alkoholschmuggler!!“
Und er gab Sung eine Ohrfeige, daß der Sohn des Himmels der Länge nach hinschlug …
Dann zogen die vier Arm in Arm johlend ab, liefen draußen einer Polizeipatrouille über den Weg und wurden zur nächsten Wache gebracht, von wo sie durch einen Hinterausgang sehr bald wieder die Freiheit gewannen, ohne den Polizeibeamten ihre Erlebnisse bei Sung mitgeteilt zu haben. Es hatte genügt, daß sie Privatdetektive waren und daß sie ihre Trunkenheit nur markiert hatten.
Als sie in den Büros der Firma Worg & Co. erschienen und sich bei Mr. Ephraim Pannacroft zurückmeldeten, alle vier sehr niedergeschlagen, da hatte der Chef das Gefühl, als ob man seine siegesbewußte Stimmung mit Eiswasser hinwegspülte …
Sein erster Gedanke war: ‚Du hast die Partie verloren …!!’
Sein zweiter: ‚Du mußt sofort zugreifen – – sofort!!’
Und nach kurzer Beratung mit Jolling, dem er keinerlei Vorwürfe machte, rief er den Chef der Neuyorker Geheimpolizei an und teilte ihm alles Nötige mit.
Um vier Uhr nachmittags war der betreffende Häuserblock umzingelt. Die große Razzia begann. Nicht weniger als hundert Beamte und fünfundzwanzig Worg & Co.-Leute waren daran beteiligt.
Drei Stunden dauerte die Durchsuchung der Grundstücke. Mit Spaten und Äxten ging man den Fuchsbauten zu Leibe … Man fand Gänge, Geheimtüren … Man fand sonst nichts – überhaupt nichts … Nicht einmal Hehlerwaren oder Alkoholvorräte … Man ging an der ausgemauerten Müllgrube auf Tschang Lus Hof nicht etwa achtlos vorüber. Aber den Eingang zu den Zellen entdeckte man nicht.
Tschang, Sung Lo Schen und der Schuster Loang-Tse spielten in unübertrefflicher Weise die Harmlosen.
Die Gänge und Türen erklärten sie als Schlupfwinkel für sich selbst, falls einmal ein Chinesen-Pogrom Gefahr brächte …
Kurz, das ganze Kesseltreiben verlief ohne jedes greifbare Ergebnis. Man konnte die Gelbgesichter nicht einmal verhaften. Der Bucklige, sagten sie übereinstimmend aus, sei ein Händler namens Gordon, der mit ihnen Geschäfte mache. Seine Wohnung wüßten sie nicht – und von geraubten weißen Frauen hätten sich überhaupt keine Ahnung.
Nein – man verhaftete sie nicht. So war es zwischen dem Chef der Geheimpolizei und Pannacroft schon vorher vereinbart worden. Man verschwieg, daß Gipsy Maads Entführung beobachtet worden war. Man gab diesen Triumph nicht aus der Hand.
Welche Aufregung die Razzia im Chinesenviertel hervorgerufen hatte, zeigte sich kaum nach außen hin. Dazu waren die Söhne des Himmels zu gute Komödianten.
Aber im geheimen machte sich die Wirkung der Durchsuchung in vielfacher Hinsicht bemerkbar.
Nachdem die Polizei abgezogen war, kamen auffallend zahlreiche Kunden zu dem Schuhmacher Laong-Tse …
Man beriet hastig …
Man faßte neue Entschlüsse … Die Milliarden des Azorenschatzes hatten aller Hirne umnebelt … Keiner mochte auf die Gedanken an die Reichtümer verzichten … All diese Asiaten, in denen die Liebe zur Heimat so stark entwickelt ist, hatten sich bereits vollständig in den Gedanken eingelebt, als begüterte Leute, mehr noch, als Millionäre, den Boden Chinas wieder zu betreten. Und die meisten von ihnen hatten ihren Grundbesitz auch schon vereinbarungsgemäß einem Agenten zur Veräußerung überschrieben. Mit zäher verbrecherischer Hartnäckigkeit hielten sie an dem einmal gefaßten Plan fest, den gefürchteten Sipa, der sie durch die Macht seiner Persönlichkeit zu willenlosen Sklaven herabgewürdigt hatte, um die Milliardenbeute zu betrügen. –
Noch anderes ereignete sich jetzt als Folgen dieser polizeilichen Razzia …
Die Neuyork Reporter sind allgegenwärtig …
Bereits eine Stunde nach Schluß des ergebnislosen Kesseltreibens überschwemmten Hunderte von Zeitungsboys die Hauptverkehrsstraßen, die Bahnhöfe, die Hotels, Hafenwirtschaften und Vorhallen der Theater …
Brüllten ihre Extrablätter aus … Brüllten die sensationellen Überschriften des noch feuchten Papiers:
„Das Luftboot Sphinx und die Goldmilliarden im Schlosse Missamill …!“
„Der Raub der Gattin des Erfinders der Sphinx!“
„Die Razzia im Chinesenviertel nach den entführten Sphinxleuten …!“
„Der Goldschatz der Azoren und der geheimnisvolle Mr. Null …!“
In dieser Tonart meldete sich die Papierflut …
In einer halben Stunde wußte ganz Neuyork über die Ereignisse im Schlosse Missamill Bescheid … –
Und auf dem Wege gen Missamill rasten Autos und Motorräder mit anderen Reportern in wilder Hetzjagd dahin …
Jeder wollte der erste sein … Jeder hoffte, von dem Grafen empfangen zu werden und die Sphinx zu sehen …
Und keiner kam auf seine Rechnung …
Keiner …
Das Schloß glich einer Festung … Diener und Detektive patrouillierten an der Parkmauer … Keine List, keine Bestechung halfen … Alle Versuche, die Mauer zu überklettern, scheiterten an der Wachsamkeit der Sperrkette … Und als ein besonders kühner Berichterstatter im Flugzeug im Parke niederzugehen suchte, wurde er mit blinden Schüssen und den kräftigen Strahlen dreier Gartenspritzen empfangen …
Dies geschah abends halb neun Uhr … Inzwischen hatte Mr. Ephraim Pannacroft die Sphinxleute bereits telephonisch von dem Geschehenen verständigt. Außerdem war auch der Chef der Neuyorker Geheimpolizei mit zwei Beamten im Auto persönlich auf Schloß Missamill erschienen und hatte mit Gaupenberg, Hartwich und Randercild längerer Besprechungen gehabt, hatte des ermordeten Roussell Wohnräume in Augenschein genommen und auch die Leiche des Chinesen besichtigt, den Pasqual Oretto als Gefangenen mitgebracht …
Freilich – auch diese amtliche Einmischung zeigte keinerlei Erfolg. Alles blieb, wie es war. Nein – alles war noch schlimmer geworden … Denn jetzt wußte man, daß die Gefangenen des unheimlichen Mr. Null so leicht nicht würden aufzufinden sein …
Jetzt mußte man in der Tat mit Racheakten des Verbrechers rechnen.
Die Stimmung im Schlosse war noch nie so gedrückt gewesen wie jetzt …
Schloß Missamill war wie ein Trauerhaus …
Die Diener schlichen lautlos umher, waren wie verwandelt. Keiner traute mehr dem andern. Jeder schaute mit forschenden Blicken rund um und dachte: ‚Bist du etwa der Mörder, der Verräter, der Spion der Null?’
Und der kleine Milliardär Josua Randercild und die Sphinxleute wagten kaum mehr unter sich diese Dinge zu besprechen … Die Wände schienen überall Ohren zu haben … – Das Bekanntwerden der Landung der Sphinx hier in Missamill und der Aufbewahrung der Milliarden in der Stahlkammer löste auch bei Gaupenberg noch andersgeartete Bedenken aus. Er fürchtete politische Verwicklungen, fürchtete eine Beschlagnahme der ungeheuren Werte durch die Entente …
Und hierüber sprach er ganz offen mit Randercild. Dieser aber erklärte feierlich, Amerika würde nie und nimmer die Hand dazu bieten, einen solchen Raub an Privateigentum zu billigen, denn letzten Endes gehörten die Milliarden doch Georg Hartwich, dem letzten Überlebenden des U-Bootes, das seinerzeit den Schatz hatte nach Deutschland bringen sollen. –
Erst gegen zehn Uhr abends fand sich an dem Tage die Sphinxbesatzung im Speisesaal zum Nachtmahl ein. Unten an der Tafel saß wie immer Murat, der Homgori, der durchaus manierlich Messer, Gabel und Löffel handhabte.
Aber – wie sehr war die Zahl von Josua Randercilds Gästen zusammengeschmolzen! Wie sehr!!
Da fehlten die holde Agnes, die frische Ellen, die muntere Gipsy … Da fehlten Gerhard Nielsen und der würdige Doktor Falz …
Da fehlten mehr noch die frohen, zuversichtlichen Minen dieser Kämpfer, die seit Monaten all ihren Feinden getrotzt hatten … Da fehlten die lebhaften Augen, der Wille zum Siege!!
Was heute abend hier an der Tafel versammelt, trug die Last schwerster Sorgen um geliebte Gefährten.
Müde schleppte sich das Gespräch hin … Müde erörterte man flüsternd, was nun wohl geschehen solle.
Und niemand wußte Rat …
Draußen hatte der Wettergott wie in Übereinstimmung mit den düsteren Geschehnissen und Zukunftsaussichten den Abendhimmel mit finsterem Gewölk überzogen … Es goß in Strömen … Es goß wie aus Eimern … Eine Dunkelheit lag über Schloß und Park. – ‚in Säcke zu füllen!’ meinte Gottlieb. Dazu herrschte eine Schwüle, als ob jeden Moment die Wolken sich öffnen und Tausende von Blitzen herabprasseln müßten.
Kein Lüftchen regte sich … Die Bäume des Parkes standen regungslos und troffen vor Nässe. In den Regenrinnen gurgelten Wasserbäche. Die Detektive und Diener, die den Park umrundeten, hatten jeder eine große Karbidlaterne bei sich. Die Reporter aber waren vor dieser Sintflut nach Neuyork zurückgekehrt. Die Straße vor dem Haupteingang war leer …
Es war eine Nacht, wie geschaffen zu unerhörten Taten …
Es war die Nacht, in der jede Stunde Neues brachte.
Jede Stunde …
In Neuyork dasselbe Unwetter. Um zehn Uhr begann es zu regnen. Um halb elf öffneten sich alle Schleusen des pechschwarzen Himmels … Ein Wolkenbruch kam hernieder, wie man ihn seit Jahren nicht erlebt hatte.
Um diese Zeit betrat ein älterer Chinese mit hängendem grauen Schnurrbart, der sich, in einen schädigen Gummimantel eingeknöpft, unter einem großen Schirm zusammenduckte, völlig durchnäßt die Teestube Sung Lo Schens und nahm in der Ecke neben der Tür an einem winzigen Tischchen Platz.
Der weite Raum des Teehauses war fast leer. Etwa ein Dutzend Gäste mochen anwesend sein, die sich um den neuen Ankömmling kaum zu kümmern schienen und ihn doch mit echt asiatischer Heuchelei keinen Moment aus den Augen ließen …
Niemand kannte ihn. Man hielt ihn für einen verkleideten Geheimpolizisten. Der alte Mann trug eine Hornbrille und putzte diese noch immer mit größter Umständlichkeit, wobei er die Augen zu engen Schlitzen zusammenkniff …
Als der Teestubenwirt auf ihn zu schlurfte … setzte der Neuankömmling die Brille wieder auf die Nase …
Dann beugte er sich über die Preistafel … Bestellte Tee, Gebäck, Zigaretten und Pom-Pom, das chinesische Zuckerwerk … –
Sung Lo Shen beeilte sich, den höchst verdächtigen Landsmann zu bedienen, war aber mit seinen Gedanken anderswo … Um halb elf würde er sein Teehaus schließen, und um Mitternacht wollte man sich auf dem Motorschoner einschiffen …
Er brachte dem Gast auf einem Teebrett das Verlangte, hatte aber das Pom-Pom vergessen …
Der alte Chinamann erinnerte an das Fehlende … Und … fügte hinzu, ohne die Lippen zu bewegen – – raunend und doch für Sung Lo Shen gut verständlich:
„Sipa …!!“
Nur dies Wort …
Null!!
Mr. Null …!!
Der Teewirt fuhr leicht zusammen. Niemals hätte er geglaubt, daß der Sipa sich jetzt hierher wagen würde.
Freilich, der Sipa war’s! Er wagte noch mehr! Hatte er doch bereits Beweise einer Tollkühnheit abgelegt, wie sie dem stupiden Nützlichkeitssinn des Ehrenmannes Sung Lo Shen geradezu unfaßbar war.
Und Sung beugte sich nun tiefer zu dem Sipa hinab.
„Du befiehlst, oh Sipa?“
Seine Stimme schwankte unmerklich … Er dachte in diesem Augenblick nur an das, was die ‚rote Dschunke’ für diese Nacht geplant hatte …
Dachte nur an die Möglichkeit, daß der Sipa das Vorhaben stören könnte …
Da sprach dieser schon gedämpft weiter:
„Ich befehle, daß du mir für heute nacht halb zwölf fünfundzwanzig Leute beschaffst …“
Und dann folgten die Einzelheiten dieses Befehles.
Einzelheiten, wie sie nur dem scharfen Verstande des Mr. Null entsprangen …
Nichts vergaß er …
Es war eine Order mit den ganzen Feinheiten eines gut ausgearbeiteten Angriffsplanes …
Und der Besitzer der Teestube hörte nur halb hin und grinste schadenfroh …
Schadenfroh, weil er genau wußte, daß Tschang Lu bereits andere Dinge vorbereitet hatte …
Doppelt schadenfroh, weil er in dem Sipa nicht nur den Europäer, sondern den Tyrannen, den hochmütigen, nie zu fassenden, gleichsam unverwundbaren Peiniger haßte … –
Als nun ein Teil der Einzelheiten noch einmal wiederholt wurden, dienerte Sung kriecherisch und flüsterte:
„Du wirst zufrieden sein, oh Sipa …!“
Nun schwieg der Gast, trank Tee in kleinen Schlucken, knabberte Gebäck, rauchte und tat so, als ob es für ihn nichts anderes als süßes Nichtstun gäbe …
Nach einer halben Stunde bezahlte er seine Zeche und verließ die Teestube …
Ging nur drei Häuser weiter – – zu Tschang Lu.
Inzwischen hatte Sung Lo Schen längst den hageren Antiquitätenhändler durch einen Boten von dem Auftauchen des Sipa in Kenntnis gesetzt und wörtlich bestellen lassen: ‚Wenn der Mann mit den Himmelsaugen (das war der blauäugige Nielsen), nicht tut, was wir erhoffen, muß es anders gelingen.’
Tschang hatte diese Mitteilung sofort verstanden.
Es war ja bereits bei der vorletzten Versammlung beschlossen worden, daß der Sipa sterben solle. Die Ereignisse dieses Tages verlangten jetzt eine vorzeitige Ausführung dieses Mordplanes. Tschang hatte in seinem rührigen Hirn den Plan gestern etwas verändert, indem er Nielsen die Browningpistole in der Zelle zurückließ – ein Beginnen, das so recht dem Charakter der Asiaten entsprach.
Als der Sipa nun, heute in der Verkleidung eines alten Chinesen, überraschend wie immer das Arbeitsgemach des Händlers betrat, spielte Tschang mit Virtuosität den Überängstlichen …
„Oh Sipa, die Häscher lauern ringsum,“ rief er leise und nahm dem verhaßten Besucher den triefenden Regenschirm ab. „Oh Sipa, ich habe heute böse Stunden durchlebt, als die Polizei in den Gebäuden die Holzwände einschlug und die Erde durchwühlte …“
Mr. Null machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Es sind Schafsköpfe, Tschang … Sie ahnen nicht, daß ich hundert Augen habe … Ich wußte alles vorher … Ich verachte sie …“
Er setzte sich und knöpfte seinen nassen Gummimantel auf …
Seine Blicke ruhten durchdringend auf dem katzbuckelnden Tschang …
„Wo ist Tami?“ fragte er …
„Draußen, oh Sipa. Tami durchstreift den Hof, um zu sehen, ob irgendwo einer der Häscher verborgen ist. Die Gefangenen haben seit vielen Stunden weder Speise noch Trank erhalten. Wir müssen zu ihnen hinab. Sobald Tami meldet, daß alles sicher ist, wollte ich …“
Mr. Null unterbrach ihn…
„Es ist alles sicher … Die Polizei und die Detektive sind zurückgezogen worden. Man will das Chinesenviertel einschläfern. Jeder hier soll denken, daß man die Gefangenen nun anderswo sucht … – Idioten!!“
Tschang grinste …
„Oh Sipa, du bist allwissend …“
„So ziemlich, lieber Tschang … Wir können dann also getrost hinab in den Zellengang … Hole Tami …“
Tschang eilte hinaus.
Der Sipa saß regungslos …
Seine Maske als Chinese war ausgezeichnet …
Er saß und überlegte nochmals, was diese Nacht bringen sollte …
Ein Mißlingen des Anschlags auf Schloß Missamill war so gut wie unmöglich. Die Sphinxleuten hatten gar nicht auf den Gedanken kommen können, daß derartiges etwa bevorstände. Sie konnten lediglich mit einer kühnen Erpressung sich beschäftigen, konnten hiergegen ihre Maßnahmen treffen. Alles, was bisher geschehen, mußten sie als mit dieser Erpressung zusammenhängend einschätzen.
Und – all das war doch nur Spiegelfechterei gewesen.
Nichts – gar nichts lag der Null an den Gefangenen. Er hatte sie nur gefangennehmen lassen, damit es schiene, als wollte er sie als Tauschobjekte benutzen.
Spiegelfechterei …! Um die wahren Absichten mit einem undurchdringlichen Schleier von andersgearteten Sensationen zu umhüllen … –
Mit einem halb höhnischen Lächeln nickte er vor sich hin … Alles war bisher gelungen … Weshalb sollte in dieser Nacht das Schicksal gegen ihn sein?!
Jetzt lächelte er nicht mehr …
Der Überfall auf Schloß Missamill war sein großartigster Streich … Wenn morgen früh Neuyork nach diesem nächtlichen Unwetter erwachte, dann würden die Zeitungen sehr bald mit Extrablättern Bombengeschäfte machen …
Und dann … war er längst mit der Sphinx unterwegs …
Unerreichbar … Als Sieger …
Seine Augen flimmerten …
Der Machtrausch packte ihn …
Nicht der Goldrausch …
Das Gold war ihm nur Vermittler zur Macht – nur ein Bundesgenossen …
Des Sipa Gedanken träumten anderes als Bilder von Genuß und Wohlleben … Der Sipa wollte herrschen – über ein ganzes Inselreich …
Da traten Tschang Lu und Tami ein …
Tami war bis auf die Haut durchnäßt … Sein abstoßend häßliches Gesicht glänzte feucht …
„Gehen wir,“ sagte die Null kurz.
Tami schleppte den großen Henkelkorb mit den Speisen und Getränken. Zum Schutz war der Korb war mit Öltuch umhüllt.
Die drei traten in den Hof hinaus …
Regenfluten schlugen ihnen entgegen. Sie beeilten sich … Sie kletterten in die Müllgrube hinab. Die Geheimtür der Mauer öffnete sich. Die eiserne Leiter ging’s in dem Röhrenschacht abwärts …
Die Null kam als letzter in den Zellengang … Er hatte die rechte Hand in der Manteltasche …
Tschang Lu wandte sich um …
„Oh Sipa, ich vergaß ganz, dir zu sagen, daß Nielsen dich sprechen wollte …“ flüsterte er …
„So?! Wann hat er dies Verlangen geäußert?!“
Tschang, von dem Lichte der Karbidlaterne hell umstrahlt, glaubte in der Stimme des Sipa Hohn und Spott zu spüren …
„Heute … heute früh, oh Sipa …“ erklärte er überhastet …
Mr. Nulls Augen machten ihn verwirrt …
Die Null war hellhörig … – Tschang, der nie etwas vergaß, sollte ausgerechnet diesmal von seinem Gedächtnis im Stiche gelassen worden sein?! – Kaum denkbar …!! – Und Nielsen, gerade dieser Nielsen, sollte eine solche Bitte getan haben?! Nielsen und die Null bitten, ihm eine Unterredung zu gewähren – unmöglich …!
Dies schoß dem Sipa durch das Hirn …
In Sekunden …
Dann sagte er kalt zu dem hageren Händler:
„Du lügst!!“
In seiner Stimme war jener Klang, vor dem Tschang bisher noch immer winselnd in die Knie gesunken war.
Aber – diese metallische, eisige Stimme, die wie das Funkeln eines Mordstahles war, versagte jetzt in ihrer Wirkung. Der Sipa hatte gestern vor Tschang ‚sein Gesicht verloren’ … – Das war der Wendepunkt gewesen …
Tschang erklärte, bereits wieder Herr über die augenblickliche Verwirrung …
„Ich lüge nicht, oh Sipa … Frage Nielsen …“
Die Null hob die Laterne höher … Seine rechte Hand kam aus der Tasche zum Vorschein … und diese Hand hielt einen schwarzen Ball umspannt …
Nein – kein Ball … Eine schwarz lackierte eiserne Kugel …
Er lächelte hohnvoll …
„Lieber Tschang Lu, mir scheint, daß hier nicht alles so ist, wie es sein soll … Die Kugelgranate hier ist mit Ekrasit als Sprengstoff gefüllt. Ekrasit ist so etwa das Hundertfache von Dynamit. Wenn ich diesen Ball schleudere, blieben von dir und Tami und von diesen Zellen … nichts mehr übrig … – Also …!!“
Tschang dachte trotzdem nur an jenen Moment, wo der Sipa vor ihm ‚das Gesicht’ verloren hatte …
Nur daran … – Wie sollte der Sipa auch die Kugelgranate schleudern, da er dann doch selbst mit in die Luft gegangen wäre?!
Tschang erklärte nochmals:
„Frage Mr. Nielsen, oh Sipa …“
Etwas noch nie Dagewesenes war in seiner Stimme … Ein Ton von Aufsässigkeit – von heimlichem Haß.
Die Null horchte auf …
Seine Lider schlossen sich halb …
Oho – stand es so?!
Er witterte jetzt geradezu die Gefahr … Er kannte diese Asiaten …
Und … lachte leise, harmlos …
Schob den Ball in die Tasche zurück …
„Es ist das alles ja auch ganz gleichgültig, Tschang,“ meinte er achselzuckend. „Wir haben heute Besseres vor … Verteilt also die Lebensmittel … Ich werde mit der Fürstin sprechen …“ –
Mafalda war nach ihrem Ausflug nach Schloß Missamill wieder hier in die sichere Einsamkeit ihrer Zelle zurückgekehrt …
Als der Sipa nun bei ihr erschien und auch Lomatz, den er vorher aus der Nebenzeile geholt hatte, mitbrachte, war Mafalda nicht gerade in bester Laune.
Zuerst erkannte sie die Null in dieser Verkleidung nicht. Dann aber meinte sie recht gereizt, es sei unerhört, daß man sie seit mittags ein Uhr vollkommen vernachlässigt habe …
Die Null zog die Zellentür zu …
„Die Polizei verhinderte Ihre Verpflegung, Fürstin,“ sagte er verbindlich lächelnd … „Es ist besser, Sie haben ein wenig gehungert, Fürstin, als daß Sie jetzt im Polizeigefängnis säßen … Man hat eine große Razzia veranstaltet gehabt, und nur den vorzüglichen Einrichtungen Tschang Lus ist es zu danken, daß die Polizei nichts fand …“
Dies sagte er laut und scherzend …
Und flüsternd:
„Wir müssen Tschang Lu und Tami überwältigen … – Verrat!“
Dann wieder ganz laut: „Ich werde Tschang zurufen, daß er Sie zuerst bedient, Fürstin …“
Tschang war bereits in Nielsens Zelle …
In der Tür stand Tami mit erhobenem Revolver und gab acht, daß der Gefangene sich nicht an Tschang vergriffe …
Die Null hatte die Laterne Lomatz zu halten gegeben und sah nun den Zellengang hinab … Sah Tami schußbereit, wollte schon rufen …
Etwas ihm Unbegreifliches geschah da …
Ein Schuß knallte …
Hart, blechern … Dem Ton nach aus einer Repetierpistole …
Der Mischling Tami wurde wie von unsichtbarer Gewalt nach hinten geschleudert, schlug zu Boden …
Und aus der Zellentür flog Tschang heraus …
Brüllt etwas Unverständliches …
Da ein zweiter Schuß …
Tschang schnellte hoch, als ob er einen Stoß von unten erhalten hätte. Dann brach er zusammen, fiel über den Mischling, der sich nicht mehr regte …
Ein grausames Lächeln umspielte da die vielgestaltigen Züge des Mr. Null …
Er winkte Mafalda und Lomatz zu …
Trat in den Zellengang vollends hinaus, in der erhobenen Rechten die Kugelgranate …
Gerhard Nielsen erschien … Mit Tschangs Laterne.
