Von W. Kabel.
Es war an einem wunderbar milden Maiabend. Wir saßen plaudernd auf dem blumengeschmückten Balkon, der zu meines Freundes Dr. Minkows Wohnung gehörte. Eben hatte die Uhr der nahen Kirche die zehnte Stunde geschlagen, als vor der Haustür ein ländliches Fuhrwerk hielt. Minkow beugte sich über das Geländer des Balkons, schaute prüfend auf die Straße hinab und meinte dann befriedigt: „Wenn mich nicht alles täuscht, so gilt das mir.“ Und er hatte sich nicht geirrt. Der Gutsbesitzer Werner auf Alt-Fietz hatte sich, wie der Kutscher des Gefährtes meldete, einen rostigen Nagel in den Fuß getreten, und das ganze Bein sollte schon geschwollen sein. Freund Karl packte schnell die nötigen Instrumente in seiner Handtasche und rief mir dabei zu, ich könnte ihn eigentlich begleiten. In zwei Stunden wären wir sicher zurück.
Nach halbstündiger Fahrt rief ich den Kutscher an.
„Halten Sie an!“ befahl ich dem Manne, einer schnellen Eingebung folgend. „Ich möchte aussteigen. Die Nacht ist zu schön. Ich gehe hier auf und ab.“
Ich war den Weg, den wir gekommen, ein ganzes Stück zurückgewandert. Meine Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt. Auf einem Hügel, von dem man die Landschaft weithin überblicken konnte, blieb ich stehen. Ich wußte, etwa einen Kilometer vor mir lag die See. Und da, während ich so von meinem hohen Standorte nach dem Meere hinabblicke, bemerke ich etwas, das mir unwillkürlich auffällt, und bald meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Ein rötlich gelber Lichtschein ist’s, der stets an derselben Stelle in unregelmäßigen Zwischenräumen erscheint, verschwindet, wieder auftaucht und erlischt. Gerade dieses unregelmäßige Aufblitzen gibt mir zu denken.
Und jetzt – jetzt ist jenes Licht unten am Strande plötzlich verschwunden. Ich stehe und warte. Meine Blicke durchsuchen die Dunkelheit, gleiten in weitem Bogen hin und her. Nichts ist zu sehen. Schon will ich umkehren, als ich abermals ein in ungleichen Zwischenräumen auftauchendes Licht erspähe, aber dieses Mal an einer anderen Stelle, keine zwei bis dreihundert Meter seitwärts von mir in unmittelbarer Nähe der Gutsgebäude, und zwar anscheinend mitten auf dem Felde.
Inzwischen war es Zeit geworden, auf den Feldweg zurückzukehren, wenn ich meinen Freund und den Wagen nicht verpassen wollte. Karl wunderte sich nicht wenig, als ich ihn nachher auf dem Rücksitze des Gefährtes allein ließ und auf den Bock stieg.
„Ich erkläre Dir später alles zu Hause,“ sagte ich, ganz mit meinen Gedanken beschäftigt, die nur der geheimnisvollen Lichttelegraphie galten. –
Als wir dann in Doktor Minkows Sprechzimmer in der gemütlichen Ecke saßen, teilte ich ihm zunächst meine Beobachtungen auf dem Felde bei Alt-Fietz mit und fuhr dann fort: „Es lag mir also sehr viel daran, den Kutscher unauffällig auszuhorchen. Und von ihm erfuhr ich auch wirklich zweierlei, was meinem Dafürhalten nach ganz sicher mit dem Austausch der Lichtzeichen zusammenhängt. Erstens – seit drei Wochen sind in einer dicht am Strande erbauten Holzbaracke zwanzig Sträflinge aus dem Zuchthaus Mewe untergebracht, die mit der Aufforstung der Dünen beschäftigt werden. Und diese Wohnbaracke für die Zuchthäusler liegt anscheinend genau an jener Stelle, wo ich zuerst das rötlich gelbe Licht aufblitzen sah. –
Zweitens – seit ungefähr vierzehn Tagen hat der Gutsbesitzer Werner in Alt-Fietz einen neuen Arbeiter eingestellt, der auffallender Weise mit dem geringen Lohn zufrieden sein wollte, nur um überhaupt ein schnelles Unterkommen zu finden. Der Mensch wollte eben auf jeden Fall in Alt-Fietz beschäftigt werden, wo er den Zuchthäuslern nahe ist und auch eine Gelegenheit auskundschaften kann, sich mit ihnen irgendwie in Verbindung zu setzen.“
Die nächsten Nächte lag ich unweit des Gutes auf der Lauer. Doch so sehr ich auch meine Augen anstrengte, ich bemerkte nichts Auffälliges. Da entschloß ich mich am dritten Tage zu einer Änderung meiner Taktik. Ich ließ mich am frühen Vormittag bei Herrn Werner, dem Besitzer von Alt-Fietz, melden, um mir in ihm einen Bundesgenossen zu sichern. Als ich ihn um seinen Beistand bat, war er schnell bereit, mich in jeder Weise zu unterstützen. Der Arbeiter wurde also herbeigerufen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis Seiler erschien.
