Ein lauer, köstlicher Vorfrühlingsabend war’s. Selbst in den so stillen Straßen des Berliner Westens herrschte heute ein ungewohnt lebhafter Verkehr. Nach neuester Mode gekleidete Damen und Herren, die Bewohner dieses reichen Viertels, schlenderten jetzt gegen ein halb zehn Uhr dem nahen Kurfürstendamm zu, um dort in einem der zahlreichen Cafés den Abend zu verbringen.
Niemand von all diesen sorglosen Menschen achtete an diesem Abend des 25. April auf das ärmlich gekleidete junge Mädchen, welches mit einem länglichen Paket im Arm die Siegfriedstraße entlang hastete und dann im Hause Nummer 19 verschwand. Die Haustür war noch offen, da der Portier gerade damit beschäftigt war, die Treppenläufer abzunehmen, die morgens geklopft werden sollten.
Portier Minzlaff kannte Lori Battner von Ansehen schon und erwiderte ihren Gruß mit den freundlichen Worten:
„Die Jnädige is daheim, Fräulein. Arbeiten Sie noch immer für die olle Nepphenne?!“
„Ich muß ja,“ klang es leise zurück.
Dann war Lori Battner oben im vierten Stock angelangt und hob den Glockengriff an der rechten Flurtür. Hier war ein Messingschild mit der Aufschrift ‚von Rabinski‘ befestigt. Während das junge Mädchen nun wartete, dachte sie über Portier Minzlaffs gallige Worte nach. Eine ungeheure Bitterkeit stieg in ihr hoch. Der Portier hatte ja nur zu recht, wenn er die Freifrau von Rabinski als Nepphenne bezeichnete. Lori wußte recht gut, daß die Dame für die gestickten Taschentücher und künstlerischen Schleier, die Loris fleißige Finger herstellten, gut das Doppelte von dem erhielt, was sie ihr und den anderen Frauen und Mädchen bezahlte, die sie durch verheißungsvolle Zeitungsannoncen anzulocken verstand. Aber um diese schamlose Ausnutzung fremden Fleißes kümmerte sich niemand. Im Gegenteil, die Rabinski tat stets noch so, als ob es ihr sehr schwer fiele, die Stickereien unterzubringen, und sorgte in raffiniertester Weise dafür, daß die armen Geschöpfe, die aus bitterster Not Tag und Nacht emsig die Nadel handhabten, nur um nicht in diesen trüben Zeiten verhungern zu müssen, die Angst nie loswurden, der karge Verdienst könnte plötzlich wieder ganz aufhören.
Die Flurtür öffnete sich, und eine hagere Dame mit kalten, hochmütigen Zügen ließ Lori Battner eintreten.
Es war die verwitwete Freifrau Xenia von Rabinski selbst, und Lori packte nun sofort im Flur auf einem kleinen Tischchen die sechs Taschentücher und die vier Schleier aus, wobei sie mit verstärkter Bitterkeit feststellte, daß aus der Küche lockende Bratendüfte bis hier in den Flur gedrungen waren.
Die Rabinski merkte offenbar nichts von der Not der Zeit! Und Loris Abendbrot hatte in ein paar kalten abgekochten Kartoffeln bestanden.
Die Freifrau begann jetzt wie stets die Ausführung der Arbeiten zu bemängeln.
„Sie lassen in Ihren Leistungen sehr nach, gnädiges Fräulein,“ meinte sie, indem sie das an einer goldenen Kette befestigte Lorgnon nicht von den Augen ließ. „Ich werde Ihnen Schleier zum Besticken nicht mehr anvertrauen können. Überhaupt, vorläufig habe ich kaum wieder Arbeit für Sie!“
Lori griff unwillkürlich mit der Hand nach dem Herzen.
Daheim der schwerkranke Vater, der Arzt, der bezahlt sein wollte, die Medikamente! Und – keinen Verdienst mehr!
„Mein Gott,“ rief sie in besinnungslosem Schreck, „dann – dann –“. Sie schwieg, wußte gar nicht, was sich ihr eigentlich an Worten wilder Angst hatte über die bebenden Lippen drängen wollen.
Ein lauernder Blick des hageren, trotz der fünfzig Jahre noch immer recht begehrenswert erscheinenden Weibes streifte Loris blasses, schmales Gesichtchen, dem die langbewimperten dunklen Augen einen ganz besonderen Reiz verliehen.
„Geht es Ihrem Vater denn schlechter?“ fragte die Rabinski nun mit gut geheucheltem Mitgefühl.
„Ja, sehr schlecht, Frau Baronin,“ schluchzte Lori auf. „Seien Sie barmherzig! Beschäftigen Sie mich weiter. Ich verlange auch keine bessere Bezahlung, obwohl –“. –
Sie konnte nicht weiter sprechen. Tränen erstickten ihre so köstlich wohllautende Stimme, die sich wie Musik ins Ohr schmeichelte.
„Haben Sie denn so gar keine Verwandten, die Ihnen helfen könnten?“ meinte die Rabinski mit einem erneuten lauernd prüfenden Blick, der offenbar jede Veränderung in Loris Zügen sofort herauszufinden trachtete.
Lori Battner schüttelte müde den Kopf. „Niemanden, Frau Baronin. Wir wohnen ja auch erst ein Jahr in Berlin, haben nicht einmal Bekannte, die sich unser annehmen würden.“
„Und – wo wohnten Sie früher?“
Lori zögerte etwas mit der Antwort. Beinahe wäre ihr die Wahrheit entschlüpft. Dann aber erinnerte sie sich noch zur rechten Zeit an die eindringlichen, so seltsam geheimnisvollen Worte ihres Vaters und erwiderte mit flüchtigem Erröten:
„In dem jetzt polnisch gewordenen Dorfe Seskowzo an der westpreußischen Grenze. Ich glaube, ich habe dies Frau Baronin schon einmal erzählt.“
„Möglich,“ sagte die Rabinski zerstreut. Sie hatte sehr wohl Loris leichte Verlegenheit bemerkt und war jetzt überzeugt, daß Lori Battner soeben gelogen hatte.
Sie überlegte rasch. Wenn sie den übernommenen Auftrag, der ihr hohen Gewinn abwerfen konnte, erfolgreich ausführen wollte, mußte sie unbedingt Loris Vater persönlich kennenlernen.
So erklärte sie denn nun mit gut geheuchelter Herzlichkeit, sie wolle unter diesen Umständen auf Loris Notlage Rücksicht nehmen und ihr ein neues Dutzend Batisttaschentücher und Schleier mitgeben.
Während sie dann Lori das Geld aufzählte, im ganzen sechshundert Mark, fügte sie hinzu:
„Ich werde Sie morgen mittag einmal besuchen, liebes Fräulein Battner. Ich habe da von einer reichen Dame einige Eßwaren zur Verteilung an wirklich Bedürftige erhalten. – Oh, danken Sie mir nicht. Ich helfe gern, wenn ich es kann. Leider lebe ich selbst in den bescheidensten Verhältnissen, wie Sie wissen. Auf Wiedersehen also –“. –
Inzwischen hatte Portier August Minzlaff eine recht merkwürdige Beobachtung gemacht, die ihn jetzt, als Lori die Treppen wieder herabkam, veranlaßte, ihr zuzuflüstern:
„Fräulein, entschuldigen Sie man, daß ick mir in Ihre Sachen einmische. Aber – nischt for unjut – da draußen treibt sich auf der andern Straßenseite wieder derselbe bucklige alte Kerl herum, den ich schon vor fünf Tagen sah, als Sie oben bei der Nepphenne waren. Wat is det eijentlich forn Kerl, Fräulein? Hat er Sie schon mal belästijt? Sie sind ja mit ’n mal janz schwach auf die Beene jeworden und so blaß – so blaß!“
Lori hatte sich wirklich an das Geländer gelehnt. Ein Zittern lief ihr über den Leib hin. Sie starrte Minzlaff so entsetzt an, daß der nun brummte:
„Soll ick den Kerl mal so ’nen kleenen Wink mit ’n Zaunpfahl jeben, daß er verschwindet, Fräulein? Ick tu’s jerne. Mir macht det nischt.“
„Nein, nein!“ rief Lori leise. „Der Mann ist mir ja noch nie zu nahe getreten. Nur – nur seit etwa vierzehn Tagen tauchte er stets in meiner Nähe auf, wenn ich ausgehe –“.
„Hm,“ meinte der Portier. „Det sieht ja jrade so aus, Fräulein, als hätten Sie wat berissen, und der Kerl wär’ ’n Kriminaler, wat man so ’nen Polizisten in Zivil nennt!“ Er schmunzelte dazu. „Ne, ne, ick weeß ja, daß dat nich stimmt, Fräulein. Ihnen braucht man bloß in die Augen zu sehn. Ihnen traut keener was Schlechtes zu!“
Lori hatte sich wieder gefaßt, nickte Minzlaff freundlich zu und erwiderte: „Ich bin ja nur durch die viele Arbeit so nervös geworden. Ich habe ja eigentlich gar keinen Grund, den Fremden irgendwie zu fürchten, zumal ich ja ganz in der Nähe, in der Gudrunstraße, wohne. Gute Nacht, Herr Minzlaff.“
Sie eilte die letzten Stufen hinab und zur Haustür hinaus.
Als sie sich auf der Straße flüchtig umschaute, bemerkte sie den Buckligen nirgends. So schritt sie denn auch nicht allzu schnell weiter, atmete tief die von Lenzesahnen erfüllte Abendluft ein und gedachte in stiller Dankbarkeit der Freifrau von Rabinski, von deren Charakter sie heute ein so ganz anderes Bild erhalten. Sie schämte sich fast, diese Dame bisher so falsch beurteilt zu haben, die nun doch aus reiner Nächstenliebe für den kranken Vater sorgen wollte. –
Die Gudrunstraße war die nächste Parallelstraße der Siegfriedstraße. Hier bewohnte Albert Battner mit seinem einzigen Kinde in einem modernen Miethause fünf Treppen hoch nach vorn heraus ein Mansardenstübchen und eine schräge Dachkammer, die gleichzeitig als Küche diente. Nur die Wohnungsnot hatte aus diesen beiden Bodenräumen eine menschliche Behausung gemacht. Ein Zufall war’s gewesen, daß Albert Battner vor einem Jahr den Hauseigentümer kennenlernte, der ihm dann aus Mitleid das Stübchen und die Kammer überließ, die bisher nie bewohnt gewesen.
Das Haus Gudrunstraße Nummer 20 machte schon von außen einen sehr vornehmen Eindruck. Nur im Erdgeschoß und im vierten Stock gab es je zwei Wohnungen. Die übrigen Etagen enthielten jede nur eine Achtzimmerwohnung, so daß im Vorderhause neun Familien, Battners mitgerechnet, wohnten.
Die Treppen waren mit hellgrauen Plüschläufern belegt. Der Fahrstuhl, reich verziert und stets in Ordnung, war für Lori Battner freilich wertlos, da der Portier Huberke, ein ganz anderer Mann als der gemütliche Minzlaff, ihr die Benutzung verboten hatte. Emil Huberke trug es den beiden Battners noch immer nach, daß er die Mansardenstube, wo er allerlei alte Möbel untergestellt gehabt, ihretwegen hatte freimachen müssen.
Als Lori die Treppen emporeilte, begegnete sie dem Mieter der Frau Rechnungsrat Prutz aus dem vierten Stock rechts, dem Engländer Stuart Jameson, der sie immer höflich grüßte und Lori nun mit seinen harten grauen Augen scharf ins Gesicht sah.
Lori dankte nur sehr kühl. Sie konnte Jameson nicht recht leiden, obwohl sie nicht wußte, weshalb.
Nun schloß sie die eiserne Vorbodentür auf und betrat gleich darauf das Stübchen, in dem nur ein winziges Petroleumsparlämpchen brannte.
Links neben der Tür lag Albert Battner, ein greisenhaft wirkender bärtiger, totenblasser Mann, in einem eisernen Feldbett. Lori setzte sich sofort auf den Stuhl am Kopfende des Bettes, nahm des Vaters kalte Hand und fragte ängstlich, ob er sich noch immer so schwach fühle.
Battner hüstelte röchelnd und quälte mühsam die Worte hervor: „Nein, Kind, etwas besser fühle ich mich, – etwas!“
Lori merkte, daß der Kranke sie nur beruhigen wollte.
Ein Schauer lief ihr über den Leib. Des Vaters eisige Hand fühlte sich wie die eines Toten an.
„Kann ich dir irgend etwas Warmes zubereiten?“ fragte sie sanft. „Vielleicht Tee, Vater? Friert dich etwa?“
„Nein, meine Lori –“. Er drückte ihre Hand voll inniger Zärtlichkeit. „Spare nur das Gas, Kind. Mir brauchst du keinen Tee aufzubrühen –“. Ein neuer Hustenanfall erstickte das, was er noch hinzufügen wollte.
Lori füllte schnell einen Eßlöffel aus einem Medizinfläschchen, stützte den nach Luft Ringenden und flößte ihm die beruhigenden Tropfen ein.
Nun lag Albert Battner ganz still in den Kissen. Seine Tochter hielt wieder seine Hand. Aus der vierten Etage, aus der Wohnung der Filmdiva Erna Maletta, drang Klavierspiel bis in das Stübchen hinauf, ein leichtsinniger Walzer.
„Vater, morgen wird die Baronin Rabinski zu uns kommen und dir allerlei Lebensmittel bringen,“ sagte Lori.
Albert Battner lächelte trübe. – Morgen – morgen?! Für ihn gab es kein ‚morgen‘ mehr! Er fühlte ja, wie die Eiseskälte von den Beinen immer höher kroch – höher zum Herzen hinan. Und trotzdem fühlte er eine so traumhafte, beseligende Ruhe im ganzen Körper, so etwas von überirdischem Wohlbefinden. Er wußte, daß dies die Vorboten des nahen Todes waren.
Wieder drückte er seines Kindes Hand, flüsterte dann: „Lori, hole mir den Koffer, den gelben Koffer –“.
Eine seltsame Erregung durchzitterte seine Stimme.
„Zünde auch die Gaslampe an –“ flüsterte er weiter. „Ich will zum letzten Male das sehen, was – was du noch nie – nie geschaut hast. Hole den Koffer!“
Das Gas puffte auf. Es wurde hell in dem ärmlichen Stübchen.
Dann mußte Lori den großen gelben Lederkoffer aufschließen. Er war leer.
„Hebe den Boden heraus, Kind,“ flüsterte Battner. „In der einen Ecke wirst du einen Messingknopf bemerken. Schiebe den Knopf zur Seite –“.
Lori schaute den Kranken überrascht an. Bisher hatte sie nie geahnt, daß der Koffer einen doppelten Boden hatte.
Der schnellte jetzt von selbst nach oben. In dem flachen Versteck lagen drei Bündel Papiere und ein länglicher schwarzer, ganz flacher Kasten.
„Gib ihn mir,“ hauchte Battner.
Er öffnete ihn.
Lori stieß einen leisen Schrei aus.
Der Kasten war mit schwarzer Seide gepolstert, und auf dieser schwarzen Seide gleißte und sprühte es in allen Farben.
„Diamanten,“ röchelte Battner und wühlte mit den bebenden Fingern in den losen Steinen.
„Diamanten – alles wasserklare Diamanten – heute wohl Millionen wert –“ raunte der Sterbende mit erlöschender Stimme.
Lori regte sich nicht. Wie gebannt starrte sie auf diese Juwelenpracht.
Da schlug Battner den Deckel wieder zu.
„Lori – nimm jetzt die Papiere aus dem Koffer,“ sagte er mit kaum noch verständlicher Stimme. „Verbrenne sie dort im eisernen Ofen – sofort – sofort! Gehorche, Kind! Nachher will ich dir die – die Geschichte dieser Diamanten erzählen.“
Das junge Mädchen schüttelte den lähmenden Bann von sich ab, warf die drei Bündel Papiere in den Ofen und steckte sie mit einem Streichholz in Brand.
Gierig fraßen die Flammen weiter.
Lori wandte sich dem Bett wieder zu. Da glitt der schwarze Koffer langsam von dem Zudeck herab, polterte auf den Fußboden.
Albert Battner bäumte sich noch einmal im Todeskampf empor, sank zurück.
Mit einem jammervollen Aufschrei fiel Lori vor dem Bett in die Knie, gab dabei dem schwarzen Kasten unbeabsichtigt einen Stoß, daß er bis hinten an die Wand weiterflog.
Sie tastete nach der Hand des Vaters, sie fühlte keinen Pulsschlag mehr.
„Tot – tot!“ wimmerte sie. „Nun bin ich allein, ganz allein!“ Ihre Tränen perlten auf die magere Totenhand.
Dann erhob sie sich langsam. Unklar kam ihr zum Bewußtsein, daß sie jetzt Pflichten hätte, daß sie einen Arzt holen müsse, der den eingetreten Tod bescheinigen sollte.
Der harte Daseinskampf des letzten Jahres hatte aus der einst so sorglos – fröhlichen Lori Battner ein selbständiges, zielbewußtes junges Weib gemacht. Sie stellte den gelben Koffer bei Seite. Sie dachte wohl an den schwarzen Kasten mit den Diamanten, an dieses Geheimnis, das nun vielleicht für immer Geheimnis bleiben würde. Mochte der Kasten vorläufig dort unter dem Bett liegen. Nachher würde sie ihn wieder in dem Koffer verbergen.
Vor der Haustür aber prallte sie zurück. Sie war gegen einen Menschen gelaufen, der hier durch die Türscheiben auf die Straße hinaus gespäht und sie nicht kommen gehört hatte.
Ein greller Lichtschein flog über ihr Gesicht hin, erlosch wieder, und der Engländer Stuart Jameson sagte, indem er an den Hut faßte:
„Entschuldigen Sie, Fräulein Battner. Ich wollte gerade die Tür aufschließen,“ – er klapperte mit den Schlüsseln und öffnete die Tür halb. „Haben Sie noch eine Besorgung vor?“ fragte er dann. Er sprach das Deutsche recht fließend.
„Mein – mein Vater ist soeben – gestorben,“ schluchzte Lori. Und abermals überkam sie nun der ganze Jammer ihrer plötzlichen Vereinsamung. Weinend eilte sie an Jameson vorüber und quer über die Straße, wo in Nummer 106 der Sanitätsrat Doktor Brunn wohnte, der ihren Vater behandelt hatte.
Sie sah nicht, daß im Schatten einer Haustür derselbe graubärtige Bucklige stand, der sie in letzter Zeit so hartnäckig verfolgt hatte. Sie preßte das Taschentuch gegen die Augen, und unwillkürlich rief sie im Übermaß ihres Schmerzes halblaut vor sich hin:
„Allein bin ich jetzt – ganz allein!“ –
Doktor Brunn war daheim und bat Lori zu warten. Er würde sofort mitkommen.
Fünf Minuten später schritt er mit ihr dem Hause Nummer 20 zu, tröstete sie und fragte, ob sie wünsche, daß die Leiche sofort weggeschafft würde, da die Wohnung doch so eng sei.
„Nein,“ meinte Lori. „Nein, Herr Doktor. Ich habe meinen Vater viel zu lieb gehabt, als daß ich mich jetzt, wo er tot ist, vor ihm fürchten sollte.“
Dann stiegen sie die Treppen empor, dann schloß Lori die Tür des Stübchens auf. Die Gaslampe brannte noch.
Aber – ein Blick nach dem Bett hin ließ Lori fast erstarren.
Das Bett war leer.
Doktor Brunn schaute Lori fragend an, lächelte. „Ihr Vater dürfte doch wohl –“. – Er schwieg. Lori war in ihre Kammer geeilt, hatte ein Streichholz angezündet.
Nichts – nichts! Nur das eiserne Bett, der Herd und die anderen Möbelstücke. Auch hier war der Vater nicht. –
Brunn begann Lori auszufragen. – „Wir haben nur einen Türschlüssel,“ erklärte sie. „Die Fenster sind von innen verriegelt, Herr Doktor, wie Sie sehen. Und – der Vater war tot! Das weiß ich bestimmt. Jedenfalls – man kann seine Leiche nur gestohlen haben. Wie sollte er sich entfernt haben, Herr Doktor?!“ – Sie sagte all das mit fast unnatürlicher Ruhe. Sie sprach die Worte wie mechanisch vor sich hin und dachte dabei nur an all die Geheimnisse, die mit der Person des Toten verknüpft gewesen, besonders an das letzte Geheimnis, das der Diamanten in dem schwarzen Kästchen.
Das schwarze Kästchen!
Ob es etwa auch verschwunden war?! Ob es noch unter dem Bett hinten an der Wand lag?!
Wie gern hätte Lori sich davon überzeugt! Aber sie durfte es nicht! Sie hätte sonst ja dem menschenfreundlichen Doktor Brunn mitteilen müssen, was es mit diesem Kästchen auf sich hatte. Aber eins tat sie jetzt doch. Sie erzählte ihm von dem buckligen alten Manne, der ihr in letzter Zeit nachgeschlichen war und den auch der Portier Minzlaff aus der Siegfriedstraße bemerkt hatte.
Doktor Brunn erklärte darauf mit einer gewissen Erregung, daß man den Vorfall hier, das Verschwinden Battners, unbedingt sofort der Polizei melden müsse. „Kommen Sie also mit,“ fügte er hinzu, indem er Lori aufmunternd zunickte. „Ich will jetzt so etwas für Sie sorgen, liebes Fräulein Battner. Sie sollen sich nicht so verlassen fühlen. Sie kennen ja auch meine Frau bereits. Auch bei ihr werden Sie jeder Zeit Rat und Hilfe finden.“
Lori bedankte sich mit Tränen in den Augen. Aus dem klugen Gesicht des bereits bejahrten Arztes strahlten ihr so viel reine Güte und inniges Mitgefühl entgegen, daß sie sich jetzt plötzlich wie geborgen fühlte.
Abermals verschloß sie nun den Stubeneingang und die eiserne Vorbodentür auf das sorgfältigste und folgte dem Sanitätsrat die Treppen hinab.
Als sie den Treppenabsatz des vierten Stocks erreicht hatten, blieb Lori stehen und tastete nach dem Knopf der elektrischen Nachtbeleuchtung.
In demselben Moment erscholl aus der Wohnung der Filmschauspielerin Erna Maletta ein so wahnwitziger Schrei, daß Lori vor Entsetzen dem Sanitätsrat in die Arme taumelte.
Dann wurde die Flurtür linker Hand aufgerissen, und im hellen Lichtschein der Flurlampe stürzte die bekannte Filmdiva mit schreckverzerrtem Gesicht in das Treppenhaus.
„Mord – Mord – zu Hilfe!“ gellte ihr Schrei durch das stille Gebäude.
Plötzlich gewahrte sie die beiden rechts neben dem geschlossenen Türflügel stehenden Gestalten Loris und des Sanitätsrats, fiel gegen die Tür zurück und brach ohnmächtig zusammen.
Zitternd umklammerte Lori den Arzt. „Welch furchtbare Nacht,“ flüsterte sie und schaute mit weiten, vor Grauen halb verschleierten Augen auf die bewußtlose Filmdiva, deren kostbarer Spitzenmorgenrock sich verschoben hatte und den zierlichen, mit Seidenflorstrumpf und rotem Saffianschuh bekleideten Fuß und den wundervoll geformten Wadenansatz sehen ließ.
Doktor Brunn machte sich sanft aus Loris Armen frei.
„Fassen Sie sich, mein Kind!“ sagte er mit freundlichem Ernst. „Hier haben Sie meinen Hausschlüssel. Verlangen Sie nur getrost bei mir Einlaß und bitten Sie meine Frau, daß sie Ihnen für die Nacht ein Bett herrichtet und die Polizei sofort telephonisch verständigt. Ich muß vorläufig hier bleiben. Gehen Sie, Kind. Es sollen an die Spannkraft ihrer Nerven nicht noch mehr Anforderungen gestellt werden.“
Lori zauderte. Wieder kam ihr das flache, schwarze Diamantkästchen in den Sinn. Durfte sie die kleine Mansardenwohnung die ganze Nacht über ohne Aufsicht lassen? Sollte sie nicht lieber des Arztes gütiges Angebot ablehnen? Aber – wie konnte sie diese Ablehnung nur begründen?!
Dann fiel ihr ein, daß die Polizei ja fraglos sehr bald Zutritt zu dem Stübchen verlangen würde, aus dem ihres Vaters Leiche soeben verschwunden war.
„Herr Sanitätsrat,“ erklärte sie daher hastig, „Sie können ja das Telephon Fräulein Malettas zu der Meldung benutzen. Die Polizei wird doch daraufhin sehr bald hier erscheinen, und dann muß ich dabei sein, wenn die Beamten sich unsere Wohnung ansehen wollen. Ich werde wieder nach oben gehen und Sie dort erwarten.“
Brunn blickte sie forschend an. Er hatte sehr wohl bemerkt, daß Lori Battner nach Gründen gesucht hatte, um seinen Vorschlag, die Nacht über sein Gast zu sein, mit Anstand ablehnen zu können. Ein unbestimmtes Mißtrauen gegen das junge Mädchen regte sich plötzlich in seiner menschenkundigen Seele. Das Verschwinden ihres Vaters, der angeblich tot gewesen sein sollte, erschien ihm mit einem Male in ganz anderem Lichte. Er hatte ja als Arzt längst gemerkt, daß die Vergangenheit dieses Mannes dunkle, merkwürdige Rätsel bergen müsse. Nie hatte Battner über sein früheres Leben sich irgendwie geäußert. Und auch seine Tochter hatte in dieser Beziehung sich sehr verschlossen gezeigt.
All dies schoß dem Sanitätsrat jetzt blitzschnell durch den Sinn. Dann erwiderte er in kühlerem, nicht mehr so väterlich gütigem Tone.
„Sie haben ganz recht, Fräulein Battner. Es ist der Polizei wegen wirklich besser, wenn Sie jetzt in Ihrer Wohnung bleiben. Auf Wiedersehen –.“
Lori empfand deutlich die plötzliche Kälte in seinem Benehmen. Ach – wie unendlich schmerzte sie dieses veränderte Wesen. Tränen traten ihr in die Augen. Beide Hände preßte sie auf ihr armes, einsames Herz, das jetzt in so dumpfen, verzweifelten Schlägen rascher und rascher pochte. Und doch – sie konnte Doktor Brunn ja niemals erklären, weshalb sie lieber allein in dem ihr jetzt unheimlichen Mansardenstübchen weilen wollte, als von seiner Gastfreundschaft Gebrauch zu machen! Sie durfte es nicht! Und nie, nie würde ihre Zunge über diese düsteren Rätsel sich äußern dürfen, die ihres Vaters Person einhüllten wie ein schwarzer, undurchdringlicher Mantel.
„Auf Wiedersehen,“ sagte sie ebenfalls, aber leise, klagenden Tones.
Dann schlich sie die Treppe zum Boden hinan, öffnete die eiserne Tür, schloß hinter sich ab und tastete nun im Dunkeln nach dem Schlüsselloch der Stubentür.
Sie mühte sich lange umsonst.
Da – plötzlich ging die nach innen schlagende Tür von selbst auf.
Loris Arme sanken schlaff herab. Ihre Augen glitten mit einem Ausdruck schreckhaften Staunens über die Gestalt hin, die jetzt vor ihr stand.