Zu allem entschlossen … Rücksicht, Schonung – Er dachte nicht daran, wo es hier die Freiheit galt …
Erblickte die Gestalt des Chinesen im Gummimantel.
Den Mr. Null …
Der rief höflich und mahnen, um einem dritten Schuß zuvorzukommen:
„Mr. Nielsen, eine Ekrasitgranate …!! Bitte – kehren Sie in Ihre Zelle zurück … Sie und Ihre Freunde werden morgens frei sein – mein Wort darauf! – Ich verarge Ihnen diese beiden Schüsse nicht … Jeder ist sich selbst der Nächste …“
Nielsen stand mit verkniffenen Lippen … Der Schein seiner Laterne umspielte die schwarze Kugel in der Hand des Mr. Null …
Er fand keine Möglichkeit, diesem jähen Umschwung der Dinge wirksam zu begegnen … Er mußte sich fügen …
Und fragte grollend:
„Wir – – morgens frei?! Und Sie verlangen, daß ich dies glaube …?!“
„Sie werden es glauben müssen, Mr. Nielsen … Ich pflege nicht zu lügen. Nicht in solchen Dingen … Wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, bis sieben Uhr früh in Ihrer Zelle zu bleiben und dann erst Ihre Gefährten zu befreien, werde ich Ihre Tür nicht verriegeln … Genügt Ihnen das?“
Nielsens Hirn prüfte diese Sätze … – War’s eine Falle?! Was war’s?! Irgend etwas steckte dahinter …
Und achselzuckend erklärte er:
„Wir wollen hier nicht mit Ehrenwort und Ähnlichem jonglieren … Sie haben die Oberhand … Ich füge mich …“
Und leiser:
„Schade um die beiden da …“ Er schaute auf seine Opfer … „Ich hoffte mir den Weg in die Freiheit zu erzwingen … Jetzt … fühle ich mich schuldig … Zwei sinnlose Opfer – das geht mir wider den Strich.“
Mr. Null ließ ein heiseres Lachen hören …
„Oh – nur zwei Schurken erbärmlichster Art … Feige, hinterlistig, verblendet durch das Gold … Zwei meiner Kreaturen, die mich betrügen wollten … – Beruhigen Sie sich, Mr. Nielsen! Die beiden hätten ohnedies keine Stunde mehr gelebt … – Nochmals, Ihr Wort, und Ihre Tür bleibt offen …! Betrachten Sie mich nicht als einen Verbrecher, der silberne Löffel stiehlt oder wegen lumpiger Millionen mordet … Meine Ziele sind anderer Art …“
Es war da in diesen Worten ein Etwas, das eine gewisse Charaktergröße verriet, die eines Übeltäters von besonderem Maß …
Nielsen handelte jetzt unter dem Eindruck dieser Empfindung, als er erklärte:
„Gut – mein Ehrenwort …! Ich bleibe bis sieben Uhr früh in meiner Zelle, es sei denn, daß jemand mir die unversperrte Tür früher öffnet …“
Die Null ließ den Arm mit der schwarzen Kugel sinken …
„Wir sind also einig, Mr. Nielsen … Ich werde Ihnen Speise und Trank aus dem Korbe zuteilen …“
Nielsen trat in die Zelle zurück.
In kurzem hatte die Null dann auch mit Lomatz’ Hilfe die anderen Gefangenen versorgt.
Tschang Lus und Tamis Leichen, beide hatten Kopfschüsse, ließ er, wo sie lagen …
Dann stiegen Mafalda, der Sipa und Lomatz durch den Röhrenschacht an die Oberwelt zurück …
Hinaus in dieses tobende Unwetter, das ihnen die Wassergüsse finsterer Wolken ins Gesicht schleuderte …
Die Null ging als erster ins Haus – in Tschangs Arbeitszimmer. Zögernd folgten Mafalda und Lomatz … Sie wußten jetzt, daß eine Razzia stattgefunden hatte … Sie waren besorgt … Sie kannten von der Null nichts weiter als ein maskiertes Gesicht und eine verstellte Stimme. Wer er war – sie ahnten es nicht. Sie waren Verbündete eines Menschen, dessen geistiges Übergewicht sie als Fesseln empfanden.
Hier in Tschangs behaglichem Gemach, hier im Lichte der elektrischen Lampen sagte nun die Null ohne jede Hast:
„In vierzig Minuten müssen wir an Bord des Motorschoner sein … Sie beide werden in Tschangs Schlafzimmer alles finden, was Sie brauchen … Sehen Sie zu, daß Sie sich Chinesenmasken zurechtschminken … Eine Viertelstunde haben Sie Zeit … Inzwischen will ich noch mit dem Teehauswirt etwas besprechen.“
Er ging …
All das mit der Selbstverständlichkeit eines Mannes, der genau weiß, daß er sich auf sich verlassen kann – nur auf sich selbst … –
Die Fürstin und Edgar Lomatz betraten das Schlafzimmer, in dem Mafalda heute früh sich in die Dame in Trauer verwandelt hatte.
Lomatz schaltete das Licht ein … blickte seine Verbündete an …
„Ein seltsames Genie, dieser Mr. Null … Nicht wahr, Mafalda?“
Die Fürstin hatte bereits den großen Kleiderschrank geöffnet …
„Beeile dich …!“ meinte sie … „Ein Genie – ohne Frage …! Und sein Plan, das Schloß mit bewaffneter Hand zu stürmen, hat etwas Großzügiges … – Da – dieser Anzug wird dir passen … Ich werde gleichfalls Männerkleidung anlegten …“
Und sie griff nach den Schminkstiften …
Es wurde still …
Der Schrankspiegel gab die Veränderung der Gesichtszüge der Abenteurerin ehrlich wieder …
Als der Sipa dann erschien, standen beide bereit.
Sie verließen das Haus …
Ein Auto wartete … Es goß in Strömen wie vordem …
Der geschlossene Kraftwagen, von einem Chinesen gelenkt, fuhr zum Hafen … Hielt … blieb hier zurück – herrenlos …
Er war gestohlen worden – nur zu dieser Fahrt.
Am Bollwerk ein schlanker Schoner mit zwei Masken … Ein Küstenfahrzeug, das nach Kanada hin ehrliche Frachten getragen und mit anderer ehrlicher Ladung zurückgekehrt war …
Angeblich Eigentum eines älteren Schlitzäugigen … In Wahrheit Eigentum des Geheimbundes der roten Dschunke …
Harmlos auch der Name zu beiden Seiten des Bugs
Nur ein lieblicher Mädchenname: ‚Ellinor’ …
Diese ‚Ellinor’ triefte heute vor Nässe wie ganz Neuyork … Diese schlanke, flinke Dame beförderte die Regenfluten durch die Speigatts der Reling wieder von Deck … Die Musik des Regens war der Einzugsmarsch für Mr. Null und seine beiden Begleiter …
In der Heckkajüte schüttelte Mafalda die Tropfen von ihrem dünnen Ölumhang …
Mafalda war ein sehr pikant ausschauender Chinamann … Der Kapitän der ‚Ellinor’ machte ihr einen tiefen Kratzfuß … War auch ein Chinamann …
Allmählich kamen dann auch die anderen an Bord – einzeln – zu zweien … – Alle die Mitglieder des Geheimbundes …
Und Mr. Null glaubte, es seien die Leute, die Sung Lo Schen besorgt hatte …
Mr. Null wußte nichts von der roten Dschunke … Er war doch nicht allwissend. Es gab manches, was selbst seinen Spionen entgangen … –
Aber auch sie erschienen, diese Kreaturen des Vielgestaltigen, achtzehn an der Zahl … Nicht alles Gelbgesichter … Auch ein paar Europäer, aber ebenfalls als Chinesen zurechtgemacht … Alle bewaffnet, jeder zwei Brownings, ein Dolchmesser und pro Mann drei Eierhandgranaten …
Der Laderaumes der harmlosen ‚Ellinor’ sah heute eine bunte Gesellschaft, die schlechteste Fracht, die jemals dort verstaut worden …
Trübe Öllampen pendelten an der Decke und warfen trüben Schein auf neunundvierzig Galgenvogelvisagen …
Die Mitglieder der roten Dschunke hielten sich abseits von den achtzehn Fremden … In einem Winkel hockten Sung Lo Schen und der Schuster Loang-Tse … Sie flüsterten … Thema: Tschang Lus Tod und das Mißlingen der Mordpläne gegen den verhaßten Sipa …
Loang-Tse sagte keifend und geifernd:
„Der elende Hund hat Glück gehabt … Tschang gab Nielsen die Pistole, damit dieser den dreimal verfluchten Sipa töte … Doch die Pistole tötete Tschang und Tami … – Was tun wir jetzt?“
Der Teestubenwirt lutschte an seinem Kaugummi.
Meinte keuchend vor stiller Wut:
„Ja – er hat Glück gehabt … Und wir sind wie einst seine Sklaven … Dort drüben sitzen seine Spione … – Schau hin, Laong-Tse …! Sie spielen mit ihren Brownings … Sie grinsen uns an … Wir sind verraten, verloren … Wir werden unser Blut vergießen für den Sipa – – für nichts!! Oh – ich wünschte, wir wären ebenso gut bewaffnet …!!“
Der Schoner begann leicht zu schwanken … Die Motoren sprangen an … Die ‚Ellinor’ verließ den Hafen … Kroch wie eine Schlange durch die Regennebel gen State Island – hinaus in die offene See … Kein Zollkuttern hielt sie an … Und wäre einer aufgetaucht, würde der Sipa ihn einfach gerammt haben …
So zog der Schoner ungehindert, unbemerkt seine dunkle Bahn …
Als die ersten Wogen des Atlantik gegen den Bug klatschten, wurden die Positionslaternen gelöscht …
Die Motoren arbeiteten mit voller Kraft. Die beiden Schrauben rasten … –
Oben an Deck ging der Sipa auf und ab … Hatte die Augen überall … Verstand etwas von der Seefahrt … War ein begeisterter Segler … Hatte prächtige Jachten gesteuert … –
Das Piratenschiff war kurz vor ein Uhr morgens in der Nähe des Vorgebirges Missamill angelangt. Es goß weiter … Es war eine unheimliche Schwüle in der Luft …
Als die erleuchteten Fenster des Schlosses – drei im ersten Stock – durch die Unwetternacht blinkten, steuerte der Sipa das lichtlose Schiff zwischen die Wellenbrecher des unterirdischen Hafens …
Nur wie ein schwarzer Schatten glitt die Dame ‚Ellinor’ in den sicheren Port, kaum zu bemerken von der Parkmauer her, wo die Detektivpatrouillen mißlaunig auf und ab schlenderten …
Der Sipa kletterte in ein Boot … Drei seiner Spione mit ihm …
Bis zur eisernen Flügeltür des Grottenhafens ruderten sie… Der Patentschlüssel, den man Nielsen abgenommen, öffnete den Eingang …
Und näher heran zogen sie den Schoner an einer Stahltrosse …
Zwölf der Getreuen der Null schlichen dann die Steintreppe zur Parkmauer empor …
Zwölf Kerle, die schon so manchen stillen Messerstich angebracht hatten …
Die vier Patrouillen, die das Schloß umrundeten, flogen nacheinander vom steilen Fels in die Brandung … Ein paar halb erstickte Schreie verrieten nichts …
Die zwölf aber enterten über die Mauer … Erhitzt vom Morden … Gierig auf weitere Opfer, Bestien, der Null treu ergeben …
Durch den im Regen rauschenden Park huschten Gespenster …
Laternenschein schimmerte: die Innenpatrouillen …
Laternenschein erlosch … –
Um halb zwei Uhr meldete einer der zwölf dem Sipa, daß man an die eigentliche Arbeit gehen könne.
Inzwischen hatte die Null mit Mafaldas und Lomatz’ Hilfe die Steintür entdeckt … Dahinter die Höhle mit den langen Kisten … Und die Treppe, die hinauf in Jusoa Randercilds Arbeitszimmer lief … Bis hinter den riesigen Bücherschrank …
Durch diesen Schrank ergoß sich ein Strom finsterer Gestalten in des Milliardärs Allerheiligstes …
Zerstreute sich über Treppen und Flure … – –
Schloß Missamill war in der Gewalt des Sipa …
Tschang Lu lag quer über der Leiche des häßlichen Tami …
Er lag mit dem Gesicht nach oben … Wäre es hier im Zellengang heller gewesen, so würde man die dicke Blutkruste an seiner Stirn für eine Einschußwunde gehalten haben … –
Als der Sipa flüchtig die beiden Toten gemustert hatte, bevor er mit Mafalda und Lomatz an die Oberwelt stieg, war er von dieser Bluthülle getäuschen worden.
Was ein böser Streifschuß war, das hielt er für eine tödliche Wunde … Doch Tschang Lus Schädel war ein echter Chinesenschädel. Den Negern sagt man besonders dicke Hirnschalen nach. Den Chinesen aber noch dickere …
Tschang Lu kam wieder zu sich … Gegen ein Uhr morgens … Ganz langsam … Um ihn her war Finsternis … In seinem Kopf klopfte ein Hammerwerk … Es pochte fortwährend, immer lauter werdend … Jeder Nerv wurde gequält …
Tschang Lu konnte nicht denken …
Stöhnend wälzte er sich zur Seite … Seine Hände tasteten umher … Griffen in ein kaltes Menschengesicht. Tami …!
Tschang Lu suchte seine vor ungeheuren Schmerzen flatternden Gedanken zusammen …
Setzte sich allmählich aufrecht …
Ganz langsam …
Befühlte seinen Kopf…
Dann kam ihm die Erinnerung …
Die Pistole … Nielsen … Der Sipa …
Mit einem Schlage wußte er, was geschehen … Alles wußte er …
Die Milliarden …!! Heute nacht sollte Schloß Missamill geplündert werden …!! Heute nacht hatte der Sipa sterben sollen … So hatte die Rote Dschunke es beschlossen … –
Und Tschang Lu faßte plötzlich in die Tasche … Ein Zündholz flammte auf … Erlosch … Noch eins leuchtete … Erlosch wieder …
Tschang Lu war Chinese. Zäh. Gewohnt, den Körper durch den Geist zum Gehorsam zu zwingen …
Aber – mit dieser Streifschußwunde, die das Hirn fast bloßgelegt hatte, versagte der Geist … Der Wille war nicht stark genug, die körperliche Schwäche zu meistern.
Qualvolle stöhnend gab Tschang Lu die Versuche auf, sich emporzurecken, auf die Beine zu kommen … So kroch er auf allen Vieren wie ein halb betäubter Hund zur nächsten Zellentür …
Oh – – der Sipa sollte fallen durch Tschang Lu … Sollte sterben durch die Sphinxleute, die hier gefangen saßen …
Und – – Tschang Lu war Chinese … Was scherte es ihn, daß seine Landsleute mit zugrunde gingen … Der Sipa war an allem Schuld … Der Sipa hatte die Gefangenen gebracht … Der Sipa hatte alles angezettelt …
Zur nächsten Zellentür kroch der Sieche, Matte, in Haß fast Vergehende …
An den Riegeln zog er sich empor …
Triumph …!! Die Schlösser waren nicht vorgelegt …
Doch beim ersten Versuche, einen der Riegel zurückzuschieben, brach Tschang Lu zusammen, verlor das Bewußtsein. –
Keiner der Gefangenen schlief in dieser Nacht …
Seit Dr. Dagobert Falz eine der Zellen bezogen hatte, war ein vorsichtiges Pochen auf der einen Seite des Zellenganges von Wand zu Wand gedrungen …
War verstummt, als die Schüsse Nielsens knallten.
War wieder aufgelebt und doppelt stark geworden, als der Sipa, Mafalda und Lomatz an die Oberwelt zurückgekehrt waren …
Ein Pochen in regelmäßigen Zwischenräumen … Morsezeichen, eine Sprache aus stets gleichen Lauten, stärkeren, schwächeren … Die Sprache aller Gefangenen, die sich nicht sehen können.
Neben Dr. Falz’ Zelle war die Gipsy Maads. Dann kam eine leere, gefolgt von Ellen Hartwichs …
Und auch drüben auf der anderen Seite war man munter …
Klopftöne erfüllten die Erdhöhle. Man horchte …
Das Pochen erstarben, als Tschang Lus erstes tiefes Stöhnen die dumpfe Luft durchzitterte …
Agnes, Ellen, Gipsy, Dr. Falz und Nielsen standen dicht an ihre Türen geschmiegt und lauschten … Verfolgten die Geräusche im Gange … Ahnten, daß da einer zum Leben wieder erwacht war, der anscheinend unschädlich für immer …
Am gespanntesten horchte der blonde Nielsen … Er wußte, daß die Freiheit winkte… Daß der, der dort draußen schlurfend weiter kroch, nur seine Tür zu öffnen brauchte … Dann … war er an sein Versprechen nicht mehr gebunden, dann konnte er … handeln … handeln!
Als Tschang Lu vor Gipsys Zellentür mit dumpfem Krach ohnmächtig niederbrach, kämpfte Gerhard Nielsen einen schweren Kampf …
Ein Ehrenwort blieb ein Ehrenwort, selbst wenn es der Null gegenüber Verpflichtungen festgelegt hatte.
Nielsen siegte – – wartete …
Eine halbe Stunde verspricht …
Da regte Tschang sich abermals …
Stöhnte – seufzte …
In seinem Hirn arbeitete wieder das Hammerwerk …
Aber – auch das kam zur Ruhe, und Tschang unternahm den zweiten Versuch, sich an der Tür emporzurichten und die Riegel zur Seite zu drücken.
Jetzt … gelang es …
Und wie es dann gelungen war, wie Gipsy Maad die Tür aufzog, da stürzte Tschang Lu vornüber wie ein Klotz in die Zelle und zu Gipsys Füßen …
Ein Gehirnschlag hatte sein Leben ausgelöscht … Die Anstrengung, den Riegel zu öffnen, war zu groß gewesen … –
Gipsy Maad kniete neben dem Toten, drehte ihn um, fühlte nach dem Puls …
Erhob sich und hatte Tschangs Zündhölzer in der Hand … Beleuchtete den Zellengang …
Rief jetzt:
„Hallo, Nielsen, wo stecken Sie?!“
Nielsen krampfte die Hände zu Fäusten …
Schwieg …
Er hielt es mit seinem Versprechen nicht für vereinbar, daß er sich meldete …
Gipsy rief abermals …
Dann öffnete sie die nächste Zelle …
„Ah – also wirklich, Mr. Falz!“ meinte sie erfreut …
Ein rascher Händedruck …
Dann folgten die anderen Zellentüren … Zuletzt die Gerhard Nielsens …
Und bei ihm versammelten sich nun die Befreiten.
Kein überflüssiges Wort wurde gewechselt. Dazu war die Lage zu ernst.
Nielsen berichtete, was hier zuletzt geschehen. Man merkte, wie ungern er von den beiden Schüssen auf Tschang Lu und Tami sprach …
Dagobert Falz legte ihm da die Hand leicht auf die Schulter …
„Freund Nielsen – keine Gewissensbedenken …! Es gibt Situationen, in denen ein solches Vorgehen Pflicht ist …“
Nielsen nickte schwach und erzählte von der Null und dem Ehrenwort …
Gipsy horchte auf, rief:
„Ja – Ihre Zellentür war nicht verriegelt …! – Mr. Nielsen, ich fürchte, daß es mit dieser Gnade des großen Verbrechers eine böse Bewandtnis hat … Wenn er uns, woran nicht mehr zu zweifeln ist, wirklich um sieben Uhr früh die Freiheit schenken wollte, dann … hat er fraglos bis zu dieser Stunde seine Pläne zur Vollendung gebracht … Dann müssen wir uns anderseits beeilen, nach Schloß Missamill zu kommen, damit wir dort verhüten, was sich noch verhüten läßt …“
Sie schwieg einen Moment …
Und fügte hinzu: „Damit nun auch das Wichtigste gesagt sei, was Ihnen, Frau Gräfin, und auch Frau Ellen völlig neu ist, der Verräter auf Schloß Missamill ist kein anderer als Mr. Randercilds Privatsekretär Jaques Elvan …!“
Wieder eine Pause …
Agnes flüsterte verstörte: „Mein Gott – Elvan …!“
„Es stimmt,“ erklärte Dr. Falz. „Auch ich war ihm bereits auf der Spur …“
„Mehr noch!“ rief Gipsy, durch ihre eigenen Gedanken erregt und wie im Fieber. „Elvan ist nicht nur der Spion, Verräter und Mörder von Schloß Missamill, sondern – er ist auch die Null selbst …! – Ich habe Augen für jede Kleinigkeit … Elvan hat eine besonders charakteristische Art sich zu verbeugen … Und genau dieselbe Verbeugung beobachtete ich bei dem Sipa, bei der Null … Als mir dies erst aufgestoßen war, fand ich auch unschwer die genaue Übereinstimmung in Größe, Figur, anderen geringen Eigentümlichkeiten heraus … Selbst Mr. Nulls verstellte Sprache konnte das Organ Jaques Elvans nicht ganz verleugnen …“
„Oh – ich bin blind gewesen!“ meinte Nielsen da kopfschüttelnd. „Bin ich blind gewesen …!! Natürlich, Elvan ist die Null …! Elvan ist der Mörder des armen Roussell, der Mörder des durch Pasqual gefangengenommenen Chinesen, der Dieb der Injektionsspritzte! Elvan fuhr beständig zwischen Missamill und Neuyork hin und her … Elvan wußte alles, was sich im Schlosse zutrug! – Freunde, wir müssen fort von hier … Gipsy hat recht, in dieser Nacht will der große Schurke etwas gegen den Azorenschatz unternehmen …! Brechen wir auf …! Wir haben drei Pistolen zur Verfügung … Wer uns in den Weg tritt, – – es muß sein …!! Vorwärts also …!“
Mit Tschangs Laterne schritt er voran. Der Ausgang der Erdhöhle war bald gefunden – die eiserne Leiter, die in den Zementröhren emporführte …
Die Steintür der ausgemauerten Müllgrube schob sich auf …
Nielsen sprühte der Regen ins Gesicht … Wie Meeresrauschen klangen die fallenden Tropfen …
Er barg die Laterne unter der Jacke … stieg den Müllberg hinan bis in den Hof. Die anderen warteten …
Nielsen tappte zur Mauer … suchte den Weg auf die Straße … Fand das Hoftor – nur einen Innenriegel, der es verschloß …
Holte die Freunde … Man war auf der Straße … hielt sich dicht nebeneinander …
In Regen und Finsternis gings bis zur nächsten größeren Verkehrsstraße … Trübe Lichter haltender Autos glotzten durch das neblige Dunkel …
Eins der Autos brachte die fünf Sphinxleute dann zum Hause der Firma Worg & Co.
Ein Zufall, daß im Vorraum gerade Jolling und der kleine Bret Caag sich aufhielten …
Die beiden Detektive wurden zu Salzsäulen …
Nielsen brachte Leben in die Büros … Der Chef war nicht anwesend und so übernahm Jolling alles weitere. Er war gleichfalls überzeugt, daß die Null in dieser Nacht etwas plante …
Er telephonierte …
Die Firma hielt jeder Zeit zwei große Flugzeuge bereit …
Schon bald rasten zwei Autos zum Flugplatz Shelson Madge …
Halb vier morgens stiegen sie auf … – Richtung Missamill … In dem einen die fünf Sphinxleute, Jolling und Bret Caag und ein dritter Detektiv … Im weiteren acht Leute von Worg & Co. – die besten, über die das Institut verfügte … Alle bis auf die Zähne bewaffnet … Alle fiebernd … Hatte man doch bereits festgestellt, daß telephonischer Anruf im Schloß zwecklos … Die Leitungen mußten zerstört sein … –
Noch immer wolkenbruchartige Regengüsse … Noch immer dieselbe Finsternis … Keine Möglichkeit, sich zu orientieren … – Die Piloten der Flugmaschinen merkten nach einer halben Stunde, daß sie sich längst jenseits von Schloß Missamill befinden mußten …
Kehrten um … Suchten von neuem … Flogen in kaum hundert Meter Höhe … Aber an den Fenstern der Führerkabinen liefen die Regenschnüre ohne Unterlaß hinab … Nichts war zu sehen …
Nielsen sprach mit dem Piloten …
„Ich habe Seemannsaugen … Ich will mich oben auf die Gondel legen … Ich nehme eine Leine mit, deren anderes Ende Mr. Jolling halten muß. So kann ich Zeichen geben …“
Noch tiefer sanken die großen Vögel mit ihrer menschlichen fiebernden Fracht …
Nielsen lag noch keine zwei Minuten auf dem runden Gondeldeck, als Gipsy sich neben ihn schob …
Die sausende, pfeifende Zugluft riß ihr das Wort vom Munde weg …
Nielsen preßte ihre Hand …
Tiefe Zärtlichkeit erwärmte sein besorgtes Herz … Welch ein wackeres Mädel …! Eine Kameradin, wie es so leicht keine bessere gab …!
