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Band 4, Kapitel 11–20

11. Kapitel.

Kognak und Mafaldas Bein.

In der Felsspalte der nördlichen Hofwand des Kastells saßen dicht nebeneinander auf schmaler, natürlicher Steinbank Gipsy Maad, Gottlieb, Pasqual und der Teckel Kognak.

Eine halb verhüllte Laterne stand ihnen gegenüber auf einem Vorsprung des Gesteins …

Gerhard Nielsen wieder lag lang ausgestreckt im Eingang der Spalte hinter ein paar aufgeschichteten Steinen, die seinen Kopf verbargen.

Nielsen beobachtete den Hof der Felsenfeste. Sei zwei Stunden lag er nun hier und drückte sich die Knochen wund auf dem harten Fels.

Der blonde Nielsen war keineswegs rosiger Laune. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man die Geschichte hier ganz anders angefangen … Dieses Abwarten, ob sich Mafalda und Armaro vielleicht aus ihrem Versteck hervorwagen würden, war durchaus nicht nach seinem Geschmack.

Dann aber fand er Ablenkung …

Es gab etwas zu beobachten …

Ein wolliger Negerschädel war plötzlich hinter den Steinen auf der gegenüberliegenden flachen Kuppe der Felsenfeste aufgetaucht …

Verschwand wieder …

Nielsen schmunzelte …

‚Freundchen, ich habe dich doch gesehen!’ dachte er.

Und paßte noch schärfer auf …

Der Kopf erschien abermals …

Und jetzt sah Nielsen genau, daß der Schwarze ihn bemerkt hatte … Ihre Blicke trafen sich …

Blitzschnell tauchte der wollige Schädel wieder unter.

„Hm – es scheint hier doch noch mehr Leute zu geben als wir ahnten,“ brummte der Steuermann Nielsen jetzt.

Und für alle Fälle zog er den Karabiner näher heran …

Man konnte nie wissen, was geschah … –

Aber – nichts geschafft …

Eine volle Stunde verstrich wieder.

Gottlieb Knorz schob sich jetzt gegen den Landsmann …

„Herr Nielsen, ich werde Sie ablösen …,“ meinte er leise.

„Nee, alter Freund …! Nichts zu machen! Ich hoffe, daß es nochmals was zu sehen gibt … Da oben war nämlich ein Neger, lieber Knorz – dort drüben auf der flachen Spitze des südlichen Würfelfelsens … Der Kerl glotzte mich an und verduftete … – Hallo – – Achtung!“

Mit gedämpfter Stimme rief er’s …

Durch den Eingang des Kastells betraten soeben zwei Schwarze den Hof – zwei in hellgraue Kutten gekleidete Neger mit grauen Bärten, auf den dicken Schädeln breitrandige Strohhüte von besonderer Form …

„Nanu?!“ flüsterte Nielsen … „Die alten Burschen sehen ja beileibe wie Mönche aus …! Merkwürdig!“

Aber – es kam noch merkwürdigeres …

Die Mönche machten vor der Nordwand unterhalb der Felsenplatte halt …

Der eine rief nach oben:

„Wir kommen im Auftrage des Priors des Klosters vom Heiligen Berge. Wir wissen, daß Sie zu der Besatzung der Sphinx gehören und hier zurückgeblieben sind, um die Fürstin Sarratow und José Armaro zu beobachten. Diese beiden und ein Ranchobesitzer sind bereits nach unserem eine Meile entfernten Kloster unterwegs, wo sich auch Edgar Lomatz befindet … Unser Prior wünscht über Ihre Feinde, von denen die Zeitungen mancherlei gemeldet haben, in Ihrer Gegenwart Gericht zu halten. Ich bitte Sie im Auftrage des Priors, uns zu folgen …“

Der Negermönch hatte sich der französischen Sprache bedient … Sein ganzes Auftreten war würdig, höflich und bestimmt.

Trotzdem traute Nielsen dem Frieden nicht recht. Er hatte Mafaldas Vielseitigkeit kennengelernt. Konnte man wissen, ob nicht die Fürstin etwa auch hier ihre Hand im Spiele hatte?! Konnte Mafalda nicht irgendwie in diesen Stunden die Felsenfeste verlassen und Anhänger geworden haben?! – Ein Kloster sollte es hier in der Nähe geben?! Ausgerechnet mit schwarzen Mönchen?! – Nein – hier stimmte irgend etwas nicht! Anderseits aber: die beiden Neger dort unten im Hofe machten sogar nicht den Eindruck von Schwindlern …! Im Gegenteil – sie wirkten äußerlich recht vertrauenerweckend …

Alles in allem – es war sehr schwer für Nielsen, hier eine Entscheidung zu treffen …

So erwiderte er denn zunächst recht diplomatisch:

„Beschreiben Sie uns nur die Richtung, in der das Kloster zu suchen ist, würdiger Pater … Wir werden uns dann später dort einfinden …“

Der Graubart in der Kutte lächelte freundlich …

„Monsieur, Sie mißtrauen uns. Ich kann Ihnen das nicht verdenken, zumal jedem Fremden das Kloster vom Heiligen Berge unbekannt sein dürfte … In Voraussicht derartiger Zweifel Ihrerseits habe ich mir erlaubt, hier eine Nummer der französischen Kolonialzeitung mitzubringen, in der sich nicht nur zwei Bilder unseres Klosters, sondern auch ein Gruppenbild aller Klosterinsassen befindet. – Bitte …“

Er warf das zusammengerollte Heft geschickt dem Steuermann zu …

Nielsens letzte Zweifel schwanden. Freilich – den Ausschlag gab doch seine Menschenkenntnis … Die Gesichter der beiden Schwarzen zeigten den Ausdruck selbstverständlicher Ehrlichkeit und freundlicher Beschaulichkeit.

So verließen die vier Sphinxleute denn ihr Versteck und folgten den beiden Mönchen, die sich bescheiden zurückhielten und nur sprachen, wenn man sie etwas fragte.

Pasqual und Gottlieb schritten dicht hinter den beiden Negerpatres drein, während Nielsen und Gipsy ein Stück zurückgeblieben waren. Der Teckel trottete neben seinem Herrn her.

Die junge, frische Detektivin erörterte mit Gerhard Nielsen aufs lebhafteste die bevorstehenden Ereignisse.

Nielsen war jetzt recht gehobener Stimmung … Er freute sich auf das Zusammentreffen mit Mafalda … Wenn er je ein Weib gründlich verachtet und ihr alles Schlechte gewünscht hatte, so war es die Fürstin Sarratow …

Daß bei dieser Unterhaltung auch wiederholt die Reise der Sphinx nach Neuyork erwähnt wurde, das brachte der Gegenstand des Gespräches schon mit sich. Und so war es denn kaum ein Zufall zu nennen, daß unweit des Klosters, wo der Waldpfad bereits breiter und das Gestrüpp ringsum weniger dicht war, ein in den Büschen verborgener Mann gerade ein paar Worte Nielsens auffing, die sich ebenfalls auf den Besuch der Sphinxleute in Randercilds Sommerpalast bezogen.

Dieser Mann war Lomatz …

Lomatz, der nach reiflicher Überlegung und nach kurzem scharfen Ritt sich entschlossen hatte, das Kloster so beobachten, um die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten.

In einem steinigen Tale hatte er den Pony versteckt, an anderer Stelle die vier Lederbeutel mit den Golddublonen. Dann hatte er sich, nunmehr mit allergrößter Vorsicht, auf den Rückweg gemacht, wohl wissend, daß die Mönche des Klosters die Lichtung dauernd bewachten und daß nur seine Geschicklichkeit im Anschleichen ihn unbemerkt dorthin führen könnte, wo die vier Sphinxleute vorübermußten.

Jetzt, wo er seinen Zweck erreicht hatte, – jetzt, wo er genau wußte, daß die Sphinx und die Milliarden in der Nähe von Neuyork im Milliardärpalast Josua Randercilds zu suchen seien, – jetzt verzichtete er auf ein ferneres Verweilen in dieser Wildnis.

Sein Pony trug ihn eine halbe Stunde später den Ansiedlungen zu … Die Lederbeutel hatte er sorgsam in eine Decke gehüllt und dieses Bündel hinten auf den Sattel geschnürt.

Nielsen und Gipsy Maad traten nun als letzte aus dem dämmerigen Urwald auf die sonnenbeschienene Lichtung hinaus …

Blieben stehen …

Staunten …

Wenn schon der Würfelfelsen, das natürliche Kastell, einen eigenartigen Anblick gewährt hatte, hier dieser fast hundertfünfzig Meter hohe Felskegel mit der stumpfen Spitze, aus der die rotbraunen Ziegelmauern des Klosters mit winzigen Fenstern herauswuchsen und an zwei Stellen zu dicken Türmen sich dehnten, – diese kegelförmige, dunkle Granitmasse, wie von Gigantenhänden behauen und nach Süden zu mit schmalem Zickzackweg versehen, – dies war eine Merkwürdigkeit, wie sie sonst nur die berühmten Lamaklöster im geheimnisvollen Lande Tibet darstellen …

Und als Hintergrund und Seitenkulisse für dieses seltene Bild der Urwald mit seinen grünen Baumkronenwolken – und der blaue, endlose Äther … Scharf hoben sich die Umrisse des Klosters gegen den Himmel ab. Jede Einzelheit war zu erkennen …

Den Zickzackpfad belebten helle Steinfiguren als Geländerpfeiler … Der breite Eingang des Klosters zeigte zwei Säulenreihen und einen weiten Vorplatz.

Aber menschenleer die Felder … Kein Mönch zu sehen außer den beiden Führern, die ruhig weitergeschritten waren.

Gipsy Maad sagte leise zu Nielsen:

„Wir haben viel durchgemacht, seitdem wir uns zur Sphinx rechnen dürfen. Aber wir sehen auch vieles, was sonst den meisten Sterblichen unbekannt bleibt …!“

Nielsen nickte …

„Und doch war das Großartigste und Schauerlichste der Untergang der schwarzen Insel, Miß Gipsy … Von den armen wahnsinnigen Azteken lebt nun nicht einer mehr … Nie werde ich den Anblick vergessen, wie als letztes von der schwarzen Insel nur noch der lohende Vulkan über das Meer hinausragte … Wie dann auch der versank – mit einem Knall, gegen den die gleichzeitige Detonation aller Kanonen der ganzen Welt nur das Puffen einer Windüchse wäre …! – Gehen wir … Die anderen sind schon weit voraus …“ –

Gipsy Maads junges Herz sehnte sich auch jetzt umsonst nach einem vertraulichen, innigen Wort des Mannes, den sie lieben und bewundern gelernt hatte.

Und gerade sie wußte am besten, ob eines Mannes Mut und Entschlossenheit wirklich dem Brunnen wahrer Männlichkeit entsprangen oder ob nicht Eitelkeit, das Haschen nach Hervortun und augenblickliche Verwegenheit diese Charaktereigenschaften nur vortäuschten …

Gerhard Nielsen war ein viel zu natürlicher Mensch, um sich jemals irgendwie in Szene setzen zu wollen. Seine Kaltblütigkeit, gepaart mit leicht ironischem Humor, hatte Gipsy Maad in dieser Art noch bei einem Manne gefunden. Und sie als Detektivin hatte doch genug mit Leuten zu tun gehabt, deren Beruf eiserne Nerven verlangte.

Sie bewunderte Nielsen. Und noch weit mehr liebte sie ihn … Sie war auch ehrlich genug, aus ihren Gefühlen gar kein Hehl zu machen. Einem Nielsen gegenüber brauchte man nicht zu heucheln …

Ganz plötzlich sagte sie nun …

„Stellen Sie sich einmal vor, wir beide wären allein auf der schwarzen Insel zurückgeblieben, Mister Nielsen … Die Insel hätte dann zu sinken begonnen … Wir hätten den sicheren Tod vor Augen gehabt … – Was … würden Sie dann getan haben?“

Nielsen schaute sie völlig ernst an …

„Ich hätte Sie in den Arm genommen und geküßt, Miß Gipsy,“ erwiderte er kühl …

„Ah – – und … und … weshalb?!“

„Weshalb?! Nun – weil Sie ein verdammt nettes, vernünftiges Frauenzimmer sind … Weil ich Ihnen gut bin … Weil ich dann eben gewußt hätte, daß aus diesem Kuß nicht die scheußlichen Folgen einer Ehe entstehen könnten … Denn wir wären ja sehr bald mausetot gewesen … – Meine Ansichten über die Ehe kennen Sie … Und diese Ansichten werde ich nie ändern … Es ist ein Unding, Mann und Weib für das ganze Leben aneinander zu schmieden … Das nennt man Zwang, das kann man Zuchthauszelle für zwei Personen nennen …“

„Pfui …!!“ rief Gipsy ehrlich empört. „Sie müssen gründlich kuriert werden …! Unglaublich benehmen Sie sich, sagen mir kalt lächelnd ins Gesicht, daß Sie mir … gut sind, und …“

„Kurieren Sie mich doch, Miß Gipsy …,“ lächelte er ganz unbefangen. „Bringen Sie mir den Beweis, daß eine Frau, die einen Mann liebt, diesem Manne unter bestimmten Voraussetzungen überlegen ist, daß er sie also nicht entbehren kann, um im Daseinskampf allein zu siegen – dann will ich kapitulieren, Gipsy …! Dann …!! Aber dieser Beweis wird ausbleiben …!“

„So?! – Warten Sie doch ab …! Noch ist nicht aller Tage Abend, Mister Nielsen!“

Er lachte herzlich und nahm ihre Hand …

„Gipsy …“ – jetzt war doch ein wenig Zärtlichkeit in seiner Stimme – „Gipsy, es ist nicht gut, daß wir uns kennengelernt haben … Ich tauge niemals zum schmachtenden Liebhaber … Ich bin … ich …!! Jedes Anhängsel würde mich stören. Simsons Kraft lag in seinem langen Haar. Meine Kraft liegt in meiner Wurstigkeit den Frauen gegenüber …“

Er gab ihre Hand wieder frei, denn er fühlte, wie heißt die Finger des jungen Weibes waren …

„Übrigens wird es nun wohl in Randercilds Palast eine Doppelhochzeit geben … Dalaargen und Mela Falz, Tom Booder und das Prinzesschen Toni … – Hoffentlich treffen wir dort erst ein, wenn alles vorüber ist … Hochzeiten sind gräßlich … Auch Sie müssen doch vorläufig davon genug haben. Denken Sie nur an Gaupenbergs Hochzeit auf der schwarzen Insel …! Graulich konnte einen dabei werden!!“

Gipsy schwieg … Tiefe Enttäuschung machte ihr das Herz bang und schwer … Wie – wie sollte es ihr wohl gelingen, diesen Mann zu bekehren?!

Sie seufzte leise …

Und neben ihr sagte Gerhard Nielsen fröhlich und munter:

„Da ist schon der Anfang des Bergpfades …! Jetzt heißt es steigen, Miß Gipsy …! Wir werden wohl oben etwas außer Atem anlangen …“ –

Und als sie nun auf dem Vorplatz des Klostereingangs standen, als sie hinabblickten auf das Blättermeer der Wildnis, da flüsterte Gipsy Maad versonnen:

„Ich kann es begreifen, daß man hier oben in stiller Andacht nur Gott dient … Dieses Kloster ist …“

Und – brach mitten im Satz ab …

In der breiten Tür der Vorhalle war Mafalda erschienen …

In jeder Hand einen Revolver …

„Hände hoch!“ rief sie drohend …

Ein Schuß knallte …

Nielsens blaue Seemannsmütze wirbelte durch die Luft, flog über die Brüstung der Terrasse und kollerte den Berg hinab, hüpfte über den Zickzackpfad und verschwand in der Tiefe …

„Eine Warnung!!“ rief die Fürstin wieder … „Hände hoch, wem sein Leben lieb ist!“

Die Mönche gehorchten …

Pasqual, Gottlieb und Gipsy gehorchten …

Nielsen aber strich sich nur das blonde Haar glatt und meinte:

„Fürstin, Sie scheinen zurzeit wieder obenauf zu schwimmen …!“

Mafalda hatte nur Augen für den einen Mann, der für sie genau wie für Gipsy Maad den Inbegriff aufrechter Männlichkeit darstellte.

Sie hatte wiederholt erleben müssen, daß ein Gerhard Nielsen mit den gewöhnlichen Mitteln nicht niederzukämpfen war. Schon damals auf Christophoro angesichts des goldenen Hügels hatte er ihr gezeigt, daß weibliche Verführungskünste, selbst die raffiniertesten, ihm nur ein ironisches Lächeln entlockten und daß er Gold und Besitz nicht minder verachtete als dirnenhaftes Preisgeben weiblicher Reize …

Wie sehr er selbst vor einer Revolvermündung dieselbe Ruhe beibehielt, bewies er jetzt …

Mafalda belauerte ihn sekundenlang …

Sie hätte ihn niederknallen können, da er noch immer so tat, als gelte der Befehl aller Straßenräuber ‚Hände hoch!’ niemals ihm selbst … Aber – irgend etwas in ihrem Herzen hielt sie davon ab, dieses junge kraftvolle Leben durch einen Druck des Zeigefingers auszulöschen …

Da sagte Nielsen auch schon, indem er sich an die Steinbrüstung der Terrasse lehnte …

„Ja – Sie sind wieder obenauf, Mafalda Sarratow … Das heißt, zurzeit! Wenn Sie doch nur Vernunft annehmen wollten …! Sie werden niemals die Milliarden erobern. Die Sphinx ist unterwegs nach Randercilds Sommerresidenz, und dort in den modernsten aller Stahlkammern wird der Schatz ebenso sicher sein wie auf dem Monde etwa … – Sie sehen, ich verheimliche Ihnen nichts … Denn ich weiß genau – nach drei Minuten sind Sie … meine Gefangene!“

Das, was Mafalda nicht sehen konnte, da es hinter ihrem Rücken geschah, gab Nielsen die volle Gewißheit einer jähen Wendung der Dinge …

Dieses Etwas war Kognak, der gelbe halbblinde Teckel Gottliebs.

Kognak war vorausgelaufen. Die kühle Vorhalle gefiel ihm. Nach der Kletterpartie auf den Heiligen Berg war ihm der Atem ausgegangen. Japsend hatte er sich auf einen der Mattenteppiche geworfen. Mafalda war achtlos an ihm vorübergegangen.

Der Revolverschuß, der Nielsens Mütze in die Tiefe beförderte, hatte den Teckel jedoch mit einem Male munter gemacht …

Der halbblinde Hund besaß noch eine vorzügliche Witterung …

Und – ihm erging es wie seinem Herrn. Er haßte Mafalda wie die Sünde! Mafalda war dem Teckel etwas noch Aufreizenderes als eine fauchende Katze …

Kognak kannte den persönlichen Geruch der Fürstin sehr genau … Er vergaß ihr die Fußtritte nicht, die sie ihm einst verabfolgt hatte …

Und jetzt schlich er von hinten nach Teckelart mit schleifender Rute auf sie zu … halb zusammengeduckt.

Und … schoß dann vorwärts …

Nur die beiden Reißzähne hatte der Hundegreis noch im Maule …

Seine Kiefer aber waren stark und hielten fest, was sie einmal eingespannt hatten …

Wie im Schraubstock …

Unter dem fußfreien Sportrock Mafaldas schnappte er die rechte Wade …

Biß mit aller Kraft zu …

Mafalda schrie auf …

Die bewaffneten Hände sanken …

Und genau im selben Moment, als Kognak der Fürstin zartes Bein so roh behandelte, sprang auch Nielsen zu …

Zwei lange Sätze …

Zwei Fausthiebe … zwei Griffe …

Dann waren auch schon Gottlieb und Pasqual heran.

Die Fürstin stand mit gefesselten Händen da … Gottlieb hatte seinen Teckel halb mit Gewalt das Maul geöffnet …

„Verspielt!“ sagte Nielsen ironisch. „Wieder verspielt, Frau Fürstin … Diesmal hat ein Hund Sie besiegt … – Dja – es kommt immer anders als man denkt …“

Mafalda war totenbleich … Ihre Augen sprühten.

„Schade, daß ich eben nicht abdrückte!“ stieß sie hervor … „Ich wollte Sie schonen, Nielsen, und …“

„… und das war eine kapitale Dummheit …! – Doch – eine Frage …: Was haben Sie denn mit den Mönchen angefangen? Wo ist Ihr Freund Armaro? Wo der edle Herr Lomatz …“

Mafalda wandte sich mit einem Ruck um … Dieser Mann war der leibhaftige Teufel!! Und doch, welch ein Triumph für ein Weib müßte es sein, einen solchen Mann spüren zu lassen, daß weibliche Reize selbst der stärksten Nerven spotten, – welch ein Triumph, diesen Nielsen einmal in die Arme zu schließen und zu fühlen, daß sein Mannestum dahinschwand in zärtlicher Lust!

Mafaldas Gedanken …

Und … als Nachklang Nielsens Worte:

„Na, dann müssen wir eben den Herrn Armaro und den Herrn Lomatz suchen …! Zwei Revolver mehr – – ganz nett!! Außerdem eine Dame als Kugelfang gegen heimtückische Schüsse …!“

Und seine linke Faust schob Mafalda vorwärts …

Doch das Spiel war nun endgültig aus … José Armaro wurde in der Vorhalle sichtbar … Winkte …

Er … machte nicht mehr mit … Er war froh, daß er einen Ausweg gefunden, der ihm die Nachsicht der Sphinxleute eintragen würde… Er hatte Ramon Tarfico, den Ranchobesitzer, hinterrücks niedergeschlagen!

Und – ihm folgten jetzt auf dem Fuße die Mönche des Heiligen Berges, allen voran der schwarze greise Prior … –

Dieser war’s, der dann Nielsen berichtete, wie schlau die Fürstin es angefangen, um alle Klosterinsassen im großen Beratungsaal einzuschließen …

In des Priors Gemach saßen Nielsen und der Greis …

„Meine Menschenkenntnis hat mich dieser Frau gegenüber im Stiche gelassen, Monsieur Nielsen,“ begann der Greis mit seiner milden, schon etwas wankenden Stimme … „Diese Frau ist die vollendetste Komödiantin … Sie kam mit ihren beiden Begleitern und sprach wie eine, deren Gewissen völlig rein … Vor allen Mönchen des Klosters wollte sie sich rechtfertigen … Alles, was in den Zeitungen über sie stände, sei Lüge … – Ja – Lüge war ihr bescheidenes Auftreten … Lüge alles, was sie tat … Der Saal hat nur zwei Türen … Wir waren sämtlich unbewaffnet … Und so … wurden wir eingesperrt, Monsieur Nielsen … – Ich danke Ihnen, daß Sie uns befreit haben …“ –

Zur selben Zeit beugte sich in einer der Mönchszellen des Klosters, wo man Mafalda infolge des stark blutenden Hundebisses auf das schlichte Bett gelegt hatte, der jüngste der sechzig Mönche, der Arzt des Klosters, über das entblößte Bein der Fürstin …

Der Arzt – auch ein Neger, wie all die übrigen hier …

Ein Mann von strotzender Lebenskraft, den das Keuschheitsgelübde bereits bittere Seelenkämpfe gekostet …

Mafalda war schön … Von jener aufreizenden Schönheit, die den Männern sofort die Augen blank und begehrlich machte …

Der Arzt beugte sich noch tiefer …

Noch nie hatte er so klassisch geformte Beine gesehen …

Noch nie so stark den betäubenden Duft eines heißen Frauenleibes und eines zarten Parfüms eingeatmet …

Noch nie hatte ihm eine Weiße so gewährend, ja begehrend zugelächelt … – –

Mafalda wußte, daß sie in der kommenden Nacht frei sein würde …

 

12. Kapitel.

Der englische Professor.

Gipsy Maad hatte sich von einem der Mönche das Kloster in all seinen Teilen zeigen lassen.

Absichtlich war sie nicht mit Nielsen, Gottlieb und Pasqual Oretto mitgegangen, die von dem Prior geführt wurden.

„So seltene Bauten wie dieses Kloster schaue ich mir am liebsten allein an,“ hatte sie zu Nielsen gesagt. „Ich verweile vielleicht gerade dort gern längere Zeit, wo andere flüchtig nur den Gesamteindruck auf sich wirken lassen …“

Und so war sie denn in Begleitung eines der ältesten Mönche, eines Negers vom angenehmen Gesichtsschnitt der Somalis, durch Hallen und Bogengänge gewandelt, hatte die Gemäldegalerie besichtigt, die nur Werke von Angehörigen des Klosters enthielt, hatte in der großen Kapelle vor einer wundervollen geschnitzten Statue der Mutter Gottes andächtig minutenlang gestanden und dann dem Orgelspiel eines der Patres gelauscht.

Am längsten aber blieb sie oben auf der Plattform eines der beiden Türme … In der Ferne sah sie das Meer blinken, blickte hinweg über die mit Zuckerrohr bepflanzten Felder und die endlosen Wälder … Gebäude von Plantagen erspähte sie auch jenseits des Urwaldgürtels und … dachte an Gerhard Nielsen …

Ja, wie schön es sein müßte, wenn er jetzt neben ihr stände – Hand in Hand mit ihr –, wenn sie sich gegenseitig auf die Schönheiten des Landschaftsbildes aufmerksam machen könnten … Zu zweien genießen – zwei gleichgesinnte Seelen: das war ja erst der rechte Genuß!

Doch – das Wünschen und Sehnen nach dem, dessen Herz sie erobern wollte, war vorläufig zweckloses Spiel mit wehmütigen Gedanken … –

Unten im kleinen Klosterhofe bimmelte jetzt hell und schrill eine Glocke …

„Man ruft uns zur Abendmahlzeit,“ sagte der graubärtige Mönch zu Gipsy Maad. „Beeilen wir uns, daß wir in den Speisesaal kommen … Der Prior sieht Nachzügler nicht gern. Er übt strenges Regiment, Mademoiselle … Und – es ist gut so …“ –

Im Speisesaal saßen an schlichten langen Tischen die Mönche. Sechs von ihnen bedienten. Vier andere hatten in der Küche zu tun.

Neben dem Prior hatten die vier Gäste von der Sphinx Platz nehmen müssen.

Der greise Prior sprach ein Gebet … Dann wurden die ersten Schüsseln herumgereicht …

Gedämpfte Gespräche gaben der Versammlung etwas Feierliches. Kein lauter Ton störte die Stimmungen …

Gipsy schaute die Reihen der schwarzen, faltigen Gesichter entlang …

Gipsy schloß dann die Augen …

Wie ein Traum kam ihr der tiefe Frieden dieses einsamen Klosters nach all den nervenaufreibenden Erlebnissen der letzten Wochen vor …

Selbst Nielsen empfand dies, denn er sagte jetzt leise zu dem Prior:

„Ich habe noch nie in einem Kloster geweilt … Ich gebe zu, daß eine ganz besondere Stimmung über diesen Räumen und ihren Bewohnern liegt. Ich beginne zu begreifen, daß weltmüde Männer hier Frieden finden …“

Unweit Nielsens saß der Pater Doktor, eine hochragende Gestalt, ein Herkules in der Mönchskutte …

Der Pater Doktor beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Als Gipsy ihn einmal über den Tisch hinweg nach dem Befinden der Fürstin befragte, schrak er sichtlich zusammen und erwiderte scheu:

„Oh – sie hat Fieber … Sie muß geschohn werden.“

Gipsy Maad war Detektivin … Eine der besten Neuyorks.

Vielleicht wäre niemandem das seltsame Benehmen des Paters Doktor aufgefallen …

Ihr fiel es auf. Sie war ein scharfes Beobachten gewöhnt …

Fieber, nach einem Hundebiß?! – Das klang wenig glaubhaft …

Und dann noch der Nachsatz: ‚Sie muß geschohn werden …!’ – Das hieß doch: Niemand soll sie belästigen!

Gipsy kannte Mafalda …

Gipsy hatte in dem alten Inkatempel unweit von Taxata zum Teil miterlebt, wie die Fürstin dort den jungen Patalonianer an sich gelockt hatte, wie dieser dann der riesigen Anakonda zum Opfer gefallen war.

Gipsy war kein Mädchen, das nichts vom Leben wußte …

Sollte etwa dieser Riese von Pater den Verführungskünsten der gewissenlosen Dirne unterlegen sein?!

Sie nahm sich vor, wachsam zu sein … Mafalda war zu allem fähig. –

Als dann die Abendtafel aufgehoben wurde, bat Gipsy den Mönch, der hier den Hausmeister spielte, ihr eine der Zellen in der Nähe von Mafaldas Krankenraum anzuweisen.

Sie sagte den Gefährten und dem Prior frühzeitig gute Nacht. Sie sei müde und brauche Ruhe.

Als der Pater Hausmeister sie nun nach ihrer Kammer geleitete, fragte er Gipsy zögernd:

„Mademoiselle, hatten Sie einen bestimmten Zweck im Auge, als Sie mich baten, Ihnen eine der Zellen im Ostflügel zuzuteilen?“

Gipsy nickte … „Es ist so, würdiger Pater … Und Sie würden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie diese meine Bitte verschweigen wollten …“

„Das habe ich getan, Mademoiselle … So, hier ist Ihr bescheidenes Gemach … Türverschlüsse gibt es hier nicht … Aber niemand wird Ihnen etwas zu Leide tun … – Gute Nachtruhe, Mademoiselle.“

„Ich bin nicht ängstlich … Gute Nacht …“

Gipsy zog die Tür zu … Diese Türen hatte nur einen ganz einfachen Drücker als Verschluß – wie überall im Kloster des Heiligen Berges. Nur in den Kellergewölben war das anders. Dort waren eine ganze Reihe von Zellen vorhanden, deren Türen ganz anders gesichert waren, wie Gipsys Augen während der Besichtigung des Klosters mit scharfem Blick festgestellt hatten.

Die junge Detektivin schaute sich nun in dem durch eine Petroleumlampe erleuchteten Raum um. An den gekalkten Wänden standen ein Holzbett mit Strohmatratze, wollenen Decken und zwei Kissen, ferner ein Schrank, ein Tisch, ein Bücherregal, ein ganz primitiver Waschtisch und ein einziger Stuhl.

Das kleine Fenster, das von quadratischer Form war, lag recht tief und genau über dem Tische. Es zeigte nach Osten.

Gipsy löschte die Lampe aus und öffnete die nach innen schlagende Tür mit äußerster Behutsamkeit – nur handbreit …

Der Gang draußen war schwach beleuchtet. Links zwei Türen weiter war Mafalda untergebracht.

Nach einiger Zeit erschienen verschiedene der schwarzen Mönche und begaben sich in ihre Zellen.

Dann wurde es wieder still …

Abermals nach einer Viertelstunde tauchte von links her die auffallend hochragende Gestalt des Paters Doktor auf. Er betrat Mafaldas Zelle, blieb dort aber nur kurze Zeit.

Abermals dann tiefste Stille …

Gipsy hatte Geduld. Geduld gehörte zu ihrem Handwerk.

Sie vergegenwärtigte sich in dieser Zeit, wo sie lauschend dicht hinter der Tür lehnte, nochmals alles, was sich an diesem Tage ereignet hatte.

Sie wußte, daß Armaro und der Ranchobesitzer Ramon Tarfico in den Kellergewölben untergebracht worden waren. Morgen Vormittag wollte der greise Prior über die drei Gegner der Sphinxleute Gericht halten.

Gipsy wußte ferner, daß Nielsen im Westflügel neben den Gemächern des Priors wohnte, während Gottlieb und Pasqual hier im Ostflügel ganz am Ende des Ganges zwei Zellen zugewiesen worden waren.

Sie hatte sich die Bauart des Klosters genau eingeprägt. Sie würde sich in den Bogengängen nötigenfalls problemlos zurechtfinden. Sie war auch überzeugt, daß irgendetwas geschehen würde. Sie hatte ebenso aus dem Benehmen des Paters Hausmeister mit Bestimmtheit geschlossen, daß auch dieser Mafalda mißtraute. Wenn deren Zelle nicht bewacht wurde, so lag dies daran, daß nachts regelmäßig vor dem Eingang des Klosters drei Mönche auf der Terrasse wachten, während das Portal, die breiten Flügeltüren verschlossen waren. Eine Flucht aus dem Kloster war bei dessen besonderer Lage auf der Spitze des steilen Felskegels unmöglich. Es sei denn, daß derjenige, der zu fliehen beabsichtigte, sich einen Verbündeten unter den Mönchen gewonnen hatte. –

Die Zeit schlich …

Gipsy spürte die Müdigkeit in allen Gliedern. Zuweilen fielen ihr die Augen zu … Doch ihre Energie verscheuchte diese Schlafanwandlungen.