Dann stammelte sie kaum verständlich: „Oh mein Gott, was – was tun Sie – gerade Sie hier –?!“ –
*
Der Sanitätsrat hatte die Filmdiva mit Hilfe des inzwischen infolge der gellenden Rufe ebenfalls herbeigeeilten Grafen von Bruchsal, eines der Bewohner der dritten Etage, in das Schlafzimmer getragen, wo er sich nun um die Ohnmächtige bemühte, während der junge Graf auf seine Bitte hin das nächste Polizeirevier telephonisch anrief.
Erna erwachte. Mit einem Ruck richtete sie sich auf. Der Arzt stützte sie, fragte sanft:
„Was ist denn eigentlich geschehen, Fräulein?“
Die nachtschwarzen Augen des schönen, verführerischen Weibes irrten mit scheuer Angst nach der halb offenen Tür des Balkons hin, der nach dem Hofe hinaus lag und hier in Nummer 20 in jedem Stockwerk zu einem der Hinterzimmer gehörte.
„Dort – dort liegt er,“ flüsterte sie und streckte die mit blizenden Brillantringen besetzten, stark gepuderten Hände wie abwehrend nach jener Tür aus.
„Wer denn, Fräulein?“ forschte Doktor Brunn gespannt.
„Der – der Baron Hektor von Rabinski, der Sohn der Baronin Rabinski!“ stieß sie aufschluchzend hervor, schlug die Hände vor das Gesicht, brach in einen Strom von Tränen aus und jammerte mit wehen Lauten:
„Oh – wir hatten uns gezankt, Hektor und ich. Er ist so eifersüchtig! Er war furchtbar erregt und lief aus dem Salon hier ins Schlafzimmer, rief mir noch zu: ‚Laß mich eine Weile unbehelligt! Ich will auf dem Balkon frische Luft schöpfen! In dieser lasterhaften, parfümgeschwängerten Umgebung ersticke ich!‘“
Sie weinte stärker. –
Der Graf Udo von Brucksal hatte jetzt im Flur das Telephongespräch beendet und schlich lautlos auf die nur angelehnte Tür des Schlafzimmers zu.
Der Graf war ein schlanker Mann mit einem so mageren Gesicht, daß es bei seiner tiefen Blässe und den stets schwarz umschatteten Augen einem Totenkopfe glich. Er mochte etwa dreißig Jahre alt sein, hatte nur noch sehr spärliches Haar und trug ein Monokel ohne Fassung, das er jetzt mit dem Seidentuch dicht an der Tür zu putzen begann.
Immer weiter schob er den Kopf vor, um Erna Malettas Worte besser verstehen zu können.
Ganz regungslos verhielt er sich. Seine Körperhaltung verriet gespannte Aufmerksamkeit.
„Und dann?“ fragte des Sanitätsrats tiefe Stimme im Schlafzimmer. Er hatte sich auf den Rand des breiten französischen Bettes gesetzt, dessen Kissen und Decken mit mattgelber Seide überzogen waren, während über dem Bett eine farbige Seidenampel das mit raffiniertem Luxus ausgestattete Gemach mit einem milden, wollüstigen Licht übergoß.
„Dann – dann folgte ich Hektor nach einer Weile auf den Balkon,“ sagte die Filmdiva scheu. „Und – und da fand ich ihn – mit zerschmettertem Kopf – in seinem Blute schwimmend.“
„Waren Sie beide allein in der Wohnung?“ forschte der Sanitätsrat mit jäh erwachtem Argwohn.
„Ja. Ich hatte meine Köchin und mein Stubenmädchen heute abend beurlaubt.“
Doktor Brunn stand auf. „Ich werde mal nach dem Baron sehen,“ meinte er. „Er wird vielleicht nur verletzt sein –“.
Er ging auf den Balkon hinaus.
Wirklich, da lag ein Mann in einer großen Blutlache mit dem Gesicht auf dem Zementboden, halb zusammengekrümmt.
Brunn rieb ein Zündholz an, beugte sich vor, ohne sich dem Baron noch mehr zu nähern. Und er sah neben Hektor von Rabinskis Kopf eine schwere, gußeiserne, reich verzierte Ofenkrücke in Form eines altertümlichen Schwertes in zwei Teile zerbrochen liegen.
Er richtete sich wieder auf, nachdem er nach dem Puls des Barons gefühlt hatte, ging in das von süßlichen Duftwellen erfüllte Schlafzimmer zurück, stellte sich an das Fußende des breiten, vergoldeten Bettes und sagte leise:
„Es hätte keinen Zweck, Ihnen die Wahrheit zu verheimlichen, Fräulein Maletta. Der Baron ist tot. Er ist der zweite Tote heute Nacht in diesem Hause, denn Fräulein Battners Vater ist vor einer halben Stunde gleichfalls oben in der Mansarde gestorben. – Das heißt,“ fügte er hinzu, „wahrscheinlich ist er gestorben, denn – seine Leiche ist verschwunden!“
Erna Maletta hatte mit einem wehen Aufschrei den Kopf in die Kissen gewühlt, krallte die Hände in die knisternde Seide und weinte – weinte so jammervoll, daß Doktor Brunn sich im stillen fragte: ‚Spielt sie wirklich Komödie?! Wenn ihr Schmerz ehrlich ist, – wer sollte dann wohl den Baron mit der Ofenkrücke niedergeschlagen haben?!‘ –
Graf Brucksal lauschte noch immer vor der Tür des Schlafzimmers. Erst als der Sanitätsrat erklärt hatte, Hektor von Rabinski sei tot, entfernte er sich mit katzengleich lautlosen Schritten und geschmeidigen Bewegungen von der Tür, betrat den erleuchteten Salon der Filmdiva und huschte auf eine hohe japanische Vase zu, die auf einer Marmorsäule zwischen den beiden Fenstern stand.
Hier blickte er sich nochmals mißtrauisch um und ließ dann schnell einen kleinen Gegenstand in die Vase hinein fallen, machte mit einem wahrhaft satanischen Hohngrinsen kehrt und wartete dann im Flur, bis er draußen auf der Treppe Stimmen und flüchtige Schritte hörte.
Er öffnete die Flurtür und ließ die drei Kriminalbeamten ein, stellte sich ihnen mit liebenswürdiger Nachlässigkeit vor und deutete auf das Schlafzimmer.
„Doktor Brunn befindet sich dort,“ sagte er leicht näselnd. „Auch die – die Filmdiva. Hm ja – sie war ohnmächtig. Die Herren brauchen mich wohl nicht mehr. Mein alter Vater ist schwer krank und daran gewöhnt, nur von mir bedient zu werden. Guten Abend, meine Herren.“ – Er verbeugte sich steif und verließ die Wohnung der Maletta, stieg die Treppe ins dritte Stockwerk hinab und öffnete die Flurtür mit einem Sicherheitsschlüssel.
An dieser Tür war ein blankes Messingschild mit dem Namen ‚von Brucksal‘ angebracht. Der alte Graf bewohnte die aus acht Zimmern bestehende Etage bereits seit vier Jahren zusammen mit seinem einzigen Sohne Udo, einer Köchin und einem älteren Diener.
Udo von Brucksal schritt rasch in das Schlafzimmer des alten Grafen, der hier in einem gestickten Nachthemd im Bett lag und bisher gelesen hatte.
Der Graf Oskar von Brucksal, früher Eigentümer großer Güter, war ein bartloser, greisenhafter Mann. Irgend ein körperliches und seelisches Leiden hatte in sein vornehmes Gesicht tiefe Runen gegraben.
„Was ist oben bei der Maletta geschehen, Udo?“ fragte er jetzt mit matter Stimme.
Der Sohn erstattete kurz Bericht, während er im Zimmer auf und ab ging.
„Furchtbar – furchtbar!“ flüsterte der alte Graf zusammenschaudernd. „Also auch jener Mansardenbewohner ist gestorben, Udo?“
„Ja, Papa. – Rege dich aber nicht weiter auf. Ich werde dir jetzt das Schlafpulver geben, damit du eine ruhige Nacht hast.“ –
Er trat an das am Kopfende des Bettes stehende Nachttischchen heran, nahm einen silbernen Eßlöffel, tat etwas Streuzucker hinein und griff nach dem Schächtelchen mit den Pulvern, schüttte ein Pulver auf den Zucker, warf einen prüfenden Blick auf den Kranken und – ließ aus einem Glasröhrchen hastig eine wasserklare Flüssigkeit in den Löffel rinnen, goß nun aus der Karaffe noch Wasser hinzu und sagte:
„So, Papa. Bitte –“.
Der alte Graf schob den Löffel in den Mund, spülte dann den Zucker und den sonstigen Inhalt des Löffels mit einem Schluck Wasser hinunter und – verzog schmerzvoll das Gesicht.
„Oh – wie das Pulver heute auf der Zunge brennt,“ meinte er schwer atmend.
„Das bildest du dir nur ein, lieber Papa,“ sagte Udo mit heuchlerischer Harmlosigkeit. „Gute Nacht, schlafe recht gut, Papa!“
Er drückte des Kranken Hand und wandte sich rasch der Tür zu, damit der alte Graf nicht das triumphierende Lächeln bemerkte, das um des Sohnes schmale, grausame Lippen spielte.
Udo ging jetzt in seine Räume hinüber. Sein Schlafzimmer lag unter dem der Filmdiva. Als er es kaum betreten hatte, schlüpfte der alte Diener Friedrich Blunk durch die Tür, drückte sie ins Schloß und schaute Udo fragend an.
„Geglückt!“ hauchte Udo. „Halte dich also bereit, Robb. Er wird sterben, und dann – dann haben wir gewonnenes Spiel!“
Das schlaue, faltige Fuchsgesicht Friedrich Blunks leuchtete einen Moment förmlich auf in diabolischer Freude.
„Siehst du, mein Junge,“ flüsterte er dann, „das war ein feines Plänchen. – Wo hast du den anderen?“
„Dort!“ Und Udo von Brucksal deutete auf einen großen Reisekoffer, der an der einen Wand stand.
„Aha,“ lächelte Friedrich, „schon halb verpackt!“
Er hob den Kofferdeckel etwas an.
Ein blasses, bärtiges, leidvolles Totengesicht schimmerte matt in der Tiefe des Riesenkoffers.
*
Die drei Kriminalbeamten, die jetzt Erna Maletta und den Sanitätsrat vernahmen, waren der Kriminalkommissar Doktor Hubert Fink, der Kriminalassistent Wrobel und der Polizeianwärter Philipp Brex.
Die Vernehmung fand im Salon statt. Während Doktor Fink und der dicke Wrobel am Tische saßen, schnüffelte Philipp Brex überall umher, bis der Kommissar ärgerlich sagte:
„Zum Teufel, Brex, Sie machen mich ganz nervös. Setzen Sie sich doch. – Entschuldigen Sie,“ fügte er für die Diva und den Arzt hinzu. „Das ‚zum Teufel‘ ist mir so im Eifer des Gefechts entschlüpft.“
Der kleine, dürre Brex, der noch vor einem Jahr in einem Städtchen Westpreußens Winkelkonsulent gewesen war, dann aber der neuen polnischen Herren wegen die alte Heimat verlassen und in Berlin bei der Kriminalpolizei ein Unterkommen gefunden hatte, trat an den Tisch heran und meinte zu Fink:
„Herr Kommissar, zuweilen soll es vorkommen, daß in Vasen Dinge verschwinden, die erst zur Geltung kommen, wenn sie wieder ans Licht treten, was hier soeben geschehen ist. – Bitte, dies fand ich in der Vase!“
Fink griff nach dem ganz zusammengefalteten Stück Papier.
„Ich habe es schon gelesen,“ erklärte Philipp Brex. „Es ist ein Brief, den Fräulein Maletta an den Baron – den jetzt ermordeten Baron Hektor von Rabinski geschrieben hat und in dem es zum Schluß heißt:
‚Wenn Du mich mit Deiner lächerlichen Eifersucht weiter zur Verzweiflung treibst, werde ich mich von Dir zu befreien wissen. Ich bin kein Lämmchen, das geduldig alles hinnimmt! Merke Dir das!‘“
Der Kommissar überflog den Brief.
Erna Maletta war wie in einem Anfall von Schwäche in dem Sessel zusammengesunken, war totenbleich geworden.
Doktor Fink schaute sie forschend an. Ihr jetziges Benehmen verstärkte noch seinen Argwohn, den die ganzen Begleitumstände dieses Mordes bereits wachgerufen hatten.
„Der Brief klingt wie eine sehr ernste Drohung, Fräulein Maletta,“ meinte er mit schneidender Stimme. „Rabinski ist mit einer zum Ofen ihres Schlafzimmers gehörigen Krücke erschlagen worden – von hinten, wie der Befund ergeben hat. Sie waren mit ihm allein in der Wohnung. Und hier nun noch ein Brief, der nichts anderes als eine Drohung ist. Ich muß Sie verhaften – wegen Mordverdachts!“
Die Maletta stieß einen heiseren Schrei aus und sank erneut ohnmächtig auf den Teppich.
Zwanzig Minuten später wurde sie in einem Auto nach dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht.
Als sie von Wrobel und Brex dort eingeliefert worden war, sagte der dürre Philipp, wie seine Kollegen ihn nannten, händereibend zu dem dicken Wrobel:
„Die Verhaftung ist ein Unsinn aber in diesem Falle ein zweckmäßiger Unsinn, mein lieber Wrobel. Die Maletta ist keine Mörderin, nein, den Baron hat jemand anders auf dem Gewissen. Ich werde jetzt nochmals nach der Gudrunstraße Nr. 20 fahren und mir die andere Geschichte, das Verschwinden der Leiche, aus der Nähe ansehen, zumal jetzt noch die Tochter Albert Battners ebenfalls spurlos sich in Nebel aufgelöst haben muß, denn wir haben sie ja nirgends gefunden, als wir in die Mansarde hinaufgingen und dort sowohl die eiserne Tür als auch die Stubentür weit offen sahen! Mein lieber Wrobel, dieses Haus Gudrunstraße Nr. 20 ist ein Haus der Geheimnisse! Es interessiert mich. Ich, Philipp Brex, der Dürre bin nicht gerade auf den Kopf gefallen, wie Sie wissen. Ich werde diese Geheimnisse ergründen, und wenn ich Tag und Nacht dort in Nr. 20 auf der Lauer liegen müßte. Adieu, Wrobel. – Zu deutsch – mit Gott, Wrobel! Auf Wiedersehen!“
Der kleine ulkige Kerl mit dem verkniffenen Clownsgesicht verließ das Präsidium und fuhr nach dem Hause der Geheimnisse.
Brex hatte schon vorher von Kommissar Fink die Erlaubnis eingeholt, in den Wohnungen der Maletta und Albert Battners noch in dieser Nacht weitere Nachforschungen anzustellen. Er war im Besitz des Haustürschlüssels.
Gegen halb zwei Uhr morgens stand er nun wieder in der Gudrunstraße vor Nr. 20 und schaute die dunklen Fenster entlang. Nirgends brannte mehr Licht. Die Bewohner waren zur Ruhe gegangen. Die Leiche Hektor von Rabinskis lag jetzt im Schauhause.
Brex schloß die Haustür auf, sperrte von innen wieder ab und lauschte.
Minutenlang blieb er horchend stehen.
Ah – oben im Treppenhaus irgendwo ein Geräusch.
Brex streifte rasch die Schuhe ab, eilte die Stufen empor – horchte weiter nach oben – horchte mit allen Sinnen.
Da – wieder das Knarren von Treppenstufen, das Klappen einer Tür.
Und jetzt – jetzt plötzlich sauste es aus der Höhe herab wie ein Hagel kleiner Steine.
Dann ein dumpfer Krach.
Nun wieder Totenstille.
Brex war von einigen der Steinchen getroffen worden, war stehen geblieben, wartete – wartete auf neue Geräusche.
Nichts – nichts.
Er schaltete seine Taschenlampe ein, beleuchtete die Stufen, fuhr zurück.
Auf dem grauen Plüschläufer sprühte und funkelte es. Brex bückte sich, sammelte vier – fünf Edelsteine auf, prüfte sie mit maßlosem Erstaunen.
‚Es sind echte Brillanten,‘ dachte er. ‚Ja, ich habe recht! Dieses Haus birgt mehr Geheimnisse, als die Phantasie eines Dutzends von Schriftstellern ersinnen kann!‘
Sein Gedankenfaden zerriß jäh.
Von oben her ein leiser Schrei – ein Schrei aus weiblicher Kehle, dann die flehenden, heiseren Worte:
„Nein – nein – niemals! … Lassen Sie mich allein – ich verdiene –“.
Nun klappte eine Tür.
Und – wieder war alles totenstill wie in einem düsteren Grabe.
Der Kriminalbeamte Philipp Brex, der soeben unbemerkt Zeuge gewesen, wie eine unbekannte Person von oben eine Menge Diamanten in das Treppenhaus hinab geworfen hatte, wartete abermals eine volle Viertelstunde, bevor er nun mühsam und lautlos beim Scheine seiner Taschenlampe all die losen Edelsteine zusammensuchte.
Dies nahm gut zehn Minuten in Anspruch. Im ganzen fand er fünfzig lose, ungefaßte wasserklare Brillanten.
Bei dieser Arbeit war er allmählich bis in den vierten Stock gelangt. Er war überzeugt, daß nur von hier aus jemand die Edelsteine in das Treppenhaus hinab geschleudert haben könne. – Wer aber, wer?!
Hier wohnte links die jetzt verhaftete Maletta, rechts die Frau Rechnungsrat Prutz. Über deren Türschild hing noch eine Visitenkarte, auf der zu lesen war:
Stuart Jameson, Kaufmann
Brex wollte jetzt gerade die Flurtür der Maletta aufschließen, als er im dritten Stock das Öffnen einer Tür und Stimmen hörte. Dann flammte die Nachtbeleuchtung auf.
Er beugte sich über das Geländer und erkannte den jungen Grafen Brucksal und einen älteren, bartlosen Mann in Dienerlivree. Beide trugen einen sehr großen Reisekoffer die Treppen hinab, und der Graf sagte ganz laut, als sie sich nun einmal ausruhten:
„Ich werde nur vierzehn Tage in dem Sanatorium bleiben, Friedrich, nicht drei Wochen, denn die Sorge um meines Vaters Gesundheit wird mir in Dresden doch keine Ruhe lassen. Sie geben den Koffer also sofort nach Dresden auf und bringen mir die Fahrkarte mit. Der Zug geht um acht Uhr morgens ab. Dann kann ich dem Papa vorher noch lebewohl sagen.“
Brex interessierte sich für die beiden nicht weiter. Was ging ihn der Graf Brucksal an?! Er hatte an anderes zu denken! – Er hörte noch, wie vor dem Hause der Geheimnisse ein Auto vorfuhr. Dann schloß er leise die Flurtür der Maletta auf und betrat die dunkle, leere Wohnung, denn die Köchin und die Zofe der Filmdiva hatten auf des Kommissars Doktor Fink Befehl ein anderes Unterkommen suchen müssen.
Philipp Brex schlüpfte ins Schlafzimmer. Die Tür war nur angelehnt.
Da – ein Schatten glitt vom Ofen her zur offenen Balkontür.
Ein Schatten – ein Mann!
Brex sprang mit gewaltigem Satz hinterdrein, schaltete gleichzeitig mit der Linken die Taschenlampe ein und sah noch, daß der Mann ein schwarzes Trikot und eine schwarze Maske vor dem Gesicht trug.
Der Eindringling schwang sich mit verblüffender Gewandtheit an einem Seil empor, das vom Dache herabhing.
Brex konnte nur noch seinen linken Fuß packen, mußte ihn aber wieder loslassen, da der Mann ihm mit dem anderen Fuß einen solchen Stoß gegen die Stirn versetzte, daß der kleine dürre Brex zurücktaumelte. Gewiß, der gab die Verfolgung deswegen nicht auf. Auch er war geschickt und kräftig, auch er kletterte nun an dem Seil, indem er gleichzeitig rief:
„Halt – oder ich schieße!“
Der Andere hatte schon das Dach erreicht, rief seinerseits leise und drohend mit seltsam krächzender Stimme:
„Wenn Sie nicht sofort sich wieder hinab gleiten lassen, schneide ich das Tau durch, und Sie fallen vielleicht in den Hof hinab!“
Brex schaute empor. Ein Messer blinkte im Sternenlicht in der Hand des Maskierten. Da begann die Klinge auch schon, das Seil zu durchsägen.
Brex gehorchte. Was hätte es auch für einen Zweck gehabt, wenn er hier vielleicht durch einen Sturz auf die Fliesen des Hofes den Tod fand?! Das, was er jetzt wußte, war ja außerordentlich wertvoll. Ein Mann in dem berüchtigten Anzug der Hoteldiebe war in die Wohnung der Maletta eingedrungen! Vielleicht war es sogar der Mörder des Barons Rabinski! Vielleicht ließ sich diese Fährte sofort weiter verfolgen.
Brex rutschte nach unten, erreichte das Balkongeländer, sprang von dort herab und eilte auf die Straße.
In wenigen Minuten hatte er die Polizei alarmiert, ließ nun das ganze Viertel umstellen und nach dem Manne im Trikot fahnden. Er selbst mit zwei Beamten stieg auf das Dach von Nummer 20, suchte hier nach Spuren des geheimnisvollen Maskierten.
Nichts entdeckte er – nichts!
Der Morgen graute. Die Polizei zog sich wieder zurück. Kriminalkommissar Doktor Fink, der inzwischen ebenfalls in der Gudrunstraße erschienen war, schritt mit Philipp Brex durch die noch stillen Straßen.
„Dieser Diamantenregen ist vielleicht das Seltsamste bei alledem,“ sagte Doktor Fink. „Die Steine haben heute einen Wert von mindestens dreihundert Millionen. Es sind alles wundervolle Exemplare.“
„Ja, ja,“ nickte der dürre Philipp, „das Haus der Geheimnisse wird uns noch so manches Rätsel aufgeben.“ –
*
Bald schossen dann auch die ersten Sonnenstrahlen über das Häusermeer der Millionenstadt Berlin hin, drängten sich auch durch den Spalt der Vorhänge in das behaglich möblierte Zimmer hinein und trafen das blasse, zarte Gesicht Lori Battners, die, den Kopf mit dem nur lose aufgesteckten prächtigen aschblonden Haar in die Hand geschützt, in den Kissen eines weißlackierten Bettes ruhte und mit trostlosen, vom Weinen geröteten Augen in das flimmernde Sonnenlicht schaute.
Ach, wie unendlich schwer war ihr doch zumute! Sie kam sich vor wie eine Gehetze, die vor dunklen Rätseln besinnungslos geflüchtet war.
Immer wieder rief sie sich die Vorgänge ins Gedächtnis zurück, die sich oben in dem Mansardenstübchen abgespielt hatten, nachdem die Tür sich von selbst geöffnet und sie in dem dort vor ihr stehenden Manne den Engländer Stuart Jameson erkannt hatte.
Jameson hatte ihr leise zugeflüstert: „Fürchten Sie sich nicht, Fräulein Battner, wenn jemand es gut mit Ihnen meint, dann bin ich es. Treten Sie ein. Ich will Ihnen etwas anvertrauen.“ Er sprach das Deutsche jetzt ohne jeden Akzent, dieser seltsame Mann mit den seltsamen, harten, durchdringenden Augen. „Ich bin Privatdetektiv, Fräulein Battner, heiße in Wahrheit Horst Olden und bin in Danzig zu Hause. Hier ist mein Ausweis nebst Photographie. – Um mich vorerst nur kurz zu fassen, ich wohne hier als Stuart Jameson seit drei Monaten in ganz bestimmter Absicht. Ich weiß, wo die Leiche Ihres Vaters hingeraten ist, darf es Ihnen aber vorläufig nicht sagen. Wenn Sie wünschen, daß alles aufgeklärt wird, was die Person Ihres Vaters an Geheimnissen umgab, dann befolgen Sie meinen Rat und kommen Sie mit zu Frau Rechnungsrat Prutz hinab, halten Sie sich dort so lange verborgen, wie ich es für zweckmäßig erachte, und tun Sie nichts, ohne mich vorher zu befragen.“
Lori starrte dem schlanken, ernsten Mann zagend in das schmale, energische, bartlose Gesicht. Aber aus seinen blaugrauen Augen leuchteten ihr jetzt so viel Mitgefühl und heiße Zärtlichkeit entgegen, daß sie plötzlich etwas wie ein beseligendes Glücksgefühl empfand und mit einem Male begriff, daß das, was sie bisher bei sich für Abneigung gegen den stets so höflichen Mieter der freundlichen Frau Rat gehalten, in Wahrheit etwas ganz anderes war, nämlich das scheue Zurückweisen einer keuschen Mädchenseele vor dem einen Manne, dem das jungfräuliche Herz bereits in unbewußter, aufkeimender Liebe seit dem ersten Anblick gehörte.
Lori schaute verwirrt zu Boden. In jäher Welle war ihr das Blut ins Gesicht geschossen. Dann hauchte sie, indem sie seine Hand ergriff, die er ihr entgegengestreckt hatte: „Ja, ich habe Vertrauen zu Ihnen, Herr Olden!“
Lori durchzuckte es wie ein Schlag, als Oldens Finger die ihren so fest umspannten und als er dazu mit werbender Zärtlichkeit sagte:
„Fräulein Lori, Sie werden es nie bereuen, meinen Rat befolgt zu haben. Nie werde ich Ihr Vertrauen mißbrauchen!“ Dann fügte er ernster hinzu: „Ich werde jetzt auf der Treppe lauschen, damit Sie nicht überrascht werden können, wenn Sie das Nötigste an Wäsche zusammenpacken. Schnell, beeilen Sie sich!“
Lori war nun in dem Stübchen allein. Hastig bückte sie sich.
Ah – das schwarze Juwelenkästchen war noch da!
Rasch umhüllte sie es mit ihrem Mantel, nahm aus dem Schranke ein Kleid, Wäsche, Schuhe, und legte alles in den gelben Lederkoffer.
Absichtlich ließ Horst Olden dann beide Türen offen, als sie lautlos in die vierte Etage hinabhuschten.
Olden war Frau Prutz’ einziger Mieter. Die Rechnungsrätin war noch auf, schloß Lori nun mit mütterlicher Zärtlichkeit in die Arme und führte sie in ihr eigenes Schlafzimmer, nachdem Olden ihr mit innigem Händedruck gute Nacht gewünscht hatte.
Frau Prutz ruhte nicht eher, bis Lori noch ein Glas Tee getrunken und ein paar belegte Brötchen gegessen hatte. Dann zog auch sie sich zurück.
Lori wollte sich entkleiden und dann niederlegen. Sie war ja zum Umsinken müde. Aber jetzt, wo ihr Horst Oldens von heimlicher Zärtlichkeit durchglühte Blicke und der gütigen Frau Prutz liebevoller Zuspruch fehlten, – jetzt kam sie sich mit einem Male wieder so einsam und verlassen vor, daß sie in Tränen ausbrach.
Im Dunkeln saß sie auf dem Bettrand und überlegte mit wachsender Angst, ob sie sich nicht irgendwie der Diamanten entledigen sollte, die der Vater ihres Erachtens niemals auf redliche Weise erworben haben konnte.
