Fürst Sergius Ulminski kehrte zu Fuß nach seiner Wohnung zurück. Als er in die Gudrunstraße einbog, kam ihm ein älterer, graubärtiger Herr entgegen, murmelte jetzt vor Ulminski stehen bleibend:
„Darf ich um Feuer bitten? – Nummer Zwei!“
Ulminski erkannte jetzt erst Gunnar Börtgen, reichte ihm eine Schachtel Zündhölzer und fragte:
„Nun – wie benahm sie sich, Börtgen?“
„Sie sinnt Unheil,“ flüsterte Nummer Zwei hastig. „Man darf ihr nicht trauen. Ich werde feststellen, ob sie wirklich abfährt. Ich glaube nicht daran.“
„Fährt sie nicht ab, hat sie den Eid gebrochen. Dann – – dann ist sie reif für unser Gericht! Sie bleiben hinter ihr drein, Börtgen. Nehmen Sie noch Nummer Eins zu Hilfe. Bleibt sie in Berlin, so wird sie heute um Mitternacht dem Logengericht vorgeführt. Sie, Börtgen, sorgen in diesem Falle dafür, daß die Brüder vollzählig versammelt sind. Auf Wiedersehen.“
Der Fürst machte gleichfalls kehrt, nahm ein Auto und fuhr nach der Basedowstraße, in der das tempelähnliche Gebäude lag, wo die Geschwister Wellesley wohnten. Er verließ das Auto am Anfang der Straße und betrat dann das Nebengrundstück des Tempels, eine kleine Gärtnerei mit einem einstöckigem Wohnhause, die einem Junggesellen namens Birk seit etwa anderthalb Jahren gehörte.
Thomas Birk war ein hagerer, großer Mensch mit einem spitzen Vogelgesicht. Er arbeitete gerade in dem einen Gewächshause. Als der Fürst erschien, riß er die Mütze vom Kopf.
„Guten Tag, Meister,“ sagte er unterwürfig. „Wollen Sie hinüber?“
„Ja. Kommen Sie mit,“ erwiderte Ulminski kurz.
Sie begaben sich in das kleine Wohnhaus, dann weiter in den Keller, wo in dem einen Gelaß hinter einem Gestell, das mit leeren Blumentöpfen besetzt war, in der Mauer eine ähnliche Geheimtür sich befand wie drüben in dem Tempel der Indra-Loge.
Als Thomas Birk das Gestell von der Wand abrückte, sagte der Fürst mit gedämpfter Stimme:
„Sie werden nun sofort den Tempel unauffällig von der Straße aus beobachten, Birk. Jane plant Verrat und muß bewacht werden. Außer Ihnen tun es noch Börtgen und Chivarri. Legen Sie eine Verkleidung an und stellen Sie fest, ob die beiden nicht etwa mit Jane unter einer Decke stecken. Wahrscheinlich wird Jane in der kommenden Nacht abgeurteilt werden müssen. Halten Sie also auch den – den Trank bereit.“
Dann verschwand er hinter der Geheimtür, die den Zugang zu dem unterirdischen Verbindungsweg mit dem Tempel bildete. –
Jane packte gerade im Schlafzimmer ihren Koffer, als der Fürst lautlos eintrat.
Er stand jetzt eine Weile ohne jede Bewegung da und musterte sie mit starrem Blick, dem nicht die geringste Veränderung ihres Gesichtsausdrucks entging.
Und – dieses Gesicht spiegelte die erregten Gedanken des rotblonden Weibes ganz deutlich wider.
Dann sagte Ulminski leise: „Es ist recht, Jane, daß Sie einen Männeranzug mit einpacken –“.
Sie flog herum. In ihren Augen lohten Haß und Schreck.
„Ich wollte Ihnen mündlich die nötigen Instruktionen geben,“ fuhr Ulminski mit nüchterner Sachlichkeit fort. „Sie fahren über Amsterdam nach Liverpool und begeben sich zu Bonar Scampry. Er soll sofort vier Taucheranzüge, neuestes Modell, nebst vier Luftpumpen kaufen und erproben. Sie, Jane, und drei Mitglieder der englischen Zweigloge müssen täglich in den Taucheranzügen sich an verborgener Stelle auf dem Meeresboden in acht bis zehn Meter Tiefe bewegen, damit Sie sich daran gewöhnen. Das wäre alles. Hier haben Sie hunderttausend Mark Reisegeld. – Ich muß wieder fort, Jane. Glückliche Reise.“
Sie flog plötzlich auf ihn zu, warf sich an seine Brust, umklammerte ihn.
„Sergius,“ flehte sie keuchend, „Sergius, ich kann nicht mehr ohne dich leben! Du darfst –“.
Er schob sie mit aller Kraft von sich. Hochaufgerichtet stand er da.
„Ich, der Meister, befehle, daß Sie, Nummer Zehn, nur an Ihre Logenpflicht denken, an weiter nichts!“ sagte er in herrischem Tone. Dann drehte er sich kurz um und verließ das Zimmer.
Jane stand da – förmlich zusammengekrümmt wie ein sprungbereites Raubtier.
„Das – das war der letzte Versuch!“ kam es unhörbar über ihre erkalteten Lippen. „Nun – nun also wirklich Kampf, Fürst Ulminski – Kampf bis aufs Messer!“
*
Der kleine Kriminalbeamte Philipp Brex hatte gesiegt.
Vor ihm im Flur der Frau Rechnungsrat Prutz im vierten Stock des Hauses der Geheimnisse lag bewußtlos der Mann, den er hinterrücks überfallen hatte, weil kein anderes Mittel für ihn möglich war, den weit Stärkeren unschädlich zu machen.
Und trotz dieses Angriffs von hinten war es für den kleinen Brex ein Ringen gewesen, das die Anspannung all seiner Muskeln erfordert hatte.
Als er jetzt keuchend und schwitzend vor dem Ohnmächtigen stand, kamen ihm doch die schwersten Bedenken, ob er nicht seine Amtsbefugnis weit überschritten hätte. Er sah ein, daß er sich zu einer Handlung hatte hinreißen lassen, die ihn nunmehr, da sie nicht mehr ungeschehen zu machen war, ernstlich gereute. Gewiß, wenn er eine Waffe bei sich gehabt hätte, wäre er ja nie auf den Gedanken gekommen, in dieser Weise Gewalt anzuwenden.
Jedenfalls, der kleine dürre Philipp war mit sich jetzt genau so unzufrieden wie vorhin, als es ihm geglückt war, die harmlose, ahnungslose Prinzessin Nadja zu überlisten und ihr jenen Brief abzulocken, von dem er bisher nur die Aufschrift des Umschlages, eben die Adresse Heinz Römers, gelesen hatte.
Doch – dieser Überfall auf den als Briefträger verkleideten Mann, den er für einen Verbrecher hielt, ließ sich jetzt nicht mehr ungeschehen machen. Seufzend holte Brex ein paar Stahlfesseln hervor, ließ sie um die Handgelenke des Bewußtlosen zuschnappen und trug ihn dann in das nächste Zimmer, wo er ihn auf ein noch nicht wieder in Ordnung gebrachtes Bett legte und nun versuchte, ihn recht schnell ins Leben zurückzurufen. Dabei löste sich der falsche Bart, und auch die Perücke verschob sich.
Brex hatte jetzt Horst Oldens wahres Antlitz vor sich. Er besann sich nicht, diesen Mann jemals gesehen zu haben. Als er nun dessen Taschen durchwühlte, fand er zwei Patentdietriche mit verstellbarem Bart, eine geladene kleinkalibrige Repetierpistole und ein Schlüsselbund. Das war alles.
Während der dürre Philipp noch die Schlüssel des Schlüsselringes besichtigte, regte der Bewußtlose sich zum ersten Male, atmete japsend, schlug die Augen auf und saß in der nächsten Sekunde aufrecht da, starrte Brex an, begann fein zu lächeln und sagte schließlich mühsam und mit ganz heiserer Stimme:
„Wenn ich geahnt hätte, Herr Brex, daß Sie mich so wenig kollegial behandeln würden, würde ich diese erste Begegnung – nein – die zweite ist’s – etwas anders eingerichtet haben. Sie gestatten, daß ich mich vorstelle: Horst Olden, Privatdetektiv aus Danzig.“
Brex lachte kurz auf, verzog sein Clownsgesicht zu einer pfiffigen Grimasse und meinte:
„Männeken, falls Sie den Philipp Brex für dämlich halten, sind Sie total schief gewickelt! Horst Olden ist der berühmteste Detektiv, den wir heute in Deutschland haben, das sogenannte Freistaatgebiet Danzig mitgerechnet. Sie scheinen ja ein überaus gefährlicher Bursche zu sein. Diese Frechheit, sich für Olden auszugeben, warnt mich, mit Ihnen ja recht vorsichtig umzugehen.“
„Diese Zweifel sah ich voraus,“ meinte Olden ebenso liebenswürdig. „Im Nebenzimmer werden Sie auf dem Schreibtisch unter dem Tintenfaß meinen Ausweis nebst aufgeklebter und abgestempelter Photographie finden.“
„Aha!“ kicherte Brex. „Sie möchten mich gern für ein paar Minuten hier aus dem Zimmer entfernen und dann sich dünne machen! Ne, lieber Freund, diese Mätzchen kennen wir! Auf so was falle ich nicht mehr rein. Die Sache machen wir anders. Ich werde jetzt das Fenster öffnen und jemandem zurufen, mir einen Polizeibeamten heraufzuschicken.“
Olden durchzuckte ein heißer Schreck. Wenn Brex dies wirklich tat, mußte die ganze Umgebung darauf aufmerksam werden, daß sich in der Prutzschen Wohnung irgend etwas Besonderes zugetragen hätte; dann würden vielleicht auch Udo von Brucksal oder der angebliche Diener Friedrich Blunk, vielleicht sogar der Fürst Ulminski auf die Vorgänge hier aufmerksam werden und bald ermitteln, daß bei der Frau Prutz ein Mann wohnte, der sich nur fälschlich Kaufmann und Stuart Jameson genannt hatte. Dann entflohen diese zweifelhaften Herrschaften vielleicht sämtlich, und er, Horst Olden, hatte das Nachsehen!
Brex näherte sich bereits dem Fenster.
„Einen Augenblick noch,“ rief Olden da. „Herr Brex, Sie ahnen ja gar nicht, was Sie alles verderben können! Hören Sie mich an! Ich war der Mann im schwarzen Trikot, der das Seil zu durchschneiden drohte. Ich weiß, wer den Baron Hektor von Rabinski ermordete, wo die Leiche Albert Battners und seine Tochter Lori geblieben sind.“
Brex wurde unschlüssig. In dem Benehmen dieses Menschen lag etwas, das für ihn sprach.
Doch – dann verdarb Olden wieder den soeben errungenen Vorteil, indem er hinzufügte:
„Ich weiß auch, daß es in diesem Hause zwischen der zweiten und dritten Etage eine geheime Verbindung in Form einer Falltür gibt und daß –“
Da lachte Philipp Brex schallend los. „Männeken, bei Ihnen rappelt’s! Falltür –! In so einem modernen Hause – zwischen den Wohnungen eines Grafen und eines russischen Fürsten, der der dickste Freund eines unserer Minister ist!“
Er griff nach dem Fensterriegel.
Olden konnte nicht anders! Hier handelte es sich darum, zu verhüten, daß seine Maßnahmen, die er zur Einkreisung dieser fragwürdigen Insassen des Hauses Nummer 20 getroffen hatte, nicht auf so plumpe Weise durchkreuzt würden.
Mit einem Satz war er neben Brex, stieß mit gefesselten Fäusten zu, traf den Kleinen seitwärts gegen die Herzgrube.
Wie ein Sack fiel Brex zur Seite. Olden fing ihn trotz der gefesselten Arme auf und ließ ihn auf den Boden gleiten. Dann eilte er in die Küche. Zum Glück hatte Brex ihm die Hände nicht auf dem Rücken durch die Stahlbänder vereinigt. So konnte er denn jetzt auch, indem er mit der Stahlfessel auf die eiserne Herdplatte schlug, das Schloß zum Aufspringen bringen.
Als der kleine Philipp Brex erwachte, hatte er die Stahlfesseln an und saß in der Sofaecke von Oldens Zimmer.
„Herr Brex,“ sagte der Detektiv, der in einem Klubsessel dicht neben dem Sofa Platz genommen hatte, „Sie haben mich leider gezwungen, eine kolossale Dummheit Ihrerseits durch den Boxhieb zu verhindern. – Bitte – hier ist mein Ausweis.“
„Das besagt gar nichts!“ knurrte Brex störrisch. „Dann sind Sie eben ein Gauner, der dem Detektiv Olden ähnlich sieht.“
Olden sprang auf. „Herrgott!“ rief er. „Jede Sekunde ist kostbar! Ich hoffte mich mit Ihnen in Güte auseinandersetzen zu können. Inzwischen wird Lori verschleppt, und ich weiß nicht wohin.“
Brex, der noch immer sein Altweiberkostüm trug, erholt sich immer mehr. Je kräftiger er sich fühlte, desto mehr wuchs aber auch bei ihm die grenzenlose Wut über diese neue Schlappe. Erst hatte man ihm die fünfzig Edelsteine geraubt, dann war ihm Heinz Römer entflohen, und nun – nun saß er hier als Gefangener eines kaltblütigen Verbrechers! Das war einfach zum Verrücktwerden!
Brex verrannte sich in seinem Grimm immer fester in den Gedanken, daß dieser Mensch nicht Horst Olden sein könnte. Anderseits war er aber doch schlau genug sich zu sagen, daß er aus dieser Patsche nur herauskäme, wenn er scheinbar auf dieses Mannes Vorschläge einging.
So fragte er denn mit einem Lächeln, das überlegen und doch halb höflich sein sollte: „Wenn Sie Olden sind – was treiben Sie hier in Berlin?“
„Ich wünschte, ich hätte so lange Zeit, Ihnen das erklären zu können,“ rief der Detektiv nervös. „Aber diese Zeit habe ich nicht, Herr Brex. Ich kann Ihnen nur versichern, daß ich über die Rätsel dieses Hauses mehr weiß, als Sie ahnen, so zum Beispiel, daß Lori Battner heute früh das Zimmer nebenan an zusammengebundenen Tüchern verlassen hat und –“.
Sein Blick war auf die Uhr an der Wand gefallen. Er schrak zusammen. Es war fast halb zwölf. Er mußte weg, wenn er noch beobachten wollte, wie Lori mit dem Fürsten das Haus verließ und wohin dieser sie brachte.
„Herr Brex,“ sagte er überstürzt, „wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, die Wohnung der Frau Prutz nicht vor vier Uhr nachmittags zu verlassen und sich hier ganz als harmloser Gast zu benehmen, befreie ich Sie von den Stahlfesseln. Andernfalls muß ich Sie –“
Brex, der auch diese plötzliche Eile für Komödie hielt und glaubte, der Gauner wollte sich nur aus der fremden Wohnung entfernen, fiel ihm ebenso hastig ins Wort:
„Gut – ich will mein Ehrenwort unter einer Bedingung geben; Sie müssen mich vorher zu Lori Battner führen! So lange herrscht Waffenruhe zwischen uns!“
Brex meinte dies vollkommen ehrlich. Er nahm eben an, der Schwindler hätte keine Ahnung, wo Fräulein Battner sich befände. Und – wenn er gelogen hatte, war ja auch das Ehrenwort hinfällig!
Olden nickte. „Gut – es sei! – Her mit Ihren Handgelenken. – So, nun sind Sie frei. Ich werde in Eile eine andere Maske anlegen.“
Er riß sich die Kleider förmlich vom Leibe. Im fünf Minuten hatte er sich in einen alten Mann verwandelt, dessen Äußeres gut zu dem der Hausiererin paßte.
Brex hatte schweigend und aufmerksam zugeschaut. Hm – sollte der Mensch wirklich hier wohnen? Sollte es wirklich Olden sein, der hier als Stuart Jameson gemietet hatte? Der Mensch besaß ja alle passenden Koffer – und Schrankschlüssel!
„Fertig!“ rief Olden. „Kommen Sie, Herr Brex, – die Hintertreppe hinab!“
Als sie das Haus dann durch den Kellereingang verließen, als sie noch den Vorgarten – nur acht Schritt – zu durchqueren hatten, half der Fürst gerade einer tief verschleierten, eleganten Dame in ein vor dem Hause haltendes geschlossenes Auto, schlug die Tür zu, und – das Auto jagte davon.
Auch Brex hatte die Dame und den Fürsten bemerkt.
„Das war sie!“ flüsterte Olden zischend. „Und Sie – Sie sind daran schuld, daß ich meine Braut jetzt einem Schurken ausgeliefert habe!“
Brex stierte ihn verständnislos an.
„Ihre – Ihre Braut?“ stotterte er.
„Allerdings! – Rennen Sie jetzt doch hinter dem Auto her –! Rennen Sie doch!“ rief er in bitterer Ironie.
„Mein Gott,“ stammelte Brex, „sind Sie denn wirklich Horst Olden?“
„Da – kommt Frau Prutz. Fragen Sie sie doch!“
*
John Wellesley und Jane verließen zu Fuß das Tempelgrundstück der Basedowstraße. John trug seiner Schwester Koffer und Handtasche. Er ließ sich nicht dadurch täuschen, daß Jane scheinbar in bester Laune mit ihm plauderte. Er mißtraute ihr, denn er kannte sie und ihre Fähigkeit, ihre wahre Seelenstimmung zu verbergen.
Sie kamen an zwei Herren vorüber, die eine der Villen der Basedowstraße photographierten. Sie beobachteten die beiden ebensowenig wie den Radfahrer, der am Straßenrand den einen Reifen seines Gefährts aufpumpte. Und doch waren diese drei Männer niemand anders als Gunnar Börtgen, der Italiener Cesare Chivarri und der Gärtner Thomas Birk, also die drei Spione, die der Meister der Indra-Loge Jane Wellesley auf die Fersen gehetzt hatte.
An der nächsten Autohaltestelle nahm Jane einen Kraftwagen. Bevor sie einstieg, flüsterte ihr Bruder ihr noch zu:
„Jane, ich warne dich! Ich hege deinetwegen die ernstesten Befürchtungen. Verspricht mir, daß du deine eifersüchtigen Rachegedanken nicht in die Tat umsetzt.“
„Rachegedanken?!“ lachte sie geringschätzig. „Ich bin mit diesem Herzensroman fertig. Meinetwegen mag Ulminski sich einen ganzen Harem zulegen.“ – Aber ihre Blicke wichen denen Johns aus. Nochmals ein Händedruck, dann rollte das Auto davon.
John schaute sinnend dem Kraftwagen nach. Es war ja seine Schwester, um die er sich sorgte. Und diese Angst war größer, als er es Jane gezeigt hatte.
Ah – dort bestiegen ja die beiden Herren, die soeben in der Basedowstraße photographiert hatten, einen Kraftwagen.
Und – dort jagte der lange Radfahrer Janes Auto nach!
John Wellesley lief es kalt über den Rücken. ‚Aufpasser – Spione!‘ dachte er. ‚Diese Loge und ihr Meister sind eine unheimliche Macht! Keinen Schritt kann man tun, der nicht beobachtet wird. Arme Jane! Ich fürchte, du wirst nur zu bald – irgendwo verunglücken!‘
Er seufzte und kehrte langsam in den Indra-Tempel zurück.
Jane trat auf dem Fernbahnsteig an den D-Zug nach Hannover. Sie bestieg ihn jedoch nicht allein. Die drei ‚Kletten‘ folgten ihr, hafteten an ihr wie wirkliche Kletten.
Sie hatte am Schalter eine Fahrkarte bis zur holländischen Grenze gelöst, hatte scharf achtgegeben, ob jemand hinter ihr war. In ihrem Abteil zweiter Klasse machte sie es sich sofort bequem, tat ganz so, als ob sie sich für die lange Fahrt einrichtete und kaufte sich ein Buch und mehrere Zeitungen.