Totenstille draußen im Gange …

Und dann von fernher aus dem großen Bogengang der Bildergalerie die klingenden Schläge der großen Standuhr, des Kunstwerkes eines der Mönche …

Mitternacht …

Als der letzte Schlag leise verhallend wie ein Seufzer erstorben, vernahm Gipsy vorsichtiges Tappen von Füßen …

Jemand schlich von links her den Gang hinab …

Sie lugte hinaus …

Und – wie ein Riese wuchs plötzlich vor der Spalte ihrer Tür die massige Figur des Paters Doktor aus der Dunkelheit heraus …

Bevor sie noch recht wußte, was geschah, hatte der schwarze Herkules ihre Tür aufgestoßen …

Eine Hand legte sich um ihre Kehle … Ein Schlag traf ihre Schläfe … Für Sekunden verlor sie das Bewußtsein …

Der verräterische Mönch hatte alles gut vorbereitet … Hielt schon Lederriemen bereit, einen Knebel …

Gipsy kam zu sich und lag auf dem Bett – hilflos … brutal gefesselt, brutal geknebelt … – im Dunkeln – mit wirrem Kopf … –

Der Pater Doktor betrat Mafaldas Zelle …

Die Fürstin saß auf dem Bettrand. Erhob sich, umschlang den betörten Mann, küßte ihn … –

Und zehn Minuten später war ihr Gesicht geschwärzt, trug sie eine Kutte, einen der flachen Strohhüte …

Der Mönch ging voran … Durch Gänge und Hallen bis zum kleinen Hofe – in den Wirtschaftsflügel … Hinab in die Kellergewölbe.

Schweigend öffnete er die verschlossene Tür, hinter der die Flibustierbeute verwahrt war.

Mit Stricken band er die noch vorhandenen Beutel mit Golddublonen in eine wollene Decke. Mafalda leuchtete ihm mit einer Laterne. Dann brachen sie aus den goldenen Altargeräten die Edelsteine heraus – etwa fünfzig … Die Fürstin steckte sie zu sich.

Der Riese schulterte den zentnerschweren Sack und befestigte ihn mit Riemen auf dem Rücken …

Bisher hatten die beiden wenig miteinander geflüstert …

Jetzt raunte der Mönch, indem er der Fürstin die Laterne abnahm:

„Es gibt einen zweiten Ausgang aus dem Kloster … Den werden wir benutzen …“

Seine Stimme bebte, wie er das Weib, das in seinen Armen gelegen, nun in triumphierender Schönheit dicht vor sich hatte … Die heißen Wellen wilden Begehrens schlugen ihm wieder zu Kopfe … Sein Atem ging schneller … Seine Augen wurden trunken …

Mafalda lächelte …

So lächelte sie, wie nur sie lächeln konnte … – um Männer toll zu machen …

„Folge mir!“ sagte der Pater rauh, und es klang wie brünstiges Stöhnen.

Er schritt wieder voran …

In einen Kellerraum hinein, der nur Gerümpel enthielt.

Hier bückte er sich, hob eine unregelmäßige Steinplatte wie eine Falltür empor …

Ein Schacht darunter … Eine senkrechte Spalte, die sich in die Tiefe in vielen Winkeln hinabzog. Feste Holzleitern waren hier angebracht, hingen an Eisenhaken, die in das Gestein eingegossen waren.

Mafalda kletterte als erste hinunter. Der Mönch folgte und ließ die Steinplatte wieder zurückfallen.

Zweiunddreißig Leitern …

Eine körperliche Marter, dieses Hinabsteigen …

Dann unten eine kleine Grotte … Eine geschickt verborgene Steintür, die ins Freie führte …

Der Odem der Wildnis, der Felder schlug Mafalda entgegen. Jetzt erst triumphierte sie in Wahrheit … lachte klingend auf …

„Leben Sie wohl, Herr Nielsen …!“

Der Pater Doktor wandte sich dem Walde zu. Hier lagen im Baumschatten die eingezäunten Weideplätze der dem Kloster gehörigen Tiere. Kühe, Ziegen, Schafe in größerer Zahl … Abseits sechs Pferde.

Der Mönch öffnete das eine Stallgebäude und holte Sättel und Zaumzeug …

Zwei Reiter und ein Packpferd trabten den Weg entlang, der vom Heiligen Berge zur nächsten größeren Ortschaft durch die Wildnis führte.

Nach einer halben Stunde machten sie halt. Mafalda zog die Kutte aus, unter der sie ihr Sportkostüm trug, reinigte ihr Gesicht an einer Quelle und war nun wieder die Fürstin Sarratow.

Der Pater aber war inzwischen zum einfachen Neger im Leinenanzug geworden … –

So setzten sie ihre Flucht fort, mieden alle Plantagen und Dörfer und langten nachmittags in der Nähe der Stadt Basseterre an.

In einem dichten Gebüsch blieb Mafalda mit den Pferden und dem Gepäck zurück. Der Pater wollte unten am Hafen einen Kutter mieten, der in aller Stille die Flüchtlinge nach einer der benachbarten Inseln bringen sollte, wo sie einen Frachtdampfer zu finden hofften, der sie irgendwohin mitnahm. Mafalda gedachte zunächst jede Fährte hinter sich zu verwischen. Was dann später geschehen würde, das mußten die Umstände ergeben. Niemals würde sie jedenfalls auf den Kampf um den Azorenschatz verzichten …

So hatte sie zu dem Pater gesprochen … – Ihre wahren Gedanken erriet der Betrogene nicht.

Kaum war er jetzt nach der Stadt zu verschwunden, als Mafalda von den Golddublonen noch so viel in ihren Taschen barg, als diese zu fassen vermochten. Außerdem hatte sie die Edelsteine bei sich – ein Vermögen …!

Sie verließ das Versteck und näherte sich in anderer Richtung der Stadt. Es konnte nicht ausbleiben, daß eine Erscheinung wie sie den Leuten auffiel. Wo immer sie Farbigen oder Europäern begegnete, blieb man stehen und schaute ihr nach.

Sie erkundigte sich dann bei einem farbigen Polizeibeamten nach dem Hause des Kapitäns Destinal. –

Francois Destinal bewohnte eine kleine Villa etwas außerhalb der Stadt inmitten eines ausgedehnten Gartens. Er war daheim, und kaum hatte ihm sein Diener die Fürstin Sarratow gemeldet, als er auch schon auf die Veranda hinauseilte, wo die Fürstin inzwischen in einem Korbsessel Platz genommen hatte.

Der schlanke, sonngebräunte Polizeikapitän begrüßte Mafalda mit so offensichtlicher Freude, daß die Fürstin erleichtert aufatmete. Sie hatte doch einige Befürchtungen gehegt, was Destinals Ergebenheit ihr gegenüber betraf. Destinal mußte ja fraglos in den Zeitungen gleichfalls die Berichte über den Kampf um die Sphinx von den Azorenschatz gelesen haben … Nur zu leicht konnte da in seinen Gefühlen ihr gegenüber ein Umschwung eingetreten sein. –

Der Kapitän ließ für seinen Gast zunächst eine Erfrischung bringen. Er war zu Mafalda von einer liebenswürdigen Ritterlichkeit, wie er diese bereits im Felsenkastell in der Wildnis bewiesen hatte. Und doch verstand er es, dieser Ritterlichkeit den feinen Nebenton begehrlichen Werbens zu geben. –

Man saß auf der Veranda … In der Ferne rauschte das Meer …

Francois Destinal vernahm jetzt all das, was sich im Kastell inzwischen abgespielt hatte. Wie immer mischte die Fürstin Wahrheit und Lüge … Kam auch auf die Sphinx zu sprechen, stellte sich als Opfer der Ränke des Grafen Gaupenbergs hin …

Der Kapitän hörte still zu, nickte mitunter, warf eine Bemerkung ein … – aus Höflichkeit! Was gingen ihn all diese Dinge an?! Nichts – nichts …!! Er hatte nur einen Wunsch, dieses Weib zu besitzen! Hier auf diesem verlorenen Posten auf Gouadeloupe hatte er so selten Gelegenheit, Frauen zu sehen, wie es sie von Paris her gewöhnt war …

Ob die Fürstin eine Abenteurerin – ihm war es gleichgültig!

„Kapitän,“ sagte Mafalda jetzt eindringlicher, „Sie werden mir den Gefallen tun und die vier Sphinxleute, die sich dort im Kloster des Heiligen Berges befinden, verhaften lassen … Ich will eine Weile Ruhe vor ihnen haben. Besonders dieser Nielsen ist ein Mensch, der …“

Destinal hatte sehr energisch den Kopf geschüttelt.

„Das ist unmöglich, Fürstin … Ganz unmöglich …! Ich erkläre offen, an das Kloster wage ich mich nicht heran. Nein – nur keine Differenzen mit dieser Sekte, die hier auf Gouadeloupe nur allzuviel Anhänger hat … – Aber – ein anderer Vorschlag … Ich kann mir noch heute zwei Wochen Urlaub von dem Gouverneur besorgen. Ich habe unten am Hafen einen bekannten Kapitän, der zugleich Besitzer eines Küstendampfers ist … Wir könnten heute abend Basseterre verlassen. Der Mönch, der Sie hierher begleitete, wird dann das Nachsehen haben …“

Ein prüfender Blick traf Mafalda, als Destinal den Pater erwähnte. Der Offizier war mißtrauisch – schon als Polizeibeamter. Mafalda hatte ihm erzählt, daß der Mönch ihr lediglich auf ihr inständiges Bitten hin zur Flucht verholfen habe. Er glaubte ihr nicht recht. Sicher – die Negermönche waren sämtlich bejahrt und wohl über Liebestorheiten hinaus. Doch immerhin … – Wer konnte wissen?! Und es war ihm als Europäer und Franzosen ein scheußlicher Gedanke, daß womöglich …

Ein klingendes Lachen der Fürstin zerschnitt die Reihe dieser peinlichen Erwägungen …

„Kapitän …,“ sagte Mafalda harmlos übermütig, „Ihr Blick soeben verriet so manches …! Wofür halten Sie mich?! Ich bin Weib – zugegeben! Aber nicht … für einen Schwarzen!“

Und fügte ernster hinzu: „Ich bin einverstanden … Mieten Sie den Dampfer … Ich weiß, daß Sie nicht reich sind … Hier – diese Edelsteine aus der Flibustierbeute werden genügen …“

Der Kapitän nickte. „Nein – reich bin ich nicht, Fürstin … In Ihrem Interesse nehme ich die Steine an … – Ich werde die Sache sofort erledigen. Verfügen Sie derweilen über mein Haus. In spätestens anderthalb Stunden bin ich zurück …“ –

Als Destinal bei dem Gouverneur den Urlaub erwirkt hatte, begab er sich zum Hafen, wo Kapitän Balangue ein Häuschen besaß.

Der alte Balangue stand vor der Tür und verhandelte mit einem älteren Herrn mit goldener Brille.

Destinal trat hinzu, wurde dem Fremden, einem englischen Gelehrten namens Gallarall, vorgestellt und erfuhr zu seinem Bedauern, daß der Professor soeben den Dampfer ‚Le Havre’ für eine Woche gemietet habe, um einige der unbewohnten Inselchen der Kleinen Antillen zu besuchen und dort die Fauna und Flora zu studieren.

Doch da erklärte der Engländer schon höflich, daß, falls Destinal mit seiner Verwandten lediglich eine kurze Erholungsreise unternehmen wolle, nichts im Wege stände, gemeinsam den Dampfer zu benutzen. – Der alte Herr brachte dies in so liebenswürdige Art vor, daß Destinal erfreut zustimmte.

Man vereinbarte um zehn Uhr den Hafen zu verlassen, und der Kapitän kehrte eiligst nach seiner Villa zurück, überzeugt, daß diese Seereise für ihn wundervolle Flitterwochen werden würden.

Professor Gallarall aber begab sich in das kleine Hotel, wo er heute mittag erst eingetroffen war. Auf dem Zimmer prüfte er sein Gesicht nochmals sehr genau vor dem Spiegel.

Er konnte zufrieden sein …

Destinals ‚Verwandte’ würde ihn nicht erkennen … Und unterwegs würde sich schon eine Gelegenheit bieten, mit dieser Verwandten endgültig abzurechnen … für immer!

 

13. Kapitel.

Ein mißglückter Streich.

Im Kloster vom Heiligen Berge wurde des Paters Doktor und Mafaldas Flucht bereits morgens gegen sechs Uhr entdeckt, als der Möncharzt bei der Frühmesse fehlte.

So fand man denn auch die infolge des Knebels halb erstickte Gipsy. Ebenso rasch stellte man fest, daß nicht nur die Flibustierdublonen und die Edelsteine der Monstranzen geplündert und daß auch drei Pferde verschwunden waren.

Nielsen wartete, bis Gipsy sich etwas erholt hatte. Dann machte er ihr die ernstesten Vorhaltungen, weil sie ihren Verdacht, daß Mafalda fliehen könnte, vor ihm verschwiegen hatte.

Die junge Detektivin nahm seine vorwurfsvollen Worte ruhig hin, da sie nunmehr selbst einsah, wie falsch sie gehandelt hatte. Das Verhältnis zwischen ihr und Nielsen blieb trotz Gipsys Eingeständnis ihres Fehlers, der Fürstin Entweichen zu verhindern, recht gespannt. Wie sehr Gipsy hierunter litt, ahnte niemand – vielleicht nur der blonde Seemann … Und der hatte anderes zu tun, als sich um betrübte Mädchen zu kümmern. Er saß mit dem Prior in der großen Halle und beriet, wie man der Flüchtlinge wieder habhaft werden könnte.

Der ehrwürdige Greis, für den Nielsen bereits nicht nur Sympathie, sondern auch steigende Bewunderung empfand, hörte des deutschen Seemannes vielfache Gründe, weshalb die Fürstin unbedingt im Interesse der Sphinxbesatzung wieder ergriffen werden müsse, gelassen an …

Nielsen betonte, daß Mafalda im Besitz der Edelsteine, die sie aus den kostbaren Beutestücken der Flibustier herausgebrochen hatte, sehr wohl in der Lage sei, die selbstlosen Absichten des Grafen Gaupenbergs abermals zu vereiteln und neue blutige Verwicklungen heraufzubeschwören.

Der Prior erklärte nun mit einem Lächeln, das nichts mehr von der Milde und Güte seines sonstigen Wesens verriet:

„Monsieur Nielsen, sorgen Sie sich nicht um diese Dinge … Ich sagte Ihnen schon gestern, daß meine Macht größer ist als jemand ahnt. Vor anderthalb Stunden entdeckten wir die Flucht der beiden. Und – – eine halbe Stunde darauf habe ich bereits meine Gegenmaßnahmen getroffen. Der abtrünnige Mönch untersteht unserer Gerichtsbarkeit. Die Fürstin hat ihn verführt. Sie werden nie mehr von der Fürstin belästigt werden. Unsere Kellergewölbe sind … verschwiegen …“

Gerhard Nielsen schaute den greisen Neger jetzt mit einer gewissen Scheu an. In der ganzen Art, wie der Prior diese versteckten Drohungen ausgesprochen hatte, lag ein solches Selbstvertrauen auf unbeschränkte Machtmittel, daß Nielsen sich respektvoll verneigte und erwiderte:

„Wenn die Dinge so liegen, ehrwürdiger Prior, ist jedes Vorgehen meinerseits überflüssig …“

„Ja – reisen Sie getrost nach Neuyork ab und grüßen Sie den Grafen Gaupenberg von mir. Sollte er jemals Rat und Hilfe brauchen, so mag er sich an mich wenden. Sein heroisches Ringen um den Azorenschatz wird wohl jedem imponieren. Er und die Männer, die er um sich versammelt hat, werden für alle Nationen nacheifernswerte Beispiele von Vaterlandsliebe und kühnem Wagemut bilden …“

Einer der leichten Transportwagen des Klosters führte eine Stunde darauf die vier Sphinxleute in flottem Trabe durch die Urwaldwildnis den Ansiedlungen entgegen.

Zur selben Zeit erreichten fünf Neger, die wie Plantagenarbeiter gekleidet und tadellos beritten waren, auf ihren bereits abgehetzten Pferden die kleine Farm eines anderen Schwarzen, dem sie sofort einen kurzen Brief vorzeigten. Unter diesem Schreiben stand nichts als:

Der Prior vom Heiligen Berge und ein Stempel, der das Bild des Kegelberges und des Kloster zeigte.

Unverzüglich erhielten die fünf Schwarzen frische Pferde.

Noch dreimal wechselten sie in derselben Weise die Tiere und langten daher bereits nachmittags fünf Uhr in Basseterre an, wo sie wiederum bei einem Neger Unterkunft fanden, der einen kleinen Tabakladen am Hafen besaß.

Dieser unscheinbare Tabakhändler hatte in einer halben Stunde ein ganzes Heer von Spionen auf die Beine gebracht.

Kaum waren daher Mafalda und der Pater Doktor in der Nähe von Basseterre in den Büschen verschwunden, die ihnen vorläufig als Versteck dienen sollten, als auch schon bei dem Tabakhändler die erste Meldung einlief.

So kam es, daß der abtrünnige verräterische Mönch gegen sieben Uhr durch einen Neger, der sich als Eigentümer eines Kutters ausgab, in jenen Laden gelockt wurde, wo er hinterrücks niedergeschlagen wurde. Und wieder eine halbe Stunde darauf lag der Pater Doktor als wehrloses Bündel in tiefer Narkose unter Decken und Stroh im Kasten eines ländlichen Fuhrwerks und wurde so nach dem Kloster vom Heiligen Berge zurückgeschafft.

Auch Mafalda und Kapitän Destinal taten in Basseterre keinen einzigen Schritt unüberwacht.

Das Priors Versprechen, daß seine Machtmittel Mafalda ausschalten würden, schienen in Erfüllung zu gehen.

Als Gipsy, Nielsen, Gottlieb und Pasqual abends kurz vor zehn Uhr in Basseterre eintrafen und sich in das einzige größere Hotel begeben wollten, stand plötzlich ein älterer Schwarzer vor ihnen und flüsterte Nielsen zu:

„Monsieur Nielsen, – einen Gruß von unserem Prior … – Bitte folgen Sie mir …“

Nielsen erkannte zu seinem Erstaunen den jetzt in einen weißen Leinenanzug gekleideten Pater Hausmeister …

Der Mönch ging voran. Durch enge Gassen, in denen alle üblen Gerüche der Welt zum Himmel emporquollen – über Höfe und Gärten führte er die Sphinxleute zum stillsten Teile des Hafens, wo zumeist nur die stinkenden Fahrzeuge der Tranfischer lagen …

Hier am Bollwerk war ein Zweimastschoner vertäut, der sich nicht nur durch seine schlanke Bauart, sondern auch durch eine gewisse Sauberkeit auszeichnete.

Der Mönch geleitete die vier in die Heckkajüte des Kapitäns, eines kleinen, säbelbeinigen Mulatten.

„Ordaro,“ sagte er nur, „hier sind die Freunde des Priors. Im übrigen wissen Sie ja Bescheid …“

… verbeugte sich leicht vor den Sphinxleuten, wünschte ihnen glückliche Reise und verschwand.

Der Kapitän öffnete die Tür zur kleineren Nebenkajüte …

„Bitte, Mademoiselle Maad, – Ihr Wohnraum … Die Herren machen es sich wohl hier bei mir bequem …“

Dann ging er hinaus …

Kommandos ertönten …

Der Schoner machte vom Bollwerk los und glitt mit Hilfe seiner kräftigen Motoren in die offene See – kurz hinter dem Küstendampfer ‚Le Havre’ –

Gipsy blieb vorläufig bei ihren Begleitern in der Kapitänskajüte …

Man saß um den runden Sofatisch herum, über dem die große Petroleumlampe pendelte …

„Wie ein Traum …!“ sagte Gottlieb jetzt und gab so den Gedanken aller Ausdruck …

„Das stimmt,“ nickte Nielsen … „Vor zwölf Stunden noch in der Wildnis – jetzt auf dem Meere …!! Und dazu alles andere …!! Ich wette, der Schoner folgt errötend Mafalda Spuren. Ich werde nachher den Mulatten fragen …“

Pasqual lauschte … Meinte:

„Mister Nielsen, dieser Schoner fährt sehr schnell … Ich glaube, er hat sogar zwei Motoren und zwei Schrauben … Ob diese Schiff dem Kloster gehören mag?“

Die Tür zum Deck hin ging auf … Kapitän Ordaro trat ein, nahm die Mütze ab und zog eine Schiffsstuhl an den Tisch.

„Wenn Sie mich etwas zu fragen haben, Monsieur Nielsen … – Bitte …“

„Zunächst bin ich außerordentlich erstaunt, daß Sie unsere Namen so gut kennen …“

„Oh …“ – und Ordaro lächelte, „– wir erhalten stets ganz genaue Instruktionen, Monsieur Nielsen … Ich bin Mitglied der Gemeinschaft vom Heiligen Berge, also Christ, wenn auch Sektierer. Die Organisation aller Sekten ist weit straffer als die der großen Religionsgemeinschaften …“

„Es scheint so … – Wir verfolgen die Fürstin und den Pater Doktor?“

„Der Pater Doktor befindet sich bereits unterwegs nach dem Kloster. Die Fürstin und ihr neuer Liebhaber, Kapitän Destinal – Polizeikapitän – haben zusammen mit einem englischen Gelehrten den Küstendampfer ‚Le Havre’ gemietet. Die acht Mann Besatzung dieses Dampfers sind Neger und Gläubige … Sie verstehen mich, Monsieur Nielsen … Die Fürstin wird in dieser Nacht noch spurlos von Bord verschwinden …“

„Donnerwetter!“ rief Nielsen. „Bei Ihnen wickelt sich alles mit größter Selbstverständlichkeit ab …!“

„Organisation …!“ meinte der kleine Mulatten kühl … „Darf ich den Gästen eine Erfrischung anbieten?“

„Hm – ich für meine Person ginge lieber an Deck hin und her … Zehn Stunden Wagenfahrt sind kein Vergnügen …“

„Bitte – der Schoner steht ganz zu Ihrer Verfügung …“ –

Draußen war soeben der Mond erschienen. Nielsen und Gipsy lehnten an der Reling ganz vorn am Bugspriet. Der Schoner hatte seine weißen Segel entfaltet. Eine frische Nordostbrise füllte die Segelflächen und trieb das schnittige Fahrzeug ruhig und stetig durch die langen Wogen.

„Sind Sie mir noch immer böse, Mister Nielsen?“ fragte Gipsy leise, während der Steuermann mit einem Fernglas den Küstendampfer beobachtete.

Er ließ das Glas sinken …

Ihr Gesicht lag im Mondschein …

„Diese Armensündermiene ist ganz unnötig,“ erklärte er vergnügt. „Alles ist verziehen und vergessen …! Sie glauben ja gar nicht, wie sehr ich mich freue, Miß Gipsy, wieder die Planken eines guten Seglers unter den Füßen zu haben …! Sagen Sie selbst, gibt es etwas Herrlicheres als das Meer bei Mondschein – den ausgestirnten Himmel über sich und … ein nettes Mädel neben sich …!“

„Oh – das letzte haben Sie doch nur in einem Anfall von Galanterie hinzugefügt …!“ meinte Gipsy die Schultern hebend. „Mit Ihnen ist ja überhaupt nie vernünftig zu reden – – nie!“

„Wenn Sie unter ‚vernünftig’ Liebesgesäusel verstehen, – dann allerdings nicht! – Alles zu seiner Zeit, Miß Gipsy … Jetzt habe ich nur Gedanken für Mafalda …!“

Gottlieb und Pasqual kamen herbei. Hinter ihnen watschelte der Teckel her …

„Der Dampfer läuft uns davon,“ sagte der treue Knorz besorgt. „Ich fürchte …“

„… fürchten Sie gar nichts!“ fiel ihm Nielsen ins Wort. „Dieser Schoner macht gut seine fünfzehn Knoten, wenn er will … Kapitän Ordaro gibt dem Dampfer nur Vorsprung, damit wir nicht als Verfolger erkannt werden.“

Beide Schiffe hielten etwa den gleichen Kurs – – Nordwest … Der Schoner blieb in der Tat sichtlich zurück …

„Übrigens eine unangenehme Meeresgegend hier,“ erklärte Nielsen nach einer Weile. „Nirgens sind die Haifische so in ganzen Rudeln vertreten wie hier. Außer dem bis fünf Meter langen Riesenhai kommen hier noch der nicht viel kleinere Hammerhai und dann auch der Sägefisch in mehreren Spielarten vor – alles sehr unangenehme Gesellen …!“

„Die wir schon auf dem Floß kennengelernt haben,“ seufzte Gipsy in Erinnerung an die Schreckensszenen jener vierundzwanzig Stunden …

Auch Gottlieb unterdrückte jetzt ein schmerzliches Einatmen … Selbst Pasqual Oretto schaute trübe in die See hinab …

Minutenlang schwiegen die Vier … Dieses Schweigen war wie ein stummes Gebet, das sie den Opfern des Floßes der Qualen weihten …

Breitbeinig stelzte da der kleine Mulattenkapitän heran …

„Wollen Sie sich nicht lieber niederlegen?“ meinte er höflich. „Es ist besser, wenn das, was geschehen wird, ohne Zeugen geschieht … Sie könnten nur Unannehmlichkeiten dadurch haben …“

Nielsen verstand …

„Ganz recht, Kapitän … Wir sehen und hören nichts … Gute Nacht …“ Und er winkte den Freunden.

Sie betraten die Kajüte und Gipsy zog sich in ihre Seitenkammer zurück.

Inzwischen waren für die drei männlichen Gäste Klappbetten aufgestellt worden. Nielsen warf sich in Kleidern auf das eine Lager und war im Nu eingeschlafen. Pasqual und Gottlieb spürten jetzt ebenfalls, wie müde sie waren … Auch sie schlummerten bald ein … – –

Und drüben auf dem Küstendampfer ‚Le Havre’?

Nun – als Kapitän Francois Destinal und Mafalda kurz vor zehn an Bord gekommen waren, hatte sich Professor Doktor Gallarall, der englische Gelehrte, bereits in seine Kabine zurückgezogen und ließ sich durch den Kapitän des Dampfers bei seinen Reisebegleitern entschuldigen.

So bekam Mafalda den Professor vorläufig nicht zu Gesicht.

Destinals Kabine lag neben der der Fürstin an der Steuerbordseite unter der Kommandobrücke. Als Mafalda ihrem neuen Liebhaber jetzt vor im Flur gute Nacht sagte, flüsterte sie noch mit einem zärtlichen Lächeln:

„Auf Wiedersehen denn, Francois …“

Er küßte ihr galant die Hand …

Mafalda drückte die Kabinentür hinter sich zu …

Ein unangenehmer Geruch hing in dieser ärmlich möblierten Schiffskammer in der Luft: Patschuli … – Parfüm … das Parfüm der billigen Halbwelt! Mafalda riß sofort die beiden kleinen Fenster auf.

Als sie sich dann umwandte, hatte sich die Tür bereits lautlos geöffnet und sofort wieder geschlossen …

Ein älterer Herr mit grauem Spitzbart stand mitten in der Kabine …

Verneigte sich … Eine raue Stimme flüsterte:

„Professor Doktor Gallarall – wenn Sie gestatten … – Ich möchte Sie warnen, Fürstin Sarratow … Sie wurden in Basseterre dauernd von Negern beobachtet … Ein Zweimastschoner folgt nun dem Dampfer … Der Schoner ist Eigentum des Klosters vom Heiligen Berge … Der Pater Doktor ist bereits ergriffen worden … – Der Prior hat gegen Sie mobil gemacht, Fürstin Sarratow. Die Negerbesatzung hier an Bord ist ihm untertan …“

Mafalda starrte den Fremden fassungslos an …

Sie konnte sich nicht denken, daß all diese Einzelheiten bloße Erfindung sein sollten …

„Woher … woher wissen Sie das alles, Mister Gallarall?“ flüsterte sie hastig.

„Weil auch ich mich hier nicht sicher fühlen darf, Fürstin Sarratow … Weil ich mit Ihnen beraten möchte, wie wir beide das Unheil abwenden können …“

Und dann plötzlich mit ganz anderer Stimme:

„Mafalda – ich bin Edgar Lomatz …! – Mafalda, wir ziehen wieder einmal am selben Strange … – Hand her …! Schlag ein …! Es hilft nichts, wir beide müssen zusammenhalten …! Ich habe die Spione des Priors belauert … Ich lüge nicht. In zwei Stunden werden wir beide in der Gewalt des Kapitäns des Schoners sein!“

Die Fürstin stand noch immer regungslos da … Starrte immer noch ihren einstigen Verbündeten an.

Lomatz fuhr schon fort – noch leiser:

„Es gibt nur ein Mittel uns zu retten, Mafalda … Um halb elf verläßt der große Passagierdampfer der Caracas-Newport-Linie den Hafen von Basseterre … Wir müssen hier unseren Kapitän Balangue dazu bringen, daß er den Kurs ändert und dem Steamer in den Weg läuft … Sind wir erst an Bord des Amerikafahrers, so hat der Schoner das Nachsehen. – Komm mit zu Balangue … Gold macht alles …! – Leise!!“

Als Francois Destinal eine Viertelstunde später im tadellos neuen seidenen Schlafanzug in Mafaldas Kabine schlüpfte, fand er das Nest leer …

Schleunigst zog er einen Gummimantel über sein leichtes Kostüm und stieg an Deck, fand hier die Fürstin mit dem Professor auf dem Achterdeck in Liegestühlen vor …

Es fiel ihm schwer, liebenswürdig zu sein. Zu groß war die Enttäuschung … Eine dunkle Ahnung stieg in ihm auf, daß diese Abenteurerin ihn nur ausgenutzt hatte, daß sie seines Beistandes nicht mehr bedurfte …

Professor Gallarall erklärte mit stoischer Ruhe, daß er seine Pläne geändert habe …

Und – hob die Hand …

Deutete nach rückwärts, wo die Lichterreihen eines großen Dampfers durch die Dunkelheit schimmerten.

„Es ist ihn ‚Philadelphia’, Kapitän, ein Steamer, der nach Neuyork geht … Auch die Fürstin beabsichtigt, diese Kreuzfahrt aufzugeben …“

Destinal biß sich in die Unterlippe …

Er merkte, die beiden waren sich nicht fremd! Hier war er zum Harlekin geworden – betrogen, getäuscht – ausgenutzt …!

Wut wollte ihm die Kehle zuschnüren …

Aber – war diese Hochstaplerin es wert, sich ihretwegen zu erregen?! War er nicht Polizeikapitän?! Lag es nicht in seiner Macht, hier auf diesem in Basseterre beheimateten Schiffe dem Kapitän einfach zu befehlen, die beiden zu verhaften?!

Mafalda erhob sich plötzlich …

„Vielleicht helfen Sie mir, Kapitän Destinal, meine neuen Koffer zu packen …“ sagte sie harmlos …

Im Dämmerlicht der wenigen Laternen sah Destinal ihr lockendes Lächeln …

„Wie Sie wünschen …“ meinte er nur … –

Lomatz schaute ihnen nach …

‚Armer verliebter Kapitano!’ dachte er … ‚Mafaldas Abschiedskuß wird bitter schmecken …!’ – Er lachte höhnisch auf … –

Destinal stand in Mafaldas Kabine dicht vor der Fürstin …

„Mafalda, was soll das alles?!“ stieß er hervor.

Sie legte ihm die Arme um den Hals … – mehr freundlich als zärtlich …

„Francois, es muß sein … Wir müssen uns trennen … – Ich danke dir nochmals …! Du hast als Gentleman mir gegenüber gehandelt …“

Sie schmiegte sich an ihn und küßte ihn – ohne Leidenschaft …

Auch er blieb kalt … Drängte sie von sich …

„Und weshalb dieses jähe Ändern aller Pläne, Mafalda?“ meinte er schroff … „Aber – – die Wahrheit bitte …!!“

„Weil … wir verfolgt werden, Francois …“ Ihre Hände ruhten noch auf seiner Schulter … „Weil der Prior des Klosters vom Heiligen Berge mich und Gallarall fangen will …“

„Ah – der Engländer ist …“

„… mein Geliebter etwa?! Nein, Francois …! Es ist …“

Und gerade da hatte sie den Stöpsel aus dem winzigen Fläschchen gezogen, das sie in der linken Hand verborgen hielt …

Gerade da fuhr diese Hand wie schmeichelnd über Destinals Wange …

Ein paar Tröpfchen trafen seine Oberlippe …

Ein einziger Atemzug …

Und Mafalda fing den Bewußtlosen auf und schleppte ihn dann in seine eigene Kabine …

Zehn Minuten später nahm der Dampfer ‚Philadelphia’ von dem Küstenfahrer zwei Passagiere an Bord …

Der Schonerkapitän Ordaro hatte dies nicht mehr verhindern können, da er zu weit zurückgeblieben war.