Dann war sie endlich zu einem Entschluß gelangt, schlich auf Strümpfen in den Flur, hielt das schwarze Kästchen an die Brust gedrückt, schloß beim Scheine eines Zündholzes die Tür auf und trat an das Treppengeländer.
So stand sie im Dunkeln, öffnete das Kästchen, kippte es um.
Der Edelsteinregen ergoß sich in die Tiefe des Treppenhauses.
Lori ließ auch das schwarze Kästchen fallen. Aber es blieb mit dumpfem Aufschlag ein paar Stufen weiter unten liegen.
Dann – dann tauchte neben ihr schattengleich eine Gestalt auf.
„Lori, was tun Sie hier,“ flüsterte Horst Olden.
Das junge Mädchen sah nur das schwarze Trikot, die schwarze Maske, fuhr mit einem Schrei zurück.
„Lori, ich bin’s ja,“ flüsterte Olden wieder und stützte die Wankende, zog sie sanft an sich.
„Lori, sagen Sie mir, was Sie hier taten,“ flehte er, und seine Stimme zitterte vor Erregung.
„Nein, nein – niemals!“ rief sie da in all der Zerrissenheit ihrer gequälten Seele. „Lassen Sie mich allein – ich verdiene –“.
Seine Hand verschloß ihr den Mund. Er hatte unten das Aufblitzen der Taschenlampe Brex’ bemerkt.
Er drängte Lori in den Flur. Er hatte vorhin noch gerade das Aufschlagen des Kästchens gehört. Er ahnte, daß Lori etwas weggeworfen hatte.
Er brauchte nicht lange zu suchen. Er fand das Kästchen, nahm es mit, drückte die Flurtür lautlos ins Schloß und folgte Lori in das behagliche Schlafzimmer, ließ seine Taschenlampe aufleuchten und fragte mit nur schwer bewahrter Ruhe:
„Wo – wo sind die Diamanten geblieben? – Antworten Sie!“
Seine Stimme klang rauh und befehlend.
Lori war auf einen Stuhl gesunken, hatte das Gesicht mit beiden Händen bedeckt und schluchzte.
„Wo sind die fünfzig Brillanten des Fürsten Jussugoff?“ fragte der Detektiv noch eindringlicher.
Lori schwieg, weinte still in sich hinein.
Olden schaltete die Lampe aus.
„Von jetzt ab betrachten Sie sich als meine Gefangene!“ stieß er heiser hervor. „Wagen Sie nicht zu fliehen! Morgen, wenn Sie mir bei Tageslicht gegenüberstehen, werde ich die Wahrheit erfahren! – Gute Nacht, Lori!“ – Die letzten Worte klangen wieder weicher, fast innig.
Dann ging er hinaus, schloß Lori ein und zog den Schlüssel ab.
Gleich darauf kletterte er vom Dache aus auf den Balkon der Maletta hinab, verschaffte sich Eingang in das üppige, luxuriöse Schlafzimmer, mußte aber sofort wieder vor Philipp Brex fliehen.
Lori starrte noch immer in die gleißenden Sonnenstrahlen. Nicht eine Minute hatte ein wohltätiger Schlummer sie all ihrer Sorgen und Kümmernisse entrückt.
Wie sollte sie wohl auch einschlafen können, wie sollte sie unter dem Ansturm all dieser Gedanken im Traume Vergessen finden?
Dem Fürsten Jussugoff sollten die Diamanten gehören?! Jenem vornehmen, alten Herrn, der den Vater so oft heimlich besucht hatte?! Wie aber war ihr Vater in den Besitz der Edelsteine gelangt – wie nur?! Und was wußte Horst Olden von alledem? War der etwa der Verfolger ihres Vaters? War der also ihr Feind, der nur darauf ausging, das Andenken des Toten, der nun spurlos verschwunden war, vor aller Öffentlichkeit in den Schmutz zu ziehen, indem er dessen Verfehlungen aufdeckte?
Lori stöhnte qualvoll auf und preßte die Hände gegen die Schläfen. Der Kopf drohte ihr zu springen. Allzu viel an unklaren Befürchtungen und an frischen Erinnerungen an die Vorgänge dieser entsetzlichen Nacht durchzuckten ihr Hirn.
Was hatte sie nur alles in diesen wenigen Stunden durchlebt, seit sie von der Baronin Rabinski heimgekehrt war! Der Tod des Vaters, das Verschwinden der Leiche, der Mord an Hektor von Rabinski auf dem Balkon der Maletta – oh, ihr armer Kopf faßte das alles kaum mehr. Und dann ihr hartnäckiger Verfolger, jener bärtige, bucklige Mensch! Ob es etwa Horst Olden in einer Verkleidung gewesen?
Mit einem wehen Aufschluchzen vergrub sie den Kopf in den Kissen. Ihr schlanker Mädchenleib bebte wie im Schüttelfrost. Sie kam sich wieder so von aller Welt verlassen vor! Niemanden – niemanden hatte sie, zu dem sie mit ihren Kümmernisse flüchten konnte! Selbst der gütige Doktor Brunn mißtraute ihr ja! Und die Freundlichkeit der Frau Prutz konnte genau so Heuchelei sein, wie die Horst Oldens.
Hatte sie denn wirklich so gar niemand, der sie schützen und ihr helfen wollte? Wirklich niemand?! – Ihr war plötzlich die Baronin Rabinski eingefallen.
Sie richtete sich wieder auf, trocknete die Tränen und überlegte.
Wenn sie zu der Baronin eilte, wenn sie dort Schutz suchte?
Aber – sie war ja eingeschlossen! Und dieses Zimmer lag im vierten Stock nach der Gudrunstraße hinaus.
Mit einem Male verließ sie dann ganz leise das Bett. Sie war zu einem Entschluß gelangt. Die Angst vor Horst Olden trieb sie zu einem tollkühnen Wagnis. Es war nicht allein Angst – es war, als ob sie vor der Gewißheit fliehen wollte, daß der Mann, dem ihr Herz jetzt in bangem Sehnen entgegenschlug, mit ihr nur ein verwerfliches Spiel trieb!
Lautlos kleidete sie sich an, vermied auch das geringste Geräusch.
Frau Prutz hatte ihre Sachen in den Kleiderschrank gehängt. Als sie diesen nun öffnete, bemerkte sie zu ihrer Überraschung einige Herrenanzüge darin. Sie besann sich, daß der einzige Sohn der Rechnungsrätin im letzten Kriegsjahr gefallen war. Es konnten nur die Anzüge dieses Sohnes sein, die Frau Prutz aus Pietät hier aufbewahrt hatte.
Lori durchzuckte ein neuer Gedanken.
Und sie, die durch Leid und Sorgen zu früher Energie gereift, zauderte nicht, einen der Anzüge, den schlechtesten, anzuziehen. Er war ihr etwas zu weit. Aber die Länge paßte.
Aus dem Bettlaken und drei Handtüchern, die sie fest zusammenknotete, stellte sie einen Strick her. Dann steckte sie die sechshundert Mark zu sich, die sie von der Baronin für die Stickereien erhalten hatte, ebenso ihre silberne Uhr und ein paar Andenken an den toten Vater.
Als sie das Fenster behutsam geöffnet hatte und hinausblickte, sah sie, daß die Gudrunstraße zu dieser frühen Morgenstunde noch völlig einsam dalag. Sie schaute dann an der Hauswand hinab, beugte sich noch weiter vor.
Ah – dort gerade unter diesem Fenster war ein Flügel des Fensters im dritten Stock halb offen.
Welch glücklicher Zufall! Lori schien es, als ob das Schicksal ihr diesen Fluchtweg erleichtern wollte.
Jetzt befestigte sie den weißen Strick am Fensterkreuz.
Noch ein kurzes, inbrünstiges Gebet, ein Flehen um den Beistand dessen, der dort allmächtig über den Wolken thronte.
Eisiges Furchtgefühl lähmte ihr trotzdem die Glieder, als sie unter sich die schreckliche Tiefe sah.
Wenn die Tücher rissen, wenn ein Knoten sich löste, dann – dann würde sie dort unten in dem kleinen Vorgarten auf der Steingrotte mit zerschmettertem Leibe liegen oder gar von den Spitzen des Eisenzaunes aufgespießt werden!
Aber – barg der Tod denn wirklich noch irgendwelche Schrecken für sie?! Wäre er nicht vielleicht sogar für sie eine Erlösung gewesen? Was konnte das Leben ihr, der Einsamen, noch bieten? Nichts – nichts, nur Sorgen und Aufregungen!
Ihre Angst schwand. Mit fast unnatürlicher Ruhe, die nur der Gleichgültigkeit gegenüber dem Tode zuzuschreiben war, begann sie an den Tüchern hinabzuklettern.
Als sie sich etwas vom Fenster nach abwärts entfernt hatte, warf ein Windstoß den einen Flügel klirrend nach innen.
Lori erschrak darüber so sehr, daß sie beinahe die Hände gelockert hätte. Sie rutschte ein Stück, krampfte die Finger dann wieder fester zusammen und erreichte glücklich den Fenstervorsprung des dritten Stocks, kletterte durch den offenen Flügel, den sie weiter aufschob, hinein und zog den dichten Vorhang beiseite.
Es war ein Schlafzimmer. Undeutlich erkannte Lori rechts an der Wand ein Bett und in den Kissen ein blasses, bartloses Greisenantlitz.
Sie wußte, daß hier der Graf Oskar von Brucksal mit seinem einzigen Sohne Udo und einem alten Diener namens Friedrich Blunk die ganze Etage bewohnte und daß der alte Graf seit Wochen schwer krank war.
Regungslos stand sie noch immer am Fenster und starrte auf das bleiche Gesicht, das etwas unheimlich Leichenhaftes an sich hatte.
Abermals lief ihr ein Eisesschauer über den Leib. Sie lauschte. Sie hörte keine Atemzüge. Sollte der Graf plötzlich verstorben sein?
Schritt für Schritt näherte sie sich nun dem Bett. Sie hatte den Grafen nur selten und aus der Entfernung vor dem Hause, zuweilen auf der Loggia gesehen. Er hatte ihr stets freundlich zugenickt.
Sie überwand ihre Scheu und beugte sich über den stillen Schläfer.
Kein Zweifel – er war tot!
Dann fuhr sie jäh in die Höhe.
Sie hatte Schritte vernommen, die sich langsam der Tür näherten.
Ihr entsetzter Blick glitt durchs Zimmer.
Da stand vor der einen Fensterecke ein altes, hochlehniges Sofa.
Lori besann sich nicht lange. Hinter dem Sofa in der Ecke war genügend Platz für sie. Sie eilte hin und war mit einem Satz auf der Sofalehne, ließ sich hinab, stand auf den Füßen, duckte sich zusammen.
Im selben Augenblick öffnete sich die Tür und Graf Udo, der Mann mit dem abschreckenden Totenkopfgesicht, trat auf Fußspitzen ein.
Und im selben Moment geschah noch etwas anderes.
Horst Olden, der angekleidet im Zimmer neben Loris Schlafgemach in einem Sessel dem Morgen erwartet hatte, war durch das Klirren der Fensterflügel argwöhnisch geworden und rasch in Loris Zimmer hinübergegangen, nachdem er auf sein wiederholtes Klopfen keine Antwort erhalten hatte.
Mit einem Blick sah er, was geschehen.
„Törichtes, liebes Mädchen,“ murmelte er und zog die zusammengeknoteten Tücher nach oben. „Du bist in die Höhle eines Tigers geraten! Aber – auch so werde ich dich schützen!“
So kam es, daß Graf Udo die Tücher vor dem offenen Fensterflügel nicht mehr bemerkte.
Am Abend, der dieser Nacht vom 25. zum 26. April vorausging, also an demselben Abend, als Lori Battner die fertigen Stickereien bei der Baronin Xenia von Rabinski, dem trotz ihrer fünfzig Jahre immer noch verführerischen Weibe, abgeliefert und dabei mit tiefer Bitterkeit festgestellt hatte, welch köstliche Bratendüfte aus der Küche in den Flur drangen, hatte sich in der eleganten Wohnung der Witwe gegen zwölf Uhr eine Gesellschaft von etwa zwanzig Personen zusammengefunden, unter denen aber nur sechs Damen in recht kostbaren Gesellschaftskleidern und mit stark gepuderten Gesichtern jene Art von holder Weiblichkeit vertraten, die in Berlin in allen ‚vornehmen‘, das heißt teureren Vergnügungsstätten anzutreffen ist, also jene Halbwelt, die auf die Straßendirnen mit derselben Verachtung herabblickt, wie etwa der reiche Neger Neuyorks auf den schwarzen Hafenkuli New Orleans.
Die Gesellschaft hatte dann kaum im Speisezimmer an der reich gedeckten Tafel Platz genommen, als es abermals an der Flurtür läutete und noch ein verspäteter Gast, ein hagerer Herr mit faltigem Schauspielergesicht, eintrat, der dem ihm öffnenden Stubenmädchen sofort befahl, die Baronin in das Schlafzimmer zu rufen.
Das ganze Auftreten dieses Mannes, hinter dessen runden Brillengläsern ein paar stets halb zugekniffene Augen argwöhnisch spähend hin und her schweiften, hatte etwas Gebieterisches und unsagbar Stolzes an sich.
Die Zofe beeilte sich denn auch, ihrer Herrin einen Wink zu geben, daß Fürst Ulminski sie im Schlafzimmer erwarte.
Der Fürst hatte sich hier auf die Ottomane gesetzt und seinen spiegelblanken Zylinder neben sich gestellt, streifte nun langsam die Handschuhe ab und enthüllte zwei schmale, tadellos gepflegte und mit kostbaren Ringen besetzte Hände.
Die Baronin trat hastig ein.
„Durchlaucht, ist irgend etwas geschehen?“ fragte sie, indem sie dicht vor ihm stehen blieb.
Er war sitzen geblieben, hatte sie nur durch ein flüchtiges Kopfnicken begrüßt und sagte nun, indem er sich mehr zurückbog und ihr Gesicht beobachtete:
„Ihr Stiefsohn ist vor einer Stunde in der Wohnung der Maletta ermordet worden.“
Sie fuhr zurück.
„Ermordet?!“ stammelte sie. „Weswegen denn? Hektor war doch ein so harmloser Mensch!“ Sie hatte überraschend schnell ihre Fassung wiedergewonnen. „Wer ist denn der Mörder, Durchlaucht?“ fragte sie dann.
„Die Maletta ist’s!“
Die Baronin schüttelte wie ungläubig den Kopf.
„Das kann wohl nicht sein, Durchlaucht,“ sagte sie zögernd. „Erna Maletta hat Hektor geliebt, wenn er ihr auch zuweilen durch seine Eifersucht unangenehm wurde.“
„Gerade deshalb hat sie ihn ermordet. Er war ihr lästig geworden,“ meinte er mit eisiger Gleichgültigkeit. „Die Polizei hat im Salon der Maletta in einer Vase eine Art Drohbrief gefunden, den die Filmdiva an Ihren Stiefsohn geschrieben hat. Auf diesen Brief hin wurde die Maletta wegen Mordverdachts verhaftet.“
Die Baronin war wie von einer Natter gestochen zusammengezuckt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in das unbewegliche, leidenschaftslose Gesicht des Fürsten Sergius Ulminski.
„Das – das ist ja der Brief, den – den ich – Hektor auf Ihr Geheiß stehlen mußte,“ bebte es über ihre zitternden Lippen.
Der Fürst erhob sich langsam. Seine Stimme sank zum Flüstern herab. Aber seine Augen hatten einen schillernden Glanz bekommen.
„Xenia, Sie haben nie einen Brief gestohlen, nie! Verstehen Sie mich! Streichen Sie diesen Vorgang für immer aus Ihrem Gedächtnis!“
Sie ließ wie wehrlos den Kopf sinken, hauchte nur ein leises: „Ja – ich werde vergessen!“
„Und – und auch das andere vergessen Sie, Xenia,“ fügte der Fürst hinzu. „Nämlich den Auftrag, den ich Ihnen gab. Sie wissen, Sie sollten sich mit jenem Albert Battner anzufreunden suchen, sollten ihn aushorchen. Das ist jetzt unmöglich geworden. Battner ist tot, ist an diesem Abend gestorben. Hier –“ – er holte eine Brieftasche hervor – „hier haben Sie trotzdem die versprochenen zehntausend Mark.“
Er reichte ihr die Banknote. Gierig griff sie danach und bedankte sich wortreich. Dieses Weib, das die verkörperte Geldgier darstellte, tat alles für Geld, alles!
„Werden Sie heute nicht hierbleiben, Durchlaucht?“ fragte die Baronin dann.
„Nein. Ich habe etwas anderes vor. Auf Wiedersehen, Xenia.“
Wieder nickte er ihr nur flüchtig zu und verließ dann die Wohnung, stieg die Treppen hinab, blieb mit einem Male stehen, lauschte eine Weile und machte kehrt, eilte die Treppen bis zur Bodentür hinan, lauschte abermals, öffnete die eiserne Bodentür mit einem verstellbaren Patentdietrich und befand sich gleich darauf auf dem Dach des Hauses.
Mit sicheren, lautlosen Schritten setzte er hier seinen Weg fort. Er mußte diesen Weg schon häufiger zurückgelegt haben. Jedenfalls gelangte er in kurzem über die Dächer der Gartenhäuser bis zur Parallelstraße der Siegfriedstraße, bis – zum Haus der Geheimnisse!
Hier verschwand er in der Dachluke des Hofgebäudes, tauchte auf der Treppe wieder auf, überquerte den Hof und stieg im Vorderhause bis zum zweiten Stock empor. Auch diese Etage bildete eine zusammenhängende Achtzimmerwohnung wie die dritte, wo der Graf von Brucksal wohnte.
An dieser Flurtür im zweiten Stock war ein Messingschild mit der Aufschrift ‚Frau Queißner‘ befestigt.
Der Fürst blieb vor der Tür stehen, horchte, schob schnell den Schlüssel ins Schlüsselloch und trat ein, schloß hinter sich ab, legte die Sicherheitskette vor und durchschritt den langen Flur, öffnete eine Zimmertür und sah sich dem Grafen Udo von Brucksal gegenüber, der in diesem eleganten Herrenzimmer in einem tiefen Klubsessel saß und behaglich eine Zigarette rauchte.
„Wie steht’s?“ fragte Ulminski kurz. Auch jetzt hatte seine Stimme denselben gebieterischen Klang.
„Ich habe meinem lieben Papa die Tropfen gegeben,“ erklärte Udo mit einem teuflischen Grinsen. „Sie werden ihm hoffentlich zweckentsprechend bekommen.“
„Und was tut die Polizei?“
„Ja, da ist vorhin etwas sehr Merkwürdiges passiert. Der kleine Kriminalbeamte Philipp Brex hat im Treppenhaus Edelsteine aufgelesen, die jemand offenbar von oben heruntergeworfen hatte. Ich beobachtete ihn dabei.“
„Ah – Edelsteine?! Was hat das nun wieder zu bedeuten?!“ Der Fürst warf sich in einen zweiten Sessel und bedeckte die Augen mit der rechten Hand, sann angestrengt nach und sagte dann: „Wo steckt dieser Brex jetzt?“
„Wahrscheinlich noch im Hause. Ich konnte nicht länger auf der Treppe bleiben. Es war zu gefährlich. Ich mußte auch Robb, meinem Diener –“ – er lächelte spöttisch – „helfen, den Koffer nach unten zu schaffen. Robb ist jetzt damit zum Bahnhof unterwegs.“
„Und ‚er‘ ist in dem Koffer?“
„Natürlich. Die Komödie nimmt einen glatten Verlauf.“
„Dann kehren Sie jetzt in Ihre Wohnung zurück,“ befahl Ulminski. „Diesen Brex übernehme ich. – Noch eins! Wo mag nur die Lori Battner geblieben sein? Ich konnte hierüber mit Ihnen noch nicht sprechen.“
„Keine Ahnung!“
Der Fürst sprang auf und ging auf dem kostbaren Perserteppich hin und her.
„Ihr Verschwinden kommt mir wie eine Warnung vor,“ sprach er grübelnd vor sich hin. „Wir dürfen uns nicht zu sicher fühlen, Udo. Jedenfalls ist allergrößte Vorsicht geboten. Der geringste Fehler, und all unsere Pläne sind gescheitert!“
Der Graf verabschiedete sich. Ulminski ließ ihn zur Flurtür hinaus. Dann huschte Udo schnell die Treppe empor.
Sergius Ulminski legte jetzt Mantel und Hut ab und betrat ein anderes Zimmer, das mit geradezu verschwenderischer Pracht, aber feinstem Geschmack als Damensalon eingerichtet war.
Hier lag auf einem mit einem Eisbärfell bedeckten Diwan ein junges Mädchen, fast noch ein Kind. Sie trug einen roten, goldgestickten Kimono und auf den nackten Füßchen pelzbesetzte Saffianlederpantöffelchen. Ihr schwarzes Haar war nur zu einem losen Knoten aufgesteckt und hing zum Teil etwas wirr um das schmale, liebreizende Gesicht. In dem Haarknoten schillerte ein Diadem aus Brillanten, und ebenso waren die Finger des jungen, kaum erblühten Weibes mit den kostbarsten Ringen bedeckt.
Mit einem Jubelruf war sie dem Fürsten um den Hals geflogen.
„Oh Papascha, endlich – endlich!“ rief sie. „Wie habe ich mich nur nach dir gesehnt! Werden wir jetzt zusammen zu Abend speisen, lieber Papascha?“
Er küßte sie auf die Stirn. Mit unendlicher Zärtlichkeit strich er über ihr schwarzes Haar.
„Es geht nicht, mein Liebling,“ erklärte er weich. „Ich muß sofort wieder aufbrechen. Läute nach der Zofe und laß dir im Speisezimmer servieren. Dann geh zu Bett. Es ist schon recht spät –.“
Nadja Ulminski senkte traurig das Köpfchen, sagte klagend:
„Nie hast du für mich Zeit, nie, Papascha!“
„Du weißt, Nadja, – Geschäfte! Ich muß Geld verdienen – für dich, mein Liebling!“
Sie seufzte. „Oh Papascha, es ist so langweilig, immer und immer nur zu lesen! Soeben habe ich die Abendzeitungen durchgesehen. Da steht wieder etwas über einen großen Diebstahl darin. Einer Kommerzienrätin sind gestern Nacht Juwelen im Werte von fünf Millionen gestohlen worden – durch Einbrecher. Die Polizei vermutet, daß als Täter die Mitglieder jener geheimnisvollen Bande in Betracht kommen, die nun seit anderthalb Jahren Berlin unsicher macht und nie zu fassen ist. Wenn die Polizei doch nur endlich Glück hätte und diese schlechten Menschen verhaften würde!“
Um des Fürsten Mund spielte plötzlich ein bitteres Lächeln.
Dann küßte er sein einziges Kind nochmals auf die Stirn und begab sich in sein Schlafzimmer hinüber, wo er sich einriegelte und die Fenstervorhänge sorgsam zuzog. Auch über das Schlüsselloch hängte er ein Tuch.
Dann schon er den Diwan am Fußende des Bettes etwas beiseite und klappte einen Teil des gewachsten Parkettfußbodens hoch, entnahm der Höhlung ein Paket und legte es auf den Diwan. Als er die Hülle von Zeitungspapier jetzt entfaltete, war es, als ob plötzlich darin Flammen aufzuckten.
Brillantringen, Armbänder aus nußgroßen Edelsteinen, Halsketten aus Perlen und Smaragden blitzten und funkelten in der dürftigen Hülle von Zeitungspapier.
Sergius Ulminski strich wie streichelnd über die Juwelen hin und lächelte doch so bitter, flüsterte halblaut:
„Nadja wünscht, daß die Diebesbande gefaßt wird! Arme ahnungslose Nadja!“
Dann legte er die Geschmeide in das Geheimfach zurück und holte daraus einen Pappkarton hervor, der Schminken, Bärte, Perücken und anderes enthielt.
Zehn Minuten später hatte der Fürst sich in denselben Buckligen verwandelt, der Lori Battner in letzter Zeit auf der Straße dauernd gefolgt war. Zum zweiten Male legte der Fürst heute diese Maske an.
Dann drehte er das Licht aus, lauschte, ob niemand im Wohnungsflur sei, und war mit zwei Schritten an der Tür.
Nachdem er dann auch in das dunkle Treppenhaus hineingehorcht hatte, glitt er wie ein Schatten die Treppen hinab und verließ das Haus der Geheimnisse.
Nach fünf Minuten hatte er die Basedowstraße, eine der ältesten Straßen dieses Viertels, erreicht. Hier gab es noch größere Gärten mit villenartigen Gebäuden; hier lag in einem solchen Garten, der durch einen hohen Holzzaun umgeben war, ein einstöckiges, seltsames Haus mit einem Säulenvorbau, das jedoch genau so verwahrlost wie der Garten aussah. Hinter dem Hause befand sich ein ebenso baufälliger Stall.
Der Fürst hatte die Bretterpforte dieses Grundstückes aufgeschlossen und das Haus durch den Hintereingang betreten. Das Grundstück gehörte seit einem Jahr einem Engländer namens John Wellesley, der hier jetzt mit seiner Schwester wohnte und sich Kaufmann nannte. Die beiden Leute lebten ganz zurückgezogen. Niemand kümmerte sich um sie. Einige Räume waren an die Freidenker-Loge ‚Indra‘ seit längerer Zeit vermietet.
Als Ulminski das eine Vorderzimmer betrat, fand er es hell erleuchtet, obwohl das Haus von draußen so ausgesehen hatte, als wären die Bewohner längst zur Ruhe gegangen.
Auf einem alten Glanzledersofa saßen zwei Männer, beide bartlos und nicht mehr ganz jung. In einem Schaukelstuhl aber ruhte eine rothaarige Frau mit pikantem Gesicht und roten, begehrlichen Lippen. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Hauskleid, das ihre üppige, blendend zarte Büste mehr enthüllte als bedeckte.
Einer der Männer auf dem Sofa war kein anderer als Friedrich Blunk, der Diener des alten Grafen von Brucksal. Dieser Blunk ergriff nun zuerst das Wort, nachdem der Fürst die Anwesenden kurz begrüßt und auf einem einfachen Rohrstuhl Platz genommen hatte.
„Meister, der Koffer ist also glücklich hier untergebracht. Ich bin wie befohlen am Anhalter Bahnhof in ein anderes Auto gestiegen, und dann hat John“ – er blickte nach seinem Nachbar hin – „mich mit der Droschke erwartet, wo wir den Koffer abermals umluden. Niemand hat auch nur den Versuch gemacht, uns nachzuspionieren.“
Ulminski hatte sich eine Zigarette angezündet.
„Wir müssen ihn dann also in den Keller schaffen,“ meinte er. „Wenn dies erledigt, wird John die Droschke wieder fertigmachen. Ich brauche sie. Blunk wird von uns mit dem Koffer, den wir mit den bereitgehaltenen Sachen füllen, erst bis zum Bahnhof Savigny Platz gebracht werden, wo er ein Auto nimmt und zum Anhalter fährt, den Koffer aufgibt und für Udo die Fahrkarte nach Dresden besorgt. – So, nun vorwärts!“
Sie erhoben sich und gingen in ein leeres Nebenzimmer. Das rothaarige Weib hielt den Fürsten noch einen Augenblick zurück, schmiegte sich mit schlangengleichen Bewegungen an ihn und flüsterte:
„Sergius, du vernachlässigst mich jetzt wirklich zu sehr! Sehnst du dich denn gar nicht nach deiner roten, süßen Hexe?! Bin ich dir ganz gleichgültig geworden?!“
Sie preßte ihn fester an sich, und ihre heißen Lippen wühlten sich förmlich in wildem Liebesverlangen in die seinen ein.