Der Zug setzte sich in Bewegung, durchfuhr den riesigen Güterbahnhof und die westlichen Vororte. Zum ersten Male hielt er nach etwa dreiundzwanzig Minuten Fahrt in Potsdam.
Während des kurzen Aufenthalts in Potsdam stand sie im Gange des D-Wagens dicht an der Tür ihres Abteils. Ihr Hut, Mantel und die Handtasche lagen auf dem einen Sitz an der Tür griffbereit.
Der Zug ruckte wieder an.
Nun kam die Entscheidung.
Jane nahm ihre Sachen, drängte sich rasch an die Wagentür, sprang hinaus. Der Zug fuhr noch recht langsam. Sie schaute sich um, wollte feststellen, ob noch jemand außer ihr absprang.
Nein – niemand! – Sie atmete erleichtert auf, blickte dem Zuge triumphierend nach und verließ dann ohne besondere Hast den Bahnsteig.
Sie hatte nur an eine Möglichkeit nicht gedacht, die schlaue Jane, daß ein raffinierter Verfolger den Zug auch nach der anderen Seite hin verlassen haben konnte und daß auf dem Nebengleis ein Leerzug gestanden hatte, der einen schnellen Unterschlupf für diesen Verfolger bot!
Und – Jane hatte nicht einen, sondern drei Spione hinter sich, alles Leute, die ihr an Erfahrung und Klugheit weit überlegen waren.
Als sie daher mit dem nächsten Stadtbahnzuge, jetzt dicht verschleiert, nach Berlin zurückkehrte, hafteten die drei Kletten abermals an ihr, waren nicht mehr abzuschütteln.
Lori Battner hatte auf Wunsch des Fürsten, der sich nach wie vor ihr gegenüber äußerst rücksichtsvoll und zartfühlend benahm, aus Nadjas Kleidervorrat sich das Nötige heraussuchen und den Männeranzug wieder ablegen müssen.
Sie hatte sich in Nadjas Schlafraum umgezogen. Als sie jetzt Ulminskis Arbeitszimmer wieder betrat, eilte der ihr mit einem Ausruf des Entzückens entgegen, nahm ihre beiden Hände und schaute sie liebestrunken an.
„Wie schön Sie sind, Lori,“ flüsterte er, und Lori spürte deutlich, daß seine Hände in den ihren vor Leidenschaft bebten.
Vor der Glut seiner Blicke schoß ihr die helle Röte in die Wangen. Sie machte sich los von ihm, senkte verwirrt den Kopf. Mit leisem Schreck stellte sie jedoch fest, daß das innige und sinnbetörende Werben des Fürsten nicht ohne Eindruck auf sie blieb. Sie merkte geradezu, daß der Fürst über sie Macht zu gewinnen begann.
‚Horst – Horst schütze mich vor mir selbst!‘ schrie da eine angstvolle Stimme in ihrem Herzen auf. ‚Horst – rette mich rasch aus der Nähe dieses Mannes, dessen ganzes Auftreten, dessen Persönlichkeit wohl jedem Weibe gefährlich werden muß!‘
Sergius Ulminski beobachtete sie still. Er deutete diese Verwirrung Loris mit Recht zu seinen Gunsten.
Dann schritten sie die Treppen hinunter zu dem vor dem Hause wartenden Auto.
Sie stiegen ein. Dann fiel die Tür des Autos ins Schloß.
Und Lori saß nun neben dem Fürsten, der zart nach ihrer Rechten gehascht hatte und ihr allerlei ins Ohr raunte von einer seligen gemeinsamen Zukunft in fernen Landen, wo es keinen Winter gäbe, wo dufterfüllte linde Lüfte zu jeder Jahreszeit die Liebenden umschmeicheln würden.
Sie achtete nicht darauf, daß die Fenstervorhänge des Autos geschlossen waren, daß sie nicht feststellen konnte, welchen Weg der Kraftwagen einschlug. –
*
Der kleine Philipp Brex war sofort an die würdige Rechnungsrätin herangetreten.
„Verzeihung,“ sagte er leise, „nur eine Frage. Kennen Sie Horst Olden von früher her persönlich? Ist es ausgeschlossen, daß jemand anderes hier sich bei Ihnen als Olden einführte?“
„Ganz ausgeschlossen!“ nickte Frau Prutz verwundert. „Ich kenne Herrn Olden schon von Danzig her. Aber – weshalb diese Fragen?“
Da mischte sich Horst Olden selbst ein. „Diese Hausiererin ist nämlich Herr Brex, liebe Frau Rat,“ meinte er. „Wir wollen jetzt aber hier nicht länger stehen bleiben. Kehren wir in mein Arbeitszimmer zurück –“.
Hier in des Detektivs behaglicher Studierstube saßen nun die beiden Männer in weichen Klubsesseln, saß Philipp Brex in seiner tadellosen Weibermaske und hörte still zu, wie Horst Olden ihm seine Vorschläge zu gemeinsamer Weiterarbeit an dem verwickelten Fall des Hauses der Geheimnisse unterbreitete.
Brex, der bei der Kriminalpolizei nur probeweise beschäftigt war, sollte als Gehilfe in Oldens Dienste treten und zwar sofort.
Der dürre Philipp überlegte sich die Sache erst gründlich. Er konnte jeden Tag von der Polizei wieder entlassen werden, konnte aber auch seinerseits jeden Tag austreten.
So schlug er denn in Oldens Hand auf treue Mitarbeiterschaft ein und rief dann das Polizeipäsidium an, nannte Kommissar Doktor Finks Nummer und hörte nun auch dessen Stimme durch den Apparat:
„Teufel, Brex, wo stecken Sie denn eigentlich?! Ich brauche Sie so nötig! Vor ein paar Minuten ist die Meldung eingetroffen, daß die Zofe der Baronin Rabinski ihre Herrin tot im Salon aufgefunden hat. Ein persischer langer Dolch soll der Baronin noch im Herzen stecken, wie das Revier mir mitteilte –“.
Brex drehte hastig den Kopf und flüsterte Olden zu: „Denken Sie, jetzt ist auch noch die Rabinski ermordet worden! Erst ihr Stiefsohn, nun sie ebenfalls!“
Olden, der Danziger Privatdetektiv, hatte auf Philipp Brex Mitteilung, daß die Baronin Xenia Rabinski in ihrem Salon mit einem Dolche im Herzen ermordet soeben aufgefunden sei, hastig erklärt:
„Trotzdem, Brex, – sagen Sie dem Kommissar, daß Sie anderswo eine besser bezahlte Stellung erhalten haben und aus dem Polizeidienst sofort ausscheiden.“
Brex tat es. Kriminalkommissar Fink schien hierdurch sehr unangenehm überrascht zu sein, denn er rief durch den Fernsprecher zurück:
„Sie sind wohl übergeschnappt, lieber Brex? Eine Kraft wie Sie misse ich sehr ungern. Wollen Sie sich die Sache nicht noch überlegen?“
„Hab’ ich schon getan. Das Gehalt, das ich jetzt beziehe, könnte die Behörde mir nie geben. Jeder muß sehen, wie er am besten fährt, Herr Kommissar.“
„Verdammt – was für eine Stellung haben Sie denn angenommen?“
„Ich – ich bin Privatsekretär eines reichen Engländers geworden.“
„Der Teufel hole den Engländer! – Haben Sie denn inzwischen was Neues ermittelt?“
„Nichts von Bedeutung. Ich treffe Sie jetzt wohl in der Wohnung der Rabinski, Herr Kommissar. Ich möchte mich von Ihnen verabschieden.“
„Ja, ich fahre sofort nach der Siegfriedstraße Nummer 19. Also auf Wiedersehen, Brex! Schämen sollten Sie sich, so plötzlich fahnenflüchtig zu werden. Aber – mit dem Gehalt, da haben Sie recht! Bei diesen teuren Zeiten muß man nach jeder Speckseite greifen!“
Brex legte den Hörer auf die Stützen zurück.
„Ich werde dann schleunigst nach meiner Wohnung fahren und mich umziehen,“ meinte er nun zu Olden. „Dann geht’s zur Rabinski!“
„Das Umziehen können Sie hier besorgen,“ sagte Olden, der noch mit weit vorgestreckten Beinen im Sessel lag. „Frau Prutz wird Ihnen einen Anzug ihres gefallenen Sohnes borgen, der Ihnen leidlich passen dürfte. Lassen Sie mir aber bitte den Brief der Prinzessin Nadja hier.“
„Wie – Sie wissen etwas von diesem Brief?“ wunderte der Kleine sich kopfschüttelnd. „Woher denn, Herr Olden?“
„Ich weiß es – durch ein Loch, das ich in zwei Tapeten schnitt, lieber Brex! Doch davon später. Jetzt machen Sie, daß Sie zur Baronin Rabinski kommen!“
Brex legte den Brief auf den Tisch. Olden half ihm dann beim Umkleiden. Fünf Minuten später war Olden in seiner Studierstube allein.
Sinnend schnitt er den Umschlag auf und zog den Brief heraus. Seine Gedanken waren bei Lori.
Gewiß – er hatte ihr jetzt nicht folgen und nicht feststellen können, wohin Ulminski sie entführte. Aber er hoffte, daß Lori Gelegenheit haben würde, ihm irgend eine kurze Botschaft zu senden. Seine anfängliche Sorge, Loris Spur nicht wiederzufinden, war bereits von ihm gewichen.
Nun begann er Nadjas Brief zu lesen:
‚Mein über alles Geliebter!
Noch immer glaube ich Deine sengenden Küsse zu fühlen, noch immer jagt mein Herz in Erinnerung an Deine stürmischen Zärtlichkeiten. Und doch bedrohen bereits düstere Wolken den strahlenden Himmel unserer jungen Liebe. Eine Wahrsagerin hat soeben aus den Linien meiner Hand herausgelesen, daß Dir, mein Heinz, Unheil droht. Sie hat mir vieles gesagt, diese alte Frau, das jeden Zweifel an der Echtheit ihrer Kunst zerstreute. Ich glaube und vertraue ihr. Sie verlangt nun von mir in Deinem Interesse, daß ich Dir mitteile, wie ich in Besitz jenes Ringes gelangt bin, den ich Dir schenkte. Sie wußte, daß ich ihn Dir aufgezwungen hatte.
So höre denn:
Eines abends, es ist Monate her, betrat ich leise meines Vaters Herrenzimmer. Mein Papascha hatte mich aber doch bemerkt und breitete rasch eine Zeitung über eine Menge von Schmuckstücken, die vor ihm auf dem Tische lagen. Nur ein einzelner Ring war noch für mich sichtbar geblieben.
Ich tat so, als ob ich die anderen Juwelen nicht bemerkt hätte, und griff nur spielend nach dem Ringe, den ich so wunderhübsch fand, daß ich Papascha bat, ihn mir zu schenken. Er tat es auch, aber unter der Bedingung, daß ich den Ring niemandem zeige und ihn stets in meiner Stahlkasette verschlossen hielte.
Du siehst, mein Geliebter, wie unendlich groß meine Liebe zu Dir ist! Du darfst den Ring ruhig tragen. Papascha wird nie danach fragen. Und wenn Du einst ganz mein sein wirst, dann werden wir Papascha lachend unsere Sünden beichten, auch daß ich Dir zum Andenken an diese köstlich süße Nacht den Ring aufdrängte. Papascha denkt in diesen Dingen sehr großzügig. Alles, was sich um Liebe dreht entschuldigt er. Wir sind ja Russen, mein Heinz, und das Blut der kaukasischen Bergvölker rinnt heiß durch unsere Adern.
Lebe wohl, Geliebter! Fürchte nichts! Die Wahrsagerin wird uns schützen.
Ich küsse Dich, Heinz.
Deine, nur Deine kleine Nadja‘
‚Arme Nadja,‘ dachte Olden fast schmerzlich. ‚Arme Nadja, jetzt besteht für mich kein Zweifel mehr, daß dein Vater ein gefährlicher Dieb ist!‘
Frau Prutz betrat das Zimmer, kam bis an den Tisch heran und fragte Olden, ob er daheim Mittag essen wolle, was er bejahte. „Ich muß auf Philipp Brex’ Rückkehr warten, liebe Frau Rat. Wenn Sie mir also irgend etwas zubereiten wollten, wäre ich sehr dankbar.“
Die Rätin hatte zufällig einen Blick auf den Briefumschlag geworfen, der vor ihr auf der Tischdecke mit der Anschrift nach oben lag.
Sie stutzte, meinte dann fragend: „Römer – Heinz Römer?! Wie kommen Sie zu diesem Brief, Herr Olden?“
Olden hatte vor der verschwiegenen alten Dame keinerlei Geheimnisse. Er erzählte ihr alles Nötige.
„Diesen Heinz kenne ich,“ erklärte sie da. „Als mein Mann noch lebte und wir in Danzig in der Breitgasse wohnten, hatte ein Schuhmachermeister Römer in unserem Hause einen kleinen Laden. Heinz Römer war das Pflegekind dieser Römers. Vor etwa zehn Tagen sah ich Heinz Römer seit vielen Jahren wieder. Wir begegneten uns auf der Straße. – So, jetzt will ich aber erst für Sie ein Kalbsschnitzel vom Fleischer holen.“
Sie eilte hinaus, machte sich zum Ausgehen fertig und verließ das Haus, um in der nächsten Querstraße ihre Einkäufe zu erledigen.
Dicht vor dem Laden wurde sie auf einen Herrn aufmerksam, der mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief in die Stirn gedrücktem Hut seltsam scheu daherkam.
Ein einziger Blick in dieses blasse Gesicht genügte ihr. Es war Heinz Römer!
Sie blieb stehen, sprach den jungen Künstler an.
„Guten Tag, Herr Römer. Wie geht es Ihnen? Ich freue mich –“.
Er ließ sie nicht weitersprechen, griff nach ihrer Hand und flüsterte mit angstverzerrter Miene und flackernden Augen:
„Retten Sie mich, Frau Rat! Retten Sie mich! Man verfolgt mich wegen Mordes! Oh – haben Sie Erbarmen mit mir! Gewähren Sie mir Unterkunft!“
Der kleinen korpulenten Dame fehlte es nicht an Menschenkenntnis und Entschlossenheit.
„Sie sollen ein Mörder sein?!“ meinte sie gütig. „Sie, der als Junge keine Fliege töten konnte und Tiere so über alles liebte! – Herr Römer, ich werde Sie bei mir verbergen. Ich wohne Gudrunstraße 20 im vierten Stock. Gehen Sie dorthin. Mein Mieter wird Sie einlassen.“
Heinz Römer war zurückgeprallt.
„Gudrunstraße 20?!“ stotterte er. „Oh – das – das Haus kenne ich. – Wie soll ich Ihnen nur danken, Frau Rat!“
„Verschwinden Sie – von Dank nachher!“ meinte sie und nickte ihm aufmunternd zu.
Der junge Musiker eilte davon. –
Philipp Brex stand im Salon der Baronin neben Kommissar Fink und beobachtete, wie der Polizeiarzt die tödliche Stichwunde mit der Sonde untersuchte.
Leise erzählte ihm Fink dabei, was die Zofe über den Gast der Baronin soeben zu Protokoll gegeben hatte.
„Es ist ganz klar, daß dieser Fremde derselbe Mensch ist, der Ihnen, lieber Brex, morgens entschlüpfte. Die Baronin hat ihn eben bei sich aufgenommen, und zum Dank hat er sie ermordet, um die Wohnung ausplündern zu können. Dazu kam er aber nicht mehr, da die Zofe ihn durch ihre Rückkehr verscheuchte.“
Brex wußte nun, was er wissen wollte, und verabschiedete sich von Doktor Fink, der ihm noch alles Gute für die Zukunft wünschte.
Philipp Brex verließ den Salon. Da sich niemand um ihn kümmerte, wollte er die gute Gelegenheit benutzen und sich in der Wohnung noch schnell ein bißchen umsehen. Vielleicht entdeckte er etwas Wichtiges.
So gelangte er denn auch ins Schlafzimmer, sah das Bild der maskierten Dame auf dem Bett liegen und steckte es zu sich. Er ahnte nicht, daß diese eigenartige Photographie noch der Schlüssel zu weit dunkleren Rätseln werden sollte, als Brex sie bisher im Hause der Geheimnisse kennengelernt hatte.
Dann machte er sich auf den Rückweg nach Gudrunstraße Nummer 20. Als er bei Frau Prutz geläutet und diese ihn eingelassen hatte, als er nun Horst Oldens Zimmer betrat, blieb er wie versteinert stehen.
Denn – in dem einen Sessel saß Heinz Römer, der angebliche Mörder der Baronin, und hatte vor sich auf dem Tische ein Glas Rotwein stehen.
Im anderen Sessel saß Olden und sagte mit einer winkenden Kopfbewegung: „Kommen Sie nur, Brex! Wir drei hier gehören jetzt zusammen; wir drei haben die Fäden in der Hand, an denen man sich zum Kernpunkt aller dieser Geheimnisse entlangtasten kann!“
Brex drückte die Tür ins Schloß und fragte dann: „Und dieser Kernpunkt wäre?“
„Meines Erachtens die Geschichte der fünfzig Diamanten des Fürsten Jussugoff,“ erwiderte Olden. „Um aber das nächstliegende zuerst zu erledigen, lieber Brex: die Baronin hat Selbstmord begangen! Sie selbst stieß sich den persischen Dolch ins Herz in Gegenwart – ihres Sohnes Heinz Römer!“
Brex erstarrte abermals zur Salzsäule vor ungläubigem Staunen.
„In dieser Frau war plötzlich das Gewissen infolge ihres Sohnes kühler Ablehnung ihr gegenüber erwacht. Als Römer ihr erklärte, sie sei nichts als eine Verbrecherin in seinen Augen und habe keinen Anspruch, mit dem Namen Mutter von ihm angeredet zu werden, stieß sie sich vielleicht halb in momentaner Geistesverwirrung den Dolch ins Herz. Römer selbst konnte gerade noch flüchten, da die Zofe plötzlich erschien und er sich sagte, daß man ihn für den Mörder halten würde. Er entfloh also und ist durch Frau Prutz, eine alte Bekannte von Danzig her, hier aufgenommen worden. Wenn Sie, Brex, erst von Römer hören, was er dort in der Wohnung der Baronin alles erlauscht hat, werden Sie an seinen Angaben ebenso wenig zweifeln, wie ich es tue.“
Brex reichte Römer die Hand. „Ich zweifle auch jetzt nicht,“ meinte er freundlich. „Ich weiß nun ja, weshalb Sie den Ring wegwarfen, Herr Römer – um die Prinzessin zu schützen!“
Dann nahm er gleichfalls Platz.
So finden wir hier die drei Männer zum ersten Male vereint vor, denen es später an den Gestaden einer palmenumrauschten Inselgruppe mitten im Stillen Ozean gelingen sollte, die ungeheuren Beuteschätze der größten aller Verbrechergeheimgesellschaften nach unendlichen Mühen und Gefahren in ihren Besitz zu bringen – Milliardenschätze, die dann wieder, unerreichbar für jeden Menschen, für immer verschwinden sollten.
*
Jane Wellesley, die in Potsdam den D-Zug verlassen und gehofft hatte, daß sie nichts mehr von Verfolgern zu fürchten hätte, war mit dem Stadtbahnzuge bis Charlottenburg gefahren und befand sich nun wieder in Berlin.
Aber auch jetzt ließ sie es an der nötigen Vorsicht nicht fehlen. Ganz plötzlich sprang sie mit ihrer Reisetasche in eine Straßenbahn und nachher in ein Auto. Sie hatte dem Chauffeur als Ziel die Bitterfeldstraße, eine Parallelstraße der Basedowstraße, genannt. Sie wußte, daß es hier jeder Zeit genügend freie möblierte Zimmer gab, und sie mietete ein solches im Hochparterre von Nummer 51 mit direktem Flureingang bei einer älteren Witwe, deren Vertrauen sie gewann, indem sie sofort für zwei Wochen vorausbezahlte. Sie nannte sich hier Johanne Wolter. Da sie das Deutsche fließend und ziemlich akzentfrei beherrschte, merkte die Witwe nicht, daß sie eine Engländerin vor sich hatte.