Hand in Hand ruhten sie auf dem schlüpfrigen Deck … Umklammerten mit den linken Händen die eisernen Deckhaken …
Die Propeller surrten, warfen nasse Fontänen…
Hand in Hand … Zwei Menschen, die das Schicksal in dieser Nacht aneinander schmiedete …
Nielsen bohrte die Blicke in die Regenschleier …
Seine Augen schmerzten …
Dann – – endlich verschwommen die Umrisse von zwei Türmen …
Missamill …!! – Und dort links im Park umherirrende Laternen … Dort etwa mußte die Sphinx auf den Tennisplätzen ruhen …
Dort etwa …
Er ruckte an der Leine …
Vereinbarte Zeichen …
Tiefer glitten die Flugzeuge – glitten gen Westen, wo jenseits der Straße sich Äcker hinzogen …
Landeten …
Das Fahrgestell des einen ging in Trümmer …
Was tat’s …
Aus verdunkelten Kabinen kletterten nervöse Menschen, sammelten sich um Jolling, Nielsen und Gipsy.
„Frau Agnes und Frau Ellen bleiben mit Dr. Falz hier,“ bestimmte Nielsen. „Auch die Piloten. Sollte etwa die Sphinx aufsteigen, so ist sie sicher von Elvans Banditen besetzt … Dann, Frau Ellen, – Sie sind sichere Schützin, dann versuchen Sie, den Lebensnerv der Sphinx zu treffen … Hier diese Maschinenpistole wird Ihnen gute Dienste leisten …“
Doch Agnes und Ellen sträubten sich, hier vielleicht in Untätigkeit zu verharren … Die Angst um Gaupenberg und Hartwich trieb sie nach dem Schlosse … Niemand wußte ja genau, was dort vorgefallen … Man ahnte es nur …
So blieben denn nur die Piloten, Dr. Falz und ein Detektiv bei den Flugzeugen zurück …
Der Trupp setzte sich in Marsch. Über Äcker und Gräben zum Parktor … Nielsen, Gipsy, Jolling wieder voran …
Alle durchnäßt bis auf die Haut … Alle vorwärtsdrängend in dem Bewußtsein, daß ohne Zweifel Schloß Missamill in der Gewalt Elvans und seiner Mörderbrut. –
Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Mit der herannahenden Morgendämmerung war ein Luftzug lebendig geworden, der die schwarzen Wolkenmassen langsam zerteilte und immer kräftiger wurde. Einzelne Windstöße fauchten die Straße entlang, auf der Nielsens Schar sich jetzt weiterbewegte. Die Bäume am Wegrande rauschten und schleuderten die Tropenfülle ihrer Blätter wie Hagelschlossen auf die Dahineilenden.
Agnes und Ellen gingen Arm in Arm dicht hinter Gipsy und Jolling. Nielsen war fünf Schritt voraus. Die übrigen schlossen sich in unregelmäßiger Reihe an.
Dann gab Nielsen ein Zeichen mit der Hand … Man machte halt. Das Parktor mit seinen hellen Marmorpfeilern schimmerte matt durch die Finsternis.
Nielsen orientierte sich, kam zurück …
„Ich erkenne Gestalten am Tore,“ meinte er. „Wir müssen links an der Mauer entlang … Und dann über die Mauer …“
Ein neuer Regenguß …
Die kleine Schar erreichte den Pfad zwischen Mauer und Abhang des Vorgebirges …
Einige der Detektive gehörten zu denen, die hier gestern noch den Wachdienst mit versehen hatten. Sie wußten hier genau Bescheid … Nielsen schickte sie als Späher voran.
Sehr bald schon kehrten sie zurück, meldeten, daß unten zwischen den Wellenbrechern des Jachthafens ein größeres Fahrzeug läge und daß an der Steintreppe, die am Abhang hinabliefe, Wachen postiert seien.
„Über die Mauer!“ entschied Nielsen da … – Das war die einzige Möglichkeit, ins Schloß zu gelangen, ohne bemerkt zu werden.
Die hohe glatte Mauer, oben noch mit nach außen gebogenen langen Eisenspitzen, bot jedoch ein schweres Hindernis … Besonders den Frauen. Es dauerte fast zehn Minuten, bis alle hinüber waren.
Man stand nun jenseits der Mauer im dichten Gebüsch…
Halbrechts, etwa hundert Meter entfernt, mußten die Tennisplätze liegen.
Jolling, Bret Caag und Nielsen schlichen weiter …
Kamen an die Buchsbaumhecken, die hier die Tennisplätze einhegten …
Und beobachteten ein dauerndes Hin und Her von Leuten, die Leitern als Tragbahren benutzten … Darauf standen Holzkisten … Jeder Transport wurde von einem Manne mit Laterne begleitet …
Nielsen flüsterte heiser:
„Man bringt den Goldschatz in die Sphinx … – Jolling, was tun wir?“
Der Detektiv zog seine Taschenuhr … Das Zifferblatt leuchtete matt.
„Es ist jetzt dreiviertel vier, Mr. Nielsen … Sie wissen, daß ich die Geheimpolizei in Neuyork verständigt habe … Zwei Lastautos mit Beamten sollten sofort in Marsch gesetzt werden … Rechnet man zwei Stunden Fahrzeit bis hierher nach Missamill, so würde die Verstärkung um einen viertel fünf etwa zu erwarten sein … – Also noch eine halbe Stunde …“
„Leider!“ seufzte der kleine Caag … „Bis dahin können die Schurken mit der Sphinx auf und davon sein …“
Die drei Männer, eng an eine Lücke in der Hecke geschmiegt, versuchten umsonst, Näheres von dem Luftboot zu erkennen. Dies lag inmitten der Tennisplätze wie ein riesiger ovaler grauer Fleck.
Und immer neue Träger mit beladenen Leitern tauchten auf und verschwanden nach rechts zur Sphinx hin.
Lautlos wie Gespenster im Regennebel … Eilig trippelnd … Eilig zurückkehrend zum Schlosse …
Nielsen erklärte dann:
„Wir können nicht warten … Wir müssen etwas unternehmen. Dieser Schurke von Elvan, der auch mit den Einrichtungen des Flugbootes genügend vertraut ist, wird die Sphinxröhre längst eingefügt haben. Das Luftschiff kann jeden Moment aufsteigen. Die Hilfe der Polizei nützt uns dann nichts mehr … – Caag, holen Sie die Maschinenpistole … Ich werde mich allein hinwagen. Ich weiß, wo das Gehäuse der Röhre sich am Heck befindet. Ich werde sie durch Schüsse zerschmettern … Dann ist das Luftboot eine tote Masse … – Und Sie, Jolling, – Sie führen bitte die Damen in einen der kleinen Marmortempel, der sich gut verteidigen läßt. Sie kennen die Nachbildung des Brahmatempels unweit der großen Fontäne. Dort erwarten Sie mich bitte … – Kein Wort dagegen, Jolling … Ich gehöre zu den Sphinxleuten … Meine Pflicht ist es, mich nötigenfalls zu opfern … – Rasch, Caag, holen Sie die Maschinenpistole … Soll etwa der Schurke mit dem Golde uns entkommen?!“
Die beiden Detektive eilten davon …
Nielsen spähte weiter zur Sphinx hinüber. Eine Regenpause ließ die Umrisse des Luftbootes klarer hervortreten …
Nun erkannte er auf dem Deck eine Anzahl Gestalten. Er zweifelte nicht, daß Jaques Elvan, Mafalda und Lomatz sich mit darunter befanden. Und ihn, den Ruhigen, Kaltblütigen, packte jetzt eine unsägliche Wut, weil abermals gerade die Fürstin Sarratow über die Sphinxleute triumphieren sollte …
Mit verzehrender Ungeduld harrte er auf Bret Caags Rückkehr, auf die Maschinenpistole …
Oh – er würde nicht allein auf die Sphinxröhre zielen … Er würde hier reinen Tisch machen … Würde vernichten, was zu vernichten war …! Es mußte sein …! Dieses Teufelsspiel, dieser Kampf mit der Abenteurerin, die stets wieder zur Unzeit auftauchte und stets von neuem Verbündete fand, sollte ein blutiges Ende nehmen, und wenn er selbst dabei zu Grunde ginge …
Dann …
Herum schnellte er wie von einer Riesenfaust gedreht …
Von der Parkmauer her Schüsse … Gellende Schreie.
Und – jäh wieder Stille wie vorher …
Jäh wieder das Tröpfeln von den Blättern, das Rauschen der Bäume …
Nielsens Nerven bebten …
Entsetzliche Ahnung lähmte ihn …
Bis eine Hand von rückwärts sich schwer auf seine Schulter legte …
„Mr. Nielsen,“ sagte Jaques Elvan jetzt mit seiner natürlichen Stimme, „Mr. Nielsen, es tut mir leid, aber – – Sie haben dieses Zwischenspiel verloren … Sie sind seit einer halben Stunde unausgesetzt beobachtet worden …“
Nielsen schaute in die Mündung einer Browningpistole, die dicht vor seinem Gesicht drohte …
Im selben Moment pfiff etwas zischend an Nielsens Stirn vorüber … Der Knall des Schusses drang an sein Ohr … Ein dumpfer Schlag neben ihm – so, als ob man mit flacher Hand auf ein Brett trifft …
Ein Körper fiel gegen seine Schulter …
Wie ein Schatten tauchte Gipsy Maad aus der Dunkelheit auf, faßte Nielsens Hand, zog ihn mit sich fort …
Der schwere Körper, des Halts beraubt, fiel klatschend auf den Rasen …
Ein paar Stunden vorher …
Die Mörderbrut des Sipa war von dem Jachthafen durch den geheimen Gang in Randercilds Arbeitszimmer und damit in das Schloß gelangt …
Die Null oder, wie wir ihn bereits beim richtigen Namen genannt haben, Jaques Elvan hatte längst jedem der Seinen eine bestimmte Aufgabe zugewiesen, hatte insbesondere den achtzehn Leuten, die seine eigentliche Leibgarde bildeten, Zeichnungen der Schloßräume ausgehändigt, so daß nun unverzüglich die Überwältigung der Dienerschaft und der sonstigen Bewohner des Missamill-Palastes vor sich gehen konnte …
Alles im Schlosse schlief …
Nur unten in dem Vorraum der Stahlkammer saßen die beiden Wächter und hielten sich durch Kartenspielen munter. Es waren dies ein Detektiv und jener Diener Francois, der damals das Teebrett getragen hatte, als mit Hilfe der gestohlenen Injektionsspritzte in die Tülle der Kaffeekanne das Betäubungsmittel auf so raffinierte Art eingebracht worden war.
Francois und der Detektiv hörten dann plötzlich von der Treppentür her starkes Pochen. Die Ablösung konnte es noch nicht sein. Francois meinte kopfschüttelnd:
„Wer mag dort Einlaß begehren?!“
Der Detektiv winkte …
„Gehen wir zusammen zur Tür …“
Und er griff nach der Pistole…
Die Tür des Kellereingangs wurde stets von den Wächtern verschlossen gehalten. Francois nahm mit dem Türschlüssel ebenfalls seine Pistole vom Tisch …
Sie stiegen die Treppe hinan.
„Wer da?!“ rief der langjährige Diener des Milliardärs ganz militärisch …
Eine Stimme kam zurück … Francois erkannte die des Privatsekretärs …
„Öffnen Sie, Francois …! Mr. Randercild hat befohlen, daß die Wache im Vorraum verstärkt wird …“
Der Diener wunderte sich weniger über die neue Vorsichtsmaßregel, als vielmehr darüber, daß Mr. Elvan jetzt in der Nacht aus Neuyork zurückgekehrt war. Trotzdem argwöhnte er nichts Böses, öffnete und meinte dabei zu dem Detektiv:
„Es ist nur der Privatsekretär, Mr. Richardson …“
Kaum war die Tür offen, kaum hatten Francois und der Detektiv den als Chinesen verkleideten Elvan und hinter ihm drei scheinbar echte Schlitzaugen bemerkt, als ihre Arglosigkeit sich schon bitter rächte.
Sie hatten ihre Waffen nicht bereit gehalten … Sie waren wehrlos gegenüber den heimtückischen blitzschnellen Hieben mit dicken Gummiknütteln …
Taumelten zurück …
Empfingen in halber Bewußtlosigkeit die tödlichen Stiche …
Die erbarmungslosen Mörder fingen die zusammenbrechenden Körper auf, schleppten sie nach unten …
So wurde der Zugang zu den Gewölben erzwungen … – Und nicht viel anders erging es der übrigen Dienerschaft, erging es dem Milliardär und seinen Gästen …
An jeder Tür dieselbe verräterische Lisz: Elvan Stimme lockte die Ahnungslosen heraus …
So wurden Gaupenberg, Hartwich, Dalaargen, Randercild – alle, alle niedergeschlagen und gefesselt … Nur die jungen Mädchen und die Dienerinnen behandelte man zarter …
In einer Viertelstunde war Schloss Missamill vollkommen erobert. Dann erst wandte Elvan mit seiner Bande sich dem Parke zu …
Den Wächtern der Sphinx erging es nicht anders.
Der Torhüter am Parktor teilte gleichfalls das Schicksal aller übrigen …
Elvan war Herr von Missamill, war Herr der Sphinx, der Milliarden …
Elvan wußte, wo die Patentschlüssel zur Stahlkammer verborgen lagen …
Und der Transport der Goldschätze zur Sphinx begann unverzüglich …
Seine achtzehn Getreuen verteilte die Null, die das Geheimnis ihrer Persönlichkeit auch jetzt noch sorgsam zu hüten wußten, in geschicktester Weise, so daß die Mitglieder der Roten Dschunke, des chinesischen Geheimbundes, nie unbeaufsichtigt waren. Wachposten stellte er aus … Sorgte umsichtig für seine Sicherheit …
Nichts vergaß er. Alles war ja schon seit Tagen bis ins kleinste überlegt worden. Es war ein Feldzugsplan, der jede Schwierigkeit berücksichtigt hatte …
Und alles klappte … Nirgens trat eine Stockung ein. Mafalda und Lomatz mußten auf der Sphinx das Verstauen des Goldes überwachen. Elvan selbst war bald hier, bald dort, erschien ganz überraschend in der Stahlkammer, dann wieder im Parke, dann wieder bei den Wächtern, die die gefesselten Schloßbewohner und die in ein anderes Zimmer eingesperrten Frauen beaufsichtigten.
Er war überall – wie ein ruheloser Geist …
Und tauchte unvermutet aus dem Gebüsch auf, gerade als der Schuster Laong-Tse und der Teestubenwirt Sung Lo Schen schwitzend und keuchend eine gepackte Leiter zur Sphinx schleppten und dabei, sich einmal ausruhend, flüsternd ihrem unsäglichen Haß gegen den Sipa Ausdruck gaben …
Ein schrilles Lachen ließ da ihre Körper auseinanderfahren …
Der Sipa stand in der Dunkelheit dicht neben ihnen …
Sagte eisig: „Tschang Lu und Tami sind tot …! Wollt auch ihr beide zur Hölle fahren?! – Vorwärts!! Was faulenzt ihr …!!“
Und jedem einen Fausthieb versetzend, rief er dem Begleiter des Transportes, der mit der Laterne abseits sich aufhielt, scharfen Tones zu:
„Gib acht auf diese beiden …! Laß sie mit niemandem sprechen …!“
Der Mann war einer der Leibgarde des Sipa …
Und die Null verschwand wieder im Dunkeln – wie ein Nichts …
Laong-Tse und Sung Lo Schen keuchten unter ihrer Last weiter … Machtlos waren sie gegenüber ihrem Peiniger, der in dieser Nacht hatte sterben sollen, und der jetzt über seine heimlichen Gegner mehr denn je triumphierte …
Alles, was die Rote Dschunke in jener nächtlichen Sitzung beschlossen hatte, war in Nichts zerronnen … Der Sipa hatte ihnen bewiesen, daß sie ihm gegenüber klägliche Stümper waren …
Durch Regengüsse, über aufgeweichte Parkwege schleppten die beiden Chinesen die Leiter mit der goldenen Fracht …
Hatten jetzt in der Stahlkammer trunkenen Blickes die Milliarden geschaut …
Und ihr Haß und ihre Wut gegen den, der ihnen diese Schätze nun vorenthielt, der sie vielleicht mit einem armseligen Lohn abfinden würde, erstickte sie fast … –
Hinter ihnen keuchten schon die Nächsten …
Zehn Trägerpaare brachten das Gold zur Sphinx.
Und immer mehrleerte sich die Stahlkammer …
Jaques Elvan berechnete ungefähr, daß noch acht Leiterlasten vorhanden seien … Dann … kam der letzte Akt des Dramas. Die Sphinx, von Mafalda und Lomatz und zwei der zuverlässigsten Leute der Null bewacht, war jederzeit abfahrbereit … Die Sphinxrröhre war eingefügt. Die Stahltrossen, mit denen Gaupenbergs genialer Schifflein an starken Bäumen verankert gewesen, waren gelöst. Die Propeller hatte man zur Probe arbeiten lassen, auch zur Probe das Höhensteuer betätigt – und die Sphinx hatte gehorcht … war langsam emporgestiegen, wurde wieder nach dieser Probe am alten Platze zum Landen gebracht.
Alles klappte … Alles …
Der Feldzugsplan dieses Mannes, der ein Verbrechergenie von besonderer Art darstellte, schien endgültig gelingen zu wollen …
Dann aber trat der erste bedrohliche Zwischenfall ein …
Einer der Wachposten vernahm in der Finsternis über dem Parke das Geräusch von Flugzeugen …
Sofort ging Meldung an den Sipa ab, der gerade aus den Kellergewölben kam …
Die Meldung lautete: ‚Zwei Flugzeuge haben in geringer Höhe den Park überflogen und sind anscheinend in der Nähe gelandet …’
Der Sipa fühlte in diesem Moment zum ersten Male in dieser Nacht etwas wie eine Vorahnung dessen, was später sicher ereignen sollte …
Er, der Mann ohne Nerven, schrak zusammen …
Flugzeuge – – dicht über dem Park – – bei diesem Unwetter …!! Das hatte etwas zu bedeuten …! Das war kein Zufall …!
Und er selbst eilte vor das Parktor, er selbst durchforschte die Umgebung …
Er selbst war’s, der den Trupp bemerkte, der unter Nielsens Führung der Parkmauer zustrebte – dem Feind …!!
Er eilte zurück, beorderte andere Späher, erteilte Befehle …
Man sollte den Feind, falls er es versuchte, ruhig über die Mauer lassen, dann einkreisen, niederschießen, was Widerstand leistete … –
So nahmen denn die Ereignisse ihren Lauf …
So kam es, daß der Sipa, als seine Banditen an der Mauer ein paar der Detektive niederschossen, neben Gerhard Nielsen erschien, und daß dann Gipsy Maad wieder, die Nielsen heimlich gefolgt war, die Kugel abfeuerte, die dem Leben des großen Verbrechers jäh ein Ende bereitete …
Der Sipa war tot …
Lag im nassen Gras neben der Taxushecke, mit dem Gesicht nach unten …
Und Nielsen und Gipsy flüchteten in die Büsche, wußten zähe Verfolger hinter sich … Waren die beiden einzigen, die von den Sphinxleuten hier im Park noch frei sich bewegen konnten … –
Die beiden einzigen?!
Nein – doch mit …!!
Da war noch jemand, der Sipas Banditen schon im Schlosse entgangen war …
Einer, der allein in einem Stübchen des Seitenflügels im zweiten Stock auf seinen Wunsch hin untergebracht worden war …
Einer, der dieses Stübchen liebte, weil die Parkbäume die Fenster hier umfächelten … Weil er aus den Fenstern sofort in die Baumkronen gelangen konnte.
Der eine war Murat, der Homgori …
Murat, der Affenmensch, das Geschöpf der Kreuzungsversuche eines Gelehrten, der diesen Halbmenschen dann mancherlei beigebracht hatte …
Murat, der treue, zottige Gefährte der Sphinxleute …
Und gerade an den hatte Jaques Elvan bei seinem Feldzugsplan nicht gedacht …
Gerade ihn vergessen … Gerade diesen seltsamen bärenstarken Abkömmling von Mensch und Gorilla …
Und Murat war frei …
Murats feines Gehör hatte die vielfachen Geräusche im Schlosse vernommen und sehr bald auch die Urheber dieses nächtlichen Lärmens festgestellt. – Er, mit menschlicher Intelligenz ausgestattet, dazu noch mit all jenen überfeinen Instinkten seiner Gorillaahnen mütterlicherseits begabt, hatte sich lautlos in den Hauptflügel des Schlosses geschlichen, auf Wegen, die niemandem als ihm allein gangbar … – außen von Fenstervorsprung zu Fenstervorsprung, von Sims zu Sims …
Er sah die Menge fremder Gestalten in den hellen Korridoren … Er sah auch in das Zimmer hinein, wo die gefesselten männlichen Sphinxleute bewacht wurden: Gaupenberg, Hartwich, Dalaargen, Tom Booder, Gottlieb Knorz, Pasqual und der Milliardär Josua Randercild …
Er erfaßte im Moment die Sachlage … Er hing draußen am Balkongitter, und sein behaartes, mehr neger- als affenähnliches Gesicht spiegelte, regentriefend und unheimlich verzerrt, die wilde Wut deutlich wieder.
Wäre er nur ein Tier gewesen, würde er sich vielleicht zu einer Unbesonnenheit haben hinreißen lassen. Als vernunftbegabtes Wesen gab er der kühlen Überlegungen Raum und tat nichts von dem, was einen Augenblick in seinem Geiste aufbegehrte: die Fenster der Balkontüren einzuschlagen und über die beiden Wächter der Gefangenen herzufallen.
Nein – er hütete sich, den ihm wohlbekannten Repetierpistolen Zielscheibe zu werden … Er kannte die Wirkung der kleinen heimtückischen Geschosse von der schwarzen Insel her … Dort hatte er mit schwerem Lungenschuß tagelang auf den Tod daniedergelegen.
Er wollte erst prüfen, was die so urplötzlich aufgetauchten Feinde weiter noch unternehmen würden.
In den Park kletterte er hinab, wo er Zeuge des Transportes des Schatzes nach der Sphinx wurde.
An das Luftschiff kroch er heran im Schutze der Wasserbäche, die sich aus den Wolken herab ergossen …
Witterte verhaßten Menschenduft: Mafalda Sarratow, die als Dame in Trauer am Morgen das Schloß besucht hatte …
Hörte Stimmen, verstand Worte…
Mafalda und Lomatz standen an der Außenleiter der Sphinx auf dem Tennisplatz … und dicht neben ihnen hockte unsichtbar in dieser feuchten Finsternis der grimme Homgori …
Über Mr. Null sprachen die beiden … Über die Möglichkeit, diesem Mr. null, von dem sie bisher nichts kannten als ein geschminktes Antlitz, eine verstellte Stimme und einen Namen, der nichts besagte, – – dieser Null den Raub abzujagen …
Da ein neuer Transport nahte. Da das Licht der Laterne des Begleitmannes Murats Sicherheit bedrohte, schlüpfte der Homgori in die Büsche zurück …
Ruhelos irrte er weiter umher … Beobachtete, lauschte, spähte und zergrübelte sich seinen flachen Affenschädel nach einem Mittel, den Freunden zu helfen. Er war waffenlos … Eine einzige Pistole hätte den Dingen eine andere Wendung gegeben … Eine einzige Pistole in Murats kundiger Hand …
Zwei Stunden gingen so fast hin …
Dann fand Murats das Mittel, sich eine Schußwaffe zu besorgen …
Drei Steine suchte er im Park – Steine, einen halben Zentner schwer, – und mit diesen lauerte er einem der Transporte auf … einem der letzten …
Die beiden Träger der schwer beladenen Leiter waren Laong-Tse und Sung Lo Schen, der Begleitmann, ein als Chinese herausgeputzter Bursche von des Sipas treuer Garde.