Ulminski schob sie jedoch mit ärgerlicher Bewegung von sich.
„Wir haben jetzt an anderes zu denken, Jane! Vergiß das nicht!“ sagte er kalt. Machte sich völlig von ihr los und trat an den großen Koffer heran, den Blunk bereits geöffnet hatte.
Jane war stehen geblieben. Das Blut war ihr in heißer Empörung über diese abermalige Zurückweisung ins Gesicht geschossen. Ihre grauen Augen schillerten jetzt vor Erregung grünlich und schossen Blitze eines jäh auflodernden Hasses auf den stattlichen, stolzen Mann, den sie bis zum Wahnsinn geliebt hatte.
„Hüte dich!“ murmelte sie. „Hüte dich! Irgend ein anderes Weib hat mir deine Liebe gestohlen! Ich werde schon herausfinden, wer dieses Weib ist! Und – betrügst du mich, dann – verderbe ich euch beide!“
Gewaltsam zwang sie sich wieder zur Ruhe und folgte dem Fürsten, der selbst in der Maske des Buckligen etwas unendlich Hoheitsvolles an sich hatte. –
Ulminski stand vor dem Koffer, in dem ein in zwei Wolldecken gehüllter Mensch lag.
„Hebt ihn heraus,“ befahl er. „Jane mag die Laterne nehmen. Ich gehe voraus.“
So bewegte der Zug sich die Kellertreppe abwärts in einen mit leeren Kisten halb gefüllten Raum. Hier schob der Fürst ein paar davon beiseite, tastete mit der Hand an der kahlen Ziegelmauer nach einem kaum sichtbaren Eisenknopf und – ein Stück der Mauer bewegte sich lautlos nach innen und gab den Eingang in ein fensterloses kleines Gemach frei, in dem ein Bett, ein Tisch und andere einfache Holzmöbel standen.
Blunk und John legten den eingehüllten Körper auf das Bett.
Dann entfernten die Vier sich wieder, und die Geheimtür schnappten in den verborgenen Riegel ein.
Fünf Minuten später verließ eine Taxameterdroschke, die John in der Verkleidung eines Kutschers lenkte, das Grundstück und brachte den Fürsten, Blunk und den Koffer nach dem Bahnhof Savigny Platz. –
*
Die Baronin Xenia Rabinski war nach der Unterredung mit Ulminski in das Speisezimmer zurückgekehrt, hatte ihren Platz an der Tafel wieder eingenommen und verriet durch nichts, daß sie soeben die Nachricht von der Ermordung ihres Stiefsohnes erhalten hatte.
Der Wein floß hier wirklich in Strömen. Die anwesenden Damen gaben sich die redlichste Mühe, ihre Tischherren, die zum ersten Male hier bei der Baronin erschienen waren, zum Trinken anzuregen.
Während gerade die ersten Sektpropfen knallten, während als Nachtisch köstliche Weintrauben und Süßigkeiten gereicht wurden, erschien die Zofe neben der Hausfrau und flüsterte ihr ganz verängstigt zu:
„Es ist ein Kriminalbeamter draußen, Frau Baronin. Ich habe ihn in mein Zimmer geführt. Er möchte Frau Baronin sprechen.“
Der Kriminalbeamte war kein anderer als der dicke Wrobel, den Kriminalkommissar Fink zu der Baronin geschickt hatte, damit er ihr schonend die Nachricht von dem Tode ihres Sohnes überbrächte, der ja bei seiner Stiefmutter ein Zimmer mit besonderem Flureingang bewohnt hatte.
Wrobel stand in Fiffis nettem Mädchenzimmer und verbeugte sich tief, als die elegante Frau nun erschien und ihn durch ihr goldenes Lorgnon flüchtig musterte.
Er erzählte ihr, was sich in der Wohnung der Maletta ereignet hatte – daß Hektor von Rabinski dort auf dem Balkon des Schlafzimmers mit einer der Maletta gehörigen Ofenkrücke erschlagen worden sei.
Die Baronin sank aufschluchzend in einen Stuhl, bedeckte das gepuderte Gesicht mit den Händen und flüsterte:
„Furchtbar – furchtbar! Der arme Hektor! Gewiß, er war nur mein Stiefsohn, und wir verstanden uns nicht recht. Er führte einen sehr lockeren Lebenswandel, den ich nicht gutheißen konnte –“.
Sie heuchelte glänzend. Sie tat so, als wüßte sie noch nichts von dem Morde, auch nichts von dem Briefe, den Philipp Brex in der Vase gefunden, und nach dem Wrobel sie nun fragte.
Doch Wrobel merkte bald, daß er hier nichts Wichtiges würde erfahren können und verabschiedete sich wieder.
Die Baronin lachte hinter ihm drein. Und eine halbe Stunde später saßen ihre Gäste an derselben Tafel, die jetzt aber als Spieltisch diente, und die Banknoten flogen hin und her, wechselten die Besitzer, häuften sich vor der Bankhalterin auf, vor der geldgierigen Xenia Rabinski, deren geheime Spielhölle täglich Unsummen einbrachte.
Kommissar Fink hatte sich von Philipp Brex nach der vergeblichen Jagd auf den geheimnisvollen Mann im schwarzen Trikot sehr bald verabschiedet, um schnell und auf dem kürzesten Wege heimzugelangen.
Brex sollte auf Finks Wunsch die fünfzig Diamanten, die er auf den Treppen des Hauses der Geheimnisse aufgelesen hatte, mit in seine Wohnung nehmen und vormittags dann im Präsidium abliefern.
Der kleine Brex wohnte als ‚möblierter Herr‘ in der Nähe des Schiffbauerdamms am Bahnhof Friedrichstraße.
Er war jetzt recht müde und abgespannt, der ulkige, dürre Philipp, und nur so konnte es ihm passieren, daß er die Droschke nicht beachtete, die im Schritt schon von der Gudrunstraße aus hinter ihm her kam.
Er bog jetzt in den Tiergarten ein. Die frische Morgenluft tat ihm wohl. In Bäumen und Sträuchern war das gefiederte Sängervölkchen schon lebendig und jubelte und zwitscherte der aufgehenden Sonne in allen Tonarten entgegen.
Die Droschke fuhr schneller. Die Straße war völlig einsam hier. Nun rumpelte der Wagen an Brex vorüber, nun erhob sich der darin sitzende bucklige Herr und rief Brex an, bat um Feuer für seine Zigarre.
Philipp Brex konnte nicht ahnen, daß hier ein Anschlag auf ihn geplant war. Er trat an die Droschke, die jetzt hielt, heran und reichte dem Buckligen seine Zündholzschachtel.
Ein mit Sand gefüllter Sack zuckte in der Hand des Buckligen auf, traf Brex’ Schläfe.
Ein Griff, und der Bewußtlose lag im Wagen, der sofort weiterfuhr.
Als Brex nach dem hinterlistigen Überfall wieder zu sich kam, lag er in einem Gebüsch am Tiergarten.
Sein erste Gedanke waren die Diamanten.
Er durchsuchte verzweifelt seine Taschen. Nichts – nichts! Er war vollständig ausgeplündert worden!
Wie stumpfsinnig saß er nun da und stierte vor sich hin.
Er war beraubt worden, er, Philipp Brex, der schlaue Brex!
Eine ohnmächtige Wut packte ihn. Taumelnd sprang er auf die Füße. Was nur tun, was?! Wie konnte er die Diamanten wieder herbeischaffen – wie nur?!
Er sah nach der Uhr. Etwa eine Viertelstunde hatte er hier bewußtlos gelegen.
Was tun –?!
Langsam schritt er die noch immer menschenleeren Wege entlang und sann und sann.
Dann ein Gedanke! Hatte nicht Sanitätsrat Doktor Brunn, der den Vater Lori Battners behandelt und der nach dem Morde bei der Maletta gewesen, erzählt, daß Lori ihm von einem Buckligen berichtet hätte, der ihr in letzter Zeit dauernd auf den Fersen geblieben?!
Und – ein Buckliger war’s, der ihn niedergeschlagen hatte!
Ja, wenn man jetzt Lori Battner zur Verfügung gehabt hätte! Dann könnte man sie über diesen Buckligen ausfragen. Aber Lori war ja verschwunden! Genau so wie die Leiche ihres Vaters!
Geheimnisse – überall Geheimnisse!
Brex seufzte.
Unwillkürlich schlug er wieder die Richtung nach der Gudrunstraße ein. Dort in Nummer 20, das ahnte er, lag der Kern all dieser Rätsel verborgen.
Er näherte sich jetzt dem Hause, schaute schon von weitem hin.
Ah – was bedeutete das nun wieder?! Dort im vierten Stock beugte sich ein Mann zum Fenster hinaus und zog ein paar zusammengeknotete Tücher, die bis in den dritten Stock hinabgereicht hatten, nach oben.
Brex drückte sich rasch in eine Haustürecke.
Der Mann knotete jetzt die Tücher vom Fensterkreuz los und schloß das Fenster.
Philipp Brex pfiff leise durch die Zähne. Wahrhaftig, das hatte sich gelohnt, umzukehren und die Gudrunstraße aufzusuchen! Das war soeben eine höchst wichtige Beobachtung gewesen!
Er blieb geduldig in der Haustürecke stehen. –
*
Kehren wir jetzt nochmals in jenen traulichen Damensalon zurück, wo Nadja Ulminski allein zurückgeblieben war.
Die Zofe hatte ihr das Abendbrot im Speisezimmer servieren müssen. Nun schickte sie das Mädchen zu Bett, kehrte in ihren Salon zurück, schaltete das Licht aus und öffnete das eine Fenster.
Nadja wollte sich überzeugen, ob ihr unbekannter Anbeter, der ihr Nacht für Nacht Fensterpromenaden machte, auch heute wieder erschienen sei.
Wirklich – da war er wieder! Er stand mit seinem Geigenkasten unterm Arm in der Nähe der Laterne und schaute zu Nadja empor.
Oh – Nadja freute sich wie ein Kind über diesen harmlosen Roman, den sie da erlebte. Vor vierzehn Tagen etwa war sie dem blassen Künstler mit dem langen braunen Haar und den melancholischen großen Augen zum ersten Male nachmittags auf der Straße begegnet. Auch da hatte er seinen Geigenkasten bei sich gehabt. Nadja war unter dem sonderbaren Blick dieser traurigen Augen sofort zusammengezuckt. Die eigenartige Schönheit dieses Männerkopfes wirkte auf sie wie ein berauschender Trank. Ganz verwirrt ging sie weiter, stellte dann fest, daß der Herr ihr folgte. Und er blieb hinter ihr, bis sie das Haus in der Gudrunstraße betreten hatte. Da war sie denn oben an das Fenster geeilt und hatte hinausgeblickt. Er stand auf der anderen Straßenseite, sah sie und – zog tief den breitrandigen Hut zu respektvollem Gruß. Der Wind spielte in seinem langen Haar und warf einzelne Strähnen über die weiße, hohe Stirn.
So begann dieser Roman. Und jede Nacht gegen drei Viertel Eins erschien dann der Unbekannte vor dem Hause, schritt wartend auf und ab, bis Nadja sich am Fenster zeigte und er seinen bescheidenen, sehnsüchtigen Gruß anbringen konnte. Ganz zufällig war Nadja darauf aufmerksam geworden, daß der Künstler, der sie doch nur ein Mal gesehen hatte, allnächtlich ihr in dieser Weise huldigte. Und dann hielt sie es für ihre Pflicht, ihrem Ritter wenigstens für dieses zarte Werben dadurch zu danken, daß sie gleichfalls allnächtlich sich für Minuten an das offene Fenster stellte und ihm lächelnd zunickte.
Niemand ahnte etwas von diesem kleinen Abenteuer, das nun Nadjas einzige Zerstreuung bildete. Sie, die so viel sich allein überlassen war, die so viel Romane aus Langeweile verschlang und mit glühenden Wangen jede Liebeszene darin überflog, hatte sich längst in die Rolle einer Julia hineingeträumt und nannte den jungen Künstler nur noch ihren Romeo.
Romeo und Julia! Wie poetisch das war! Aber diese Poesie genügte Nadja längst nicht mehr. Seit Tagen spielte sie fortwährend mit dem Gedanken, wie sie einmal ihren Romeo ungestört sprechen könnte. In ihrer Einsamkeit sehnte sie sich nach einem Menschen, der ihr heißes Herz durch Zärtlichkeiten beruhigte. Die letzten Nächte hatte sie vor unnennbarem Sehnen nach einem heimlichen Liebesglück kaum mehr Schlaf finden können. Immer wieder hatte sie sich ausgemalt, wie es wohl werden würde, wenn sie ihrem Romeo einmal den Hausschlüssel hinabwürfe und ihn dann heimlich in ihren Salon führte.
Ach – die süße, kleine Nadja hatte ja so viele Romane verschlungen! Ihr fehlte die schützende, leitende Hand einer Mutter. Seit sie mit dem Vater aus Rußland geflüchtet war, hatte sie nur eine Erzieherin gehabt, die gleichfalls nur zu gern romantischen Träumen nachhing.
Und jetzt – jetzt wußte sie selbst nicht, wie alles kam.
Jedenfalls hatte sie plötzlich den längst bereitgehaltenen Hausschlüssel in Papier gewickelt und hinab geworfen.
Nun stand sie mit jagendem Herzen da und wartete. Der junge Künstler hob den Schlüssel auf und – winkte mit der Hand, eilte der Haustür zu, öffnete.
Nadja befand sich wie im Fieber. Zitternd huschte sie in den Flur, horchte, schloß die Flurtür auf.
Halb ohnmächtig lehnte sie an der Wand. Wenn jemand etwas merkte! Oh – diese Angst, diese furchtbare Angst!
Da – Romeo tauchte auf. Mit leisen Schritten verschwand er hinter der nur angelehnten Tür des Salons. Der in den dunklen Flur fallende Lichtstreifen hatte ihm den Weg gewiesen.
Nadja schloß die Flurtür ab. Sie bebte wie Espenlaub. Sie schämte sich. Was hatte sie nur getan –?!
Dann standen sie sich im Salon gegenüber.
Der junge Künstler hatte Hut und Geigenkasten auf einen Sessel gelegt, sank nun vor Nadja in die Knie, ergriff ihre Hände und bedeckte sie mit glühenden Küssen, stammelte mit zuckenden Lippen:
„Ich liebe dich, du Holde, du Einzige! Ich liebe dich mehr als mein Leben!“
Nadja schaute in sein schönes, leidenschaftlich erregtes Gesicht. Aus seinen heißen Händen floß es wie ein Strom betörender Glückseligkeit in ihren keuschen Mädchenleib über.
Sie beugte sich zu ihm herab. Alle Angst war vergessen.
In ihrem Lächeln las er Hingabe und Gewährung, sprang auf, riß sie an seine Brust. Ihre Lippen fanden sich, ihre Körper drängten zueinander.
Dann saßen sie auf dem Eisbärenfell des Diwans im Dunkeln, eng umklammert. Und er erzählte von sich, von seiner Einsamkeit, seiner Liebe.
Heinz Römer hieß er, war ein Findelkind, war Kaffeehausgeiger, hatte einst gehofft, ein berühmter Künstler zu werden.
Nadja hörte kaum hin.
Heinz – ihr Heinz! Oh – wie schön dieser Name war. So weich wie Musik, so weich wie seine Hände, seine Lippen.
„Schweig – schweig!“ flüsterte sie. „Küsse mich! Küsse mich!“
Die Wogen der Leidenschaft schlugen über ihnen zusammen.
Stunden vergingen. Der Morgen kam. Nadja ließ ihn nicht von sich. Bis er dann selbst sich aus ihren Armen riß. –
*
Philipp Brex stand in der Haustürecke und ließ kein Auge von dem Hause Nummer 20.
Ah – da schloß jemand die Haustür auf.
Wie scheu der blasse Mensch mit dem Geigenkasten sich umblickte, wie hastig er die Tür von außen wieder verschloß und sich nun an den Gittern der Vorgärten entlang drückte!
Brex schmunzelte. Ohne Zweifel – das war einer, der ein sehr schlechtes Gewissen hatte; dazu kam er noch aus dem Haus der Geheimnisse! Den mußte man aufs Korn nehmen. Wer weiß, was der in seinem Geigenkasten davonschleppte!
Brex hatte den Mann am Fenster der vierten Etage, der die Tücher emporzog, nur flüchtig gesehen. Er vermutete jetzt, daß der, dem er nun folgte, vielleicht derselbe Mann sei und daß die Tücher zu einem Einbruch im dritten Stock benutzt worden sein könnten.
Er wartete, bis der mit dem Geigenkasten an einer Autohaltestelle vorüberging. Dann war er mit schnellen Schritten neben ihm.
„Einen Augenblick,“ sagte er und seine Äuglein funkelten förmlich.
Heinz Römer schrak zusammen. Er war so tief in glückselige Erinnerungen versunken gewesen, daß er auf nichts geachtet hatte. Wie lieb war Nadja noch beim Abschied gewesen. Und – wie er sich gesträubt hatte, als sie ihm den kostbarsten Brillantring auf den Finger schob! Aber das Sträuben hatte ihm nichts genützt. Er hatte den Ring behalten müssen.
„Sie wünschen?“ fragte Heinz kühl, da er sich schnell wieder gefaßt hatte und da ihm dieser kleine dürre Herr mit dem faltigen Clownsgesicht recht unbedeutend vorkam.
„Ich bin Kriminalbeamter,“ erklärte Brex triumphierend. „Hier ist mein Ausweis. – Sie waren im Hause Gudrunstraße Nummer 20. Was taten Sie dort?“
Heinz Römer war’s, als schwanke plötzlich der Boden unter seinen Füßen. Er spürte, daß fahle Blässe seine Wangen überzog, daß seine Augen jetzt den Ausdruck eines gehetzten Wildes hatten.
„Antworten Sie!“ befahl der kleine Brex hart. „Was taten Sie im Hause der Geheimnisse, wollte sagen in Nummer 20? Wohnen Sie dort? Waren Sie dort bei jemandem zu Besuch? Bei wem?“
Heinz’ Gedanken schwirrten wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. – ‚Du mußt Nadja schonen!‘ gellte eine Stimme in seinem Innern. ‚Du darfst nie verraten, wo du warst – nie und unter keinen Umständen. Antworte überhaupt nicht. Stelle dich taub! Tu, als verständest du den Mann nicht, der Nadja vor aller Welt entehren kann!‘
Und abermals rief Brex, indem er Heinz beim Arm packte: „Antwort! Oder – ich verhafte Sie!“
Heinz senkte den Kopf, zuckte die Achseln und schwieg.
„Dann – sind Sie verhafte!“ sagte Brex mit unheimlicher Ruhe. „Auto –! Hier Kriminalpolizei! Fahren Sie nach dem Präsidium am Alexanderplatz.“
Er schob Heinz dem Auto zu.
Dann fuhr der Kraftwagen davon. –
Heinz lehnte wie betäubt in der einen Ecke.
Aus den Armen der Geliebten in die Gefängniszelle, aus höchster Seligkeit in abgrundtiefe Verzweiflung! Ja, das hatte ihm das launische Schicksal nun beschert!
Und dann ein neuer Schreck. Schweißtropfend traten ihm auf die Stirn.
Der Ring – der kostbare Brillantring an seinem Finger! Er konnte zum Verräter werden! Der mußte verschwinden! Sofort – noch hier im Auto! Denn wenn dieser Kriminalbeamte ihn fragen würde, wie er, der Kaffeehausgeiger, zu einem so wertvollen Brillantring gekommen sei, – was, was nur sollte und konnte er dann antworten?! Wenn er log, wenn er erklärte, der Ring sei ein Erbstück, dann würde die stets argwöhnische Polizei diese Lüge sehr bald aufdecken.
Nein – nein, es war am besten, daß er den Ring unauffällig vom Finger streifte und zwischen Polstersitz und Wand schob.
Aber – er hatte nicht mit Philipp Brex’ nie müder Wachsamkeit gerechnet! Nur scheinbar saß das kleine Männchen ganz teilnahmslos in seiner Ecke. Brex schlaue Mäuseäuglein belauerten jede Bewegung des Verhafteten.
Brex lächelte flüchtig. Aha – der Bursche wollte einen Ring verschwinden lassen!
„Behalten Sie den Ring nur am Finger!“ sagte er halb ironisch, halb drohend.
Dem armen Heinz Römer lief ein eisiger Tropfen Schweiß unter dem Hute hervor, die Nase entlang.
„Verloren!“ schrie es verzweifelt in seiner gepeinigten Seele. „Nun ist alles verloren!“
Aber wie so oft selbst weniger energische Naturen in Augenblicken höchster Not eine staunenswerte Entschlossenheit zeigen, gerade so packte jetzt auch Nadja Ulminskis Geliebten jene grenzenlose, zur Tat drängende Wut, die mehr ausrichtet als sonst die höchste Anspannung aller geistigen und körperlichen Kräfte.
Er riß den Ring vom Finger, warf sich zur Seite über Brex weit vorgebeugte Schultern und schlug das Türfenster des Autos ein, warf den Ring auf die Straße.
Philipp Brex hatte diesem langhaarigen Menschen eine solche Frechheit nie zugetraut.
„Halt!“ brülte er. „Halt –! Chauffeur – anhalten!“
Seine Stimme war hell und schneidend wie der Ton einer Trompete. Der Chauffeur hatte bereits gebremst, da das Klirren der Scheibe ihn argwöhnisch gemacht hatte.
Brex wollte sich unter der Last des auf ihm liegenden Körpers freimachen. Aber Heinz Römers Energie war jetzt durch den einen Erfolg ins Ungemessene gestiegen. Seine Kräfte verzehnfachten sich. Er wollte den einmal errungenen Vorteil noch besser ausnutzen.
Er gab Brex einen Stoß gegen den Hinterkopf, drückte die Tür auf, rutschte halb hinaus und raste aufs Geradewohl davon – raste eine Straße entlang, bog in eine Querstraße ein.
Da – vor ihm eine größere Anzahl von Damen und Herren, die von einer Gesellschaft zu kommen schienen. Und hinter ihm der brüllende Brex und andere Leute, die diese Verbrecherjagd mitmachten.
„Aufhalten – aufhalten!“ ertönte es durch die im ersten Morgenlicht daliegende Straße.
Und – diese Straße war die Siegfriedstraße. Hier wohnte in Nummer 19 die Baronin Rabinski, die soeben ihre Gäste persönlich die vier Treppen hinabbegleitet und die Haustür aufgeschlossen hatte.
Sie stand noch in der offenen Tür und atmete tief die erquickende Morgenluft ein. Sie war in glänzender Laune. Man hatte in dieser Nacht die neuen Gäste am Spieltisch gehörig geschröpft. Ein Gutsbesitzer hatte gegen eine halbe Million verloren, ein Engländer gegen dreimal hunderttausend Mark.
Sie vernahm jetzt die lauten Rufe der Verfolger, sah einen blassen Menschen die Straße entlang hetzen.
Plötzlich griff ihre rechte Hand nach dem Herzen. Ihre Augen wurden unnatürlicher weit. Diese Ähnlichkeit – diese Ähnlichkeit! – Ein Zittern überflog ihren Leib.
Da stürmte der Mann schon auf sie zu. „Retten Sie mich!“ keuchte er. „Bei Gott – ich bin ein Schuldloser, ich –“.
Ein Wunder schien’s für Heinz Römer zu sein, als die elegante Dame jetzt seine Hand ergriff und ihn in den Flur zog, als sie heiser flüsterte: „Vier Treppen – bei Rabinski! Die Tür ist nur angelehnt! – Vorwärts – hinauf mit Ihnen!“
Heinz jagte die Treppen empor. Die Baronin überlegte blitzschnell, stieß dann einen gellenden Hilferuf aus und ließ sich zu Boden fallen. Brex und die Verfolger schossen heran, fanden die vornehme Dame im Flur liegen.
„Empörend!“ stöhnte die Baronin, und sie schauspielerte glänzend. „Der Mensch, der soeben über den Hof ins Gartenhaus floh, versetzte mir einen rohen Stoß. Ich wollte ihn nicht durchlassen –“.
Brex rannte durch den Flur, über den Hof, im Gartenhause die Treppen empor.
Man fand den Flüchtling nicht, obwohl man im Gartenhause alle Mieter herausklingelte und die Wohnungen durchsuchte.
Die Baronin war langsam in die vierte Etage des Vorderhauses emporgestiegen. Die Flurtür war noch angelehnt. Aber im Salon stand Heinz Römer, stürzte jetzt seiner Retterin zu Füßen.
„Wie soll ich Ihnen danken!“ rief er leise. „Sie haben zwei Menschen vor Schmach und Schande bewahrt!“
„Stehen Sie auf,“ sagte die Baronin mit seltsam verschleierter Stimme. „Jede Gefahr ist vorüber. Ich habe die Verfolger ins Gartenhaus geschickt –“.
Er griff nach ihrer Hand und küßte sie, flüsterte tief bewegt: „Ich danke Ihnen, gnädige Frau, ich danke Ihnen!“
Sie schaute ihn lange wortlos an. Sie forschte in seinen Zügen. Und abermals dachte sie: „Diese Ähnlichkeit kann kein Zufall sein!“
Dann bat sie ihn, auf dem Brokatsofa Platz zu nehmen, setzte sich neben ihn und fragte: „Wie heißen Sie? – Bitte, fassen Sie diese Frage nicht als bloße Neugier auf. Man soll einen Gast, den man unter solchen Umständen bei sich aufnimmt, nicht ausforschen. Ihr Gesicht verriet mir, daß Sie kein Verbrecher sein könnten. Ich würde Ihnen also auch, ohne Sie und Ihre Erlebnisse zu kennen, Schutz gewähren, wenn mir nicht an Ihrem Äußeren etwas aufgefallen wäre –“.
„Heinz Römer heiße ich, auch –“.
Er schwieg, denn die Baronin hatte einen leisen Schrei ausgestoßen, hatte jetzt seine Rechte mit ihren beiden Händen umklammert und schluchzte: „Heinz – Heinz –! – Oh, nur eine Frage noch – was war Ihr Vater?“
Heinz Römer starrte die elegante Frau, der jetzt Träne auf Träne über das gepuderte Gesicht perlte, fassungslos an.
„Weshalb – erregen Sie sich so?“ meinte er verwirrt. „Ich – ich habe meine Eltern nie gekannt. Ich wurde als kaum acht Tage altes Kind ausgesetzt. Meine spätere Pflegemutter, die Schuhmacherfrau Römer in Danzig, fand mich in ihrem Hausflur vor der Tür in einem Pappkarton –“.
Abermals schwieg er, da die Baronin plötzlich aufgesprungen und ins Nebenzimmer geeilt war.