Werner fragte ihn scharf aus und er gab zu, tatsächlich nachts mit einer Lampe auf dem Felde gewesen zu sein; angeblich um ein verlorenes Messer zu suchen. Da dies gegen die Hausordnung verstieß, wurde er sofort entlassen.
Nach etwa einer halben Stunde verließ Friedrich Seiler mit einem Bündel auf dem Rücken den Gutshof und schlug den Weg nach der Stadt ein. Auf Nebenpfaden quer durch die Felder schleichend folgte ich ihm, ohne daß er meiner gewahr wurde. In der Vorstadt stieg ich mit ihm dann auch in dieselbe elektrische Straßenbahn, die ich, wie ein Schatten hinter ihm bleibend, am Hauptbahnhof wieder verließ. Er kaufte sich tatsächlich ein Billet nach der Kreisstadt.
Gegen fünf Uhr nachmittag trafen wir auf dem Berenter Bahnhof ein.
Zu meinem Erstaunen verließ er die Stadt.
Eine gute halbe Stunde war vergangen. Noch immer schritten wir beide die Chaussee entlang. Da bemerkte ich zur Rechten die blinkenden Wasser eines großen Landsees, dessen westliches Ufer eine langgestreckte, mit einigen niedrigen Kiefern bedeckte Halbinsel bildete.
Nach einer weiteren knappen Viertelstunde hatte Seiler die erwähnte schmale, sandige Halbinsel betreten, wo er jetzt, die Augen auf den Boden gerichtet, langsam auf und ab ging. Plötzlich warf er sein Bündel hin, schaute sich erst noch vorsichtig um und begann dann mit einem Spaten eifrig die Erde aufzuwühlen. Schon nach kurzer Zeit sah ich, wie er aus dem aufgeworfenen Loche einen dunklen, ziemlich großen Gegenstand hervorzog.
Die Dunkelheit war schon völlig hereingebrochen, als wir wieder auf dem Berenter Bahnhof eintrafen. Da sah ich vor mir im Lichte der Laternen Uniformknöpfe und einen Helm aufblinken. Es war ein Gendarm. Kurz entschlossen sprach ich ihn an.
Wenige Minuten später standen wir vor dem uns ganz entgeistert anstarrenden Seiler.
* * *
Vor zwei Jahren wurde in dem unfern der Kreistadt Berent gelegenen Schloß Stensitz, das dem Grafen von Stensitz und Herfeld gehörte, in einer Novembernacht ein Einbruch verübt. Es gelang den Dieben das schwere eiserne Geldspind mit Gewalt zu öffnen und völlig auszurauben. Auf dem Rückzuge wurden sie jedoch von den beiden Inspektoren des Grafen, die gerade zu Pferde von einem Besuche in der Nachbarschaft heimkehrten, bemerkt und mit Hilfe der Jagdmeute, die man sofort auf ihre Spuren gehetzt hatte, stundenlang verfolgt und schließlich auch eingefangen. Leider aber blieb der wertvolle Raub, – zwölftausend Mark in Banknoten und Gold und etwa achtzehntausend Mark in Kleinodien – den die Verbrecher in einer Tischdecke eingebunden und mitgenommen hatten, trotz der eifrigsten Nachforschungen, die noch in derselben Nacht bei Fackellicht angestellt, leider aber durch einen alle Fährten verwischenden Platzregen sehr erschwert wurden, spurlos verschwunden.
Die beiden wurden dann, da ihr Vorstrafenkonto schon recht erheblich belastet war, zu langjährigem Zuchthaus verurteilt. Hartung glückte es zu entfliehen und sich auch fernerhin dem Arme der strafenden Gerechtigkeit zu entziehen. Dieser Hartung nun ist derselbe Mann, der sich vor ungefähr zwei Wochen als Tagelöhner unter dem Namen Friedrich Seiler und mit weiß Gott wo gestohlenen Ausweispapieren bei dem Gutsbesitzer Werner in Alt-Fietz verdingte, ist weiter derselbe, den ich sofort in Verdacht hatte, mit den Sträflingen dort in der Baracke am Strande heimlich in der Nacht Lichtsignale ausgetauscht zu haben und den ich dann hartnäckig verfolgte, bis ich ihn eben gestern abend auf dem Berenter Bahnhof festnehmen lassen konnte.