Als die drei eine der kreisförmigen Buchsbaumlauben passierten, brach als erster der begleitende Wächter zusammen. Der Stein hatte ihm das Genick zerschmettert. Die Laterne flog neben den Toten in den nassen Kies.
Auch Laong-Tse und der Teestubenbesitzer sanken sterbend zu Boden …
Murat zog die Leichen rasch in das Bassin der nahen Fontäne, schleppte ebenso die Leiter und die Kisten in die Büsche …
Der nächste Transport nahte, durchquerte die Laube – ahnungslos …
Der Homgori hatte jetzt die Browningpistole des Begleitmannes und dessen Dolchmesser in den Taschen seiner weiten, triefenden Beinkleider …
In Riesensätzen stürmte er dem Schlosse zu, erklommen die Außenwand am Blitzableiter des Hauptflügels und schwang sich auf den Balkon.
Die beiden Wächter der gefangenen Sphinxmänner hörten plötzlich die Türfenster klirren …
Und im Rahmen der zersplitterten Fenster erschien nun die breite, riesige Gestalt des Affenmenschen, doppelt abschreckend, weil das pitschnasse fellumrahmte Gesicht im Lampenlicht die Umrisse noch vergrößerte …
Murat feuerte …
Er schoß nicht zum ersten Male auf Menschen … Er wußte nichts von Nerven … Sein Arm war wie ein Schraubstock, seine Hand reglos und sicher …
Er traf … Den einen über der Nasenwurzel in die Stirn … Den anderen in den Hals, in die Wirbelsäule …
Beide schlugen nieder wie vom Blitz gefällt …
Murat war schon im Zimmer … Das Dolchmesser zerfetzte die Stricke … Die Männer waren frei …
Man drückte Murats Riesenfäuste … Man dankte ihm mehr durch Blick als durch Worte …
„Frauen im vierte Zimmer von hier …“ erklärte der Homgori kurz … „Auch zwei Wächter dort … Murat hingehen und töten …“
Dalaargen nahm eine der Pistolen …
Als sie den Flur betraten, stand bereits einer dieser beiden Wächter vor der Tür jenes Zimmers. Die Schüsse waren gehört worden … Der Kerl hob den Arm …
Der Herzog drückte drei Sekunden früher ab …
Die Kugel Murats gab ihm den Rest. – Der andere Bandit suchte zu fliehen … jagte den Korridor hinab …
Nutzloses Beginnen gegenüber der Schnelligkeit des Homgori …
Der sprang ihm in den Rücken, hob den Mann empor, schleuderte ihn die Treppe hinab … Und ein halb zerschmettertes Bündel hing am Geländer …
Gerade als dies geschah, fand der gefürchtete Sipa fast zur selben Minute im Parke den Tod durch Gipsy Maads sichere Hand … –
Als dies geschah, hatte soeben Lomatz das Verstauen der letzte Goldlast in der Sphinx überwacht …
Außer ihm und Mafalda waren zurzeit nur fünf von Nulls Garde an Bord …
Ein paar Worte der Verständigung zwischen Lomatz und der Fürstin genügten …
In beider Augen leuchtete das Feuer höhnischen Triumphs …
Die fünf, die ihnen im Wege, ahnten nichts von der Tücke dieser beiden Verbrecher, die seit Monaten den Kampf gegen die Sphinxleute mit brutalster Gewalttätigkeit führten …
Fünf dumpfe Schüsse im Kabinengang der Sphinx.
Lomatz schon im Führerstand …
Am Höhensteuer …
Mafalda an Deck …
Und das Luftboot hob sich vom Boden …
Im selben Moment flammte der grelle Kegel des Scheinwerfers auf, den die beiden soeben eingetroffenen Lastautos der Neuyorker Polizei mitgebracht hatten …
Die Beamten war bereits im Parke …
Schüsse knallten …
Ein zweiter Scheinwerfer warf gleißende Lichtbanh auf die emporschwebende Sphinx …
Neue Schüsse …
Gellende Schreie …
Fliehende Gestalten … Stürzende Menschen …
Wildes Geheul …
Höher, schneller strebte das Luftboot den Wolken zu …
Nielsen und Gipsy, dicht bei den Tennisplätzen angelangt, hoben ihre Waffen …
Wie ein schrilles Stöhnen höchster Wut klang Nielsens Ruf:
„Die Sphinxröhre …!!“
Sie feuerten – – auf das Gehäuse am Heck des Bootes – auf den Lebensnerv der Sphinx … …
Dann … verschluckte die Finsternis das emporschnellende Fahrzeug …
Aber – was Mafalda und Lomatz erhofft, gelang nicht vollkommen …
Eine der Kugeln hatte die Zuleitung des elektrischen Stromes zur Sphinxröhre gestreift, hatte bewirkt, daß der Strom sekundenlang aussetzte, daß wiederum Kontakt entstand …
So sank die Sphinx denn urplötzlich wie eine tote Masse wieder aus den Wolken zur Erde hinab …
Nicht zur Erde …
Nein – auf das Dach des Seitenflügels von Schloß Missamill schlug sie auf …
Schnellte abermals empor, sank wiederum, klatschte diesmal in die Wogen des Atlantik …
Und jetzt – war die Sphinxröhre vollends tot. Die Auftriebskraft fehlte … Nur die Propeller zogen das graue Boot als flinkes Schifflein durch die Wogen …
Immerhin, das verbrecherische Paar war entkommen, war im Besitz der Sphinx, des Schatzes, und nächtliche Dunkelheit und das weite Meer begünstigten ihre Flucht. Die Sphinx durchpflügte als seetüchtiges Fahrzeug das endlose Meer gen Norden …
Dr. Dagobert Falz, der mit den Piloten und einem Detektiv jenseits der Zufahrtstraße von Schloß Missamill bei den beiden Flugzeugen zurückgeblieben war, hatte das Nahen der Polizeiautos infolge der Motorgeräusche so frühzeitig gehört, daß er den Detektiv den Kraftwagen entgegenschicken konnte.
Kaum war der Mann davon geeilt, als auch schon die ersten Schüsse im Parke fielen …
Der Doktor, sehr beunruhigt durch diese offenbaren Anzeichen eines beginnenden Kampfes, war unschlüssig, ob er hier auf diesem einsamen Posten weiter ausharren sollte. Ganz besonders war es die Sorge um sein einziges Kind, die rotblonde Mela, die ihn nun mit aller Macht dorthin zog, wo nun auf das erste Geknatter zahlreicher Schüsse wieder völlige Stille herrschte.
Trotz alledem blieb er …
Eine innere Stimme sagte ihm, daß gerade jetzt, wo das Polizeiaufgebot mit eingreifen würde, die Möglichkeit sehr nahe läge, daß die Sphinx von dem verbrecherischen Privatsekretär zur Flucht genutzt werden könnte.
Er wandte sich daher auch an den einen der Flugzeugführer, die beide aufmerksam lauschend neben ihm standen, und bat ihn, sich jeden Moment zum Aufstieg bereitzuhalten.
Die Piloten, junge Amerikaner mit reicher Erfahrung und von jener sportlichen Abenteuerlust, die jede Gefahr als Zeitvertreib betrachtet, begannen jetzt leise miteinander zu streiten, wer von ihnen im Notfalle den Doktor zur Verfolgung der Sphinx in die Lüfte emportragen sollte.
Schließlich gab der Jüngeren nach, und Allen Brockfield, der Ältere, kletterte in die Gondel seines Riesenvogels empor, während Dr. Falz nun, stets nur nach den Geräuschen die Lage im Park beurteilend, aufmerksam in den Regennebel hinaushorchte …
Dann schoß plötzlich halb rechts eine verschwommene helle Linie zum Himmel empor. Ein Scheinwerfer arbeitete …!
Ein zweiter flammte auf …
Trotz der Entfernung erkannte Dr. Falz jetzt auch die emporschnellende Sphinx … Hörte die Schüsse … Hörte undeutliche Schreie …
Er lief zum Flugzeug … Stieg in die Gondel, zog die kleine Tür zu …
Der jüngere Pilot warf die Motoren an … Die Propeller rissen den großen Doppeldecker über den durchweichten Acker …
Der Anlauf genügte … Der mächtige Vogel hob sich vom Boden …
Inzwischen aber war die Sphinx infolge der Schußbeschädigung der elektrischen Zuleitung zur Sphinxröhre schon wieder gesunken, hatte einen Teil des Schieferdaches des Schlosses schwer beschädigt und war abermals wie ein weidwunder Adler aufgestiegen, um dann etwa zweihundert Meter von der Spitze des Vorgebirges entfernt in den Atlantik einzutauchen …
Jedenfalls hatte der Pilot Allan Brockfield die Sphinx auf diese Weise aus den Augen verloren …
Wenn nicht ein besonderer Zufall dann dem Doktor, der durch eines der Kabinenfenster in die Tiefe spähte, die offene erleuchtete Turmluke der Sphinx gezeigt hätte, würden Mafalda und Lomatz voraussichtlich für alle Zeit mit ihrer Riesenbeute entkommen sein …
So aber verständigte Falz den Piloten, und der Doppeldecker zog nun hundert Meter über der flüchtenden Sphinx, die auch als Propellerschiff eine beträchtliche Geschwindigkeit besaß, unbemerkt dahin … durch Regen und immer stärker anwachsenden Wind, bis gegen halb sechs Uhr früh die Wolkenmassen sich lockerten und stellenweise die Sonne durchbrach …
Da mußte das Flugzeug denn, um den Verfolgten unsichtbar zu bleiben, größere Höhen aufsuchen, zumal Dr. Falz durch das Fernglas Mafalda wiederholt auf dem leicht gewölbten Deck der Sphinx bemerkt hatte.
Und abermals eine halbe Stunde darauf leuchtete der Himmel im prächtigsten Blau. Das Unwetter dieser Nacht war vorüber. Der junge Tag ließ nichts mehr von jenen Regenfluten ahnen, unter deren Schutz der gefürchtete Sipa seinen Überfall auf Schloß Missamill unternommen hatte … Der junge Tag leitete mit kräftiger, erfrischender Brise und klarem Äther einen neuen Abschnitt in Kampf um den Azorenschatz ein.
Dagobert Falz stand an einem der Kabinenfenster des mächtigen Vogels und beobachtete unausgesetzt die flüchtende, jedem auftauchenden Fahrzeug in weitem Bogen ausweichende Sphinx.
Längst lag die gefährliche Küstenzone mit ihren Patrouillenschiffen gegen den Alkoholschmuggel hinter dem dahinschießenden Propellerboot.
Lomatz behielt den nordöstlichen Kurs unverändert bei. Ihm lag daran, aus diesen belebten Meeresstrichen in stille Gegenden des Atlantik zu gelangen, wo man in Ruhe den Schaden an der Sphinxröhre ausbessern konnte.
Sowohl die Fürstin wie auch Lomatz spürten jetzt immer deutlicher eine kaum mehr zu bekämpfende Müdigkeit. Sowohl die Aufregungen wie auch die körperlichen Anstrengungen der verflossenen Nacht machten sich unangenehm bemerkbar. Selbst der starke Kaffee, den Mafalda in der kleinen Kombüse der Sphinx zubereitet hatte, half nur mehr für kurze Zeit.
Aus hohlen Augen, mit blassen, übernächtigten Gesichtern schauten die beiden Abenteurer drein. Auch der Gedanke, daß sie nun mit den erbeuteten Milliarden glücklich entkommen waren, verlor das Aufregende und Belebende.
Mafalda war soeben von Deck in den Turm hinabgestiegen, wo Lomatz halb zusammengesunken im Korbsessel saß und die Schaltbretter mit ihren vielfachen Hebeln und Instrumenten beobachtete.
Er gähnte krampfhaft …
Fragte nun: „Wie sieht’s oben aus, Mafalda?“
„Der Horizont ist frei … Seit einer halben Stunde habe ich nicht einmal mehr die Rauchfahne eines Dampfers bemerkt …“
Sie setzte sich … Fragte müde:
„Gibt es denn hier in diesem Meeresteil keine Insel, die wir ansteuern könnten? – Unsere Kräfte sind aufgebraucht, Freund Edgar … Wir müssen schlafen … müssen! Fünf Stunden Ruhe würden genügen …“
Er blickte sie an … „Nein – hier ist weit und breit keine Insel zu finden, Mafalda … Aber – auf etwas anderes hoffe ich. In dieser Jahreszeit pflegen die Eisberge aus den Polargebieten ihre Wanderung südwärts anzutreten … Wenn wir solch eine schwimmende Eisinsel sichteten, könnten wir an ihr landen … Dort wären wir für Tage in Sicherheit … – Löse mich jetzt hier ab … Ich werde mit dem großen Fernrohr an Deck gehen … Vielleicht haben wir Glück …“
Und er erhob sich, trank noch rasch eine Tasse des starken Kaffees und klomm mit dem Fernglas die Eisenleiter des Turmes hinan.
Der frische Wind oben auf Deck belebte ihn …
Er lehnte sich an das halb herausgeschobene Sehrohr auf der Turmplattform und zog es auseinander …
Es war das beste Fernglas, das zur Ausrüstung der Sphinx gehörte …
Nach einigen Minuten hielt er es regungslos auf ein und denselben Punkt am östlichen Horizont gerichtet.
Dort hatte er einen weißen hellen Fleck erspäht …
Es konnten die Segel eines Schiffes sein, das mit dem Rumpf noch unter der Horizontlinie lag … konnten …!
Lomatz besaß immerhin einige nautische Kenntnisse …
Er merkte bald, daß das erspähte Weiß auffällig glitzerte …
Sein Herz begann schneller zu schlagen …
Noch zehn Minuten – dann hatte er Gewißheit, dann war die Sphinx nach geringer Kursänderung dem scheinbaren Segel so nahe gekommen, daß bereits drei hohe Zacken eines schwimmenden Eisberges sich unterscheiden ließen.
Lomatz beugte sich über das Mundstück des Sprachrohrs, das von hier in den Turm hinablief …
Öffnete die Mundstückklappe, die mit Gummirändern versehen war, und rief hinein:
„Hallo – Hallo …!! Mafalda – – ein Eisberg …!! Offenbar ein Bursche von kolossalen Maßen … In einer Viertelstunde erreichen wir ihn …“
Wie ein alle Müdigkeit verscheuchender Trank war diese Nachricht …
Die schlanke Abenteurerin fühlte neue Kräfte …
Die Sphinx näherte sich mit pfeifenden und surrenden Propellern dem Eisriesen immer mehr …
Immer klarer traten die Abmessungen des riesigen Gastes aus den Polargebieten hervor…
Lomatz schätzte das Eisfeld mit seinen Hügeln, Bergen, Klüften und Schneefeldern auf gut eine Meile Durchmesser … Die höchsten Spitzen ragten mindestens achtzig Meter über das Niveau des Ozeans hinaus …
Es war eine Eismasse, wie sie selten in solcher Ausdehnung gen Süden geschwommen war – eine Eisinsel von wunderbarer Schönheit, bestrahlt von der Sonne, die in den Schlünden und auf den glatten Flächen farbenfrohe Lichtreflexe hervorrief … –
* * *
Seit drei Wochen wanderte dieser Riese aus den unwirtlichen Gegenden des ewigen Eises wärmeren Breiten zu …
Seit drei Wochen lebte auf dieser kalten, feuchten tropfenden Insel eine kleine Schar von Menschen, die ein widriges Geschick zu dieser Robinsonade gezwungen hatte …
Vor drei Wochen war der isländische Robbenfängern ‚Harlasund’, eine Brigg mit Hilfsmotor, in der tiefsten Bucht dieser Insel aus Eis durch einen Brand zur Hälfte zerstört worden …
Ein schauerlich schöner Anblick war’s gewesen, als die brennende ‚Harlasund’ in tiefer Polarnacht in diese Bucht flüchtete und dann auf ein Eisriff auflief …
Die lodernden Flammen des brennenden Vorschiffes hatten die glitzernden Eiswände der Bucht wie in bengalische Beleuchtung getaucht…
Die aus zwölf Köpfen bestehende Besatzung hatte dann verzweifelt immer wieder die gefüllten Wassereimer in die lohende Glut gegossen … stundenlang … schwitzend – keuchend – um ihr Leben kämpfend gegen den roten Hahn, der von der Brigg Stück um Stück verzehrte …
Als der Morgen kam, war das Feuer bewältigt …
Aber viele der besten der Besatzung kostete die Nacht das Leben. Kapitän Söörgaard, der Steuermann und zwei Matrosen erlagen einer Rauchvergiftung.
Die übrigen acht, dazu Inge Söörgaard, des Kapitän Schwester, mußten auf dem Wrack der Brigg bleiben. Die beiden Rettungsboote waren zerstört. Nur der verkohlte Schiffsrumpf bot Schutz gegen Kälte und die häufigen Schneestürme der ersten Woche dieser Reise gen Süden auf der schillernden Eisinsel.
Von diesen acht Leuten, unter denen sich wilde verwegene Burschen befanden, die nur nach Island und auf die ‚Harlasund’ gekommen, weil sie vielerlei auf dem Kerbholz hatten, maßte sich sehr bald der Schiffskoch Skanderup, ein intelligenter, aber finsterer Mensch von keckem Unternehmungsgeist und wilder Entschlossenheit, den Oberbefehl über seine Gefährten an.
Als nach anderthalb Wochen einmal der zweite Steuermann den Koch maßregeln wollte, weil dieser nachts in Inge Söörgaards Kabine hatte eindringen wollen, schoß Skanderup den Steuermann einfach nieder. Von diesem Tage an war er Herr des Wracks. Seine sechs Gefährten gehorchten ihm blindlings – bis auf einen einzigen, für ihn allerdings wichtigen Punkt: seine schändlichen Begierden, deren Ziel die blonde, achtzehnjährige Inge Söörgaard war …!
In dieser Beziehung bewiesen diese rohen Burschen, die erbarmungslos mit den schweren Holzkeulen Hunderte von Robben mit ängstlichen, großen, menschenähnlichen Augen niedergeschlagen hatten, Herz. Sie schützten das junge Mädchen! Alle sechs erklärten dem finsteren Koch ganz unzweideutig, daß sie ihn lynchen würden, falls er Inge nicht in Ruhe ließe. Und Nacht für Nacht wachten zwei von ihnen abwechselnd vor ihrer Kabinentür. –
Um diese Mittagsstunde nun, als die Sphinx sich der Eisinsel nahte, hatte Ingeborg Söörgaard in Begleitung des Matrosen Tönsen wie stets einen Spaziergang durch die Eisinsel unternommen, um sich Bewegung zu schaffen. Auf dem Wrack lebte sie ja wie eine halbe Gefangene.
Holger Tönsen, ein Mann von etwa dreißig Jahren, nahm unter seinen Gefährten ebenfalls eine bevorzugte Stellung ein, freilich in ganz anderer Art als der Koch Skanderup.
Tönsen war ein stiller, wortkarger Mensch mit offenem sympathischen Gesicht, schlank und gut gebaut, mit schmalen, nervigen Händen und melancholischen dunklen Augen unter starken ebenso dunklen Brauen, die in auffallendem Gegensatz zu seinem blonden Bart und Haupthaar standen.
Dieser Matrose, den etwas Geheimnisvolles umgab und der fraglos all seinen Gefährten an Wissen weit überlegen war, hatte eine seltsame Gabe, seinen wilden ungezügelten Kameraden ins Gewissen zu reden. Er sprach nur selten. Aber wenn er sprach, geschah es mit einer Eindringlichkeit und einer so überzeugenden Schlichtheit, daß nur ein einziger ihm in solchen Momenten hohnlachend widerstand: der Koch Skanderup!
Tönsen allein verdankte Ingeborg Söörgaard ihre Rettung vor dem lüsternen Koch. Er war es gewesen, der die Gefährten zum Schutze des Mädchens aufgerufen und ihnen warnend vorausgesagt hatte, sie alle würden umkommen, wenn solch schwerer Frevel auf dem Wrack geschehen würde. –
So wanderten denn jetzt Inge und Tönsen soeben über ein flaches, mit Wasserlachen bedecktes Eisfeld im Südteil der schwimmenden Insel.
In der Luft kreisten Mövenschwärme, die den Eisberg getreulich begleiteten. Die Sonne schien warm auf dieses mächtige Kristallgebilde herab, das mit seinen Kältewellen, die auf große Entfernungen bei so ausgedehnten Eisbergen spürbar sind, die Strahlen des Tagesgestirns doch nicht wirksam genug bekämpfte, um eine allmähliche Zermürbung der Eisoberfläche verhüten zu können.
Der Eisfläche triefte förmlich vor Nässe. Und beim Passieren steiler Stellen mußte Holger Tönsen seine Begleiterin stets stützen, damit sie nicht ins Gleiten käme.
Tönsen benutzte einen langen Bootshaken als Bergstock. In den Taschen seiner dicken Jacke aber steckten zwei Repetierpistolen, von deren Existenz seine Gefährten nichts ahnten.
Ernste Gespräche waren es stets, die zwischen den beiden jungen Leuten geführt worden. Wie gute Kameraden standen Inge und Holger miteinander. Nie fiel ein vertrauteres Wort, obwohl beide wußten, wie es um ihre Herzen bestellt war. Die Unsicherheit ihrer Lage hier auf der schwimmenden Eisinsel inmitten einer Anzahl fragwürdiger verwilderter Seeleute ließ keinerlei Zärtlichkeiten aufkommen.
Soeben stiegen die beiden eine Eisschlucht hinab, die auf eine Plattform der steilen Küstenwand mündete. Diese Eisterrasse besuchten sie jeden Tag, weil man von hier die beste Aussicht über das Meer hatte, denn die Hügel der Insel waren ihrer Glätte wegen nicht zu erklimmen.
Der Eisberg, der infolge seines ungeheuren Gewichts selbst bei hohem Wellengang kaum merklich schwankte, drehte sich ebenso unmerklich in der ihn südwärts führenden Strömung nach Osten zu um sich selbst. Tönsen hatte längst festgestellt, daß diese Drehung in acht Stunden einmal vollendet wurde. Gerade jetzt zeigte die Plattform, auf der die beiden soeben angelangt waren, nach Südwest … Gerade jetzt war auch die in voller Fahrt durch die Wogen schließende Sphinx mit bloßem Auge zu erkennen …
Ingeborg Söörgaard erspähte das Boot als erste.
Ihr frisches, durch den Sonnenbrand auf dieser Eismasse dunkel getöntes Gesicht nahm einen Ausdruck frohen Staunens an …
So tieffroh erstaunt war sie über das Auftauchen des unbekannten eigenartigen Fahrzeuges, daß sie kein Wort über die Lippen brachte …
Dann erblickte auch Tönsen die Sphinx …
Ein tiefer Seufzer der Erleichterung rang sich aus seiner Brust hervor …
Endlich – – endlich brauchte er jetzt nicht länger in ständiger Angst um Inges Sicherheit zu schweben …
„Ein Schiff!!“ rief er jubelnd und nahm unwillkürlich Inges Hand in die seine …
„Ein Schiff!!“ wiederholte das Mädchen strahlend.
Tönsen schwenkte mit der Rechten seine Mütze … Mit der Linken hielt er Inges Hand umklammert …
„Gott sei’s gedankt,“ flüsterte er dann mehr zu sich selbst … „Gott sei’s gedankt … Diese drei Wochen werde ich mein Lebtag nicht vergessen …!“
Inge hörte kaum hin …
„Eine merkwürdige Schiff, Tönsen,“ meinte sie erregt. „Ein solches Fahrzeug habe ich noch nie gesehen …!“
„Ein Propellerboot …“ erklärte der Matrose und lugte scharf nach der Sphinx aus, auf deren Deck eine einzelne Gestalt auf dem niederen Turme zu erkennen war.
Noch eifriger winkte er dann, bis auch Lomatz drüben seine Kappe schwenkte – Lomatz, der noch immer seine Verkleidung und seine Maske als Chinese trug.
Die Sphinx war jetzt bis auf zweihundert Meter heran.