Nach einer Weile erschien dann die Zofe der Baronin, zugleich deren Vertraute, und führte Heinz in ihr eigenes Zimmer.
„Sie sollen es sich hier bequem machen, Herr Römer,“ sagte sie freundlich, indem sie ihn heimlich immer wieder prüfend musterte. „Die Frau Baronin bittet Sie, so zu tun, als wären Sie hier zu Hause. Ich werde Ihnen sofort Frühstück bringen und dann das Bett frisch beziehen. Sie werden den Schlaf wohl nötig haben!“ –
Heinz Römer wurde so der Gast der Frau von Rabinski.
*
Philipp Brex aber begab sich nach der erfolglosen Jagd auf den Flüchtling mit dessen Geigenkasten und dem Brillantring, den er glücklich auf der Straße gefunden hatte, ins Polizeipäsidium und setzte hier einen schriftlichen Bericht über die letzten Vorgänge auf. Da der Geigenkasten, der eine gute Geige enthielt, nicht mit dem Namen des Besitzer versehen war, konnte Brex in diesem Bericht nur von einem ‚jüngeren Manne mit bartlosem, blassem, interessantem Gesicht‘ sprechen. Den Namen wußte er nicht.
Lori Battner, die aus der Wohnung der Frau Prutz im vierten Stock mit Hilfe der zusammengeknoteten Tücher in das Schlafzimmer des Grafen Oskar von Brucksal geflüchtet war und hier festgestellt hatte, daß der alte Graf in seinem Bett verschieden war, stand nun zusammengeduckt hinter dem hohen Ecksofa und lauschte mit jagenden Pulsen den Bewegungen des für sie unsichtbaren Mannes, der soeben das Zimmer betreten hatte.
Dieser Mann war, wie wir bereits wissen, kein anderer als Graf Udo, der Sohn des Toten.
Udo war langsam bis an das Bett gegangen, stand nun dicht davor und ließ, da im Zimmer infolge der geschlossenen Vorhänge nur ein ungewisses Dämmerlicht herrschte, seine Taschenlampe aufleuchten, deren Lichtkegel über den stillen Schläfer hinglitt und dann wieder erlosch.
„Alles in Ordnung!“ murmelte Udo, und ein teuflisches Grinsen verzog sein Gesicht. „Nun kann der Arzt kommen und den Tod bescheinigen. Dann wird mein lieber Papa mit allen ihm gebührenden Ehren beigesetzt werden.“
Unwillkürlich hatte er lauter gesprochen. Er glaubte ja, daß er hier allein wäre.
Er sah nach der Uhr. „Bald halb sechs Uhr morgens. Wo nur Robb bleibt?! Er müßte doch längst zurück sein. Ob etwa die Sache mit dem Koffer nicht völlig geklappt hat?! – Unsinn – was sollte da passieren!“ beruhigte er sich selbst. „Sobald Robb zurückgekehrt ist, muß er den Sanitätsrat herüberholen. Der alte Esel erstickt ja rein in Ehrfurcht vor dem gräflichen Namen und ist für derartige Sachen glänzend zu gebrauchen!“
Er horchte plötzlich auf. Irgend ein Geräusch war an sein Ohr gedrungen. Es hatte sich wie das leise Knarren eines Stiefels angehört.
Udo blickte sich mißtrauisch um. Seine hagere Gestalt duckte sich wie zum Sprunge zusammen. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich, und dadurch bekam sein Antlitz noch mehr das Aussehen eines mit gelblicher Haut überzogenen Totenschädels.
„Sollte ich mich getäuscht haben?“ murmelte er. „Kam das Geräusch von draußen? Oder – horcht dort jemand?“
Mit zwei Sätzen hatte er die Tür erreicht, stieß sie auf, schaute den Flur entlang.
Der war leer.
Im selben Augenblick wurde die Flurtür aufgeschlossen, und der gräfliche Diener Friedrich Blunk betrat die Wohnung.
Udo ging ihm entgegen.
„Na, Robb, alles besorgt?“ fragte er.
„Ja, mein Söhnchen, alles – und noch mehr als das! Ich war soeben nochmals im Tempel, da ich Ulminski melden wollte, was ich in der Siegfriedstraße erlebt hatte, die ich ganz zufällig durchquerte. Man veranstaltete da eine Menschenjagd. Ein Kriminalbeamter, Brex heißt der kleine Kerl, und eine Menge anderer Leute hetzten einen jungen Burschen, der dem Brex aus einem Auto entsprungen war. Und dieser Brex, mein Söhnchen, ist derselbe, der hier im Treppenhause die Juwelen aufsammelte. Brex hat den Flüchtling aber nicht mehr erwischt. Der Mensch ist in das Haus Nummer 19 geflüchtet –“.
„Na – dort wohnt ja die Rabinski –“.
„Das stimmt. Und nun kommt die Hauptsache. Die Rabinski hat den Flüchtling vor der Polizei geschützt und offenbar mit in ihre Wohnung genommen.“
„Sie, einen wildfremden Menschen?!“ meinte Udo verwundert.
„Ob er ihr fremd war, möchte ich bezweifeln. Tatsache ist – sie rettete ihn! Ich war nämlich aus Neugier mit ins Haus eingedrungen. Mir wurde sehr bald klar, daß die Rabinski, die mich ja nicht kennt, den Mann in ihre Wohnung hinaufgeschickt haben müsse. Ich sah, wie sie mit einem triumphierenden, höhnischen Lächeln Brex und den anderen nachschaute, die ins Gartenhaus eilten. Ich hielt dieses Erlebnis für wichtig genug, es dem Fürsten sofort mitzuteilen. Als ich in den Tempel kam, waren Ulminski und John von ihrer Droschkenfahrt schon zurück. Denke dir, mein Junge, sie haben Brex im Tiergarten die Diamanten abgenommen! Fünfzig Steine sind’s – fünfzig wundervolle Brillanten! Ein ungeheures Vermögen!“
Sie standen noch immer im Flur. Sie sprachen wie stets mit vorsichtig gedämpfter Stimme.
Udo nickte Robb jetzt ernst zu und meinte in etwas neidischem Tone: „Man muß es Ulminski lassen, er ist ein Verbrechergenie ersten Ranges! – Was sagte er denn zu deinem Erlebnis in der Siegfriedstraße?“
„Gar nichts. Du weißt ja, daß der sehr ehrenwerte Meister vom Stuhl der Freidenker-Loge ‚Indra‘ uns Logenbrüder nur selten seine Gedanken enthüllt. Wir alle sind nichts als seine blinden Werkzeuge!“
Udo erinnerte sich jetzt wieder an das Geräusch, das ihn soeben im Sterbezimmer seines Vaters erschreckt hatte.
Er teilte Robb mit, was er gehört zu haben glaubte. Das verkniffene, faltige Gesicht des Dieners verzog sich zu einer Grimasse jäh erwachten Argwohns.
„In unserer Loge muß man jedes Geräusch aufzuklären suchen,“ flüsterte er. „Komm’, sehen wir nach, ob etwa gar ein Spion sich eingeschlichen hat.“ –
Loris einer Stiefel war es gewesen, der das Knarren hervorgerufen hatte, als sie ihre unbequeme Stellung hinter dem Sofa etwas veränderte. Ein furchtbarer Schreck trieb ihr das Blut zum Herzen, als sie merkte, daß Graf Udo, den sie nun bereits an der eigentümlich näselnden Stimme erkannt hatte, das Knarren gehört zu haben schien. Sie hatte den jungen Grafen sehr häufig auf der Treppe getroffen, und jedes Mal hatte er versucht, mit ihr ein Gespräch anzuknüpfen, was sie stets abzulehnen wußte, ohne gerade ihm gegenüber schroff zu werden.
Und jetzt – jetzt hatte der Graf voller Mißtrauen soeben die Tür aufgerissen, war in den Flur gestürmt. Jetzt würde er vielleicht sofort hier im Zimmer hinter jedes Möbelstück schauen.
Und dann – wenn er sie dann fand?! – Eisesschauer jagten über ihren Leib. Diesen Grafen mit dem Totenkopfgesicht und dem glitzernden Monokel auf dem einen Auge fürchtete sie wie einen Menschen, dem man das Schlechteste zutraut!
Was – was würde er dann wohl mit ihr beginnen, wo sie doch Zeugin seines seltsamen Selbstgesprächs geworden war?!
Jetzt vernahm sie das Klappen der Flurtür und Stimmen.
Sie atmete auf. Noch war sie nicht verloren! Wenn sie jetzt rasch unter dem Sofa hervorkroch und ganz leise die Tür zum Nebenzimmer öffnete, konnte sie von dort vielleicht die Flurtür unbemerkt erreichen.
Schnell bückte sie sich noch tiefer, legte sich lang auf den Parkettboden, wollte ihr Versteck verlassen.
Zu spät – zu spät!
Unter dem Sofa hervor sah sie die Beinkleider und Stiefel der beiden Eintretenden.
Ihr Herz drohte vor Entsetzen still zu stehen.
Da – ihre Hand, die sich auf den Parkettboden stützte, fühlte plötzlich, daß ein schmaler Teil eines Musters des Bodens sich senkte, – nur eine kleine Leiste, die ihr Handballen herabgedrückt hatte.
Fast gleichzeitig gab auch ein größeres Stück des Parketts nach, klappte wie eine Falltür nach unten.
Lori glitt, völlig besinnungslos vor Schreck, durch das quadratische Loch in die Tiefe.
Das Stück Parkettboden klappte von selbst wieder hoch. Nichts verriet mehr, daß hier soeben ein Mensch wie gelähmt vor Grauen verschwunden war. –
Nach wenigen Minuten sagte Robb dann: „Du siehst es ist niemand hier. Na – dem Betreffenden wäre es auch übel ergangen.“
Dann schickte Udo den angeblichen Diener zu Doktor Brunn hinüber, der ja ebenfalls in der Gudrunstraße wohnte. Der Sanitätsrat kleidete sich rasch an und eilte über die Straße, gefolgt von dem würdigen Diener, der ihm bereits mitgeteilt hatte, daß Graf Udo heute früh habe verreisen wollen, dann aber zu seinem unendlichen Schmerz, als er sich von seinem Vater verabschieden wollte, feststellen mußte, daß der kranke Graf Oskar in der Nacht verschieden sei.
Udo empfing den Sanitätsrat, der seinen Vater seit Monaten behandelt hatte, mit den schmerzdurchbebten Worten: „Er hat ausgelitten, mein lieber, guter Papa! Gestern reichte ich ihm noch wie immer die Pulver, die Sie ihm verschrieben hatten.“
Doktor Brunn drückte dem jungen Grafen stumm die Hand, untersuchte den Toten dann nur flüchtig und füllte den Schein aus, in den er als Todesursache ‚Herzlähmung‘ hineinschrieb.
Dann entfernte er sich wieder.
Graf Udo, der ihm noch erklärt hatte, daß er jetzt natürlich seine Reise bis auf weiteres verschieben müsse, setzte sich dann telephonisch mit einem Beerdigungsinstitut in Verbindung. Bereits um halb acht Uhr wurde Oskar von Brucksal eingesargt und nach der Leichenhalle des Friedhofs in Schmargendorf überführt, wo die Familie von Brucksal ein Erbbegräbnis besaß.
Graf Udo und der Diener Friedrich Blunk folgten dem Sarge in einer Trauerkutsche. In einer zweiten saßen die Köchin Minna Lenz und das Stubenmädchen Helene Würm, die beide bereits seit vielen Jahren dem alten Grafen treu gedient hatten.
„Findest du es nicht komisch, Lene, daß der junge Graf es so eilig damit hatte, unsern guten alten Herrn aus dem Hause zu schaffen?“ sagte die dicke Minna jetzt, nachdem man eine Strecke gefahren war.
„Minna, komisch ist vieles am Grafen Udo,“ meinte das Stubenmädchen achselzuckend. „Als er vor anderthalb Jahren nach beinahe fünfjähriger Kriegsgefangenschaft aus Sibirien zurückkam, da hat er doch gleich damit angefangen, die anderen Verwandten aus der Nähe des alten Herrn zu vergraulen, hat überall Feindschaft gestiftet und – na, man tut besser, sich den Mund nicht mit so was zu verbrennen!“
„Pfui, Lene,“ empörte sich die Köchin, „das klingt ja so, als ob ich dem jungen Grafen was erzählen würde von dem, was wir unter uns bereden! Nee, Lene, ich bin dem Udo wahrhaftig nicht grün, und dem Friedrich erst recht nicht, diesem Schleicher!“
„Ja, weiß Gott, was der Udo an dem gefressen hat, Minna! Da war doch der alte Karl, der ebenfalls rausgeekelt wurde, ein ganz anderer Mensch. Auf den war Verlaß. Na – man hat ja so verschiedenes bemerkt, Minna! Der Friedrich und der Udo haben so allerlei Heimlichkeiten miteinander!“
„Das stimmt, Lene! Ich wette, die beiden haben sich schon in Sibirien kennengelernt, und der Udo hat dem Karl nur gekündigt, damit er diesen Blunk ins Haus bringen könnte.“
„Ja – ja, – und dann die Krankheit vom alten Grafen! Vorher war er noch so rüstig, und drei Monate nach Udos Heimkehr fing er zu kränkeln an –“.
„Minna, denkst du etwa, daß – daß der Udo da – so – so etwas nachgeholfen hat?!“ rief das Stubenmädchen ganz entsetzt.
„Ich denke gar nichts! Sei still. Bei all dem Reden kommt doch nichts raus!“ –
*
Der angebliche Engländer Stuart Jameson, der einzige Mieter der Frau Rechnungsrat Prutz aus dem vierten Stock, in Wahrheit der Danziger Privatdetektiv Horst Olden, hatte den Kriminalbeamten Philipp Brex sehr wohl bemerkt, als er die zusammengeknoteten Tücher nach oben zog und vom Fensterkreuz löste.
Er begab sich sofort in sein Zimmer zurück, wo er sich in kurzer Zeit in einen älteren Briefträger verwandelte. Dann weckte er Frau Prutz, vor der er keinerlei Geheimnisse hatte, und bat sie, sofort in sein Zimmer zu kommen.
Die gutmütige alte Dame erschien denn auch sehr bald, stutzte, als sie Olden in der tadellos gelungenen Maske erblickte und fragte etwas ängstlich, ob denn schon wieder etwas vorgefallen sei.
„An diese Nacht werde ich denken!“ fügte sie kopfschüttelnd hinzu und seufzte ganz kläglich.
Als Olden ihr jetzt mitteilte, wie Lori Battner entflohen sei und daß sie sich jetzt unten bei dem Grafen Brucksal befinden müsse, sank die kleine Rätin vor Schreck in einen Sessel und rang ganz verzweifelt die Hände.
„Oh, Sie hätten nicht so hart zu der armen Lori sein sollen!“ meinte sie dann. „Lori hätte Ihnen auch freiwillig alles erzählt, Herr Olden. – Was werden Sie jetzt tun?“
„Das Haus von außen bewachen, liebe Frau Prutz. Das heißt, ich werde mich oben an das Flurfenster des Hauses gegenüber stellen und die Fenster der dritten Etage hier besonders scharf im Auge behalten. Lori hat einen der Anzüge Ihres gefallenen Sohnes angezogen und wird versuchen, aus dem Hause zu entwischen, falls es ihr gelingt, die Wohnung der Brucksals zu verlassen. – Noch eins, Frau Rat. Der kleine Brex hat gesehen, wie ich die Tücher einholte. Er wird fraglos sehr bald hier erscheinen und Sie ausfragen, wer der Herr war, der die Tücher emporzog. Dann sagen Sie, Sie wüßten von nichts. Sie hätten fest geschlafen. Wenn er sich nach mir erkundigt, erklären Sie, ich sei mit dem Nachtzuge in Geschäften nach Hamburg gereist.“
„Gut, Herr Olden. Auf Ihre Verantwortung.“
„Jawohl – auf meine Verantwortung, denn ich beabsichtige ohnedies, mich Brex sehr bald anzuvertrauen. Er soll ein sehr findiger Kopf sein, und ich allein schaffte diese Arbeit hier nicht mehr. Ich bin in dieses Haus gekommen, um die Diamanten des Fürsten Jussugoff zu suchen, und ich bin in ein förmliches Wespennest gefährlicher Geheimnisse geraten, die zu ergründen, die Kraft eines einzelnen Mannes nicht ausreicht. – Leben Sie wohl, Frau Rat!“ –
Horst Olden sah etwa eine Stunde später vom Flurfenster des Hauses gegenüber, wie Friedrich Blunk zu Doktor Brunn eilte und wie dann der Sanitätsrat und der Diener wieder in Nummer 20 verschwanden.
Olden ahnte, daß der alte Graf gestorben sei. Er verschaffte sich dadurch Gewißheit, daß er den Sanitätsrat vor dessen Hause erwartete und ihn in der Rolle des Briefträgers höflich fragte, wo hier in der Gudrunstraße ein Graf Oskar von Brucksal wohne. Doktor Brunn erwiderte, der Graf sei in dieser Nacht plötzlich verschieben, aber sein Sohn und einziger Erbe sei daheim – dort in Nummer 20 wohne er.
Olden bedankte sich und schritt weiter. Die Unruhe, was aus Lori geworden, quälte ihn von Minute zu Minute mit immer wachsenderen Befürchtungen.
Abermals betrat er das Haus gegenüber von Nummer 20 und stieg bis zum Boden hinauf, stellte sich an das Flurfenster und paßte auf.
Das Leben der Großstadt erwachte. Im Hause, auf der Straße wurde es lebendig. Dann brachte man den Sarg für den Grafen. Und wieder eine halbe Stunde später sah Olden den Leichenwagen und die beiden Trauerkutschen langsam davonfahren.
Nun wußte er, die Brucksalsche Wohnung war leer! Nun durfte er es wagen, dort einzudringen!
Gleich darauf überschritt er die Straße und stieg dann die Treppen hinan. Sein verstellbarer Patentdietrich öffnete auch das feinste Sicherheitsschloß. Er schlüpfte in den Flur der gräflichen Etage und schlich in jenes Zimmer, in welches Lori nach der tollkühnen Klettertour eingestiegen war.
Er war zum ersten Male in diesem Raum, sah dort das zerwühlte Bett, dort den Nachttisch mit den vielen Medizinfläschchen, dort noch das Nachthemd des Toten.
Ja – er befand sich im Sterbezimmer.
Und – in dieses Zimmer war Lori eingedrungen?! Arme, arme Lori! Was mußte sie nur für einen furchtbaren Schreck bekommen haben, als sie den Leichnam erblickte!
Aber gerade dieser Gedanke an die Angst der Geliebten trieb nun Horst Olden zu raschem Handeln an.
Er begann das Zimmer zu durchsuchen, dann die übrigen Räume. Er suchte nicht allein nach Lori, nein, auch nach der Leiche Albert Battners, die ja, wie er in der vergangenen Nacht beobachtet hatte, von Friedrich Blunk gestohlen worden war.
Er fand weder seine Lori noch deren toten Vater.
Nur anderes fand er in Blunks Dienerzimmer. In einem Schranke entdeckte er ein großes Geheimfach, welches Perücken, Schminken und ähnliches enthielt.
Olden wurde immer besorgter. Wo war Lori geblieben – wo nur?!
Er kehrte in das Sterbezimmer zurück und suchte von neuem. Er schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete in jeden Winkel, auch hinter das Sofa.
Und hier, wo offenbar seit Tagen der Staub vom Parkettfußboden nicht weggekehrt worden war, hier endlich – endlich Spuren, die ihm allerlei zu erzählen wußten.
Er kroch unter das Sofa, lag lang auf dem Bauch, besichtigte die Abdrücke in der Staubschicht aufs genaueste und kam zu der Überzeugung, daß Lori sich hier verborgen gehabt hatte.
Seine scharfen Augen, denen nichts, nichts entging, fanden schließlich auch die kaum wahrnehmbaren Umrisse der Falltür.
Und abermals einige Minuten später entdeckte er die Leiste, die schmale Leiste, die sich herabdrücken ließ.
Er tat es.
Die Falltür klappte lautlos nach unten. Horst Olden schob den Kopf über die Öffnung. Ein scharfer Kampfergeruch drang ihm in die Nase.
Unten tiefste Finsternis und Totenstille.
Nein, nicht völlige Stille. Nein – da war das Geräusch hastiger Atemzüge.
Und jetzt drang es zu ihm empor wie Gemurmel. Es war eine Frauenstimme. Und die Frau betete, rief in all ihrer Angst Gott um Beistand an.
Es war – Lori!
Jetzt hatte Olden die Stimme erkannt, jetzt reckte er den Arm nach unten, leuchtete hinab.
Da stand ein Diwan gerade unter der Falltür, und vor dem Diwan lag Lori auf den Knien, hatte den Kopf in die Hände vergraben.
Weiter nach rechts aber stand auf zwei Böcken ein langer Kasten.
Nein, kein Kasten – ein Sarg!
Olden glaubte zu träumen. Ein Sarg dort unten in der Wohnung des Rentiers Queißner, der fünf Zimmer an den Fürsten Ulminski vermietet hatte und der seit vielen Monaten in Italien zur Kur weilte?
Olden blickte wieder auf die Kniende, auf die holde, arme Lori. Ein namenloses Mitleid mit der Geliebten ließ ihn jetzt leise deren Namen rufen.
Lori fuhr empor.
Ihr Kopf bog sich zurück. Sie schaute dort oben auf ein bärtiges, fremdes Gesicht, begann plötzlich zu taumeln, sank schwer über den Diwan hin –.
Zur selben Zeit erwachte in dem geheimen Kellergelaß jenes Hauses mit dem Säulenvorbau, in dem der Engländer John Wellesley wohnte und einige Räume an die Freidenker-Loge ‚Indra‘ vermietet waren, derselbe Greis aus tiefer Betäubung, den man in einem Koffer hierher geschafft hatte.
Auf dem einfachen Holztisch des fensterlosen Raumes brannte eine kleine Petroleumlampe und beleuchtete matt das faltige, gelbliche Antlitz des Unglücklichen, den menschliche Bestien aus Habgier aus der Reihe der Lebenden ausgelöscht hatten.
Der Greis hatte die Wolldecken, in die man ihn gehüllt hatte, abgestreift und saß aufrecht auf dem Bett, stierte mit glanzlosen, erstaunten Augen um sich und murmelte:
„Dies – dies kann nur ein Traum sein, ein seltsamer Traum! Ich bilde mir nur ein, daß ich wach bin –!“
Er fuhr sich mit der welken Hand über die Stirn, berührte dabei die weißen Bartstoppeln, die sein Kinn und seine Wangen bedeckten, und murmelte abermals:
„Unbegreiflich – unfaßbar! Sollte ich wirklich nur träumen?! Ich bin doch wach. Ich fühle nur eine bleierne Schwere in allen Gliedern!“
Dann blieb sein Blick auf einem Zettel haften, der gegen den Lampenfuß gestützt war. Er erkannte ein beschriebenes Blatt. Taumelnd tat er den einen Schritt bis zum Tisch hin, griff mit zitternder Hand nach dem Blatt und las:
‚Brudermörder! Die Toten stehen auf! Dieser Kerker soll die Strafe sein für das, was Du vor dreißig Jahren aus Habgier verbrochen hast!
Der Pförtner der Indra-Loge.‘
Das Stück Papier flatterte auf die Steinfliesen des Bodens. Der Greis war mit einem ächzenden Stöhnen auf das Bett zurückgesunken. Regungslos lag er nun auf dem schlichten Bett in seinem unterirdischen Kerker.
Nach einer Weile öffnete sich dann die unsichtbar in der getünchten Mauer angebrachte Geheimtür, und ein Mann mit einer langen schwarzen Seidenmaske vor dem Gesicht trat mit einem Bündel Kleider über dem Arm und einem Korbe in der Hand geräuschlos ein.
„Ah – er ist bereits wieder zu sich gekommen und den Zettel hat er auch schon gelesen,“ sprach er halblaut vor sich hin.
Die Stimme dieses Mannes glich vollkommen der des Engländers John Wellesley.
Er warf die Kleider auf einen Stuhl und packte aus dem Korbe ein Brot, etwas Butter, Messer und Gabel, eine Tasse und eine Kanne heißen Tee aus, stellte alles auf den Tisch und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
Der Greis erwachte zum zweiten Mal. Sein halb irrer Blick glitt über den Tisch und den Stuhl hin.
„Ah – man will mich wenigstens nicht verhungern lassen,“ flüsterte er qualvoll.
Dann sah er den Zettel, den John Wellesley wieder gegen den Lampenfuß gestützt hatte.
„Brudermörder – Brudermörder!“ stöhnte er auf. „Oh – das ist ja nicht wahr! Ich habe ihn nicht gemordet! Nein, nein – er war damals wirklich geistesgestört, als ich ihn in die Anstalt des Doktor Trebra schickte. Ich – ich kann nichts dafür, daß er dort das Gedächtnis völlig verlor und nachher entfloh. Ich weiß nicht, wo er geblieben ist. Niemand weiß es. Nein – ein Mörder bin ich nicht, wenn ich mich auch schwer an ihm vergangen habe!“
Er merkte jetzt, daß seine Glieder vor Kälte zitterten. Es war feucht und kühl in diesem Kerker, und der Gefangene der Indra-Loge hatte nur ein langes Nachthemd an. Die Wolldecken waren zu Boden gefallen.
Mühsam begann er sich anzukleiden. Es war ein Anzug, der ihm gehörte, dazu sein warmer Schlafrock und ein Paar hoher Filzschuhe. Dann setzte er sich an den Tisch, lehnte das greise Haupt in beide Hände und grübelte.
Einzelne Worte kamen über seine zuckenden Lippen. Ein Name war’s, den er des öfteren wiederholte, einen Vornamen, – der seines Bruders, den er hinter den Mauern einer Nervenheilanstalt damals lebendig hatte begraben wollen, damit er, der Jüngere, die väterlichen Güter allein erbte. –
John Wellesley hatte die Seidenmaske wieder abgestreift, nachdem die Geheimtür hinter ihm leise ins Schloß geglitten war. Er begab sich jetzt nach oben, wo er seine Schwester beim Decken des Frühstückstisches vorfand.
„Morgen, Jane,“ begrüßte er sie mit einem unterdrückten Gähnen. „Viel geschlafen habe ich in dieser Nacht wieder nicht. Unser Meister vom Stuhl ist zur Zeit recht rührig und hetzt uns ordentlich herum. Na – dafür haben wir dem kleinen Brex aber auch die Diamanten tadellos abgenommen.“
Er warf sich mit einem scheußlichen Kichern in die Sofaecke.
„Ist ‚er‘ schon bei Besinnung?“ fragte die rotblonde Jane, die jetzt einen kostbaren Spitzenmorgenrock trug und deren üppige Formen dieser lose Anzug noch mehr hervortreten ließ.
John nickte. „Er wird sich gewundert haben, plötzlich in eine andere Umgebung versetzt worden zu sein,“ meinte er dann und nahm Jane die gefüllte Teetasse ab. „Übrigens wird jetzt gerade –“ – er schaute zu der Stutzuhr auf dem Kaminsims – „der Graf Oskar von Brucksal nach der Leichenhalle überführt. Die Beisetzung in der Familiengruft erfolgt übermorgen mittag.“
Jane interessierte dies nicht weiter. Sie hatte ebenfalls am Tische Platz genommen und aß ein paar Ölsardinen aus einer frisch geöffneten Büchse, wobei sie zerstreut die Fische mit der Gabel in ganz kleine Stückchen zerbröckelte.