Er weckte Nielsen, teilte ihm das Mißlingen des so fein vorbereiteten Streiches mit …

„Gut – dann bringen Sie uns schleunigst nach dem nächsten Hafen, wo wir eine gute Verbindung nach Neuyork haben … Ich werde von dort aus eine Depesche an den Grafen Gaupenberg senden … Nun beginnt ja die Treibjagd von neuem …!“ – So sprach Gerhard Nielsen, drehte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein …

 

14. Kapitel.

Sonniger Himmel und … Wolkenwand …

Dort, wo im Südwesten der Riesenstadt Neuyork das Meer gegen die felsigen Massen des Vorgebirges Missamill brandet, erhebt sich auf dem Plateau dieses weit in den Atlantik sich hineinreckenden Granitwalles das Schloß gleichen Namens, des Milliardärs Randercild Sommerresidenz …

Ein Palast, wie ihn hier in dieser Einöde der Felsen nur ein Mann erstehen lassen konnte, der über unbegrenzte Geldmittel verfügt …

Missamill war weit über den Umkreis Neuyorks hinaus bekannt … auch wenn es kaum jemand persönlich kannte. Missamill war ein Stück Indien, verpflanzt nach dem Dollarlande …

Der Palast, eine genaue Nachbildung des berühmten Schandragar-Tempels in Lucksor, wurde stets nur ‚ein Gedicht in Marmor’ genannt …

Der Park, der ihn umgab, war ein Gedicht in Farben … Seine Anlage hatte zwei Millionen Dollar verschlungen.

Zehn Meter hoch war auf dem nackten, unfruchtbaren Plateau beste Gartenerde aufgehäuft worden … Dort, wo größere Bäume eingepflanzt werden sollten, sprengte man Löcher in das Gestein, damit die Wurzelballen dieser Resen, die teils von weit her kamen, darin ausreichend Platz fänden …

Drei Jahre hatten die Arbeiten für die Anlagen gedauert … Dann durfte Josua Randercild stolz behaupten, daß er sich ein Heim geschaffen, wie niemand auf Erden es besaß …

Einen Palast, hoch über dem Meer, auf drei Seiten vom Ozean umspült, – einen Park von einer halben Meile im Quadrat, darin alles, was die Täuschung vollkommen machte, man befände sich in Indien. –

Nach nur elfstündiger Fahrt war Gaupenbergs glorreiche Sphinx auf den Tennisplätzen von Schloß Missamill gelandet …

Per Funk war dem Hausmeister des Palastes die Ankunft rechtzeitig gemeldet und zugleich den Befehl überbracht worden, diese bevorstehende Rückkehr Randercilds auf das strengste geheimzuhalten und von der Detektivfirma Worg & Co. In aller Stille zwanzig Detektive zur Bewachung von Schloß und Park anzufordern.

Als daher die Sphinx nachts zwei Uhr landete, waren sofort erprobte Leute zur Stelle, um das Luftboot jederzeeiz scharf im Auge zu behalten. –

Der Hausmeister, ein älterer überaus würdiger Herr namens Roussell mit den vollendeten Manieren eines Oberzeremonienmeisters, begrüßte den Herrn und sprach ihm seine Anteilnahme am Verlustes der Jacht ‚Star of Manhattan’ aus.

Diese Begrüßung bei Magnesiumfackeln fand dicht vor der Sphinx statt. Hinter Roussell waren die Dienerschaft, die Köche, Stubenmädchen und die Schofföre angetreten …

Alles war sehr feierlich …

Mister Roussell liebte das …

Dann führte Randercild die Schar seiner Gäste durch den Park zum Marmorpalast … –

Eine Stunde später große Tafel im Speisesaal …

Wieder überaus feierlich … Nur leider entsprachen die Anzüge der Sphinxleute nicht ganz dieser prunkvollen Aufmachung …

Nein – die Damen und Herren sahen sogar reichlich abgerissen aus … Kein Wunder, die Erlebnisse auf der schwarzen Insel und die Fahrt auf dem Unglücksfloß hatten nicht dazu beigetragen, das Äußere der Sphinxleute salonfähig zu gestalten.

Rechts neben Randercild saß das junge Ehepaar Gaupenberg, links Steuermann Hartwich mit seiner Gattin. Dann kamen die beiden Brautpaare Dalaargen-Mela Falz und Tom Booder-Tonerl … Zwischen ihnen hatte Doktor Dagobert Falz seinen Platz. Es folgten in bunter Reihe der Mormonenpriester Samuel Tillertucky mit seinen beiden Frauen, die schwarze Yvonne und Ninon, die sich inzwischen wieder zu aller Freude erholt hatte. Zwischen Yvonne und Ninon saß Professor Pargenter, Randercilds Freund, und den Beschluß machten die drei einzigen Überlebenden der Besatzung des ‚Star of Manhattan’: der Schiffsarzt und zwei Matrosen.

Aber – noch jemand fehlte hier nicht an der glänzenden Tafel, einer, den Mister Roussell und die Diener immer wieder entsetzt musterten: Murat, der Affenmensch …! Er benahm sich im übrigen durchaus gesittet, und nur wenn einer der Diener ihn allzu neugierig anstarrte, fletschte er die Zähne und knurrte dumpf … –

Um vier Uhr morgens hob Josua Randercild die Tafel auf. Die Gäste zogen sich auf ihre Zimmer zurück. Nur Gaupenberg, Doktor Falz, Hartwich und der Milliardär hatten noch im Palmengarten bei einer Tasse Mokka eine kurze Besprechung, bei der es sich um die Unterbringung des Goldschatzes handelte.

Gaupenberg gab offen zu, daß er um die Sphinx und ihren Milliardeninhalt doch ein wenig besorgt sei …

Randercild zerstreute all seine Bedenken …

„Die Detektive der Firma Worg, deren Chef ja leider auf der schwarzen Insel den Tod gefunden hat, sind unbedingt zuverlässig …“ versicherte er. „Und genauso verschwiegen. Derselbe Verlaß ist auf meine Dienerschaft … Im Laufe des Tages wird das Gold dann unten in die Stahlkammern gebracht … Und dann möchte ich den sehen, der es uns stiehlt …!!“ –

Noch ein Händedruck … und die Herren trennten sich …

Als Gaupenberg die beiden für Agnes und ihn bestimmten Gemächer betrat, kam die Geliebte ihm selig lächelnd entgegen …

„Viktor, du mußt mit auf den Balkon hinauskommen … Die Sonne geht gerade auf …“

Er umschlang sie, und eng aneinander geschmiegt traten sie durch die offenen Türen ins Freie …

Frischer Salzhauch des Meeres umspielte sie …

Und drüben am Horizont kam nun die glühend rote Scheibe des Tagesgestirns höher und höher aus dem Ozean empor …

„Viktor …“ flüsterte Agnes träumerisch, „Viktor, wir haben unsere Hochzeitsreise nach einem Märchenschlosse unternommen …“

„Und doch werde ich unsere Hochzeitsgrotte auf der Insel der Seligen nie vergessen, mein Liebling … Dort wurdest du mein Weib … Dort hielt ich dich zum ersten Male umfangen …“

Agnes erschauerte plötzlich …

„Und – – all das versank ins Meer, Viktor. Der Garten Eden, die Grotte … Und die armen wahnsinnigen Azteken …“

Gaupenberg küßte sie …

„Nicht daran denken, Liebling … Vergessen, was trübe war … Der Gegenwart leben – unserer Liebe!“

Und mit starken Armen hob er sie empor, trug sie hinein in das behagliche Schlafgemach mit dem breiten französischen Bett … –

Drei Zimmer weiter stand Samuel Tillertucky vor dem Spiegel des Kleiderschrankes und ließ sich von seinen beiden Frauen entkleiden.

Hekuba knöpfte ihm in Gummikragen ab, der bereits alle Anwartschaft für den Müllhaufen hatte.

Sarah zerrte am Ärmel des schwarzen Bratenrockes, der ebenfalls kaum mehr von einem Trödler gekauft worden wäre … –

Nachdem der dicke Samuel dann ins Bett geklettert war, begann er auch schon ohrenbetäubend zu schnarchen …

Seine beiden Gattinnen, daran gewöhnt, schliefen trotz des gräulichen Gerassels in Kürze ebenfalls ein. –

Im nächsten Zimmer saß Ellen Hartwich auf dem Bettrand und ordnete das aschblonde Haar zur Nacht.

„Eigentlich müßten wir einmal nachforschen, Georg,“ sagte sie mit spitzbübischem Lächeln, „wann wir zum letzten Mal in einem Bett geschlafen haben …“

Der Steuermann zog gerade die Stiefel aus …

„Hm – ja, wann war das?! Ich denke in der Wohngrotte der schwarzen Insel …“

„Na – wenn du die Dinger dort Bett nennst – ich danke …!! Das waren doch nur schmale Holzkisten, in denen kaum einer Platz hatte … Da lobe ich mir hier …“

„Anspruchsvoll!!“ brummte Hartwich. „Kennst du nicht das alte Sprichwort ‚Raum ist ihnen der kleinsten Hütte für ein zärtlich liebend Paar …’ …?!“

„Blech, Georg …!! Liebe braucht Platz …“

Und sie schlüpfte unter die seidene Decke und drehte ihr Nachtlämpchen aus … – –

Die Morgensonne warf ihre gleißenden Strahlen auf Schloß Missamill und den wundervollen Park …

An den Tennisplätzen, wo der Spindelleib der Sphinx auf dem Zementboden ruhte, saßen zwei der Detektive bequem in den Korbsesseln, die sie sich aus dem Tennishäuschen geholt hatten …

Zwei Männer mit frischen, derben Gesichtern in praktischen Sportanzügen …

„Natürlich liegt das Gold in dem Luftboot,“ meinte der kleinere. „Natürlich, Jolling … Die Zeitungen sind voll von der Sphinx … Man spricht von dreißig Milliarden … Es sollen ja auch noch der Aztekenschätze dabei sein …“

Tom Jolling rauchte drei Züge aus der kurzen Pfeife …

„Das wäre so ein gefundenes Fressen für die Null,“ nahm er dann die Unterhaltung wieder auf. „Dreißig Milliarden …!! Das lohnte!“

Bret Caag lachte etwas verkrampft. „Auch der Null wird in diesem Falle der Appetit vergehen …! Wenn das Gold erst in den Stahlkammern des Schlosses liegt, kommt keiner mehr heran!“

„Hm …!“ brummte Jolling. Und dann: „Hm – denk mal an die River-Bank … Die ist von der Null ausgeplündert worden …! Und das hätte kein Mensch für möglich gehalten …! Ferner die Gewölbe der Grimby-Sparkasse …! Und drittens die Tresors der Atlantic-Aktiengesellschaft … Alles Taten der Null! Dem Kerl und seiner Bande traue ich schon zu, daß sie selbst hier etwas riskieren …!“

Der kleine Bret Caag zuckte überlegen lächelnd die Achseln …

„Man redet immer von der Null?! Bisher hat niemand den Menschen gesehen … Eine Romanfigur! Wahrscheinlich verbirgt sich dahinter ein ganz gewöhnlicher Einbrecher … Alle Berichte über die Null sind unbewiesen …“

„Mein Junge, ich wette, es stimmt schon … daß die Null eine Persönlichkeit aus feinsten Kreisen ist …!“ Und Tom Jolling streckte dem Kollegen die Hand hin … „Da – schlag ein … Wetten wir um fünfzig Dollar …“

Der kleine Caag zögerte …

„Tom, ich bin verlobt … Ich brauche jeden Penny … Wenn meine Marry von so einer Wette hört, bläst sie mir den Marsch …!“

„Aber – du kannst die fünfzig doch auch gewinnen, Bret … Einmal wird man die Null doch abfassen … Jeder Krug geht so lange zu Wasser, bis …“

Ein dritter Detektiv schlenderte herbei, gähnte …

„Langweilige Geschichte hier …!“

„Aber lohnend, old Boy …! Das Essen, das Randercild uns schickte, war erstklassig und die Zigarren erst.“

Er hielt in seiner Rede inne … Jolling und Caag waren aus ihren Sesseln hochgefahren …

Unweit hinter einer Gruppe von Fliederbüschen war ein Schuß gefallen …

Jolling stürmte schon vorwärts … Die beiden anderen hinterdrein …

Sie entdeckten niemanden …

Fanden schließlich doch etwas … In einer Buchsbaumrundung stand da die Marmorfigur einer griechischen Göttin mit segnend ausgestreckter Hand …

Aus dieser Hand flatterte ein Stück Papier zu Boden … Ein weißer Bogen, auf den mit Bleistifte eine Null gemalt war …

Die drei Detektive blickten sich an …

„Einen Witz!“ brummte Bret Caag …

„Eine Frechheit …!“ knurrte Jolling.

„Der Kerl meldet sich an!“ rief da der dritte …

Dann suchten sie in die Büsche nach Spuren …

Umsonst …

Wer den Schuß abgefeuert, dann den Zettel der Göttin in die Hand geklemmt hatte, war nicht festzustellen … Keinerlei Fährte ließ sich entdecken …

Jolling kehrte mit Caag zur Sphinx zurück, die inzwischen von zwei Detektivkollegen in die Mitte genommen worden war …

„Lieber Bret,“ meinte der ältere und erfahrenere Jolling, „der Tanz beginnt …! Die Null wird uns auf den Pelz rücken … Ich wette weitere fünfzig Dollar! Die Null plündert auch Randercilds Stahlkammer …!“

Bret Caag verzichtete auf jede Widerrede. Auch er beurteilte die Sache nicht mehr lediglich als Witz, wie es ihm soeben noch entschlüpft war.

Und Tom Jolling fügte hinzu, nachdenklich an seiner Pfeife saugend:

„Man muß den Vorfall sowohl bei uns im Hauptbüro als auch dem Milliardär melden … – Ich werde das besorgen …“

John Randercild war jedoch erst um zehn Uhr vormittags zu sprechen.

Er empfing den Detektiv Jolling in seinem Arbeitszimmer …

„Gutes bringen Sie sicherlich nicht um diese Stunde,“ sagte der spindeldürre Milliardär gespannt. „Also – schießen Sie los …!“

„Ja – das stimmt… Eine Schusses wegen komme ich, Mister Randercild …“

Er begann zu berichten …

Josuas merkwürdiges Bocksgesicht mit den harten, kalten Augen verzog sich geringschätzig, als Jolling die Null erwähnte …

„Habe von dem Blödsinn in den Zeitungen gelesen,“ meinte er. „Ähnliche Zettel hat der Kerl ja überall da zurückgelassen, wo ihm ein Raub geglückt war … Und hier bei mir gibt er vorher seine Visitenkarte ab …? Nun – er soll sich wundern …!!“

Und der Milliardär ergriff den Telefonhörer und ließ sich mit dem Institut Worg & Co. verschbinden …

„Hier Randercild! Persönlich … – Schicken Sie mir sofort noch zwanzig Mann – erlesene Leute … Kosten gleichgültig … – Schluß …“

Dann verlangte er eine andere Nummer …

„Hallo … Ja – – Randercild …! Tomson, schicken Sie sofort die gesamte Dienerschaft hierher … Schluß …“

Tom Jolling nickte …

„Das wird wohl reichen, Mister Randercild … Nun können wir überall Wachen aufstellen …“

Der kleine Besitzer von Schloß Missamill grinste …

„Ich tue nichts halb … Ich werde die Null fangen, so wahr ich Josua Randercild heiße … Ich habe das Geld dazu … Und Geld ist noch immer die größte Macht …“

Er sagte das mit der unerschütterlichen Ruhe eines Mannes, der, wenn er wollte, jederzeit eine Börsenpanik hervorrufen konnte – doch ohne jede Renommiererei …

Jolling verbeugte sich zustimmend, gestattete sich aber trotzdem den Einwand:

„Das Geschöpf, das sich hinter diesem fein ersonnenen Pseudonym ‚Null’ – eben Nichts, nichts Greifbares – verbirgt, baut lediglich auf seine verbrecherische Intelligenz … Auch Intelligenz ist eine Macht, Mister Randercild …“

„Und … geht meist betteln … – Wir werden ja sehen … – Natürlich dürfen die Herrschaften von der Sphinx nichts von alledem erfahren … Ich möchte meine Gäste nicht unnötig beunruhigen, Mister Jolling.“

„Sehr wohl … – Und die Überführung des Schatzes von der Sphinx nach der Stahlkammer …?“

„Mittags … Wenn Graf Gaupenbergs gefrühstückt hat … Er ist ganz jung verheiratet … Es kann auch Nachmittag werden. Ich habe sechs Tragen bestellt. Jeder einzelne Transport wird von zweite Detektiven begleitet werden … Der Patrouillengang um Park und Schloß wird dann verdoppelt, je ein Detektiv und einer meiner Diener … Ordnen Sie das an, Mister Jolling …“

Er machte eine verabschiedende Handbewegung … Aber Jolling blieb stehen, schien noch etwas auf dem Herzen zu haben …

„Mister Randercild,“ begann er zögernd, „der Vorfall heute früh macht es mir zur Pflicht, Ihnen vorzuschlagen, die Sphinx noch besser zu sichern … Ebenso gut wie der Unbekannte ungesehen …“

„Stopp – erledigt …!“ unterbrach der Milliardär ihn … „Sie kennen die konstruktiven Eigentümlichkeiten des Luftbootes nicht. Der Lebensnerv der Sphinx liegt am Heck in einem Aluminiumgehäuse … Und diesen Lebensnerv hat Graf Gaupenberg entfernt. Die Sphinx ist momentan eine tote Masse …“

„Dann bin ich auch in der Hinsicht beruhigt. Ich empfehle mich, Mister Randercild …“ –

Um halb eins versammelten sich des Milliardärs Gäste zum Frühstück auf der schattigen Nordterrasse, die einen Ausblick auf den Park gewährte.

Man sah nur heitere, glückliche Gesichter …

Roussell schritt lautlos hin und her und beaufsichtigte die servierenden Diener. Er war geradezu eine Perle von Hausmeister …

Toni Dalaargen war es dann, die Murats Fehlen bemerkte.

Roussell erklärte mit säuerlichem Lächeln, daß der Homgori schon seit sieben Uhr in den Parkbäumen umherturne …

Alles lachte …

„Er will sich eben Bewegung machen,“ meinte Agnes mit lieben Lächeln. Ihr war Murat ein treuer Freund. Nie vergaß sie ihm, wie er für sie in vergangenen Tagen so aufopfernd eingetreten war. Es gab ja überhaupt keinen der Sphinxleute, der den herkulischen Affenmenschen nicht als gleichberechtigt angesehen hätte. Was noch Tierhaftes in ihm lebte, hatte der Umgang mit seinen weißen Freunden immer weiter zurückgedrängt.

Mela Falz, die mit ihrem Verlobten Fredy Dalaargen dicht an der Brüstung saß, rief plötzlich:

„Dort kommt Murat … Er schwenkt etwas in der Hand … – Eine Mütze …“

Der Homgori kam wirklich mit seinen schweren wiegenden Schritten und schlenkernden Armen den Hauptweg entlang. Er trug jetzt einen abgelegten Anzug eines der Diener Randercilds und wirkte höchst komisch in diesem Habit. Zuweilen hob er den rechten Arm und schüttelte wie triumphierend eine graugrüne Sportmütze … Sein behaartes Gesicht drückte eine gewisse Erregung aus. Er fletschte die Zähne und deutete mit der anderen Hand hinter sich auf die Baumwipfel des Parkes …

Alles war aufgestanden …

Man kannte Murat. Ohne Grund benahm er sich nicht in dieser auffälligen Weise …

Agnes, die ja von jeher den größten Einfluß auf den Homgori gehabt hatte, ging ihm bis zur breiten Marmorplatte der Terrasse entgegen.

„Was gibt’s, Murat?“ fragte sie in leichter Unruhe, da sie kaum zu hoffen wagte, daß man selbst hier auf Schloß Missamill vor den hartnäckigen Nachstellungen der alten Gegner sicher sein würde.

Graf Gaupenberg war ihr, seiner geliebten Gattin, gefolgt, während die übrigen Anwesenden hinter dem jungen Ehepaar einen Halbkreis bildeten.

Noch ahnte Viktor Gaupenberg nichts von dem bedrohlichen Auftauchen des berüchtigten Neuyorker Verbrechers hier im Parke von Missamill. Noch lebte er in der Überzeugung, daß momentan nichts den heiteren Himmel seiner köstlichen Flitterwochen trüben könnte.

Und so sagte er denn zu Agnes, in dem er seinen Arm in den ihren schob:

„Liebling, du scheinst irgendwie besorgt … – Weshalb denn?! Murat kann noch kaum der Überbringer einer Unglücksnachricht sein …“

Inzwischen hatte der Affenmensch die Stufen vollends erklommen und vor dem Ehepaar Gaupenberg haltgemacht.

Murat, der des Grafen letzte Sätze sehr wohl verstand, weil dieser in Rücksicht auf seinen amerikanischen Gastfreund sich des Englischen bedient hatte, rief nun mit seiner tiefen Kehlstimme:

„Oh, – – Leute dort bei der Sphinx wollten Murat wegnehmen diese Mütze, die in Baumwipfel hing …! Murat Mütze nicht hergeben … Hier etwas in Mütze liegen – – da …!!“

Und er hielt der neugierigen Versammlung jetzt die Innenseite der graugrünen Sportmütze hin …

Hellgraues Seidenfutter … Und darin eingestickt … eine … große Null …!!

Aber noch etwas! Auf dem Seidenfutter lag die kleine Messinghülse einer abgefeuerten Pistolenpatrone!

Josua Randercild hatte sich vorgedrängt …

Er dachte sofort an den Schuß im Park in der Nähe der Sphinx – an das Fehlen jeglicher Spuren des Mannes, der diesen Schuß abgegeben und der den Zettel an der Hand der Marmorstatue befestigt hatte.

Da tauchte auch schon hinter Murat auf der Treppe der Detektiv Tom Jolling auf …

Sein hageres kühnes Sportsgesicht verriet Ärger und Erregung…

„Mister Randercild,“ rief er hastig, „meine Schuld ist es nicht, daß jetzt die ganze Geschichte vorzeitig ans Licht gezerrt wird. Dieser … dieser halbe Gorilla ließ sich ja leider nicht …“

Murat war blitzschnell herumgefahren …

Er hatte Jollungs gereizte Worte, besonders diesen Ausdruck ‚alter Gorilla’ als schwerer Beleidigung aufgefaßt …

Gerade er, der von den Sphinxleuten stets als vollwertiger Mensch behandelt worden war, empfand diese Gleichstellung mit einem lediglich seinen wilden Instinkten folgenden Riesenaffen als eine tiefe Demütigung.

Sein wutverzerrtes Gesicht war dicht vor dem jäh erblaßten des Detektivs …

Seine Riesenfäusten packten Jollings Unterarme … Die Mütze ließ er fallen …

Tom Jolling schrie auf vor Schmerz – und er war doch ein Mann, der mancherlei ertragen konnte …

Wie Eisenklammern lagen Murats Finger um seine Arme …

„Oh – – Murat keine halbe Gorilla!“ kreischte der Homgori … „Murat sein Mensch …! Murat haben gefunden, was diese Master nicht fanden …!“

Agnes war schon neben ihm.

Ihre Hand legte sich sanft auf seine Schulter …

„Der Master wollte dich nicht beleidigen,“ sagte sie ebenso sanft …

Und zu Jolling: „Bitte, entschuldigen Sie sich bei Murat … Er gehört zu uns … Und er ist mein Freund und Beschützer …“

Der Detektiv fühlte, daß die Eisenklammern sich lockerten …

Er lachte etwas gezwungen …

„Nun gut – ich entschuldige mich gern … Murat hat uns ja insofern einen wichtigen Dienst geleistet, als wir nun wissen, daß der Unbekannte durch die Baumwipfel seinen Weg genommen hat …“

Gaupenberg hatte mit mißtrauischem Interesse diese Szene verfolgt und wandte sich jetzt an den kleinen Milliardär …:

„Mister Randercild, man scheint mir etwas verheimlicht zu haben, was die Sphinx angeht … Bitte – sprechen Sie …! Nehmen Sie keine Rücksicht auf uns und unsere friedliche Ruhe …“

Der Milliardär meinte achselzuckend:

„Ich hätte Ihnen allen, die Sie doch wahrhaftig einige Zeit sorglosen Dahinlebens verdient haben, gern ein wenig … längeren Waffenstillstand gewünscht. Aber leider ist bereits wiederum eine neue Person aufgetaucht, die den Azorenschatz an sich bringen möchte … Es ist … ja – es ist dies ein Mensch, den noch niemand zu Gesicht bekommen, ein Einbrecher größten Stils … – Ein Kerl, der sich ‚die Null’ nennt, weil er wie ein Nichts nicht zu fassen ist …“

Dann mußte Tom Jolling diese kurzen Angaben ergänzen … –

Welchen Eindruck dies alles auf Gaupenberg und die Seinen machte, ist schwer zu schildern …

Die noch vor wenigen Minuten so sorglos vergnügte Gesellschaft der Gäste Randercilds war verstört und erregt … Allerlei Fragen schwirrten wie geängstigte Vöglein hin und her … Jeder wollte noch dies oder jenes wissen … Jeder war entsetzt in den Gedanken, daß man nunmehr abermals keine ruhige Minute haben würde, daß ein neuer, vielleicht noch schlimmerer Feind aufgetaucht war.

In dieses ziellose Spiel von Fragen und Antworten brachte Gaupenbergs durch eine einzige Bemerkung Sinn zurück:

„Wie ist es möglich,“ sagte er mit seiner vollen, klaren Stimme, „daß dieser Verbrecher bereits wenige Stunden nach unserer so streng geheim gehaltenen Ankunft hier gleichsam seine Visitenkarte abgeben konnte, Mister Jolling? – Haben Sie hierüber schon nachgedacht?! Mir scheint, dies ist vorläufig wohl am wichtigsten. Wer kann dieser ‚Null’ unser Eintreffen verraten haben? – In dieser Hinsicht kommen doch nur Ihre Diener, Mister Randercild, und Ihre Kollegen, Mister Jolling, in Betracht …!“

Der Detektiv erklärte sofort:

„Die Mitarbeiter des Detektivinstituts sind unbedingt zuverlässig, Mister Gaupenberg … Wir werden von unserer Firma so gut bezahlt, daß wir es nicht nötig haben, faule Geschichten zu machen …!“

Randercild seinerseits rief nicht minder überzeugungsvoll:

„Und meine Dienerschaft scheidet gleichfalls aus! Ich habe meine …“

„Verzeihen Sie …“ unterbrach der Graf ihn … „Das alles ist ja recht gut und schön … Aber die Zuverlässigkeit so manches Menschen kommt ins Wanken, wenn große Summen geboten werden … Ein Verräter existiert! Ob er unter den Detektiven oder …“

Gaupenberg schwieg plötzlich …

Unten an der Terrassentreppe war der Hausmeister Roussell, der würdige Herr mit den Manieren eines Oberzeremonienmeisters, aufgetaucht …

Er hielt einen Umschlag in der Hand …

Hielt ihn etwas empor …

Und die Marmorstufen hinanklimmend, rief er:

„Für Seine Erlaucht, den Herrn Grafen Gaupenberg …“

Dieser nahm die Depesche entgegen und öffnete den Verschluß, faltete sie auseinander … Las vor:

„Zur Zeit Port au Prince, Haiti

Mafalda und Lomatz auf Dampfer ‚Philadelphia’ nach Neuyork unterwegs. Bitte beide vor Landung dort wegen Ermordung eines Teiles der Besatzung des ‚Star of Manhattan’ verhaften zu lassen. – Wir vier werden Port au Prince sofort im Flugzeug verlassen und von Key West aus Eisenbahn benutzen. – Gerhard Nielsen, Gottlieb, Pasqual, Gipsy Maad und Kognak.“

„Da haben wir’s!“ rief Randercild jetzt, nachdem Gaupenberg kaum das letzte Wort des Telegramms vorgelesen hatte. „Da haben wir’s …! Natürlich kennt Mafalda oder Lomatz diesen Verbrecher, diese … Null, – und natürlich haben sie ihm ebenfalls durch Depesche mitgeteilt, daß hier in meinem Palast jetzt die Sphinx zu finden ist!“

Aber Tom Jolling erklärte nun bescheiden, trotzdem jedoch sehr bestimmt:

„Mister Randercild, wer sich auch unter diesem Verbrechernamen ‚die Null’ verbirgt, niemals würde dieser geriebene Bursche selbst ein Chiffretelegramm sich senden lassen, zumal von Leuten, die jetzt derart in aller Munde sind wie die Fürstin und dieser Lomatz! – Nein, so gern ich auch durch diese Lösung der Frage, wer der Null die Ankunft der Sphinx verraten hat, jeden Verdacht von mir, meinen Kollegen und der Dienerschaft hier abwenden würde – diese Lösung ist falsch!“

Und auch Gaupenberg sagte nun:

„Ich muß Mister Jolling beipflichten … Mafalda und Lomatz dürften kaum zu diesem Neuyorker Verbrecher Beziehungen unterhalten …“

Randercild polterte heraus:

„Dann bleibt also der Verdacht auf den Detektiven oder den Dienern sitzen …!!“

Jolling nickte. „Leider …!! Vorläufig wenigstens! – Immerhin ist auch das durch doppelte Wachsamkeit wettzumachen … – Mister Gaupenberg, was befehlen Sie unter den jetzigen Umständen?“

Graf Viktor wandte sich an seinen Freund Hartwich:

„Georg, und du …?“

„Ich schlage vor, daß die Goldbarren und die Schätze König Matagumas unverzüglich in die Stahlkammer des Palastes geschafft werden und daß diese ab nun stets durch zwei von uns bewacht wird, während die Detektive den Park und das Schloß weiter beaufsichtigen …“

Gaupenberg war einverstanden … –

Anderthalb Stunden später hielten die Panzerwände des Tresors von Palast Missamill die Milliardenladung der Sphinx umschlossen …

 

15. Kapitel.

Die Null.

Der Dampfer ‚Philadelphia’ befand sich etwa auf der Höhe von Kap Hatteras, als der zweite Steuermann nachts halb zwölf Uhr dem Kapitän meldete, daß im vorderen Laderaum Feuer ausgebrochen sei, das sich kaum würde bekämpfen lassen, da die leicht brennbare Ladung bereits in zu großem Umfang in hellen Flammen stände.

Zur selben Zeit nahm der Funkentelegrafist der ‚Philadelphia’ eine Depesche von der Neuyorker Polizei auf, daß zwei als Passagiere an Bord befindliche internationale Verbrecher, eine Fürstin Sarratow und ein gewisser Edgar Lomatz – es folgten genaue Personalbeschreibungen – festzunehmen und einzelnen zu bewachen seien.

Der Telegraphist wollte diese Depesche sofort dem Ersten Offizier vorlegen, der nachts den Kapitän vertrat. Er fand jedoch beide Herren auf dem bereits in dichten Qualm gehüllten Vorderdeck vor und wurde vom Kapitän grob angefahren …

„Lassen Sie mich jetzt zum Teufel mit solchen Lappalien in Ruhe …! Der Dampfer brennt … Wir müssen in die Boote … Hier ist nichts mehr zu retten …“

Der Telegrafist eilte, um seine Habseligkeiten zu packen. Er sah nicht, daß auf dem Promenadendeck zwei Gestalten halb hinter einer Treppe lehnten …

Zwei, die mit einem solchen Telegramm gerechnet hatten …

„Es klappt, Mafalda …,“ flüsterte Lomatz … „Das Feuer ist gerade zur rechten Zeit entdeckt worden … Ich sagte dir ja, es war das einzige Mittel, einer Verhaftung zu entgehen … – Komm jetzt in unsere Kabine … Die Passagiere werden sofort geweckt werden …“ –

Lomatz und Mafalda hatten hier auf der ‚Philadelphia’ als Professor Gallarall nebst Gattin Aufnahme gefunden, nachdem sie dem Zweimastschoner ihrer Verfolger so geschickt entwischt waren.