Jane führte in ihrer Handtasche alles mit sich, was zur Verwandlung ihres Äußeren nötig. Eine graue Perücken, eine Brille und ein schwarzer Schleier, dazu ein leichter dunkler Seidenmantel genügten, aus der üppigen, als Weib so reizvollen Jane eine Vogelscheuche zu machen, deren Gesicht überall tiefe Falten zeigte, die freilich nur durch den Schminkstift entstanden waren.
Jane begab sich jetzt, nachdem sie ihr Zimmer rasch und unbemerkt verlassen hatte, in die Basedowstraße, wo sie in dem Hause gegenüber dem Indra-Tempel im ersten Stock ebenfalls ein einfenstriges Flurzimmer mietete. Sie erklärte der Vermieterin, ihr Gepäck sei noch auf der Bahn. Sie würde es nachmittags holen. Jetzt müsse sie sich erst ausruhen.
Sie ließ sich Mittag geben und beobachtete unausgesetzt das Tempelgrundstück. Sie war fest überzeugt, daß der Fürst im Laufe des Tages, wie es stets geschah, sich nochmals im Tempel einfinden würde. Dann wollte sie ihm folgen. Und wenn es viele Tage dauern sollte – ihre bis zum Wahnwitz gesteigerte Eifersucht würde sie Geduld lehren! Sie wollte und mußte herausbekommen, wer ihr Sergius Ulminskis Herz geraubt hatte. Und dann – dann würde sie ihn rücksichtslos vernichten, würde der Polizei eine anonyme Denunziation schicken, die alles Wichtige über das Treiben der Indra-Loge enthalten sollte. Nur John, ihren Bruder, würde sie rechtzeitig warnen, damit er fliehen könnte.
Durch die Äste der nur erst wenig belaubten Bäume hindurch sah sie den Tempel mit seinen Fensterreihen recht genau. Sie hatte für alle Fälle ein Fernglas mitgenommen, und dieses brachte sie dem Gegenüber noch näher.
Plötzlich stieß sie dann einen zischenden Laut der Überraschung aus. Sie hatte den Fürsten in einem der Fenster im ersten Stock erkannt. Er zog gerade den Vorhang zu. Und am zweiten Fenster dieses Zimmers dort, das mit zu den Logenräumen gehörte, erblickte sie fast gleichzeitig einen blonden Mädchenkopf, der sofort wieder verschwand.
„Ah – also das ist’s – das ist’s!“ kam es jetzt über Janes verzerrte Lippen. „Sogar in dem Tempel hat er seine neue Geliebte untergebracht! Dieser elende Schurke, dieser Tyrann, dieser Betrüger – er soll noch heute in seinem Liebesnest dort verhaftet werden!“
Sie setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben.
‚An das Polizeipräsidium, Berlin,
Kriminalabteilung
Von Reue gepackt, teile ich Ihnen folgendes über die Verbrechergeheimgesellschaft Indra, der ich selbst als ‚Bruder‘ angehöre, der Wahrheit gemäß mit.
Die Loge der Freidenker namens ‚Indra‘, die im Hause Basedowstraße Nummer 32 ihr Heim hat, war durch den Weltkrieg bis auf zwei Mitglieder zusammengeschrumpft. Diese beiden Mitglieder, denen es pekuniär sehr schlecht ging, wußte der aus Rußland infolge der Revolution entflohene Fürst Sergius Ulminski in seine Netze zu locken und zu bewegen, die Logenräume für die von ihm gegründete –‘
Da – vor der Tür ein Geräusch.
Dann klopfte es. – Jane bedeckte rasch den Briefbogen mit einer Zeitung. Sie hatte sich eingeschlossen. Vorsichtig schlich sie zur Tür und fragte, wer draußen sei.
„Frau Meinke, Ihre Wirtin!“ kam die Antwort.
Jane öffnete – taumelte zurück.
Vor ihr standen Frau Meinke und ein Wachtmeister der Schutzpolizei in Uniform.
Der Fürst hatte zur verabredeten Zeit umsonst auf das Erscheinen der Baronin Rabinski am Werner Platz gewartet. Nachdem eine halbe Stunde verstrichen war, mußte er annehmen, daß sie seinem Befehl trotzen und die Stellung einer Gesellschafterin und Wächterin Lori Battners nicht antreten wolle.
Er fuhr daher nach der Siegfriedstraße Nummer 19. Vor dem Hause bemerkte er jedoch eine große Menschenansammlung, ließ das Auto vorher halten und stieg aus.
Von einem der müßigen Gaffer hörte er dann, daß die Baronin Rabinski ermordet und die Mordkommission oben in ihrer Wohnung sei.
Er machte kehrt, bestieg das Auto wieder und ließ sich nach der Basedowstraße fahren, wo er zu Fuß bis zu Thomas Birks Gärtnerei ging. Er zweifelte nicht im geringsten daran, daß die Baronin wirklich tot sei.
Nun mußte er für Lori eine andere Gesellschafterin und Wächterin beschaffen. Aber wen nur – wen? Die Loge hatte nur ein einziges weibliches Mitglied. Das war Jane Wellesley. Woher jetzt eine andere zuverlässige Person nehmen?!
Er schloß das Gärtnerhäuschen auf und begab sich durch den unterirdischen Verbindungsgang, den nur er, Birk und Gunnar Börtgen kannten, und über die Geheimtreppe im Tempel oben in den sogenannten Logensaal, ein dreifenstriges Zimmer mit recht eigenartiger Ausstattung. –
Lori befand sich bereits in den für sie bestimmten Räumen hier im ersten Stock. Das Auto mit den geschlossenen Fenstervorhängen, das Lori und den Fürsten aus der Gudrunstraße davongeführt hatte, gehörte der Loge und hatte am Hintereingang des Gebäudes gehalten.
Als Lori dann durch Ulminski die Treppe emporgeleitet worden war, als sie an seinem Arm das für sie bestimmte Wohnzimmer betreten hatte, blieb sie unwillkürlich staunend dicht an der Schwelle stehen.
Rosen, nichts als Rosen – dunkelrote Rosen, die Verkünder der Liebe!
„Die Möbel des Zimmers sind bescheiden, Lori,“ sagte da der Fürst mit seiner betörenden Stimme neben ihr. „Aber täglich sollen frische Blumen diesen Mangel ausgleichen, täglich sollen sie Ihnen heimlich das zuflüstern, was auch ich ständig denke: Ich liebe Sie!“
„Und ich – ich liebe gerade Blumen so sehr!“ sprach Lori selbstvergessen vor sich hin.
„Mich sollen Sie lieben – mich!“ raunte der Fürst ihr ins Ohr, und jetzt klang seine Stimme wieder fast herrisch.
Sie schaute zu ihm auf. Ihre Blicke ruhten ineinander.
Und Lori dachte an die Geschichte von dem armen Vögelchen, das unter dem bezwingenden Leuchten von Schlangenaugen das Reptil wehrlos, machtlos immer näher kriechen läßt. Ulminski hatte sanft den Arm um ihre Schultern gelegt.
„Lori,“ flüsterte er heiß, „Du wirst mein sein – mein Weib, wirst Fürstin Ulminski werden!“
Sie riß sich los.
Noch hatte er nicht völlig Macht über sie gewonnen; noch lebte in ihrem Herzen zu stark die Erinnerung an den andern, den sie wahrhaftig liebte.
Und abermals schrie die hilfesuchende Stimme in ihrer Seele nach dem Retter – nach Horst Olden. In diesem Augenblick nahm sie sich vor zu fliehen – noch heute – bei erster Gelegenheit. Sie durfte nicht länger in Ulminskis Nähe bleiben, wenn sie sich nicht selbst – verachten wollte. –
Der Fürst verabschiedete sich dann bald, erklärte noch, daß die Baronin Rabinski ihr hier Gesellschaft leisten würde, worauf Lori froh erwiderte:
„Oh – ich kenne die Baronin! Sie war gestern Abend so freundlich zu mir, wollte dem Vater Lebensmittel bringen.“
Dann war sie wieder allein. Sie ging ins Nebenzimmer, das ihr Schlafgemach war. Auch hier rote Rosen – überall!
Und jetzt, nach kaum einer Stunde, trat Ulminski abermals bei ihr ein.
Sie saß am Fenster und hatte in einem Roman geblättert. Der Fürst küßte ihr die Hand, nahm ihr gegenüber Platz und begann mit ernster Stimme:
„Liebe Lori, leider ist die Baronin verhindert, Ihre Einsamkeit hier zu teilen. Ich habe nun beschlossen, meine Tochter Nadja, ein munteres, sonniges Wesen, hierher zu bringen. Nadja langweilt sich ohnehin stets, und sie wird sich freuen, mit Ihnen –“
Er brach jäh ab.
Von unten her aus dem Hause war ein gellender, heiserer Schrei erklungen – ein so furchtbarer Schrei, daß Lori von ihrem Stuhle entsetzt hochschnellte.
Zitternd stand Lori da und lauschte, ob der furchtbare Schrei sich nicht wiederholen würde, der soeben irgendwoher aus dem Erdgeschoß scheinbar, bis hier in das Zimmer des ersten Stocks hinaufgedrungen war.
Auch Fürst Ulminski hatte sich rasch erhoben. Auf seiner Stirn lagen jetzt drei dicke, finstere Falten.
„Die Unterbewohner sollen einen geisteskranken Sohn haben, der zuweilen solche Schreie ausstößt,“ sagte er nun ohne jede Erregung zu Lori. „Ich werde dafür sorgen, daß der junge Mensch sofort aus dem Hause geschafft wird.“
Er griff dann nach Loris Hand. „Sie haben sich erschreckt, Lori! Glauben Sie mir, der Geisteskranke ist ganz harmlos. Er wird noch heute das Haus verlassen. Dann haben Sie Ruhe. Entschuldigen Sie mich ein paar Minuten. Ich werde die Sache gleich in Ordnung bringen –“.
Er eilte hinaus.
Lori stand noch immer regungslos. Sie dachte über des Fürsten Erklärung für diesen Schrei nach. Sie erinnerte sich, daß er ihr vorhin gesagt hatte, die eine Hälfte des Erdgeschosses bewohne der Hausbesitzer, die andere sei an einen Verein vermietet. Sie glaubte nicht an diesen ‚geisteskranken‘ Sohn! Nein, sie vermutete sofort, daß Ulminski sie absichtlich belogen hatte.
Was für ein Haus war dies, in dem am hellen Tage Menschen wie wilde Bestien aufkreischten?! Wo befand sie sich überhaupt – in welcher Straße, in welchem Teile der Millionenstadt Berlin?!
Jähe Angst packte sie da plötzlich.
Fliehen – sofort fliehen! Das war jetzt ihr einziger Gedanke.
So wie sie war, ohne Hut, ohne Mantel, in Nadjas elegantem Kleide huschte sie zur Tür und öffnete sie leise.
Rechter Hand lag die breite, läuferbelegte, reichgeschnitzte Treppe. Als Lori ein paar Stufen hinabgehastet war, hörte sie verschwommene Stimmen. Sie horchte einen Moment, lief weiter.
Nun war sie im Erdgeschoß.
Da – wieder Stimmen.
Dort links war eine Tür nur angelehnt. Lori zog sie auf.
Ah – eine Kellertreppe.
Jetzt wieder die Stimmen. Nun sagte jemand keuchend: „Er hat mich hinterrücks überfallen, als ich ihm das Mittagessen brachte. Er entkam durch die Geheimtür bis in den Keller. Als ich ihn dort endlich packen konnte, schrie er um Hilfe. Aber ich drückte ihm sofort die Hand auf den Mund. Da wurde er vor Aufregung ohnmächtig!“
„Tragen wir ihn in den Kerker zurück,“ erklang jetzt des Fürsten tiefes Organ.
Da besann Lori sich nicht lange, schlich Stufe um Stufe abwärts, huschte durch den Kellergang dorthin, wo hinter einer scharfen Biegung ein strahlendes Licht leuchtete.
Sie lugte um die Ecke.
Beinahe hätte sie selbst jetzt einen gellenden Schrei ausgestoßen.
Denn dort, hell beschienen von einer Karbidlaterne, die ein bartloser, breitschultriger Mann hielt, lag auf dem Fliesenboden ein weißhaariger Greis, dessen Wangen, Kinn und Lippen mit grauen Bartstoppeln bedeckt waren.
Einen Augenblick hatte Lori wirklich geglaubt, ihren Vater vor sich zu haben, hatte, um den Schrei angstvoller Überraschung zu unterdrücken, die Zähne schmerzhaft fest in die Unterlippe vergraben.
Nein – es war nicht ihr Vater. Eine entfernte Ähnlichkeit hatte sie getäuscht. Ihr Vater hatte einen weißgrauen Vollbart getragen, und sein Gesicht war schmaler als das jenes Greises dort gewesen.
Nun hoben Ulminski und der Mann mit der Laterne den Bewußtlosen empor und trugen ihn davon.
Lori blieb hinter ihnen. Ihre Angst, ihr Entschluß zu fliehen – alles war dahin. Sie dachte jetzt nur an Horst Olden, der sie gebeten hatte, ihm zu helfen, die Geheimnisse des Hauses Gudrunstraße Nummer 20 zu enthüllen.
So sah sie denn jetzt, wie der Fürst die Geheimtür öffnete. Der Greis und seine beiden Träger verschwanden dahinter.
Lori wußte genug, stürmte wieder nach oben und blieb im Hinterflur des Erdgeschosses mit jagendem Herzen stehen.
Eine plötzliche Schwäche lähmte ihre Glieder. Der Schreck beim Anblick des Greises wirkte jetzt erst nach.
Dann raffte sie sich auf. Das Entsetzen über das, was sie hier soeben beobachtet hatte, der Gedanke, daß sie hier ihres Lebens nicht sicher sei, trieb sie weiter.
Aber – die Hintertür war verschlossen!
Und dann – dann hörte sie bereits Stimmen und Schritte auf der Kellertreppe.
Also wieder hinauf in ihr Zimmer! Wie gehezt langte sie dort an, sank in den Stuhl am Fenster, brach in ein trockenes Schluchzen aus.
So fand sie der Fürst.
Er konnte nicht ahnen, daß sie Zeugin gewesen, wie er und John Wellesley den ohnmächtigen Greis wieder in den geheimen Kerker zurückgeschafft hatten. Er schrieb ihr Schluchzen den Folgen des Schrecks zu, der auch ihn bei dem rasch erstickten Hilferuf des gebrechlichen Mannes befallen hatte.
Er eilte zu ihr, strich ihr sanft über das Haar und flüsterte zärtlich:
„Lori, so beruhigen Sie sich doch! Der Wahnsinnige wird in einer Stunde das Haus verlassen –“.
Lori vermochte sich jetzt nicht länger zu beherrschen. Dieser Mann, der sie mit heißem Werben verfolgte, suchte sie hier aufs raffinierteste zu täuschen. Das war zu viel für sie, das fachte ihre Empörung derart an, daß sie mit einem Ruck aufsprang.
Polternd fiel hinter ihr der Stuhl um. Aber dieses laute Geräusch wurde noch übertönt von ihrer hellen, vibrierenden Stimme:
„Sie lügen ja!“ rief sie dem Fürsten zu, der trotz ihrer Erregung mit unerschütterlicher Ruhe in vornehm lässiger Haltung dastand. „Sie lügen! Ich war Ihnen in den Keller nachgeeilt! Ich sah den armen Greis am Boden liegen, sah, wie Sie und der andere Mann ihn durch die geheime Tür in das düstere Gemach trugen! Sie lügen – und mir sprechen Sie von Liebe?!“
Sergius Ulminski verbeugte sich leicht. „Bitte, nehmen Sie wieder Platz, Fräulein Battner,“ sagte er in einem Ton, als befände er sich irgendwo in einem Salon einer Dame gegenüber, die Anspruch auf respektvollste Behandlung hatte.
Er hob den Stuhl auf. „Sie sollen die Wahrheit erfahren, Fräulein Battner,“ fügte er ebenso kühl – höflich hinzu.
Lori wurde durch dieses Benehmen des Fürsten vollkommen irre an ihm. Der Vorwurf, sie belogen zu haben, hatte nur die eine Wirkung gehabt, daß er sie jetzt wie eine Fremde behandelte.
Leicht verwirrt nahm Lori Platz. Ein Gefühl der Hilflosigkeit beschlich sie. Sie erkannte, daß sie diesem seltsamen Manne nie gewachsen sein würde. Sie schämte sich bereits, daß sie ihm gegenüber soeben in so wenig beherrschter Art Worte gebraucht hatte, die sie vielleicht wieder als ungerecht zurücknehmen mußte.
Der Fürst lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann mit etwas gedämpfter Stimme:
„Sie nannten den Mann, den Sie im Keller sahen, einen ‚armen‘ Greis, Fräulein Battner. Diese Bezeichnung ‚arm‘, die hier doch so viel wie ‚bedauernswert‘ bedeuten soll, hat dieser Mann nie verdient. Ich will Ihnen ganz kurz schildern, was er an Schändlichkeiten auf sein Gewissen geladen hat. Sein Name spielt dabei keine Rolle. Es gab zwei Brüder, und der Jüngere von beiden, dem von dem großen väterlichen Erbe nur ein kleiner Teil zugefallen wäre, benutzte eine geringe Nervenüberreizung des Älteren und ließ ihn in eine Privatirrenanstalt einsperren und auf Grund der Zeugnisse bestochener Ärzte entmündigen. Der Ältere verlor vor Gram und ohnmächtigem Groll in der Anstalt nun wirklich den Verstand. Seine Krankheit äußerte sich dadurch, daß er sich weder auf seinen Namen noch auf sonst irgend etwas aus seiner Vergangenheit besinnen konnte. Er war völlig zum Kinde geworden. Trotzdem entfloh er eines Tages. Niemand weiß, was aus ihm geworden. Der Jüngere aber erbte so die reichen väterlichen Besitzungen und führte das Leben eines wohlhabenden, angesehenen und scheinbar untadeligen Ehrenmannes. –
Der Unglückliche, den er seelisch gemordet hatte, war mein Freund. Erst unlängst offenbarte mir ein Zufall die ungeheure Schurkerei des jüngeren Bruders. Das Strafgesetz hätte dem Missetäter nichts mehr anhaben können. Seine Verbrechen waren verjährt. Sollte er nun wirklich völlig straffrei ausgehen?! Sollte diese ungeheure Gemeinheit hier auf Erden keinen Richter finden?! Nein, sagte ich mir. Du selbst wirst der Richter sein. –
So ließ ich den inzwischen zum Greise gewordenen Brudermörder heimlich hierher bringen, damit er am eigenen Leibe erfahre, was es heißt, in einer Zelle wie ein wildes Tier eingesperrt zu sein, damit er dieselben Empfindungen durchkoste, die sein bedauernswerter Bruder, ein Unschuldiger, in der Irrenanstalt durchlebt hat. –
Der Greis ist noch nicht lange hier in dem geheimen Gemach. Nur etwa einen Monat will ich ihn gefangen halten. Wenn Sie, Fräulein Battner, auch nur einen Funken Gerechtigkeitsgefühl besitzen, werden Sie zugeben, daß diese Strafe für diesen Schurken noch sehr milde ist. Heute, soeben wollte er nun entfliehen. Seinen Wächter hat er niedergeschlagen, aber der Mann war ihm doch sofort auf den Fersen. Nun wissen Sie alles, Fräulein Battner. Da Sie jedoch an meinen Worten zweifeln könnten, bitte ich Sie, mich hinab in den Keller zu begleitet, wo ich die Geheimtür öffnen und die Zelle des Elenden betreten werde. Dann können Sie, da ich ihm seine Untaten erneut vorhalten will, selbst hören, daß er sie nicht ableugnet, sondern nur wie stets zu beschönigen sucht.“
Er stand auf, verbeugte sich wieder, schritt zur Tür, öffnete sie und sagte mit einladender Handbewegung:
„Bitte, Fräulein Battner, wollen Sie vorangehen.“
Lori erhob sich rasch, streckte abwehrend die Hände aus und flüsterte beschämt:
„Ich glaube Ihnen – auch ohne diese Bestätigung Ihrer Worte durch den Gefangenen.“
„Und wenn ich darauf bestehe, daß Sie mich begleiten, Fräulein Battner? Wenn ich Ihnen recht eindringlich für alle Zeiten beweisen möchte, daß es Lügen gibt, zu denen man sich nur aus Gründen einer berechtigten Verschwiegenheit zwingt!“
„Nein, nein, – ersparen Sie mir diesen Gang in den Keller!“ rief Lori flehend. „Ich schwöre Ihnen, daß ich nie – nie mehr an Ihnen zweifeln werde, mag kommen, was da will!“
Er hatte die Tür schnell wieder zugedrückt. Er hatte gesiegt. Und – wann hätte Sergius Ulminski nicht gesiegt?!