Lomatz beugte sich über das Sprachrohr, rief hinein:
„Halbe Kraft!!“
Mafalda unten im Führerstand konnte auf dem Spiegel des Sehrohres die beiden Menschen hoch oben auf der steilen Eiswand deutlich wahrnehmen …
Rief durch das Sprachrohr zurück:
„Hallo …! – Fraglos doch Schiffbrüchige, Lomatz!“
„Natürlich …! Und für uns recht störend … Wir werden vorsichtig sein müssen … – Halbe Kraft, Mafalda … Solch ein Eisriese streckt zuweilen dicht unter Wasser lange Zacken wie Rammsporne aus … Steuere an der Eiswand entlang … Wir sind hier unter Wind … Ich werde mich mit den Leuten dort oben zu verständigen suchen … Reich mir das Megaphon herauf …“ –
Und oben auf der Plattform sagte Holger Tönsen jetzt enttäuscht zu seinem blonden Schützling:
„Ein Chinese dort auf Deck …! Ausgerechnet ein Chinese …! Ich habe mit den Gelben nichts im Sinn! Ich traue ihnen nicht …“
Er gab Inges Hand frei und trat näher an den Rand der Plattform heran …
Unter ihm, zwölf Meter entfernt, glitt die Sphinx langsam dahin …
Der Mann auf dem Turme hatte den großen Trichter des Megaphons am Munde …
„Hallo – – hallo!!“ kam sein Ruf empor. „Mit wem haben wir’s zu tun? Seid ihr Schiffbrüchige, Master?“ – Er bediente sich der englischen Sprache … Und klar drangen die Worte an Tönsens und Inges Ohr, daß Ingeborg hoffnungsfroh leise rief: „Das ist kein Chinese, Tönsen … Niemals ist das ein Chinese …!“
Der Matrose hatte die Hände vor dem Munde zum Sprachrohr geformt, brüllte zurück:
„Hier Schiffbrüchige der Robbenfängerbrigg ‚Harlasund’ … acht Personen … – Wer dort?!“
Lomatz hatte bereits mit Mafalda vereinbart, was man den Fremden gegenüber angeben solle …
„Hier Luftboot Sphinx mit Havarie, zwei Personen an Bord … – Hat der Eisberg eine Bucht, in die man einlaufen kann?“
Tönsen rief zurück:
„Steuert nach Westen zu um die Eisinsel herum … Ihr findet dort eine Bucht. Erwartet uns dort … Wir müssen euch sprechen, Master, bevor ihr mit unseren Gefährten zusammenkommt … – welche Nationalität, Master? Ihr seid doch kein Chinese …!“
„Nein … Graf Viktor Gaupenberg – Deutscher, nebst Gattin … – Gut, wir werden in die Bucht einlaufen und euch erwarten …“
Die Propeller der Sphinx begannen wieder zu surren.
Das Luftboot schoß davon …
Und Inge und Tönsen stiegen hastig die Schlucht aufwärts …
„Deutsche!“ meinte der Matrose erleichtert. „Deutsche, – ein Glück für uns, Fräulein Ingeborg! Und eine Dame an Bord! Und ein Luftboot …! – Wir erleben merkwürdige Dinge, Fräulein Ingeborg.“
Er stützte sie …
Und sie lehnte sich enger als sonst an ihn …
Ihre Blicke trafen sich, ruhten ineinander …
„Wie soll ich Ihnen danken, Holger …!“ meinte sie weich und zärtlich. „Sie haben mich …“
Da – kam sie ins Gleiten …
Und er umfing sie, riß sie an sich …
An seiner Brust lag sie, den Kopf etwas zurückgebeugt … in den Augen das Strahlen hingebender Liebe …
Und mit natürlicher keuscher Anmut legte sie ihm plötzlich die Arme um den Hals und … küßte ihn … küßte ihn lange und heiß …
Flüsterte dann: „Jetzt dürfen wir’s, Holger …! Jetzt sind wir in Sicherheit …“
Holger Tönsen hielt sie an sich gepreßt … In seinem offenen Gesicht zeigte sich ein seltsamer Kampf von Empfindungen …
Dann … erwiderte er ihre Zärtlichkeiten … Wies alle Gedanken an die Vergangenheit zurück …
Die Vergangenheit war für ihn tot … Er war jetzt seit Jahren nichts als ein schlichter Matrose … Was er einst gewesen, – niemand wußte es … niemand …! Von seinen einstigen Bekannten wurde er als tot betrauert, von dem Weibe, das er in einer Stunde blinder Torheit zu sich emporgehoben, hatte er seit Jahren nichts mehr gehört … Sie hielt ihn für tot … Sie irrte vielleicht abenteuernd durch die Welt, von Großstadt zu Großstadt – neue Opfer suchend, neue Narren einfangend, die ihrer Genußsucht die nötigen Geldmittel spendeten …
All das … war gewesen …
Er war Holger Tönsen, Matrose … Nichts weiter.
Und hier auf der gewaltigen Eisinsel hielt er jetzt das eine Mädchen in den Armen, für die sein erstorbenes Herz in aller Heimlichkeit wieder zu neuem Sehnen erwacht war … –
Er küßte Ingeborg, nahm ihre Hände …
„Inge, meine Braut …!“ sagte er feierlich … „Inge, ich habe dich lieb …“
All die Leiden und Ängste der letzten Wochen waren von Inge abgefallen … Ihre Seele jubelte …
„Ich habe dich lieb …“ sagte auch sie mit leuchtenden Augen. „Ich liebte dich von dem Moment an, als mein Bruder dich für die Brigg warb …“
Noch ein einziger heißer Kuß … Dann eilten sie weiter – der Bucht zu, jener kleinen Bucht, die gerade auf der entgegengesetzten Seite der schwimmenden Insel sich befand – fernab von der anderen, wo das Wrack lag …
Bald kletterten sie an einer Eisbarriere zum Buchtufer hinab. Die Sphinx war bereits von Lomatz mit einer Trosse hier vertäut worden …
Mafalda Fürstin Sarratow kam soeben die Eisenleiter des Turmes empor … Noch in Männerkleidung, das Antlitz noch geschminkt, noch immer in der Chinesenmaske, in der sie den Überfall auf Missamill mitgemacht hatte …
Hob den Kopf über die Turmluke …
Ihre Blicke fraßen sich förmlich fest an dem Gesicht Holger Tönsens …
Äffte sie ein Spuk, eine Ähnlichkeit …?!
Und da – rief Tönsen herüber:
„Wir haben Ihnen Wichtiges mitzuteilen … Wir müssen Sie warnen – vor unseren Gefährten!“
Mafaldas Kopf verschwand wieder …
Diese Stimme – – diese Stimme!!
Kein Zweifel mehr …! Er war’s …! Er war’s …!
Es war der, den sie für tot gehalten, den sie in schlauer Berechnung vor anderen stets als Greis ausgegeben hatte …
Es war Fürst Iwan Alexander Sarratow, ihr rechtmäßiger Gatte … …!
Und auf Schloß Missamill?! …
… Kehren wir nochmals zurück zu Josua Randercilds Zauberpalast auf dem steilen Vorgebirge …
Kehren wir zurück in die düstere Regennacht … Zu Agnes Gaupenberg, Ellen Hartwich und den Detektiven, die in dem Gebüsch an der Parkmauer die Rückkehr Nielsens und Gipsys erwarteten und nicht ahnten, daß die Leute des Sipa längst um sie herum wie die Schlangen durch die Sträucher schlüpften, sie umzingelten …
Atemlos wartete sie …
Bis aus den Büschen Mr. Nulls Banditen über die völlig Überraschten herfielen …
Drei von den Detektiven wurden niedergeknallt … Agnes und Ellen von brutalen Armen davongeschleppt …
Signalpfeifen gellten durch die Dunkelheit …
Das Geräusch der heransausenden Lastautos der Polizei scheuchte die Banditenbrut zum Jachthafen, wo der Schoner ‚Ellinor’ die Flüchtenden aufnahm …
Lichtkegel strahlten über den Parkbäumen …
Da schnellte die Sphinx hoch …
Die Null-Männer sahen sie niederfallen – das Schloßdach zertrümmern, wieder aufsteigen und verschwinden …
Einer der letzten von der Garde der Null brachte die Nachricht mit, daß der Sipa tot im Parke liege …
Schon jagte der Schoner zwischen den Wellenbrechern hervor ins offene Meer … Mit fünfundzwanzig Mann an Bord und zwei unglücklichen Frauen, die sich nun abermals in der Gewalt dieser vertierten Horde sahen.
Da waren unter diesen fünfundzwanzig nur acht von Mr. Nulls Leibgarde … Nur noch acht … Einer von diesen übernahm den Befehl des Schoners, einer, den der Sipa oft mit gefährlichen Dingen betraut hatte, ein Mensch ohne Namen und Heimat, einer von jenen vagabundierenden Verbrechern, die Namen und Aufenthaltsort nach Belieben wechseln, moderne Landsknechte des Verbrechertums …
Dieser Mann wurde hier in Neuyork stets ‚Le Baron’, der Herr Baron, genannt …
Vielleicht deshalb, weil jeder, der mit ihm zusammenkam, sofort spürte, hier einen Gescheiterten aus den besten Gesellschaftskreisen vor sich zu haben.
Außerdem trat Le Baron auch nie anders als in tadelloser Kleidung auf …
Hager, groß und schlank war seine Gestalt … Etwas vornübergebeugt ging er … In seiner Haltung, seinen Bewegungen und seiner Art zu sprechen lag eine gewisse nachlässige Vornehmheit … Schmale Frauenhände hatte er, tadellos gepflegt, mit flachen geraden Nägeln … Schmale kleine Füße und zarte Gelenke … War trotzdem sehnig und zäh …
Ein Kenner wußte sofort, es steckten Rasse und die untrüglichen Kennzeichen edlen Blutes in diesem Menschen, der nur vor der überlegenen verbrecherischen Intelligenz eines einzigen Respekt gehabt hatte: vor Mr. Null, vor dem Sipa, der nun so jäh im regenfeuchten Park von Missamill ein Ende gefunden. –
Kaum war der Schoner ‚Ellinor’ glücklich im feuchten Dunst des Ozeans verschwunden, kaum hatte Le Baron die notwendigsten Anordnungen an Bord getroffen, die Stellen der Schiffsoffiziere, der Maschinisten und der anderen Posten zweckmäßig besetzt, als er sich sofort in die im Heckaufbau gelegene Kajüte des Kapitäns begab, wo Agnes Gaupenberg und Ellen Hartwich von zwei Mann bewacht wurden.
Die Fenster der erleuchteten Kajüte waren dicht verhängt, damit kein Lichtschein die ‚Ellinor’ verriete, die auch ohne Positionslaternen in den Atlantik hinaus flüchtete.
Le Baron schickte die beiden Wächter an Deck und war nun mit den jungen Frauen allein.
Agnes und Ellen saßen blaß und verzweifelt nebeneinander auf dem kleinen Glanzledersofa, dem Prunkstück der Kajüte des Küstenschoners.
Le Baron verbeugte sich vor ihnen, erklärte in tadellosem Englisch, das trotzdem einen leichten fremden Beiklang hatte:
„Die Damen brauchen nichts zu fürchten … Mr. Null ist tot … Ich habe das Kommando für dieses Schiff übernommen, das jetzt sehr bald von allen Seiten gehetzt werden wird. Meine Leute nennen nicht Le Baron. Mag es bei diesem Namen bleiben …“ –
Er lächelte ein wenig … „Namen besagen nichts … In diesem Falle vielleicht nur das eine, daß Sie, meine Damen, von mir so lange mit aller Höflichkeit und Zartheit behandelt werden sollen, wie es die allgemeine Lage gestattet. Es ist wahrscheinlich, daß unser Schoner von irgendeinem der Wachfahrzeuge gegen Alkoholschmuggler angehalten werden wird. In diesem Falle würden Sie beide mithelfen müssen, daß wir glücklich davonkommen. Sobald die Gefahrzone hinter uns liegt, werde ich Sie freigegeben und an Bord eines Dampfers bringen, der nach Neuyork fährt. – Nochmals –: Sie haben nichts zu befürchten. Ich habe auch keinerlei Interesse daran, Sie hier an Bord festzuhalten. Meine Absichten sind andere. Die Sphinx, beladen mit den Goldmilliarden, ist unter Führung der verräterischen Fürstin Sarratow und des noch heimtückischeren Schurken Lomatz entkommen, schwimmt irgendwo als Propellerboot auf dem Ozean. Ich bin nicht ganz unerfahren mit nautischen Dingen. Die Sphinx wird nach Nordost geflohen sein, denn dort allein ist das Meer frei von Seglern und Dampfern, dort gibt es keine vielbesuchten Schiffsrouten. Wir werden also nordwärts uns halten, sobald wir hier die Gefahrzone des Alkoholschmugglerkordons passiert haben. – Sie sehen, ich spiele durchaus mit offenen Karten. Sie sehen ferner, daß mir in der Tat nichts daran gelegen, Sie hier an Bord länger als nötig zu behalten. Bitte geben Sie mir das Versprechen, diese Kajüte nur mit meiner Erlaubnis zu verlassen und keinerlei Versuch zu unternehmen, durch die Fenster nach außen hin sich irgendwie bemerkbar zu machen. Dann sollen Sie meine Gäste sein …“
Agnes und Ellen, die sich in der Gewalt einer Horde roher Chinesen gewähnt hatten, atmeten erleichtert auf, als sie hier nun einen Mann vor sich sahen, der es unzweifelhaft ehrlich meinte …
Ellen Hartwich erwiderte denn auch ebenso höflich wie bestimmt:
„Mr. Baron, wir leisten dieses Versprechen … Wir danken Ihnen auch, daß Sie uns so rücksichtsvoll behandeln. Nur eins versteh ich nicht recht, wie wir Ihnen helfen sollen, falls der Schoner durch eins der Wachschiffe bemerkt und zum Stoppen gezwungen wird …?!“
Le Baron verneigte sich …
„Diese Hilfe, meine Damen, würde lediglich darin bestehen, daß Sie mich bei einem kleinen … Schwindel unterstützen … Wenn es soweit ist, werde ich Sie näher einweihen.“
Ellen und Agnes blickten sich unsicher an …
Le Baron fügte schon zu:
„Ein harmloser kleiner Betrug, meine Damen … Seien Sie versichert, daß ich nichts fordern werde, was gegen Ihre Frauenehre geht … – Sind Sie einverstanden?“
„Wir müssen wohl …“ erwiderte Ellen Hartwich mit leichtem Achselzucken …
Le Baron verbeugte sich und verließ die Kajüte.
Hand in Hand saßen die beiden Frauen …
„Ein merkwürdiger Mensch,“ meinte die blonde Agnes leise…
„Und weder ein Engländer noch ein Amerikaner …“ erklärte Ellen sinnend. „Ich weiß nicht, ich muß diesem Le Baron schon einmal begegnet sein … Sein Gesicht und seine Stimme kommen mir bekannt vor. Es mag Jahre zurückliegen – aber – – ich muß ihn gekannt haben, Agnes – ganz bestimmt. Du weißt, daß mein Vater, bevor er Gesandter in Taxata wurde, längere Zeit Legationsrat bei der amerikanischen Botschaft in Berlin war. Nur in Berlin kann Le Baron mir vorgestellt worden sein. Je länger ich mir jetzt sein Äußeres und seine Stimme vergegenwärtige, desto sicherer bin ich meiner Sache: Le Baron muß ein Deutscher sein, ein Mann, der einst in der besten Gesellschaft verkehrte … Vielleicht hat auch er mich wiedererkannt. Gerade derartige abenteuerliche und abenteuernde Existenzen besitzen meist ein vorzügliches Personengedächtnis …“
Es klopfte stark gegen die Kajütentür …
Dann trat ein Chinese ein, dem zwei andere folgten. Die drei stellten ein zweites Bett in der Kajüte auf. Kurz darauf erschien ein vierter mit einem reich gedeckten Teebrett.
Dann waren Agnes und Ellen wieder allein…
„Sehr aufmerksam von Mr. Baron,“ meinte die energischere Ellen bereits leicht übermütig. „Agnes, wir werden es hier schon aushalten … Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe Hunger!“
Agnes starrte noch vor sich hin …
„Oh – wie sehr wird Viktor sich ängstigen …“ flüsterte sie beklommen. „Man wird auf Schloß Missamill nicht ahnen, daß wir hier …“
Da – wieder klopfte es …
Ein Europäer trat ein, ein älterer kleiner Mann mit unglaublichen O-Beinen …
Machte einen Kratzfuß vor den Damen …
„Sam Pittjens, Erster Steuermann der ‚Ellinor’ …“ stellte er sich ein wenig verlegen vor. „Der Kapitän schickt mich … Die ‚Ellinor’ hat Funkeinrichtung meine Damen … Es ist uns gelungen, mit Schloß Missamill Morsezeichen auszutauschen … Kapitän Le Baron hat dorthin gemeldet, daß Sie, meine Damen, sich hier an Bord in guter Obhut befinden und nach spätestens zwölf Sunden aller Voraussicht nach freigelassen werden. Graf Gaupenberg hat geantwortet, daß er sie beide herzlich grüßen läßt und daß auf Schloß Missamill alle Sphinxleute wohlauf seien …“
Wieder ein höchst komischer Kratzfuß, und Sam Pittjens schob ab, bevor Ellen dem Kapitän noch für diesen neuen Beweis von liebenswürdiger Rücksichtnahme danken lassen konnte. –
Der Motorschoner, der mit Hilfe seiner beiden Schrauben ohne Benutzung der Segel etwa vierzehn Knoten lief, näherte sich jetzt immer mehr der Absperrlinie, die durch die Wachschiffe vor der Dreimeilenzone gegen die Alkoholschmuggler besonders in neblige Nächten recht eng gezogen wurde.
Le Baron stand am Heck neben dem Steuer und suchte mit Hilfe eines Glases die Schleier zu durchdringen.
Hin und wieder bemerkte er auch als hellen huschenden Lichtschein die Strahlen der Scheinwerfer der Polizeikutter …
Der Regen ließ immer mehr nach. In demselben Maße frischte der Wind auf. Der Morgen nahte. Die trübe Dämmerung des heraufziehenden Tages erhöhte noch die Gefahr für den flüchtenden Schoner. Le Baron wußte genau, daß die Wachschiffe längst durch Funkspruch zu größter Aufmerksamkeit angefeuert waren. Er wußte auch, daß nur ein Zufall ihn vor einer Begegnung mit den Feinden schützen würde.
Er rechne insgeheim auf die … Alkoholschmuggler. Gerade in solchen Nächten waren sie besonders rührig. Und er hoffte, die Gelegenheit abpassen zu können, wenn eins der Schmugglerschiffe die nächsten Wachfahrzeuge nach einem Punkte zusammenlockte. Dann war für die ‚Ellinor’ die Möglichkeit gegeben, durch diese Lücke hindurchzuschlüpfen.
Der Schoner lief jetzt mit halber Kraft gen Norden, an der Sperre entlang.
Le Baron hatte auf jeden der beiden Masten einen Mann mit besonders guten Augen und scharfem Gehör beordert. Auch an der Reling waren Beobachter verteilt.
In der nächsten Viertelstunde mußte es sich entscheiden, ob die ‚Ellinor’ unbelästigt davonkommen würde. Denn dann würde es so hell geworden sein, daß man klüger tat, umzukehren und in einer stillen Bucht der Küste Zuflucht zu suchen.
Jeder Mann an Bord wußte genau, was alles hier auf dem Spiele stand. Der Überfall auf Schloß Missamill würde die gesamte Besatzung zum mindesten ins Zuchthaus bringen, falls nicht gar die Gerichte, ein Exempel statuierten und alle zum Tode verurteilten.
In atemloser Spannung harrte alles der Entscheidung …
Es wurde heller und heller. Das Gewölk lichtete sich … Noch immer glitten die Strahlenbündel der Scheinwerfer durch die düstere, neblige Luft …
Dann vom Heckmast die Stimme des Ausguckmannes:
„Zwei Schiffe in Lee – – Achtung!!“
Im selben Moment auch der Knall eines Geschützes.
Le Baron lächelte zufrieden … Da war das, worauf er gehoff hatte, schon eingetreten. Man jagte einen Schmuggler!
Abermals der rollende Knall eines Schusses …
Dann Signale von Heulsirenen …
Und wieder der Ausguckmann:
„In Lee alles frei …!!“
Le Baron drückte das Steuerrad herum …
Die Motoren der ‚Ellinor’ arbeiteten mit voller Kraft …
In zwei Minuten waren auch die breiten Segelflächen der beiden Masten prall gefüllt …
Die ‚Ellinor’ verneigte sich unter dem Winddruck, schoß wie ein Renner dahin … Schaum sprühte vor ihrem scharfen Bug auf …
Zehn Minuten allergrößter Spannung …
Zehn Minuten, in denen aller Augen die diesige Luft zu zerteilen suchten …
Ferne Schüsse – immer fernere Sirenen …
Dann … übergab Le Baron einem seiner Matrosen der Steuer … Man war durch die Sperre hindurch.
Und der Kapitän dieses Piratenfahrzeuges begab sich jetzt zu den beiden Damen in die Kajüte.
„Die Gefahr liegt hinter uns,“ erklärte er einfach. „Wenn Sie sich zur Ruhe niederlegen wollen – dem steht nichts im Wege …“
Ellen Hartwich blickte Le Baron prüfend an …
„Zunächst danken wir Ihnen für Ihre Fürsorge, für die Nachricht, daß in Missamill alles wohlauf ist, Mr. Baron,“ sagte sie freundlich. „Würden Sie mir eine Frage gestatten, Mr. Baron, eine Frage, die Ihre Person betrifft?“
Seine Verbeugung entsprach nicht ganz der Antwort.
„Mistreß Hartwich, Fragen über mich selbst könnte ich leider nur überhören …“
„Ah – Sie fürchten diese Fragen! Ich kenne Sie von Berlin her, und auch Sie haben mich erkannt …“
Eine neue Verneigung, und wortlos verließ der Freibeuterkapitän die Kajüte.
Freibeuterkapitän …!! – Nichts anderes war Le Baron von der Minute an, wo er das Kommando über die ‚Ellinor’ übernommen hatte …
Befehlshaber einer Schar von Verbrechern, eines Schiffes, das gesucht und verfolgt wurde …
Aus Piraten bestand die Besatzung der ‚Ellinor’, aus Chinesen, Europäern – aus all diesen Männern, die auf Milliarden gehofft hatten und nun als Freiwild über den Atlantik gen Norden flüchteten … Auf der Suche nach der Sphinx … nach der Beute, mit der andere entkommen waren … –
Le Baron schritt langsam auf Deck hin und her … Seine hagere Gestalt erschien noch gebeugter … Beide Hände hatte er in die Taschen seiner blauen Jacke vergraben … In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette, die längst erloschen war …
San Pittjens, der erste Steuermann, trat an ihn heran, versuchte stramme Haltung anzunehmen und meldete, die Hand an der Mütze:
„Käpten, sechs von den Eigelbboys haben sich im Raum über ein Fäßchen Whisky hergemacht – eins von den letzten gepaschten … Die Lümmels sind besoffen, wie ich’s noch nie in dem Maße war, und das will was heißen, Käpten …!“
Le Baron nahm langsam die Zigarette aus dem Munde …
Seine Lippen zogen sich nach oben … Sein Gesicht bekam etwas Tierhaftes – etwas von der Grausamkeit eines sprungbereiten Panthers …
„Pfeife alle Mann an Deck,“ befahl er dann mit unheimlicher Ruhe …
Sam Pittjens pfiff – mit Vergnügen …! Den Teufel auch …! Wäre ja noch schöner, wenn dies Chinesengesindel den guten Whisky aussaufen wollte!!