Nach einer halben Stunde saßen auch sie jetzt in einem der großen Kutter der ‚Philadelphia’, deren Funkentelegrafist noch durch Morserufe Verbindung mit dem amerikanischen Kreuzer ‚Panama’ bekommen hatte, der dann auch sehr bald auftauchte und die Passagiere und die Besatzung in der dunklen, regnerischen Nacht an Bord nahm.

Die jetzt lichterloh brennende und auf den Wogen treibende ‚Philadelphia’ spendete nebst den Scheinwerfern des Kreuzers bei dieser nächtlichen Hilfeleistung das nötige Licht …

Seltsamerweise fehlte jedoch eins der sieben Boote, der Kutter Nr. 3.

Wie es möglich gewesen, daß gerade nur dieses eine Boot bei dem geringen Seegang vollgeschlagen und weggesackt sein könnte, begriff so recht niemand. Noch unverständlicher war es, daß der Kutter Nr. 3 keinerlei Notsignal gegeben hatte.

Doch – an der Tatsache war nichts zu ändern! Das eine Boot mußte als verloren gelten! Der Kreuzer suchte noch eine Stunde – ohne Erfolg! Dann dampfte er davon. Die ‚Philadelphia’ war inzwischen gesunken. –

Auf diesem Kutter Nr. 3 hätte bestimmungsgemäß nur das Maschinenpersonal Platz finden sollen. Professor Gallarall hatte sich jedoch schon vorher mit dem ersten Maschinisten, der das Boot befehligte, angefreundet gehabt und dank seiner verblüffenden Überredungsgabe und dank der vielverheißenden Glutaugen seiner offenbar weit jüngeren Gattin auch erreicht, daß man ihn und seine Frau mit auf dem Kutter Nr. 3 nahm. Kaum war dann das Boot von dem brennenden Dampfer eine Strecke entfernt, als der geriebene Lomatz-Gallarall die zweite Komödie in Szene setzte. Er erklärte den Insassen des Kutters, daß der Funkentelegrafist lediglich auf Befehl des Kapitäns die Mär erfunden hätte, ein Kreuzer würde den Booten zu Hilfe kommen. Die Passagiere hätten eben nur beruhigt werden sollen. – Da dies durchaus glaubhaft erschien, kostete es Lomatz nur noch eine Handvoll Golddublonen, um die Leute zu bewegen, sofort den nächsten Punkt der amerikanischen Küste anzusteuern. Der nebelartige Regen begünstigte das unbemerkte Entweichen des Kutters. Als der Kreuzer ‚Panama’ eine halbe Stunde darauf in der Nähe des brennenden Dampfers auftauchte, war Kutter 3 längst außer Sicht.

Das Boot landete neun Stunden später in einer einsamen bewaldeten Bucht, und hier erst erkannten die Seeleute dann, daß das Ehepaar sie betrogen hatte, denn Mister Gallarall nebst Gattin verschwanden im Walde auf Nimmerwiedersehen, nachdem sie erklärt hatten, sie wollten sich lediglich nach einer Farm, einer Niederlassung oder nach einem nahen Dorfe umsehen. –

Auf diese Weise entgingen Lomatz und Mafalda dem von der Neuyorker Polizei drahtlos dem Dampfer ‚Philadelphia’ übermittelten Haftbefehl, mit dem beide von vornherein gerechnet hatten. Daß ihre Flucht dem Dampfer ‚Philadelphia’ gleichsam das Leben kostete, war ihnen höchst gleichgültig.

Auf einer Farm mieteten sie ein Fuhrwerk, das sie zur nächsten Bahnstation brachte. Abends trafen sie in Neuyork ein, wo Mafalda sowohl wie Lomatz von früher her als internationale Abenteurer noch nützliche Beziehungen hatten.

Im Chinesenviertel der Riesenstadt fanden sie in einer der breitesten und saubersten Straßen bei dem Antiquitätenhändler Tschang Lu ein sicheres Unterkommen.

Tschang Lu, ein überaus hagerer und ebenso bieder dreinschauender Mann, gehörte zu jener Sorte chinesischer Hehler, denen nie etwas nachzuweisen ist, weil sie eben bedeutend schlauer als die Polizei sind. Sein Haus war das modernste und größte der Straße, und lediglich die Nebengebäude des Grundstücks erinnerten noch in ihrer Baufällig- und Armseligkeit an jene Zeit vor zwanzig Jahren, als Tschang Lu hier einen winzigen Kramladen besessen hatte.

Der Chinamann, der durchaus alles Orientalische abgestreift hatte – äußerlich! – war mit seinen beiden Gästen, denen er wiederholt kräftig die Hand geschüttelt hatte, in eines der Stallgebäude hinübergegangen, wo genau wie im sonstigen Chinesenviertel ein unterirdischer Fuchsbau mit vielen Gängen, Geheimtüren und doppelten Wänden eingerichtet worden war.

Auf geheimen Wegen, die selbst ein Eingeweihter nur nach mehrfachem Passieren wiedergefunden hätte, brachte er Lomatz und Mafalda in ein Zimmer des Vorderhauses zurück, das nur diesen einen Zugang besaß, äußerst behaglich eingerichtet war, jedoch kein Fenster hatte.

Tschang Lu meinte schmunzelnd, daß hier schon allerlei Berühmtheiten wochenlang den Nachforschungen der Polizei getrotzt hätten …

Lomatz nickte zufrieden und überreichte dem ‚biederen’ Händler als vorläufige Bezahlung einen der Edelsteine, die er aus den goldenen Geräten der Flibustierbeute herausgebrochen hatte.

Tschang prüfte den Stein mit Kennermiene, erklärte dann achselzuckend:

„Leider gelblich – ohne Feuer … Wert vielleicht fünfhundert Dollar …“

Lomatz und Mafalda lachten ihm ins Gesicht …

„Fünfzigtausend, alter Gauner,“ sagte Lomatz dann. „Wir kennen uns, Freundchen … Behalte ihn …“

Tschang Lu grinste …

„Ja – wir kennen uns …!“ Der Stein verschwand in seiner Tasche. „Nicht fünfzig-, sondern sechzigtausend! Ihr sollt dafür auch besser verpflegt werden, wie im Astoria-Hotel …“

Dann verabschiedete er sich vorläufig. –

Als er seine im Erdgeschoß des Hauptgebäudes gelegene Privatwohnung wieder betreten hatte, war es elf Uhr geworden.

Sein Diener Tami, ein Mischling von Chinese und Negerin, meldete ihm, daß Mister Gordon ihn erwarte.

Tschang Lu fand Mister Gordon, einen graubärtigen buckligen Herrn, in seinem Arbeitszimmer vor, dienerte sehr ergeben und benahm sich hier ganz anders, als Mafalda und Lomatz gegenüber …

Der Bucklige wieder behandelte den Chinamann mit eisigem Hochmut.

„Setz dich,“ befahl er kurz …

Seine Stimme war rauh und offenbar verstellt …

Tschang Lu war hier in seinem eigenen Heim völlig zum Lakai geworden …

Schleunigst nahm er auf einem Stuhl Platz …

Gordon lehnte sehr bequem in einem der riesigen SaffianlederKlubsessel.

„Ich habe einen Auftrag für dich,“ erklärte Gordon mit gedämpfter Stimme. „In Josua Randercilds Sommerpalast Missamill sind verschiedene Gäste eingetroffen, darunter auch ein Graf Gaupenberg und sein Freund Hartwich, beide nebst Frauen. Diese beiden Damen müssen entführt werden. Hier hast du eine Zeichnung des Parkes, des Schlosses und einen Grundriß sämtlicher Stockwerke. Die Zimmerfenster der beiden Ehepaare sind angekreuzt. Du wirst die Zuverlässigsten und Gewandtesten deiner Freunde auswählen. Acht genügen. Ich überlasse es deiner asiatischen Schlauheit, wie du die Sache erledigen willst. Der Palast wird natürlich bewacht. Patrouillen von Detektiven umkreisen Schloß und Park. Morgen Nacht muß die Entführung stattfinden. Ich zahle für jede der Frauen hunderttausend Dollar. – Noch eine Frage, Tschang?“

Der Chinese rutschte auf seinem Stuhle beklommen hin und her …

„Mister Gordon, Ihr scheint Euch diesen Auftrag …“

„Stopp, lieber Tschang …! Du hast schon ganz andere Dinge befingert … – Morgen Nacht ein Uhr sind die Frauen hier …!! Verstanden!! – Und um deinem Erfindungsgeist nachzuhelfen: der Wettervoraussage gemäß wird es morgen regnen. Der Wind wird von Osten kommen. Wenn du einen Motorkutter benutzt, so könnt ihr mit einem Freiballon, den ihr auf See erst füllt, bequem auf das Dach des Schlosses gelangen. Technisch läßt sich das alles sehr wohl ermöglichen. Es ist ja nicht das erste Mal, daß wir einen Ballon in dieser Weise gebrauchen …“

Tschang nickte nur …

Gordon erhob sich, flüsterte noch leiser:

„Ich brauche kaum zu betonen, daß ich auf Befehl dessen hier mit dir verhandele, der über uns alle unbeschränkte Macht besitzt …“

Tschang verbeugte sich tief …

Dann geleitete er Mister Gordon bis zur Haustür.

Der Bucklige eilte die Straße hinab und sprang fünf Minuten später am Hudson-Ufer in ein kleines Boot, das er durch kräftige Ruderschläge in die Mitte des neblige Stromes trieb.

Hier zog er die Ruder ein und verwandelte sich durch ein paar Handgriffe in einen bartlosen jüngeren Mann ohne Buckel … Das Kissen, das die Rückgratverkrümmung vorgetäuscht hatte, warf er über Bord.

Und abermals eine halbe Stunde später öffnete er die Seitenpforte einer Parkmauer, schloß hinter sich ab und schritt einem umfangreichen schloßartigen Gebäude im sogenannten Milliardärsviertel zu, wo er offenbar daheim war. –

Nachdem Mister Gordon kaum das Haus des Chinesen verlassen hatte und kaum fünfzig Meter die Straße entlanggeeilt war, lösten sich aus den Einfahrten zweier Höfe derselben Straße vier schattengleiche Gestalten heraus, die Mister Gordon mit unheimlicher Gewandtheit folgten.

Aber diese vier, unter denen sich auch der Mischling Tami befand, mußten am Hudsonufer unverrichteter Sache kehrtmachen. Gordon war ihnen wieder einmal entwischt – bereits zum zwölften Male. Er verstand es ausgezeichnet, selbst die geriebensten Verfolger von sich abzuschütteln. In all diesen Nächten, wenn Tschang Lu versucht hatte, Mister Gordons Persönlichkeit zu enträtseln, machte dieser sich ganz plötzlich auf stets andere Art unsichtbar. Den Weg zu Wasser hatte er heute als neuen einfachen Trick gewählt.

Tami, ein Mensch von abschreckender Häßlichkeit, erstattete seinem Herrn jetzt in dessen Arbeitszimmer Bericht.

Tschang war enttäuscht, aber nicht ärgerlich. Er hatte längst eingesehen, daß man mit den gewöhnlichen Methoden nichts gegen Gordon ausrichtete.

Während er nun mit Tami, seinem Vertrauten, über Gordons heutigen Auftrag sprach, trat ein dritter, sehr dicke Chinese ein, der gleichsam zu der Geheimgesellschaft gehörte.

China ist bekanntlich wie kein anderes Land von Geheimbünden aller Art geradezu verseucht. Es mag dem Charakter der Chinesen entsprechen, in derlei geheimen Vereinigungen ihre asiatische Heimtücke und Hinterhältigkeit besser und unbestrafter ausüben zu können. Jedenfalls existieren auch überall da, wo die Söhne des Reiches der Mitte in größerer Zahl vertreten sind, ähnliche Vereinigungen, deren Zwecke und Ziele zumeist gewinnsüchtiger Art sind. –

Der neue Ankömmling nickte Tschang Lu und Tami kurz zu und ließ sich keuchend in einen der Klubsessel fallen.

„Er ist also wiederum entwischt,“ stieß der Dicke dann hervor. „Sati erzählte es mir. – Was wollte er?“

Tschang begann. Zuweilen kan bei dieser Schilderung doch der ohnmächtige Haß zum Durchbruch, den der Antiquitätenhändler gegen den weißen Tyrannen Mister Gordon empfand.

Auch des Dicken feistes Gesicht verzog sich wiederholt zu einer blutdürstigen Grimasse, die mehr komisch als erschreckend wirkte.

Als Tschang geendet, platzte der Dicke heraus:

„Hier ist die neueste Abendnummer des ‚Neuyork Herald’ …“ – Er holte sie aus der Jackentasche hervor. „Ich werde euch mit einem Artikel bekannt machen, der diesen neuesten Befehl unseres Quälgeistes in ein besonderes Licht rückt …“

Er las vor:

„Sicheren Nachrichten zufolge, ist die Jacht ‚Star of Manhattan’, die Mister Josua Randercild gehörte, an der Ostküste von Gouadeloupe gestrandet und infolge Kesselexplosion völlig zerstört. Unsere letzten Meldungen über den Stand des Kampfes um den Azorenschatz können wir also dahin ergänzen, daß Mister Randercild und die berühmten Sphinxleute irgendwo von den Gegnern des Grafen Gaupenberg um die Jacht bestohlen worden sind. Man kann gespannt sein, was sich nun weiter ereignen wird. Wir haben zwei unserer findigsten Reporter im Flugzeug nach Gouadeloupe geschickt und sind daher in der Lage, mitzuteilen, daß die Hauptgegner des Grafen, bekanntlich die Hochstaplerin Fürstin Sarratow und der Abenteurer Edgar Lomatz sich auf dem auf See in Brand geratenen Dampfer ‚Philadelphia’ befunden haben müssen, trotzdem aber unter den vom Kreuzer ‚Panama’ aufgenommenen Passagieren nicht zu entdecken waren. Außerdem meldet uns ein Funkspruch eines unserer Reporter, daß vier der Sphinxleute kurze Zeit in Basseterre auf Gouadeloupe geweilt haben, fraglos als Verfolger der Sarratow und jenes Lomatz. Das Ringen um die ungeheuren Goldbarrenschätze nähert sich jetzt gewissermaßen den amerikanischen Gestaden und dürfte deshalb unseren Lesern immer interessanter werden. In der nächsten Nummer unseres Blattes hoffen wir bereits wieder einige neue Einzelheiten berichten zu können.“

Tschang Lu saß jetzt mit offenem Munde da.

Bisher hatte er sich um den Kampf um den Azorenschatz nicht gekümmert. Jetzt wußte er plötzlich, daß er seit heute mit zu den Gegnern Gaupenbergs sich rechnen mußte. Jetzt erst erfuhr er, daß seine alten Bekannten Mafalda und Lomatz in diesem grandiosen Spiel um Milliarden Hauptrollen übernommen hatten, und daß jetzt eine neue Macht in dieses Ringen eingriff: Mister Gordon, der Abgesandte der gefährlichen, unheimlichen ‚Null’ …!!

Der dicke Chinese nickte nun Tschang mit einem infamem Grinsen zu …

„Merkst du etwas, Tschang?! Merkst du, daß wir jetzt durch Mister Gordon weit mehr wissen, als der ‚Neuyork Herald’?! Dies Sphinxleute sind im Schlosse Missamill, und Mister Gordon will die beiden Frauen nur deshalb in seine Gewalt bringen, damit …“

Er schwieg …

Ein ganz leises Glöckchen, das über dem Schreibtisch Tschangs hinter der Tapete angebracht war, hatte mit feinem Klingen angeschlagen …

Tschang war emporgefahren …

Tami starrte ihn an …

Der Dicke wieder glotzte auf die Stelle, wo das Glöckchen jetzt in einzelnen Schlägen sein Stimmchen erschallen ließ …

„Sie rufen …,“ flüsterte Tschang …

„Um Hilfe …,“ ergänzte Tami …

Und der Dicke: „Etwa die Polizei?!"

Tschang leckte die Lippen …

„Wir müssen nachsehen … Ich habe Lomatz bedeutet, daß er nur im dringendsten Notfall das Alarmsignal geben soll …"

Die drei begaben sich in den Hof – in den Stall – durch dunkle Gänge und versteckte Türen bis in das geheime Zimmer …

Tschang hatte geklopft …

Als keine Antwort erfolgte hatte Tschang geöffnet …

Auf dem Tische vor dem Rohrsofa brannte noch die Petroleumlampe …

Doch das Zimmer war … leer …

Am Lampenfuß lehnte ein Blatt Papier – – Maschinenschrift:

An Tschang Lu!

Du hast deine Gäste verschwiegen. Ich nehme sie dir ab.

0.

Die drei Mitglieder des chinesischen Diebes- und Hehlergeheimbundes riefen wie in einem Atem:

„Die Null …!!“

Und Tschang fügte hinzu:

„Die Null kennt selbst diesen Raum!“

In seiner Stimme bebte mehr als gewöhnliche Angst.

Der Dicke fiel in einen Rohrsessel … Er war seltsam fahl geworden, stammelte:

„Dann … dann kennt er auch …“

Tami, der Widerwärtige, schrillte dazwischen:

„Still – – still!! Weißt du denn, ob er nicht noch hier ist?! Wir haben mit ihm Dinge erlebt, die niemand für möglich hält …“

Die drei schauten sich argwöhnisch um … Spähten in jeden Winkel …

Das eine Bett war durch einen Vorhang vom Restraum abgetrennt.

Dieser Vorhang bewegte sich jetzt … Die beiden Teile des schweren Stoffes öffneten sich …

In dem Rahmen dieser lilageblühmten Vorhangteile stand ein schlanker, mittelgroßer Mann im engen schwarzen Schoßrock der englischen Geistlichen …

Ein Mann mit leichenhaftem Gesicht, tiefliegenden Augen und einer unschönen Hakennase …

Auf dem Kopfe trug er einen schwarzen steifen Filzhut … An den Händen schwarze Zwirnhandschuhe … Die Rechte hielt er vor der Brust und drückte so ein schwarzes Buch mit Goldschnitt an sein Herz …

Die drei Chinesen hatten plötzlich schlotternde Unterkiefer bekommen …

Ihre Augen hingen voller Grauen an dem leichenhaften, bartlosen, von Falten durchkerbten Gesicht …

Wortlos schlug der Unheimliche die Vorhänge noch weiter auseinander …

Auf dem Bett lagen Lomatz und Mafalda, gefesselt und geknebelt …

„Weshalb hast du mir diese Gäste verheimlicht, Tschang Lu?“ fragte er nun mit merkwürdig farbloser Stimme …

Tschang stieß einen heulenden Laut aus und fiel in die Knie …

Wahnwitzige Angst verzerrte sein Gesicht …

„Du wirst diese beiden fortan als meine Gefangenen behandeln,“ fügte der Leichenhafte schon hinzu. „Sperre sie getrennt ein … So, daß niemand sie findet … Sprich kein Wort mit ihnen … Verpflege sie gut …“

Tschang winselte …:

„Alles wird geschehen, oh Sipa …!“

… Sipa aber war das chinesische Wort für … Null …

 

16. Kapitel.

Die kleine Spritze.

Abends zehn Uhr im Schlosse Missamill …

Vor einer Viertelstunde hatte Josua Randercild die Abendtafel aufgehoben. Seine Gäste hatten sich bis auf zwei in den Gesellschaftsräumen verteilt. Diese beiden, die jetzt die Wache vor der Stahlkammer übernommen hatten, waren Tom Booder, der Verlobte der lieblichen Toni Dalaargen, und Steuermann Georg Hartwich.

Als sie nun in die Kellerräume hinabstiegen, die aus dem harten Granit des Vorgebirges ausgesprengt und ausgemeißelt waren, leuchteten ihnen in den hohen Gewölben überall elektrische Lampen entgegen.

Vor der großen dicken Panzertür der Stahlkammer saßen in bequemen Stühlen zwei Detektive, Doktor Dagobert Falz und Graf Gaupenberg.

Die Ablösung geschah mit ein paar höflichen, nichtssagenden Redensarten. Noch immer lastete auf den Sphinxleuten der seelische Druck einer unbestimmten Angst vor unbekannten Gefahren, die ihnen und dem Golde drohten, das nun dort hinter der Panzertür lagerte.

Fast gleichzeitig erschienen hier unten auch zwei andere Detektive. Es waren Jolling und der kleine Bret Caag. Auch sie wollten von zehn Uhr bis morgens um zwei wachen …

Gaupenberg und Doktor Falz begaben sich nach oben in die Gesellschaftsräume. Randercild war hier nicht anwesend. Er hatte sich mit dem Privatsekretär Jacques Elvan in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Ein Milliardär, der wochenlang, wie Josua Randercild, als verschollen galt, findet stets eine ungeheure Menge von Briefen vor, die schleunigst zu beantworten sind.

Der kleine hagere Randercild saß an seinem Schreibtisch, in der Linken eine dicke schwarze Importe, in der Rechten einen Tintenstift.

Links von ihm, an einem zweiten Tische, der über und über mit Papieren bedeckt war, hatte Elvan Platz genommen und schrieb nieder, was sein Chef disponierte.

Elvan war ein frischer, jüngerer Mann mit klugem, bartlosem Gesicht. Die Hornbrille und die schlichte Kleidung sowie das glatt zurückgestrichene blonde Haar gaben ihm etwas Schulmeisterhaftes.

Randercild qualmte dicke Wolken aus der schweren Zigarre und machte ein sehr unzufriedenes Gesicht …

Jacques Elvan sagte mit Nachdruck:

„Es hilft nichts, Mister Randercild … Wir müssen den Untergang Ihrer Jacht den Neuyorker Hafenbehörden melden. Der ‚Star of Manhattan’ war in Neuyork beheimatet, und …“

„Schon gut … Also schreiben Sie das Nötige, Elvan … Im übrigen geht die Hafenpolizei der Verlust meiner Jacht gar nichts an … Wenn diese Anzeige dort einläuft, wird in wenigen Stunden bekannt sein, daß ich seit zwei Tagen wieder hier in Missamill weile und daß …“

„Entschuldigen Sie, Mister Randercild … Ihre Rückkehr und die Anwesenheit der Sphinxbesatzung hier im Palast hätte sich auf keinen Fall lange verheimlichen lassen … Wenn ich mir ein offenes Wort gestatten darf, diese Gäste werden Ihnen nur Unruhe bringen – und Unannehmlichkeiten …“

„Wenn schon …!! Dafür haben die Herrschaften mir vieles gegeben, was mir kein anderer zu geben vermag: Erlebnisse, von denen ich bis an mein Lebensende zehren werde! – Sie haben das alles nicht mitgemacht, Elvan, was wir auf der schwarzen Insel …“

Er schwieg … lauschte …

Knatternd trieb der Seewind schwere Regenschauer gegen die Fenster. Man hörte das Meer gegen das Vorgebirge brannden …

„Ein Unwetter …!!“ murmelte Randercild …

„Eine Nacht, wie geschaffen für große Verbrechen,“ sagte der rotwangige Privatsekretär ernst.

Randercild lachte hart auf …

„Unsinn, Elvan …!! Denken auch Sie etwa an die Möglichkeit, daß dieser geheimnisvolle Schurke mit dem sensationellen Kriegsnamen ‚Null’ sich an meine Stahlkammer heranwagen könnte?!“

Jacques Elvan hob nur etwas die Schultern …

„Unsinn!!“ rief der Milliardär nochmals … „Unsere Sicherheitsmaßnahmen sind so vielseitig, daß …“

Elvan hatte jäh die Hand gehoben …

„Da – – hören Sie, Mister Randercild?!“ flüsterte er …

„Was denn, zum Teufel?! – Mann, machen Sie mich nicht nervös …! Ich höre nichts als das Toben des Unwetters und bedaure die Detektive und meine Diener, die draußen Park und Schloß bewachen … – Was gab es denn, Elvan?“

Der Privatsekretär rückte seine Brille zurecht …

„Ich … ich kann mich getäuscht haben, Mister Randercild … Mir war’s, als vernähme ich einen Schrei aus weiblicher Kehle …“

Josua Randercild, Herr über Milliarden und über tausende von Menschenleibern in einigen vierzig Riesenfabriken, knurrte wütend:

„Einen Schrei …?! – Lächerlich …! Wie in Kriminalro … …“

Er wollte ‚wie in Kriminalromanen’ sagen …

Wollte …

Da hatte der würdevolle Mister Roussell die Tür aufgerissen …

Ohne vorher anzuklopfen …

Der steifleinene Oberzeremonienmeister des Palastes Missamill war wie mit Mehl bepudert – kalkweiß …

Randercild – mit einem Satz auf den Beinen …

„Roussell, was ist geschehen?“

Er eilte zur Tür, packte den Hausmeister bei den Schultern …

„Was ist geschehen?! So reden Sie doch …!“

Roussells falsches Gebiß klapperte im Munde wie leise Kastagnetten …

Roussell würgte hervor:

„Im … Keller … die Prinzessin … vier … Tote …“

Randercild verfärbte sind …

Dann stieß er den zitternden Mann beiseite und jagte den Flur entlang …

Ihm nach Jaques Elvan …

Und dort, wo in der Halle vor dem Parkausgang des Schlosses die Tür in die Gewölbe hinabführte, dort stieß Randercild auf Gaupenberg, der soeben die Kellertreppe emporgehastet kam …

„Ah – – Randercild …!“ rief der Graf atemlos … „Wo ist Ihr Leibarzt …? Rasch den Arzt … Ein Attentat auf die vier Männer, die die Stahlkammer bewachen … Die Prinzessin wollte ihren Verlobten dort unten besuchen … Fand Tom Booder, Hartwich und die Detektive Jolling und Caag neben ihren Stühlen auf dem Teppich liegen … Irgend jemand muß in den Kaffee, den man den Vieren hinunter gebracht hatte, Gift getan haben …“

Randercild stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus …

Gaupenberg wandte sich ein Elvan:

„Wo ist Doktor Bucley? Bitte – holen Sie ihn … Schnell!“

Der Privatsekretär eilte in den zweiten Stock empor … Bucley mußte bereits auf seinem Zimmer sein …

Der Graf, Randercild und der inzwischen gleichfalls in der Vorhalle angelangte Roussell stürmten die Kellertreppe hinab …

Im Vorraum der Stahlkammer drängten sich Randercilds Gäste, dazu Diener und ein paar Detektive um die vier wie leblos daliegenden Männer …

Das Schluchzen und Weinen der Prinzessin Toni und Ellen Hartwichs vergrößerten noch die allgemeine Verstörtheit …

Gaupenberg nahm jetzt seine Gattin beiseite …

„Liebling, es ist unbedingt nötig, daß ihr Frauen die beiden Bedauernswerten auf ihre Zimmer bringt … Sorge dafür …! Rede Ellen gut zu … Die Prinzessin ist ohnedies halb von Sinnen …“

Es gelang Agnes, Mela Falz und Fredy Dalaargen dann auch wirklich, die Weinenden nach oben zu führen.

Doktor Bucley erschien, untersuchte die vier … Und – alle atmeten auf …

„Nur tiefe Betäubung … – Ich habe ein Brechmittel mitgebracht …“ erklärte er … –

Bereits nach zehn Minuten erwachte Hartwich als erster …

Und gerade da war’s, daß Jacques Elvan auf dem Tische zwischen dem Kaffeegeschirr einen mit Maschine geschriebenen Zettel entdeckte:

Wozu all diese Umständlichkeiten?! Ich bekomme die Milliarden doch …!!

Die Null

Welche Wirkung diese ebenso freche wie unerklärliche neue Botschaft des geheimnisvollen Verbrechers unter den Anwesenden hervorrief, war unschwer zu verstehen …

Selbst Randercild war jetzt vollkommen sprachlos …

Niemand begriff, wer das Betäubungsmittel in den Kaffee getan haben konnte …

Noch weniger begriff man, wie diese hohnvolle Drohung der ‚Null’ auf den Tisch hier dicht vor der Panzertür gelangt sein konnte … –

Auch Tom Booder, Jolling und Bret Caag erholten sich rasch.

Sie konnten jedoch zur Sache ebenso wenig angeben wie Steuermann Hartwich.

Während man noch hier im Vorraum die vier glücklich dem Leben wiedergeschenkten umstand, waren vor dem Parktor des Schlosses vier in Regenmäntel gehüllte Gestalten angelangt, die der Torwächter dann erst nach längerem Verhör einließ. Es waren Gerhard Nielsen, Gottlieb Knorz, Pasqual Oretto und Gipsy Maad, die infolge einer Panne des von ihnen benutzten Flugzeuges erst jetzt in der Nähe des Schlosses gelandet waren.

So kam es, daß diese vier, die auf Gouadeloupe leider erfolglos Mafalda und Lomatz nachgestellt hatten, jetzt gerade in diese erregte Versammlung hier im Vorraum der Stahlkammer hineinplatzten …

Ein trübes, ernstes Wiedersehen war’s …

Gaupenberg drückte den Freunden kräftig die Hände.

Mit wenigen Worten weihte er sie in die neuesten Verwicklungen ein …

Gipsy Maad hörte still zu …

Für sie als Berufsdetektivin war diese unheimliche ‚Null’ in der Tat ein seltener Fall …

Sie hatte bisher von diesem Verbrecher nur in den Zeitungen gelesen, da sie ja seit vielen Monaten in Taxata zusammen mit ihrem jetzt ums Leben gekommenen Chef tätig gewesen war.

Auch Nielsen lauschte Gaupenbergs Angaben mit jener abgeklärten Ruhe und jener raschen Auffassungsgabe, die bei ihm niemals versagten.

Er begrüßte Hartwich und Tom Booder und machte sich auch mit Jolling und Caag bekannt.

Dann übernahmen zwei andere Detektive, Murat, Dalaargen und Pasqual die Wache vor der Tresortür. Alle übrigen begaben sich nach oben in Randercilds Arbeitszimmer, wo man nochmals die augenblickliche Lage beraten wollte. – –

In dieser selben Nacht hatte sich ein großer gedeckter Kutter dem Vorgebirge Missamill bis auf dreihundert Meter mit abgeblendeten Lichtern genähert und trotz des hohen Seegangs mit Hilfe besonderer Vorrichtungen einen Freiballon mit Gas gefüllt. Im Korbe des Ballons, den der Sturm immer wieder in die Wogen drückte, befanden sich vier Chinesen in europäischen Anzügen.

Der Ballon schoß dann empor …

Der offenbaren sehr geübte Führer brachte die riesige Glaskugel trotz strömender Regenfluten am linken Eckturm des Palastes zur Landung, indem er im selben Augenblick, als der Korb gegen die Mauer prallte, die Reißleine zog und so die seidene pralle Hülle entleerte.

Die vier Chinesen hatten lange Leinen, Eisenhaken und anderes mitgenommen.

Bald darauf ließen sie sich an Leinen zu den Fenstern der beiden Zimmer hinab, in denen Gaupenberg und seine Gattin wohnten.

Sie drückten eine Scheibe ein, kletterten in den Salon und verbargen sich hier hinter einem Wandschirm.

Als sie in diesem Versteck kaum zehn Minuten geweilt hatten, ging die in den Flur mündende Tür auf und … die bucklige Gestalt jenes Mister Gordon schlüpfte herein … – jenes Gordon, der dem Händler Tschang Lu den Befehl zur Entführung Agnes Gaupenbergs und Ellen Hartwichs übermittelt hatte …

Gordon drückte die Tür hinter sich ins Schloß und fragte dann in das Dunkel hinein:

„Hallo – Sipa …!! Seid ihr zur Stelle?“

Einer der Chinesen meldete sich – der Ballonführer …

„Zur Stelle, Mister Gordon …“

„Gut … Die beiden Frauen befinden sich im dritten Zimmer von hier … Beeilt euch …! Ihr seid jetzt ganz sicher … In den Kellern ist etwas geschehen, das euch die Sache erleichtert hat …“

Und – er schlüpfte wieder hinaus in die leeren Korridor – die Treppe hinan in den zweiten Stock – verschwand hier in einem leeren Zimmer … –

Agnes und Ellen saßen eng umschlungen auf dem Sofa im Wohnraum des Ehepaares Hartwich.