Bei der Flucht hatte Kaminski das Bündel getragen. Hartung strebte nun stets danach, sich mit dem Zuchthäusler in Verbindung zu setzen, um das Versteck des Schatzes zu erfahren.
Aber Jahre vergingen, ohne daß sich ihm hierzu auch nur die geringste Möglichkeit bot. Da erfuhr er Ende April dieses Jahres von einem eben entlassenen Zuchthäusler, daß Kaminski mit zu den Sträflingen gehörte, die zur Aufforstung der Dünen in der Nähe des Gutes Alt-Fietz verwendet und dort in einer Baracke untergebracht werden sollten. Hartung trat nun bei dem Gutsbesitzer Werner in Dienst und paßte auch bald eine gute Gelegenheit ab, wo er sich dem früheren Genossen, während dieser mit den andern Zuchthäuslern in den Dünen bei der Arbeit war, zu erkennen geben konnte. Ein verstohlenes Augenblinzeln im Vorübergehen genügte hierzu. Nach einigen Tagen gelang es Hartung denn auch, als er zwei Pferde zur See hinab nach der Schwemme führte, Kaminski ganz unauffällig ein Zettelchen in die Hände zu spielen, auf dem nur die ungefährlichen Worte standen: „Elf durch Fenster auf Licht achtgeben.“ Da es Hartung nun zu gewagt schien, weitere Mitteilungen durch Zettel, die nur zu leicht durch einen Zufall in unrechte Hände geraten und dann nicht nur alles verderben, sondern auch seine eigene Person der Gefahr des Wiederergriffenwerdens aussetzen konnten, an Kaminski gelangen zu lassen, hatte er sich einen anderen, äußerst raffinierten Plan zurechtgelegt, um dem eingeschlossenen Genossen trotz der strengen Überwachungsmaßregeln dennoch die notwendigen Nachrichten zu geben. Und dieser Plan glückte auch. Am Abend desselben Tages schlich Hartung sich mit einer Küchenlampe, die er sich heimlich besorgt hatte, nach dem Backofen hinter der Scheune, dessen erhöhte Lage für seine Zwecke besonders geeignet war. Er öffnete die Tür des Ofens, kroch hinein, zündete die mit einem blanken Blechscheinwerfer versehene Lampe an und begann in der Richtung nach der etwa einen halben Kilometer entfernten Baracke hin zu signalisieren, indem er die einzelnen Buchstaben des Alphabets je nach ihrer Stellung in der Reihenfolge der übrigen durch ebensoviele kurze Lichtblitze durch Hoch- und Niedrigschrauben des Dochtes dar-stellte.
Kaminski, der den Inhalt des Zettels, wie ja sein ferneres Verhalten bewies, richtig verstanden hatte, erwiderte sehr bald mit der ihm leicht zugänglichen Lampe des Schlafraumes den Anruf. In den Nächten darauf erfolgte nun eine eifrige, aber ebenso mit größter Vorsicht geführte Aussprache hinüber und herüber. Kaminski teilte seinem ehemaligen Genossen folgendes mit:
Er war während der kopflosen Flucht, die Verfolger dicht auf den Fersen, blindlings vorwärtsgestürmt und so auf die schmale Halbinsel des Stensitzer Sees geraten, der sich unweit vom gräflichen Schloß im weiten Bogen von Osten nach Norden hinzieht. Auf dieser Halbinsel trat er plötzlich mit dem Fuß in ein Loch, stolperte und stürzte zur Erde. Aber dieser schwere Fall, von dem er sich erst nach einigen Minuten erholte, gab ihm auch blitzschnell den Gedanken ein, in demselben Loche das ihm nur hinderliche Bündel zu verscharren. Die lockere Erde bedeckte er dann in der Hast mit einigen Steinen und trockenen Zweigen.
Nachdem Hartung auf diese Weise durch die Lichtsignale erfahren hatte, wo die Beute zu suchen war, – nebenbei geschah dies gerade damals, als ich die seltsamen Lichtblitze bei Gelegenheit unserer nächtlichen Fahrt bemerkte – blieb er, um ja keinen Verdacht zu erregen, noch zwei Tage in Alt-Fietz und gedachte dann den Schatz zu heben, wurde dabei jedoch von mir beobachtet und, wie ich schon erwähnte, später verhaftet.
Anmerkung:
Der Text ist eine stark eingekürzte Version der Zeitungsnovelle Leuchtende Zeichen.