Die Mannschaft versammelte sich an Deck …
Le Baron beobachtete, wie der Zweite Steuermann die Kerle in Doppelreihe aufzustellen suchte, damit die Sache ein wenig Schneid hätte …
Dann meldete Pittjens:
„Besatzung zur Stelle – bis auf das Maschinenpersonal, den Rudermann und die sechs besoffenen Schweinigels …“
Der selbsternannte Kapitän trat vor seine Leute hin …
Sein kalter Blick streifte die Gesichter dieser Banditen … Und Le Baron sprach:
„Als ich den Befehl der ‚Ellinor’ übernahm und euch versicherte, alles zu tun, um uns zu retten, da verlangte ich unbedingten Gehorsam und verbot das Alkoholtrinken ohne meine Erlaubnis bei Todesstrafe … Sechs von euch liegen betrunken im Raum … Holt sie herauf …“
Man schleppte die sechs herbei …
Die Chinesen waren nicht fähig, auf den Beinen zu stehen … Sie gehörten sämtlich zur ‚Roten Dschunke’ …
Ihre durch den Alkohol rot geäderten Schlitzaugen glotzten Le Baron frech und herausfordernd an …
Einer von ihnen, ein langer Elfenbeindschnitzer aus der Nachbarschaft Tschang Lus, dessen Leib unbestattet in der Erdhöhle unter der Müllgrube verweste, – dieser Elfenbeindschnitzer gröhlte dem Käpten zu:
„Oh – Le Balon … Le Balon …!! Oh – Le Balon … Whisky ist tadellos, Le Balon … Whisky …“
Der überlange Käpitän hatte mit einem Male den Kerl beim Genick …
Niemand hätte ihm diese Kraft zugetraut …
Der Trunkene flog über die Reling … Platschte in die Wogen …
„Werft die anderen dem Lump nach!“ befahl er dann …
Ein Murren erhob sich …
Die, die solche Äußerung des Mißfallens wagten, waren die Dschunken-Brüder …
Die sieben von der Leibgarde des toten Mr. Null hielten fest zu Le Baron …
San Pittjens und der Zweite Steuermann beförderten den Nächsten über Bord …
Andere griffen zu …
Die sechs Chinesen sollten in diesem Leben keine Pinte Whisky mehr schlucken. Dafür schluckten sie um so mehr Seewasser …
So hielt Le Baron hier an Bord des Piratenschoners zum ersten Male Gericht …
Und jetzt trat er näher auf die Dschunken-Brüder zu, die soeben gemurrt hatten, nun jedoch ein halb verzerrtes unterwürfiges Lächeln um die Lippen zeigten.
„Liefert eure Waffen ab,“ sagte er … „Ihr seid unzuverlässig … Und wer auch nur ein Messer verbirgt, wird erschossen …“
Die Kerle gehorchten … Eiligst …
Dieses warnende Beispiel eben hatte genügt …
Le Baron wußte, daß er für einige Zeit vor der Heimtücke dieser Schlitzaugen sicher war … –
Und inzwischen hatte nun auch die Sonne das Gewölk vollends besiegt …
Strahlende Lichtreflexe des Tagesgestirns spielten in den Wogentälern …
Ein Tag brach an, der das Unwetter der verflossenen Nacht nicht ahnen ließ …
Le Baron schickte die Hälfte der Besatzung zur Koje. Fünf Stunden sollten sie schlafen, dann die anderen ablösen …
Er selbst blieb an Deck …
Ließ sich einen Bordstuhl bringen und setzte sich so, daß er die Tür der Heckkajüte im Auge behalten konnte.
Auch San Pittjens, ehemals braver Steuermann einer Brigg, jetzt Erster Steuermann eines Freibeuters, in der Zwischenzeit zweimal Freigast in Sing-Sing, war als pflichttreuer Erster Offizier noch auf dem Posten und beaufsichtigte das Scheuern des Decks …
Auf den beiden Masten waren neue Ausguckleute …
Der Horizont zeigte stets nur Rauchfahnen, denn vorläufig wich der Schoner jedem Dampfer aus …
Als einmal der eine Ausguckmann meldete, daß ein Schiff mit drei dicken Schornsteinen, anscheinend ein Torpedojäger, gleichen Kurs mit der ‚Ellinor’ laufe, ließ der Käpten sofort die Segel einziehen. Da der Schoner wenig Bordhöhe hatte, war er ohne Segel schwer zu bemerken.
Der verdächtige Dampfer verschwand dann auch wieder …
So ging der Vormittag hin …
Le Baron saß noch immer auf demselben Platz und bewachte die Heckkajüte …
Der Wind hatte stark aufgefrischt … Mancher Wogenkamm rollte schäumend über den Bug des Schoners hinweg …
Le Baron saß und grübelte …
Seit Jahren hatte er nicht mehr die Einsamkeit des Ozeans genossen, seit Jahren nicht mehr Stunden der Einkehr gehabt wie jetzt … Vieles aus der Vergangenheit ward in seinem Gedächtnis wieder lebendig …
Ellen Barrouph – jetzt Ellen Hartwich …! Ob er sie kannte … ob!! War damals noch ein Backfisch gewesen – damals in Berlin … Ein frisches forsches Mädel, die sich so gern von dem ‚langen Grafen Samitten’ so etwas den Hof machen ließ …
Vorbei das alles … vorbei …
Von dem langen Grafen Samitten war nichts übrig geblieben als … Le Baron …
Nichts – – nur ein Verbrecher, einer, der kein Anrecht mehr hatte auf irgend ein Vaterland – ein Heimatloser, ein von seiner Sippe Verstoßener …
Und – Le Baron hatte tiefe Falten auf der Stirn … Hatte im Herzen die Wehmut der Erinnerung besserer Tage … – –
Ein Uhr nachmittags war’s, als der Ausguckmann des Bugmastes einen großen Segler meldete, Kurs offenbar Neuyork.
Le Baron erhob sich …
Gab ein paar Befehle …
Der Schoner änderte den Kurs. Um halb zwei war er dich bei dem stolzen Vollschiff, das mit seiner weißen Segellast jedes Herz erfreuen mußte.
Der Käpitän hatte die beiden Damen geweckt, hatte ihnen durch die Tür zugerufen, daß sie jetzt Gelegenheit hätten, den Schoner zu verlassen.
Bald erschienen sie an Deck.
Le Baron begrüßte sie … deutete auf den Dreimaster, der nur noch ein paar hundert Meter entfernt war … –
San Pittjens signalisierte, ob das Vollschiff nach Neuyork bestimmt sei und ob es zwei weibliche Passagiere dorthin mitnehmen würde …
Die Signalflaggen flatterten …
Die Antwort lautete:
‚Geht nicht … Haben Gelbfieber an Bord …’
Le Baron wandte sich zu den Damen:
„Gelbfieber – natürlich Schwindel! – Nun – wir finden ein gastlicheres Schiff …“
Und die ‚Ellinor’ wandte den Bug wieder nach Nordost …
Ellen Hartwich schaute nun bei Tageslicht Le Baron genauer an …
„Ich kenne Sie!“ meinte sie sehr bestimmt, aber leise. „Sie sind Graf Hans Samitten, seinerzeit Oberleutnant zur See der deutschen Kriegsmarine …“
Der Baron schüttelte lächelnd den Kopf …
„Eine Ähnlichkeit täuscht Sie, Mistreß Hartwich … – Die Damen werden sofort das Mittagessen serviert bekommen …“
„Das heißt, wir sollen wieder in der Kajüte verschwinden,“ meinte Ellen mit versteckter Heiterkeit …
Le Baron wurde einer Antwort überhoben …
„Ein Flugzeug!!“ brüllte der Mann vom Heckmast.
Und gleichzeitig wurde auch schon Propellergeräusch vernehmbar …
Ein großer Doppeldecker schwebte von Norden kommend herab …
Beschrieb über dem Schoner einen engen Kreis. Aus dem einen Gondelfenster beugte sich ein älterer Mann heraus …
„Dr. Falz!!“ rief Agnes Gaupenberg jubelnd … „Es ist der Doktor …!“
Falz winkte …
Eine lange Leine warf er herab … Ein Zettel war daran befestigt …
San Pittjens bekam die Leine zu packen …
So gelangte die kurze Botschaft in die Hände des Piratenkapitäns:
Haben nur noch Brennstoff für eine halbe Stunde. Bitten Sie, Flugzeug ins Schlepptau zu nehmen. –
Dr. Dagobert Falz …
Le Baron gab dem Doktor ein Zeichen …
Der mit Schwimmkörpern versehene Doppeldecker kam glücklich unter Wind neben den Schoner, landete im stillen Wasser, und der Pilot und Dr. Falz stiegen an Bord, wo Agnes und Ellen den treuen Freund und Beschützer, den geheimnisvollen Einsiedler von Sellenheim freudig begrüßten …
Der Piloten hatte noch auf dem Flugschiff genaue Verhaltungsmaßregeln erhalten …
So erfuhren denn lediglich Agnes und Ellen, daß die Sphinx in einer Bucht der schwimmenden Eisinsel Zuflucht gesucht habe und daß dort auf jenem ungeheuren Eisberg ein Wrack liege, in dem eine Anzahl Schiffbrüchiger hause …
Nur Ellen und Agnes wurden eingeweiht …
Und Dr. Falz wieder vernahm von ihnen, daß dieser Schoner jenes Schiff sei, welches Mr. Nulls Banditen nach Schloß Missamill gebracht hatte …
Der Führer der Polizeimacht, die in zwei Lastautos im Schlosse Missamill eingetroffen war, hatte seiner Instruktion gemäß mit größter Strenge den Park von dem Verbrechergesindel säubern lassen.
Freilich – die meisten entkamen auf dem Schoner … Alle übrigen waren entweder tot oder schwer verwundet.
Als Gaupenberg und die übrigen durch Murat Befreiten mit Nielsen und Gipsy Maad zusammentrafen, konnte Nielsen dem Grafen und Hartwich leider nur die schmerzliche Mitteilung machen, daß Agnes und Ellen auf den Schoner geschleppt worden seien, ohne daß man dies bei der starken Finsternis hätte verhüten können.
Gaupenberg bestürmte sofort den Führer der Polizeitruppe, den Schoner ungesäumt verfolgen zu lassen.
Zum Glück war die Antenne des Schlosses und die Funkstation noch in Ordnung. So wurde denn mehrere Minuten später die Flottille der Wachfahrzeuge draußen in See von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzt, und man durfte hoffen, daß das Fahrzeug der Banditen in der Sperrlinie abgefangen werden würde.
Inzwischen war denn auch im Schlosse bekannt geworden, daß der unheimliche Mr. Null, der gefürchtete Sipa, kein anderer als der Privatsekretär Elvan gewesen war.
Als Josua Randercild, der diesem Menschen blindlings vertraut hatte, nun vor Elvans Leiche stand, die man ins Schloß geschafft hatte, sagte er mit ehrlicher Betrübnis:
„Mein Glaube an das Gute, an Treue und Aufrichtigkeit ist durch diesen Verräter schwer ins Wanken geraten … Elvan war einer der intelligentesten Mitarbeiter, die ich je gehabt habe … Seine Bescheidenheit war Heuchelei … Seine Klugheit nutzte er zu Verbrechen aus … Gerade er, einer meiner Leute, hat Sie nun abermals um die heißumkämpften Schätze beraubt, lieber Gaupenberg … Die Sphinx ist mit den Milliarden auf und davon, und mit ihr die schlimmsten ihrer Gegner: Mafalda und Lomatz! Tragen Sie mir dies nicht nach … Ich will Ihnen helfen, die Sphinx zurückzuerobern. Geld ist Macht … Und von dem elenden Mammon besitze ich ja fast zu viel …!“
Gaupenberg reichte Randercild die Hand … „Von einer Schuld ihrerseits kann hier wohl keine Rede sein … Eine Bitte nur, überlassen Sie mir Ihren großen Motorkutter, der unten im Jachthafen liegt! Er ist seetüchtig … Man kann ihn in kurzem verproviantieren … Ich will hier nicht untätig sein, während meines Freundes Hartwich und mein Weib sich in der Gewalt dieses Gesindels befinden …“
„Kommen Sie!“ rief Randercild eifrig. „Kommen Sie, meine Freunde …! In einer Stunde können Sie in See gehen … Wir packen alle mit zu …“
Und ganz leise zu Gaupenberg und Nielsen: „Ich möchte die Polizei von meinem unterirdischen Jachthafen fernhalten … Es gibt dort manches, was nicht für alle Augen bestimmt ist …“ –
Die Sphinxleute begaben sich durch die geheime Treppe in den Jachthafen hinab, während die Polizei und die Detektive den Park nochmals durchsuchten.
Nachdem alle die Steintür, die das Gewölbe vor dem Jachthafen absperrte, passiert hatten, verschloß der Milliardär diesen Zugang und nahm dann Nielsen, Gaupenberg und Hartwich beiseite …
„Sie sehen dort an jener Wand eine Menge länglicher Kisten aufgestapelt, die schon einmal Nielsens Aufmerksamkeit erregt haben … Jetzt will ich zugeben, daß die Kisten Torpedos enthalten und daß diese Torpedos gleichsam ein Privatsport meinerseits waren. Der große Motorkutter, den Sie nun zur Verfolgung des Schoners und der Sphinx benutzen wollen, ist nach meinen Angaben gebaut worden und besitzt zwei versteckt angebrachte Torpedolancierrohre … Ich habe auf den Vergnügungsfahrten mit dem Kutter zu meiner eigenen Unterhaltung Schießversuche auf treibende Wracks unternommen … Ich kann Ihnen nur raten, ein paar Torpedos mitzunehmen … Sie sind so im Besitz einer furchtbaren Waffe, die Ihnen vielleicht im Notfall gute Dienste leisten kann …“
Gaupenberg zögerte erst, von diesem Anerbieten Gebrauch zu machen. Hartwich aber als ehemaliger U-Boot Steuermann erklärte, schaden könnte es nie, wenn man ein halbes Dutzend Torpedos an Bord hätte … Und auch Nielsen war entschieden dafür, daß man auf diese Waffe nicht verzichte.
So wurden denn in aller Stille sechs Torpedos mit auf den Kutter verladen, dessen ganze Bauart die Bezeichnung als Motorjacht weit gerechtfertigter erscheinen ließ.
Der Kutter hatte eine Länge von einundzwanzig Meter und besaß drei moderne Motoren, zwei Schrauben, zwischen den beiden Masten eine Funkantenne und Kabinen für zwölf Personen außer dem Mannschaftslogis im Vorschiff.
Es war eine Laune Randercilds gewesen, dieses so harmlose Schifflein, das ja in Wahrheit ein Torpedoboot mit einer Geschwindigkeit von achtzehn Knoten darstellte, ausgerechnet ‚Schildkröte’ zu benennen. –
Um ein Viertel sechs morgens begaben sich die Sphinxleute nach überaus herzlichem Abschied von Josua Randercild an Bord. Der Milliardär hatte Gaupenberg die notwendigen, den Kutter betreffenden Papiere ausgehändigt, hatte ihm außerdem noch ein Schriftstück übergeben, dessen Inhalt besagte, daß er, Josua Randercild, den Motorkutter ‚Schildkröte’ seinen Freunden bis auf weiteres überlassen habe.
Der Graf und seine Gefährten hatten diese Tage des Aufenthalts in Missamill auch dazu benutzt, ihre Bekleidung, Wäsche und sonstige Ausrüstung zu ergänzen. Vor allem waren sie nun wieder aufs beste bewaffnet. Jeder von ihnen, auch die Damen, verfügten über zwei Browningpistolen, die Herren noch über je einen Karabiner. Dazu kam eine Maschinenpistole, die ein Maschinengewehr ersetzte. Schließlich besaß man noch in den beiden Torpedolancierrohren ein Vernichtungsmittel, wie es sonst nur Kriegsfahrzeugen zur Verfügung stand.
An Bord der ‚Schildkröte’ befanden sich: Gaupenberg, Hartwich, der Herzog von Dalaargen, Gottlieb Knorz, Nielsen, Pasqual Oretto, Tom Booder als Verlobter Tony Dalaargens und Murat, der Homgori. – Außerdem Mela Falz, Gipsy Maad und das liebliche Tonerl. –
Die beiden Gouadeloupe-Sennoritas, Yvonne und Ninon, blieben im Schlosse Missamill zurück, da Randercild versprochen hatte, fernerhin für sie zu sorgen. –
So begann denn nun für die Sphinxleute abermals ein neuer Abschnitt des wechselvollen Ringens um den Azorenschatz …
Wieder einmal waren sie durch des Schicksals Tücke getrennt worden. Dr. Dagobert Falz kreuzte mit dem Doppeldecker als Verfolger der Sphinx irgendwo in den Lüften, und Agnes und Ellen befanden sich in der Gewalt der Besatzung des Banditenschoners.
Freilich – der beiden jungen Frauen wegen brauchte man sich jetzt keine ernsteren Sorgen mehr zu machen. Kurz vor der Abfahrt der ‚Schildkröte’ war der Funkspruch von der ‚Ellinor’ eingetroffen, daß Agnes und Ellen mit aller Rücksicht als Gäste behandelt und sehr bald freigelassen werden würden. –
Diese günstige Nachricht hatte jedoch Gaupenbergs Entschluß, die Verfolgung der Sphinx und des Schoners ‚Ellinor’ mit allem Nachdruck aufzunehmen, in keiner Weise beeinflussen können. Seine Maßnahmen waren so getroffen, daß diese Verfolgung aller Voraussicht nach zum Ziel führen mußte. Mit Schloß Missamill war dauernder Funkverkehr vereinbart. Zudem hoffte man auf Dr. Falz und den Doppeldecker, da dieses hochmoderne Flugzeug gleichfalls eine Sende- und Empfangsanlage besaß.
Mithin trat der große Motorkutter ‚Schildkröte’ die Reise unter verhältnismäßig günstigen Umständen an. Die Sphinxleute waren in hoffnungsfroher Stimmung, und auch der Wettergott schien es heute besonders gut mit ihnen zu meinen.
Die ‚Schildkröte’ passierte die Sperre der Wachfahrzeuge ganz ungehindert. Nur einmal wurde sie angerufen. Eine kurzer Verständigung durch Megaphone genügte, und der Kutter jagte weiter.
Über den zunächst einzuschlagenden Kurs war man sich auf Schloß Missamill einig gewesen.
Hartwich und Nielsen hatten als Seeleute von Beruf betont, daß sowohl die Sphinx, die ja als Propellerboot infolge ihrer Beschädigung die See durchpflügen mußte, als auch der Schoner nur nordwärts geflüchtet sein könnten, wo sie einzig und allein sehr bald aus dem Bereich des lebhaften Schiffsverkehrs herauskommen und am ehesten unbemerkt verschwinden konnten.
Man steuerte nun also etwa denselben Kurs wie die Sphinx, die den weitesten Vorsprung hatte, und wie der Schoner ‚Ellinor’, der inzwischen längst die gefährliche Küstenzone hinter sich hatte.
Die drei Damen, ferner auch Pasqual, Knorz und Dalaargen hatten sich gegen acht Uhr vormittags zur Ruhe begeben.
Hartwich bediente die Motoren, Nielsen spielte Steuermann und Gaupenberg und der kluge Murat hielten mit Hilfe erstklassiger Fernrohre Ausschau nach allen Seiten, während Tom Booder in der winzigen Funkerzelle an den Apparaten saß.
Die Sonne stand strahlend am lichtblauen Himmelsgewölbe. Eine frische Brise machte den Aufenthalt an Deck recht angenehm.
Der Homgori hatte sich der Länge nach auf das Dach des Funkerhäuschens gelegt, das in der Mitte der kleinen Kommandobrücke errichtet war. Gaupenberg schritt auf der Brücke hin und her und tauschte gelegentlich eine Bemerkung mit Nielsen aus, der fast regungslos am Steuerrad lehnte.
Stunden verstrichen so …
Wenn ein Schiff auftauchte, erspähte der Homgori es stets als erster. Er hatte die schärfsten Augen, dieser Goliath von Tiermensch, und das tadellose Fernrohr verstand er richtig und schnell einzustellen.
Mit den tiefen Kehllauten seiner mächtigen Stimme meldete er alles, was er vor die Linse bekam …
Leider waren es stets nur harmlose Fracht- oder Passagierschiffe …
Und – leider hatte auch bisher die Funkeinrichtung der ‚Schildkröte’ keinerlei Nachricht von Schloß Missamill aufgefangen.
Gaupenberg begann nervös zu werden …
„Nielsen, wir laufen achtzehn Knoten, also bedeutend mehr als die Sphinx und der Schoner,“ meinte er gegen halb ein Uhr mittags und blieb neben dem blonden Seemann stehen. „Wir müßten doch eigentlich bereits die Flüchtlinge eingeholt haben, falls wir eben nicht falschen Kurs gewählt haben …“
Nielsen erwiderte achselzuckend: „Lieber Graf, der Ozean ist groß … Wir können auch längst an den Gesuchten vorüber sein … Ich wollte jetzt ohnedies einmal nach Osten zu kreuzen beginnen … Wir müssen eben abwarten, ob nicht …“
Tom Booder war in der Tür des Funkerhäuschens erschienen …
Rief freudig:
„Hallo – die erste Depesche aus Missamill … Dr. Falz hat vom Doppeldecker nach dem Schlosse gefunkt, daß die Sphinx in der Bucht eines Eisberges von ganz enormen Abmessungen Zuflucht gefunden hat und daß sich auf diesem Eisberg Schiffbrüchige befinden.
Der Doppeldecker hat nach dieser Beobachtung wegen Brennstoffmangels den Rückweg angetreten und will sich jetzt von einem Zweimastschoner in Schlepptau nehmen lassen.“
Gaupenberg und Nielsen meinten da in einem Atem:
„Zweimastschoner?! Vielleicht die ‚Ellinor’ …!!“
Tom Booder nickte …
„Das habe ich mir ebenfalls schon zusammengereimt … Ausgeschlossen ist es nicht … Ich will jetzt einmal auf derselben Welle 1300, auf der wir mit Missamill verkehren, Verbindung mit dem Schoner aufzunehmen suchen. Der Kapitän dieses Piratenfahrzeuges, der sich in seiner Depesche nach Missamill Le Baron nannte, wird vielleicht Auskunft geben, ob das Flugzeug von ihm geschleppt wird …“
„Tun Sie’s!“ rief Gaupenberg hastig. „Und fragen Sie auch gleich, ob Agnes und Ellen noch an Bord sind …“
Nielsen aber meinte gemächlich:
„Na, lieber Graf, hatte ich nicht recht! Abwarten!! Jetzt wissen wir Bescheid … Den Eisberg werden wir schon finden, falls der Schoner sich ausschweigt …!“
Tom Booder trat in das Funkerhäuschen zurück, schloß die gepolsterte Tür, stülpte den Kopfhörer über und begann den kleinen Sender zu bedienen …
Auf das vereinbarte Rufzeichen meldete sich sofort Schloß Missamill. Randercild war dort selbst am Apparat.
„Nichts Neues hier,“ meldete der Milliardär…
‚Dank für die Nachricht,’ morste Tom Booder zurück. ‚Ich will versuchen, den Schoner zu bekommen …’
Und gerade da vernahm er auch schon andere Morsezeichen …
Es war die ‚Ellinor’ …
Booder fragte wegen des Doppeldeckers an …
‚Bei uns im Schlepp,’ kam die Antwort …
‚Haben Sie die beiden Damen noch an Bord?’
‚Ja … Befinden sich wohl …’
‚Würden Sie uns Ihren Kurs und augenblickliche Lage mitteilen? Sie haben von uns nichts zu fürchten … Wir wollen nur die Damen und Dr. Falz an Bord nehmen …’
‚Wer sind Sie?’
‚Großer Motorkutter ‚Schildkröte’ mit den Sphinxleuten an Bord … – Keine Gefahr für Sie … Wir sind hinter der Sphinx her …’
Jetzt schwieg der Sender des Schoners eine geraume Weile …
Dann vernahm Tom Booder abermals Morsezeichen.
Lauschte gespannt … Schrieb wieder mit …
‚Hallo – – hier der Schoner… Hier Kapitän Le Baron persönlich … Ich bin einverstanden, da ich Ihnen vertraue … Jeder Hinterlist würde ich mit Waffengewalt begegnen …’
Booder morste zurück:
‚Ehrenwort … Von Hinterlist keine Rede … Sind hier nur Sphinxleute … Keine Polizei …’
Und von der ‚Ellinor’:
‚Wir laufen Nordnordost – Richtung auf den Eisberg, der genau auf der Schiffsroute nach den grönländischen Häfen treibt … Noch nicht in Sicht … Verlange aber, daß Besatzung meines Schiffes Anteil bei Rückeroberung der …’
Da brachen die Zeichen urplötzlich ab …
Vergebens rief Tom Booder immer wieder den Schoner an …
Nach fünf Minuten meldete sich statt des Schoners Schloß Missamill, Randercild:
‚Hier Randercild … Fraglos ist auf dem Schoner irgend etwas passiert, Mr. Booder …’ funkte der Milliardär. ‚Ich habe die Zeichen der ‚Ellinor’ mit abgefangenen …’
Booder erwiderte:
‚Nehme dasselbe an … Bin sehr beunruhigt … Hoffe, wir finden den Schoner … Er muß nordwestlich von uns liegen … – Vorläufig Schluß.’
Er eilte auf die Brücke hinaus und erstattete Gaupenberg und Nielsen Bericht.