Nur ihm war es gegeben, Wahrheit und Dichtung zu einem allen Argwohn einschläfernden Trank zusammenzubrauen; nur er verstand es, alle Menschen sich untertan zu machen; nur er war wahrhaft groß und bewundernswert im Guten wie im Schlechten.
Er eilte auf Lori zu, kniete vor ihr, nahm ihre Hände und bedeckte sie mit glühenden Küssen.
Lori spürte wieder die ungeheure Macht seiner Persönlichkeit. Wieder war Horst Olden vergessen; wieder überkam es sie wie ein betörender Rausch.
Heiße Röte brannte auf ihren Wangen; ihre Pulse klopften.
Dann hatte Ulminski sich aufgerichtet, hatte Lori an sich gezogen.
Sie wehrte ihm nicht.
Seine Lippen brannten auf ihrem schwellenden Munde; seine Arme preßten sie, daß ihr schier der Atem verging.
Sie duldete alles; sie war das Vöglein, das der Schlangenblick völlig gelähmt hat.
Erst als der Fürst sie verlassen hatte, kam sie wieder zu sich, erkannte sie, daß sie ihm nun ganz verfallen war – mit Seele und Leib!
Mit einem wimmernden Aufschrei sank sie vor ihrem Bett in die Knie, preßte die Fäuste gegen die Ohren, um nicht das zu hören, was ihr Gewissen ihr als Schmähruf entgegengellte:
„Dirne – Dirne – Dirne!“
*
Graf Udo von Brucksal und der Diener Friedrich Blunk waren nach der Überführung der Leiche des alten Grafen nach der Friedhofskapelle in einem Auto nach dem Geschäftspalast der Gloria-Lebensversicherungsgesellschaft gefahren, wo Graf Udo unter Vorlegung der Sterbeurkunde den Tod seines Vaters meldete, der vor anderthalb Jahren sein Leben zugunsten seines einzigen Sohnes mit zwei Millionen versichert hatte. Da er damals als Neunundfünfzigjähriger einen noch sehr frischen Eindruck gemacht hatte und da die ärztliche Untersuchung sehr günstig ausgefallen war, hatte die Gesellschaft nach einigem Zögern die Versicherung wirklich abgeschlossen, freilich gegen eine sehr hohe Jahresprämie.
Nachdem Graf Udo und Blunk das Geschäftsgebäude der Gloria wieder verlassen hatten, begab sich einer der Beamten, der mit dem Grafen soeben verhandelt hatte, zu dem Direktor der Gesellschaft, der die rein juristischen Fragen bearbeitete.
Direktor Guhrwald war ein älterer Herr von einer beneidenswerten körperlichen und geistigen Regsamkeit. Als der Beamte nun vorsichtig andeutete, daß dieser Tod des Grafen Oskar von Brucksal ihm etwas verdächtig vorkäme, ließ Direktor Guhrwald sich sofort alle die Versicherung des alten Grafen betreffenden Papiere vorlegen, las die ärztlichen Zeugnisse und erklärte dann mit jenem listigen Schmunzeln, das er sich im Laufe der Jahre angewöhnt hatte:
„Hm – zwei Millionen sind selbst heute zwei Millionen! Ich werde den Fall im Auge behalten.“
Als er allein in seinem Arbeitszimmer war, ließ er sich mit Doktor Brunns Nummer verbinden. Der Sanitätsrat meldete sich sofort.
„Ich möchte um eine Auskunft unter Diskretion bitten,“ sagte der Direktor. „Sie, Herr Sanitätsrat, haben den Totenschein für den Grafen Oskar von Brucksal heute früh ausgestellt. Haben Sie den Grafen auch behandelt?“
„Ja, seit acht Monaten etwa.“
„Woran litt er?“
„Es war allgemeiner Kräfteverfall infolge andauernder Schlaflosigkeit. Der alte Graf hat mir noch kürzlich anvertraut, daß er nicht einzuschlafen wagte, da er stets von Träumen gequält wurde, die so entsetzlich waren, wie nur das schlafbefangene Hirn sie erzeugen kann. Er sah dauernd Gespenster, und die Träume waren so lebhaft, daß er oft nicht wußte, ob er wirklich nur träume.“
„Und die Todesursache jetzt?“
„Herzlähmung, womit ich gerechnet hatte.“
„Hm – ganz im Vertrauen, Herr Sanitätsrat, der alte Graf war bei uns mit zwei Millionen versichert und zwar erst seit anderthalb Jahren. Wann mögen denn diese Träume begonnen haben?“
„Das mag ein Jahr her sein, soweit ich mich auf des Grafen Äußerungen über die Träume besinne.“
„Danke, Herr Sanitätsrat –“.
Direktor Guhrwald ging jetzt eine Weile in seinem Büro nachdenklich auf und ab.
Dann nahm er abermals den Hörer des Fernsprechers von den Stützen und meldete ein Gespräch nach Danzig an.
Horst Olden war nämlich bereits einige Male für die Gloria erfolgreich tätig gewesen, und der Direktor beabsichtigte, ihm auch diesen Fall zu übertragen.
Als er dann mit Oldens Nummer in Danzig verbunden war, hörte er von dessen Wirtschafterin, daß der berühmte Detektiv in Berlin weile.
„Nur Ihnen, Herr Direktor, teile ich dies mit,“ erklärte Oldens treue Hausbesorgerin. „Herr Olden hat in Berlin eine ganz große Sache vor, so ein Hundertmillionenobjekt. Er wohnt als Master Stuart Jameson Berlin W, Gudrunstraße 20, bei Frau Prutz.“
„Danke vielmals. Schluß –“.
Direktor Guhrwald rieb sich die Hände. ‚Fein, fein!‘ dachte er. ‚Gudrunstraße 20! Sieh da – das ist dasselbe Haus, in dem der Graf Oskar verstorben ist!‘
Gleich darauf fuhr der Direktor nach der Gudrunstraße, um Horst Olden persönlich den neuen Fall zu unterbreiten.
Kommissar Doktor Fink und der dicke Kriminalbeamte Wrobel, der von seinen Kollegen nur das Vollmondgesicht genannt wurde, waren nach Feststellung des Tatbestandes der Ermordung der Baronin Rabinski ins Präsidium zurückgekehrt.
Unterwegs hatte Doktor Fink ganz unvermittelt gesagt:
„Wissen Sie, Wrobel, daß der Philipp Brex unserem Handwerk wirklich untreu geworden sein soll, kann ich gar nicht recht glauben. Auf mich macht Brex’ plötzliches Ausscheiden aus dem Dienst den Eindruck, als ob er auf eigene Faust den Räubern der fünfzig Diamanten nachspüren will.“
Wrobel nickte: „Genau so denke ich. Brex als Privatsekretär eines Kaufmanns ist ein Unding!“
Sie betraten jetzt Finks Dienstzimmer. Hier fanden sie bereits einen Beamten des Polizeigefängnisses vor, der dem Kommissar meldete, die verhaftete Filmschauspielerin Erna Maletta wünsche zu Protokoll vernommen zu werden.
Fink ließ sie sofort vorführen, bot ihr einen Stuhl an und meinte mit jener vertraulichen Freundlichkeit, die er für alle Angeschuldigten stets bereit hatte:
„Na, Sie wollen ein Geständnis ablegen, Fräulein Maletta? Das ist vernünftig von Ihnen. Nicht wahr, Sie haben den Baron Hektor Rabinski im Affekt mit der gußeisernen Ofenkrücke niedergeschlagen?“
Erna Maletta, totenblaß und mit tiefen Schatten unter den Augen, perlten ein paar Tränen über die Wangen.
„Ich – ich hatte ihn ja gern! Wie sollte ich ihn da wohl töten?!“ schluchzte sie. „Nein, ich wollte etwas anderes zu Protokoll geben, das vielleicht auf die Spur des wahren Mörders weist.“
„Hm – erzählen Sie!“ sagte Doktor Fink sehr gedehnt und dachte: ‚Nun hat sie sich in der Zelle irgend etwas zurecht gelegt, womit sie uns aufs Glatteis führen will!‘
„Mir ist diese meine Beobachtung, man kann es auch ein Abenteuer nennen, leider erst jetzt eingefallen,“ begann die Filmdiva, indem sie Fink offen anschaute. „Sie wissen, daß gerade ich viel in Sensationsstücken auftrete, Herr Kommissar. Ich muß daher in jedem Sport firm sein. Reiten, schwimmen, klettern, schießen, radeln – alles das verlangt man von mir – und noch mehr. – Vor etwa zehn Tagen war’s nun, als ich mit Hektor spät nachts im Mondschein auf dem Balkon meines Schlafzimmers stand. Ich hatte mich über das Geländer gelehnt und einen meiner Ringe spielend abgezogen. Plötzlich entglitt er mir. Ich griff noch schnell zu, gab dem Ringe jedoch nur noch einen Stoß, der ihn auf den Balkon unter dem meinen schleuderte, wo er auf einen dort stehenden Palmenkübel fiel. Hektor erbot sich sofort, hinabzuklettern und den Ring zu holen. Ich suchte ein Stück Waschleine hervor, und an dieser stieg Hektor dann auf den unteren Balkon hinab, der zu der Wohnung des Grafen Brucksal gehört.
Als Hektor den Balkon erreicht hatte, wollte ich ihm beweisen, daß ich noch gewandter klettern könne als er, und glitt gleichfalls an der Leine abwärts. So standen wir nun beide auf dem fremden Balkon. Das Zimmer, zu dem er gehört, ist des jungen Grafen Schlafgemach. Im Zimmer war es hell. Da die Vorhänge der Balkonglastür nicht ganz dicht schlossen, konnten wir folgendes beobachten: Der Diener des Grafen, Friedrich Blunk, saß neben einem Frisiertisch im Sessel, rauchte eine Zigarre und sprach mit einem andern Manne, der vor dem Frisiertisch Platz genommen hatte und sich von allen Seiten in dem dreiteiligen Spiegel beschaute. Dieser Mann nun glich völlig dem alten Herrn Battner, der über mir in der Mansarde mit seiner Tochter wohnte.“
„Wem?!“ rief Fink ganz sprachlos vor Staunen. „Dem Albert Battner?!“
„Ja. Ich habe Herrn Battner einige Male gesehen, wenn er auch sehr selten ausging und meist nur abends. – Ich merke, Sie glauben mir nicht, Herr Kommissar. Und doch ist dies erst die Einleitung zu weit sonderbareren Geschehnissen, die man ohne Übertreibung rätselhaft nennen kann. Wir, Hektor und ich, hörten dann, wie der Diener zu ‚Herrn Battner‘ sagte: ‚Mein Junge, er wird wieder gehörig Angst schwitzen, der Alte! Jeder dieser Schweißtropfen bringt ihn dem Tode näher – oder besser dem Scheintode!‘ Dann lachte er so recht satanisch auf, und dann, Herr Kommissar, kam für Hektor und mich das Unerklärlichste –“.
„Ah – es war gar nicht Battner?“ fragte Fink rasch.
„Nein, es war nur ein Mann, der sich als Battner aufs glänzendste herausgeputzt hatte; es war – Udo von Brucksal, der Sohn des Grafen –“.
In dem Dienstzimmer Kommissar Finks war es nach Erna Malettas seltsamer Behauptung, daß Graf Udo in seinem Schlafzimmer vor dem Frisiertisch in der Maske Albert Battners gesessen hätte, ein paar Minuten totenstill geworden.
Dann beugte Fink sich weit über den Tisch und meinte: „Wie wußten Sie denn, daß der so Maskierte Graf Udo war?“
„Weil ich seine Stimme erkannte. Auch Hektor von Rabinski, der ja dicht neben mir stand, hatte sie sofort erkannt. Graf Udo sagte nämlich zu dem alten Diener: ‚Ja, und der Scheintod ist Millionen wert!‘ – Hierauf erhob Graf Udo sich, und Blunk – hüllte ihn in ein Bettlaken, das er mit Stecknadeln vorn zusteckte.“
„Wie?!“ rief Fink, „und das sollen wir glauben?!“
Die wegen der Ermordung ihres Geliebten verhaftete Filmdiva zuckte mit einem trostlosen Seufzer die Achseln: „Gott im Himmel ist mein Zeuge, daß sich alles so zugetragen hat!“
Fink schaute sie fest an. „Erzählen Sie weiter. Ihre Angaben werden sich nachprüfen lassen,“ meinte er nicht gerade unfreundlich.
„Ein böser Zufall wollte es nun,“ fuhr die Filmdiva lebhafter fort, „daß Hektor eine ungeschickte Bewegung machte und mit der Hand gegen die Scheibe der Tür stieß. Auf dies Geräusch hin war Blunk mit zwei Sätzen an der Tür, riß sie auf und – hielt uns einen Revolver entgegen. Hektor entschuldigte sich, weil wir auf den fremden Balkon geklettert waren, zeigte Blunk den Ring und – log dann –“.
„Was log er?“ fragte Fink gespannt.
„Daß wir soeben erst auf den Balkon gelangt seien. Doch Blunk in seiner Wut zischte: ‚Sie haben gelauscht! Sie haben spioniert! Am liebsten würde ich Sie beide –‘ – er führte den Satz nicht zu Ende. Aber es sollte wohl heißen: ‚Am liebsten würde ich Sie niederknallen!‘ – Dann erschien auch Graf Udo auf dem Balkon. Er hatte die weiße Perücke und den grauen Bart rasch abgerissen und das Laken weggeworfen. Er war überhöflich zu uns und erteilte Blunk einen scharfen Verweis, weil Blunk so grob zu uns gewesen war. Er ließ uns dann durch sein Schlafzimmer und über die Vordertreppe in meine Wohnung zurückkehren. Jedenfalls sahen wir nun, daß Graf Udo wirklich der Maskierte gewesen, denn es hingen ihm noch kleine Teile des falschen angeklebten Bartes an der einen Wange.“
„Und – hatte dies Abenteuer noch ein Nachspiel?“ meinte Fink interessiert.
„Ja, noch in derselben Nacht. Hektor und ich waren in meinen Salon gegangen und saßen dort auf dem Diwan, besprachen das Erlebte und hörten plötzlich im Flur vor der Salontür die Schwelle knarren, die etwas lose ist, und, wenn man sie durch das Körpergewicht beim Hinauftreten belastet, sehr laut knarrt. Hektor sprang sofort zur Tür, öffnete sie und schaltete im Flur das Licht an. Dann lief er auf den Balkon meines Schlafzimmers und sah hier, daß die Leine, die wir noch nicht losgebunden hatten, hin und her pendelte. Hektor behauptete, entweder Blunk oder Graf Udo wäre vor der Salontür gewesen, um uns zu belauschen und festzustellen, ob wir allzu viel unten auf dem Balkon gesehen hätten.“
Fink schaute Wrobel fragend an. Das Vollmondgesicht nickte und meinte: „Ich glaube, Fräulein Maletta lügt nicht. Ich werde sofort in ihre Wohnung eilen und probieren, ob die Schwelle knarrt. Diese Einzelheit kann Fräulein Maletta kaum so schnell ihrer Schilderung eingefügt haben, wenn – na, es wird sich ja alles herausstellen.“
Wrobel machte sich sehr bald nach der Gudrunstraße auf den Weg.
*
Jane Wellesley war nur einen Moment beim Anblick des Polizeiwachtmeisters außer Fassung geraten. Sie, die ein überaus abenteuerliches Leben hinter sich hatte, war ja kein Durchschnittsweib mit schwachen Nerven, die bei jeder ernsten Gelegenheit versagten. Nein – blitzschnell war ihr klar geworden, daß irgend eine Verkettung unseliger Zufälle sie jetzt schon der Polizei in die Hände spielte. Vielleicht hatte die Wirtin gegen sie Verdacht geschöpft, weil sie den Hut und den Schleier aufbehalten hatte; vielleicht war diese Frau es gewesen, die den Beamten herbeigerufen hatte.
„Ich muß Sie mit auf die Polizeiwache nehmen,“ sagte der Wachtmeister, nachdem er allein eingetreten war und die Tür rasch ins Schloß gedrückt hatte. „Sie tragen eine Verkleidung, und Sie haben soeben zwei möblierte Zimmer in zwei verschiedenen Häusern gemietet. Können Sie sich ausweisen? Wer sind Sie?“
„Das werde ich zu Protokoll geben,“ erklärte Jane mit unnatürlicher Ruhe.
Der Beamte schloß das Zimmer von innen ab und steckte den Schlüssel ein. Es war ein noch junger Mann mit gutmütigem Gesicht.
„Setzen Sie sich dorthin,“ befahl er und zeigte auf das Sofa. „Ich muß hier erst mal das Zimmer durchsuchen.“
So fand er denn auch den angefangenen Brief, überflog das Geschriebene und legte den Briefbogen in Janes Reisetasche.
„Falls Sie nicht neben mir her durch die Straßen gehen wollen,“ meinte er nun, „können wir auf Ihre Kosten ein Auto nehmen.“
Jane nickte nur.
Dann bat sie: „Lassen Sie mich nur noch einmal an das Fenster treten. Ich möchte mir draußen – etwas ansehen.“
Sie log nicht. Sie wollte wirklich mit einem letzten Blick Abschied nehmen von dem Indra-Tempel, in dessen Räumen sie einen kurzen, leidenschaftsglühenden Glückstraum durchträumt hatte. Sie wußte ja, daß sie jetzt für viele Jahre ins Gefängnis wandern würde, denn sie war ja genau so schuldig wie all die anderen Brüder der Indra-Loge, hatte sogar bei den verbrecherischen Unternehmungen häufig als Weib die Gelegenheit zu einem Raubzug mit mehr Erfolg ausspioniert als die Männer.
„Nein,“ erklärte der Beamte kurz. „Das kann ich mich gestatten.“
Er ergriff ihre Reisetasche, schloß die Tür auf und winkte Jane. „Gehen Sie mir voran!“
Die Wirtin stand in ihrer Flurtür und rief Jane höhnisch nach: „So ein Frauenzimmer! Tut, als ob sie ’ne Gräfin wäre, redet kaum ein Wort mit einem! Nette Pflanze!“
Jane trat auf die Straße hinaus.
„Ich werde dicht hinter Ihnen bleiben,“ flüsterte der Beamte. „Ah – dort kommt ein Auto. Wollen Sie also fahren?“
„Ja – bitte.“
Das Auto hielt. Eine Anzahl Kinder umdrängte sie und den Uniformierten bereits.
Sie riß die Tür auf – stutzte.
Im Auto saßen zwei ältere Herren in Zivil.
Da gab der Beamte ihr einen leichten Stoß. Die beiden Herren packten sie, zogen sie hinein, und das Auto jagte davon.
Der Wachtmeister hatte noch rasch die Reisetasche in den Kraftwagen geworfen und war dann weiter gegangen.