„Eigentlich verstehe ich euch alle nicht so recht,“ sagte sie dann ganz unvermittelt. „Ihr seid sämtlich nichts als Sklaven dieses Mannes, der euch stets nur zum Teil in seine Pläne einweiht. Die Loge hat jetzt innerhalb eines Jahres ihr Vermögen auf schätzungsweise achtzig Millionen Dollar vermehrt –“.
John verbesserte sie mit erstauntem Blick. „Neunzig Millionen sind’s, Jane. – Aber – was soll diese merkwürdige Einleitung?“
„Nun, man müßte von Ulminski verlangen, daß er endlich erklärt, wozu er diese ungeheure Summe verwenden will.“ Ihre Augen begannen in feindseligem Glanz zu leuchten. „Habt ihr denn noch nie daran gedacht, daß Ulminski eines Tages mit dem ganzen Schatz an Gold und Edelsteinen entfliehen könnte?“
John kniff grinsend das eine Auge zu. „Aha – mein Schwesterlein ist eifersüchtig und beginnt gegen den Fürsten zu wühlen. – Jane, ich warne dich! Laß das lieber! Du bist selbst Logenbruder, hast den Eid geschworen und dich dadurch zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Vergiß nicht, daß Ulminski es war, der uns alle, uns gescheiterte Existenzen, um sich sammelte und uns den Weg zeigte, wie wir sorgenlos und behaglich leben könnten. Wir verdanken ihm unendlich viel. Ganz abgesehen davon, Jane, gegen den Meister vom Stuhl intrigieren, heißt sein Leben riskieren! Du kennst die Organisation der Loge. Ein jeder von uns hat einen geheimen Aufpasser, den er selbst nicht kennt und der wieder mit seinem Leben für die Zuverlässigkeit des anderen haftet. Kein Wort mehr davon, Jane! Ich erinnere dich nur an die beiden letzten Todesurteile, an die Leichen der – unbekannten Selbstmörder, die man aus der Spree fischte!“ Sein Gesicht war ernst, fast drohend geworden.
„Hüte dich, Jane!“ setzte er hinzu, indem er die Stimme noch mehr dämpfte. „Vielleicht haben diese Wände hier Ohren! Bringe nicht deine Herzenswünsche mit den Angelegenheiten der Loge in einen Topf! Ich habe es sehr wohl bemerkt, daß Ulminski sich völlig von dir als Weib zurückgezogen hat, nachdem du vor drei Monaten den Logeneid geschworen hast!“
Jane sprang heftig auf. Sie war blaß geworden. Nur die Backenknochen zeichneten sich als rote Flecken von den bleichen Wangen ab.
„Er – er liebt eine andere!“ stieß sie zischelnd hervor. „Ich fühle es! Ich habe sein Herz verloren! Oh, wenn ich wüßte, wer es ist, – wenn ich dies nur herausbrächte!“
In ihre lohenden Augen kam ein nachdenklicher Ausdruck. „Ich – ich werde es erfahren! Es hat ohne Zweifel etwas zu bedeuten, daß Sergius in letzter Zeit so oft die Verkleidung des Buckligen wählte! Dies muß mit seiner neuen Neigung irgendwie zusammenhängen.“
Sie preßte für einen Moment die Zähne in die Unterlippe. Ihr Antlitz sah ganz verzerrt aus. Die Eifersucht hatte aus diesem begehrlichen Weibe eine gefährliche Schlange gemacht.
John wollte etwas sagen. Plötzlich jedoch öffnete sich die Tür nach dem Nebenzimmer und auf der Schwelle stand einer der Logenbrüder, ein sonngebräunter Mann mit blondem Spitzbart und blauen, großen Augen. Er war mit unauffälliger Eleganz gekleidet und mochte etwa dreißig Jahre alt sein.
Jane war mit leisem Schrei herumgefahren.
„Oh – Sie haben mich erschreckt, Börtgen,“ stammelte sie verwirrt und dachte dabei mit Besorgnis an des Bruders warnende Worte von dem Aufpasser.
Gunnar Börtgen lächelte.
„Das tut mir leid, Jane,“ meinte er und kam näher, reichte den beiden die Hand und rückte einen Stuhl an den Tisch. „Ich komme soeben aus England,“ fuhr er fort. „Ulminski hatte mich hingeschickt. Derselbe Sergius Ulminski, der mir dreimal bisher das Leben gerettet hat und an dem ich mit jeder Faser meines verruchten Herzens hänge. Da Ulminski mir gestattet hat, über diese Mission nach meiner Rückkehr zu sprechen, kann ich euch ja sagen, was ich dort in Liverpool sollte. Die englische Regierung hat bekanntlich nach dem Muster der deutschen Handelsunterseeboote jetzt ein ähnliches Fahrzeug bauen lassen, das zum Transport besonders wertvoller Waren dienen soll. Es ist beinahe fertig, und seine erste Fracht nach Neuyork wird aus Goldbarren im Werte von zehn Millionen Pfund Sterling bestehen. Dies wissen aber nur ganz wenige Eingeweihte. Wie Ulminski es erfahren hat, vermag ich nur zu erraten, durch seine Beziehungen zur hiesigen englischen Botschaft! Er verkehrt ja bei dem Botschafter und so und so vielen Botschaftsräten. – Kurz und gut – die Loge wird dieses Goldschiff kapern!“
„Ah!“ machte John Wellesley. „Ah – das sieht Ulminski ähnlich! Zehn Millionen Pfund Sterling! Das ist der größte Goldtransport, der je den Ozean durchquert hat!“
„Allerdings!“ nickte Gunnar Börtgen. „Und gerade deshalb muß er unser werden! Ich habe dem Untermeister vom Stuhl der englischen Zweigloge bereits ein ganzes Bündel schriftlicher Instruktionen von Ulminski überbracht. Die Sache wird bis ins einzelne vorbereitet werden und – wird klappen wie alles, was der Fürst einleitet. Und ich als Schiffsingenieur werde die technische Seite des Unternehmens erledigen.
John Wellesley schwieg einen Augenblick. Dann fragte er etwas schüchtern: „Wie sind Sie eigentlich hier ins Haus gelangt, Gunnar? Die Türen sind doch verschlossen.“
Der Däne Börtgen schaute an John vorbei und erwiderte leichthin: „Darauf darf ich nicht antworten, John. Diese Villa, die wie ein griechischer Tempel aussieht, hat Augen, Ohren und Adern!“ Sein Blick streifte Jane, die diese versteckte Drohung sehr wohl verstand und jäh die Farbe wechselte.
„Ich darf wohl um eine Tasse Tee bitten,“ sagte Börtgen darauf mit zwangloser Liebenswürdigkeit, indem er Jane eine Verbeugung machte.
Dann sprach er von anderen Dingen. –
*
Philipp Brex hatte seinen Bericht gerade fertig, als Kriminalkommissar Doktor Fink das Dienstzimmer betrat.
„Morgen, Brex,“ begrüßte er seinen Untergebenen mit schlecht verhehlter Erregung. „Ich bin auf Ihren kurzen Brief hin schleunigst hierher geeilt. Die fünfzig Diamanten aus dem Treppenflur des Hauses der Geheimnisse sind Ihnen also wirklich wieder geraubt worden?“
„Leider!“ knurrte der kleine Brex. „Hier ist mein Bericht, Herr Kommissar. Ich habe da noch etwas anderes erlebt. Doch lesen Sie bitte erst diese –“.
Fink überflog die knappe, übersichtliche Schilderung des Raubes der Brillanten, an die sich dann der Bericht der Festnahme und Flucht des Mannes mit dem Geigenkasten anschloß.
„Wo ist der Ring, den der Mensch wegwarf?“ fragte Fink jetzt mit sichtlicher Spannung.
„Hier – bitte. – Nun kommt das Seltsamste bei der Sache, Herr Kommissar. Der Ring gehört, wie ich bereits festgestellt habe, mit zu der Beute, den die noch unentdeckten Einbrecher bei dem Juwelier Aron in Frankfurt am Main vor einem halben Jahr gemacht haben!“
„Donnerwetter!“ entfuhr es Fink. „Bei Aron?! Damals wurden für neun Millionen Schmucksachen gestohlen –“.
„Ganz recht. Und meine Vermutung geht noch heute dahin, daß eine Bande von Dieben existiert, die tadellos organisiert ist und noch besser geleitet wird, eine Bande, zu der keine Berufsverbrecher gehören! Deshalb ist sie auch nicht zu fassen!“
Doktor Fink besichtigte den Ring sehr genau.
„Riechen Sie bitte einmal dran, Herr Kommissar,“ sagte Brex mit einem feinen Lächeln.
Fink tat es. „Donnerwetter,“ platzte er heraus, „dieser Ring hat noch vor kurzem an einer parfümierten Damenhand gesteckt!“
„Allerdings,“ nickte der kleine Brex. „Sogar vor ganz kurzer Zeit, sonst hätte der Duft sich bereits wieder verflüchtigt. Ein Ring, der so stark nach Parfüm riecht, muß noch vor zwölf Stunden, schätze ich, am Finger einer –“ – er machte eine kleine Pause – „einer Dame mit fast schwarzem, seidigem Haar geblitzt haben. Ich fand nämlich in dem Kranz von Smaragden, der den Brillant umgibt, zwei kurze Enden Frauenhaar festgeklemmt, habe diese dann untersucht und hier in dieses Tütchen gelegt.“
„Bravo, Brex!“ lobte Fink. „Mit Ihnen zusammenzuarbeiten macht Vergnügen!“
„Bekanntlich soll man das Eisen schmieden, so lange es heiß ist,“ erklärte der ulkige dürre Philipp nun bedächtig. „Der Mann mit dem Geigenkasten kam aus Nummer 20, aus dem Hause der Geheimnisse. Vielleicht, Herr Kommissar, hat er den Ring dort gestohlen. Und vielleicht entdecke ich noch heute vormittag, wem der Ring gestohlen wurde, eben der Dame, die dieses eigenartige Parfüm benutzt. Und diese Dame wird mir dann sagen müssen, wie sie zu dem Ringe gekommen ist. Jedenfalls, es besteht jetzt für mich eine geringe Hoffnung, den Anfang einer Spur zu finden, die vielleicht endlich zu der Verbrecherbande führt. Darf ich also ganz selbständig vorgehen, Herr Kommissar?“
„Das dürfen Sie, lieber Brex. – Hm, mir fällt da soeben etwas ein. Ob der Ring etwa der verhafteten Filmdiva Erna Maletta gehört haben mag? Sie wohnt doch in demselben Hause im vierten Stock links.“
„Daran habe ich auch schon gedacht. Ich war auch bereits bei der Maletta in der Zelle. Doch sie erklärte, den Ring nicht zu kennen. Und sie log nicht. Wenn jemand lügt, merke ich es. Mich macht man mich so leicht dumm. Übrigens hat die Maletta sich jetzt vollständig beruhigt und ist sehr gefaßt. Sie ist ja auch niemals die Mörderin des Barons Hektor von Rabinski. Dabei bleibe ich. Gerade weil ich den Drohbrief in der Vase in ihrem Salon fand, der sie so sehr belastet, kann sie die Mörderin nicht sein. Den Brief hat jemand in die Vase hineingetan, um die Maletta zu verdächtigen.“
„Aber wer – wer, lieber Brex?“
„Da kommt nur einer der beiden Herren in Frage, die zuerst der Maletta beisprangen, als sie im Flur ohnmächtig geworden war: der Sanitätsrat Doktor Brunn oder der Graf Udo von Brucksal!“
Fink lachte. „Brexchen, Ihre Phantasie arbeitet zu lebhaft! Doktor Brunn scheidet hier wohl total aus. Und Graf Udo von Brucksal –“.
„ – kann ein abgewiesener Verehrer der Maletta sein und sich haben rächen wollen,“ ergänzte Brex eifrig den Satz.
„Wie kam er dann aber in den Besitz des Briefes, der an den Baron gerichtet war?“
„Alles das sollten wir aufklären, Herr Kommissar. Jetzt werde ich hier sofort etwas Toilette machen, und dann wird jemand, der dem kleinen Brex auch nicht im geringsten ähnlich sieht, das Haus der Geheimnisse Etage für Etage abklappern.“
„Aber – Sie haben doch keine Sekunde in dieser Nacht geschlafen, Brex! Muten Sie sich nicht zuviel zu!“
„Keine Sorge! Ich bin zäh wie Bullenleder, Herr Kommissar. Ich bin aus Neigung zur Kriminalpolizei gedangen. Und – ich will beweisen, daß Philipp Brex mehr kann als nur harmlose Taschendiebe und Bahnhofsgauner abfassen.“
Fink blickte den Kleinen freundlich an. „Sie werden Karriere machen, Brex. Sie haben das Zeug dazu,“ meinte er.
Horst Olden sah, wie Lori Battner bei seinem Anblick bewußtlos auf den Diwan sank. Er machte sich schwere Vorwürfe, daß der ihr nicht auch seinen Namen durch die Falltür nach unten zugerufen hatte. Wie sollte sie ihn wohl in dieser Maske eines älteren bärtigen Briefträgers erkennen?! Daran hätte er denken müssen. Kein Wunder, daß das arme, liebe Geschöpf beim Anblick des fremden Gesichts von furchtbarem Schreck gepackt ohnmächtig geworden war. Ihre Nerven mußten ja nach all den aufregenden Erlebnissen der verflossenen Nacht endlich vollkommen versagt haben.
Er beeilte sich jetzt, zu ihr in den dunklen, schmalen Raum hinabzusteigen, wo außer dem Diwan nur noch gerade der Sarg, der auf zwei Böcken stand, Platz hatte.
Daß dieser Sarg Horst Oldens Phantasie jetzt schon aufs lebhafteste beschäftigte, lag nur zu nahe. Aber er drängte die Gedanken an dieses neue Rätsel zurück. Zunächst galt es, Lori wieder ins Bewußtsein zurückzurufen und mit ihr aus der Queißnerschen Wohnung unbemerkt zu entschlüpfen.
Rasch holte er von dem Ständer neben dem Waschtisch des toten Grafen, der nun bereits zur Leichenhalle unterwegs war, zwei Handtücher, knotete sie zusammen und befestigte das eine Ende an einem der Eisenhebel des Mechanismus der Falltür.
Dann ließ er sich an den Tüchern hinab, die er sofort wieder entfernte, indem er auf den Sarg stieg. Vorläufig warf er sie beiseite. Die Falltür hatte sich von selbst wieder geschlossen.
Er setzte sich neben Lori auf den Diwan, richtete ihren Oberkörper auf und bettete ihren Kopf an seine Brust.
Wie reizend sie auch in dieser Verkleidung als Mann ausschaute! Wie süß ihre Lippen ihn lockten!
Horst Olden drückte sie noch fester an sich. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er küßte sie – küßte sie zart und innig und doch voll verhaltener Glut.
Da – sie schlug die Augen auf.
Olden hatte seine Taschenlampe eingeschaltet auf den Sargdeckel gelegt, so daß der Lichtkegel die Finsternis dieses Raumes, der weder eine Tür noch eine Lichtöffnung hatte, in eine milde Dämmerung verwandelte, die gerade den Diwan einhüllte.
„Ich bin’s, Lori,“ flüsterte er schnell. „Ich, Horst Olden! Lori, fürchten Sie nichts! Bei der Liebe zu meinen längst dahingegangenen Eltern schwöre ich Ihnen, daß ich es ehrlich und gut mit Ihnen meine. Ich weiß, Sie sind vor mir durch das Fenster geflüchtet, weil Sie sich vor meinen Fragen der Diamanten wegen ängstigten. Lori, ich schwöre Ihnen, ich werde Sie nicht mehr ausfragen! Wenn Sie mir freiwillig später einiges über die Vergangenheit Ihres Vaters berichten wollen, – gut, dann werde ich Ihnen dankbar sein. Zwingen werde ich Sie zu nichts!“
Lori suchte sich aus seinen Armen frei zu machen, obwohl sie sich an seiner Brust so geborgen, so unendlich sicher und glücklich fühlte. Aber die mädchenhafte Scham ihrer reinen Seele zwang sie andererseits, diese Vertraulichkeit seiner Umschlingung nicht zu dulden.
Doch Horst Olden hielt sie fest.
„Lori,“ flüsterte er, „meine liebe, süße Lori, willst du mir nicht erlauben, für immer für dich sorgen zu dürfen, willst du mein Weib werden?“
Sie schloß die Augen.
Seine Worte waren wie himmlische Musik an ihr Ohr gedrungen, waren ja die Erfüllung ihres keuschen Sehnens.
Ein Schauer unermeßlicher Seligkeit rann ihr über den Leib.
„Ja – ich will! Ich liebe dich!“ hauchte sie.
Da riß er sie an sich, küßte sie, küßte sie immer wieder, stammelte Worte einer tiefen, ehrlichen Leidenschaft.
Sie vergaßen alles um sich her.
Sie vergaßen, daß da dicht vor ihnen ein Sarg stand, ein großer dunkler Eichensarg, und daß sie sich in einem Raume der Wohnung des Rentiers Queißner befanden, der an den Fürsten Ulminski fünf Zimmer möbliert vermietet hatte und verreist sein sollte.
Sie dachte nur an die Seligkeit des ersten Sichfindens, dachte nur an ihre herrliche, reine Liebe.
Bis – die beiden dann plötzlich auseinanderfuhren.
Die Töne eines Klaviers waren so deutlich an ihr Ohr gedrungen, daß das Instrument dicht an der gegenüberliegenden Wand stehen mußte, die nur sehr dünn sein konnte.
Dort spielte jemand den Hochzeitsmarsch aus Lohengrin.
Den Hochzeitsmarsch!
Hand in Hand, eng aneinander geschmiegt, lauschten sie.
Daß Spiel verstummte. Sie hörten eine helle Mädchenstimme rufen: „Gehst du schon wieder aus, Papascha?“ –
„Es ist die Prinzessin Nadja Ulminski,“ flüsterte Lori.
Drüben jenseits der dünnen Wand blieb jetzt alles still.
Horst Olden küßte Lori nochmals, sagte dann leise: „Mein einziger Liebling, jetzt müssen wir aber endlich daran denken, uns von hier wieder zu entfernen. Vorher will ich aber nachsehen, was dieser Sarg enthält.“
Lori umklammerte seinen Arm.
„Willst du ihn öffnen, Horst?“ fragte sie ängstlich.
„Ich muß, Lori!“
Er stand auf, trat an den Sarg heran und begann die bronzenen Flügelschrauben des Deckels herauszudrehen, was so leicht ging, daß Olden sich sofort sagte, der Sarg müsse schon sehr oft geöffnet worden sein.
Dann schob er den schweren Deckel etwas zur Seite, ließ sich von Lori die Taschenlampe reichen und hielt sie nun so, daß der Lichtkegel das Kopfende des Sarges traf, dem ein betäubender Kampfergeruch entquoll.
Lori hatte sich scheu ganz eng an Olden gedrückt und schaute nun zagend dorthin, wo in Seide und Spitzen gebettet eine Leiche ruhte.
Über Loris Lippen kam ein schwacher Ausruf höchsten Staunens. Wie gebannt starrte sie geradeaus.
Auch Horst Olden war so überrascht, daß er minutenlang kein Glied rührte.
Er hatte geglaubt, hier vielleicht die Leiche des Rentiers Queißner vorzufinden.
Und – was sah er statt dessen –?!
*
Die Prinzessin Nadja war, nachdem ihr heiß geliebter Papascha das Klavierspiel durch seinen Eintritt in den Salon unterbrochen hatte, mit dem Fürsten Arm in Arm bis zur Flurtür gegangen, hatte ihm hier noch einen zärtlichen Kuß gegeben und eilte nun in die Küche, um zu sehen, ob denn von den Dienstboten niemand zu Hause sei. Vorhin hatte sie schon zweimal umsonst nach dem Frühstück geläutet.
Die Küche war leer. Nadja trällerte ein Lied und wollte wieder in den Salon zurückkehren. Heute konnte nichts – nichts ihre glückselige Stimmung trüben. Wenn sie an die verflossene Nacht zurückdachte, wenn sie an Heinz Römers stürmische Zärtlichkeiten sich erinnerte, jagte ihr das Blut wie in wonnigem Rausch schneller durch die Adern.
Da – schon hatte sie die Küchentür geöffnet, als die Druckklingel des anderen Eingangs, die auf die Hintertreppe führte, anschlug.
Nadja schaute durch das Guckloch. Sie sah draußen ein altes, grauhaariges Weiblein stehen, die eine blaue Brille vor den entzündeten Augen trug. Die Alte war sauber, wenn auch ärmlich gekleidet und hatte vor dem Leibe an einem um die Schulter laufenden Riemen einen kleinen Hausiererkasten hängen.
Nadja hatte ein weiches Herz. Sie wollte der Hausiererin irgend etwas abkaufen. Gerade heute, wo sie selbst so namenlos glücklich war, wollte sie auch andere beglücken.
Sie öffnete die Tür, ließ die alte Frau ein und sagte: „Warten Sie, ich hole nur mein Geldtäschchen!“
„Ach, Fräuleinchen, nicht so eilig,“ flüsterte die Hausiererin rasch. „So ein junges hübsches Fräulein will sich vielleicht auch die Zukunft voraussagen lassen. Fräuleinchen, Gott hat mir die seltene Gabe verliehen, daß ich aus den Linien der Hand alles Kommende herauslesen kann – alles!“
Nadja, wie alle Russinen etwas abergläubisch, dachte sofort an Heinz Römer. Oh – sie mußte doch hören, was die alte Frau ihr prophezeien würde, sie mußte doch erfahren, ob Heinz sie auch ebenso namenlos liebte, wie sie ihn.
„Folgen Sie mir,“ sagte sie daher rasch entschlossen. „Kommen Sie mit in meinen Salon. Dort sind wir ganz ungestört.“
Nun saß sie dem Weiblein im Salon ganz dicht gegenüber; nun nahm diese ihre linke Hand und murmelte:
„Die Linke muß es sein. Links schlägt das Herz in der Menschenbrust. Die Linke ist besser als die Rechte. – Wie schön es hier riecht – wie schön! Und welch herrliche Ringe Sie haben, Fräuleinchen. Oh – auch Ihr Händchen duftet so köstlich. Es ist ein seltener Wohlgeruch –“.
Wenn Nadja geahnt hätte, wem sie hier gegenübersaß! Wenn sie gewußt hätte, wie der Herzschlag der Wahrsagerin sich jetzt in hellem Triumph immer mehr beschleunigte. –
Die Alte murmelte weiter, aber ihre Worte wurden immer deutlicher, lauter und bestimmter.
„Da – in den Linien der Hand lese ich, daß Sie noch vor kurzem ein Ringlein besaßen, ein kostbares Ringlein!“
Nadja zuckte zusammen. – Wirklich – diese Wahrsagerin verstand ihre Kunst! Nur eine höhere Macht konnte ihr die Kenntnis dieser Hingabe des Ringes an Heinz, den Geliebten, vermittelt haben.
Die alte Frau hatte dieses Zusammenzucken richtig gedeutet.
„Es ist doch so? Sie besaßen noch vor kurzem ein Ringlein?“ fragte sie nun.
„Ja – ja!“ hauchte Nadja mit strahlenden Augen.
Und die Alte überlegte: „Wer so glücklich dreinschaut wie Sie, kann den Ring nur jemandem geschenkt haben, der ihrem Herzen nahesteht!“
„Ich lese weiter,“ fuhr das Weiblein fort, „daß Sie den Ring verschenkten –“.
Nadja nickte eifrig. – Oh – diese Frau war keine Schwindlerin! Die konnte wirklich Vergangenes richtig erraten.
„Und Sie schenkten den Ring einem Manne, einem Künstler. In den Linien der Hand ist angedeutet, daß er Geige spielt,“ sagte die Alte nun.
Nadja wurde es jetzt fast unheimlich zu Mute.
„Oh – wie – wie klug Sie sind!“ stammelte sie verwirrt.
„Er liebt Sie,“ sprach die Frau weiter. „Er liebt Sie über alles. Aber dieser Liebe droht eine schwere Gefahr –“.
„Mein Gott!“ rief Nadja entsetzt.
„Keine Sorge, Fräuleinchen,“ tröstete die Alte mitleidigen Tones. „Die Handlinien sagen mir, daß dieses Unheil abgewendet werden kann, wenn Sie vollends Vertrauen zu mir haben –“.
„Ja – ja, das habe ich!“ stieß Nadja hervor.
„So hören Sie denn genau hin. Ihr Geliebter wird einige Zeit unsichtbar bleiben. Er hat Feinde. Aber ich werde ihm einen Brief von Ihnen überbringen. Schreiben Sie ihm, von wem Sie den Ring einst erhielten und daß der Ring ein Talisman sei, den er stets an einer Schnur auf dem Herzen tragen müsse. Dann werden die Feinde keine Macht über ihn gewinnen. Schreiben Sie den Brief sofort, kleben Sie den Umschlag zu und adressieren Sie ihn. Ich werde warten.“
Nadja sprang sofort auf und lief zu dem zierlichen Damenschreibtisch, setzte sich und ließ die Feder über das Papier gleiten.
Die Hausiererin schnitt hinter ihrem Rücken eine merkwürdige Grimasse.
Dann wurde ihre Aufmerksamkeit jedoch durch ein Geräusch an der rechten Zimmerwand abgelenkt.
Sie schob die Brille hoch. Und unter der Brille kamen nun Philipp Brex’ schlaue kleine Äuglein zum Vorschein.
Diese Augen flogen über die Wand hin.
Nein – da gab es nichts Auffälliges. Da stand ein Klavier, da hingen Bilder darüber, da standen Ziertischchen und ein Notenständer.
Brex ließ die Brille wieder über die Augen gleiten.
Wenn er eine Sekunde früher nach der Wand hin auf die richtige Stelle geblickt hätte, würde er die lange Klinge eines Taschenmessers bemerkt haben, die die Tapete ein Stückchen aufschnitt. –
Nadja war mit dem Briefe fertig.
„Hier, liebe Frau!“ sie gab ihn der Alten.
Brex jubelte innerlich. Nun hatte er den Namen und die Wohnung des Mannes mit dem Geigenkasten ermittelt! –
„Fräuleinchen,“ sagte die Hausiererin, „ich werde morgen um dieselbe Zeit wiederkommen. Sehen Sie zu, daß Sie mich heimlich einlassen können.“
„Ja – ja! Und hier haben Sie tausend Mark, liebe Frau!“
Die Alte schüttelte den Kopf. „Schenken Sie mir später etwas, wenn ich das Ungemach glücklich abgewendet haben werde. Auf Wiedersehen, Fräuleinchen! Und zu keinem Menschen ein Wort über meinen Besuch – zu keinem!“
Nadja versprach alles, was die Alte wollte.
Gleich darauf war sie wieder allein. Ach – ihre glückselige Stimmung war jetzt völlig dahin. Angst und Sorge um ihre Liebe zerfraßen ihre junge Seele. Ihr einziger Trost war, daß die Hausiererin Heinz schützen wollte. Sie vertraute ihr vollkommen. Anderseits empfand sie aber auch eine gewisse Scheu vor dieser Alten und deren rätselhaften Fähigkeiten.