Agnes war es geglückt, Ellens Sorge und Angst um Hartwichs Leben zu zerstreuen …

„Es kann sich nur um ein Betäubungsmittel handeln …,“ hatte sie immer wieder betont. „Ein Gift hätte längst den Tod herbeigeführt … Doktor Bucley wird uns sehr bald Bescheid bringen …“

Aber – es war nicht Randercilds Leibarzt, der jetzt urplötzlich in das Zimmer eindrang …

Es waren vier Chinesen in regentriefenden Anzügen …

Vier, die sich wortlos auf die Frauen stürzten, die im Nu die völlig Überraschten durch ein narkotisches Mittel wehrlos gemacht hatten …

Vier, die dann ihre Opfer an den Seilen auf das Dach hißten, die an anderer Stelle des Daches auf ein Lichtsignal von der Parkmauer her den Abstieg wagten.

Die auch ohne Hindernis ins Freie gelangten, die ein geschlossenes Auto auf dem Wege draußen vorfanden …

Kein Hindernis …

Denn Tschang Lus Freunde hatten drei der Parkpatrouillen schon vorher mit Gummiknütteln hinterrücks niedergeschlagen …

Und – alles war glatt abgelaufen – wie ein Uhrwerk …

So jagte denn nun das Auto mit den beiden Frauen und ihren Begleitern der Riesenstadt zu – bis zum Chinesenviertel, wo ebenfalls das Unwetter dichte Regenströme durch die Straßen trieb … – bis zum Hause Tschang Lus, in dessen Stallgebäuden sich Verstecke befanden, die man nur entdeckt hätte, wenn man die Baracken niederriß und den Erdboden darunter viele Meter tief durchwühlte … –

Derweilen saßen in Jusoa Randercilds Arbeitszimmer die ahnungslosen Herren und berieten noch immer über neue, noch bessere Maßnahmen zum Schutze der Milliardenwerte …

Eine einzige Frau befand sich unter ihnen. Gipsy Maad, die junge Detektivin…

Sie stand neben Gerhard Nielsen an einem mächtigen geschnitzten Bücherschrank und … schwieg genau wie er …

Diese ganze Versammlung erschien ihr wie ein zweckloses Wiederkäuen von Tatsachen, an denen nichts mehr zu ändern war.

Schließlich merkte Doktor Falz, daß Nielsen und Gipsy mit ihren Ansichten völlig zurückhielten.

In seiner gütigen väterlichen Art wandte er sich an die Detektivin und sagte freundlich:

„Sie haben soeben Ihren Kollegen Jolling sprechen gehört, Miß Maad … Wie denken Sie über die Sachlage?“

Gipsy erwiderte in ihrem frischen, munteren Tone:

„Ich habe bisher stets dasselbe gehört, nur mit anderen Worten und aus anderem Munde, Mister Falz … Meines Erachtens ist es wichtiger, daß wir endlich … den Verräter hier herausfinden, den Helfershelfer des Verbrechers. Alle Schutzmaßnahmen sind illusorisch, solange dieser Bursche frei umherläuft. Er hat der ‚Null’ nicht nur die Ankunft der Sphinx hier verraten, sondern auch jetzt das Betäubungsmittel in den Kaffee getan, hat auch die letzte schriftliche Drohung uns zukommen lassen … – Was er sonst noch alles gegen uns unternommen, läßt sich so ohne weiteres nicht überschauen. Jedenfalls wird er auch fernerhin alles durchkreuzen, was von unserer Seite geschieht … Wir sind machtlos, solange er uns schädlich sein kann …“

„Bravo!“ rief Nielsen leise und nickte Gipsy freundlich zu, so daß sie errötete …

Tom Jollings Hagerkeit rekelte sich in einem Sessel.

„Sie äußern da nichts Neues, Miß Maad,“ meinte er nun etwas gönnerhaft vertraulich, denn sie gehörten ja demselben Detektivinstitut an … „Wollen Sie mir vielleicht angeben, wie sie diesen Verräter zu finden gedenken?“ Das klang derart ironisch, daß Nielsen sofort für die Gefährtinnen der letzten Gouadeloupe Abenteuer Partei ergriff und zu Jolling ziemlich scharf sagte:

„Sie irren, Mister Jolling … Miß Gipsy hat doch Neues vorgebracht, indem sie eben diese Beratung hier als das kennzeichnete, was sie ist: Zeitvergeudung! Erst den Verräter packen, dann beraten, damit … nichts mehr verraten werden kann … Eine klare Sache …!“

Tom Jolling verbeugte sich höflich vor Nielsen, indem er sich halb im Sessel erhob … Dieser Nielsen imponierte ihm … Der Mann hatte so klare, granitharte Augen und so einen Zug um den Mund, als ob er alles und jedes nur vom Gipfel der eigenen Gleichgültigkeit gegenüber jeder Gefahr einschätzte …

„Ganz recht, Mister Nielsen,“ sagte Jolling. „Nur den Schuft finden – das ist der Witz! Die Auswahl ist zu groß … Wir sind jetzt hier vierzig Detektive und gegen zwanzig Diener Mister Randercilds … Unter diesen sechzig muß der Lump sich verkrochen haben … Doch – wer ist’s?!“

Nielsen lächelte mit einem Male … Es war das gutmütig pfiffige Friesenlächeln, das sich zuweilen auf seinem Gesicht zeigte …

„Nur sechzig?!“ meinte er. „Das stimmt nicht, Mister Jolling … Nein, Gerechtigkeit muß sein …! Auch das ganze Personal dieses Palastes, dazu der Besitzer und seine Gäste stehen unter demselben Verdacht … Jeder von diesen allen, auch ich, kann insgeheim der Spion dieses Mister Null sein …! Ich glaube, die Erweiterung des Kreises der zu Beargwöhnenden nimmt mir niemand weiter übel. Ich wiederhole, Gerechtigkeit muß sein!“

Josua Randercild rief: „Sie treffen den Nagel stets auf den Kopf, Mister Nielsen …! Wir alle erscheinen belastet, und wir alle müssen daran arbeiten, zu allererst den verräterischen Schuft in Eisen zu legen.“

Gipsy Maad trat einen Schritt vor.

„Es wird sich doch wohl noch feststellen lassen, wer Gelegenheit gehabt hat, etwas in die Kaffeekanne zu schütten … Wir müssen diese Kanne, aus der …“

Doktor Bucley, des Milliardärs Leibarzt, fiel der Detektivin ins Wort …

„Entschuldigen Sie, Miß Maad … Ich habe dieser Kaffeekanne gleichsam von der Küche bis in den Vorraum der Stahlkammer nachgespürt. Elvan hat mir dabei geholfen. Wir haben folgende Personen ermittelt, die in Frage kämen: der Koch Savalle, zwei Küchenmädchen, der zweite Koch Ripello, der Diener Francois, der den Kaffee in den Vorraum trug, Mister Roussel, der Hausmeister, der diesem Diener begegnete, dann Elvan, der ihn gleichfalls traf, schließlich noch die Detektive Cormans und Gesport, die gerade abgelöst wurden …“

Doktor Bucley hielt ein Notizbuch in der Hand, in dem er all dies aufgeschrieben hatte.

Er fuhr fort: „Der Diener Francois, übrigens schon zehn Jahre in Mister Randercilds Diensten, hat mir versichert, daß während des Transportes der Nickelkanne von der Küche in den Vorraum hinab niemand der ihm Begegnenden die Kanne auch nur berührt, geschweige denn etwas hineingeschüttet hat. Mithin bleibt der Verdacht vorläufig auf dem Küchenpersonal haften …“

„Vernehmen wir die Leute!“ befahl Randercild mit nervöser Gereiztheit. „Wir wollen Gericht halten … Aber die Polizei soll aus dem Spiele bleiben …! So wahr ich Jusoa Randercild heiße, meine Ehre und die meines Hauses sind durch diese Schurkereien in Frage gestellt worden! Ich will reinen Tisch machen …!“

Gipsy Maad, die sich wieder neben Nielsen an den Schrank gelehnt hatte, schien jetzt etwas äußern zu wollen, öffnete schon den Mund …

Aber Gerhard Nielsens kräftiges Räuspern übertönte die ersten Silben des Wortes, mit dem sie ihre Erklärung einzuleiten gedachte. Und ein leiser Stoß mit dem Ellenbogen warnte sie noch eindringlicher vor der Preisgabe dessen, was sie entdeckt haben mochte.

Niemand achtete auf die Beiden, da Jacques Elvan sich schon mit lauter Stimme erboten hatte, die Leute aus der Küche herbeizuholen, und jetzt das Zimmer verließ, gefolgt von dem würdevollen Mister Roussel, den seine vielseitigen Hausmeisterpflichten von hier fortriefen.

Die Zurückbleibenden verharrten schweigend …

Wenn jemand etwas zu seinem Nachbar sprach, geschah es im Flüsterton …

So auch Nielsen zu Gipsy.

„Miß Maad,“ raunte er ihr zu, „ich habe Sie vorhin im Vorraum beobachtet … Sie fuhren rasch mit dem Zeigefinger über den Hals der Nickelkanne hin und führten den Finger zu Munde …“

„Ja …“ – und Gipsy hauchte die Worte nur … „– ja, ich bemerkte etwas wie Wassertropfen an dem Kannenhals … Ich schmeckte – und die Fingerspitze hatte ein eigentümlich faden säuerlichen Geschmack … Die Tropfen waren ein Teil des Betäubungsmittels … Ich behaupte, daß man das Narkotikum mit einer kleinen Spritze in die Tülle der Kanne hineingespritzt hat, ohne daß der Diener Francois davon etwas ahnte … Ein geschickter Mensch kann eine kleine Injektionsspritzte bequem in der Hand verbergen …“

Nielsen warf Gipsy einen besonderen Blick zu …

Ja – in diesem Moment imponierte sie ihm …! – ‚Weiß Gott – das kleine Frauenzimmer hat Hirn im Köpfchen!’ dachte er, und ein ganz leises Gefühl von Zärtlichkeit regte sich in seinem Herzen für das frische Mädel, daß ihn liebte und daß doch so wenig Aussicht hatte, jemals Frau Gipsy Nielsen zu werden.

„Nichts davon verraten …!“ flüsterte er jetzt hastig zurück. „Nichts …!! Wir beide sind fortan Verbündete, Gipsy … Wir beide schaffen’s … Wir werden diesen Schuft entlarven, der …“

Mit einem Krach wurde da die Flurtür des Zimmers aufgestoßen …

Auf der Schwelle der Hausmeister Roussell – – in ähnlicher körperlicher und geistiger Verfassung wie vor einer Stunde, als er seinem Herrn das Unheil im Vorraum der Stahlkammer meldete …

Nein – – nicht in ähnlicher Verfassung …

Weit schlimmer …

Schlotternd an allen Gliedern … Schweiß auf Stirn und Wangen …

Hinter ihm Mela Falz, die Prinzessin Toni und die beiden Gouadeloupe-Mädchen Yvonne und Ninon.

Melas helle Stimme verkündete das neue Schrecknis:

„Agnes und Ellen sind verschwunden … In Ellens Salon liegt ein Wattebausch, der nach Chloroform riecht … Und in Agnes’ Salon ist eine Fensterscheibe eingedrückt und die Balkontür steht offen … Der Regen hat das Zimmer überschwemmt …“

Stille …

Stille folgte dieser Unglücksbotschaft …

Jene Stille, die niemand durch einen Laut zu stören wagte, weil eben jeder begriff, daß die beiden jungen Frauen entführt worden waren …

Gaupenberg und Hartwich schauten sich wilden Blickes an …

Wortlos stürmten sie als erste nach oben …

Das Arbeitszimmer leerte sich.

Zuletzt lehnten nur noch Gipsy und Nielsen an dem Riesenschrank …

Der Privatsekretär Elvan hatte das Küchenpersonal wieder weggeschickt, als er im Flur den nach oben Hastenden begegnete … –

Nielsen winkte Gipsy …

„Setzen wir uns,“ meinte er leise …

Er ergriff ihre Hand … Und Hand in Hand nahmen sie auf dem Klubssofa Platz.

„Gipsy,“ sagte Nielsen, „nun wissen wir auch, weshalb die vier da unten betäubt wurden … Die allgemeine Aufmerksamkeit sollte sich auf die Kellergewölbe konzentrieren … Ein feiner Streich!! – Auf wen haben Sie Verdacht, Gipsy?“

Gipsy Maads strahlendes Gesicht verriet den Herzensjubel, daß nun die Schranke zwischen ihr und dem blonden Deutschen halb gefallen war …

„Roussell!“ erwiderte sie bestimmt. „Roussell hat den Diener Francois auf der Treppe angesprochen … Er hat es mir selbst erzählt … Er wollte jedem Argwohn gegen sich von vornherein die Spitze abbrechen. Er wußte, daß ich Detektivin bin … Mein Name ist in Neuyork nicht ganz unbekannt …“

„Ah – also der …!!“ Nielsen pfiff durch die Zähne … „Nun – – aber er soll seit vierzig Jahren den Randercilds in Treue dienen – – vierzig Jahre!“

„Es gibt Zwangsmittel … Es gibt Lebensverhältnisse, die ein anderer zu Erpressungen ausnutzen kann … Freiwillig wird er nicht zum Schurken geworden sein …“

Aber Nielsen wiegte bedenklich den Kopf hin und her …

„Der Alte ist ein Hampelmann … Und sollte er so heucheln können …?! Er sah bemitleidenswert aus, als er hier vorhin eintrat …“

„Schlechtes Gewissen …!“

„Mag sein …“

„Wenn wir die Spritze finden würden, wäre er überführt … – Vorwärts, er wohnt im linken Seitenflügel… Durchsuchen wir seine Räume …!“

„Oh – – bravo, Gipsy …!! Los denn! Ich mache mit …! Die Gelegenheit ist günstig …“

Sie eilten hinaus …

Fanden leere Flure …

Fanden die Tür mit dem Messingschild

Albert Roussel
Hausmeister

Der Schlüssel steckte von außen, war nur umgedreht.

Drei Zimmer … Behaglich wenn auch bescheiden …

Gipsy suchte …

Suchte mit dem Geiste – auf Grund ihrer Berufserfahrung …

Im Arbeitszimmer Roussells, das halb als Büro eingerichtet war, fand sie in einer mit Tannenzweigen gefüllten Vase auf einem Rauchtischchen zwischen den grünen Nadeln eine kaum fingerlange Nickelspritze …

Darin war noch ein Rest klarer Flüssigkeit …

Gipsy schmeckte …

Sagte: „Das Narkotikum …!! Also doch Albert Roussell!“

Nielsen steckte die Spritze zu sich …

„Gehen wir … Wir werden zunächst nur die Hauptpersonen einweihen … Roussell würde leugnen … Und nur durch ihn werden wir Agnes und Ellen wiederfinden … Der Alte soll ahnungslos bleiben …“

„Dann stecken Sie die Spritze wieder zwischen die Tannenzweige, Mister Nielsen … Das verlangt die Logik … Das Fehlen der Spritze wäre für den Alten ein Warnungssignal …“

Nielsen nickte ihr zu …

„Sie sind doch in manchen klüger als ich …!“

„Nur erfahrener in solchen Dingen … – Verschwinden wir …“

Als sie den Flur wieder entlangschritten und in den Hauptflügel einbogen, tauchte aus einem Zimmer gegenüber der Wohnung Roussells Gordon, der Bucklige, auf …

Betrat Roussells Räume, holte die Spritze hervor, steckte sie ein und huschte in das dunkle Zimmer zurück …

Die Spritze flog drei Minuten später vom Rande des Vorgebirges in die brüllende Brandung …

 

17. Kapitel.

Die Brüder der Roten Dschunke.

Der große Motorkutter, der mit abgeblendeten Lichtern sich an das Vorgebirge Missamill in Sturm und Regen herangeschlichen und den Freiballon unter so schwierigen Umständen glücklich in Fahrt gebracht hatte, – dieser Kutter landete nachts zwei Uhr am Nordufer des Hudson-Flusses, und seine Insassen, darunter auch Tschang Lu, der Antiquitätenhändler, zerstreuten sich in alle Winde.

Tschang Lu bestieg ein Mietauto und war gegen ein Viertel drei daheim. Sein Diener und Vertrauter Tami erwartete ihn bereits, meldete, daß die beiden weißen Frauen wie befohlen untergebracht seien und fügte hinzu …:

„Der Kapitän der roten Dschunke hatte für diese Nacht eine Versammlung befohlen, würdiger Tschang Lu … Wir müssen eilen … Sipa oder Mister Gordon dürften sich heute hier kaum mehr einfinden …“

Der hagere Händler schien diese Nachricht mit recht gemischten Gefühlen hinzunehmen.

„Und wenn einer der beiden nun doch kommt …?! Was dann?!“ meinte er mit einem Gesicht, das ebenso viel Angst wie stille Wut ausdrückte …

Der Mischling Tami erwiderte sehr bestimmt: „Weder Sipa, die Null, noch Mister Gordon sind jemals bei so schlechtem Wetter erschienen … – Gehen wir, oh Tschang Lu … Der Befehl des Kapitäns gilt mehr als die Angst vor Sipa …“ – Und auch er zischte den Namen Sipa mit solchem Haß hervor, wie dies nur ein Farbiger fertigbringt, dem Chinesenblut in den Adern fließt … –

Tschang und Tami verließen das Haus über den langgestreckten Hof, betraten hier einen früheren Wagenschuppen und stiegen durch eine Falltür in einen mit Brettern verkleideten Gang hinab, der bis zum vierten Nebengrundstück sich unter der Erde hinzog.

Dieses Grundstück gehörte dem chinesischen Schuhmacher Laong-Tse. Wenn schon Tschangs Besitztum ein Fuchsbau war, Loang-Tses Haus war unterirdisch wie ein Labyrinth!

Und hier versammelten sich jetzt in einem feuchten, muffigen großen Raume, der nur durch vier Petroleumlaternen erleuchtet war, die Brüder vom Geheimbund der roten Dschunke.

Als Tschang und Tami eintraten, fanden sie den Bund bis auf wenige Nachzügler, die sehr bald erschienen, in tiefem Schweigen um die langen Brettertische vereinigt.

Im ganzen waren es schließlich fünfunddreißig Chinesen aller Altersstufen und Berufe, die nun hier erwartungsvoll auf den kleinen, vertrockneten Laong-Tse schauten, der als ‚Kapitän der roten Dschunke’ auf erhöhtem Stuhle Platz genommen hatte.

Mindestens zehn der Brüder zeigten schon äußerlich durch ihre tadellose Kleidung an, daß sie den gebildeten Ständen angehörten.

Laong-Tse hatte vor sich auf dem rohen Holztisch ein Modell einer Dschunke stehen, deren aus Metall gegossener Rumpf knallrot angestrichen war.

Dann begann er mit einer merkwürdig schrillen Stimme:

„Es ist Zeit, daß er stirbt …“

Nur die beiden Sätze sprach er …

Jeder verstand ihn …

Laong-Tses zerknittertes Gesicht verzog sich in unheimlichem Haß …

„Er hat uns lange genug geknechtet … Er und Gordon müssen ausgetilgt werden …“

Wieder nur diese beiden Sätze …

Die Asiatenvisagen ringsum erstarrten in Haß …

„Er hatte uns bisher in seiner Gewalt … Er wußte zu viel von uns …“

Und diese beiden Sätze kamen röchelnd über Loang-Tses dünne Lippen …

„Jetzt – – ist’s genug …!! Wir sind keine Sklaven, die ihm das Geld zu Hunderttausenden zusammenstehlen müssen, während er uns mit lumpigen Trinkgeldern abfindet. – Brüder, jetzt hat Sipa, die Null, durch uns Milliarden sich verschafft … Die beiden Frauen sind Milliarden wert … Es sind die Frauen jener beiden Männer, die mit dem Luftboot Sphinx den Goldschatz der Azoren aus den Tiefen des Ozeans geborgen haben. Brüder, die Sphinx ruht im Parke des Milliardärs Randercild, und das Gold liegt in Randercilds Stahlkammer im Schlosse Missamill … Wir wissen es jetzt …“

Der kleine Schuhmacher, in Wahrheit ein diplomatischer Agent des Riesenreiches China, sprach jetzt kalt und geschäftsmäßig …

„Brüder, die beiden, die wir hassen, werden sterben, und der Azorenschatz wird unser sein …“

Einer der elegant gekleideten Gelben ließ ein zweifelndes ‚Und wie?!’ hören …

Laong-Tse maß den Kecken mit einem verächtlichen Blick …

„Wir alle … werden unsichtbar werden …“ erklärte er … „Wir alle verlassen Neuyork … Vorher sterben die beiden, und vorher werden auch die gefangenen Frauen fortgeschafft … Wir besitzen nicht nur den Motorkutter, sondern auch den Zweimaster … – Wir werden unser Eigentum hier in drei Tagen zu Gelde machen … Jeder – – jeder!! Und wir alle werden reich in die Heimat zurückkehren … Der Graf Gaupenberg muß uns eine Milliarde von dem Gold abtreten. Lösegeld für die Frauen!“

Pause …

Stille …

Asiatengesichter starrten vor sich hin, prüften den Vorschlag mit listigem Abwägen …

Der kleine Laong-Tse hatte sich niedergesetzt …

Zehn Minuten nichts … Nicht einmal ein Flüstern.

Dann winkte der armselige Laong-Tse dem hageren Tschang Lu …

„Redet du jetzt, oh würdiger Tschang … Dein Hirn ist wie das eines Dutzends von Männern … Berichte, was in dieser Nacht geschehen ist …“

Und Tschang begann …

Einer der anderen rief dazwischen:

„Und die Ballonhülle? Der Ballonkorb?“

„Hängen am Eckturm des Schlosses … an uneinsehbarer Wand… Können nichts verraten, sind aus dem Schuppen des hiesigen Aero-Klubs gestohlen …“

Ein dritter meldete sich …

Die allgemeine Aussprache über des Kapitäns Vorschlag begann …

Jeden Einwand entkräftete Laong-Tse … Sein Hirn war wie das von hundert Männern …

Immer deutlicher und eindrucksvoller schälte der kleine Gelbe den Plan aus dem Wust scheinbarer Schwierigkeiten heraus …

Eine Milliarde lockte … und die endliche Rache an Sipa und Gordon …

Asiatenaugen verloren die stumpfsinnige Gelassenheit …

Asiatenseelen malten sich den Foltertod der beiden Peiniger aus … –

Laong-Tse siegte …

Sagte noch: „Mister Gordon und Sipa werden jetzt schon der Frauen wegen häufiger zu Tschang kommen … Nach drei Tagen werden sie überwältigt, sobald sie sich zeigen … Ihre Drohungen verlachen wir dann … Wir verschwinden … Die Polizei findet keinen von uns … Der Zweimaster geht mit Ballast in See … Wir sind die Besatzung – – mit falschen Papieren … Ich werde alles vorbereiten …“

Der Rausch der Milliarde lag bereits über dieser Versammlung von Verbrechern …

Der Rausch wogte empor wie unter Sturmstößen, als Laong-Tse nochmals betonte:

„Eine Milliarde Lösegeld!!“ –

Um halb fünf Uhr morgens schlich man auseinander.

Tschang Lu und Tami kehrten durch den unterirdischen Gang heim … Als sie durch den baufälligen Wagenschuppen den Hof des Grundstücks betreten hatten, war der strömende Regen in einen dicken, schweren Nebel übergegangen. Man sah die Hand vor Augen nicht. Es war der berüchtigte Hudson-Nebel, der zu gewissen Zeiten dem Londoner Nebel nicht viel nachsteht.

Tami sagte leise: „So bleibt es den Tag über, oh Tschang Lu … Schlecht für uns … Bei solchem Wetter müssen wir mit Besuch rechnen …“

Tschang flüsterte: „Ich wünschte, dieser Nebel wäre drei Tage später gekommen … Dann hätten wir leichtes Spiel mit den beiden gehabt. – Sehen wir nach den Gefangenen …“

Der Hof glich im Zwielicht des Morgens einer endlosen grauen Wüste. Tschang tappte zur ausgemauerten Müllgrube hinüber. Sie war an einer Stelle bis obenan gefüllt. Der Müllberg fiel nach der anderen Seite steil ab, so daß hier die Mauer freilag. In sie war eine Tür aus Ziegeln eingefügt, unsichtbar für jeden, selbst für die schärfsten Polizeiaugen.

Tschang drückte sie auf, und Tami folgte ihm in den kleinen Vorraum. Nachdem die Tür wieder geschlossen war, zündete Tami eine hier bereitstehende Laterne an. Tschang hob aus dem mit Ziegeln ausgelegten Boden eine runde Falltür empor, die wie ein Deckel einen aus großen Kanalisationsrohren hergestellten Schacht von sechs Meter Tiefe verschloß, in dem eine schmale Eisenleiter angebracht war. Am Grunde des Schachtes glänzte Wasser. In die starken Zementrohre war etwa ein Meter über dem Wasser, das Moderduft und Gestank aushauchte, eine Öffnung ausgeschlagen, gerade weit genug, einen Menschen gebückt hindurchzulassen. Ein Gang lief aufwärts und erweiterte sich zu einer Grotte, die durch geschickt versteckte Ventilationsröhren von oben frische Luft empfing. Hier befanden sich acht Zellen aus starken Balken, innen mit Eisenblech ausgeschlagen, mit kleinen festen Türen, deren dreifache Riegel verschließbar waren. Gucklöcher mit Deckeln gestatteten ein Beobachten der Gefangenen in diesen ständig beleuchteten kleinen Verschlägen.

Tschang trat an die eine Tür heran und schob den Deckel von dem runden Fenster. Er sah Edgar Lomatz auf dem Strohsack der Pritsche liegen und schlafen. Neben ihm standen ein Tisch und ein Schemel. Rechts in der Ecke hinter einem dichten Vorhang waren wie in all diesen Zellen ein Waschbecken und ein Kasten mit Torfmullstreuung aufgestellt.

Tschang schritt zur zweitnächsten Tür. Hier war Mafalda untergebracht. Man hatte ihre Zeile durch ein eisernes Bett, einen Bastteppich und sonstige kleine Annehmlichkeiten komfortabler hergerichtet. Auch die Fürstin schlief. Auf dem Tischchen standen noch die Teller und das sonstige Geschirr von der Abendmahlzeit.

Eine leere Zelle befand sich noch auf dieser Seite. Gegenüber, ebenfalls durch eine leere Zelle getrennt, wurden Agnes und Ellen gefangengehalten.

Agnes Gaupenberg saß an dem Tischchen, das hier sogar mit einer weißen Decke belegt war. Vor einer Stunde war sie aus tiefer Betäubung erwacht und hatte sich dann von dem sauberen Bett mühsam bis zu dem gepolsterten Rohrsessel geschleppt.

Ein wütender Durst, die Folge der Chloroformnarkose, quälte sie. Auf dem Tischchen fand sie eine Kanne kalten Tee, ein zierliches Tässchen und einen Teller mit acht Kaviarröstschnittchen vor.

Agnes hatte wohl eine halbe Stunde lang in dumpfen Sinnen dagesessen, bevor es ihr gelungen war, die letzten Ereignisse in Schloß Missamill in ihrem Gedächtnis wieder aufleben zu lassen.

Die arme Gräfin Gaupenberg fühlte sich jedoch noch zu schwach, um sich so recht des Unheils bewußt zu werden, das sie aus ihrem jungen Eheglück herausgerissen und irgend welchen farbigen Schurken überantwortet hatte.

Gerade jetzt, als Tschang Lu sie beobachtete, füllte sie nun das Tässchen und trank vorsichtig einige Schlucke Tee, damit sich nicht etwa Übelkeit einstellte.

Das kalte Getränk erfrischte sie. Der Tee war nach chinesischer Sitte leicht mit Pfefferminz gewürzt.

Aber dieses Gefühl körperlicher Kräftigung ließ nun auch all jene wehen Empfindungen in ihr aufleben, die bisher durch Mattigkeit und geistige Stumpfheit niedergehalten worden waren.

Agnes, durch die Erlebnisse der letzten Monate längst in ihrem Wesen völlig verwandelt und aus zarter mädchenhafter Weltfremdheit zu zielbewußter Energie erwacht, nahm mit aller Bestimmtheit an, daß ihre und Ellens Entführung nur das Werk jenes Mannes sein könnte, der als ‚Null’ seit Monaten die Neuyorker Polizei in Atem hielt …

Ihre Tränen begannen zu fließen …

Die Sehnsucht nach dem Gatten, der nun ihretwegen sich in Angst verzehren würde, wuchs ins unendliche.

Und Tschang Lu schritt der übernächsten Türe zu.

Hob hier den Deckel von dem verglasten Guckloch.

Und im selben Moment, als er das Auge an das Guckloch brachte, zersplitterte mit einem Knall die kleine Scheibe …

Ellen Hartwich hatte sie mit einem von dem eisernen Bett losgewuchteten Stabe zertrümmert …

Tschang prallte erschrocken zurück …

Tschang sah eine Hand durch das Guckloch fahren – – eine schmale Hand, die eine Pistole hielt, eine jener winzigen Repetierpistolen mit Kaliber 5,2 Millimeter …

Eine Stimme kam aus dem Guckloch …

„Gelber Schuft, ich bin Ellen Hartwich, geborene Barrouph, bin Amerikanerin … Öffne die Tür, oder ich drücke ab …“

Das Guckloch war gerade groß genug, daß Frau Ellen über ihr Handgelenk hinweg noch in den Gang zwischen den Zellen hinausspähten konnte …

Tami, der gräuliche Mischling, rettete hier Tschangs Leben …

Er bedeckte rasch die Laterne mit seiner Jacke … Und tiefste Dunkelheit im Gange … Tschang schlüpfte zur Seite …

Ein Schuß knallte – wie ein Schlag auf einen Blechtopf …

Die Kugel zerspritzte am Eisenriegel von Lomatz’ Zellentür …

Dann hatte Tschang auch schon von unten Ellens Hand umklammert, riß ihr die Waffe aus den Fingern … Die noch in der Rundung des Gucklochs haften gebliebenen Glasstücke zerschnitten Ellens Haut … Sie fühlte das Blut fließen.

Und ihre lodernde Erregung ebbte ab …

Sie zog die Hand zurück, hielt nur den Deckel noch zur Seite und rief wieder:

„Gelber Halunke, man wird dich aufknüpfen …!“

Ein grober Hieb traf ihre Finger … Der Eisendeckel klappte herab …

Draußen im Zellengang sagte Tschang Lu gleichmütig zu Tami: „Gehen wir …! Von hier entflieht niemand … Die Gefangenen sind wohlauf“ …

Sie stiegen in den Hof des Grundstückes empor. Inzwischen war es heller Tag geworden. Der dicke Nebel lag jedoch wie eine Schicht grauer Schleier zwischen der Sonne und dem Häusermeer Neuyorks … Man ahnte sie nur … Trübe Dämmerung lag über Straßen, Plätzen, Parks …

Tschang begab sich in sein Schlafzimmer. Als er hier das elektrische Licht einschaltete, als die blendende Helle der aufglühenden Lampe die Schlichtheit dieses Raumes enthüllte, erblickte Tschang auf dem Diwan zu Füßen des Bettes den Mann sitzen, der sich zum Peiniger der Brüder von der roten Dschunke aufgeworfen hatte … den einen Mann, der mit leichenhaft starrem Gesicht, eingeknöpft in den frommen Rock, schlimmer als der Teufel über Leben und Tod entschied …

„Guten Morgen, Tschang-Lu …“ sagte Sipa, die Null … „Ich habe dich erwartet … Wo warst du?“

Tschang dienerte … grinste …

„Bei den Gefangenen, mächtiger Sipa …“

„So?! – Ich glaube, du lügst … Was tatest du anderthalb Stunden bei den Gefangenen?!“

„Gestatte eine Bemerkung, oh Herr …“ bücklingte Tschang mit fieberndem Hirn … Ob Sipa etwa wußte, daß bei Laong-Tse eine Versammlung stattgefunden hatte?!