Der drückte sofort das Steuer herum …
Der Kutter lief nun nordwestlichen Kurs …
Eine halbe Stunde ängstlicher Spannung folgte … Inzwischen waren nun auch die übrigen männlichen Mitglieder der Kutterbesatzung an Deck erschienen. Gottlieb Knorz’ Teckel Kognak kam als erster die Vorschifftreppe emporgewackelt und hatte seinen Herrn und Pasqual Oretto gleichsam angemeldet. Gaupenberg eilte seinem treuen Diener sofort entgegen und erzählte ihm, was man durch die Funksprüche erfahren hatte …
Knorz meinte besorgt: „Trotzdem sollten Sie sich niederlegen und zu schlafen versuchen, Herr Graf … Ein Körper ohne Schlaf ist wie eine schlecht geölte Maschine … Ich wecke Sie schon zur rechten Zeit, Herr Graf …“
Aber Gaupenberg wollte genau so wenig wie Nielsen, Hartwich und Tom Booder unter diesen Umständen von Ausruhen etwas wissen …
Der Herzog Fredy Dalaargen, der jetzt ebenfalls, noch leicht gähnend, aufgetaucht war, sagte mit seinem liebenswürdigen Lächeln:
„Lieber Gottlieb, Sie verlangen in diesem Falle wirklich zu viel! Wie soll wohl Gaupenberg einschlafen können, wo er die Hoffnung hat, seine Gattin vielleicht in kurzem wiederzusehen …! Wenn meine Braut, meine Mela, mir entführt wäre, würde ich …“
Was er dann tun würde, konnte er den anderen nicht mehr erklären …
Vom Dach des Funkerhäuschens schrillte Murats erregte Stimme:
„Ein weißer Berg – – Mehrere weiße Berge – – dort im Norden …!“
Murat hatte bisher weder Eis noch Schnee gesehen, konnte sich auch von einem Eisberg gar keine rechte Vorstellung machen …
Nun hatte ihm das Fernrohr zum ersten Male solch ein schwimmendes, glitzerndes Wunder gezeigt … Er starrte abermals durch das lange Rohr, das linke Auge fest zugekniffen … Seine behaarten muskulösen Hände hielten das Fernrohr wie in Schraubstöcken unverrückbar fest …
Gaupenberg kam im Nu auf das Dach des Häuschens geklettert…
„Her mit dem Fernrohr, Murat, – her damit …!!“
Der Homgori rutschte zur Seite und machte dem Grafen Platz …
Auch die Männer auf der Kommandobrücke hatten die Gläser an den Augen …
Pasqual erspähte nun ebenfalls am Horizont die Spitzen der Eishügel der treibenden Kristallinsel …
„Es stimmt!“ rief er … „Ein Eisberg …!“
Nielsen gab dem Kutter sofort anderen Kurs …
Niemand hatte vermutet, daß man dem riesigen Polarwanderer so nahe sei …
Auch Gaupenbergs Stimme kam jetzt vom Funkerdache seltsam heiser herab:
„Der Eisberg selbst liegt noch unter der Horizontlinie … Es muß aber ein ganz gewaltiger Bursche sein …“
Die allgemeine Erregung wuchs …
Man beachtete kaum das Erscheinen der jungen Mädchen, die soeben aus dem Niedergang der Heckkajüte aufgetaucht waren …
Mela meinte daher auch schmollend zu Dalaargen, der ihr nur flüchtig die Hand drückte:
„Oh – ist das eine Begrüßung nach sechsstündiger Trennung, Fredy?!“
Und das Tonerl, die flink in das Funkerhäuschen geeilt war, gab dem langen Tom Booder sogar einen leichten Klaps auf die Wange, weil er nur für die Vorgänge draußen Interesse hatte …
Nur Gipsy Maad paßte sich völlig der aufregenden Situation in ihrer Weise an und sagte zu Nielsen:
„Was ist’s mit dem Eisberg?! Mir scheint, wir haben mancherlei verschlafen …“
„Allerdings,“ nickte der blonde Steuermann mit herzlichem Lächeln … „Allerdings, liebe Gipsy … Die Sphinx befindet sich auf dem Eisberg, und der Schoner ‚Ellinor’ muß ebenfalls in der Nähe sein …“
Er war fraglos der gelassenste das Sphinxleute … Vielleicht war er auch zu müde, um sich von seinen Nerven noch einen Streich spielen zu lassen. Was er in den letzten achtundvierzig Stunden durchgemacht, vertrug auch nur eine so robuste Natur wie die seine. Nur etwas war lebendig und frisch in seinem wackeren Herzen: die stille Zärtlichkeit für Gipsy Maad, für dieses seltene Mädchen, das ihm doch bewiesen hatte, wie auch ein Weib einem Manne imponieren konnte! Die Minuten im Parke von Missamill, als die Pistole der Null ihn bedroht hatte, vergaß er nicht – nicht jenen Moment, als Gipsys Kugel dicht an seinem Ohre vorüber den Verbrecher ausgelöscht hatte …
Und lächelnd gab er der jungen Detektivin nun die Hand, lächelnd fügte er hinzu:
„Kamerad Gipsy, wir Sphinxleute haben bisher die Insel Christophoro, das Gestade der Seligen und die Insel Gouadeloupe als Schauplätze tollsten Erlebens kennengelernt … Vielleicht beschert uns die Eisinsel dort im Norden ähnliche Abenteuer … Bevor sie beginnen, möchte ich aber wenigstens sechs Stunden schlafen, wenn’s irgend möglich ist …“ – Und er gähnte zwanglos und herzhaft …
Gipsy hielt seine Hand fest …
„Nielsen,“ meinte sie, „wenn ich Sie bitte, sich jetzt niederzulegen, dann werden Sie mir das nicht abschlagen … Ich übernehme das Steuer … Seien Sie verständig …! Sie müssen ja zusammenbrechen … So hohläugig und fahl sah ich Sie noch nie …“
Innigste Sorge lag in diesen Worten …
Nielsen empfand diese Fürsorge wie eine köstliche Wohltat. Niemals hätte er geglaubt, daß ihm, dem Frauenverächter, je ein Weib so tief die starke Seele aufrühren könnte …
Zögernd erwiderte er – mit leichtem Kopfschütteln:
„Es geht nicht, Gipsy … Es geht nicht …! Was würden die anderen wohl von mir denken, wenn ich jetzt in die Koje kröche!“
„Oh – die anderen haben auch nicht wie Sie in Tschang Lus Kerker geschmachtet … Die anderen hatten nicht …“
Da unterbrach er sie:
„Nein, Gipsy, – noch bin ich nicht am Rande meiner Kräfte … Niemand kann vorausahnen, was die nächste Stunde uns bringt … Hier auf dem Kutter muß jetzt jeder auf dem Posten sein …! – Holen Sie mir einen Becher Kaffee, Gipsy, und gießen Sie einen Schuß Kognak hinein …!“
Die blonde Detektivin seufzte … „Sie sind ein schrecklicher Mensch, Kamerad Nielsen …!“
Dann eilte sie doch die Treppe der kleinen Kommandobrücke wieder hinab und verschwand im Heckniedergang …
Gerhard Nielsen blickte ihr mit stillem Lächeln nach … Dachte halb ärgerlich: ‚Es würde nichts helfen … Der kleine Racker hat mich gezwungen … Zwei Brautpaare haben wir schon an Bord … Alle guten Dinge sind drei!’
Und dann machte er eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf und schaute scharf gen Norden, wo nun die schwimmende weiße Insel immer deutlicher aus dem leichten Dunst des Horizontes herauswuchs …
Die ‚Schildkröte’ zitterte jetzt unter dem Arbeiten der drei kräftigen Motoren … Mit voller Geschwindigkeit jagte sie dahin, tanzte über Wellenberge, tauchte in grüne Wogentäler …
Sie schwamm famos, diese schlanke ‚Schildkröte’ … Sie bewies hier, daß sie seetüchtig war …
Und oben auf der Brücke spürten die Sphinxleute nun auch bereits kühle Luftströmung, die von der enormen Eismasse ausgestrahlt wurde …
Es wurde merklich kälter – fast mit jeder Minute. –
Gipsy erschienen mit einem großen Aluminiumbecher …
Sie ging sehr vorsichtig, denn der Kutter schwankte zuweilen recht arg. Als sie die Treppe der Brücke emporkam, neigte die ‚Schildkröte’ ihrer Nase so tief in die Wogen, daß ein Teil des Becherinhalts herausspritzte …
„Die Treppe wird mit Wasser, nicht mit Kognakkaffee gescheuert,“ meinte Nielsen trocken … „Im übrigen herzlichen Dank, Gipsy …“
Und er trank in langen Zügen den Becher leer. –
Auch Gipsy sah heute den ersten wandernden Eisberg … Gelesen hatte sie schon übergenug von diesen gefährlichen Sendboten der Polargebiete … Sie wußte, daß vor Jahren eines der schönsten Luxusschiffe nachts durch einen solchen Eisberg auf den Grund des Ozeans geschickt worden war, daß Hunderte von Menschen dabei umgekommen … Sie hatte in den Zeitungen immer wieder Berichte über die verderblichen Eisinseln gefunden, hatte auch Abbildungen angestaunt, die in ihrer farbigen Ausführung immerhin ein leidliches Bild der Wirklichkeit gaben …
Heute sah sie nun den ersten dieser Polarwanderer immer dichter, immer genauer vor sich …
Eine Insel aus Eis, wie sie selten in dieser Größe anzutreffen ist … Ein Wunderwerk der Natur, ein leuchtendes Gebilde der nördlichen Zonen, ein Beispiel für die Unermeßlichkeit der Eismassen, von denen die Polargebiete bedeckt sind …
Gipsy lehnte neben Nielsen am Geländer der Brücke.
Sie vergaß alles übrige beim Anblick dieses grandiosen Schauspiels …
Vergaß, daß dort auf der schwimmenden funkelnden Insel die Sphinx sich verbarg – die Sphinx mit Mafalda und Lomatz an Bord …!
Und ähnlich wie ihr erging es auch den übrigen hier auf der flinken ‚Schildkröte’ …
Gewiß – man fröstelte unter dem Eiseshauch des weißen Riesen … Aber man empfand diese eigenartige Kälte inmitten grellen Sonnenscheins kaum als frischeren Luftzug, weil alle Aufmerksamkeit so ganz ungeteilt den wechselnden Schönheiten des glitzernden Kolosses galt …
Da waren jetzt, wo der Kutter, kaum noch fünfhundert Meter entfernt, tiefe Schlünde in den Eishügeln zu erkennen, die in den prächtigsten Farbabstufungen, von Tiefblau bis Hellgrün leuchteten … Da zauberte das Sonnenlicht die Strahlenbüschel riesiger Diamanten hervor, durchsichtig klare Eisblöcke sprühten die Strahlen aus … Da gab es schlanke Eisnadeln, viele Meter hoch, wie von Menschenhand geformt, – alles flimmernd, schillernd, gleißend, daß es die Augen blendete … Da waren zwischen den Hügeln Schneefelder von unberührter Reinheit … An tieferen Stellen wieder, wo sich das Schmelzwasser angesammelt hatte, waren Seen entstanden, die ihr Wasser in schäumenden Kaskaden ins Meer über steile Uferwände schickten … Da saßen auf den Rändern der Steilküste dicht bei dicht Reihen von Möven aller Art, erhoben sich zuweilen kreischend in die Lüfte und ließen sich wieder leichtbeschwingt auf die Eisfelsen herab … Da ruhten auf flachen Ausläufern des Kolosses dunkle Tierleiber: Seehunde – sogar ein paar mächtige Walrosse …
Übergenug gab es zu schauen – übergenug …!
Und die Sphinxleute staunten, bewunderten … Die Schöpferin Natur ließ alle für Minuten die Sorgen und Gefahren vergessen …
Vielleicht war’s nur Nielsen, der hier, jetzt wieder angeregt durch den aufpeitschenden Trank, sich nicht durch diese seltenen Eindrücke ablenken ließ …
Vielleicht nur er allein …
Seine Hände hielten die Speichen des Steuerrades … Seine hellen Friesenaugen waren fest auf das Ziel gerichtet …
Näher schoß die ‚Schildkröte’ heran …
Noch zweihundert Meter …
Noch hundertfünfzig Meter …
Nielsen drückte das Steuer herum, und der Kutter begann den Eisriesen zu umrunden – mit halber Maschinenkraft …
Da rief auch Gaupenberg, der noch neben Murat auf dem Dache des Funkerhäuschens stand:
„Die Damen bitte in die Kajüte …! Halten wir die Waffen bereit …! Vielleicht geht es nicht ohne Kampf ab …!“
Dieser Befehl war ernst genug, um bei jedem den Sinn wieder auf das dringende Gebot dieser entscheidenden Stunde zu richten …
Gottlieb, Pasqual und Dalaargen holten Karabiner, Pistolen und die Maschinenpistole an Deck …
Mela und Toni verschwanden etwas widerwillig im Niedergang der Hecktreppe … Gipsy blieb an Deck. Es war ihr gutes Recht, mit zu den Männern gezählt zu werden …
Dann erspähte Nielsen die erste Bucht des Eisriesen …
Steuerte vorsichtig hinein …
Nichts von der Sphinx … Die Bucht war kurz und breit … Verstecke gab es hier nicht …
Rückwärts strebte der Kutter wieder ins offene Meer.
Umrundete weiter die schwimmende Insel … Lief in eine zweite Bucht ein, suchte nach der Sphinx.
Abermals nichts …
Dann eine dritte Bucht – mit turmhohen Eisgestaden – bald sich ausdehnend zu runden Becken, bald wieder ein enger Kanal …
Eine Bucht, die sich gut tausend Meter in die Eismasse hineinzog …
Und sich am äußersten Ende wiederum zum ovalen Becken dehnte …
„Der Schoner – – und ein Wrack …!!“
Mehrere Stimmen riefen’s …
Sofort stoppte die ‚Schildkröte’ …
Mißtrauische, vorsichtige Augen prüften das halb verbrannte, auf flacher Eisbarriere ruhende Wrack und den schlanken Schoner, der mit zwei Trossen in der Nähe vertäut war …
Mißtrauische Augen suchten nach Anzeichen von Gefahr …
Die Sphinxleute hatten Deckung hinter der niederen Reling genommen … Nur Nielsen oben auf der Brücke war als Steuermann Zielscheibe für jede Kugel …
Nichts geschah …
Bis Gaupenberg Nielsen zurief:
„Bitte – legen Sie drüben an der Eisplattform an … Zwei von uns müssen Wrack und Schoner durchsuchen … Ich nehme Murat mit … Murat wittert jede Gefahr …“
Die ‚Schildkröte’ glitt im Bogen zur Landesstelle … Pasqual und Knorz hielten Bootshaken bereit, schlugen die Spitzen in das knirschende Eis, und der Kutter lag still …
Der Homgori sprang schon über die Reling, in der rechten Hand den Browning … Gaupenberg folgte … Murat, stets zehn Schritt voraus, kletterte über Eisblöcke und Zacken … Erreichte als erster das Wrack des Robbenfängers …
Nichts geschah …
Keine Kugel bedrohte Gaupenberg und seinen Begleiter … –
Und – eine Viertelstunde darauf wußte man, daß der Schoner tatsächlich die ‚Ellinor’ war, das Piratenschiff …
Die ‚Ellinor’ aber und ebenso das Wrack bargen niemanden mehr – waren verlassen …
Wiederum eine halbe Stunde später, gegen halb drei nachmittags, hatten die Sphinxleute die schwimmende Eisinsel durchforscht …
Von der Sphinx keine Spur …
Auch keine Spur von der Besatzung des Schoners, von den Schiffbrüchigen des Wracks … Verschwunden auch der Doppeldecker, den die ‚Ellinor’ im Schlepptau gehabt hatte … –
Gaupenberg, Hartwich und Murat standen auf einem der Eishügel, den sie unter unsäglichen Mühen erklommen …
Fernrohre hatten sie mitgebracht …
Das Meer ringsum frei von Schiffen …
Leer auch der Äther …
„Wo ist die Sphinx?!“ sagte Gaupenberg düster. „Georg, wo sind unsere Frauen! Begreifst du dies alles?!“
Georg Hartwich schwieg …
Seine Stirn war gefurcht … –
Murat, der Homgori, zitterte vor Kälte …
Seine mächtigen Hauer schlugen klappernd aufeinander … Und in abgerissenen Worten sagte er dann:
„Murat … allein … suchen … Murat finden Spuren …“
Gaupenberg und Hartwich blickten den riesigen Tiermenschen überrascht an …
„Spuren?!“ meinte Gaupenberg traurig. „Die Sphinx ist auf und davon … Dinge sind geschehen, die wir nur ahnen können … Mafalda triumphiert abermals!“
Der Homgori schüttelte kräftig den Kopf …
„Sphinx hier auf Insel …“ sagte er kurz … „Murat wissen auch wo … Murat vorhin drüben bei nächste Bucht an Eismauer etwas finden … Murat glauben erst, daß nichts zu bedeuten haben … Jetzt, wo Sphinx weder auf Meer noch in Luft, doch was bedeuten … Kommen und sehen, Mr. Gaupenberg … Dort in Eisblock Zeichen … Murat nicht beschreiben können … Müssen sehen …“
Die drei begannen den Abstieg …
Als sie das Schneefeld am Fuße des Hügels wieder erreicht hatten, kam ihnen Nielsen entgegengeeilt …
„Gaupenberg, ich habe da soeben zusammen mit Gipsy am Ufer der nächsten Bucht etwas entdeckt,“ rief er erregt … „An einem Eisblock sind mit einem scharfen Instrument ein Pfeil und und drei Buchstaben eingekratzt …: ein S, ein A, und ein E … – Vielleicht soll das Sphinx, Agnes und Ellen bedeuten … vielleicht! Der Pfeil aber zeigt auf die steile Buchtwand, an der freilich nichts zu bemerken ist, was …“
Da fiel ihm Murat ins Wort …
„Oh – doch zu bemerken, Mr. Nielsen … Blonde Haare, Mr. Nielsen … Lange viele blonde Haare … Müssen von Miß Agnes sein … Nur kommen und sehen …“
Sie liefen jetzt, die vier …
Fanden an jener Bucht Gipsy Maad als Wächterin der Zeichen …
Und – – eine Strähne blonden Haares, die in einer Ritze der Eiswand hing – vielleicht zwei Meter hoch …
Gaupenberg hatte die Strähne rasch herausgezogen.
Sein Gesicht war bleich …
„Von Agnes,“ flüsterte er … „Von meiner Agnes … – Was halten Sie davon, Nielsen, – und wie denken Sie über diese Dinge, Miß Gipsy?“
Nielsen schwieg … Gipsy schwieg …
Nur Murat rief:
„Sphinx hier auf Eisinsel sein … Murat schon finden werden …“
Das war ein schwacher Trost für Gaupenberg und Hartwich …
Dr. Dagobert Falz, der mit dem Doppeldecker an Bord des Schoners ‚Ellinor’ gelangt war, hatte sofort nach der freudigen Begrüßung mit Agnes und Ellen einen harten Strauß mit dem Piloten Brockfield des Flugzeuges zu bestehen.
Der Pilot, bekanntlich ein Angestellter der Detektivfirma Worg & Co., Neuyork, verlangte sehr energisch, daß Dr. Falz den Kapitän der ‚Ellinor’ dazu bestimme, daß dieser ihm für den Doppeldecker den nötigen Brennstoff überlasse. Die ‚Ellinor’ als Motorschoner verfügte ja in der Tat über genügend Benzinvorräte. Falz sah durchaus ein, daß der Pilot lediglich seine Pfllcht tun und recht schnell über den Verbleib des Schoners in Neuyork Meldung erstatten wollte. Anderseits war von dem Kapitän der ‚Ellinor’, der die beiden Männer durchaus höflich aufgenommen hatte, kaum zu erwarten, daß er seinerseits noch mit dazu beitragen solle, die Verfolger auf seine Fährte zu bringen.
Als Dr. Falz dies dem jungen Flugzeugführer in der Heckkajüte, dem Wohnraum der beiden Frauen, in ruhiger Weise klarmachte, wurde der Detektiv, der lediglich die Interessen seines Instituts wahrnahm, recht heftig und meinte, diesen Banditen gegenüber dürfe man keinerlei Rücksicht nehmen. In seinem Übereifer eilte er an Deck und pflanzte sich hier recht herausfordernd vor dem Kapitän Le Baron auf …
Dr. Falz, dem es darauf ankam, das gute Verhältnis zu dem Führer des Schoners nicht zu trüben, war dem Piloten Brockfield auf dem Fuße gefolgt …
Und bevor Brockfield noch in völliger Verkennung der Sachlage den langen Freibeuterkapitän durch sein ganzes Auftreten reizen konnte, sagte Falz mit der ihm eigenen Bestimmtheit:
„Mr. Brockfield, Sie vergessen vollkommen, daß Sie sich nach meinen Wünschen zu richten haben. Ich stehe hier gleichsam als Vertreter Randercilds vor Ihnen, der Ihre Firma mit der Bewachung und Sicherung von Schloß Missamill betraut hatte … Ich verbiete Ihnen, hier etwa dem Kapitän gegenüber anmaßend aufzutreten … Wir sind halbe Gefangene …“
Le Baron hörte mit unbewegtem Gesicht zu …
Fragte nun:
„Was gibt’s eigentlich, Mr. Falz? Was wünscht der Pilot?“
„Benzin, Kapitän … Er will wieder aufsteigen …“
Le Baron nickte gleichmütig …
„Soll er haben, Mr. Falz! – Also deshalb die Aufregung …! Dem kann abgeholfen werden … – Natürlich verlange ich von Ihnen, Mr. Brockfield, daß Sie mich nicht verraten … Das ist wohl selbstverständlich … Bisher ist die Verfolgung der ‚Ellinor’ ohne Erfolg geblieben … Man weiß nicht, wohin sich der Schoner gewandt hat … – Geben Sie mir also Ihr Wort zu schweigen, und Sie sollen mit Brennstoff versehen werden …“
Der junge stramme Brockfield machte hierzu ein ziemlich finsteres Gesicht … Schwieg …
Le Baron zuckte die Achseln …
„Sie wollen nicht …! Gut, dann ist Ihnen nicht zu helfen … Ich möchte Sie nur noch darauf aufmerksam machen, daß der Wind immer mehr auffrischt und daß der Doppeldecker, den wir jetzt im Schlepptau haben, vielleicht verloren geht … Jetzt können Sie noch aufsteigen … In einer halben Stunde ist’s leicht unmöglich … – Wählen Sie …!“
Brockfield überlegte …
Stieß dann wütend hervor:
„Also – ich gebe mein Wort …“
„Als Gentleman …!“ sagte Le Baron mit Betonung …
Der Pilot fuhr auf …
„Selbstverständlich …!“
„Nun – dann sollen Sie Benzin haben …“
Er winkte Sam Pittjens, den obeinigen Steuermann, herbei …
„Sam, Mr. Brockfield erhält Benzin … Die Menge ist gleichgültig. Wir sind gut versorgt …“
Der Pilot entfernte sich mit dem kleinen Sam, und Le Baron und der Doktor waren auf dem Achterdeck allein – zum ersten Male allein ohne Zeugen.
Dagobert Falz musterte den langen Freibeuterkapitän mit besonderen Blicken …
„Landsmann,“ meinte er leise, „Frau Ellen Hartwich hat mir erzählt, daß Sie Deutscher sind …“
Le Baron lächelte …
„Ein Irrtum, Mr. Falz … Frau Hartwich verwechselt mich mit einem früheren Oberleutnant zur See Graf Hans Samitten, wie sie mich schon verfehlterweise angeredet hat … Ich bin nicht Deutscher, Herr Doktor … Ich bin ebensowenig Amerikaner oder Chinese. Ich will keiner Nation die Schmach antun, mich ihr zuzurechnen. Ich bin ein Gescheiterter, ein Verbrecher, war der Vertraute Mr. Nulls, von dem ich trotzdem nicht wußte, daß er Randercilds Privatsekretär war … Ich nenne mich Le Baron, weil die Neuyorker Gaunerzunft mich so getauft hat …“
Seine Stimme war mit jedem Wort weicher, trauriger geworden … Das schmale, bartlose Aristokratengesicht hatte einen Ausdruck von heimlicher Seelenpein angenommen.