Wie sie so jetzt in ihrem Salon hastig auf und ab schritt, die dunkel umschatteten, heute etwas matten Augen zu Boden gerichtet, bot sie ein Bild verkörperter Seelenangst dar.
Wenn Philipp Brex sie in diesem Zustande gesehen hätte, dann würde sich in seinem durchaus nicht gefühllosen Herzen die leise Verachtung gegen sich selbst noch verstärkt haben. Heute zum ersten Male hatte ihm der Beruf des Kriminalbeamten gegenüber dieser zarten Mädchenblüte, die er mit raffinierter List umgarnt hatte, keine rechte Freude gemacht; heut zum ersten Mal erkannte er, daß dieser Beruf einen feinfühligen Menschen in harten Zwist mit sich selbst bringen konnte. Daß er ihre harmlose Vertrauensseligkeit und ihre Angst um den Geliebten mit so gutem Erfolge ausgenutzt hatte, konnte das Gefühl des Widerwillens gegen das, was er getan, nicht verscheuchen.
Ja. – Erfolge hatte er erzielt, für den Anfang sogar glänzende Erfolge! Als er nun die Hintertreppe weiter emporstieg, um auch bei der Frau Rechnungsrat Prutz sein Glück zu versuchen, warf er nochmals einen Blick auf die Anschrift des Briefes. Da stand in Nadjas etwas kindlicher Schrift:
Herrn Heinz Römer,
Berlin W
Augsburgerstraße 111
Gartenhaus rechts 2 Tr. bei Mahlke
Er steckte den Brief in den Hausiererkasten. – Also Römer hieß der Flüchtling – Heinz Römer!
„Weshalb mag dieser Römer nun wohl den Ring weggeworfen haben?“ überlegte der kleine Brex sich weiter. „Er hat ihn von Nadja, das steht ja fest, erst kürzlich geschenkt erhalten, wahrscheinlich sogar erst in der verflossenen Nacht, die er ja offenbar heimlich bei der Geliebten zugebracht hat, denn ich sah ja, wie er morgens aus dem Hause davonschlich. Mithin wird er nur haben verhindern wollen, daß ich etwa durch den kostbaren Ring die Prinzessin Nadja als die Spenderin des Schmuckstücks entdeckte. Ja – so muß es sein! Er wollte die Geliebte schonen! Er ist kein Dieb. Nein, der Ring ist sein rechtmäßiges Eigentum. Aber – wie gelangte die Prinzessin in den Besitz des Ringes? – Nun, darüber wird mir ja der Inhalt ihres Briefes Aufschluß geben.“
Er hatte inzwischen den Hintereingang der Prutzschen Wohnung im vierten Stock erreicht. Er wollte hier ermitteln, wer der Herr gewesen, der die Tücher emporgezogen und das eine Fenster geschlossen hatte. Er wußte, daß ein Kaufmann Stuart Jameson bei der Rechnungsrätin wohnte. Vielleicht war es dieser Jameson, den er morgens beobachtet hatte. Und vielleicht war der Engländer ein verkappter Verbrecher, vielleicht gar ein Mitglied jener Bande, von deren Existenz Philipp Brex so fest überzeugt war.
Er läutete jetzt an der Küchentür der Rechnungsrätin.
Kehren wir nochmals in das fenster- und türlose Gemach der zweiten Etage zurück, wo wir vorhin Lori und Horst Olden in demselben Augenblick verließen, als sie staunend vor dem offenen Sarge standen.
In diesem Sarge lag die Leiche einer Frau, eines Weibes, das im Leben von berückender Schönheit gewesen sein mußte.
Selbst die grausame Hand des Todes hatte aus diesem Antlitz die Spuren der sinnverwirrenden Reize nicht wegwischen können.
Offenbar war die Gesichtshaut leicht geschminkt und gepudert. Diese Frau sah aus, als ob sie nur schliefen. Aber über das wunderbar schöne Antlitz war doch die eigentümlich düster erhabene Majestät des Todes ausgebreitet.
„Eine einbalsamierte Leiche,“ flüsterte Horst Olden jetzt, indem er die leicht zitternde Lori fester an sich drückte. „Die Kunst des Einbalsamierens war besonders hoch im alten Ägypten entwickelt. – Ich halte diese Tote für eine Russin.“
Da – wieder klangen durch die dünne Wand allerlei Geräusche hindurch. Jetzt auch Stimmen.
Olden schlich bis an die Wand und legte das Ohr an die dunkle Tapete. Bald konnte er jedes Wort verstehen. So wurde er Zeuge der Unterredung zwischen Nadja Ulminski und dem als Hausiererin verkleideten Philipp Brex.
Doch Horst Olden genügte das Horchen bald nicht mehr. Er zog sein Taschenmesser, denn er hatte schon vorher festgestellt, daß es sich hier nur um eine einfache Bretterwand handelte. Nun suchte er eine Stelle, wo zwei Bretter sich so weit verzogen hatten, daß eine Ritze entstanden war, über der auch die Tapete sich gedehnt hatte und kleine Risse zu bemerken waren.
Vorsichtig schob er die Messerklinge hindurch – so weit, daß sie auch die Tapete auf der anderen Seite durchbohrte und das Loch immer mehr vergrößerte, bis er hindurchblicken konnte.
Gerade im Sehfelde des kleinen Loches saß die Hausiererin. Als diese jetzt die blaue Brille hochschob, murmelte Olden mit flüchtigem Lächeln: „Ah – der eifrige Brex! Schau an, die Maske ist tadellos!“
Alles beobachtete Olden jetzt, – wie Nadja Brex den Brief reichte und wie der Kriminalbeamte sich verabschiedete.
Horst Olden sah sich einem neuen Rätsel gegenüber. Was nur hatte es zu bedeuten, daß Brex die Prinzessin Nadja Ulminski durch diese Wahrsagekomödie zu seinem willfährigen Werkzeug gemacht hatte?!
Olden wußte ja nichts von den Beziehungen Nadjas zu Heinz Römer, nichts von Romeo und Julia, deren erste verschwiegene Liebesnacht für den jungen Künstler mit einer abenteuerlichen Flucht vor Brex und der Gewährung eines Unterschlupfs durch die Baronin Xenia Rabinski geendet hatte. Nein, der findige Privatdetektiv, der hier als Stuart Jameson aufgetreten war, hatte bisher von den vielfachen Geheimnissen des Hauses Gudrunstraße Nummer 20 bei seiner Suche nach den fünfzig verschwundenen Juwelen des Fürsten Alexei Jussugoff nur nebenbei und mehr durch einen Zufall Verdacht gegen die Bewohner der dritten Etage, insbesondere gegen den Grafen Udo und den Diener Friedrich Blunk geschöpft. Hatte diesen Verdacht jetzt abermals durch die Falltür bestätigt gefunden, die aus dem Schlafzimmer des alten Grafen hinab in die Queißnersche Wohnung führte, und dadurch erst auch gegen die Insassen des zweiten Stockwerks einen bisher noch ganz unbestimmten Argwohn gefaßt. –
Olden richtete sich aus seiner gebückten Stellung vor dem kleinen Guckloch wieder auf und flüsterte Lori zu:
„Mein süßer Liebling, ich habe hier soeben vieles gesehen und gehört, was mich zu schnellem Handeln zwingt. Die Prinzessin Nadja hat den Salon jetzt verlassen. Wir müssen den Sargdeckel rasch wieder aufschrauben und dann nach einem bequemen Ausgang aus diesem durch eine Bretterwand vom Salon abgeteilten Raume suchen. Hilf mir, Lori, den Sarg wieder zu verschließen.“
Lori bezwang ihre Scheu und griff wacker mit zu. Die Nähe des Geliebten gab ihr Mut und Tatkraft. An seiner Seite, erkannte sie jetzt, würde sie selbst das Schwerste, das scheinbar Unmögliche vollbringen können.
Dann begann Olden nach dem zweiten Ausgang aus diesem seltsamen Gemach zu suchen. Er war überzeugt, daß es außer der Falltür noch einen solchen geben müsse. Die Falltür zum Verlassen dieses Raumes zu benutzen wagte er nicht. Vielleicht waren Graf Udo, der Diener Blunk und die beiden weiblichen Dienstboten bereits von der Überführung des Toten nach der Leichenhalle zurückgekehrt. Nein – in die Brucksalsche Wohnung durfte er sich mit Lori nicht wieder zurückbegeben, wenn er nicht gerade alles, was er soeben entdeckt, aufs Spiel setzen wollte.
Er suchte jetzt mit jener durch Erfahrung und Übung gestützten Sorgfalt, die nur ein Detektiv von Beruf sich mit der Zeit aneignet. Sehr bald hatte er denn auch neben dem Fußende des Diwans in dem Streifenmuster der Tapete ein paar feine Schnitte, die Umrisse einer ganz schmalen, niedrigen Tür gefunden, gleich darauf auch einen winzigen schwarzen Knopf, den man nur tiefer in die Wand hineinzudrücken brauchte, um diese Tür nach außen aufschlagen zu lassen. Hinter dieser Tür, die er nun mit seiner Taschenlampe beleuchtete, lag, durch die Dicke der Mauer getrennt, eine zweite. Auch diese konnte er ohne Mühe aufziehen.
Mattes Dämmerlicht schimmerte dahinter. Olden trat weiter vor und schob den Kopf über den Rand der Außentür hinaus, sah nun, daß er etwa in halber Höhe des Fahrstuhlschachtes stand.
Über ihm hing im vierten Stock der Fahrstuhlkasten. Rechts von ihm lag die Gittertür für die Bewohner des zweiten Stocks, die den Lift benutzen wollten. Für einen einigermaßen gewandten Menschen war es ein leichtes, von der Geheimtür aus diese Gittertür zu erreichen und so auf den Treppenabsatz der zweiten Etage zu gelangen.
Er bog nun den Kopf zurück und flüsterte Lori zu: „Ich werde die Gittertür aufschließen, mein Liebling. Wir befinden uns hier dicht am Fahrstuhlschacht. Wenn ich sie geöffnet habe, helfe ich dir, den Treppenabsatz zu gewinnen. Dann sind wir frei.“
Lori klammerte sich in jäh aufsteigender Angst an seinen Arm.
„Horst – Horst, wenn du abstürzt!“ hauchte sie!
Er machte sich sanft los. „Ich habe schon anderes gewagt, Lori. Dies hier ist nicht im geringsten gefährlich.“
Er packte dann eine der Laufschienen des Fahrstuhlkastens, schwang sich nach der Seite, erreichte mit dem linken Fuß glücklich die schmale Leiste am Unterrand der Gittertür, ließ die Laufschiene mit einer Hand los und griff mit der anderen nach einem der Gitterteile, zog den rechten Fuß nach und suchte nur mit der einen Hand sich haltend, nach dem Schlüsselbund. Einen Fahrstuhlschlüssel besaß er als Bewohner des Hauses ja.
Aber obwohl er bereits das Schlüsselbund gefaßt hatte, verharrte er jetzt in einem ihm sonst ungewohnten heftigen Schreck völlig regungslos.
Er hatte hinter sich einen schwachen Schrei gehört. Er sagte sich sofort, daß nur Lori ihn ausgestoßen haben könne.
Was – was nur konnte dort in dem geheimen Gemach geschehen sein? War etwa Graf Udo durch die Falltür hinabgestiegen?
Horst Oldens eiserne Nerven versagten jetzt zum ersten Mal in seinem Leben. Das machte die Angst um die Sicherheit der Geliebten. An sich selbst dachte er nicht. Nur Loris Ergehen war der Gegenstand seiner lähmenden Furcht.
Er lauschte. Nichts mehr war zu hören.
Dann überwand er diesen Zustand der Unfähigkeit, seinem Körper zu gebieten, dann bog er sich zurück, griff wieder nach der Laufschiene, wollte sich in die Geheimtür hineinschwingen.
Da – ein Blick zeigte ihm, daß sie jetzt geschlossen.
Und im selben Moment, wo er, nur mit einer Hand an die Laufschiene angeklammert, über der Tiefe des Schachtes hing, vernahm er über sich ein Surren und Rasseln.
Der Fahrstuhlkasten senkte sich. Jemand ließ den Fahrstuhl abwärts gleiten.
Horst Olden starrte empor. Ja – es war Tatsache! Der Fahrstuhl kam herab!
Was tun – was tun?! Die Gittertür zu öffnen, blieb ihm keine Zeit mehr.
Und – hinabspringen in den Schach, um sich nicht zermalmen zu lassen?!
Würde er denn bei dieser Tiefe unten mit gesunden Gliedern landen? Würde er nicht vielleicht mit zerschmettertem Kopf oder gebrochenen Beine, ohnmächtig durch den Sturz, eine leichte Beute derer werden, die ihn hier zu vernichten, zu töten trachteten?!
Oldens Gedanken arbeiteten mit rasender Schnelle. Hier entschieden ja Sekunden über Sein oder Nichtsein, über Leben und Tod!
Sollte er um Hilfe rufen? – Hätte das einen Zweck gehabt?! Nein – niemals!
Tiefer und tiefer senkte sich der Fahrstuhl mit Surren und metallischem Quietschen.
Olden schien verloren. Sein letzter Gedanke galt Lori. Was – was mochte man ihr angetan haben?! Wer konnte es gewesen sein, der ihr den leisen Angstschrei entlockt hatte? –
Lori Battner war in furchtbarer Spannung in dem geheimen Gemach dicht an der Innentür stehen geblieben. Eine dumpfe Ahnung sagte ihr, daß jetzt irgend etwas geschehen würde, daß sie wieder von Horst Olden trennen mußte.
Umsonst hielt sie sich vor, daß für einen Mann wie ihn das Öffnen der Gittertür nicht viel Schwierigkeiten bieten könne. Sie hörte ihr Herz immer schneller jagen. Sie hatte das Gefühl, daß jeden Augenblick eine Katastrophe irgendwelcher Art eintreten müsse.
Dann – wirklich – von der Falltür her ein Geräusch. Lori stand im Dunkeln. Ihr Kopf schnellte nach hinten, ihre Blicke bohrten sich in die Finsternis dort oben ein, wo die Falltür sich befand.
Jetzt dort über ihr in der Zimmerdecke ein schnell sich verbreitender Lichtschimmer.
Die Falltür hatte sich gesenkt. Lori sah die Umrisse der Gestalt eines Mannes, sah – des Fürsten Ulminskis bartloses Gesicht und die schillernden Gläser seiner Hornbrille.
Loris bebende Hand drückte rasch die beiden Geheimtüren zu. Ihr Schreck beim Anblick des Fürsten war aber doch so groß gewesen, daß sich ein leiser Aufschrei über ihre je erblaßten Lippen drängte.
Sie handelte halb unbewußt, als sie die Türen schloß. Sie folgte dabei einer blitzartigen Eingebung. Der Fürst sollte nicht merken, daß auch Horst Olden hier gewesen! Besser, daß Ulminski sie allein antraf, als daß ein Bewohner dieses unseligen Hauses erfuhr, daß der angebliche englische Kaufmann Stuart Jameson in Wahrheit der Detektiv Horst Olden war.
Der Fürst, der nach dem Abschied von seinem Kinde nur zum Schein die Treppen ein Stück hinabgestiegen war, dann aber wieder kehrt gemacht und die Brucksalsche Wohnung betreten hatte, war bei dem schwachen Schrei, der plötzlich von unten an sein Ohr drang, leicht zusammengezuckt.
Nun leuchtete er mit der eingeschalteten Taschenlampe in das Dunkel hinab, erkannte die schmächtige Gestalt eines jungen Mannes mit tief ins Genick herabgezogener Sportmütze und war im Nu an einem dünnen, mit einem eisernen Haken versehenen Strick nach unten geklettert, stand jetzt dicht vor Lori, die mit zitternden Gliedern an der Wand lehnte.
Der Lichtkegel der kleinen Lampe traf Loris blasses Gesicht.
„Sie – Sie – Fräulein Battner?“ stieß der Fürst in grenzenlosem Staunen hervor. „Wie – wie sind Sie hierher gelangt?! Was – was wollten Sie hier?!“
Der Ton seiner gedämpften Stimme war keineswegs hart oder feindselig. Nein, etwas wie heimliche Freude und Genugtuung klangen in diesen Worten mit. Seine Augen ruhten jetzt auch mit einem ganz besonderen Ausdruck auf dem holden Antlitz des verängstigten jungen Mädchens. In diesen Augen lag es wie versteckte Zärtlichkeit.
Lori gewann ihre Fassung zurück. Sie fühlte, daß der Fürst ihr nicht als Feind gegenüberstand. Von Sekunde zu Sekunde ward sie immer mehr jenes energische, durch Leid und Sorgen früh gereifte junge Weib, das durch seiner Hände Arbeit den siechen Vater monatelang allein ernährt hatte.
Jetzt kam noch bei ihr das Bestreben hinzu, Horst Olden vor Entdeckung zu schützen. Der Fürst sollte um keinen Preis erfahren, daß der Geliebte gleichfalls hier geweilt hatte.
Und weiter schoß ihr jetzt durch den Sinn, daß der Fürst sie stets, wenn er ihr im Hause oder auf der Straße begegnet war, so eigentümlich angeschaut hatte – ganz so, als ob sie ihn als Weib interessierte, als ob ihre Schönheit auch auf ihn gewirkt hätte.
Der Ton seiner Worte schien dies zu bestätigen. Nein – sie brauchte ihn nicht zu fürchten! Wenn sie sich klug benahm, würde sie ihn vielleicht täuschen und alles das verheimlichen können, was sie verschweigen zu müssen glaubte.
„Durchlaucht,“ flüsterte sie daher rasch, „ein Zufall hat mich hierher geführt. Ich bin soeben erst aus tiefer Ohnmacht erwacht. In der Nacht schlich ich mich in die Wohnung der Rechnungsrätin Prutz ein, deren Flurtür gerade offen stand. Ich mochte nicht in die leere Mansardenstube zurückkehren. Ich wollte bei Frau Prutz um ein Unterkommen bitten. Aber nachher, als ich auf gut Glück in einem dunklen Zimmer eingetreten war, stiegen mir doch Bedenken auf, ob Frau Prutz mich bei sich behalten würde. So verbarg ich mich denn in jenem Zimmer und kletterte morgens an ein paar zusammengeknoteten Tüchern in das Sterbezimmer des Grafen Brucksal hinab. Hier sah ich den Toten im Bett liegen. Angst und Grauen raubten mir jede klare Überlegung. Da ich Schritte hörte, die sich der Tür näherten, kroch ich hinter das Ecksofa. Plötzlich gab der Boden nach, und ich stürzte in die Tiefe – hier auf diesen Diwan, verlor das Bewußtsein und bin erst vor wenigen Sekunden wieder zu mir gekommen.“
Diese Schilderung ihrer angeblichen Erlebnisse war so fein aus Wahrheit und Erfindung zusammengemischt, daß es Lori durchaus gelang, all dies im Tone harmloser Aufrichtigkeit vorzutragen. Hätte sie alles ersinnen müssen, was sie hier sprach, dann würde sie wohl häufiger gestockt haben. So aber machten diese Angaben auch auf Ulminski den Eindruck lückenloser Tatsachen.
Er griff nach Loris Hand, drückte sie zart.
„Armes Kind,“ meinte er weich. „Wie müssen Sie sich hier in der Finsternis gefürchtet haben! – Nur eins erklären Sie mir noch. Weshalb tragen Sie diesen Männeranzug?“
„Oh – ich fand ihn in dem Schrank jenes Zimmer bei der Rechnungsrätin,“ erwiderte Lori ohne Zögern. „Ich wollte ja fliehen – weit weg – irgendwohin! Die Leiche meines Vaters ist verschwunden, und ich ahnte, daß mir in diesem Hause noch mehr Herzeleid bevorstünde. Man sollte mich in dieser Verkleidung nicht erkennen –“.
Der Fürst hielt noch immer Loris Hand.
„Lori, Lori,“ flüsterte er jetzt, „es ist ein seltsamer Zufall, der uns beide gerade hier vereint hat – gerade hier!“
Er wandte sich langsam um und ließ den Lichtkegel der Lampe auf den Sarg fallen.
„Erschrecken Sie nicht, Lori,“ flüsterte er weiter. „Dieser Sarg birgt die sterblichen Überreste meiner Gattin, die bei unserer Flucht aus Rußland den Tod fand. Ich habe diese Frau unendlich geliebt. Ich habe sie so geliebt, daß ich mich von ihrer Leiche nicht trennen konnte. Deshalb schuf ich hier dieses geheime Gemach, brachte den Sarg hier unter und habe hier sehr oft in stillem Gedenken an die Zeiten eines süßen Liebesglücks geweilt. Und doch, so sehr ich meine Gattin angebetet habe – es gibt jetzt ein anderes Weib, nach dessen Besitz mich die Sehnsucht verzehrt! Lori, ahnen Sie, wer dieses Weib ist?“
Er hatte plötzlich den Arm um ihre Schultern gelegt. Er zitterte vor leidenschaftlicher Erregung, dieser starke, entschlossene Mann, der jetzt der Anführer einer Verbrechergeheimgesellschaft geworden.
Lori war wie betäubt. Sie rührte sich nicht, sie wehrte sich nicht.
Sergius Ulminski zog sie halb an seine Brust, stammelte in heißem Werben: „Lori, Sie sind’s, die ich liebe, – Sie! Nur Sie! Ich kann Ihnen ungezählte Millionen zu Füßen legen, ich kann Ihnen jeden Wunsch erfüllen! Lori, werden Sie die Meine, werden Sie mein Weib! Wir werden Europa verlassen, werden irgendwo in der Fremde unter rauschenden Palmen die Gründer und Herrscher eines neuen Staates werden, einer Gemeinschaft von Menschen, die die Welt ausgestoßen hat –“.
Er beugte sich zu ihr herab. Seine Lippen schmachteten nach ihrem frischen Munde.
Da raffte sie sich auf, rief leise: „Durchlaucht, ich flehe Sie an, wenn Sie ein Ehrenmann sind, werden Sie mich schutzloses Mädchen schonen! Alles, was Sie mir soeben sagten, kam mir ja so vollständig überraschend! Gewähren Sie mir die nötige Zeit, mich und meine Gefühle zu prüfen!“
Wie schlau sie auch jetzt ihre Worte wählte, die süße, blonde Lori Battner! Wie so plötzlich jetzt auch bei ihr jenes weibliche Raffinement erwacht war, lediglich geweckt durch den einen Gedanken: ‚Schütze Horst, den Geliebten, vor Entdeckung!‘
Der Fürst trat langsam zurück, gab sie frei, hielt nur noch ihre Hand und flüsterte: „Lori, Lori, so darf ich denn wenigstens hoffen?“
„Oh – was verlangen Sie von mir! Gestern abend ist mein Vater erst gestorben, und jetzt, keine acht Stunden später, soll ich –“. Sie schluchzte auf, schwieg.
Ulminski preßte ihre Hand. „Nicht weinen, Lori! Nein, ich verlange jetzt nichts – nichts! Nur eins müssen Sie mir gestatten, daß ich Sie an einen Ort bringe, wo Sie sich behaglich und zufrieden fühlen können, wo jemand ständig für Sie sorgt und wo Sie sicher sind vor allen Belästigungen durch neugierige Polizeibeamte, die vielleicht manches von Ihnen erfahren möchten. Was Sie nicht sagen wollen, nicht sagen dürfen!“
Lori überlegte blitzschnell. Dann entgegnete sie: „Durchlaucht, ich kann dies von Ihnen kaum annehmen. Wie sollten Sie mich auch unbemerkt aus dem Hause schaffen können?“
„Das lassen Sie meine Sorge sein, Lori,“ erklärte er jetzt in jenem kaftvollen Tone, durch den er alle, die mit ihm zu tun hatten, in seinen Bann zwang. „Bitte, setzen Sie sich hier auf den Diwan und warten Sie etwa zehn Minuten. Ich werde meine Tochter und die Dienstboten aus meiner Wohnung entfernen. Dann findet sich das weitere.“
Er führte ihre Hand an die Lippen. Gleich darauf war Lori allein. Der Fürst hatte sich an dem Strick wieder zur Falltür emporgeschwungen.
Im Tempel der Indra-Loge saßen Jane Wellesley, ihr Bruder John und der Schiffsingenieur Gunnar Börtgen, ebenfalls ein Mitglied der angeblichen Freidenker-Loge, noch immer im Eßzimmer der Wellesleys beieinander, als im Nebenraum das Telephon anschlug.
John sprang auf und eilte an den Apparat.
Fürst Ulminski meldete sich: „Hier der Meister. Ich wünsche Nummer Zehn zu sprechen. Ist Zehn zu Hause?“
„Jawohl. Ich rufe sie –“.
John holte seine Schwester. „Der Meister scheint für dich einen Auftrag zu haben,“ flüsterte er ihr zu und blieb neben Jane am Apparat stehen.
Kaum hatten die Geschwister das Zimmer verlassen, als Gunnar Börtgen sich schnell erhob und durch die andere Tür hinausschlüpfte.
Die beiden Wellesley bewohnten nur die linke Seite des Hauses. Die rechte enthielt die Logenräume.
Börtgen öffnete das komplizierte Patentschloß des Eingangs zu den Logenräumen mit dem dazu gehörigen Schlüssel, sperrte die schwere Eichentür hinter sich wieder ab und eilte in ein kleines Hinterzimmer, wo ein halb in die Wand eingelassener großer Schrank stand. Die Rückwand dieses Schrankes, der nur unten einige Bücher enthielt, war beweglich und bildete den Zugang zu einer in geheime Kellerräume hinabführenden Treppe.
Gleich im ersten Kellergelaß hing hier ein Telephon an der Wand. Börtgen nahm den Hörer ab und konnte nun das Gespräch zwischen dem Meister und Jane Wort für Wort belauschen.
Jane hatte sich gemeldet: „Hier Zehn –“.
„Sie werden sich sofort zu einer Reise nach England bereitmachen,“ kam nach einer Weile die Stimme Ulminskis durch den elektrischen Draht. „Sie reisen mit dem Zuge, der den Potsdamer Bahnhof um 11 Uhr 45 Minuten, also nach anderthalb Stunden verläßt. Alles weitere mündlich. Ich komme sehr bald zu Ihnen.“
Janes leidenschaftliches Gesicht hatte sich verfinstert. Trotzdem erwiderte sie sofort: „Gut, ich werde bereit sein.“
„Ihre Mission in England wird etwa vierzehn Tage in Anspruch nehmen. Richten Sie sich danach.“
„Soll ich nach Liverpool?“ fragte Jane schnell mit einem zornigen Flackern in ihren meist so begehrlichen Augen.
„Das werden Sie von mir selbst hören. Schluß.“ –
Jane wandte sich ihrem Bruder zu. Ihre Lippen zuckten vor Erregung.