„Ich war, nachdem ich mit dem Kutter den Anlegeplatz wieder erreicht hatte, bei dem Schumacher Laong-Tse,“ redete Tschang wie ein Automat. Er handelte lediglich unter dem Einfluß der Angst, … Ahnte gar nicht, wie ruhig er äußerlich erschien … „Ich wollte Laong-Tse um Rat fragen, oh Herr … Der Streich gegen das Schloß Missamill ist ja geglückt … Aber die Ballonhülle und der Ballonkorb sind am Turme hängen geblieben, und ich befürchte, daß …“

„Überflüssig!“ unterbrach der Leichenhafte ihn. „Was riet Laong-Tse dir?“

„Nichts, oh Sipa … Er wußte keinen Rat … Er sagte, unsere Leute hätten die Ballonhülle anzünden sollen …“

„Bei dem Regen?! – Ihr seid Dummköpfe … – Wer kennt denn die Diebe des Ballons?! Niemand! – Und die Gefangenen?“

Tschang wurde jetzt mit einem Schlage vollkommen ruhig …

Zum erstenmal hatte heute der Sipa sich hier eine Blöße gegeben … Zum ersten Mal zeigte er, daß er doch nicht allwissend, daß seine Spione doch nicht alles ermitteln konnten. Er hatte keine Ahnung von der Sitzung der roten Dschunke, und dies setzte ihn in Tschangs Augen tief herab. Tschang fühlte sich ihm überleben. Der Sipa hatte eben ‚sein Gesicht verloren, wie die Chinesen den Moment bezeichnen, in dem jemand auf dieselbe Stufe zu ihnen selbst herabsinkt …

Aber Tschang dienerte umso tiefer. Erklärte noch demütiger:

„Oh Sipa, die Gefangenen waren still … Nur die eine Mistreß, die mit dem aschblonden Haar, versuchte mich zu erschießen …“

Ein ironisches Lächeln flog über das fahle Totengesicht der Null …

„Ja – ihr benahmt euch recht geschickt,“ sagte er … „Nur ein Schuß ging gegen den Türriegel … Ich … weiß …“

Tschangs Schreck über diese Worte und dieses Lächeln war so übergroß, daß er zusammenknickte … Jetzt war er überzeugt, der Sipa hatte doch Kenntnis von der Versammlung bei Laong-Tse …! Das Gewitter würde sofort losbrechen …!

Er knickte zusammen … und warf sich vor dem Unheimlichen zu Boden, um diesen Schreck zu bemänteln …

Heuchelte …:

„Herr, ich bin schuldig … Ich hätte die Frauen nach Waffen durchsuchen sollen … Ich …“

„Es ist gut, Tschang … – Ich bin zufrieden mit dir und den deinen … Hier sind zweimalhunderttausend Dollar …“

Tschang hatte sich halb aufgerichtet …

Abermals trat bei ihm der jähe Wechsel von Angst zu verstecktem Triumph und … wahnsinniger Geldgier ein … Wie hypnotisiert starrte er auf die Banknoten …

Hinter ihm klappte eine Tür …

Der Sipa war verschwunden, war in den Hof hinausgeeilt, in den dichten Nebel …

Als er die Mauertür der Müllgrube geöffnet und den Vorraum zu dem Röhrenschacht betreten hatte, drückte er an einer der Verzierungen des Buches mit Goldschnitt und mit goldenem Kreuz auf dem Deckel

Das Gold der Schmalseite flammte an einer Stelle kreisrund auf und warf einen Lichtkegel in die Finsternis.

Der Leichenhafte kletterte die eiserne Leiter abwärts und war gleich darauf in dem Kerkerraum zwischen den Zellen. Hier schob er die Klappe vom Guckloch der Zellentür der Fürstin Sarratow beiseite und beobachtete Mafalda einigen Minuten. Sie saß jetzt an den Tischchen und rauchte eine der Zigaretten, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte.

Dann öffnete der Sipa die Riegel der schweren Tür und trat langsam ein.

Die sehr hoch hängende große Petroleumlampe beschien sein abschreckendes Gesicht …

Mafalda blickte ihn an.

Auch auf sie wirkte das Unheimliche dieser Erscheinung einen Moment wie lähmend …

Doch einen Moment nur …

Dann war sie bereits wieder große Abenteurerin ohne Nerven und ohne Herz …

„Ah – endlich ein Europäer …!“ sagte sie halb spöttisch. „Mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen …?“

„Mit dem, der Sie und Lomatz betäubte.“ – Und der Sipa zog die Tür zu und lehnte sich an die mit Eisenblech benagelte Wand …

„Ja – durch eine Gaspatrone …! Ein feiger Streich!“ meinte die Fürstin verächtlich. „Wenn ein Weißer und ein Gelber sich zusammentun, ist der Weiße stets der größere Lump …“

Der Sipa schüttelte leicht den Kopf …

„Ich hätte Sie für klüger gehalten, Fürstin … Durch diese Bemerkung stellen Sie sich etwa auf eine Stufe mit Hafendirnen … Eine Hochstaplerin Ihres Schlages habe ich mir doch mehr als Dame gedacht …“

Mafalda errötete … Wahrhaftig, sie errötete …!

„Entschuldigen Sie …,“ sagte sie dann. „Ich hätte nicht vergessen sollen, daß wir … Kollegen sind – so ungefähr … – Weshalb haben Sie Tschangs Gastfreundschaft für uns in Gefangenschaft umgewandelt?“

„Weil Sie und Lomatz zu ungeschickt sind, Fürstin … Ich mußte Sie aus diesem Spiel ausschalten … Sie hätten mir alles verderben können …“

Mafalda begriff sofort …

Sie setzte sich aufrechter …

„Ah – Sie jagen dem Azorenschatz nach?“ fragte sie merkwürdig zaghaft …

„Ja. Ich habe ihn bereits …“

„Sie … Sie haben … Sie …?!“

„Gewiß. Denn ich habe die Frauen der beiden Hauptfeinde in meiner Gewalt, Agnes Gaupenberg und Ellen Hartwich …“

Das Gesicht der Fürstin verzog sich ironisch …

„Optimist!! Und Sie hoffen wirklich, daß Gaupenberg Ihnen als Lösegeld die Milliarden ausliefern wird?! Oh – Sie kennen die Sphinxleute nicht! Sie sind denen gegenüber ein blutiger Anfänger …! Sie werden nichts erreichen – nichts!“

Der Sipa hatte die Arme über der Brust verschränkt … Das goldene Kreuz des Buches leuchtete matt im Lampenlicht.

„Ich bin weder Optimist noch Anfänger, Fürstin … Ich bin eigentlich nichts – ich existiere gar nicht. Ich bin wie eine Phantasiegestalt, um die sich mancherlei Taten ranken … Die Polizei hier nennt mich die Null … Die Chinesen, meine Sklaven, nennen mich Sipa, was ebenfalls Null bedeutet …“

Mafalda starrte den Leichenhaften überrascht an …

„Ah – – die Manhattan-Bank!!“ rief sie. „Ich weiß …!! Eine Beute von rund zwei Millionen … Ich las in den Zeitungen davon …“

„Es war ein gutes Geschäft, Fürstin, gewiß … Und doch ein Nichts gegenüber dem Azorenschatz, der durch die Aztekenwerte verdoppelt worden ist. Als ich in der Presse die ersten Artikel über die Sphinx und die Vorgänge auf der Märcheninsel Christophoro fand, war es bei mir beschlossene Sache, daß ich mich als Milliardär zur Ruhe setzen müßte. Meine Beziehungen reichen dank der Verbindung mit den Chinesen sehr weit. Eine Funkdepesche meldete mir die Ereignisse auf Gouadeloupe und dann auch den Brand der ‚Philadelphia’, das Verschwinden des einen Kutters und das Fehlen zweier Passagiere. Als Sie und Lomatz hier in Neuyork eintrafen, wurden die Bahnhöfe bereits seit zehn Stunden überwacht … Sie beide gingen hier zu Tschang Lu. Das war mir sehr recht. Denn – ich brauche sie beide, Fürstin …“

„Und deshalb sperrten Sie uns einen …!“

„Gewiß … Und Sie werden das Tageslicht nie wieder zu sehen bekommen, wenn Sie nicht blindlings gehorchen …“

Sein unbewegtes Gesicht, leichenähnlich zurechtgeschminkt, war wie eine undurchdringliche Maske …

Mafalda fühlte etwas wie einen kühlen Hauch im Rücken … Sie spürte, daß dieser Mann nicht drohen wollte, sondern nur tatsächlich Folgen warnend erwähnte. Drohen ist ein Zeichen von Schwäche. Dieser Sipa mordete fraglos ebenso gefühllos, wie er hier an der Zellenwand lehnte.

„Was verlangen Sie?“ fragte die Fürstin mit einiger Spannung.

„Zunächst genauen Aufschluß über die Charaktere der Sphinxleute, insbesondere Gaupenberg, Hartwich, Doktor Falz und Gerhard Nielsen. Den Zeitungsberichten nach sind diese vier am gefährlichsten.“

„Das wohl, und doch sind sie grundverschieden. Gaupenbergs ein Aristokrat und Erfinder mit einer starken Anlage zur Weichlichkeit in gewissen Momenten.“

„Er liebt seine Frau?“

Mafalda traf diese Frage wie ein schmerzhafter Stich …

Sie gedachte jener Tage, als Graf Viktor ihr allein gehört hatte, wo es ihr gelungen war, Agnes Sanden völlig zu verdrängen …

Ihre Wangen wurden farblos. Die dunklen Augen leuchteten auf … Die sinnlichen Lippen wurden schmal vor Haß …

„Ja – er liebt sie!“ erwiderte sie mit schweren Atemzügen. „Und doch würde er sie opfern … Das, was er als seine Pflicht ansieht, erfüllte er ohne Rücksicht auf seine eigene Person …!“

„Idealist …!! – – Und Hartwich?“

„Ein Seemann, zäh, ausdauernd, tapfer, klug … Nur kein Diplomat … Auch er liebt seine Gattin über alles, die er aus dem unterirdischen Reiche der Azteken unter höchster eigener Lebensgefahr befreit hat. Aber auch er würde sie opfern – – aus Pflichtgefühl!“

„Idealist …!! – Und der geheimnisvolle Doktor Falz?“

Mafalda schaute zu Boden …

„Falz … Doktor Dagobert Falz … – Ich könnte Ihnen vieles über ihn erzählen, Mister Sipa … Sie würden es nicht glauben … Er und ein zweiter der Sphinxleute sind … über den Tod erhaben …“

Sipa nickte nur … „Auch das war in den Zeitungen erwähnt – das Lebenselixier …! – Es ist also Tatsache?“

„Ich war Zeugin, daß vier Revolverkugeln, aus nächster Nähe auf den Doktor abgefeuert, ihm nichts antun konnten … Ich war Zeugin, daß er außerdem, mit der Gabe des zweiten Gesichts ausgestattet, Vorgänge schaute, die Hunderte von Meilen entfernt sich abspielten … Hüten Sie sich vor ihm, Mister Sipa … Er findet Agnes und Ellen …!“

„Oh – auch er wird verschwinden … – Und dieser Nielsen?“

Mafalda wurde lebhaft …

„Das ist der gefährlichste …! Das ist ein Mensch, der keine Nerven, desto mehr Verstand und Tatkraft hat … Das ist der, den ich kaltblütig niederschießen würde, wo ich ihn auch träfe …“

„Er ist bereits im Schlosse Missamill angelangt, Fürstin … Er wird verschwinden …“

Eine Weile Stille …

Dann sprach die Null weiter …

Leiser, trotzdem so, als ob er etwas vorläse …

Etwas, das in seinem Hirn fix und fertig war …

Ein Plan, wie Mafalda ihn niemals hätte ausklügeln können …

Die Fürstin starrte den Leichenhaften wie hypnotisiert an …

Atmet hastig …

„Gut,“ erklärte sie … „Ich bin bereit, Mister Sipa.“

„Ich wußte es, Fürstin … Bis dahin bleiben Sie hier verborgen … Es können noch Tage vergehen …“

Und er verließ ohne Gruß die Zelle … Die Türe schlug zu …

Mafalda hatte die Zähne in die Unterlippe gepreßt.

Sie sah ein, daß der Azorenschatz für sie verloren war, wenn dieses menschlich Ungeheuer am Leben blieb …!

 

18. Kapitel.

Albert Roussells Tod.

Etwa zu derselben Stunde saßen in Randercilds feudalem Arbeitszimmer im Schlosse Missamill wiederum eine Anzahl Herren um den langen Tisch herum. Eine einzige Dame war darunter, Gipsy Maad!

Außer ihr wohnten dieser Gerichtssitzung bei: Josua Randercild, Graf Gaupenberg, Georg Hartwich, Doktor Falz, Gerhard Nielsen und Gaupenbergs treuer Diener Gottlieb Knorz.

Es handelte sich jetzt um den gegen den Hausmeister Roussell aufgetauchten, so ungemein schweren Verdacht.

Nielsen hatte die Anwesenden vorhin einzeln und ganz insgeheim gebeten, hier zu erscheinen. Wie er mit Gipsy verabredet hatte, sollte nur ein kleiner Kreis zunächst in die jetzt feststehende Tatsache eingeweiht werden, daß der Verräter, der Verbündete der unheimlichen Null, lediglich Albert Roussell sein könne.

Soeben hatte Nielsen mit gedämpfter Stimme über Gipsys und seine eigenen Ermittlungen und Erfolge Bericht erstattet.

Kein Wunder, daß Jusoa Randercild aus seiner Sofaecke zornrot hochgeschnellt war und den alten Roussell mit allem Nachdruck in Schutz genommen hatte.

Sein Verteidigungseifer ließ jedoch gegenüber Nielsens so überaus bestimmten Angaben sehr rasch nach.

Nielsen betonte wiederholt, daß doch nur Roussell den ganzen Umständen nach das Betäubungsmittel in die Tülle der Nickelkanne gespritzt haben könne. In Roussells Wohnung sei die Spritze gefunden worden – schlau versteckt … Die Spritze habe sogar noch ein paar Tropfen des Narkotikums enthalten …

Mit leisem Ächzen sank der völlig niedergeschmetterte kleine Milliardär in seine Sofaecke zurück.

Neben ihm hatten Gaupenberg und Hartwich Platz genommen. Ihre Gesichter verrieten deutlich, wie furchtbar sie seelisch unter dem Gedanken litten, daß ihre Frauen sich jetzt in der Gewalt jenes unbekannten Verbrechers befänden. Anderseits aber bewies auch der harte, entschlossene Ausdruck ihrer Augen, daß sie sich hier durch gefühlsmäßige Einwände, wie Randercild sie soeben vorgebracht hatte, nicht beeinflussen lassen würden.

Als der Milliardär und Nielsen ihr Rededuell jetzt eingestellt hatten, sagte Gaupenberg fast schroffen Tones:

„Lieber Randercild, ich kann begreifen, daß diese Entdeckung der Schurkereien eines Mannes, dem Sie Ihr volles Vertrauen schenkten, Sie vollständig aus dem seelischen Gleichgewicht geworfen hat … Und doch, es handelt sich jetzt nicht mehr um Gold! Nein, es handelt sich um meines Freundes und meine eigene Gattin! Alles spricht gegen Roussell. Ich verlange, daß er sofort vernommen wird. Gerade Sie, Randercild, werden ihn unschwer zu einem Geständnis bewegen. Nielsen dürfte recht haben! Roussell ist zu diesen Helfershelferdiensten gezwungen worden …! Aus Geldgier hat er sich nicht dazu hergegeben …“

Randercilds rotes Gesicht war bleich geworden.

„Ich werde ihn holen,“ erklärte er fest … „Warten Sie hier, meine Herren … Niemand soll mir nachsagen, daß ich etwas versäumt habe, diese Entführung …“

Nielsen hatte sich aus seinem Sessel erhoben …

„Einen Augenblick,“ meinte er mit gedämpfter Stimme … „Wir wollen nichts übereilen …“ – Er wandte sich an Gaupenberg … „Sie, lieber Graf, und ebenso Hartwich haben ja im Verlauf des Kampfes wiederholt erfahren, daß nichts ein Unternehmen so sehr infrage stellt, als vorschnelle Entschlüsse. Gewiß, auch ich bin dafür, daß man Roussell sofort hier in unserer Gegenwart verhört. Nur muß dieses Verhör in einer Form stattfinden, die den Angeschuldigten nicht ahnen läßt, daß man bereits Beweise gegen ihn gesammelt hat. Ich bitte also, daß Sie, Mister Randercild, jetzt vor Roussell ein wenig Komödie spielen und so tun, als ob nichts gegen ihn vorläge, daß wir vielmehr nur von ihm Aufschluß über das Küchenpersonal haben möchten. Ich bitte ferner, mir die Formulierung der an den Hausmeister zu richtenden Fragen zu überlassen. Wenn ich auch nicht Detektiv oder Untersuchungsrichter bin, eins bin ich bestimmt – ein sehr guter Menschenkenner!“

Gaupenberg nickte Nielsen eifrig zu …

„Ja – Sie sollen die Vernehmung leiten, lieber Nielsen … Sie haben die richtige Art, Menschen zu behandeln …“

Auch Randercild war mit allem einverstanden und verließ nun das Zimmer, schritt die stillen Flure entlang und läutete an der Eingangstür zu Roussells Räumen.

Der Hausmeister war noch nicht zu Bett gegangen und öffnete sofort …

Randercild betrat das Büro seines Angestellten und sofort glitt sein Blick zu der Vase mit den Tannenzweigen hinüber …

Es fiel ihm unendlich schwer, den früheren freundlich vertrauten Ton Roussell gegenüber auch jetzt noch anzuschlagen …

Trotzdem blieb der alte Mann offenbar arglos und suchte sogar aus der Kartothek die Papiere des Küchenpersonal heraus, wobei er längere Zeit vor einem Bücherständer mit dem Rücken nach der Vase hin in den Kästen kramte.

Randercild benutzte diese Gelegenheit und untersuchte rasch und unauffällig die Tannenzweige …

Die Spritze war nicht mehr da …

Dann schritten Herr und Hausmeister dem Vordergebäude zu … Roussell mit den Papieren des Küchenpersonals in der Hand – fraglos immer noch ganz ahnungslos, was ihm bevorstand.

Als sie das Arbeitszimmer betraten, verbeugte der Hausmeister sich mit der ihm eigenen Würde vor den Anwesenden und nahm dann Nielsen gegenüber auf einem Stuhle in sehr aufrechter Haltung Platz.

Nielsen begann unverzüglich mit dem Angriff …

„Mister Roussell, der Schuft, der die Entführung der beiden Damen dadurch erleichtert hat, daß er das Betäubungsmittel in den Kaffee tat, muß noch vor Tagesanbruch entdeckt werden. – Wie denken Sie über den Diener Francois, der das Tablett mit der Kanne in den Vorraum der Stahlkammer trug?“

Der Hausmeister erwiderte ernst:

„Meine Ansicht über Francois wird stets dieselbe bleiben … Er ist über jeden Verdacht erhaben …“

„Sie trafen ihn doch, als er in die Kellergewölbe hinabstieg, Mister Roussell … War der Diener irgendwie erregt?“

„Nein … Ich sprach mit ihm und tadelte ihn, weil gerade die Nickelkanne gewählt worden war, die bereits ein wenig unschön wirkt … Er meinte, der Oberkoch habe die Kanne gefüllt … Jedenfalls war ihm keine Spur von Erregung anzumerken.“

„Sie trauen also auch niemandem von dem Küchenpersonal eine solche Lumperei zu?“

„Nein – niemandem! Ich kenne meine Leute, Mister Nielsen …“

„Nun – Miß Maad hat an dem blanken Mundstück der Kanne ein paar farblose Tröpfchen bemerkt, die, wie sie feststellte, Tröpfchen des Betäubungsmittels waren …“

Roussell schaute Nielsen erwartungsvoll an … – ganz so wie jemand, der als völlig Unbeteiligter noch Wichtigeres zu erfahren hofft.

Nielsen beobachtete ihn ständig … Aber auch er war enttäuscht – wie alle übrigen … Roussell benahm sich vollkommen harmlos.

So holte der blonde Seemann denn zu einem derberen Hiebe aus …

„Mister Roussell, wissen Sie, ob jemand hier im Schlosse eine kleine Injektionsspritzte besitzt …?“ fragte er erhobenen Tones …

Und – diese Sätze wirkten …

Wirkten wie ein Blitzschlag, der vor dem Hausmeister in den Boden fuhr …

Sein Zurückprallen, sein Erblassen waren fast schon ein Geständnis …

Scheu blickte er seinen Herrn an – schaute dann zu Boden …

Tonlos erklärte er:

„Ich … ich selbst besitze eine kleine Morphiumspritze …“

Nielsen blieb freundlich, höflich …

„Sind Sie denn Morphinist, Mister Roussell?“ meinte er …

Der Hausmeister seufzte hörbar …

„Leider – – zuweilen, Mister Nielsen … Nur zuweilen … Ich leide an Ischias. Die Schmerzen sind oft geradezu unerträglich … So habe ich mir den Gebrauch von Morphium angewöhnt …“

„Wo injizieren Sie sich das Gift?“

„In den linken Unterarm …“

„Wollen Sie bitte mal den linken Ärmel hochstreifen … Die Pünktchen der Spritze müssen noch zu sehen sein …“

Roussell hob jetzt mit einem Ruck den Kopf…

Denn jetzt merkte er: Man beargwöhnte ihn!!

Er starrte Randercild verstört an …

Der blickte zur Seite …

Da glitt ein unendlich trauriges Lächeln über das Gesicht des alten Mannes …

Und er … schob den Ärmeln hoch …

Rote Pünktchen leuchteten auf der weißen Haut …

Er hob den Arm …

„Bitte …!!“ Seine Stimme war heiser … „Bitte!! – – Und nun, Mister Nielsen, – nun reden Sie offen zu mir! Sie glauben, daß ich mit der kleinen Spritze …“

„Halt!“ meinte Nielsen … „Wir werden jetzt alle in Ihre Wohnung hinübergehen … Sie werden uns die Spritze zeigen …“

Roussell nickte …

„Das … werde … ich …“

Er stand auf …

Schweigend setzte sich der Zug in Bewegung …

In des Hausmeisters bescheidenem Schlafzimmer bildete man um ein Schränkchen an der Wand einen Halbkreis …

Roussell öffnete ein Schubfach und nahm ein kleines schwarzes Kästchen heraus …

Klappte den Deckel hoch …

Ein gurgelnder Schrei …

Das Kästchen fiel auf die Dielen …

Es war … leer … –

Jetzt jedoch sprang Randercild abermals für den treuen Alten ein …

Rief ärgerlich:

„Was beweist eine Spritze?! Was beweist es, daß Roussells Morphiumspritze fehlt?! Man kann sie ihm gestohlen haben … Niemals werde ich an seine Schuld glauben … Es sei denn, daß er etwa ein Geständnis abgelegt …“

Der alte Mann lehnte zusammengesunken an dem Schränkchen …

Nielsen sah das verfallene Gesicht …

Nielsen war Menschenkenner…

Er legte ihm leicht die Hand auf die Schulter …

„Mister Roussell …“

Der hob müde den Kopf und schaute Nielsen müde und geistesabwesend an …

„Mister Roussell, es ist unendlich schwer, mit einem Manne, der von seinem Herrn so nachdrücklich in Schutz genommen wird, wie mit einem anderen Angeschuldigten umzuspringen … Mister Roussell, hat ‚Die Null’ durch irgendwelche besonderen Umstände Macht über sie?! Sind Sie zu alledem gezwungen worden? …“

Die matten, trostlosen Augen des Hausmeisters hielten dem prüfenden Blick Nielsens so gelassen stand, daß der blonde Deutsche nunmehr ohne eine Antwort abzuwarten noch freundlicher hinzufügte:

„Mister Roussell, ich muß mich bei Ihnen entschuldigen … Ich tue es gern … Sie sind offenbar das Opfer jenes Schurken geworden, den wir noch immer nicht kennen … Man hat absichtlich den Verdacht auf Ihre Person gelenkt …“

Und er erklärte Roussell nun, was Gipsy Maad und er selbst in den Tannenzweigen der Vase gefunden hatten …

Jetzt meldete sich Josua Randercild abermals, trat vor, ergriff Roussells Hand und rief:

„Ich habe vorhin die Vase durchsucht … Die Spritze ist nicht mehr vorhanden … – Roussell, Sie bleiben, was Sie waren, mein Freund und Vertrauter! Niemals habe ich Ihnen auch noch eine Sekunde mißtraut …“

Der alte Mann schluckte die aufsteigenden Tränen hinab …

Stammelnd – fast lammend erklärte er:

„So wahr ich nie in meinem Leben bewußt einem Menschen Unrecht zugefügt habe, so wahr ich Sie nie belogen oder betrogen habe, Mister Randercild – ich bin schuldlos! Ich kenne weder diesen Verbrecher, der sich ‚Die Null’ nennt, noch einen seiner Helfershelfer! Man hat mir die Spritze gestohlen. Und der es tat, muß gewußt haben, daß ich gelegentlicher Morphinist bin.“

Auch Gaupenberg streckte jetzt dem Alten die Hand hin …

„Mister Roussell, es handelt sich um meines Freundes Hartwich und um mein Weib …! Nur deshalb sind wir so … rücksichtslos gewesen …! Auch ich zweifle nicht länger an Ihrem guten Gewissen …“

Der Alte lebte auch … Das Blut färbte sein fahles Gesicht mit freudiger Röte …

Mit einem Schlage hatte er sich wiedergefunden …

„Mister Gaupenberg …“ – und seine Verbeugung war bereits die des gewandten Oberzeremonienmeisters – „ich danke Ihnen … Die Herren mußten ja nach alledem gegen mich Verdacht schöpfen … Ich sehe das vollkommen ein … Mein einziges Bestreben gilt jetzt der Entdeckung des elenden Menschen, der mir diese demütige Stunde bereitet hat …“ –

Nielsen schaute Gipsy Maad halb fragend an, während Roussell noch den letzten Satz sprach …

Und merkwürdig, sie verstanden sich auch ohne Worte …

Die junge Detektivin erklärte unvermittelt:

„Unser aller Bestreben gilt diesem Ziel, Mister Roussell … Sie aber können uns die Arbeit wesentlich erleichtern, wenn Sie bereit wären … ein großes Opfer bringen …“

Alle blickten auf Gipsy …

Randercild murmelte: „Ein Opfer?! Ich denke, wir lassen den alten Mann jetzt in Ruhe …“

„Wenn er es wünscht – natürlich,“ klang es leise.

„Ich wünsche es nicht!“ sagte der Hausmeister festen Tones …

„Dann …“ – Gipsy zauderte doch etwas, „dann nehmen Sie die Schuld vorläufig auf sich, Mister Roussell … Dann lassen Sie sich hier in Ihren Räumen durch ein paar Detektive bewachen …“

Roussell erblaßte zwar, nickte jedoch …

„Ich … bin einverstanden …“

Randercild brauste auf …

„Das dulde ich nicht, Miß Maad … Das dulde ich schon deshalb nicht, weil ich nicht einzusehen vermag, was eine solche Komödie nützen soll …“

Gipsy erwiderte bescheiden:

„Mister Nielsen und ich hoffen den Verräter dann leichter fangen zu können … Mehr noch, Mister Nielsen und ich versprechen Ihnen, Mister Randercild, daß der wahre Schuldige, der durch Roussells Überwachung noch kühner werden wird, weil er sich außer Gefahr wähnt, in kurzem entlarvt sein wird …“

Der Hausmeister verbeugte sich vor seinem Herrn.

„Mister Randercild, ich bringe das Opfer gern …“

Nielsen lächelte ihm zu …

„Mister Roussell, Sie werden nachher als Held dastehen …! Ihr Opfer ist ritterlich … Es geht um die Auffindung zweier Damen, die wir auf andere Weise vielleicht niemals befreien können. Nur wenn der Verräter sich sicher fühlt, können wir ihm nachspüren, nur so auch … die Null entdecken …“

Jeder wollte jetzt dem Alten etwas Liebes sagen.

Roussell wehrte verlegen ab …

„Oh – nicht doch …! Weshalb so viel Aufhebens von einer Sache machen, die eigentlich selbstverständlich ist …“ – –

Roussell war dann allein in seinen drei Räumen …

Vor den Türen im Flur patrouillierte ein Detektiv … Vor den Fenstern draußen ein zweiter …

Wie ein Lauffeuer hatte sich im Schlosse und im Park unter den Detektiven und Dienern die Nachricht verbreitet, daß der Hausmeister mit einer Spritze den Kaffee vergiftet habe und nun streng bewacht würde, da er hartnäckig jegliche Schuld geleugnet habe … –

In Gipsys Fremdenzimmer im Ostturme, einem runden Gemach mit einer wundervollen Aussicht, hatten Nielsen und die junge Detektive sofort nach den Vorgängen in Roussells Räumen eine längere Unterredung gehabt …

Nielsen ging dann in sein eigenes Gastzimmer, um ein paar Stunden zu schlafen. Selbst er spürte jetzt an Geist und Körper die ungeheuren Anstrengungen der letzten Tage. Wenn er genau nachrechnete, hatte er seit achtundvierzig Stunden kein Auge mehr zugetan.

Deshalb erwachte er denn auch erst gegen vier Uhr nachmittags.

Unter der Tür fand er ein dünnes Papierröllchen hindurchgeschoben …

Er strich es glatt … erblickte eine Reihe von Zahlen…

Es war die zwischen Gipsy und ihm vereinbarte Geheimschrift. Sofort machte er sich an das Dechiffrieren und fand folgende Mitteilung:

‚Er schon nachts nach Neuyork. Begebe mich mit Jolling und Bret Caag, die ich als zuverlässig kenne, dorthin. Habe mich von Randercild und den anderen in aller Form verabschiedet, um meinen Dienst bei dem Institut wieder aufzunehmen … – Wiedersehen. Gipsy.’

„Tüchtiges Mädel …!“ brummte Nielsen mit einem lieben Lächeln. „Eine Kameradin, wie man sich keine bessere wünschen kann …!“

Und er verbrannte die Nachricht der Detektivin und das Blatt mit der dechiffrierten Übertragung. Während die Flamme die Papiere im Aschenbecher verzehrte, dachte Gerhard Nielsen weiter an Gipsy Maad, und ein Gefühl von leiser Zärtlichkeit und Sehnsucht beschlich ihn plötzlich …

Seine blauggrauen klaren Friesenaugen schauten verträumt auf die Aschenreste des Papiers. Vorsichtig zerdrückte er selbst die Asche, und ebenso vorsichtig und wachsam auf sich selbst und seine Gefühle sprach er leise vor sich hin:

„Gerd, du wirst doch nicht …!! Du wirst doch nicht etwa wie all die anderen dir solche Dummheiten angewöhnen …!“

Und mit einer harten Handbewegung schob er gleichsam alle Zärtlichkeit von sich und sagte noch lauter:

„Simsons Kraft steckte in seinem langen Haar … Die meine in der absoluten Wurstigkeit Weibern gegenüber! Also weg damit!“

Und er nahm sein Rasierzeug und die Schere und stutzte seinen blonden Spitzbart wieder auf knappe Seemannslänge.

Als er mit seiner Toilette fertig war, ging er auf die Gartenterrasse hinab, wo er aber nur noch Randercild mit seinem Privatsekretär Jacques Elvan antraf. Die anderen hatten schon längst gefrühstückt und waren bei der Sphinx auf den Tennisplätzen.

Nielsen begrüßte die beiden Herren durch Händedruck und nahm Platz. Ein Diener erschien und füllte ihm die Teetasse … –

Der Privatsekretär, dessen vielseitige Pflichten von ihm ein dauerndes Hin und Her zwischen dem Palast in Neuyork und der Sommerresidenz Missamill verlangten, sah mit Randercild die eingegangene Post durch. Nielsen studierte eine Neuyorker Morgenzeitung und aß und trank mit bestem Appetit. Hin und wieder sprach der Milliardär ein paar Sätze mit ihm, wenn Jacques Elvan sich längere Notizen machen mußte.