An der Ecke der Basedow- und der nächsten Querstraße tauchte jetzt ein anderer Beamter der Schutzpolizei auf. Der Wachtmeister machte sofort kehrt, schritt auf der Straßenseite, wo die Gärtnerei Thomas Birks und der Indra-Tempel lagen, entlang und betrat die Gärtnerei, verschwand in einem der Gewächshäuser, das scheinbar nur mit Gerümpel gefüllt war, und öffnete die Tür zu einem kleinen Gelaß, wo er nun eine Petroleumlampe anzündete und schnell die Uniform abwarf. In kurzem hatte er sich in einen elegant gekleideten, monokelbewaffneten jüngeren Herrn verwandelt, der dann mit einem in Seidenpapier gehüllten Strauß die Gärtnerei wieder verließ – ganz so, als hätte er hier nur Blumen gekauft. Auf der Straße schaute er sich nach dem echten Polizeiwachtmeister um, vor dem er vorhin so hastig hatte umkehren müssen. Der Beamte schien jedoch keinerlei Argwohn geschöpft zu haben und war die Basedowstraße weiter hinabgeschritten.
Der junge Geck bestieg gleich darauf die Straßenbahn und kehrte nach seiner Wohnung in der Augsburgerstraße 123 zurück, wo er zwei möblierte Zimmer mit Flureingang innehatte. An seiner Tür hing eine Visitenkarte:
Dr. phil. Hugo Lambert
Schriftsteller
Lambert war ein Bruder der Indra-Loge, und zwar gehörte er dem sogenannten ‚inneren Kreise‘ an, dessen Mitglieder an den Logensitzungen stets maskiert teilnahmen und den Männern des ‚äußeren Kreises‘ nur zum Teil vom Ansehen bekannt waren, deshalb auch von dem ‚Meister‘ nur zu ganz besonderen Aufträgen benutzt wurden. –
Jane Wellesley war zwischen die beiden Herren auf den Rücksitz des Autos gesunken.
Sie, die Starke, jeder Situation Gewachsene, glich jetzt einer Sterbenden. Halb ohnmächtig saß sie da, während ihr Kopf haltlos beim Rütteln des Autos hin und her pendelte. Ein lähmendes Gefühl eisiger Furcht hatte ihren Herzschlag stocken lassen.
Sie wußte nun, daß sie sich in der Gewalt der Brüder der Indra-Loge befand. Sie kannte ihr Geschick. Sie hatte Verrat begangen. Der angefangene Brief zeugte gegen sie.
Dann sagte auch schon Gunnar Börtgen hart und drohend: „Beim geringsten Laut stoße ich zu, elende Verräterin!“
Jane schloß die Augen. Ein würgendes Gefühl der Übelkeit, hervorgerufen durch diese entsetzliche Todesangst und das Bewußtsein, daß sie verloren war, machte sie unfähig, auch nur ein Glied zu rühren.
Das Auto kehrte auf einem kurzen Umweg nach der Basedowstraße zurück, glitt in die Einfahrt des Gartens vor dem Tempel hinein und hielt dicht an der Hintertür.
Eine Decke flog Jane über den Kopf. Süßliche Chloroformdünste drangen ihr in die Nase.
Da – nochmals erwachte in ihr der Trieb zum Leben.
Jane Wellesley fand sich selbst wieder, hatte im Moment alle Angst von sich abgeschüttelt, hatte im Bruchteil einer Sekunde einen Entschluß gefaßt, hielt den Atem an, um nicht betäubt zu werden, und spielte dann die langsam in Bewußtlosigkeit Sinkende mit solchem Geschick, daß Gunnar Börtgen und der Italiener Cesare Chivarri sich täuschen ließen. Sie glaubten eine Ohnmächtige in einen Raum des Kellers einzuschließen und hatten doch nur eine glänzende Komödiantin, deren Geist bereits an Befreiungsplänen arbeitete, auf das in dem Gelaß stehende eiserne Feldbett gelegt.
Die Riegel der schweren, dicken Balkentür wurden von draußen vorgeschoben.
Jane hörte alles. Sie hatte die Augen bereits wieder geöffnet. Ringsum tiefste Dunkelheit. Sie kannte diesen Raum. Sie war ja nicht die erste, die hier untergebracht wurde, bis die Loge sich zum Urteilsspruch versammelte.
Sie wußte, daß sie jetzt eine Stunde lang sich selbst überlassen blieb, eben bis zum Aufhören des Chloroformrausches. Dann aber würde sie unausgesetzt bewacht werden.
In dieser Stunde also mußte sie frei sein. Und – sie würde sich befreien! Was ihr an Körperkraft fehlte, mußte ihr scharfer, reger Verstand ergänzen.
Dort links die Mauer – das war die Verbindungswand nach der Geheimzelle hin, in der jener Greis seit heute morgen gefangen gehalten wurde.
Wenn es ihr gelang, diese Mauer zu durchlöchern und in die Zelle nebenan zu kriechen, würde sie gemeinsam mit dem alten Manne das Weite suchen, denn sie kannte ja die Art und Weise, wie die Geheimtür der Zelle sich von innen öffnen ließ.
Sie erhob sich leise von dem eisernen Feldbett. Sie begann dessen Teile zu betasten. Da war die eiserne Stütze, die den Kopfteil des Bettes hielt. Dieser gut sechzig Zentimeter lange Metallstab war nur oben mit einem Gelenk befestigt und widerstand ihr nicht lange. Nachdem sie ihn mehrmals hin und her gebogen hatte, brach er dicht unter dem Gelenk ab.
Dann kniete sie an der Mauer, befühlte die Fugen, setzte den Stab an, um den Mörtel herauszukratzen.
Aber die um das Eisenstück gekrampften Hände des von Rachegedanken zu höchster Energieentfaltung aufgepeitschten Weibes sanken wieder untätig herab.
An ihre Ohren war ein eigenartiges Geräusch gedrungen – von jenseits der Mauer her – etwas weiter nach rechts hin.
Jane lauschte mit gierigen Sinnen.
Sollte es möglich sein, sollte der Greis drüben trotz seiner Hinfälligkeit noch den Unternehmungsgeist aufgebracht haben, dasselbe zu planen wie sie?!
Sie kniete minutenlang ohne jede Bewegung.
Dann erhob sie sich.
Um ihre Lippen spielte ein Lächeln wilden Triumphes.
*
In Horst Oldens Arbeitszimmer saßen jetzt der kleine Philipp Brex, Heinz Römer und Olden in lebhafter Unterhaltung um den Sofatisch herum.
Brex hatte soeben die Photographie der Frau mit der Halbmaske, also das sonderbare Bild der Baronin Xenia Rabinski, vor Heinz Römer hingelegt und gesagt:
„Es unterliegt nach alledem keinem Zweifel mehr, daß die Baronin tatsächlich Ihre Mutter ist oder – war, denn sie ist ja tot. Was Sie über ihren Selbstmord uns mitteilten, lieber Herr Römer, möchte ich dahin ergänzen, daß ich behaupte, die Baronin hat nicht lediglich in einem Anfall aufs höchste gesteigerter Gewissensqualen zum Dolche gegriffen. Nein, da muß doch noch etwas anderes mitspielen, ein anderes, stärkeres Motiv zu diesem Selbstmord, und zwar Angst – eine herzzerreißende Angst vor diesem Fürsten Sergius Ulminski, dessen Person durch Oldens Erlebnisse in dem geheimen Sarggemach sowie im Fahrstuhlschacht und den Brief der Prinzessin so stark belastet erscheint, daß man ihn jetzt schon als – Verbrecher bezeichnen kann. Was Sie, Herr Römer, von dem Gespräch zwischen der Baronin und dem Fürsten erlauscht haben, beweist weiter, daß dieser Ulminski über Verbündete verfügt, die er zu jeder Mission gebrauchen kann. So hat er in die Spielhölle der Baronin einen Mann gesandt, der Belastungsmaterial gegen die Rabinski sammeln sollte, dem dies auch gelang und der dem Fürsten somit die Waffen in die Hand gab, die Baronin jeder Zeit vernichten zu können, die Kenntnis von dem präparierten Wein und der Art, wie die Gäste dort ausgeplündert wurden. –
Ich bin daher der Ansicht, daß nicht Gewissensbisse, sondern Angst vor dem Fürsten diesen Selbstmord herbeiführten.“
Horst Olden nickte Brex anerkennend zu.
„Sie haben soeben genau das geäußert, was ich über diesen Selbstmord annehme. – Das alles verhilft uns leider noch immer nicht auf Lori Battners Spur. Meine arme, tapfere Braut, die dem Fürsten folgte, um mir zu nützen, müssen wir unbedingt sofort suchen. Wir müssen herausbringen, wohin Ulminski sie geschafft hat. Wir –“.
Draußen hatte die Flurglocke angeschlagen.
Olden erhob sich rasch, flüsterte: „Ich werde nachsehen, wer Einlaß begehrt.“
Er ging hinaus, schaute durch das Guckloch der Flurtür und erkannte sofort den Direktor Guhrwald von der Gloria-Gesellschaft, öffnete und führte ihn in Frau Prutz’ Wohnzimmer, wo Guhrwald ihm dann sein Anliegen vortrug.
Olden hörte schweigend zu. Sein Hirn arbeitete mit Hochdruck. Er vergegenwärtigte sich die Ereignisse der letzten Nacht und dieser soeben verflossenen Tagesstunden; er sah jetzt völlig klar, was einige Einzelheiten dieser Vorgänge betraf.
„Herr Direktor, ich übernehme den Fall,“ erklärte er, als Guhrwald mit seinen Mitteilungen fertig war. „Ich kann Ihnen jetzt schon versprechen, daß ich Erfolg haben werde. Meine besondere Aufmerksamkeit werde ich den Träumen des alten Grafen zuwenden, der durch allerlei Spukgestalten dauernd um den Nachtschlaf gebracht wurde.“
Guhrwald verabschiedete sich dann. „Ich weiß, was ich von Ihnen zu halten habe, lieber Olden,“ sagte er noch zuletzt. „Genügt Ihnen ein Honorar von hunderttausend Mark?“
„Gewiß, Herr Direktor –“.
An der Flurtür drückten sie sich nochmals die Hand.
In demselben Moment kam der dicke Kriminalbeamte Wrobel die Treppe empor. Guhrwald beachtete ihn nicht und verließ sehr befriedigt das Haus der Geheimnisse.
Horst Olden stand hinter der Flurtür und beobachtete Wrobel, den er in der Nacht bereits im Flur der Maletta mehrmals heimlich gemustert hatte, durch das Guckloch.
Wrobel schloß die Flurtür der Maletta leise auf und verschwand in der jetzt leeren, polizeilich gesperrten Wohnung.
Nachdem er eine Weile lauschend stehen geblieben war, schlich er auf Fußspitzen den Flur entlang bis zur Salontür.
Hier im Salon, besann er sich. Hatte Philipp Brex nicht in der großen Vase den Drohbrief gefunden, der die Maletta so schwer belastete.
Und jetzt – jetzt wollte er nachprüfen, ob die Schwelle der Salontür wirklich so laut knarrte, wie die Filmdiva es behauptet hatte.
Er setzte den rechten Fuß auf die Schwelle, verlegte das ganze Körpergewicht auf das rechte Bein.
Ah – die Maletta hatte nicht gelogen! Die Schwelle knarrte – und wie knarrte sie! Dieses Geräusch mußte im Salon sehr deutlich zu hören sein.
Wrobels Gedanken bekamen plötzlich eine andere Richtung.
Die Salontür hatte Milchglasscheiben. Und über diese durch das Tageslicht hellen Scheiben war blitzschnell ein Schatten geglitten – der Schatten eines Mannes – eines Mannes mit weicher, flacher Mütze.
Wrobel war erschrocken zurückgefahren.
Dann aber hatte er schon den Türdrücker in der Hand, stieß die Tür auf, sprang in den Salon hinein und schaute sich um.
Nichts – leer.
Aber dort – die Tür nach dem Musikzimmer war nur angelehnt.
Wrobel hatte die Dienstpistole hervorgeholt, entsicherte sie und eilte in das Musikzimmer, dann weiter in das Eßzimmer und schließlich in Erna Malettas mit so raffiniertem Luxus ausgestattetes Schlafgemach.
Der schwüle, süßliche Parfümduft lag noch immer in der Luft. Dort der Balkon, auf dem Hektor von Rabinski ermordet worden war. – Die Balkontür war geschlossen. Wrobel stellte fest, daß der Schlüssel von innen steckte und daß zweimal umgeschlossen war. Er zog ihn ab, lief zur Flurtür, schloß auch diese Tür zu und steckte beide Schlüssel in die Tasche.
So – nun war dem Eindringling jeder Ausweg versperrt; nun wollte Wrobel in Ruhe die Wohnung durchsuchen.
Wrobel prallte vor Schreck ein Stück zurück, als nun plötzlich gerade über ihm die elektrische Glocke schrill anschlug.
Er holte tief Atem, fluchte leise, sah durch das Guckloch.
Draußen stand – ja, wahrhaftig, das war ja Philipp Brex! Der kam wie gerufen!
Wrobel öffnete rasch.
„Brex, Sie können mir helfen, hier einen fremden Kerl aufzustöbern,“ flüsterte er hastig, zog Brex in den Flur hinein und schloß wieder ab. „Ich habe nur den Schatten von dem Menschen gesehen,“ fügte er hinzu. „Auf den Milchglasscheiben der Salontür. Der Kerl floh aus dem Salon nach rechts. Er hat sich irgendwo versteckt.“
Der kleine Brex, den Horst Olden hierher geschickt hatte, damit er feststellte, was Wrobel vorhätte, nickte. „Machen wir, Wrobel, machen wir! Ich wette, der Mensch wird unter das Bett gekrochen sein!“ Er zeigte auf die offene Tür des Schlafzimmers. „Also vorwärts! In dieser verteufelten Bude von Haus passiert doch jede Stunde was Neues!“
Er ging voran ins Schlafzimmer, schaute unter das Bett.
„Nichts!“ brummte er und richtete sich wieder auf.
Er blickte hierhin und dorthin. Dann überflog ein leises Lächeln sein faltiges Clownsgesicht.
Seine Hand hob sich, schoß auf die zerwühlten Kissen zu, packte die rosaseidene, am Fußende des Bettes bergartig hochgetürmte Steppdecke und – riß sie mit einem Ruck zur Seite.
Da lag zusammengerollt wie ein frierender Hund ein schäbig gekleideter, stoppelbärtiger Mensch, der jetzt langsam sich aufrecht setzte und Brex und Wrobel blöde anstierte.
„Wer sind Sie? Was treiben Sie hier?“ fragte Wrobel scharfen Tones.
Der Strolch begann mit den Händen und Fingern allerlei Zeichen zu machen.
„Schwindel!“ knurrte Wrobel. „Er spielt den Taubstummen!“
Brex machte plötzlich eine Bewegung höchster Überraschung. Dann hielt er Wrobel einen amtlichen Ausweis hin, der auf den Namen des Landsturmmannes Herbert Blunk lautete.
Und der kleine Brex dachte sofort an Friedrich Blunk, den alten Diener des Grafen von Brucksal, den Horst Olden vorhin als den einen der beiden Diebe der Leiche Albert Battners bezeichnet hatte.
*
Der Kriminalbeamte Wrobel, dem Philipp Brex soeben eines der Papiere aus der Brieftasche des im Schlafzimmer der Filmdiva Erna Maletta festgenommenen Strolches zu lesen gegeben hatte, besann sich nun seinerseits, als er auf diesem Papier den Namen Herbert Blunk fand, auf die Schilderung der verhafteten Filmschauspielerin über die seltsame Maskerade des Grafen Udo von Brucksal, der als eingeweihter Zuschauer der Diener Friedrich Blunk beigewohnt haben sollte.
Friedrich Blunk ein Bewohner der dritten Etage! Und nun ein Herbert Blunk hier im selben Hause eine Treppe höher als ertappter Eindringling in einer fremden Wohnung!
Wrobel warf Brex einen fragenden Blick zu. Und dieser Blick schien gleichzeitig zu bitten ‚Nimm du das weitere in die Hand!‘ –
Brex tat die Papiere in die Tasche zurück und meinte: „Sie wissen doch, Wrobel, daß es hier im Hause einen Friedrich Blunk gibt?“
Wrobel brachte seinen Mund dicht an des Kleinen Ohr und flüsterte: „Ja, das weiß ich. Die Maletta hat vor einer halben Stunde eine sehr merkwürdige Geschichte zu Protokoll gegeben. Der Graf Udo soll sich in seinem Schlafzimmer als Albert Battner maskiert haben, und Friedrich Blunk legte ihm dann noch ein weißes Laken um. Graf Udo, den die Maletta und der Baron vom Balkon unten beobachteten, trug eine weiße Männerperücke mit nach hinten gestrichenem Haar und falschen, grauen Vollbart. Die Maletta erklärte, er habe wirklich Ähnlichkeit mit Battner gehabt.“
Brex’ schlaues Gesicht veränderte sich plötzlich. Ein nachdenklicher Zug verdrängte den Ausdruck aufmerksamster Spannung.
„Bleiben Sie hier, Wrobel.“ sagte er dann hastig. „Ich möchte nur etwas mit meinem neuen Brotherrn, dem Engländer Jameson, besprechen. Geben Sie mir den Flurschlüssel, damit ich hinauskann. In ein paar Minuten bin ich wieder hier.“
Wrobel wurde stutzig. „Mit Jameson etwas besprechen, Brex?! Was denn?“ fragte er leise.
„Entweder Sie tun, was ich vorschlage, oder ich lasse Sie hier mit dem Strolch allein,“ meinte Brex energisch. „Her mit dem Schlüssel!“
Wrobel gab nach. Der kleine Brex eilte in die Wohnung der Frau Prutz zurück. Ganz atemlos berichtete er Olden und Heinz Römer, was Wrobel ihm über die Aussage der Maletta mitgeteilt hatte.
„Wir dürfen nicht länger der Polizei all das vorenthalten, was wir über die Bewohner der dritten und zweiten Etage wissen,“ sagte er zum Schluß. „Herr Olden, ich denke, es ist am besten, wir weihen Wrobel ein. Ich werde ihn und den Strolch herüberholen. Dann können Sie versuchen, den Mann zum Reden zu bringen. Er muß doch zu den vielfachen Geheimnissen dieses Hauses irgendwie in Beziehung stehen. Weshalb ist er denn in die Wohnung der Maletta eingedrungen?“
Olden ging erregt im Zimmer auf und ab. Dann machte er vor Brex halt.
„Sie haben recht, lieber Brex,“ sagte er schnell. „Ja – das Netz um diese Leute, die hier unter hochtönenden Namen leben und die so dunkle Wege wandeln, zieht sich immer enger zusammen. Gut, ich bin einverstanden, daß wir zunächst Wrobel ins Vertrauen ziehen und durch ihn Kommissar Fink alles vortragen lassen. Vielleicht gelingt es uns noch heute, diese Verbrecher einzukreisen und zu verhaften. Dies muß so plötzlich geschehen, daß einer den andern nicht mehr warnen kann. Eine Bedingung werde ich Wrobel jedoch stellen. Die Polizei darf erst dann zupacken, wenn wir wissen, wo Lori sich befindet!“ –
Brex ging wieder in die Wohnung der Maletta hinüber, und gleich darauf saßen auch der angeblich taubstumme Strolch und der dicke Wrobel in Oldens Arbeitszimmer, wo der Danziger Detektiv nun zunächst den Inhalt der Brieftasche des Verhafteten genau prüfte.
*
Fürst Ulminski war in seiner Wohnung wieder angelangt. Bevor er jetzt Nadja mitteilte, daß sie für einige Zeit Lori Battner Gesellschaft leisten solle, wollte er noch mit dem Grafen Udo einiges besprechen.
Er schloß sich in sein Schlafzimmer ein, öffnete das Versteck unter den Dielen und nahm drei schwere Pakete heraus. Mit diesen Paketen begab er sich nach oben in die dritte Etage.
Er fand den Grafen Udo und Friedrich Blunk im Sterbezimmer des alten Grafen vor, wo die beiden in dem Ecksofa gerade ein Männernachthemd einfachster Art verbrannten. Sie hatten es in Zeitungspapier gewickelt und die Feuerung mit zerknülltem Papier gefüllt, das nun zischend und knisternd in Flammen aufging.