„Nach England soll ich – für zwei Wochen!“ stieß sie hervor. „Oh – ich ahne es, er will mich nur von hier entfernen! Er hat mich nie geliebt. Nur ein kurzer Rausch hat ihn in meine Arme getrieben. Jetzt hat er sein Herz an irgend ein anderes Weib verloren. Ich – ich werde nicht fahren! Ich werde nur zum Schein abreisen.“ Sie wurde immer erregter. „Ich will endlich ermitteln, wer dieses Weib ist! Ich will es –! Und Jane Wellesley hat noch immer erreicht, was sie wollte!“
Ihre vorsichtig gedämpfte Stimme war lauter geworden. Sie hätte vielleicht noch mehr hinzugefügt, wenn John nicht mit warnender Bewegung auf die geschlossene Tür zum Eßzimmer gedeutet und leise geflüstert hätte:
„Vergiß Gunnar nicht!“
Da schrak sie doch zusammen, riß die Tür rasch auf, um zu sehen, ob Börtgen etwa horchte.
Das Zimmer war jedoch leer.
John schaute seine Schwester ernst an. „Jane, mache keine Dummheiten!“ sagte er mit Nachdruck. „Du mußt dem Meister gehorchen!“
„Feiglinge!“ knirschte sie mit verzerrtem Munde. „Ihr Feiglinge, die ihr euch willenlos ausnutzen laßt! Ein Weib, ich werde euch beweisen, daß selbst er nicht schlau genug ist!“
„Schweig!“ fuhr John auf. „Schweig, Wahnsinnige! Diese lächerliche Eifersucht wird dein Unglück sein! Ich will kein Wort weiter hören. Ich bleibe dem Meister treu – ihm allein!“
Ein höhnisches Auflachen Janes beendete diese kurze, folgenschwere Aussprache. –
Der Fürst war jetzt allein in der Wohnung im zweiten Stock des Hauses Gudrunstraße Nummer 20. Bevor er sich mit dem Tempel der Indra-Loge hatte verbinden lassen, war es ihm geglückt, Lori unbemerkt durch die Falltür und die Brucksalsche Etage hinab in sein Arbeitszimmer zu bringen, wo er sie jetzt vorläufig eingeschlossen hatte.
Lori war ihm willig gefolgt. Um zu verstehen, weshalb sie während des Alleinseins in dem geheimen Gemach neben dem Salon der Prinzessin Nadja keinen Versuch gemacht hatte, zu entfliehen, müssen wir erst einmal feststellen, wie es dem in so großer Lebensgefahr im Fahrstuhlschacht zurückgebliebenen Horst Olden ergangen war.
Mit verzweifelter Schnelligkeit war er, ein letztes Rettungsmittel, an der Gleitschiene nach unten geglitten, war auch mit knapper Not vor dem drohenden Fahrstuhlkasten im Keller angelangt und befand sich nun in dem Raume, wo die Maschinen des Fahrstuhls standen. Rasch betrat er durch den vorderen Kellerausgang die Straße und sah gerade noch die Rechnungsrätin Prutz, die soeben mit einer Markttasche das Haus verlassen zu haben schien. Er eilte ihr nach. Er trug ja noch immer die Verkleidung als Briefträger, in der ihn niemand erkennen konnte. Frau Prutz, seine Wirtin, freilich wußte, wen sie nun vor sich hatte, als er sie hastig fragte, ob sie soeben den Fahrstuhl benutzt habe. Sie nickte erstaunt, wollte noch etwas sagen, schwieg jedoch, da er ihr schon zuraunte:
„War eine Hausiererin oben bei Ihnen?“
„Ja. Ein altes Weiblein.“
„Das war Philipp Brex, liebe Frau Prutz. Suchte er Sie auszuforschen?“
„Nein. Er ging sehr bald wieder die Hintertreppe hinab, da ich ihm nichts abkaufte. Ich war schon zum Ausgehen angezogen.“
„Ah – dann wird er heimlich in die Wohnung eindringen. Das schadet nichts. Bleiben Sie bitte mindestens eine Stunde fort. Auf Wiedersehen.“
Olden kehrte in das Haus zurück. Er wußte nun, daß es ein bloßer Zufall gewesen, als der Fahrstuhl sich gerade in Bewegung setzte, während er selbst sich in dem Schach befand. Er hatte sich also in der Annahme geirrt, daß es sich hier um einen Anschlag auf sein Leben handelte. Er wollte nun mit aller Vorsicht festzustellen suchen, was aus Lori geworden.
Daß nur sie die in den Fahrstuhlschacht mündende Geheimtür geschlossen haben konnte, hielt er für gewiß. Vielleicht, überlegte er sich jetzt, tat sie es, damit die Person, durch deren Erscheinen in dem Sarggemach sie erschreckt worden war, ihn nicht bemerken sollte. Er vermutete ja bereits, daß die wunderschöne Frau in dem Sarge nur die Gattin des Fürsten sein könne, der Witwer war.
Nachdem er die Treppen bis zum zweiten Stock emporgestiegen war, öffnete er die Gittertür des Fahrstuhls und schwang sich wieder bis zur Leitschiene hinüber, fand für den einen Fuß einen festen Halt und zog sein Taschenmesser, um mit der Klinge den Riegel der äußeren Geheimtür zurückzuschieben.
Es gelang ihm auch. Er drückte jetzt das Ohr an die Innentür und vernahm das Gemurmel von Stimmen. Kein Zweifel – da drinnen sprach jemand mit Lori!
Nun wurde es still.
Noch zwei, drei Minuten – dann öffnete sich die Innentür.
„Horst!“ jubelte Lori leise. „Geliebter, welch furchtbare Angst habe ich um dich ausgestanden!“
Er schlüpfte in das schmale Gemach hinein, und Lori berichtete ihm nun fliegenden Atems alles, was sie hier soeben erlebt hatte.
Einen Moment lohte in Horst Oldens Herz eine eifersüchtige Regung auf, als er vernahm, daß der Fürst Lori seine Liebe gestanden hatte.
Doch Lori legte ihm bereits die Arme in tiefer Zärtlichkeit um den Hals und flüsterte: „Nur deinetwegen wies ich den Fürsten nicht sofort energisch zurück, Geliebter. Ich wollte dir irgendwie nützen.“
Er küßte sie. „Mein Liebling, ich bewundere dich! Ja, du hast in allem richtig gehandelt. Ich ahne, daß wir hier äußerst gefährlichen Geheimnissen auf der Spur sind. Hast du den Mut, Lori, dem Fürsten zu folgen? Ich möchte gern herausbringen, wohin er dich schaffen will und wer die Leute sind, denen er dich anvertraut.“
„Oh – für dich alles, alles, mein Horst!“ raunte sie ihm zu. „Ich werde dir eine kluge Gehilfin sein. Nur eine Bitte noch, bevor wir uns wieder trennen müssen. Du deutetest gestern abend an, daß du wüßtest, wo meines Vaters Leiche geblieben ist und daß du meinem Vater die fünfzig Diamanten, die einem Fürsten Jussugoff gehören sollen, wieder abnehmen wolltest. Sage mir – was ist mit der Leiche geschehen, und – ist mein Vater etwa der Dieb der Diamanten gewesen?“
„Der Tote wurde gestohlen, Lori, – von dem Grafen Udo und dessen Diener Friedrich Blunk. Ich habe die beiden beobachtet. Sie ließen die Leiche vom Dache auf den Balkon der Brucksalsche Wohnung hinab. Ohne Zweifel war es einer von ihnen, der dann den Baron Hektor von Rabinski auf dem Balkon der Maletta niederschlug, weil Rabinski Zeuge des Leichenraubes wurde. Was die Edelsteine betrifft, so hat mich der Bruder des Fürsten Alexei Jussugoff, der jetzt in Danzig lebende Fürst Kasimir Jussugoff, beauftragt, das Verschwinden der Steine aufzuklären. Doch – das ist eine lange Geschichte, mein Liebling, ein ganzer Roman, den ich dir später in Ruhe erzählen will. – Lebe wohl, Lori! Auf Wiedersehen! Fürchte nichts! Ich werde dich schützen! Ich und Philipp Brex, den ich jetzt bestimmt in der Wohnung der Frau Prutz vorfinden werde. Ich muß mich mit ihm zusammentun, damit die Rätsel dieses Hauses mit Hilfe der Polizei restlos geklärt werden.“
Er küßte sie heiß und lange, machte sich dann aus ihren Armen los und verließ das Geheimgemach und den Fahrstuhlschacht, eilte zum vierten Stock empor und schob leise den Schlüssel in das Schloß der Flurtür seiner Wohnung.
Es war ein Zufall, daß der kleine Brex, der tatsächlich die Abwesenheit der Frau Prutz zur Durchsuchung der Wohnung hatte benutzen wollen, gerade im Flur weilte. Er hörte, wie jemand mit äußerster Vorsicht die Flurtür öffnen wollte. Rasch schlüpfte er in einen Kleiderschrank, der dicht neben der Tür stand, hielt die Schranktür von innen zu und beobachtete durch einen schmalen Spalt den Eindringling. –
Ah – offenbar ein Mann in der Verkleidung eines Postbeamten! – Brex wollte diesen Menschen unschädlich machen – um jeden Preis! Auf einen offenen Angriff durfte er sich nicht einlassen. Der Fremde war ihm fraglos an Kräften weit überlegen.
So entschloß er sich denn, den Mann von hinten anzuspringen. Es wäre töricht gewesen, hier irgendwelche Rücksichten zu nehmen.
Heinz Olden, der jetzt die Tür wieder ins Schloß gedrückt hatte, fühlte plötzlich, wie zwei Hände seinen Hals umklammerten. Alle Versuche, den Angreifer abzuschütteln, halfen nicht. Olden verlor das Bewußtsein. Sein letzter klarer Gedanke war: ‚Nun wird Lori vielleicht verschleppt werden, ohne daß du auf ihrer Fährte bleiben kannst!‘
Nach dem Telephongespräch mit Nummer Zehn der Logenmitglieder, also mit Jane Wellesley, hatte der Fürst sich mit der Baronin Rabinski verbinden lassen.
Diese war soeben erst aufgestanden. Sie sah leidend aus. Um ihre Augen lagen dunkle Schatten. Schlaflos hatte sie in den Kissen gelegen und nur immer über diese seltsame Laune des Schicksals nachgegrübelt, die ihr gerade Heinz Römer als einen von der Polizei Verfolgten zugeführt hatte. Tage und Monate der Vergangenheit waren in ihrer Erinnerung jetzt wieder mit solcher Deutlichkeit lebendig geworden, daß sie sich wie von jäh aufgetauchten finsteren Gespenstern umgeben fühlte.
Sie hatte auch auf ihrem Nachttisch neben dem Bett ein Telephon stehen. Als dieses nun anschlug, fuhr sie aus tiefem Sinnen hoch und warf die Photographie, die sie aus einem Kästchen soeben hervorgesucht hatte, achtlos auf das zerwühlte Bett.
Dann meldete sie sich: „Hier Baronin Xenia Rabinski!“
„Hier Sergius,“ erklang des Fürsten Stimme. „Sie müssen noch heute für mich auf etwa vierzehn Tage verreisen, Xenia. Packen Sie sofort Ihren Koffer. Punkt zwölf Uhr erwarte ich Sie an der Ecke der Gudrunstraße und des Weber Platzes. Sie nehmen ein Auto und lassen dort den Kraftwagen halten. Sie bekommen für dieses Geschäft zweihunderttausend Mark.“
Die Baronin dachte an Heinz Römer. So gern sie auch diese Summe verdient hätte – es war ihr jetzt unmöglich, Heinz Römer hier allein zurückzulassen.
So erwiderte sie denn: „Durchlaucht, ich kann Ihnen diesen Gefallen leider nicht tun. Ich muß in Berlin bleiben. Es geht nicht anders.“
Kurze Pause. Dann: „Xenia, ich komme zu Ihnen. In fünf Minuten bin ich da. – Schluß –“.
Die Baronin seufzte. Sie fürchtete sich vor Sergius Ulminski. Was sollte sie ihm nur als Grund ihrer Weigerung, nicht verreisen zu wollen, angeben?! Sie konnte ihm gegenüber doch nicht Heinz Römer erwähnen?! Wenn sie nur sofort am Telephon auf den Gedanken gekommen wäre, Krankheit zu heucheln. Es war ihre Schuld, daß sie jetzt umsonst sich den Kopf zermarterte, welche Lüge sie ihm nur auftischen könnte, die sein scharfer Geist nicht sofort durchschaute.
Eilig beendete sie ihre Morgentoilette. Kaum hatte sie dann den letzten Strich an der kunstvollen, heute freilich etwas flüchtigen Malerei ihres Antlitzes vollendet, als die Flurglocke auch schon anschlug. Sie wußte, daß die Zofe und die Köchin zwecks Besorgungen ausgegangen waren. Sie mußte also selbst öffnen.
Es war wirklich der Fürst. Sie führte ihn in den Salon. Ihr war noch immer nicht eingefallen, was sie ihm nun als Grund ihrer Weigerung nennen sollte. Sie vertraute jedoch darauf, daß ihr noch wie stets im letzten Moment ein rettender Gedanke kommen würde. Außerdem aber war ihr inzwischen auch eingefallen, daß sie jetzt den Fürsten gewissermaßen in ihrer Gewalt hatte. Sie ahnte zwar nichts davon, daß er das Oberhaupt einer verbrecherischen Organisation sein könnte, da Ulminski sie für die Aufnahme in die Indra-Loge nicht als geeignet gehalten hatte. Sie wußte nichts von der Existenz dieser Loge. Was sie über das Leben und Treiben des Fürsten wußte oder zu wissen glaubte, war in den Einzelheiten durchaus nicht belastend für ihn. Nur die Gesamtheit dieser Einzelheiten hatte allmählich bei Xenia Rabinski den Verdacht geweckt, daß er recht dunkle, gefährliche Pfade wandele. Nun aber hatte er am verflossenen Abend etwas die Maske gelüftet, als er zugab, daß der Brief der Filmdiva Erna Maletta, den diese an den Baron Hektor geschrieben und den Xenia hatte verschwinden lassen müssen, dazu benutzt worden war, den Verdacht gegen die Maletta zu verstärken. Die Filmschauspielerin war dann ja auch hauptsächlich dieses Briefes wegen als mutmaßliche Mörderin des Barons, des Stiefsohnes der Rabinski verhaftet worden. Zum ersten Male war es Xenia Rabinski geglückt, durch diese Äußerung des Fürsten einen Blick hinter die Kulissen seines oft so rätselhaften Treibens zu werfen. Diese Kenntnis konnte sie jetzt nötigenfalls gegen ihn ins Treffen führen.
Der Fürst hatte auf einem Sessel Platz genommen.
„Weshalb sind Sie verhindert, zu verreisen?“ begann er sofort.
„Weil – weil ich selbst hier etwas vorhabe, Durchlaucht,“ erwiderte sie sehr kühl, denn sie hoffte bestimmt, daß er jetzt keinerlei Zwang mehr auf sie ausüben dürfe.
„Was haben Sie vor?“ Seine Stimme war etwas schärfer geworden.
„Ich bedaure, Ihnen dies nicht angeben zu können. Auch ich habe Geheimnisse wie Sie, Durchlaucht, vielleicht nur nicht ganz so gefährlich.“
Hinter den Brillengläsern zogen sich seine herrischen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
„Was heißt das?!“ meinte er dann jedoch mit einem seltsam grausamen, überlegenen Lächeln.
„Das heißt – ich bin nicht Ihre Sklavin, Durchlaucht! Gewiß, Sie haben meinen jetzt ermordeten Stiefsohn Hektor und mich als Deutschrussen vor anderthalb Jahren aus tiefster Not befreit und uns namhafte Unterstützungen gegeben. Trotzdem dürfen Sie daraus kein Recht ableiten, über mich zu bestimmen!“
Er lächelte sehr verbindlich. „Ganz recht, Xenia. Ich mag zuweilen etwas schroff aufgetreten sein. Das liegt in meiner Herrennatur. Sie sprachen da soeben von gefährlichen Geheimnissen. Meinen Sie den Brief und die Maletta-Angelegenheit? – Sie nicken. Also das ist’s! Mit einem Wort, Sie glauben jetzt, mich durch die Kenntnis dieses – Schachzuges beeinflussen zu können. Liebe Xenia, die Annahme ist verfehlt. Sie – werden reisen! Das heißt – nur zum Schein. Hören Sie mich erst an, bevor Sie sich entscheiden. Sie kennen Lori Battner! Auf meinen Befehl haben Sie dem Mädchen die Stickereien weit besser als üblich bezahlen sollen – sollen! In Wahrheit haben Sie das Geld eingesteckt. Es handelt sich um viele Tausende. Kurz – Sie haben mich betrogen. Ich weiß das seit langem.“
Die Baronin war unter der Schminkeschicht erblaßt.
„Diese Lori Battner,“ fuhr der Fürst gleichmütig fort, „gedenke ich nun aus bestimmten Gründen für einige Zeit mit ihrem Einverständnis verschwinden zu lassen. Ich brauche für Fräulein Battner in diesen Woche eine Gesellschafterin, die sie in meinem Sinne beeinflußt. Zu diesem Posten dürften Sie sich eignen, Xenia. Sie vereinigen in sich die Auftreten der Dame von Welt mit der Schlauheit und Gewissenlosigkeit der vornehmen Hochstaplerin –.“
„Durchlaucht! Ich muß doch sehr bitten!“ fuhr die Baronin scheinbar empört auf.
„Lassen Sie die Komödie,“ sagte Sergius Ulminski eisig. „Ihre geheime Spielhölle verfügt über gewisse Hilfsmittel, die neu eingeführten Gäste in leichtsinnige Stimmung zu versetzen.“
Seine harten Augen ruhten jetzt ununterbrochen auf ihrem abermals jäh erbleichten Gesicht.
„Zu diesen kleinen Mittelchen, liebe Xenia, gehört unter anderem der durch bestimmte Chemikalien vergiftete Wein, nach dessen Genuß die Leute in einen Zustand von Erregung geraten, der sie geradezu unzurechnungsfähig macht. In der verflossenen Nacht war einer meiner – na, sagen wir, meiner Bekannten – hier bei Ihnen und hat hunderttausend Mark verspielt, dafür aber Proben Ihres famosen Weines mit nach Hause genommen. Es war dies der angebliche Schiffskapitän Gunnar Gentbör, liebe Xenia. Die Weinproben halte ich gut unter Verschluß. Sie sehen also, daß nicht Sie mich, sondern ich Sie völlig in der Hand habe, niemand würde Ihnen glauben, daß Fürst Ulminski, der hier in den ersten Gesellschaftskreisen verkehrt, etwas über einen gewissen Drohbrief der Maletta weiß, besonders wenn dieser Fürst noch erklärte, wie Sie Ihre Gäste am Spieltisch ausplündern. – Trotz alledem, Xenia, ich wünsche mit Ihnen in Frieden zu leben. Sie werden also die Aufgabe übernehmen, die ich Ihnen zugedacht habe. Sie verreisen angeblich. In Wahrheit werde ich Sie dorthin bringen, wo Lori Battner einige Zeit mein Gast sein wird.“
Xenia Rabinski war viel zu klug, um sich die ohnmächtige Wut und den jäh aufsteigenden Haß irgendwie anmerken zu lassen. Nein – sie als glänzende Heuchlerin und Komödiantin benahm sich jetzt ganz so, wie jeder in ihrer Lage es getan hätte.
„Ich muß wohl gehorchte,“ sagte sie spitz. „Was bleibt mir übrig. Jedenfalls ist es nicht gerade sehr passend für einen Fürsten, mir in dieser Art nachzuspionieren!“
Sie führte das Spitzentüchlein an die Augen und schluchzte ein paar Mal leise auf. –
Weder die Baronin noch Ulminski ahnten, daß der größte Teil dieser denkwürdigen Unterhaltung von jemand belauscht worden war, der ein gleiches Interesse an der Rabinski wie an dem Fürsten nahm.
Heinz Römer hatte sich etwa um dieselbe Zeit, als die Baronin sich nach einer schlaflos verbrachten Nacht erhob, ebenfalls angekleidet und wollte dann seiner gütigen Beschützerin guten Morgen wünschen.
Da das Zimmer der Zofe, in dem er geschlafen hatte, am Küchenflur lag und er auch in der Wohnung ganz unbekannt war, klopfte er zuerst an die Tür des Schlafzimmers der Baronin, die nur angelehnt war. Niemand meldete sich. Durch das Anklopfen hatte sich die Tür jedoch weiter geöffnet. Als er nun einen Blick in das Zimmer warf, sah er auf dem Bett eine Kabinettphotographie liegen. Er hatte gute Augen, und daher erkannte er sofort, daß dieses Bild demjenigen völlig glich, welches man ihm, dem Findlingskinde, außer fünftausend Mark an Geld mitgegeben hatte, als man ihn vor der Tür des Schuhmachers aussetzte.
Heinz Römers Herzschlag stockte einen Moment vor ungläubiger Überraschung.
Dann trat er hastig näher, nahm das Bild und besichtigte es sehr genau.
Es war eine recht auffallende Photographie. Sie stellte eine Frau im Kostüm einer indischen Tänzerin dar. Die Frau hatte jedoch eine seidene Halbmaske vor dem Gesicht, so daß nur Mund und Kinnpartie von dem Antlitz zu sehen waren.
Kein Zweifel! Es war genau dasselbe Bild! Wie nur konnte diese Kopie in den Besitz der Baronin gelangt sein?! Wie kam sie hier auf das zerwühlte Bett?!
Heinz Römer legte sie jetzt wieder sinnend auf denselben Platz zurück und betrat durch die halb offene Tür das benachbarte Speisezimmer, dann durch die nur mit Portieren verschlossene Tür den Musiksalon.
Ah – jetzt endlich merkte er etwas von der Anwesenheit von Menschen. Er hörte dort im Salon Stimmen.
Er wollte bereits an die Tür pochen, als er der Baronin erregten Ausruf vernahm: „Durchlaucht! Ich muß doch sehr bitten!“
Der junge Künstler stand jetzt regungslos da. Ihm war plötzlich eingefallen, daß Nadja ihm erzählt hatte, sie verkehre mit niemandem, da sie noch zu jung sei, Gesellschaften zu besuchen. Nur hin und wieder käme sie mit einer Bekannten ihres Vaters, einer Baronin Rabinski, zusammen.
Und nun hatte die Baronin dort im Salon soeben jemand mit Durchlaucht angesprochen – Durchlaucht – also einen Fürst! Ob es etwa Nadjas Vater war?!
Da hörte er auch schon des Fürsten tiefe Stimme, der jetzt der Baronin vorhielt, daß sie ihre Gäste mit Hilfe eines besonders präparierten Weines ausplündere.
Heinz Römer hörte noch mehr: alles, was sich um Lori Battner drehte!
Er war wie betäubt. Die Frau, die ihn vor der Polizei geschützt hatte, war also selbst eine Verbrecherin! Und der Mann, der diese Lori Battner verschwinden lassen wollte, war wirklich Nadjas Vater! Der Fürst hatte ja soeben selbst seinen Namen erwähnt! –
Die Tränen und das Aufschluchzen machten auf den Fürsten nicht den geringsten Eindruck.
Mit brutalem Hohn sagte er jetzt: „Sie verderben Ihre Puderschicht, Xenia! In Ihrem Alter sollte man niemals weinen, nur lächeln. Das erhält jung. – Es bleibt dann also dabei! Um zwölf Uhr mittags heute sind Sie mit Ihrem Koffer an der Ecke Gudrunstraße und Werner-Platz. Ich erkläre gleich, daß Sie das Haus, in das ich Sie dann führen werde, oder genauer, die Ihnen und Lori Battner zugewiesenen drei Zimmer, keinesfalls verlassen dürfen und daß niemand erfahren darf, wo Sie sich befinden. Handeln Sie irgendwie gegen dies Verbot, dann – dann könnte das für Sie sehr unangenehme Folgen haben – zum Beispiel – das Zuchthaus! Das soll keine Drohung sein, nein, nur eine freundschaftliche Warnung.“
Ulminski stand auf und verabschiedete sich. Die Baronin brachte ihn bis an die Flurtür.
Als sie dann, nunmehr die Maske fallen lassend, in einem Zustande halber Raserei mit verzerrtem Gesicht und geballten Fäusten, mehr einer Furie als der eleganten Frau von Rabinski gleichend, in den Salon zurückgestürmt kam, taumelte sie in jähem Schreck rückwärts gegen die Tür.
Mitten im Salon stand Heinz Römer. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr sofort, daß er alles mitangehört haben müsse.
„Frau Baronin,“ sagte er auch sogleich mit einer Handbewegung tiefster Verachtung, „nicht eine Sekunde bleibe ich länger unter Ihrem Dache! Ich bin kein Verbrecher! Mit Ihnen will ich keinerlei Gemeinschaft weiter haben! Mag mich die Polizei verhaften. Dann werde ich Sie freilich nicht verraten. Aber eins werde ich tun, ich werde jene Lori Battner warnen! Ich weiß, daß sie Gudrunstraße Nummer 20 wohnt. Sie soll nicht durch Sie, die ihr als Gesellschafterin beigegeben werden soll, moralisch verdorben werden! Auf diese Warnung hin wird sie sich weigern, dem Fürsten zu folgen! Dies für Lori Battners Seelenheil zu tun, halte ich mich für verpflichtet.“
Xenia Rabinski wankte plötzlich auf den jungen Künstler zu, sank vor ihm in die Knie und flehte mit vor Angst stieren Augen:
„Oh – nur das nicht! Nur das nicht! Ulminski droht nie umsonst! Er würde mich ins – ins Zuchthaus bringen! Er würde, wenn Lori Battner anderen Sinnes geworden, mir die Schuld beimessen – mir allein! Haben Sie Erbarmen mit mir!“
Sie krallte ihre Hände in seinen Rock, fügte winselnd hinzu: „Ich schwöre es Ihnen, daß von meiner Seite nichts geschehen wird, Lori Battner irgendwie zu schädigen!“
Heinz Römer riß sich mit einer Gebärde des Ekels los, trat zurück und rief: „Ihnen – Ihnen soll ich Glauben schenken?! Niemals! Mein Gewissen soll rein bleiben! Sehen Sie zu, wie Sie mit dem Fürsten fertig werden!“
Mit einem Male ging da eine unerklärliche Veränderung mit ihr vor. Sie erhob sich. Sie trat ganz dicht an Heinz heran, flüsterte:
„Unseliger, willst du – deine eigene Mutter ins Zuchthaus bringen?!“
Der junge Künstler starrte sie erst unsicher fragend an, zuckte dann die Achseln.
„Was soll wohl dieser plumpe Scherz!“ sagte er schneidend.
Da griff sie nach seiner Hand, zog ihn mit einem Ruck vor den hohen Stehspiegel, der nun ihre beiden Gesichter dicht beieinander zeigte.
Und sie flüsterte wieder: „Prüfe unsere Gesichtszüge! Sieh diese gleiche Nasen- und Kinnform und – sieh hier dicht unter dem linken Ohr das kleine Muttermal! Wenn dir dies noch nicht genügt – damals als ich dich aussetzen ließ, gab ich dir Geld und die Photographie einer maskierten Frau mit! Haben deine Pflegeeltern dir dieses Bild nie gezeigt?“
Heinz Römer begann plötzlich zu zittern. Seine Nerven hielten diesem Ansturm von Gedanken nicht stand.
„Das – das Bild auf dem Bett!“ gellte es über seine farblos gewordenen Lippen.
Dann sank er – seiner Mutter bewußtlos in die Arme.