„Wie ist heute Gaupenbergs und Hartwichs Stimmung?“ fragte Nielsen gelegentlich …

„Es sind Männer,“ erwiderte der kleine Randercild kurz. „Sie wollen die Sphinx in allen Teilen gehörig nachsehen. Es sind noch mancherlei Reparaturen an dem Boot zu erledigen. Im übrigen sind zwanzig Detektive und eine Schar Vigilanten in der bewußten Sache tätig. – Ehe ich’s auch vergessen, lieber Nielsen, Miß Maad läßt Sie grüßen. Sie hat sich verabschiedet …“

Nielsen nickte … „Ja – sie ist etwas eingeschnappt auf mich … Na – sie wird sich versöhnen lassen.“

Randercild war erstaunt. Er hätte Nielsen eine solche Fertigkeit im Lügen nie zugetraut. Es war ja klar, die nette Gipsy hatte Missamill im vollen Einverständnis mit Nielsen verlassen. Die beiden wollten ja den Verräter und den augenblicklichen Aufenthaltsort der beiden Damen ausfindig machen. –

Jacques Elvan, der heute noch rosiger und frischer aussah und zu Ehren des Witterungsumschlages einen hellen, aber wieder ganz unauffälligen Anzug von mäßig modernem Schnitt trug, blinzelte in die Sonne und sog an seiner Zigarre, schrieb ein paar Zeilen und öffnete den nächsten Brief …

Sein Gesicht verriet plötzlich ungeheure Bestürzung … Er wandte sich Randercild zu … Der Brief in seiner Hand flatterte wie ein müder Vogel, so sehr zitterte ihm der Arm …

„Was zum Teufel gibt’s denn, Elvan?“ fragte der Milliardär aufblickend …

„Da – lesen Sie, Mister Randercild … Das Schreiben war an Sie adressiert … Der Brief selbst betrifft den Grafen Gaupenberg …“

Randercild riß ihm den Briefbogen aus den Fingern …

Dann zögerte er …

Las nur die Überschrift …

Neuyork, den 5. September 1924

An

den Grafen Viktor Gaupenberg …

Und sagte: „Nein – das hätten auch Sie bei dieser Überschrift nicht lesen sollen, Elvan … Der Brief gehört dem Grafen …“

„Mister Randercild,“ entschuldigte sich der Sekretär mit noch immer verstörter Miene, „ich überflog etwas gedankenlos die ersten Zeilen … Und wer die gelesen hat, liest auch weiter … Es handelt sich um die beiden Damen und den Azorenschatz …“

Randercild schaute Nielsen fragend an …

„Geben Sie her,“ sagte der Steuermann … „Gaupenbergs wird nichts dagegen haben …“

Und jetzt las er vor – gedämpft zuerst – aber die Stimme schwoll an, vibrierte, je weiter er kam …

Das stand in lila Maschinenschrift kalt und unpersönlich:

Ihre Gattin und die des Mister Georg Hartwich sind mein und bleiben mein, bis wir einig sind. Ich verlange, daß Sie durch keinerlei Maßnahmen versuchen, mir nachzuspüren. Bei dem geringsten Anzeichen, daß Sie ungehorsam sind und die nach Neuyork beorderten zwanzig Detektive der Firma Worg & Co. nicht sofort zurückrufen, werde ich die Auslieferungsbedingungen verschärfen. – Daß Sie meinen Beauftragten Albert Roussell so schnell herausgefunden haben, stört mich in keiner Weise. Roussell kann mir kaum schaden. Immerhin, Tote schweigen! – Gehen Sie zu Roussell und sorgen Sie für ein anständiges Begräbnis. Er hat sich erschossen.

die Null

Randercild flog von seinem Sitz hoch …

Auch Nielsen und Elvan waren aufgesprungen.

Wortlos stürmten sie durch die Flure in den Ostflügel…

Vor Roussells Räumen schlenderte ein Detektiv auf und ab …

„Haben Sie einen Schuß gehört?“ stieß Randercild keuchend hervor …

„Nein …“

Man drang in das Büro ein …

Und im dritten Zimmer lag Albert Roussell auf dem bescheidenen Bett, eine Pistole noch in der Rechten – eine mit einem Schal umwickelte Pistole, damit der Knall abgeschwächt würde …

Der Tod konnte vor höchstens einer halben Stunde eingetreten sein. Der Körper des alten Mannes war noch warm. Aus der Schläfenwunde sickerte ein dünner Blutfaden hervor …

Die drei Herren und der Detektiv standen wie erstarrt vor dem Bett …

Durch die hohen Bogenfenster mit den bunten Glasscheiben flutete das Sonnenlicht herein, und gerade über Roussells ehrwürdigem auf dem Kissen ruhenden Kopf lag wie ein Heiligenschein ein gelbroter Sonnenfleck.

„Mein armer Roussell …“ murmelte der Milliardär traurig …

Nielsen beobachtete Randercild.

Der Privatsekretär sagte leise:

„Es hilft nichts, Mister Randercild … Jetzt müssen wir die Polizei benachrichtigen … Zuständig ist der Sheriff von Missamill …“ – Er meinte das Dorf Missamill, das eine halbe Meile landeinwärts hinter einem Waldstreifen lag. – „Soll ich telefonieren, Mister Randercild? Sonst bekommen wir Unannehmlichkeiten.“

Der Milliardär nickte nur …

In seinen Augenwinkeln hingen zwei dicke Tränen.

Nielsen ging mit dem verhängnisvollen Briefe durch den wunderschönen Park nach den Tennisplätzen hinüber.

Er sah nichts von dieser Zauberwelt, die Randercild hier auf sprödem Fels hat entstehen lassen … nichts von den Fontänen, den Grotten, den künstlichen Ruinen, den Wasserfällen und Teichen …

Er sah nur immer die Szene auf der Terrasse, wie Jacques Elvan so unsagbar verstört dem Milliardär den Brief gereicht hatte, der morgens im Dorfe Missamill, wie der Stempel zeigte, zur Post gegeben und nachmittags dann hier ausgeliefert worden war … –

Als er die Sphinx erreicht hatte, die jetzt mit vier Stahltrossen an den Bäume sicher verankert lag, grüßte er die vor dem Tennishäuschen sitzenden Damen und rief dann Gottlieb Knorz an, der soeben aus der Turmluke an Deck des Bootes erschienen war …

„Hallo, Knorz, – ich muß Gaupenberg, Doktor Falz und Hartwich sprechen … Sofort…“

Gleich darauf hatten die vier auf der Bank in der nahen Tropfsteingrotte Platz genommen.

Nielsen verlas das Schreiben und fügte hinzu:

„Roussell ist natürlich ermordet worden …“

Gaupenberg, blaß und übernächtigt, flüsterte heiser:

„Wieder ein neues Opfer …!“

„Pesthauch des Goldes …“ erklärte Dagobert Falz’ ernste melancholische Stimme …

Hartwich rief: „Ermordet, Nielsen? Wer konnte denn bei Roussell eindringen?“

„Bitte – Roussells drei Zimmer haben Verbringungstüren nach den Räumen rechts und links von seiner Wohnung … Diese Türen sind zwar verstellt. Aber immerhin, es sind Zugänge!“

Gaupenberg blickte Nielsen bittend an …

„Nennen Sie uns den Mörder, Nielsen … Es ist der Verräter, derselbe, der die Spritze stahl … Es ist der Gehilfe der … Null …“

Nielsen flüsterte: „Wenn ich es täte, lieber Graf, würde ich alles aufs Spiel setzten … Es fällt sogar mir sehr schwer, dem Manne gegenüber unbefangen zu scheinen … – Nein, nein, – es bleibt dabei, Roussell endete durch Selbstmord aus Gewissensbissen. Ich habe mit Randercild, Elvan und dem Detektiv bereits vereinbart, was der Sheriff aus Missamill erfahren soll und was nicht. Die Polizei wird Selbstmord bestätigen. So ist es am besten. Und die Detektive aus Neuyork werden zurückgeholt.“

Nielsen sprach so bestimmt und so nachdrücklich, daß nur Doktor Falz etwas entgegnete …

„Lieber Nielsen, Sie kennen meine … Eigentümlichkeiten … Als wir heute bei Tagesanbruch die Ballonhülle und den Korb vom Turme herabholten, blieb ich eine Weile allein auf dem Dache zurück … Gerade da teilten sich die dichten Regenwolken, und ein paar blasse Sterne warfen ihre flachen Strahlen in den heraufdämmernden Tag hinab …“

Seine Stimme sank zu geheimnisvollem Raunen …

„In dieser Wolkenlücke erschien mir ein Bild … Kein tatsächliches Bild … Es war wie immer ein mehr innerliches Schauen … Ich … sah einen Menschen, der wie ein englischer Geistlicher gekleidet war. Sein Gesicht hatte etwas Leichenhaftes. Und er hielt die Hand einer Frau in der seinen … Es war Mafalda … – Dann verschwand die Frau … Das Bild wurde undeutlich … Der Mann änderte gleichsam Gestalt und Gesicht … Es war jetzt …“

Da trat Nielsen rasch ganz dicht an Falz heran …

„Keinen Namen!“ warnte er …

Und der Doktor beugte den Kopf vor, flüsterte ein einziges Wort in Nielsens Ohr …

Und so sehr Gaupenberg und Hartwich auch lauschten – sie verstanden nichts. Sahen nur, daß Nielsen den Doktor überrascht anstarrte, dann leicht nickte …

Falz sagte halblaut:

„Freunde, überlassen wir Nielsen auch jetzt alles Weitere … Niemand kann so leicht derart sich zusammennehmen, daß er einem Mörder die Hand drückt.“ –

Um fünf Uhr erschien der Sheriff von Missamill im Schlosse.

Er gab den Toten zur Beerdigung frei. Randercild hatte ihm erklärt, daß er mit Roussell eine scharfe Auseinandersetzung gehabt habe, die der Hausmeister sich bei seinem durch Morphium zerrütteten Nervensystem wohl zu sehr zu Herzen genommen habe.

Roussells Leiche wurde im Parke im sogenannten Indra-Tempel aufgebahrt. Um sechs Uhr fuhr Elvan im Auto nach Neuyork, um dort einen Eichensarg auszuwählen. Randercild hatte befohlen, daß der Hausmeister im Park beerdigt würde. Der Dienerschaft drohte er mit sofortiger Entlassung, wenn sie auch nur ein Wörtchen über Roussells Verfehlungen laut werden ließen.

 

19. Kapitel.

Nielsen und Mister Null.

Kaum war Jacques Elvan mit dem stets von ihm benutzten Auto abgefahren, als ein zweiter Wagen den ehrwürdigen Mormonenprediger Samuel Tillertucky mit seinen beiden Frauen zur Bahnstation des Dorfes Missamill brachte. Tillertucky wollte in seine Heimat, die Stadt am großen Salzsee, zurückkehren.

Der Abschied von Randercild und den Sphinxleuten war herzlich und für Samuel insofern außerordentlich erfreulich, als der Milliardär dem Priester einen Scheck über hunderttausend Dollar für die Armen der Mormonengemein überreichte, so daß Tillertucky auf diese Weise den Verlust der im Verlaufe von zwei Jahren eingesammelten freiwilligen Spenden überreich ersetzt erhielt.

Gottlieb Knorz, Dalaargen und Mela Falz gaben den Abreisenden bis an den Zug das Geleit. Noch auf dem Bahnsteig erkundigte sich Gottlieb sehr eingehend nach den Urwäldern an die Nilquellen, der Heimat der DakiZwerge, wo ja auch die deutsche Farmerfamilie Werter, der man den Goldschatz verdankte, eine neue Heimat gefunden hatte.

Als das Auto mit Tillertucky und den anderen das Schloß verlassen hatte, bat Gerhard Nielsen den Milliardär, ihm doch einmal den Jachthafen des Palastes zu zeigen, der in seiner ganzen Anlage, wie Randercild gelegentlich erwähnt hatte, eine Seltenheit darstellen sollte.

Der Milliadär führte Nielsen nach der Nordseite des Vorgebirges, wo zwischen der hohen Parkmauer und dem schroffen Abhang nach dem Meere zu nur ein drei Meter breiter, mit Eisengeländer versehener Fußweg entlanglief, den die Detektive zu ihren Patrouillengängen um den Park benutzten.

In dem Eisengeländer gab es eine Tür, durch die man zu einer in den Fels eingehauenen Treppe gelangte. Diese zog sich im Zickzack zu einer natürlichen Grotte in der Steilküste des Vorgebirges hin, die selbst bei Ebbe mit Wasser gefüllt war. Eine eiserne Flügeltür, unten mit einem bis ins Wasser hinabreichenden spitzen Gitter versehen, verschloß die Grotte nach der See hin. Um bei hohem Wellengang die Einfahrt in diesen Hafen zu erleichtern, waren zwei Wellenbrecher in das Meer hinausgebaut.

Randercild kettete unten an der Treppe ein kleines Boot los, und mit Hilfe dieses winzigen Nachens erreichten Nielsen und der Milliardär die eiserne Flügeltür, deren Kunstschloß ein langer schmaler Schlüssel öffnete.

Die beiden Herren schoben den einen Flügel der Tür nach innen auf, und das Boot glitt in die Wassergrotte hinein. Rechter Hand war ein Steg aus Balken errichtet. An diesem vertäut lagen zwei Motorboote, eine Zwölfmeter-Motor- und eine kleinere Segeljacht.

Nielsen war über die Ausdehnung der Höhle überrascht. Er hätte nie vermutete, daß sich dieser Jachthafen bis unter das Schloß hinzöge.

Nachdem Randercild hier noch die elektrischen Lampen eingeschaltet und mit seinem Gast den Steg betreten hatte, sagte er ganz unvermittelt:

„Lieber Nielsen, wenn ich auch in allem smarter Amerikaner bin, so fehlt mir doch nicht ein gewisser Hang zum Romantischen …“

„Das beweist schon Schloß Missamill,“ meinte Nielsen einfach … „Das bewies außerdem auch Ihre Beteiligung an unseren Abenteuern, Mr. Randercild … – Ich vermute, Sie wollen mir jetzt etwas anvertrauen …“

„Allerdings … Nur Ihnen … Und mit der Bitte, davon nur im äußersten Notfälle Gebrauch zu machen.“

„Was geschehen wird … – Es gibt eine Verbindung zwischen dieser Höhle und dem Schlosse …“

Randercild blickte den Seemann erstaunt an …

„Ah – Sie können gut raten, Nielsen …“

„Nicht raten, sondern kombinieren … Ich nehme sogar mit Bestimmtheit an, daß Schloß Missamill und der Park, dieses schöne phantastische Stück Indien, noch mehr Geheimnisse ähnlicher Art bergen …“

Josua Randercild hüstelte …

„Hm – ja, – also ich will Ihnen diesen Verbindungsgang zeigen … Es könnte für Sie, der Sie doch nun hier die Oberleitung der Ermittlungen übernommen haben, von Nutzen sein, unbemerkt aus dem Schlosse herauszukommen … Auch einen Schlüssel zu der Grottentür sollen Sie haben … Bitte, folgen Sie mir …“

Er schritt den Steg hinab. Die Planken dröhnend leise. Nielsen schaute sich überall sehr genau um …

Da waren an der Seite des Steges Blechkannen mit Benzin aufgestapelt, ferner Ersatzteile für die Jachten und manches andere noch …

Da waren ferner auf Gestellen an den Grottenwänden Kisten aufgehäuft, die nach ihren Signaturen Proviant aller Art in Blechbüchsen enthalten mußten.

Ein Gedanke kam Nielsen – flüchtig und ohne Bedeutung: ‚Randercild ist jederzeit fluchtbereit …’ –

Am Ende des Steges, der bis zur Rückwand der Höhle lief, sah das Gestein nicht anders aus wie überall hier: grauschwarz, mit Glimmerstreifen durchzogen, zackig, bucklig, eben roher Fels.

Und doch war gerade hier in das Gestein eine schmale Tür aus demselben Material eingefügt, – man konnte sagen, ein Kunstwerk von Unsichtbarkeit …!

„Bitte, lieber Nielsen,“ meinte Josua Randercild da mit einigem Stolz, – und er zog die Steintür auf, indem er eine hornartige Zacke als Griff benutzte … „Der Stein läßt sich drehen und bewegt ein Schnappschloß …“

„Ich bin im Bilde, Mister Randercild …“

Der Milliardär lachte in seiner komischen Art … Es klang wie ein Meckern …

„Im Bilde?! Noch lange nicht, mein Lieber …!“

Er durchschritt die Tür …

Licht flammte auf …

Nielsen trat ebenfalls in das hohe Gewölbe ein.

Stutzte …

Hier standen etwa fünfzig sehr lange, schmale Kisten, fast wie Särge …

„Donnerwetter …!“ entfuhr es Nielsen, „sind das etwa Torpedos?“

Randercild überhörte die Frage …

Ging weiter – bis zur anderen Seite und zog hier eine zweite Steintür auf …

„So – Sie sehen hier eine Treppe, lieber Nielsen … Sie mündet vor dem großen Bücherschrank in meinem Arbeitszimmer … Der mittlere Teil der Schrankrückwand ist drehbar …“

Er erklärte Nielsen ganz genau, wie man in das Zimmer gelangte …

Fügte hinzu: „Kehren wir um … Sie wissen nun alles … Ich schenke Ihnen viel Vertrauen. Außer mir und Roussell kannte bisher niemand diesen Weg in mein Schloß – die Arbeiter natürlich ausgenommen, die diese Geheimnisse einst schufen … Es waren zumeist chinesische Kulis, die längst wieder in ihrer Heimat sind …“

Er hat es offenbar sehr eilig, an den verfänglichen langen Holzkisten vorüberzukommen, damit Nielsen nicht nochmals nach dem Inhalt fragte.

Der Steuermann jedoch war hartnäckig …

„Einen Augenblick, Mister Randercild …“

Der kleine Milliardär drehte sich abrupt um …

„Gehen wir … Die Grottentür ist offen geblieben.“

„Einen Augenblick nur … – Sind das wirklich Torpedos, Mr. Randercild?“

„Wie …?! Torpedos?! – Aber Nielsen! Was sollte ich als Privatmann mit solchen Dingern?! Ich bitte Sie!! Die Kisten enthalten …“

Nielsen lachte in sich hinein …

„Schon gut …! Danke …! Die Kisten enthalten – na sagen wir, lebensgroße Marionetten – oder Marmorstatuen – oder …“

„Halt – Marmorstatuen, das stimmt …! Ich wollte sie im Parke aufstellen lassen, aber …“

„Strengen Sie sich nicht weiter an, Mr. Randercild … Ich dringe nicht in Ihre Geheimnisse ein … Ich weiß nur, daß Ihre jetzt leider gescheiterte Jacht ‚Star of Manhattan’ tadellos bewaffnet war, daß die Besatzung militärischen Drill hatte und für Sie durchs Feuer zu gehen bereit war … Ich vermute, auf die Jacht waren auch ein paar Torpedolancierrohre eingebaut … – Gehen wir …“

Und als sie nun wieder in dem unterirdischen Hafen auf dem Balkenstege standen, sagte Nielsen abermals:

„Ich möchte mal eine Probefahrt mit einem Ihrer Motorboote machen, Mr. Randercild … Wie lange braucht man bis Neuyork?“

„Vier Stunden … – Allein wollen Sie fahren?“

„Nein … Pasqual Oretto soll mit … Der brave Alte ist ebenfalls Seemann und mir außerordentlich sympathisch … Ich werde ihn mitnehmen – zu einer Vergnügenstour ohne bestimmtes Ziel … Sie verstehen mich, Mr. Randercild …“

„Ob ich Sie verstehe …! – Soll ich Ihnen Pasqual holen? Inzwischen können Sie das Boot seeklar machen … Dort – die ‚Labrador’ empfehle ich Ihnen … Sie läuft achtzehn Knoten, ist halb Rennboot …“

„Danke … Also die ‚Labrador’. Und Pasqual soll sich beeilen …“

Randercild kletterte in das kleine Ruderboot … –

Nielsen war in der Wassergrotte allein.

Er blickte hierhin und dorthin …

Mancherlei ging ihm durch den Kopf …

Randercilds Charakterbild hatte soeben für Nielsen eine weitere Trübung erfahren …

Josua Randercild, der schon auf der schwarzen Insel und bei den abenteuerlichen Vorgängen, die dieser blutigen Robinsonade vorausgegangen waren, vielfach bewiesen hatte, daß er eine geradezu brutale Energie zeigen konnte, mußte Dinge zu verheimlichen haben, die recht anrüchiger Natur waren. – Wozu die Torpedos?! Wozu diese Unmengen Proviant hier?! Wozu dieses Benzinlager?!

Nielsen lehnte am Geländer des Steges und sann vor sich hin …

Dachte: ‚Ich werde das alles mit Gipsy besprechen … Gipsy ist helle …!’

Er lächelte halb zärtlich … Er freute sich, wie überrascht sie sein würde, wenn er in Neuyork erschien.

Eine halbe Stunde später schoß das große gedeckte Boot ‚Labrador’ in die See hinaus …

Am Steuer stand Nielsen … Pasqual bediente den Motor …

Es war jetzt ein Viertel acht abends …

Als das Boot in kurzem Bogen vom Ufer abhielt und ins offene Meer hinauslief, erhob sich in einem Buschwerk unweit der nach Neuyork führenden Straße ein Mann im Sportanzug, der hier bisher, bewaffnet mit einem tadellosen Fernglas, gut versteckt gelegen und Schloß Missamill beobachtet hatte …

Der Mann war bartlos, sonnengebräunt und geschmeidig wie eine Katze.

Er schob sein Motorrad auf die Straße und knatterte nach Norden zu davon. Dort, wo die Straße über einen hohen Hügel lief und Aussicht weit über Strand und Meer bot, hielt er an und zog wieder sein Fernglas hervor.

Die ‚Labrador’ hatte bereits den Kurs geändert und lief nach Norden …

Der Spion nickte zufrieden und jagte weiter …

Um halb zehn war er in Neuyork …

Seine Meldung schrieb er auf einen Zettel und diesen steckte er in einen Umschlag. Den verriegelten Brief gab er danach in der chinesischen Teestube neben dem Hause des Schusters Laong-Tse ab. Der Besitzer dieser Teestube war ein bejahrter Chinese, der bei allen Leuten, selbst bei der Polizei, in hohem Ansehen stand, weil er ehrlich, hilfsbereit und überaus verschwiegen war.

Als der Spion ihm den Brief, der als Adresse auf dem Umschlag lediglich einen ovalen Kreis zeigte, übergeben hatte, betrat er sein Privatzimmer und öffnete hier den versiegelten Umschlag, las den Inhalt des Zettels, verbrannte beides und rief telefonisch einen am Hafen wohnenden Landsmann an, der eine kleine Agentur zur Vermittlung chinesischer Kulis als Landarbeiter betrieb.

Dieser Agent schickte sofort acht Leute, alles Chinesen, in vier Ruderbooten zur Überwachung des Hafens aus. – So kam es denn, daß das Motorboot ‚Labrador’ gegen elf Uhr abends bei seinem Eintreffen in Neuyork dieser genau vorbereiteten Überwachung nicht entging, und daß Gerhard Nielsen, nachdem er unweit der Brooklyn-Brücke das Boot unter Aufsicht Pasquals am Bollwerk zurückgelassen hatten, drei dieser gewitzten Schlitzäugigen auf den Fersen blieben.

Nielsen fühlte sich vollkommen sicher. Er ahnte auch nicht im geringsten, wie feinmaschig und ausgedehnt das Netz war, mit dem der Leichenhafte, die ‚Null’ das Schloß Missamill und dessen Bewohner umspannt hielt. Er unterschätzte diesen Gegner, hatte auch in solchen Dingen doch noch zu geringe Erfahrung, um sich mit einem Menschen messen zu können, der eine ungewöhnliche verbrecherische Intelligenz mit brutalster Rücksichtslosigkeit in sich vereinigte.

Er fuhr mit der Untergrundbahn bis zur Union Square-Station und bog dort nach links in die 19. Straße ein.

Der Riesenameisenhaufen Neuyork war ihm bekannter Boden, und so steuerte er denn ohne Zögern auf das Haus Nr. 46 zu, in dessen Erdgeschoßräumen sich die Büros des Detektivinstituts Worg & Co. befanden.

Als er das noch offene Haus betreten wollte, lehnte da im Eingang ein chinesischer Hafenkuli, der im Mundwinkel eine Zigarette hängen hatte und nun plötzlich leise flüsterte:

„Gipsy Maad …!“

Nielsen stutzte …

Schaute den Mann prüfend an und fragte:

„Erwartest du mich?“

„Ist so, Master … Gehöre zu den Worg-Leuten … Mister Randercild hat telefoniert, daß Sie herkommen würden. Auf Schloß Missamill ist wieder etwas passiert. Miß Maad bittet Sie, mir dorthin zu folgen, wo sie mit Mr. Jolling bis halb zwölf anzutreffen ist …“

Damit warf der Kuli seinen Zigarettenstummel auf die Straße und schritt in eiligen Tempo davon.

Nielsen zauderte nicht, dem Chinesen sich anzuschließen. Als er ihn eingeholt hatte, flüsterte der jedoch unwillig:

„Nicht so, Master …! Das fällt auf … Hinter mir her …“

Nielsen blieb zurück …

Der Schlitzäugige bestieg eine Straßenbahn. Nielsen desgleichen.

Eine Viertelstunde darauf betraten beide die Teestube des bejahrten, ehrlichen Sung Lo Schen durch einen Seiteneingang.

Hier waren kurz vorher bereits fünf andere Kulis hineingeschlüpft.

Nielsen kam über einen dunklen Hof, sah dann rechter Hand ein erleuchtetes Fenster, daneben eine halb offene Tür. Sein Führer blieb stehen und deutete auf das Fenster …

„Dort Miß Maad … Dort durch die Tür, dann links … Guten Abend, Master …“

Noch immer vermutete Nielsen nichts Arges …

„Guten Abend,“ sagte er freundlich und zog die Tür vollends auf …

Der Flur dahinter war mäßig erleuchtet. Der Steuermann schritt weiter und klopfte dann linker Hand, wie der Kuli es ihm bedeutet hatte.

Im selben Moment öffnete sich lautlos hinter ihm eine andere Tür …

Wie die Katzen schnellten sich fünf schäbige Kerle auf Nielsen … Ein Hieb über den Hinterkopf betäubte ihn halb. Im Nu war er zu Boden gerissen, gefesselt, geknebelt und in eine große Decke eingerollt.

Man trug ihm davon …

Als er erst wieder Herr seiner Sinne geworden, suchte er durch Stöße mit den gefesselten Beinen seine heimtückischen Überwinder abzuschütteln. Die dicke Decke jedoch machte all diese Anstrengungen zwecklos. Außerdem erhielt er auch ein paar so kräftige Püffe, daß er das Nutzlose dieser Bemühungen einsah und alles mit sich geschehen ließ.

Schließlich warf man ihn auf eine knarrende Lagerstatt …

Die Decke wurde entfernt …

Nielsen befand sich in völliger Finsternis … Eine stinkende Hand entfernte den Knebel … Man lockerte seine Fesseln … Schritte entfernten sich … Eine Tür schlug zu …

Und dann flammte auch schon über ihm eine bis dahin verhüllt gewesene große Petroleumlampe auf.

Nielsen lag in einer der Zellen Tschang Lus auf dem hölzernen Bett …

Richtete sich auf … Streifte die gelockerten Stricke ab, schaute sich um …

Diese Zelle war genauso eingerichtet wie die übrigen hier …

Nielsen dachte nach …

„Dummkopf!!“ murmelte er.

Und meinte sich selbst damit …

Dann überlegte er, wie er nur so blindlings hatte in diese Falle tappen können …

Aber er fand übergenug Gründe, die ihn entschuldigten. – Wie sollte er wohl ahnen, daß ausgerechnet in der Haustür des Detektivinstituts ein Helfershelfer des berüchtigten Verbrechers ihn erwarten würde?! Wie hätte er diesen schlauen und doch so einfachen Streich rechtzeitig erkennen sollen?! – Nein – er brauchte sich nicht vor sich selbst zu schämen … Jeder wäre auf diese Hinterlist hineingefallen – jeder …! –

Er saß nun aufrecht auf dem Bett und befühlte seine Taschen. Natürlich – man hatte ihm die Pistole, das Taschenmesser und auch das Feuerzeug abgenommen … Das war ebenso selbstverständlich, wie Gipsy jetzt Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, ihn zu finden und zu befreien …

Allerdings – wenn es das Pech wollte, konnte diese Nacht und ein halber Tag vergehen, bevor Gipsy von seinem Verschwinden erfuhr …

Merkwürdig, daß er jetzt hier in dieser peinlichen Lage, die er mehr demütigend als gefährlich empfand, abermals zuerst an Gipsy dachte …

Das Mädel hatte sich doch wahrhaftig bereits recht fest in seinem Herzen eingenistet …

Nielsen lächelte schwach. Und diesmal gab er sich den halb zärtlichen Gedanken ruhig hin … Ohne Widerstand. Lediglich sein stets auf das Praktische und Nächstliegende gerichteter Sinn schob schließlich diese aufkeimende Neigung beiseite und ließ ihn an eine Besichtigung seiner Zelle herangehen.

Er stand auf. Das Bett knarrte. Vor dem Tischchen aufgerichtet schüttelte er den Kopf …

Da war wahrhaftig für eine Person sauber gedeckt. Da standen appetitliche Dinge – allerlei … Sogar eine halbe Flasche Likör fehlte nicht …

„Außerordentlich komfortabel,“ murmelte Nielsen. „Der Herr Null, der mich hat wegschnappen lassen, scheint Lebensart zu besitzen …“

Seine Blicke hingen jetzt an einem Zettel, der an dem Likörglas lehnte …

‚Aha – die bekannte lila Maschinenschrift …! – Lesen wir …

Mister Nielsen, Sie sind mir von der Fürstin Sarratow als der gefährlichste der Sphinxleute bezeichnet worden. Es war von Ihnen sehr leichtsinnig, den Kampf gegen mich aufzunehmen. Mir stehen tausend Augen und tausend Ohren zur Verfügung. Gipsy Maad befindet sich in der Zelle, die der Ihrigen gegenüberliegt. – Die Null.’

Steuermann Nielsen biß die Zähne fest aufeinander …

Mit einem Schlage begriff er jetzt, wie sehr er sich in fast dünkelhafter Selbstsicherheit über die Kräfte und Machtmittel des Feindes getäuscht hatte …

Die ‚Null’ hatte nach alledem, was er hier vorgefunden – gedeckten Tisch und diese Mitteilung – mit voller Bestimmtheit vorausgesehen, daß der Streich glücken würde … Hatte auch gleichzeitig die einzige kaltgestellt, von der Nielsen Hilfe erwarten konnte: Gipsy! –

Nielsen setzte sich mit einer gewissen müden Niedergeschlagenheit auf den Holzstuhl am Tische …

Jetzt war er gründlich unzufrieden mit sich …

Gründlich …!! Er kritisierte seine Handlungen nun mit aller Schärfe …

‚Ich bin ein unbegabter Anfänger,’ dachte er. ‚Spione haben natürlich meine Abfahrt von Missamill beobachtet … Ich hätte den Kurs erst ändern sollen, als ich mit der ‚Labrador’ außer Sicht vom Lande war … – Hättet … hätte …!! Es ist zu spät …!! Und wenn Gipsy wirklich gleichfalls sich hier befindet, dann … dann weiß niemand, wer im Schlosse Missamill für die Null tätig ist …!’

Und wie er so in Gedanken den Sommerpalast Randercilds mit in seine Selbstvorwürfe einbezog, fiel ihm der Schlüssel des unterirdischen Jachthafens ein, den der Milliardär ihm anvertraut hatte …

Mit hastiger Bewegung befühlte er seine Westentasche …

Erschrak …

Auch den Schlüssel hatte man ihm abgenommen …! Gerade diesen Schlüssel …! Blitzartig enteilten seine Gedanken – malten sich die Folgen dieses Verlustes aus.

Ein paar Schweißperlen erschienen auf seiner braunen Stirn …

Er starrte vor sich hin …

Der Schlüssel verschaffte dem Verbrecher und seinem Anhang einen Weg ins Schloß … in Randercilds Arbeitszimmer …

Der Verbrecher brauchte nur mit vierzig Leuten nachts in das Schloß einzudringen, und … die Sphinx und das Gold waren verloren …! –

Die Schweißperlen mehrten sich …

Nielsens Gesicht war wie versteinert …

Ein grimmes Stöhnen wollte sich aus seiner Brust emporringen. Er unterdrückte es …

Handeln – – Handeln …! Aber – – wie – wie nur?! Was nur tun, was …?! – Ausbrechen … Fliehen …!!

Er schaute auf die mit starkem Eisenblech benagelten Wände … die Tür … zur Decke empor …

Die Zelle war gut sechs Meter hoch … In vier Meter Höhe brannte die große Hängelampe … Die Decke bestand aus Balken … War nicht benagelt … In den vier Ecken der Zellendecke waren die Einmündungen von Ventilationsrrohren zu erkennen. Aber diese Rohre hatten kaum dreißig Zentimeter Durchmesser. –

Nielsen trat an die Tür heran … Da war ein rundes Guckloch von Kinderkopfgröße … verglast …

Auch das nützte ihm nichts …

Seine Gedanken flatterten immer noch wie scheue Vögel …

Schuldbewußtsein vermehrte seine Unruhe. Denn – er war schuld, wenn die Null jetzt im Vorteil war …

Noch nie in seinem Leben hatten seine Nerven sich in dieser Weise gemeldet … Noch nie …

Er fühlte sie vibrieren … Sein Kopf brannte …

Was nur tun?! Er mußte handeln …! Mußte!