Der Fürst blieb vor dem offenen Ofen stehen und fragte, indem er etwas zerstreut in die Glut blickte: „Wie war’s bei der Gloria?“
„Alles nach Wunsch!“ grinste Udo, indem er sein Totenkopfgesicht ironisch verzog. „Die Leute dort sind viel zu harmlos, um etwas zu wittern!“
Blunk, der eine Zigarre im Mundwinkel hatte, meinte jedoch mit einer fast geringschätzigen Handbewegung nach Udo hin:
„Er hält alle Leute für harmlos! Bevor wir nicht wissen, wo die Lori Battner steckt, werde ich die Unruhe nicht los, ob sich über unseren Häuptern nicht ein Gewitter zusammenballt. – Meister, wir müssen sie finden!“ wandte er sich an den Fürsten. „Sie ist ein Mädchen, das Energie besitzt. Sie kann uns gefährlich werden.“
Ulminskis Antlitz wurde jetzt wie von einem inneren Leuchten verklärt. Er, der Lori Battner so mit jeder Faser seines Herzens liebte, er wußte ja am besten, daß Lori weder ihm noch den anderen, die er durch einen Wink regierte, Gefahr bringen konnte.
„Sie – ist gefunden,“ sagte er leise und starrte weiter in die flackernde Glut des Ofens. „Gefunden und in Sicherheit. Ich habe sie in die Loge geschafft.“
Udo stieß einen vielsagenden Pfiff aus. „Ah – wohl die Nachfolgerin Janes, wie?!“ sagte er mit einem lüsternen Spitzen der Lippen.
Der Fürst drehte den Kopf und blickte Udo finster an.
„Unterlassen Sie diese Bemerkungen! Lori Battner wird meine rechtmäßige Gattin, sobald wir in England sind!“
Udo lachte auf. „Meister, ich warne Sie! Es ist stets verkehrt, sein Herz an einen Unterrock zu hängen! Selbst Simson ging am Weibe zu Grunde, ließ sich die Haare abschneiden und verlor seine Kraft. Über diese Dinge bin ich hinaus.“
Ulminski reckte sich höher auf. „Ihr Ton mir gegenüber behagt mir längst nicht mehr!“ sagte er mit erhobener Stimme. „Sie vergessen, daß Sie allen Grund haben, bescheiden aufzutreten. Diese Geschichte mit der Gloria geschah ohne mein Wissen. Nun haben wir die Polizei hier im Hause, weil Sie den Baron Rabinski allzu kräftig niederschlugen!“
Udo von Brucksal duckte sich etwas scheu zusammen.
„Der Brief der Maletta, den ich durch die Baronin stehlen ließ,“ fuhr der Fürst fort, „sollte ebenfalls anderen Zwecken dienen. Sie haben davon einen unerlaubten Gebrauch gemacht. Die Loge bestraft auch Eigenmächtigkeiten, wie Ihnen bekannt sein dürfte. Wenn ich bei der Baronin nachher so tat, als hätte ich den Verdacht auf die Maletta lenken wollen, so hatte ich dabei nur etwas anderes im Auge, einen Schachzug, der durch den Tod der Baronin allerdings zwecklos geworden ist.“
Udo und Blunk wußten noch nichts von dem jähen Ende Xenia Rabinskis. Ihre Fragen beantwortete Ulminski jetzt recht kurz. Die finsteren Falten von seiner Stirn schwanden nicht. Udos freche Bemerkung über Janes Nachfolgerin hatte sein Blut in Wallung gebracht.
Dann wandte er sich an Blunk.
„Ich habe für Sie einen Auftrag,“ sagte er in jenem bestimmten Ton, der, ohne befehlend zu sein, doch niemals Widerspruch duldete. „Sie werden diese drei Pakete zu Nummer Zwei in die Wohnung bringen, der sie in die Schatzkammer schafft. Ich habe Börtgen soeben angerufen. Sie finden ihn daheim.“ Daß er auch mit Doktor Lamberg telephoniert hatte, verschwieg er. „Nummer Zwei und Eins sind gerade von einer besonderen Mission zurückgekehrt. Jane sollte heute nach Liverpool reisen, verließ den Zug jedoch in Potsdam und wollte uns bei der Polizei denunzieren. Den Brief an die Behörde hatte sie bereits begonnen. Er ist beschlagnahmt worden, und Jane wird abends um elf Uhr abgeurteilt.“ Er sprach auch dies mit seiner leidenschaftslosen Stimme wie irgend eine gleichgültige Redensart hin, obwohl es sich dabei um Sein oder Nichtsein handelte, eines Weibes, dessen Liebesglut er selbst entflammt hatte. Seine Blicke ruhten dabei scheinbar gleichmütig auf Udo von Brucksals noch fahler gewordenem Gesicht. Udo deutete diese Blicke richtig. Sie waren eine ernste Warnung, nie wieder den Logeneid zu verletzen!
Nach kurzer Pause fügte Ulminski noch hinzu: „Jane hätte daran denken sollen, daß keiner der Brüder einen Schritt unbeobachtet tut und daß ich dieses Überwachungssystem, das nur zu unser aller Sicherheit ersonnen wurde, noch erweitert habe, nachdem Ihre Torheit –“ – und die Udo in Bann haltenden Augen wurden ernst und streng – „uns dieses Haus mit Spionen angefüllt hat. –
Gehen Sie jetzt, Blunk!“ wandte er sich an den alten Mann mit dem listigen Fuchsgesicht, der denn auch sofort die drei Pakete nahm und das Zimmer verließ.
Der Fürst blickte wieder in die jetzt erlöschende Glut. „Die drei Pakete enthalten die letzten Juwelen und Goldsachen, die noch in meiner Wohnung waren,“ sagte er mit einem Gesichtsausdruck, der bewies, daß seine Gedanken anderswo weilten. „Schließen Sie die Tür jetzt ab. Ich will in das Sarggemach hinabsteigen.“
Dann rückten sie das Ecksofa von der Wand, und Ulminski kletterte an der mit einem Eisenhaken versehenen Leine in das geheime Gelaß hinunter. Hinter ihm schloß sich die Falltür wieder.
Der Fürst schaltete eine Taschenlampe ein, legte sie auf den Diwan und trat an den Sarg heran.
Das, was ihn jetzt bewegte, wurde allmählich zu einem Flüstern, kam wie ein scheues Gemurmel über seine Lippen.
„– Sollte ich denn keinerlei Anspruch auf Liebesglück mehr haben? Sollte ich diese Leidenschaft für Lori bekämpfen? Weil ich ein alternder Mann bin?!“
Er seufzte leicht und begann nun die Schrauben des Sargdeckels zu lösen.
„Zwei Wochen ist es her, seit ich dich zum letzten Male sah, meine Sonja,“ flüsterte er wieder. „Nun will ich Abschied nehmen von dir für immer. Nun sollen deine sterblichen Überreste in einer Gruft beigesetzt werden. Ich habe dich über alles geliebt, Sonja, das weißt du –“.
Er schob den Sargdeckel so weit zur Seite, daß die einbalsamierte Leiche der wunderschönen Fürstin Sonja Ulminski bis zur Hälfte sichtbar wurde.
Nun griff er nach der Taschenlampe, beleuchtete das leicht geschminkte Antlitz der holden Schläferin und strich ihr liebkosend über das Haar.
„Ja, ich habe dich angebetet, Sonja. Nun aber hat Lori ein Recht darauf, daß die Erinnerung an dich ihr nichts von meiner Liebe nimmt –“.
Er schlug die seidene Decke zurück, die der Toten bis zur Brust reichte.
Die Fürstin trug die farbenreiche Volkstracht der Frauen ihrer Heimat, der wilden Kaukasusberge. Ein rotes Seidentuch, an den Rändern mit Gold reich bestickt, hüllte den Oberleib ein. Darunter schimmerte ein mit Silberfäden durchwirktes Hemd.
Ulminski öffnete mit zarten Fingern diese Hülle und legte die Brust frei. Unter dem Busen war in die letzten Rippen eine viereckige Silberplatte eingefügt. Die Gravierung darauf gab Tag, Stunde und Jahr des Todes der Fürstin an. Darunter stand noch in russischen Buchstaben:
Du wirst bis über den Tod hinaus geliebt!
Ulminski hob diese Silberplatte jetzt heraus.
Wie stets bei Einbalsamierungen, waren auch aus dem Körper der Fürstin alle inneren Organe entfernt und durch kampfergetränkte Watte ersetzt worden.
Nachdem Ulminski jetzt noch ein dicht unter der Silberplatte liegendes Stück Kampfer entfernt hatte, zog er aus der Tasche einen langen, dünnen Beutel hervor, der mit nußgroßen, kantigen Steinen gefüllt zu sein schien.
Der Beutel verschwand in der Brusthöhle der Toten.
Der Fürst brachte das Kampferstück und die Silberplatte wieder an ihren Platz zurück, ordnete das kostbare Hemd und das Seidentuch und versank wieder in stilles Sinnen.
„– Sie würden mich für einen Betrüger halten, Sonja, wenn sie dies wüßten. Und doch ist es nur weise Vorsicht,“ flüsterte er. „Wie oft hat schon ein plumper Zufall alle Vorsicht zu nichte gemacht! Die Schatzkammer kann entdeckt werden. Dann wäre alles dahin. – Sonja, ich weiß, du würdest es mir nicht verargen, daß ich deinen Leib zu diesem Zwecke benutze. Nein – du würdest mich verstehen. Du hast mich stets verstanden, so phantastisch meine Pläne auch waren –“.
Er beugte sich dann über die liebliche Schläferin, küßte ihre Stirn ein letztes Mal und schob den Sargdeckel wieder zurück, griff nach der ersten Schraube.
Da fiel sein Blick auf die beiden Handtücher, die Horst Olden am Morgen als Leine zum Hinabklettern benutzt und zusammengerollt in die Ecke hinter den Diwan geworfen und hier vergessen hatte.
Ulminski bückte sich, hob die noch zusammengeknoteten Tücher auf und musterte sie mit wachsendem Argwohn.
In der einen Ecke der Tücher waren Monogramme und Grafenkronen eingestickt. Sie gehörten also dem Grafen Oskar von Brucksal.
Wie kamen sie hierher? Sie waren doch offenbar als Strick benutzt worden, um hier hinabzuklettern?
Wer war denn außer Lori noch hier gewesen? Etwa Udo oder Blunk?! – Nein, das hätte keiner der beiden gewagt. Außerdem – würden sie wirklich seinem Verbot zum Trotz sich erfrecht haben, diesen Raum zu besuchen, dann hätten sie doch die Tücher nie hier gelassen!
Und Lori? Hatte Lori ihm nicht erzählt, daß sie unversehens durch die Falltür hinabgestürzt sei?!
Wie also kamen die Tücher hierher?!
Ulminskis stets so reges Mißtrauen, eine Folge seines abenteuerlichen Doppellebens, wurde immer lebendiger.
Er begann den schmalen Raum nun aufs genaueste zu durchsuchen und öffnete auch die beiden in den Fahrstuhlschacht mündenden Geheimtüren, die er bisher nur ein einziges Mal benutzt hatte. Zwischen den Türen hatte sich Staub angesammelt, und hier fand er in der Staubschicht des Bodens die deutlichen Abdrücke von Männerstiefeln.
Sein Gesicht versteinerte sich förmlich. Er begann zu ahnen, daß Lori ihn belogen hatte.
Rasch kehrte er nach oben in das Sterbegemach des Grafen Oskar zurück, wo Udo von Brucksal am Fenster stand und durch sein Monokel scheinbar gelangweilt die Straße beobachtete.
„Waren Sie dort unten?“ fragte Ulminski sofort, indem er den Grafen durchdringend musterte.
Udo spielte den Überraschten. „Wie kommen Sie darauf, Meister?“ meinte er sehr gedehnt. „Sie haben Robb und mir das Betreten des Sarggemachs verboten, und ich für meine Person habe mich auch an dieses Verbot gehalten. Selbst für Robb glaube ich in dieser Beziehung einstehen zu können.“
Der Fürst brachte jetzt die beiden zusammengeknoteten Handtücher hinter seinem Rücken zum Vorschein.
„Dies fand ich dort,“ sagte er indem er auf das Monogramm wies. „Außerdem sah ich Spuren von Männerstiefeln in einer Staubschicht. Es ist ein Unberufener dort eingedrungen. Wenn Sie oder Blunk es nicht waren – wer war es dann?!“
Udo zuckte die Achseln. „Ich jedenfalls war es nicht, Meister! Und Robb auch nicht. Wir beide haben kein Interesse für die Stätte Ihrer Liebeserinnerungen.“
Udo von Brucksal log, als er diesen letzten Satz mit einer gewissen Ironie aussprach.
Wenn der Fürst hier in diesem Falle weniger zuversichtlich auf die Macht seiner Persönlichkeit gebaut und nicht so blindlings geglaubt hätte, daß seine Befehle von diesem jämmerlichen, verlebten Burschen und seinem Vertrauten auch wirklich befolgt würden, dann hätte er vielleicht bei noch schärferer Beobachtung des ganzen Benehmens Udo von Brucksals Kleinigkeiten entdeckt, die ihm aufgefallen wären. So hatte der junge Graf sich zum Beispiel absichtlich mit dem Rücken nach dem Fenster gestellt, damit sein Gesicht im Schatten läge; so hatte er auch absichtlich seine Antworten recht langsam vorgebracht, um nicht durch eine unsichere Klangfärbung seiner Stimme die Unruhe in seinem Innern zu verraten; so hatte er schließlich halb ironisch von einer ‚Stätte der Liebeserinnerungen‘ gesprochen, um anzudeuten, daß des Fürsten tote Gattin ihm sehr gleichgültig sei.
In Wahrheit verhielt die Sache sich ganz anders. Allerdings war es einem Menschen von Udo von Brucksals Charakterveranlagung völlig unverständlich, wie ein Mann ein Weib derart lieben könne, daß er sich sogar von deren Leiche nicht trennen mochte. Grade aus diesem Nichtbegreifen einer so tiefen Herzensneigung heraus war schon längst bei Udo von Brucksal die Vermutung entstanden, die Besuche des Fürsten in dem Sarggemach könnten nicht lediglich den Zweck haben, am Sarge des angebeteten Weibes wehmütigen Erinnerungen eines heißen Liebesglücks nachzuhängen, sondern müßten noch einen besonderen, von Ulminski streng verheimlichten Nebenzweck haben.
Vor einer Woche etwa hatte er deshalb nach anfänglichem Zaudern das getan, was ihm über diesen Nebenzweck Aufschluß geben sollte. Er hatte in die Zimmerdecke ein Loch gebohrt und dies so geschickt angelegt, daß er mit Hilfe dieses Loches das Kopfende des Sarges und noch einen Teil des geheimen Gemachs übersehen konnte.
So kam es denn, daß er heute von oben her Zeuge wurde, wie Ulminski etwas, das Udo für eine Rolle Papier hielt, in der Brusthöhle der einbalsamierten Leiche verbarg. Das Bewußtsein, etwas Verbotenes getan zu haben, lastete dann bei den Fragen des Fürsten so stark auf dem jungen Grafen, daß es der Anspannung all seiner Energie bedurfte, damit er seine Verlegenheit und seine Unsicherheit nicht verriete.
Aber Ulminski merkte nichts. Unruhig schritt er nun in dem großen Zimmer auf und ab und überlegte, ob etwa diese Feststellung, daß jemand in das Sarggemach eingedrungen war, Anlaß zu weitergehenden Befürchtungen hinsichtlich seiner eigenen Sicherheit und der seiner Genossen, der Logenbrüder, geben könnte.
Dann blieb er wieder vor Udo stehen.
„Wir werden unsere Vorsicht verdoppeln müssen,“ sagte er leise. „Ich werde sofort die nötigen Befehle geben. Der Sarg meiner Gattin wird noch heute Abend zerstört und verbrannt und die Tote in die Gruft und in den leeren Katafalk geschafft werden, der seit Fertigstellung der Gruft ohne Inhalt dort steht. Sie werden daheim bleiben, Udo, und hinter den Vorhängen der Vorderfenster genau die Straße und die Passanten im Auge behalten. Achten Sie auf jeden einzelnen Menschen. Wir müssen feststellen, ob dieses Haus etwa bereits von der Polizei bewacht wird. Dann noch eins – niemand darf mehr das Tempelgrundstück von der Basedowstraße aus betreten, sondern nur auf dem etwas unbequemeren Wege über den langen Hof der Speditionsfirma in der Parchimstraße. Vergessen Sie nicht, dies auch Blunk einzuschärfen. Schließlich – beseitigen Sie hier alles in Ihrer Wohnung, was Verdacht erregen könnte, insbesondere alle Mittel zur Veränderung des Äußeren, Bärte, Perücken, Schminken und die Anzüge für die verschiedenen Masken. Sie wissen nun Bescheid. Sollten wir uns inzwischen nicht mehr sehen – um elf Uhr heute ist Logensitzung! Dann werden wir auch diese Entdeckung hier durchsprechen. Ich gebe ohne weiteres zu, daß ich mich stark beunruhigt fühle, wenn auch vorläufig kein direkter Grund zur Besorgnis vorhanden ist.“
Dann nickte er Udo kurz zu und begab sich in seine Wohnung hinab.
Graf Udo hatte dem Fürsten bis zur Flurtür das Geleit gegeben. Langsam, tief in Gedanken versunken, kehrte er in das Sterbezimmer seines Vaters zurück, schloß die Tür ab, legte ein Taschentuch über den Türdrücker und das Schlüsselloch und schritt mit einem höhnischen Grinsen auf das Ecksofa zu, schob es beiseite und drückte auf die Leiste des Parkettbodens, die den Sperriegel der Falltür wegzog und diese lautlos nach unten aufklappen ließ.
Die quadratische Tür senkte sich. Udo hielt die beiden zusammengeknoteten Handtücher bereit, um deren eines Ende an dem Gestänge des Falltürmechanismus zu befestigen.
Er kniete dicht vor der Öffnung, beugte sich jetzt tiefer und – fuhr mit einem Ruck zurück.
Seine fahlen Wangen nahmen vor Entsetzen die Farbe schmutziggrauer Asche an.
Klebriger Schweiß trat ihm auf die Stirn. Seine weit aufgerissenen Augen waren wie gebannt auf den Sarg gerichtet – auf den offenen Sarg der Fürstin Sonja Ulminski.
Der Deckel des Sarges war bis ans Fußende geschoben und gab den Ausblick auf die größere Hälfte des kostbaren Katafalks frei.
Die tote Fürstin in ihrer bunten, kaukasischen Tracht saß aufrecht im Sarge, hielt in der Linken eine geweihte brennende Kerze, die mit Goldfäden umwickelt war.
Der flackernde Lichtschein der Kerze ließ Udo nur den Hinterkopf mit der prächtigen Haarfülle und dem goldenen Diadem erkennen.
Dann hob die Tote auch den rechten Arm und – zog den Sargdeckel mehr nach oben.
Die Kerze flackerte stärker, erlosch.
Udo fühlte den kalten Schweiß von der Stirn die Wangen entlang rinnen.
Seine bebende Hand tastete nach der beweglichen Leiste. Ein Druck, und die Falltür schloß sich ohne jedes Geräusch.
Graf Udo taumelte auf das Sofa, lehnte sich in die eine Ecke und schloß in halber Betäubung die Augen.
Seine Gedanken schwirrten wie ein aufgescheuchtes Bienenvolk. Tausend Fragen stellte er sich, fand keine Antwort darauf.
Hatte er sich durch ein Trugbild täuschen lassen?! Hatte er für Minuten soeben den klaren Verstand verloren?
Oder – beherbergte der Sarg gar keine Tote? War er nur das unheimliche Versteck für eine Lebende?
Aber – er hatte doch mit eigenen Augen vorhin durch das in den Fußboden gebohrte Loch gesehen, wie der Fürst Ulminski aus der Brust der Leiche eine Silberplatte herausgehoben und anscheinend eine Papierrolle in der Brusthöhle versteckt hatte?!
War er wirklich wach?! Lag er nicht etwa in seinem Bett und träumte nur?!
Er kniff sich in den Arm. Er spürte den Schmerz; er schaute sich um.
Dämmerung herrschte im Zimmer. Der Abend nahte.
Und – dort lagen ja auch die beiden Handtücher, die Ulminski unten im Sarggemach gefunden hatte!