Falz legte ihm da mit gütiger Gebärde die Hand leicht auf die Schulter …
„Le Baron – mögen Sie sein wer Sie wollen. Es ist schade um Sie! Kehren Sie um, – es kann immer noch eine Umkehr für Sie geben! Alles, was Sie getan, läßt sich wieder gut machen … Helfen Sie mir, die Sphinx und den Schatz für Deutschland zurückzugewinnen! Sie wissen, die Milliarden sollen die deutsche Not lindern, sollen den Wiederaufstieg Deutschlands fördern! Wir Sphinxleute handeln vollkommen selbstlos …! – Helfen Sie uns! Sie können es! Der Eisberg, auf dem die Sphinx mit den Verbrechern Mafalda und Lomatz gelandet ist, treibt irgendwo nordöstlich von hier, wird zu finden sein …!“
In dem Antlitz des Piratenführers arbeitete es…
Seine Augen waren halb geschlossen … Die Lippen zusammengekniffen …
Minuten blieb er stumm …
Starrte auf die sauber gescheuerten Deckplanken …
Er dachte an die Besatzung der ‚Ellinor’ … Das waren zumeist Chinesen, eine unzuverlässige Bande, denen er bereits die Waffen hatte abnehmen lassen …
Und ob die wenigen Weißen, darunter Sam Pittjens, wirklich in diesem Falle treu zu ihm stehen würden, war recht zweifelhaft … Sie alle waren ja verblendet von der Goldgier … Sie alle waren in der verflossenen Nacht ausgezogen, Schloß Missamill und die Milliarden zu erobern. Randercilds Palast hatten sie in ihre Gewalt gebracht … Mit dem Schatz waren andere entwichen … –
Dr. Falz ließ dem Kapitän Zeit … Noch immer ruhte seine Hand auf der Schulter des Mannes, der seiner Überzeugung nach doch Graf Samitten war … Ein Deutscher …! Und darauf baute er … –
Dann holte Le Baron tief Atem, versuchte einen halb ironischen Ton anzuschlagen …
„Eigentlich ist’s ja ’ne Riesendummheit, Mr. Falz,“ meinte er harten Tones. „Trotzdem, ich will’s versuchen …! Aber allein richte ich da nichts aus … Ich muß zusehen, daß die Europäer der Besatzung sich von mir so weit beeinflussen lassen, daß sie jeder mit einer anständigen Belohnung zufrieden sind. Die müssen Sie mir dann zubilligen, Mr. Falz …“
„Gut – jedem zehn Goldbarren, Kapitän,“ nickte der Doktor bereitwilligst.
„Abgemacht,“ erklärte Le Baron kurz …
Falz streckte ihm die Hand hin …
„Schlagen Sie ein … Ich danke Ihnen …!“
Aber der Freibeuter wich zurück …
„An meiner Hand klebt Blut, Mr. Falz … Wenn die Polizei mich fängt, lerne ich den elektrischen Stuhl kennen …“
Und er drehte sich um und schritt dem Vorschiff zu.
Falz kehrte in die Heckkajüte zu den Frauen zurück, teilte ihnen sofort mit, daß Le Baron nun ihr Verbündeter sei …
Ellen Hartwich rief: „Es ist Graf Samitten, Herr Doktor …! Mag er auch noch so energisch leugnen! Er ist’s bestimmt …“
Falz sagte leise: „Ja – er ist’s … Er hat sich selbst verraten … Er nannte mir seinen Vornamen: Hans Samitten …! Und soweit ich mich erinnere, hatten Sie diesen Vornamen ihm gegenüber nicht erwähnt …“
„Nein – bestimmt nicht …! Und Hans trifft zu … Man nannte ihn damals in Berlin allgemein den langen Hans … – Er ist’s, und wenn er’s nicht wäre, würde er niemals uns seine Hilfe zugesagt haben …!“ –
Zur selben Zeit hatte Lee Baron auf dem Vorschiff die sieben Europäer der Besatzung um sich versammelt.
Als er ihnen nun erklärte, welches Übereinkommen er mit Dr. Falz getroffen habe, machten diese sieben Kerle einschließlich Sam Pittjens sehr lange Gesichter.
Einer von ihnen, ein berüchtigter Einbrecher, meinte wegwerfend:
„Zehn Goldbarren pro Mann – – ein Dreck …! – Kapitän, ein schlechter Handel ist’s …! Na – es wird sich wohl mehr dabei herausschlagen lassen, wenn wir die Sphinx nur erst haben …!“
Le Baron war Diplomat … Wollte es mit diesen Gaunern nicht verderben …
„Das hoffe ich ebenfalls … – Und nun – zwei von euch auf die Masten – Ausschau halten nach dem Eisberg …! Ich zweifle nicht, daß wir ihn finden …! – Und kein Wort zu der gelben Brut von alledem!“
Sie schritten auseinander …
Und vier von ihnen, die dienstfrei waren, brüteten nun in einer Ecke des Mannschaftslogis über finsteren Plänen …
„Verrückt ist der Kapitän …!“
„Ein Deutscher – ganz sicher! Daher hält er’s mit den Sphinxleuten …!“
„Er soll sich wundern …! Zehn Goldbarren …!! Wo auf jeden fast hundert Millionen kämen …! – Was rede ich …! Hundert?! Noch viel mehr …! Und das soll man sich entgehen lassen …! Narren wären wir!“
Sam Pittjens erschien …
Die vier machten betretene Gesichter … Aber Sam ahnte das Richtige …
Und – hielt mit …
Bald war die ganze Besatzung gegen Le Baron verschworen …
Alle – auch die Chinesen …
Und die haßten den Kapitän … Die vergaßen es ihm nicht, daß er sechs von ihnen wie räudige Hunde ersäuft hatte … –
Und wieder eine halbe Stunde darauf stand Le Baron in der Kabine des Funkers der ‚Ellinor’ …
Der Apparat sandte die Antwort an den Kutter ‚Schildkröte’ …
Und gerade als Tom Booder sich auf der ‚Schildkröte’ so sehr wunderte, daß die Antwort des Piratenkapitäns mitten im Satz abbrach, erfüllte sich Le Barons Schicksal …
Hinterrücks wurde er in der engen Funkerzelle überfallen … Niedergeschlagen … Wie ein Rudel feiger Präriewölfe stürzte die gelbe Bande über den einen Mann … Die Weißen hielten sich fern …
Im Nu hatte man den Kapitän überwunden und gefesselt … Wie die Irrsinnigen tobten die schlitzäugigen Brüder der Roten Dschunke … Es waren ja sämtlich Mitglieder des Geheimbundes, der gleichfalls dem intelligenten Mr. Null dienstbar gewesen …
Mit den Füßen traten sie den Wehrlosen, spien ihm ins Gesicht …
Zerrten ihn nach oben an Deck …
Banden ihn an den Vordermast …
Le Barons Gesicht war beschmutzt, blutbefleckt … Die Oberlippe war unförmig geschwollen … Das eine Auge nur noch eine blaue Beule …
Johlend, kreischend umtanzte die gelbe Brut den Besinnungslosen …
Entsetzt waren Ellen und Agnes in die Tür der Kajüte getreten … Selbst Dr. Falz, der sich in der Nebenkammer eben erst zum Schlafen niedergelegt hatte, erwachte über dem Höllenlärm …
Von den sieben Weißen der Besatzung mischte sich nicht ein einziger ein … Sam Pittjens stand am Steuer und tat, als wäre er blind und taub … Die übrigen hielten sich scheu beiseite … Ihre Herzen waren vom Goldrausch vergiftet … Ein unvernünftiger Haß gegen den Kapitän beseelte sie … Sie glaubten ihn als Feind betrachten zu müssen. Sie hätten keinen Finger gerührt, wenn die vertierte Horde ihn getötet hätte …
Und derselbe Haß galt den drei Sphinxleuten, – Dr. Falz und den beiden Frauen … Gehörten diese doch zu den Verteidigern des Schatzes … Deshalb waren sie Feinde … Mochten die Chinesen doch mit ihnen tun, was sie wollten … –
Dr. Dagobert Falz erschien da plötzlich an Deck … In jeder Hand einen Browning …
Seine hagere hohe Gestalt reckte sich noch höher …
Langsam schritt er vorwärts …
Gellendes Hohngelächter empfing ihn … Drei, vier der gelben Bestien hoben ihre Pistolen …
Falz machte nicht halt …
Seine Augen blitzten hinter den Brillengläsern …
Um seinen Mund lag ein harter, unerbittlicher Zug.
Dann … feuerten die Schufte …
Feuerten nochmals …
Kugeln klatschten in den Heckaufbau …
Schnell riß Ellen die leichenblasse Agnes zurück und schlug die Tür zu …
Wieder schossen die schlitzäugigen Banditen …
Dr. Falz war gefeit … Er war über den Tod erhaben … Er wußte, daß seines Lebens letzte Sekunde nicht durch Menschenhand herbeigeführt werden würde … Er, der mit den geheimnisvollen Kräften längst dahingegangener Jahrhunderte vermessen gespielt hatte, er, der die verborgene Weisheit des berühmtesten aller Alchimist am eigenen Leibe erprobt, er mußte wandern, warten bis ans Ende aller Tage … Warten auf den Erlöser Tod …
Und genau wie es einst denen ergangen, die auf der Aztekeninsel Christophoro den Einsiedler von Sellenheim durch Revolverkugeln hatten niederstrecken wollen, so erging es hier der vertierten gelben Bande der Brüder der Roten Dschunke. Entsetzen, Grauen packte sie plötzlich! Sie ahnten die Wahrheit … Ahnten, daß ihnen hier eine Macht gegenübertrat, vor der sie ein Nichts waren – ein klägliches Nichts …
Ein einziger wagte noch aus drei Schritt Entfernung einen letzten Schuß …
Dr. Falz stand jetzt still … Und blieb aufrecht, als ob man ein Papierkügelchen ihm gegen die Brust geschleudert …
Scheu duckte die Horde sich nun zusammen …
Dann … hob Dr. Falz den rechten Arm …
Das harte blecherne Peng – Peng der Browning war Todesgruß für zwei der Banditen …
Klatschend schlugen sie nieder auf die Deckplanken.
Aufheulend stob die Schar auseinander…
Sam Pittjens am Steuer hatte sich plötzlich darauf besonnen, daß man beten müsse, wenn der Teufel an Bord …
Für ihn war Falz der leibhaftige Gottseibeiuns …
Sam betete … Seit vierzig Jahren zum ersten Male wieder … Seine O-Beine zitterten …
Seine Fäuste umkrallten wie im Krampf das Steuer.
Er … war allein an Deck mit dem Satanas …
Und jetzt kam Falz auf ihn zu …
Blieb vor ihm stehen …
„Schurke!!“
Pittjen sank in die Knie …
Er hatte vorhin eine Flasche Whisky probiert … Der Rausch war verflogen …
Pittjens winselte kläglich: „Gnade, Master … – Gnade …!!“
Falz sagt eisig:
„Binde den Kapitän los … Hole deine weißen Freunde an Deck …“
Und Sam verschwand … Blitzschnell …
Falz packte die Radspeichen, hielt den Schoner im Kurs …
Minuten vergingen …
Im Vorschiff redete Sam eindringlich auf seine Gefährten ein …
Endlich wagten sie es … Schlichen hinter ihm her nach oben … Banden den Kapitän los, wuschen ihm Gesicht und Hals … Schielten immer wieder nach dem unheimlichen Alten hin, der da wie eine Statue am Steuerrad lehnte.
Bis Sam Pittjens geduckt wie ein geprügelte Hund auf Falz zukam und mit abgezogener Mütze fragte, wo der Kapitän hingeschafft werden sollte …
Einer Antwort bedurfte es nicht …
Le Baron, der mit Füßen getretene und angespiene Piratenkapitän, war wieder zu sich gekommen …
Le Baron saß aufrecht auf den Bastmatten, auf die seine verräterischen Gefährten ihn gebettet hatten …
Neben ihm standen noch die Eimer mit blutgefärbtem Wasser, lagen noch die Schwämme und Tücher, mit denen man ihn gesäubert …
Er saß aufrecht. Sein Oberkörper schwankte leicht hin und her … In seinem Hirn schwirrten die Gedanken noch wirr durcheinander.
Aber Le Baron war zäh … war nicht verweichlicht. Er war ein Verbrecher, sicher, aber kein lasterhafter. Hatte seinen hageren Körper stets vor Ausschweifungen bewahrt.
Er überwand den Rest des Schwächegefühls. Er wurde immer mehr Herr seiner Sinne, erinnerte sich mit einem Schlag an das Geschehene. Seine graubraunen harten Augen flogen über die Männer hin, die scheu bis zur Reling zurückgewichen waren.
Ein unsagbar verächtlicher Zug erschien um seine Lippen …
„Gesindel!“ knurrte er laut und klar …
Dann erhob er sich, schwankte wieder, raffte sich zusammen …
Dr. Falz trat schnell näher …
Le Baron schaute ihn an …
„Herr Doktor,“ erklärte er in deutscher Sprache, „dieser Schurkenstreich der Schufte, denen ich ein ehrlicher Freund gewesen, hat alles geändert … Herr Doktor, ich bin der wegen betrügerischen Glücksspiels mit Schimpf und Schande entlassene, von seiner Familie verstoßende frühere Oberleutnant zur See Graf Hans Samitten – der lange Hanns genannt … – Herr Doktor, Sie mahnten mich zur Umkehr … Nun habe ich endgültig den Weg der Schande verlassen … Ich will zu sühnen versuchen …“
Er verbeugte sich vor Falz … Sein Gesicht war noch härter und unbeugsamer geworden …
„Wir werden diese Schurken hier zum Gehorsam zwingen … Dort die beiden Toten beweisen mir, daß Sie Herr der Lage sind, und jetzt sollen …“ – er griff in die Jackentasche und holte seine schwere Pistole hervor – „jetzt sollen hier wieder Ordnung und Disziplin herrschen.“
Bevor Falz es noch verhindern konnte, hatte der lange Hans auf Sam Pittjens gefeuert …
Der taumelte gegen die Reling … sank auf die Deckplanken …
„Werft ihn über Bord!“ befahl Le Baron kalt …
Und – drei der weißen Banditen sprangen zu …
„Halt!“ rief der Doktor da …
Aber sein Eingreifen kam zu spät …
Pittjens klatschte in die Wogen …
Le Baron schob die Waffe zurück in die Jackentasche …
„Sam Pittjens kannte mich seit drei Jahren,“ meinte er nur … „Er hätte mich nie verraten dürfen … Den anderen sei’s verziehen …“ –
Dann erteilte er allerlei Befehle, die die Ordnung an Bord wiederherstellen sollten.
Zwei Mann mußten auf die Masten. – Der Funker meldete, daß die Chinesen die Apparate in der Funkzelle zerstört hätten. Es war daher unmöglich, die Verbindung mit dem Kutter ‚Schildkröte’, auf dem die Sphinxleute sich befanden, wieder herzustellen. Der Pilot Brockfield war mit dem Doppeldecker schon vor einer Stunde aufgestiegen. Sonst hätte man ihn bitten können, den Kutter aufzusuchen.
Scheu und geduckt tat die Besatzung ihre Pflicht. Besonders die Chinesen wagten kaum den Doktor und ihren Kapitän anzusehen …
Inzwischen war am Heck ein Sonnensegel ausgespannt worden. Agnes, Ellen und Dr. Falz saßen auf Schiffsstühlen an einem Tischchen und nahmen das Frühstück ein. Le Baron hielt sich von ihnen fern. Wenn Ellen oder Agnes ihn anzusprechen suchten, überhörte er es geflissentlich.
Vier der Chinesen scheuerten das Deck. Die Blutflecke wurden entfernt. Die ‚Ellinor’ bot wieder ein durchaus friedliches Bild dar.
Gegen zwei Uhr nachmittags meldete der eine Ausguckmann den Eisberg – genau nördlich. Der Schoner änderte den Kurs.
Agnes und Ellen hatten sich erhoben und traten an die Reling. Falz brachte ihnen Ferngläser …
Immer mehr wuchs die ungeheure Eismasse über den Horizont hinaus …
Aller Augen hingen an der mächtigen schwimmenden Insel …
Die beiden jungen Frauen tranken mit bewundernden Blicken die vielfachen Schönheiten des weißen Polarwanderers … Auch ihnen erging es ähnlich wie den Sphinxleuten auf dem Kutter. Sie konnten sich kaum sattsehen an diesem Farbenspiel, an diesem einzigartigen Bilde … –
Le Baron hatte jetzt die Besatzung an Deck versammelt …
Was er dem Gesindel zu sagen hatte, war Drohung und Warnung zugleich … Und seine Augen warnten mehr als die Worte …
Die versammelten Schurken starrten vor sich hin …
„Es bleibt dabei, jedem zehn Goldbarren!“ schloß Le Baron die kurze Ansprache. „Jedem …! Verdient habt ihr es nicht. Trotzdem – wir waren einst Kameraden!“
Dann schickte er sie wieder auf ihre Posten …
Der Eisberg war jetzt kaum noch tausend Meter entfernt.
Immer klarer wuchsen die Schönheiten der enormen Eismasse in ihren verschiedenartigen Einzelheiten aus dem Gesamtbild der schwimmenden Rieseninsel hervor …
Die Ferngläser zeigten die in allen Farben im Sonnenlicht schillernden Klüfte und Spalten, die glatten Eisflächen, die sich wie erstarrte Wasserfälle steil herabsenkten von turmhohen, senkrechten Uferwänden, die Einfahrten in zahlreiche Buchten und anderseits die ins Meer hineinragenden Halbinseln mit den dunklen Flecken der in Scharen sich sonnenden Robben und Walrosse …
„Oh – ein Stück vom Nordpol!“ rief Agnes begeistert …
Aber Dr. Falz meinte nur ernst und wie in Vorahnung widriger Geschehnisse:
„Eine Insel, die unsere erbittertsten Feinde verbirgt! Eine Insel, auf der sich unsere Sphinx und das heiß umkämpfte Gold befindet …!“
Der hagere Kapitän Le Baron ließ das Fernglas nicht wieder von den Augen …
Der Schoner beschrieb jetzt einen Bogen, umrundete die ungeheure treibende Insel …
Kein menschliches Wesen war dort drüben zu bemerken.
Und doch wurde die ‚Ellinor’ dauernd beobachtet … Gut versteckt lagen da auf der Kuppe eines Hügels hinter Eisblöcken drei Gestalten …
Wachsame Augen zählten die Stärke der Besatzung, musterten die vier Personen auf dem Achterdeck …
Dunkle Pläne wurden rasch und listig entworfen …
Als der Schoner dann, nachdem er mehrere der Buchten ohne Erfolg abgesucht hatte, in die tiefste und weiteste einlief, war alles zu seinem Empfang bereit.
Langsam nähert die ‚Ellinor’ sich dem äußersten Ende dieser Bucht, dem ovalen Becken, wo das Wrack des Robbenfängers ‚Harlasund’ mit dem durch Feuer zerstörten Bug auf dem Eise ruhte.
An Bord der Schoners suchten aller Augen nach der Sphinx …
Da waren die schlitzäugigen Brüder der Roten Dschunke, die Hab und Gut in Neuyork verschleudert hatten, weil sie in Schloß Missamill Milliarden zu erobern hofften … Da waren die sechs weißen Verbrecher, bis vor kurzem die Gefährten Le Barons – jetzt seine heimlichen Feinde, weil er sich mit den drei Sphinxleuten verbündet hatte, weil er denen helfen wollte, den Schatz zurückzuerobern, weil er sich auf Herkunft und Vaterland besonnen – er, der Gescheiterte, Verstoßene, er, der lange Hans, ein Graf Hans Samitten, Sprößling eines ostpreußischen Geschlechts, das schon zu Zeiten der Deutschritter sein Blut für deutschen Boden vergossen hatte …
Und all diese neunzehn Schurken, die hier auf dem Schoner ‚Ellinor’ nur durch die abergläubische Furcht vor Dr. Falz’ Unverwundbarkeit für Stunden niedergehalten waren, erlebten jetzt die bitterste Enttäuschung, sahen sich um ihre gierigen Hoffnungen betrogen. Das Goldschiff befand sich nicht auf dem Eisberg! Selbst in dieser Bucht nicht, wo das Wrack des Robbenfängers mit seinen verkohlten Planken auf eine jener Tragödien der Polargebiete hindeutete, wo die Sphinx eine bequeme Landungsstelle und ein gutes Versteck inmitten der hohen Eiswände gehabt hätte …
Neunzehn Schurken standen an der Reling des Vorschiffes zusammengedrängt …
Flüsternd … hastige Worte tauschend …
Einer sprach den Verdacht aus:
„Le Baron betrügt uns … Ein Verräter, dieser Deutsche … Das Gold will er uns vorenthalten …“
Ein zweiter stimmte zu …
In vertierten Gesichtern flammten Haß und Rachgier auf …
Die neunzehn raunten, flüsterten von neuem miteinander …
Und warnten sich gleichzeitig gegenseitig vor jeder Gebärde, die ihre Gedanken verraten könnte … Bezwangen sich, heuchelten … Stets die Augen zu trügerischem Spiel in der Gewalt … Eine Bande, die jeden Moment in toller Raserei, bar jeder Furcht, losbrechen konnte zu jeder Schandtat – auch zu Mord … –
Auf Befehl des Kapitäns arbeiteten die Schrauben jetzt rückwärts …
Die ‚Ellinor’ lag still – noch hundert Meter von dem Wrack entfernt … –
Hans Samitten, Agnes, Ellen und Dr. Falz, die auf dem Achterdeck beisammenstanden, waren nicht weniger enttäuscht als die unzuverlässige Besatzung …
Der Einsiedler von Sellenheim tröstete die beiden jungen Frauen …
„Der Eisberg ist groß … Es kann hier noch versteckte Buchten geben …“
Keiner der vier ahnte, daß doppelte Gefahr sie umlauerte …
Da waren nicht nur die neunzehn Schurken, denen die Goldgier jetzt zur Mordgier geworden …
Da war einer, der mit scharfen Augen, unsichtbar jedem spähenden Blick, die ‚Ellinor’ belauerte …
Le Baron ließ ein Boot zu Wasser bringen …
Er, Falz und zwei Chinesen bestiegen es … Das Wrack sollte durchsucht werden …
Nichts regte sich auf der ‚Harlasund’ …
Tot und still lagen die Gestade der Bucht … Seevögel die einzigen lebenden Wesen …
Scheinbar … –
Le Baron, in der Rechten den Browning, stand vorn im Boot …
Sein braunes Gesicht war seltsam düster …
Todesahnungen wehten durch seine reuige Seele wie schwarze Gespenster …
Seine Lippen waren zusammengepreßt … Die Augen trotzdem scharf und wachsam bis zum äußersten …
Der Gescheiterte rechnete mit Tücke und Hinterlist … Auf alles war er vorbereitet …
Und wie er so dastand im leicht schwankenden Boot, zog sein verpfuschtes Dasein in bunten Bildern blitzschnell nochmals an ihm vorüber … Leichtsinn, verfehlte Erziehung, Hang zum Abenteurertum, Daran war Graf Hans Samitten zugrunde gegangen! Freunde, Elternhaus, Heimat – alles dahin …!! Ein Verbrecher war er geworden …! Ein Mörder …! – Jetzt in dieser Minute verstand er’s nicht, daß es so weit mit ihm gekommen …!
Heiße Tropfen fühlte er in den Augenwinkeln …
Tränen, die er mit verbissenem Groll gegen sich selbst zurückdrängte …
Tränen, die … zwecklos waren … Denn niemand nahm mehr die Schmach von ihm, niemand konnte ihn entsühnen … Nur er selbst … Er war umgekehrt von dem Wege der Schande und des Verbrechens … Er … wollte sterben – für die, deren heimatliche Laute seinen Sinn gewendet … – –
Mit dumpfem Stoß schrammte das Boot am Eisgestade entlang …
Der lange Kapitän richtete sich noch höher … Drehte sich um… Schwang sich ans Ufer …
Das Wrack lag da wie eine verunstaltete Leiche …
Samitten schritt voran …
Und – – versteckte Augen beobachteten ihn … Unsichtbar ging der Tod neben Le Baron… Der Sensenmann …! Der lange Hans fühlte es … Ihm war’s, als ob er die Sanduhr sähe, die der stumme unheimliche Begleiter in der linken hielt …
Und – – diese Uhr war fast abgelaufen …
Der feine Sand aus dem oberen Teile rieselte herab … Rieselte unaufhörlich …
Hans Samittens Gesicht aber war plötzlich wie verklärt …
Der Tod …!!
Buße – – Sühne …
Mochte er kommen, der unerbittliche Sensenmann …
Le Baron war bereit …