Aber – – wo befand er sich?! Wo?! Wer waren seine Wächter?! Würde sich hier mit brutaler Gewalt etwas ausrichten lassen?! – Er bezweifelte es.

Er streckte die Hand nach der Likörflaschen aus …

Alkohol …!! Er als Seemann wußte ihn zu Zeiten zu schätzen. Er dachte an das … Alkoholverbot hier in dem freien Amerika – an diese größte aller Lächerlichkeit!

Und füllte das Kelchglas, trank, trank nochmals.

Da knarrte hinter ihm ganz leise die Zellentür …

Er wandte den Kopf …

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen …

„Ein unverhofftes Wiedersehen, Herr Nielsen,“ sagte die Fürstin Sarratow ironisch …

Hinter Mafalda standen zwei Leute, deren Gesichter im Dunkel blieben … Nur die vorgestreckten Hände wurden vom Lampenlicht getroffen … – und die langen Coltrevolver in diesen Händen …

Mafalda trat ein …

Die Tür wurde zugezogen – nicht ganz … Die matt blinkenden Waffen blieben auf Nielsen gerichtet.

Die Fürstin Sarratow kam bis an den Tisch heran … Sie trug jetzt ein modernes leichtes Kleid aus hellila Crepe Georgette mit Spitzenbesatz …

Sie war wieder ganz große Dame geworden … Zarter Parfümduft umwehte Nielsen …

Und Nielsen blickte das schöne Weib nun genau so ironisch an, wie sie soeben von einem unverhofften Wiedersehen gesprochen hatte …

„Unverhofft?!“ meinte er kalt. „Lumpenpack findet sich allemal rasch zusammen, verehrte Feindin …“

„Sie sollten etwas höflicher sein, Freund Nielsen … Ihre Partie steht schlecht … Sogar miserabel …“

„Wenn Sie mit miserabel auf Todesgefahr für mich hindeuten wollen, man kann nur einmal sterben!“

„Es kommt darauf an, wie man stirbt …“

„Durchaus nicht! Sterben bleibt sterben …! – Doch – diese Redensarten dürften uns beide langweilen … – Was wünschen Sie als Abgesandte und Verbündete der Null?“

Mafalda lächelte –, ein Salonlächeln, das unter diesen Umständen die ganze Verderbtheit ihrer Seele bloßlegte …

„Sie gestatten wohl, daß ich Platz nehme …“

Und sie zog den Stuhl etwas zurück und setzte sich …

Nielsen stand steif an der anderen Seite des Tisches.

In der Türspalte drohten die Coltrevolver …

Die Fürstin Sarratow lächelte zu dem Manne empor, den sie vielleicht noch mehr haßte als Viktor Gaupenberg …

Sie sprach mit einem Male deutsch, damit Tschang Lu und Tami sie nicht verständen …

„Herr Nielsen, man hat bei Ihnen einen langen schmalen Schlüssel zu einem Kunstschloß gefunden – zu dem Schloß des Jachthafens von Missamill …“

„Ja – gestohlen hat man ihn mir,“ nickte Nielsen, der jetzt seine volle Ruhe wiedergefunden hatte …

„Die Null …“ erklärte Mafalda weiter und wurde ernst, „die Null vermutet, daß aus dem Jachthafen ein geheimer Gang in den Palast emporführt und daß Randercild Ihnen diesen Gang gezeigt hat …“

„Bedauere … Ein Irrtum von der Null …!“

„So?! – Ich fürchte, die Null wird dies nicht glauben …“

„Seine Sache …!“

„Nein – Ihre Sache …! – Ich warne Sie …! Man wird Sie zur Wahrheit zwingen …!“

„Oh – ganz abgesehen davon, daß ich mich zu nichts zwingen lasse, Mafalda Sarratow: Randercild gab mir den Schlüssel …! Sonst hat er mir nichts anvertraut. Ich zweifle auch daran, daß ein solcher Gang existiert. Das Vorgebirge ist etwa dreißig Meter hoch. Die Höhle des Jachthafens schätze ich auf zehn Meter … Mithin hätte man zwanzig Meter Gestein durchbrechen müssen …“

Mafalda fixierte ihn scharf …

Dann lachte sie halblaut auf …

„Oh – ich kenne Sie von Christophoro her, Nielsen …!“

„Bitte – – Herr Nielsen …! Diese Vertraulichkeiten von Ihrer Seite verbitte ich mir …!“

Die Fürstin Sarratow bekam böse Augen …

Erhob sich …

„Gut – wie Sie wollen,“ meinte sie eisig …

Wandte sich um und schritt zur Tür …

Deckte Nielsen so gegen die Revolver …

Mit zwei Sprüngen war der Steuermann in ihrem Rücken …

Packte zu – gerade als Mafalda die Tür weiter aufzog …

Packte zu und schleuderte das Weib auf die beiden Kerle … Mit aller Kraft seiner muskelstrotzenden Arme …

Ein paar Schreie …

Menschen, die im Gange zwischen den Zellen übereinander lagen …

Und Nielsen war schon über ihnen …

Drei – vier Fausthiebe …

Tami wurde an der rechten Halsseite getroffen … Tschang Lu gegen das linke Auge … Mafalda in die Herzgrube …

Am Boden blinkten matt die beiden Coltrevolver … Nielsen ließ sie liegen …

Er warf Tami als ersten in die Zelle … Der Tisch fiel um … Tschang Lu folgte … Mafalda landete auf dem Bett …

Die Tür krachte zu …

Nielsen tastete im Dunkeln nach den Riegeln … Schob sie zu…

Holte tief Atem …

„Bande!!“ brummte er und freute sich …

Nochmals betastete er die Tür … Fühlte ein Schloß … Ein Vorhängeschloß … Ein Schlüssel steckte darin …

Er legte das Schloß vor den mittleren Riegel, drehte den Schlüssel um und zog ihn ab.

Er freute sich … Er ahnte, daß er hier Agnes und Ellen finden würde …

Nur die Dunkelheit war unangenehm …

Er tastete sich weiter …

Ah – eine andere Tür …

Hier die Klappe des Gucklochs … Er schaute hinein. Auf dem Bett lag eine Frau, halb zugedeckt …: Ellen Hartwich!!

Nielsen fand das Vorlegeschloß, probierte den Schlüssel …

Er paßte …

Triumph …!! Er paßte …!!

Aber eine grelle Lichtflut sprang da plötzlich neben Nielsen auf …

Eine große Karbidlaterne wurde enthüllt …

Eine merkwürdig farblose heisere Stimme sagte kühl:

„Mister Nielsen, es ist zwecklos … Vollständig zwecklos …“

Der Mann, der die Laterne mit der Linken weit zur Seite streckte, war Nielsen fremd …

In der Rechten hielt der unheimlich bleiche Mensch mit dem faltigen Gesicht und den tiefliegenden Augen einen Browning …

Wie ein Geistlicher war der Mann gekleidet … Leichenblaß wirkte seine Erscheinung …

Nielsen ahnte: Die Null!

Und sofort erhielt er auch die Bestätigung dafür …

„Wollen Sie bitte die Zelle, in die Sie die drei soeben eingesperrt haben, wieder öffnen, Mister Nielsen,“ meinte der Leichenhafte durchaus höflich. „Ich möchte mich Ihnen als gebildeter Mann,“ fügte er mit einer knappen Verbeugung hinzu, „gern mit meinem bürgerlichen Namen vorstellen, wie dies in Deutschland Sitte ist … Leider muß ich dies jedoch unterlassen und kann Ihnen nur meinen … Kriegsnamen nennen … Ich bin der Herr Nichts – Ich bin … die Null …“

„Das habe ich mir sofort gedacht,“ erwiderte Nielsen genauso kaltblütig … – Und er überlegte, wie er diesen Menschen überlisten könnte, schalt sich insgeheim wieder einen Dummkopf, weil er die beiden Revolver nicht aufgehoben hatte …

So standen die beiden Männer sich hier im Zellengang gegenüber …

Das Gesicht des Leichenhaften verzog sich zu einer schwer zu deutenden Grimasse …

„Es würde mir leid tun, Mr. Nielsen,“ sagte er in leichtem Plauderton … „Nicht wahr, Sie werden mich nicht dazu zwingen, abzudrücken … Sie sinnen jetzt darüber nach, wie Sie mich anspringen können … Sie haben Ihre Augen und Ihre Mienen schlecht in der Gewalt … Jedes Anspornen Ihrer Energie verrät sich in Ihren Blicken und in Ihren Zügen. Sie werden noch viel lernen müssen, Mr. Nielsen…“

„Es scheint so, Mr. Null … Ich erleide heute nacht die zweite Niederlage … Vor der dritten werde ich mich hüten …“

„Bitte – öffnen Sie die Zelle … Es hat mir viel Spaß gemacht, wie Sie die drei erledigt haben … Für gröbere Arbeit eignen Sie sich ganz gut …“

„Nun – die feinere werde ich auch noch lernen, Mr. Null …“ – Und – er gehorchte … Denn er hatte keine Lust, sich hier über den Haufen schießen zu lassen … Er hätte niemandem dadurch genützt.

Kaum war die Zellentür offen, als Mafalda als erste mit unsicheren Bewegungen herauskam … Sie beachtete Nielsen überhaupt nicht … Sie starrte nur den Leichenhaften wütend an, der ein höhnisches Grinsen um die schmalen Lippen hatte …

Auch Tschang Lu und Tami schwankten in den Gang – mit hängenden Köpfen, wie beschämt …

Nielsen sagte zu dem Leichenhaften:

„Auf Wiedersehen, Mr. Null … Das dritte Mal gewinne ich … Ich habe abermals einige Erfahrungen gesammelt …“

Und er betrat seine Zelle, wollte die Tür schließen.

„Verzeihung …,“ meinte der Unheimliche … „Ich habe noch mit Ihnen zu sprechen …“

Nielsen schaute in die kleine schwarze Mündung der Browning …

„Es ist zwecklos, Mr. Null … Ich würde so unhöflich sein, Ihnen nicht zu antworten – bestimmt nicht … Ich … brauche jetzt Ruhe …“

Die Tür fiel zu …

Gerhard Nielsen war allein in der Zelle … Auf dem Boden lagen zerschlagene Teller, Tassen, schwamm der Tee aus dem Kännchen, und der Likör aus der zerschellten Flasche …

Der Steuermann begann die Scherben wegzuräumen … Dann richtete er den Tisch auf … Als er zufällig einen Blick auf das Bett warf, lag da hinter dem herabgerutschten Kopfkissen … ein Browning …

Wirklich – eine Browningpistole …! –

Nielsen hatte zugelernt …

Tat, als ob er das Bett in Ordnung brächte und legte das Kopfkissen mit heißen erregten Händen über die für ihn so kostbare Waffe …

Seine Gedanken suchten gleichzeitig dieses Rätsel zu klären …

Ob einer der Chinesen absichtlich die Pistole hier zurückgelassen hatte?! – Es konnte nur so sein … Einer der beiden gelben Schufte schien gegen Mr. Null zu integrieren … Nun – ihm konnte das nur recht sein … Es war ein Hoffnungstrahl …

 

20. Kapitel.

Gipsy Maads erster Sieg.

Mr. Null hatte Mafalda in die Nebenzeile begleitet …

Er geringste …

Draußen lehnten Tschang Lu und Tami noch immer japsend an der Wand …

Drinnen sagte der Leichenhafte leise zu Mafalda:

„Sie meinen also, Fürstin, daß Nielsen niemals etwas aus sich herauspressen ließe … Sie meinen, es hätte wenig Sinn, ihn irgendwie zu … überreden?“

Mafalda hatte sich gesetzt …

Das Benehmen des Leichenhaften ihr gegenüber reizte sie zu lodernder Wut … Aber eine Fürstin Sarratow bleibt stets Herrin ihrer Mienen.

So schüttelte sie den Kopf …

„Er wird nie etwas verraten, nie …!“

„Das glaube ich jetzt auch, Fürstin …“ Und Mr. Null war wieder Gentleman und grinste nicht mehr. „Ich werde im übrigen den Verbindungsgang vom Jachthafen nach dem Schlosse empor auch so finden … – Es beginnt nun also ein neuer Akt des Dramas … Halten Sie sich bitte bereit, am kommenden Vormittag Ihre Rolle in Missamill zu spielen … Ich wünsche Ihnen bis dahin einen festen Schlaf, Fürstin … Gute Nacht …“

Er verließ die Zelle mit einer Verbeugung …

Und draußen schickt er dann die beiden Gelben nach oben …

„Ich will dich nachher noch sprechen Tschang Lu,“ bedeutete er dem hageren Antiquitätenhändler.

Als die Chinesen die Eisenleiter in dem Röhrenschacht emporgestiegen waren, betrat Mr. Null die Zelle, die der Mafaldas gegenüberlag.

Am Tische saß … Gipsy Maad.

Auch sie erblickte dieses leichenhafte Gesicht jetzt hier zum ersten Male …

Auch sie konnte sich eines leisen Unbehagens nicht erwehren, als dieser unheimliche Mensch in der schlichten Tracht eines Reverend nun näherkam und sich mit der Linken leicht auf den Tisch stützte, während die Rechte zwanglos auf der Brust ruhte, wo zwischen den geöffneten Knöpfen des schwarzen Rockes das Gebetbuch steckte.

Der Leichenhafte verneigte sich …

„Miß Maad, Sie haben mir die Sache sehr leicht gemacht …“

„Falls Sie der … Verbrecher sind, der sich ‚die Null’ nennt, kann ich Ihnen nur erwidern, daß die Art, wie Sie mich fingen, Ihrem traurigen Ruhme durchaus entsprach … Man hat mich zum ersten Male derart hineingelegt …“

Dabei lächelte Gipsy ihren Bezwinger ganz harmlos an …

Scheinbar harmlos…

Und dieses Lächeln schien denn auch das Mißfallen des Leichenhaften zu erregen. Seine Augen bohrten sich förmlich in Gipsys frische Züge ein …

„Weshalb lächeln Sie …?!“ fragte er …

„Weil ich keinen Grund zum Weinen habe …“

„So?! Keinen Grund …?“

„Nein … Jeder Verbrecher wird einmal abgefaßt – auch Sie!!“

Jetzt grinste Mr. Null …

„Miß Maad, abfassen kann man nur etwas, das existiert … Ich bin gleichsam ein Nebelgebilde, zerflattere, balle mich wieder zusammen … Zerflattere abermals …“

Und Gipsy lächelte weiter …

„Sehr poetisch, Mr. Null …! Wenn Sie durch diese Worte andeuten wollen, daß Sie Ihre Maske häufig wechseln, so sage ich Ihnen, daß hinter all diesen Masken doch stets dieselbe Persönlichkeit steckt – stets! Und diese Person wird einst auf dem elektrischen Stuhl in Sing-Sing Platz nehmen müssen … Diese Person wird bisher dreier Morde wegen gesucht.“

„Verzeihung – nicht Morde, einfache Notwehrhandlungen …“

„Darüber hat das Gericht zu befinden. – Weshalb haben Sie mich hier eingekerkert, Mr. Null?“

„Weil ich Sie nicht gern von Mr. Nielsen trennen wollte … Sie beide sind doch Verbündete – gegen mich …! Nielsen hat die dritte Zelle Ihnen gegenüber …“

Jetzt zuckte Gipsy doch leicht zusammen …

„Sie … Sie … wollen mich einschüchtern …!“ meinte sie hastig …

„Durchaus nicht … – Sie haben wohl soeben draußen im Zellengang einigen Lärm gehört … Das war Mr. Nielsen, der beinahe entschlüpft wäre … Aber nur beinahe …!!“

Gipsy Maad lächelte nicht mehr …

Sie zweifelte nicht weiter, daß dieser Schurke die Wahrheit sprach …

Aber ihr erster Schreck ging rasch vorüber … Sie wußte, daß sie allein in diesem Spiel die Trümpfe in der Hand hatte …

Sie hielt es nur für diplomatisch, die Bestürzte zu heucheln …

„Und – – wie haben Sie Mr. Nielsen überlistet?!“ fragte sie stockend.

„Ähnlich wie Sie, Miß Maad … Ähnlich …! Die Einzelheiten will ich nicht ausspinnen … Jedenfalls, er gefällt mir, der Mr. Nielsen … Genau wie Sie mir gefallen … Sie sollen es hier auch nicht schlecht haben, Miß Maad … Keineswegs … Nach drei Tagen werden Sie wieder frei sein … Dann fliege ich mit der Sphinx und dem Golde hoch im Äther … Ich freue mich darauf … Die Sphinx muß ein wunderbares Fahrzeug sein. Die Sphinxleute sind so liebenswürdig, das Luftboot jetzt sehr sorgfältig zu reparieren …“

„Sie scheinen außer dem Hausmeister Roussell noch mehr Spione in Schloß Missamill zu haben …“

„Oh – vielleicht …! Der arme Roussell hat sich erschossen … Was Ihnen neu sein dürfte …“

Gipsy schaute den Leichenhaften ungläubig an …

„Erschossen?! Ist … ist das wahr?!“

„Wozu sollte ich lügen, Miß Maad? Roussell ist tot … Gewissensbisse …“

Er beobachtete sie jetzt unausgesetzt … Er spürte jeder Veränderung in ihren Zügen nach … Er tat es so wenig beherrscht, daß Gipsy sofort erkannte, er wollte feststellen, wie sie über Roussell dachte!

Sie spielte Komödie …

Es klang hart und unerbittlich, als sie jetzt erklärte:

„Er hat den Tod verdient! Er war ein Verräter! Er lohnte Mr. Randercilds Vertrauen mit Undank …“

„Undank?! – Miß Maad, wer auf Dank rechnet, ist ein Narr …“

Die Schärfe in seinen Blicken verlor sich … Er schien beruhigt. Er nahm an, daß auch Gipsy in Roussell den Spion vermutete …

So zog er sich denn zurück – mit einer durchaus höflichen Verbeugung …

Die Tür klappte zu …

Gipsy aber saß regungslos, den Blick noch immer auf die Stelle gerichtet, wo Mr. Null soeben noch gestanden und ihr die Verbeugung gemacht hatte …

Gipsy rief sich diese besondere Art von Verneigung nochmals ganz genau ins Gedächtnis zurück. Sie vergegenwärtige sich Mr. Nulls Gestalt und sah im Geiste mit größter Deutlichkeit, wie er sich von ihr verabschiedet hatte …

Immer mehr festigte sich da in ihr die Überzeugung, daß ihr diese Art sich zu verneigen bereits einmal als ungewöhnlich aufgefallen war – diese halbe Drehung des Oberkörpers nach rechts und diese etwas schiefe Haltung des Kopfes.

Kein Zweifel, sie kannte diesen zur Leichenfratze zurechtgeschminkten Menschen! Sie kannte Mr. Null persönlich! Irgendwo war er ihr bereits begegnet, und zwar est vor kurzem noch!

Ganz still saß sie da, die junge Detektivin …

Grübelte … grübelte

Wo – wo nur hatte sie diesen Menschen kennengelernt, der seine Stimme so trefflich verstellte …?! Es mußte derselbe Mann sein …! Es wäre ein zu seltsamer Zufall gewesen, wenn zwei Leute sich diese eigenartig geschmeidig, abgezirkelte Verbeugung angewöhnt haben sollten!

Und dann – nach endlosen Minuten intensivsten Nachdenkens – dann hob Gipsy Maat den Kopf mit einer ruckartigen Bewegung …

Ihr Gesicht war merkwürdig gespannt … Ihre Augen waren halb zugekniffen …

Und ihre Blicke durcheilten gleichsam zahllose Meilen – bis hin zu Schloß Missamill …

Dort im Schlosse, unten in den Kellern im Vorraum der Stahlkammer war’s gewesen … Jetzt wußte sie es mit größter Bestimmtheit … Dort hatte sie den Mann kennengelernt … Kurz nach ihrer Ankunft in Randercilds Sommerresidenz …

Ein frohes Leuchten ließ ihre Augen nunmehr sich weiten …

Denn, jetzt war dieser Schurke endgültig entlarvt – – endgültig – ein doppelter Schurke, einer, der in verschiedenen Masken wie ein erstklassiger Jongleur mit Gefahren spielte …! –

Gipsy atmete tief und langsam, um ihre ungeheure Erregung niederzuhalten …

Es gelang ihr nicht …

Zu wichtig war das, was sie einzig und allein ihrer scharfen Beobachtungsgabe verdankte …

Mr. Null war nicht mehr Mr. Null …

Die Hüllen waren gefallen …

Mr. Null und der Spion in Missamill waren ein und dieselbe Person …!! –

Gipsy sprang auf … Schritt in der engen Zelle hin und her …

Ihre Gedanken galoppierten …

Oh – wenn jetzt nur auch das gelungen war, was sie heute mit ihren Kollegen Jolling und dem kleinen Brett Caag verabredet gehabt hatte …!

Oh – dann waren Mr. Nulls Tage gezählt …! Dann würde sie, Gipsy Maad, unerhörte Triumphe feiern … Dann würden alle Zeitungen ihren Namen und ihr Bild bringen … Dann würde auch Nielsen einsehen, daß ein Weib nicht lediglich ein halbes Geschöpf war …! –

Allmählich zwang sie sich doch zur Ruhe … Sie sagte sich, daß sie mit ihren Kräften sparsam umgehen müßte, daß sie Schlaf brauchte …

Angekleidet warf sie sich auf das saubere Brett und schloß die Augen …

Aber immer von neuem sah sie den Mann mit der seltsamen Verbeugung vor sich auftauchen…

Diesen Mann, der da im Schlosse Missamill so vollkommen anders aussah, der auch nicht die allergeringste Ähnlichkeit mit der Null hatte und der doch Mr. Null war …!

Nach einer halben Stunde schlief sie ein. – –

Der Leichenhafte war indessen längst im Vorderhause in Tschang Lus Arbeitszimmer …

Der hagere Tschang hatte ihn erwartet – mit Angst im Herzen … mit Haß im Hirn …

Aber – es war nicht mehr dieses sklavische Furcht von früher … Nein – Mr. Null, der Sipa, hatte ‚sein Gesicht verloren …’ Daran war nichts mehr zu ändern … Und Tschang bangte nur um eins, darum, daß der Plan der Brüder der roten Dschunke irgendwie durch das Eingreifen des Sipa mißglücken könnte …

Da trat dieser ein …

Gelassen wie immer … Voller Verachtung für Tschangs Unterwürfigkeit …

„Du wünschest, ehrwürdiger Sipa?“ dienerte der Händler kriecherische.

Mr. Null sagte kurz:

„Ich wünsche, daß ihr euch beeilt … Dr. Falz muß verschwinden … Morgen … – Wie steht’s mit Pasqual Oretto, der den Steuermann Nielsen im Motorboot hierher begleitet hat?“

Tschang klappte wie ein Taschenmesser zusammen.

„Ich habe noch keine Nachricht …“ meinte er seufzend. „Aber ich …“

„Schon gut … – Also morgen der Doktor … Benehmt euch geschickt … Fünfzigtausend Dollar für ihn – genau wie für Nielsen und Gipsy Maad … Ein netter Verdienst, Tschang … Das mußt du zugeben …“

„Viel Gefahr dabei, oh Sipa …“

„Kinderspiel …!! – – Noch eins, unterlasse es gefälligst, mir deine Spione an die Fersen zu heften!!“ Und diesen Satz sprach er hart und drohend … „Merke ich, daß deine Kreaturen mir nachschleichen, bis du … fertig! – – Gute Nacht, Tschang …“

Er eilte in den Hof …

Er kannte diesen Fuchsbau in allen seinen Teilen …

Durch Sung Lo Schens Teestube, durch den Seitenausgang, gelangte er auf die Straße …

Es war jetzt ein Uhr morgens …

Zwei Matrosen torkelten Arm in Arm an ihm vorüber und verschwanden in der Tür des Bordells neben der Teestube …

Der Sipa schaute sich um …

Die Straße war jetzt leer …

Hastig glitt er an den Häusern dahin …

Augen, Ohren in steter Bereitschaft …

Kam in die nächste breitere Straße, schlüpfte hier in ein Hotel fünften Ranges …

Der Nachtportier schien ihn zu kennen … Der Leichenhafte war jetzt plötzlich ganz Vertreter des frommen Berufs, dessen Kleidung er trug …

„Nr. 11 ist frei, Ehrwürden,“ sagte der Portier und händigte ihm einen Schlüssel aus.

Der Unheimliche stieg die Treppe empor, schloßs Zimmer Nr. 11 auf, schloß hinter sich ab und … kletterte durch das Fenster auf das Dach einer Autogarage, die schon zur Parallelstraße gehörte …

Wenige Minuten später war er im lebhaften Nachtverkehr dieser Straße untergetaucht – nicht mehr als Mr. Null … Nein – jetzt als der spitzbärtige Mr. Gordon, als der angebliche Vertraute der Null.

Gordon und Mr. Null waren ein und dieselbe Person … – –

* * *

Und gegen ein Uhr morgens finden wir im Zimmer des Chefs des Detektivinstituts Worg & Co. drei Herren beieinander: Tom Jolling, Brett Caag und Mr. Ephraim Pannacroft, jetzt alleiniger Inhaber der Weltfirma, nachdem den armen Worg auf der schwarzen Insel das Schicksal ereilt hatte …

Sie saßen und rauchten, die drei, und Jolling erstattete Bericht …

„Die Geschichte ist also folgendermaßen, Mr. Pannacroft … Als Miß Maad, Brett und ich gestern vormittag Schloß Missamill verließen, sagte Gipsy unterwegs zu uns: ‚Gebt acht, die Null wird mich klappen wollen! Davon bin ich überzeugt. Und – es wäre gut, wenn er’s täte … Wir wollen ihm die Sache erleichtern. Sobald wir in Neuyork angelangt sind, trennen wir uns zum Schein. Ich bleibe drei Stunden bei Kappelett, was bekanntlich ein billiges, gutes Speisehaus in der 21. Straße ist, Mr. Pannacroft …“

„Ich weiß …“ nickte der Chef …

„Nun – Caag und ich hatten also drei Stunden Zeit, uns zu verändern. Inzwischen hatten wir gemerkt, daß wir beschattet wurden … Chinesen waren hinter uns her. Als wir zu Kappelett gingen – einzeln natürlich – hatten wir die gelben Schufte abgeschüttelt … Aber bei Kappelett hockten noch zwei von den Brüdern, die sich Gipsy aufs Korn genommen hatten. Wir taten so, als ob Gipsy für uns Luft sei … Sie verließ nach einer halben Stunde das Speisehaus, und die beiden Gelben ebenfalls, und wir desgleichen … – Das war so gegen fünf Uhr nachmittags, als Gipsy ihrer Wohnung erreichte – 18. Straße, Nr. 122, fünfter Stock …“

„Kürzer!“ mahnte Pannacroft …

„Die Eigelbvisagen schlüpften hinter ihr ins Haus … Und jetzt erst merkte ich, daß diesen beiden Kerlen beständig ein Lastauto mit drei großen Weidenkörben folgte … – Nun – ich will’s gleich sagen, Mr. Pannacroft …: die frechen Banditen haben Gipsy in ihrer Wohnung überfallen … Einer holte dann von dem Lastauto mit Hilfe eines der drei auf dem Kraftwagen sitzenden Chinesen einen der Weidenkörbe ins Haus… In diesen Korb haben sich Gipsy verpackt und sind dann davongefahren … Caag und ich – stets getrennt – hinterdrein – bis ins Chinesenviertel … Der Korb wurde vor Sung Lo Schens Teestube abgeladen und in den Hof getragen … Mithin steht die ‚Null’ mit dem Teestubenbesitzer in Verbindung … Und jetzt wird dieses Haus von acht unserer zuverlässigsten Vigilanten, alles Farbige, ständig beobachtet.“

Mr. Ephraim Pannacroft rieb sich schmunzelnd die Hände …

„Fein gemacht, Jolling, sehr fein …! Diese Gipsy ist ein Mordsmädel …!! Für die Ergreifung der Null sind dreißigtausend Dollar Belohnung ausgesetzt … Ein leidliches Geschäft … – Und jetzt wollt Ihr also abwarten, ob ihr die ‚Null’ nicht mal in der Teestube erwischt … Sehr gut als … Nur – nur – wißt ihr denn, wie dieser Mensch aussieht?! Keiner weiß es – keiner!“

„Mr. Pannacroft, wenn wir jeden Europäer, der sich bei Sung Lo Schen sehen läßt, im Auge behalten, werden wir schließlich auf den richtigen stoßen …“

„Hm – und so lange soll Gipsy die Gefangene der Null bleiben, und so lange sollen auch Mistreß Gaupenberg und Mistreß Hartwich, die nun doch wahrscheinlich gleichfalls dort im Chinesenviertel stecken, da belassen werden?!“ –

„Mr. Pannacroft, Gipsy hat uns eingeschärft, nichts zu übereilen …“

„Damit hat sie auch ganz recht, lieber Jolling … Nur – wie werden Graf Gaupenberg und Mr. Hartwich sich dazu stellen?!“

„Die erfahren vorläufig nichts …“

„Nun gut … – Und ihr beide, Jolling?“

„Wir bitten um weitere vier Leute der Unsrigen.“

„Sollt ihr haben … – Aber – seid vorsichtig! Ihr kennt das Chinesenviertel ja …!!“

„Und ob …!!“

Es klopfte …

Pannacroft rief: „Herein!“ Es war einer der Matrosen, die scheinbar das Bordell betreten hatten, als die Null aus dem Seitenausgang der Teestube auf die Straße gekommen war.

Der Matrose, ein Mulatte, begrüßte die drei Detektive vertraulich und erstattete dann Meldung: „Ein Europäer, ein Reverend, – aus der Teestube – dann in das kleine Hotel, dort Zimmer Nummer 11 – dort nicht mehr zu finden – über Garagendach ausgekniffen …“ –

Pannacroft rief:

„Das ist er!! Das ist die Null! – Was weiß der Hotelportier?“

„Nur wenig … Der Reverend Mr. Golding käme häufiger für eine Nacht oder für ein paar Stunden und nähme stets Nummer 11 …“

„Er ist’s!“ frohlockte jetzt auch Jolling … „Wollen wir wetten, Caag? Er ist’s …!“

„Was zu beweisen wäre,“ meinte Brett Caag …

Der Mulatte wiegte den Kopf zweifelnd hin und her …

„Der Portier erklärte noch, daß der Reverend für die Innere Mission tätig sei …“

„Und was sagte er dazu, daß Nr. 11 leere war?“

„Nun – er war erstaunt … Sehr erstaunt … Mr. Golding bezahlt das Zimmer im übrigen gleich für eine Nacht voraus … Und um fünf Uhr morgens wird der Nachtportier abgelöst … Vielleicht hat der Reverend stets nur das Zimmer zum Durchschlupf auf das Garagendach benutzt – vielleicht … – Trotzdem, der Mann sah ganz wie ein Geistlicher aus – blaß und hohläugig – wie ’ne Leiche …“

„Er ist’s!“ wiederholte Ephraim Pannacroft mit voller Sicherheit. „Wir sind ihm auf der Spur! Wir werden ihn fangen …! Das gibt eine Reklame für uns, die ’ne Million wert ist …!“

Jolling sagte ernst: „Das gibt eine große Freude für die beiden Ehemänner, wenn wir ihre Frauen nach Schloß Missamill zurückbringen … Das gibt Ruhm und Ehre für unsere Kollegin Gipsy, die alles so richtig vorausgesehen hat … Sie kam auf den Gedanken, sich dem Schurken in die Hände zu spielen und so sein Hauptquartier zu ermitteln …“

Da war Mr. Ephraim Pannacroft doch arg beschämt, da er ausschließlich an den Nutzen der Firma gedacht hatte … –

Jolling und der kleinen Brett verabschiedeten sich von ihrem Chef und gingen in den Schlafsaal der Nachtsektion hinüber, um hier die geeigneten Leute auszuwählen, die nun helfen sollten, das Netz um den frommen Reverend noch engmaschiger zu knüpfen.