Nein, nein – all das war kein Traum gewesen. Die tote Fürstin hatte sich bewegt, hatte das brennende Licht gehalten und den Sargdeckel mehr zu sich herangezogen!
Es war so. Alles war Wirklichkeit! –
Graf Udo erhob sich und ging zu dem Schrank an der gegenüberliegenden Wand.
Dreimal füllte er das kleine Weinglas mit Cognac und stürzte den Inhalt hinunter.
Ah – das tat den Nerven gut!
Udos Wangen bekamen Farbe. Er stellte die Flasche und das Glas in den Schrank zurück. Er merkte, wie der starke Alkohol ihm wie Feuer in die Adern drang.
„Lächerlich!“ dachte er jetzt. „Wie konnte ich mich nur durch eine Lebende so schrecken lassen! Des Rätsels Lösung dürfte einfach genug sein. Der Fürst hält dort unten außer der Leiche seiner Gattin noch ein lebendes Weib verborgen! Es muß so sein!“
Kaum gedacht, verwarf er diese Annahme wieder. „Nein – was sollte die Lebende in dem Sarge?! Wäre es eine Geliebte Ulminskis, dann würde sie sich hüten, ‚Leiche‘ zu spielen!“
Der Alkohol gab ihm immer mehr Mut und immer neue Einfälle. Er erinnerte sich an die Stiefelabdrücke in der Staubschicht, die der Fürst entdeckt hatte.
„Ein Spion!“ schoß ihm jetzt ein argwöhnischer Gedanke durch den Kopf.
Er lächelte – lächelte voll heimtückischer Unternehmungslust.
„Wenn nur Robb bald zurückkäme!“ flüsterte er und öffnete das an der Wand hängende Medizinschränkchen. „Dann – dann werden wir dem Spion den Spaß versalzen – und zwar gründlich! Wahrscheinlich ist es Brex, der kleine Kriminalbeamte, dem wir die fünfzig Edelsteine raubten!“
Er suchte eine dickbauchige Flasche aus dem Schränkchen heraus, deren rotes Schild den Aufdruck trug:
Chloroform zur Narkose. Gift!
Er schüttelte sie.
Ja – es war noch genügend darin! Der kleine Brex würde sich wundern, wenn – und Udo von Brucksal lachte in satanischer Freude halblaut auf.
Inzwischen hatte in der vierten Etage des Hauses der Geheimnisse im Arbeitszimmer Horst Oldens, des berühmten Privatdetektivs, zwischen den hier Anwesenden, nämlich Philipp Brex, dem dicken Wrobel, Heinz Römer und Horst Olden eine schnelle Aussprache über die zunächst zu unternehmenden Schritte stattgefunden.
Der taubstumme Strolch, bei dem man auch noch andere auf den Namen Herbert Blunk lautende Papiere entdeckte, und der selbst durch Olden nicht hatte zum Reden gebracht werden können, war von Wrobel gefesselt worden und saß nun im Nebenzimmer unter der Aufsicht der Frau Rat Prutz als Gefangener.
Olden hatte, bevor man in die Beratung, wie man die Verbrecher einkreisen wollte, eintrat, nochmals alle Verdachtsmomente gegen den Fürsten Ulminski, den Grafen Udo und den Diener Blunk zusammengefaßt und besonders auf den Brief der Prinzessin Nadja hingewiesen, aus dem ja klar hervorging, daß sowohl der Brillantring, den sie Heinz Römer geschenkt hatte, als auch die anderen Juwelen, die der Fürst bei Nadjas Erscheinen rasch mit einer Zeitung bedeckt hatte, nichts anderes als die Beute eines Raubzuges von großzügigen Gaunern sein mußten, wahrscheinlich jener Bande, deren Treiben man seit anderthalb Jahren in ganz Europa bald hier bald dort durch freche Einbrüche, Raubüberfälle und Eisenbahndiebstähle spürte.
„Das Falscheste, was wir tun könnten, wäre sofortiges Zupacken,“ sagte Olden jetzt. „Bestellen Sie dies bitte auch Ihrem Vorgesetzten, Herr Wrobel, dem Kriminalkommissar Fink. Ich halte eine dauernde, unauffällige und doch scharfe Überwachung der Verdächtigen für am ratsamsten. Besteht eine geheime Verbrechergesellschaft, so besitzt sie auch ein Haus oder eine Wohnung, wo die Mitglieder sich unbemerkt versammeln können. Diesen Ort zu finden, ist unsere erste Aufgabe. Sobald wir ihn ausgekundschaftet haben, kann man vielleicht die ganze Bande mit einem Schlage festnehmen. Ich hoffe ja, daß Lori, meine Braut, uns hierbei behilflich sein wird. Ich selbst möchte nun meinerseits den Anfang mit dieser steten Beobachtung dieser drei Personen dadurch machen, daß ich mich durch den Fahrstuhlschacht in das geheime Gemach der zweiten Etage einschleiche, die Leiche aus dem Sarge entferne und den Sarg als Versteck benutze, von dem aus ich nachts bequem in die Wohnung Udo von Brucksals eindringen kann. Die Leiche selbst, es handelt sich ja um eine tadellos erhaltene, mumienartige Leiche – werde ich unter dem Diwan verbergen. Vielleicht kann ich so schon an diesem Abend oder in der kommenden Nacht mancherlei Neues ermitteln. Die ständige Beobachtung des Fürsten überhebt mich ja der Aufgabe, Lori zu suchen. Entweder schickt sie mir irgend eine Nachricht, oder Ihre Kollegen, Herr Wrobel, die Ulminski folgen, finden Loris jetzigen Aufenthaltsort.“
Einige Minuten später verließ zunächst Wrobel das Haus der Geheimnisse und begab sich nach dem Präsidium, wo er Kommissar Fink diese Überfülle von Neuigkeiten sofort mitteilte, der dann ohne Säumen alle nötigen Anweisungen für die Überwachung des Hauses Gudrunstraße 20 und der drei Verbrecher gab. Dann ging er ins Polizeigefängnis hinüber und eröffnete der Filmdiva Erna Maletta, daß sie sehr bald aus der Haft entlassen würde.
Die Maletta erbot sich freiwillig, vorläufig nicht in ihre Wohnung zurückzukehren, da ihre Haftentlassung die Verbrecher argwöhnisch machen könnte. Sie bat Doktor Fink sogar, sie irgendwie im Dienste der Polizei jetzt zu verwenden, da sie sich ja doch fürs erste verborgen halten müsse.
Kommissar Fink nahm dieses Anerbieten ohne weiteres an. Eine Frau wie Erna Maletta mußte bei der Einkreisung dieser vornehmen Gauner von großem Nutzen sein. –
Zu derselben Zeit, als Friedrich Blunk mit den drei Paketen das Haus der Geheimnisse verließ, erschien in der Gudrunstraße ein Trupp Asphaltarbeiter, der, ausgerüstet mit zwei Wagen, zwei Schmelzkesseln und dem nötigen Handwerkszeug, unweit der Tür von Nummer 20 das Pflaster aufzureißen begann.
Diese sieben stämmigen Arbeiter wurden von einem Vorarbeiter geführt, der kein anderer als Doktor Fink selbst war.
Wäre der Trupp nur eine Minute früher vor dem Hause eingetroffen, so hätte Blunk außer den beiden Brüdern der Indra-Loge, die Ulminski hinter ihm drein geschickt hatte, noch andere Verfolger gehabt.
So aber waren es nur zwei harmlos ausschauende Männer, die ihn bis zu Gunnar Börtgens Wohnung verfolgten.
Börtgen nahm Blunk die Pakete ab, schickte ihn sofort wieder weg und wartete dann nur wenige Minuten, um sich nun mit den kostbaren Päkchen zu einer Autohaltestelle zu begeben, wo er ein Fahrzeug bestieg und nach dem Flugplatz Johannistal hinausfuhr.
Es dunkelte bereits, als Börtgen einen der zahlreichen Flugzeugschuppen aufschloß und darin verschwand.
In diesem Schuppen stand ein Passagierflugzeug von riesigen Abmessungen mit vollständig geschlossenem Rumpf, Führerkoje und zwei Passagierkabinen mit zehn Sitzen.
Es war dies ein ganz neuer Typ von Flugzeug, ein Dreidecker, bei dessen Konstruktion die jüngsten Errungenschaften der Flugtechnik durch die Flüge der motorlosen Apparate in der Rhön mit verwendet worden waren.
Gunnar Börtgen war dem Namen nach der Eigentümer dieser Riesenmaschine, mit der er bereits mehrere Dauerfahrten ohne jeden Unfall erledigte hatte.
In einer der Werkzeugkammern des Schuppens öffnete Börtgen nun im Dunkeln zwei Dielenstücke des Fußbodens und stieg in einen darunter befindlichen Schacht auf einer steilen, schmalen Holztreppe hinab.
Der Schacht war mit Holzbrettern verkleidet und erweiterte sich unten zu einem länglichen Raum, in dem einige Benzinballons standen – freilich nur zur Täuschung unerbetener Eindringlinge.
Börtgen machte nach etwa zehn Stufen halt und zog eine kleine, verborgene Tür in der einen Schachtwand auf, stieg in den niedrigen Gang hinein und ließ jetzt erst seine Taschenlampe aufleuchten.
Hier standen zwei größere Rohrplattenkoffer und eine Holzkiste. Börtgen schloß den einen Koffer auf und legte die drei Pakete hinein. Der Koffer war mit ähnlichen Päckchen fast völlig gefüllt.
Dies hier war die geheime Schatzkammer der Indra-Loge; hier lagerten Millionen und Abermillionen an Werten; hier – hätte so leicht niemand nach Kostbarkeiten gesucht. –
Dann kehrte Börtgen nach Berlin zurück. Nicht allein – denn auch er hatte einen Aufpasser gehabt, nämlich das Mitglied des ‚Inneren Kreises‘ Doktor Hugo Lamberg, der im Logenregister als ‚Nummer Sieben‘ verzeichnet war, nur als ‚H. L. Nr. 7‘, denn die vollen Namen der Brüder wurden nirgends vermerkt. Sie waren nur Nummern, die ‚der Meister‘ nach Belieben zu dieser oder jener Aufgabe kommandierte. –
Inzwischen war Horst Olden längst in das Geheimgemach durch die beiden Türen im Fahrstuhlschacht eingestiegen.
Nachdem er eine Weile angestrengt lauschend im Dunkeln völlig regungslos verharrt hatte, hörte er über sich im Sterbezimmer des Grafen Oskar von Brucksal Schritte, die schwer und gleichmäßig auf und ab wanderten. Es waren die Schritte des Fürsten Sergius Ulminski, der sich überlegte, inwieweit der Loge wohl durch den Mann, der dort unten eingedrungen war und die Spuren in der Staubschicht und die beiden Handtücher zurückgelassen hatte, Gefahr drohe. –
Horst Olden schraubte den Sargdeckel los.
Die rührende Schönheit der Toten, deren Ruhe er nun stören wollte, schreckte ihn zunächst wieder von seinem Vorhaben ab. Dann aber überwand er sich und hob die Leiche heraus. Hierbei stellte er fest, daß die Tote eine Perücke trug. Wahrscheinlich war das echte Haar durch das Einbalsamieren ausgefallen.
Er legte die Leiche auf den Diwan – ohne jedes Gefühl des Grauens. Seinen Nerven hatte er schon mehr geboten als dies.
Dann – oben wieder Schritte.
Nun sogar das Scharren eines Möbelstücks, das weitergerückt wurde.
„Etwa das Ecksofa?“ schoß es Olden durch den Kopf. „Wollte jemand hier hinab?“
Im Nu hatte er die Leiche unter dem Diwan verschwinden lassen, hatte ihr noch schnell das große Seidentuch abgenommen, hatte mit einigem Widerstreben die Perücke aufgesetzt.
Dann saß er aufrecht im Sarge, in der Linken die geweihte Kerze.
Schon vernahm er das kaum merklich Geräusch der herabgleitenden Falltür.
Und jetzt – jetzt hinter ihm aus der Höhe die schweren Atemzüge eines Menschen, der offenbar schreckgelähmt nach unten auf den Sarg starrte.
Olden streckte langsam den rechten Arm aus, zog den Sargdeckel näher, blies dabei die Kerze aus.
Oben schloß sich die Falltür. –
Blunk war kaum heimgekehrt, als Udo von Brucksal ihm auch schon hastig mitteilte, daß jetzt im Sarge der Fürstin Sonja ein Spion stecke.
Blunk hörte schweigend zu. –
„Das ist Brex!“ sagte er dann. „Gut, klettern wir hinab!“
Udo nahm die halb gefüllte Chloroformflasche mit.
Sie fanden den Sargdeckel nur aufgelegt. Sie lüfteten die Diwandecke. Ob Brex jetzt etwa unter dem Ruhebett steckte.
Nein – in dem Geheimgemach befand sich kein Mensch – nur in dem Sarge mußten jetzt eine Tote und ein Lebender liegen.
Blunk entkorkte die Flasche, deren weiter Hals das Ausgießen des Inhalts sehr erleichterte.
Dann lüfteten sie den Sargdeckel am Kopfende etwas, und Blunk entleerte blitzschnell die Flasche hinein, schwang sich dann sofort auf den Sarg, damit Brex diesen nicht etwa hochheben konnte.
Und – noch immer regte sich nichts in dem kostbaren Katafalk.
Blunks Fuchsgesicht mit den vielen Falten leuchtete vor Triumph.
„Mein Junge, der wird nie mehr spionieren!“ flüsterte er Udo zu. „Der schlummert so allgemach aus der Narkose in die Hölle hinüber! Na – mag der Teufel dort mit dir ein Bratenfest veranstalten, Herr Brex!“
Dann kletterten sie wieder empor. Die Falltür schloß sich. – Oben im Sterbezimmer des Grafen Oskar schlug Udo dem angeblichen Diener kräftig auf die Schulter und feixte mit einem gemeinen Verziehen des Mundes: „Nach einer halben Stunde holen wir den neuen Liebhaber der Fürstin Sonja, der nun Seite an Seite mit ihr ruht, heraus und packen ihn in eine Kiste. Ulminski darf nicht erfahren, daß ich mich durch diesen als lebende Leiche herausgeputzten Brex schrecken ließ. Ich müßte ihm denn gerade eingestehen, daß ich in den Fußboden ein Guckloch gebohrt habe, und davor werde ich mich hüten!“
„Aber der Geruch des Chloroforms!“ meinte Friedrich Blunk bedächtig.
„Ah bah! Wir lüften eben! Außerdem ist der Kampfergeruch so stark, daß er alles andere übertäubt!“
Blunk, der stets Vorsichtige, war beruhigt. Flüsternd erörterten sie jetzt die Frage, was der Fürst wohl an Papieren in der Brusthöhle der Leiche seiner Gattin verborgen haben könnte.
„Vielleicht Banknoten,“ meinte Udo.
„Alles Raten ist ja schließlich überflüssig,“ sagte Blunk achselzuckend. „Wenn wir Brex herausholen, werden wir feststellen, was Ulminski dort versteckte.“
Nachdem der Fürst in seine Wohnung zurückgekehrt war, hatte er zunächst den Italiener Chivarri angerufen und ihm folgenden Auftrag gegeben.
„Besorgen Sie sofort eine lange schmale Kiste, in die eine lebensgroße Modelpuppe hineingeht, dazu zwei seidene Steppdecken zum Einhüllen der Puppe, deren Wachskopf nicht beschädigt werden darf. Punkt acht Uhr abends sind Sie mit einem Auto und den Nummern Fünf und Sechs hier, die Ihnen tragen helfen sollen. Alles weitere hier bei mir mündlich.“
Chivarri erwiderte nur: „Das wird alles nach Ihrem Befehl geschehen, Meister.“
Ulminski begab sich jetzt in Nadjas Salon.
Die kleine liebliche Prinzessin lag am Fenster in einem Schaukelstuhl und tupfte nun schnell die Tränenspuren von den Wangen, als ihr Vater eintrat.
Ulminski schob einen Sessel neben den Schaukelstuhl, nahm Nadjas Hand und streichelte sie.
„Tränen, Kind?“ meinte er mit weicher Zärtlichkeit. „Weshalb Tränen?“
Nadja hatte aus Angst um Heinz Römer geweint. In ihrer Einsamkeit war ihre Zuversicht auf die Hilfe der Wahrsagerin allmählich wieder zerflattert, und jetzt lebte in ihrem jungen Herzen nur noch die verzehrende Furcht, daß dem Geliebten und ihr irgend eine Gefahr drohe.
„Oh Papascha, das sind so Stimmungen,“ log sie scheu ohne aufzublicken.
„Ja, Stimmungen, die die Langeweile hervorbringt,“ nickte er. „Du brauchst einmal eine Abwechslung, Kind. Ich werde dich daher noch heute zu Fräulein Battner mitnehmen, die sich aus besonderen Gründen an mich um Hilfe gewandt hat und sich bei einem Bekannten befindet. Du kennst sie ja von Ansehen. Sie ist dir durch ihre Schönheit aufgefallen, und du fandest ihr Gesicht überaus sympathisch. Ihr beide werdet euch schon verstehen. Du sollst dort einige Tage bleiben, Nadja. Auch Fräulein Battner leidet unter der Einsamkeit.“
Nadja durchzuckte ein heißer Schrecken. Sie sollte fort von hier?! Das war unmöglich! Morgen erwartete sie ja die Wahrsagerin wieder, die ihr Nachricht von Heinz bringen wollte.
„Ich – ich möchte lieber bei dir bleiben, Papascha,“ sagte sie daher hastig und in starker Verwirrung. „Fräulein Battner ist mir ja ganz fremd, und ob wir uns –“.
Ulminski ahnte hier andere Gründe für Nadjas Weigerung, unterbrach sie mitten im Satz und fragte in fast strengem Ton:
„Nadja, du bist jetzt nicht aufrichtig! Weshalb lehnst du diesen Vorschlag ab? Sage die Wahrheit!“
Die zierliche, üppige Prinzessin schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus.
Aber alle Bitten Ulminskis, ihm den Grund ihrer tiefen Niedergeschlagenheit mitzuteilen, waren umsonst.
Schließlich glaubte er wirklich, es handle sich bei seinem Kinde nur um Stimmungen, wie sie ja bei jungen Mädchen in diesem Alter nicht selten sind.
Nachdem Nadja sich beruhigt hatte, begann er von etwas anderem.
„Ich schenkte dir vor Monaten einen Brillantring, Nadja,“ sagte er leichthin. „Ich möchte ihn jetzt zusammen mit anderen Schmuckstücken bei einem Juwelier reinigen lassen.“ – Ihm lag daran, gerade diesen Ring zurückzuerhalten. Es war damals von ihm sehr unvorsichtig gewesen, daß er ihn Nadja überlassen hatte. Der Ring konnte nur zu viel verraten. – Die Absicht, Nadja zu Lori zu bringen, hatte er aufgegeben. Loris war er jetzt auch ohne Wächter sicher.
Die Prinzessin war jäh erblaßt.
Der Ring – der Ring! Sie besaß ihn ja nicht mehr! Ihr Geliebter trug ihn jetzt zur Erinnerung an köstliche Liebesstunden.
Wie eine Statue, bleich, reglos und mit schlaff herabgeglittenen Armen, saß sie nun im Liegestuhl.
Ulminski beugte sich vor. Trotz des schwindenden Tageslichts bemerkte er diese auffallende Blässe und Starrheit seines Kindes.
Er legte ihr die Hand leicht auf die Schulter.
„Nadja, wo ist der Ring?!“ stieß er hervor. Ein unbestimmter Argwohn, daß mit dem Ringe irgend etwas geschehen sei, war in ihm aufgestiegen.
„Ich – ich habe ihn – heute auf der Straße verloren, als du mich ins Freie geschickt hattest,“ stammelte sie in so deutlicher Verlegenheit, daß die Unwahrheit dieser Behauptung sofort offenbar wurde.
Der Fürst, dem Nadja soeben über den Verbleib des Brillantringes unrichtige Angaben gemacht hatte, packte jetzt beide Hände seines Kindes mit festem Druck und fragte in ganz anderem, geradezu beschwörendem Tone:
„Nadja – die Wahrheit will ich wissen, – die Wahrheit! Kind, du ahnst nicht, was davon abhängt! Es handelt sich hier nicht um den Ring als solchen. Mit dem Ringe sind für mich gewisse – Erinnerungen verknüpft, die vor der Welt geheim bleiben sollen. – Nadja – die Wahrheit!“
Die kleine Prinzessin Ulminski hatte ihren geliebten Papascha noch nie bisher in so mühsam unterdrückter Aufregung gesehen.
Plötzlich nun dämmerte ihr das Verständnis auf, daß sie mit der Hingabe des Ringes irgend einen folgenschweren Fehler begangen hatte.
Zu der Sorge und Angst um Römer gesellte sich nun noch ein niederschmetterndes Schuldbewußtsein. Der Gedanke, ihren Papascha womöglich Ungelegenheiten bereitet zu haben, ließ sie jetzt auf seinen Schoß und an seine Brust flüchten. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und begann unter fassungslosem Schluchzen alles zu beichten – alles – von Heinz Römer, von den nächtlichen Fensterpromenaden, von der verflossenen Nacht.
Ulminskis Gesicht war wie versteinert. Seine Befürchtungen, er und die Logenbrüder könnten in Gefahr sein, wuchsen lawinenartig.
Ein Mann nachts hier bei Nadja! Angeblich ein Künstler, vielleicht ein Spion!
Und doch traten diese Befürchtungen, die er als Meister der Indra-Loge hegte, jetzt zunächst mehr in den Hintergrund gegenüber seinen Vatergefühlen.
„Nadja, Kind – und du hast dich diesem Manne ganz hingegeben?“ flüsterte er dumpf.
Sie weinte stärker.
„Papascha, ich liebe ihn so!“ schluchzte sie.
Er fragte sie weiter aus. Er war jetzt wieder ganz der verständnisvolle Freund, der durch kein Wort des Vorwurfs ihre mitteilsame Stimmung zerstörte. Er wollte eben alles erfahren – alles. –
In dem mit so viel Luxus und Geschmack ausgestattetem Raume wurde es wieder dunkler. Der Abend kam. Unten auf der Straße hatten die Asphaltarbeiter ihre Pechfackeln angezündet, deren flackernder roter Schein die Fensterscheiben wie in Abendsonnenglut tauchte.
Der Fürst hatte Nadja fest an sich gedrückt. Sie erzählte nun, wie ihr Herz sie dazu getrieben hätte, Heinz Römer den Ring zu schenken.
Ulminskis Befürchtungen verringerten sich. Nein, dieser Liebhaber Nadjas war kein Spion gewesen. Hier handelte es sich wirklich um einen Herzensroman. Es war das heiße Blut der kaukasischen Bergvölker, das Nadjas Fehltritt verschuldet hatte; es war der Frühlingsrausch, der in der verflossenen Nacht zwei jugendliche Menschenkinder in heißer Lust vereint hatte. Sollte er, Sergius Ulminski, deshalb den strengen Vater spielen?! Hatte nicht er selbst heute in seligem Vergessen als reifer Mann Lori in die Arme genommen?! Hatte er ein Recht, hier Richter zu sein?!
Nadjas Tränen versiegten. Wie lieb der angebetete Papascha doch wieder ihr gegenüber war! Wie zärtlich er ihr immer wieder über das Haar fuhr!
„Hast du ihn heute am Tage wiedergesehen?“ fragte der Fürst nun.
Nadja seufzte schwer. „Nein, Papascha. Er – er kann vorläufig nicht mit mir zusammensein. Es war vormittags eine Hausiererin hier, die mir aus der Hand gewahrsagt hat, daß unsere Liebe irgendwie bedroht ist!“
Ulminski horchte auf, stellte hastig Frage auf Frage, enthüllte alles, hörte von dem Briefe, den die Hausiererin mitgenommen hatte und ließ sich dessen Inhalt genau wiederholen.
Ein Sturm von Gedanken trieb ihn hoch. Er bettete Nadja wieder in den Schaukelstuhl, eilte im dämmrigen Zimmer hin und her.
Nadja hatte also damals die anderen Juwelen auf dem Tische gesehen und hatte sogar dies in dem Briefe erwähnt! Und der Ring – der Unglücksring war eins der Beutestücke aus Frankfurt! Die Hausiererin natürlich eine Spionin, eine Vigilantin der Kriminalpolizei oder ein verkleideter Beamter! Hierzu noch die Spuren im Sarggemach! Ja – das alles genügte – das Unheil war da!
Nadja beobachtete den Vater ängstlich. Was hatte er nur?! Weshalb diese Erregung, dieses ruhelose Hin und Her?!
Dann trat er neben sie an das Fenster und schaute auf die Straße hinab, sagte leise:
„Du ahnst nicht, in welche Gefahr du mich gebracht hast! Oh Kind, mir ist, als ob alles um mich her zusammenstürzt!“
Sie tastete nach seiner Hand.
„Papascha – Gefahr? Ich – ich verstehe das nicht!“
„Du wirst es verstehen, vielleicht noch heute, Nadja! Ich mache dir keine Vorwürfe. Schließlich mußte ja einmal der täppische Geselle Zufall den Dingen eine entscheidende Wendung geben.“ Seine Stimme hatte zuerst rauh und heiser geklungen, wurde nun wieder klarer und heller. „Also Kampf – Kampf um Sein oder Nichtsein, Kampf mit der tausendköpfigen Schlange, Polizei genannt, um die Freiheit und die Erfolge dieser letzten Jahre! Ich bin gerüstet. Für mich kommt der Schlag gerade heute wohl überraschend, aber nicht unerwartet!“
Er richtete sich höher auf. „Ich habe die Pflicht, für die Sicherheit aller zu sorgen! Ich werde diese Pflicht nicht versäumen!“ Dann beugte er sich ganz tief zu Nadja hinab, legte ihr beide Hände schwer auf die Schultern.
„Mein Kind, es ist besser, du erfährt sofort die ganze Wahrheit, entscheidest dich auch sofort, ob unsere Wege sich heute für immer trennen sollen,“ flüsterte er mit Nachdruck. „Dein Vater, Nadja, ist das Haupt der bestorganisierten Verbrecherbande, die es je gegeben hat. Hochtönende Namen, Intelligenz, Gewohnheitsverbrecher – alles ist in diesem Geheimbunde vertreten. Wir nahmen nur denen, die zuviel hatten. Wir haben ungeheure Schätze aufgehäuft, haben die Absicht, sie noch durch einen Hauptschlag zu vermehren. In einer Hand laufen all die Fäden zusammen, die diese Organisation leiten – in der meinen! – Und der Zweck dieses Krieges gegen fremdes Eigentum und Recht? Nadja, diesen Zweck kann ich dir so in kurzem nicht erläutern. Jedenfalls soll die Riesenbeute an Juwelen und Gold für allgemeinnützliche Einrichtungen verwandt werden, nicht etwa dazu, den Mitgliedern des Bundes ein Faulenzerleben zu ermöglichen! –
Für diese meine moralische Verirrung, mein Kind, gibt es nur eine Entschuldigung: das unruhige Blut meiner Ahnen! Nachdem wir aus Rußland geflohen waren, fand ich für den in mir so überaus regen Tatendrang und für die Sucht, irgendwie eine leitende Rolle zu spielen und meine vielfachen Fähigkeiten ausnützen zu können, keine Ableitung mehr. Ein Zufall brachte mich dann mit unserer halben Landsmännin, der Baronin Rabinski zusammen. Ihr verstorbener Gatte, erzählte sie mir gelegentlich, hatte vor Jahren einen merkwürdigen Kauf abgeschlossen. Und dieses Kaufobjekt wurde dann mein, oder besser, es wurde Eigentum eines der Leute, die mir in dem Bunde persönlich nahestehen, eines hochbegabten Seemannes.
Doch – all dies hält mich zu lange auf, Nadja. Die Zeit drängt. Jedenfalls, willst du auch ferner bei mir bleiben, mein Kind, willst du auf dieses Liebesglück vorläufig verzichten und mich begleiten in eine ungewisse Zukunft hinein, oder willst du hier bleiben – hier als die Tochter des dann steckbrieflich verfolgten Fürsten Ulminski? Ich betone, Nadja, du sollst auf den Geliebten nur vorläufig verzichten! Wenn das gelingt, was ich plane, und wenn Heinz Römers Liebe zu dir wirklich so groß ist, wird eurer Wiedervereinigung nichts im Wege stehen. – Was wird, wenn du dich von mir trennst, kann ich gar nicht übersehen. Entscheide dich, Nadja, – wähle!“
Er ließ die Hände von ihren Schultern gleiten und trat einen Schritt zurück. Sein Herz schlug schneller in banger Erwartung. Er liebte sein Kind ja! Würde sie sich von ihm lossagen?
Nadja war totenbleich geworden bei all diesen erschütternden Bekenntnissen. Aber nicht eine Sekunde schwankte sie, was sie tun sollte, nicht eine Sekunde lang war in ihr etwa ein Gefühl des Abscheus gegen den Vater aufgestiegen. Ihre Heimat war der Kaukasus; ihre Amme hatte ihr nichts anderes erzählt als Schilderungen der einstigen Größe des Fürstenhauses Ulminski und von Beutezügen in das Flachland hinab, von Kriegen, Mord und Gemetzel. In ihrer Anschauung war der kühne Räuber ein Held, war das Ungesetzmäßige der Beweis von Stärke und Überlegenheit. –
Und Heinz Römer? – Eine namenlos Sehnsucht nach ihm preßte ihr Herz zusammen. Doch – sie sollte ihn ja wiedersehen! Und – was sollte sie allein hier in dem Häusermeer Berlin, sie, die Tochter eines Verfemten?!
Sie stand schnell auf, umschlang den Vater.
„Ich bleibe bei dir, Papascha!“ Sie bog den Kopf zurück und schaute ihn schwärmerisch an.
Er küßte sie mit tiefer Zärtlichkeit.
Über sein Gesicht lief der zuckende Schein der auf der Straße brennenden Pechfackeln hin. Dieses Gesicht war jetzt wie aus Erz gegossen.
Dann sagte er mit jener Stimme, die die Menschen in seinen Bann zwang und den geborenen Gebieter verriet.
„Der Kampf um unsere Freiheit beginnt! Aber ich werde siegen – für Lori Battner und dich, für euch beide, die ihr mein höchstes Gut seid! Dort unten die Asphaltarbeiter –“ – er sprach es mit Geringschätzung – „die ein Pflaster aufreißen, das nicht reparaturbedürftig ist, sind die Schergen, die uns umlauern! Sergius Ulminski täuscht man so leicht nicht! Halte dich bereit, Nadja, daß du mir jede Sekunde folgen kannst. Packe deine Juwelen zusammen und nähe sie in deine Kleider ein. Im übrigen nimmst du nur Hut, Schleier und einen warmen Mantel mit. – Auf Wiedersehen!“
Nochmals küßte er sie und eilte hinaus, eilte in sein Arbeitszimmer, öffnete ein Geheimfach in der Wandtäfelung und nahm den Hörer eines Telephons heraus.
Dann sprach er mit Udo von Brucksal. Gab ihm verschiedene Verhaltungsmaßregeln und schloß das Geheimfach wieder.
*
Jane Wellesley, jetzt eine der Aburteilung entgegensehende Gefangene der Brüder der Indra-Loge, hatte sich erhoben und war katzengleich an der Mauer entlang mehr nach rechts geschlichen, wo sie jenseits der Mauer in der Zelle des Greises ein Geräusch vernommen hatte, das nur durch das Loskratzen des Mörtels aus den Fugen zwischen den Steinen entstanden sein konnte.
Sie lauschte nun abermals. Ja – dort drüben arbeitete der Greis in derselben Weise, wie sie selbst es mit Hilfe des von dem eisernen Feldbett losgerissenen Eisenstabes versuchen wollte.
Sie gab genau acht, wo etwa der alte Mann den ersten Stein lockern wollte in vergeblichem Bemühen. Was hätte es ihm genutzt, wenn er sich wirklich einen Weg hier in die Nachbarzelle gebahnt hätte?! Nichts, nichts! Er hätte hier eine dicke, durch Eisenriegel versperrte Bohlentür gefunden, die nicht zu erbrechen war. Er wäre ein Gefangener geblieben!
Jane setzte jetzt das losgesprengte, schartige Ende des Eisenstabes in die eine Mauerfuge und begann den Stab in bohrender Bewegung hin und her zu drehen.
Mörtelstückchen platzten ab und fielen zu Boden. Das Loch vertiefte sich. Dann gebrauchte Jane den Stab als Hebel, brach ein langes Stück Mörtel heraus.
In dieser Weise arbeitete sie weiter.
Ihre zarten Hände schmerzten sehr bald, bekamen Blasen, und die Blasen entleerten wäßrigen Inhalt, brannten wie Feuer.
Jane spürte kaum etwas davon. Hier ging’s um das Leben; hier hieß es: Freiheit oder Tod!
Viel zu langsam schritt die mühselige Arbeit für Janes angstvolle Ungeduld vorwärts. Mit Schrecken berechnete sie, daß fraglos bereits eine halbe Stunde verflossen war, seit sie sich von dem Feldbett dort an der anderen Wand erhoben hatte.
Schweißtropfen perlten ihr über das Gesicht. So in tiefster Finsternis die Ziegel einer Mauer zu lockern, nur nach dem Tastgefühl das primitive Instrument anzusetzen, war für die Nerven eine unerhörte dauernde Anspannung. Dazu noch die stete Furcht, es könnte jemand hier plötzlich erscheinen und sie überraschen.
So und so oft wollte sie verzagen. Immer wieder raffte sie sich auf. Die Todesangst läßt den waidwunden, armseligen Hasen sich gegen den verfolgenden Hund zur Wehr setzen. Wie sollte da nicht eine Jane Wellesley stets aufs neue die Kraft finden, ihr Werk fortzusetzen!
Endlich – endlich konnte sie den ersten Ziegelstein herausziehen.
Drüben an der anderen Seite der Mauer war jetzt jedes Geräusch verstummt.
Jane hätte gewünscht, der Mann dort in der Geheimzelle würde so viel Kombinationstalent besessen haben, zu erraten, daß ihm von dem, der hier an der Mauer kratzte und schabte, keine Gefahr drohe und daß er seinerseits nun doppelt eifrig seine Mauerlücke erweitern müsse.
Ah – Jane hatte den alten Mann unterschätzt. Er begann wieder mit dem Loslösen der Steine, und als Jane jetzt in das Mauerloch hinabfaßte und den Stein der zweiten Schicht berührte, merkte sie, daß er sich bewegte.
Eine heiße Welle froher Hoffnung flutete ihr zum Herzen.
Sie würde entfliehen, würde den Greis mitnehmen, würde Sergius Ulminski vernichten!
Sie drückte mit aller Kraft gegen den Stein. Sie legte ihr schmales Brecheisen an, half nach, und – der Stein glitt mehr nach hinten, glitt hinaus.
Ein viereckiger heller Fleck bezeichnete jetzt die Stelle, wo die erste Verbindung nach dem durch eine Petroleumlampe erhellten Nachbarkerker hergestellt war.
Jane preßte das Gesicht gegen die Öffnung, flüsterte:
„Ich bin eine Leidensgefährtin von Ihnen! Beeilen Sie sich! Ich muß zu Ihnen hinein! Ich weiß, wie wir flüchten können!“
Und wieder arbeiteten an jeder Seite der Mauer eifrige, zitternde, wunde Hände an der Eröffnung dieses Fluchtweges.
Wieder glitt ein Stein herab, wurde aufgefangen, beiseite gelegt.
Das Loch erweiterte sich schnell. Jetzt, wo erst der Anfang gemacht war, leistete Janes Eisenstab bessere Dienste.
Noch zwei Steine, dann zwängte Jane sich hindurch, richtete sich in der Zelle des Greises auf, der lediglich mit einem Tischmesser, das man ihm zum Brotschneiden dagelassen, den Mörtel entfernt hatte.
„Schnell,“ keuchte Jane. „Schnell – und keine überflüssigen Worte!“
Sie eilte zur linken Wand, wo sich deutlich die eiserne Innentür des geheimen Eingangs abzeichnete.
Die Tür hatte weder Drücker noch Schloß, paßte ganz genau in den Türrahmen.
Jane befühlte die Wand rechts von der Tür.
Da war aus einer Fuge ein Stück Mörtel scheinbar zufällig herausgefallen. Jane steckte den Zeigefinger in die enge Spalten, fand den Eisenknopf, drückte – drückte schärfer.
Langsam öffnete die Eisentür sich nach innen.
Jane, die ihr Brecheisen noch in der linken Hand hatte, winkte dem Greise.
„Licht aus!“ flüsterte sie.
Er schraubte die Lampe schnell herab, blies in den Zylinder hinein.
„Hier – meine Hand, ich führe Sie!“ hauchte Jane dann.
Gleich darauf standen sie in der Dunkelheit des Kellerganges und lauschten.
Alles still.
Schritt für Schritt nun weiter – der Treppe zu.
Da – die erste Stufe – die zweite.
Jane blieb plötzlich stehen.
Blieb stehen, wie zur Salzsäule erstarrt.
Ihr vorgestreckter Arm hatte eine warme Hand berührt – die Hand eines Menschen, der hier in der Finsternis auf der Treppe stand.
Janes Herzschlag setzte aus.
Es konnte ja nur einer der Brüder der Indra-Loge sein, nur ein hier postierter Wächter.
Sie überlegte nicht lange.
Ihr rechter Arm flog hoch.
Und mit aller Kraft schlug sie mit dem Eisenstabe zu, schlug dorthin, wo sie den Kopf des Feindes vermutete.
Ein unheimlicher dumpfer Krach. Der Hieb hatte gesessen.
Dann sofort ein leiser Aufschrei.
Jane stutzte.
Ah – das war ein Laut aus weiblicher Kehle gewesen!
Ein Weib hier im Indra-Tempel?! Das konnte nur des Fürsten neue Geliebte sein, nur die Frau, die er ihr vorgezogen hatte.
Nur den Bruchteil einer Sekunde brauchte Jane sich dies klar zu machen.
Dann – schlug sie abermals zu, schlug in besinnungsloser Wut immer wieder, bis die unsichtbare Feindin mit einem Ächzen nach vorn fiel und Jane beinahe umgerissen hätte.
Jane fing den Körper im letzten Moment noch auf, nahm ihn in die Arme, tappte den Weg zurück, stieß die Riegel ihrer Zellentür auf und warf die Unbekannte auf das Feldbett, verriegelte die Tür wieder und hastete nach der Treppe hin, wo der Greis mit vor Angst und Entsetzen klappernden Zähnen ihrer harrte.
„Weiter!“ flüsterte Jane.
Sie gelangten in den oberen Flur, an die Hintertür.
Sie war verschlossen. Aber Jane wußte, wo der Schlüssel hing. Sie holte ihn, schloß leise auf, zog den Greis in den Garten, lief mit ihm um das Haus herum und durch den Vorgarten auf die stille Basedowstraße.
Der Greis in seinem warmen Schlafrock und den großen Filzschuhen konnte dieses Tempo nicht länger mitmachen.
„Langsamer!“ flehte er. „Ich – ich werde sonst ohnmächtig.“
Sie hatten die erste brennende Laterne erreicht.
Jane stützte den alten Mann.
„Noch sind wir nicht in Sicherheit!“ stieß sie ärgerlich hervor. „Wenn nur ein Mensch käme, er uns ein Auto holte.“
Die Straße war leer. Aber jetzt löste sich aus der Dunkelheit des Bretterzaunes des nächsten Grundstücks eine Gestalt los, ein Arbeiter im schmierigen Kittel mit berußtem Gesicht.
Ein langer, hagerer, rotbärtiger Mann war’s.
Plötzlich stand er neben Jane und dem Greise, fragte, ob’s mit dem Alten schlecht sei, ob er helfen könne.
„Dort wohnt ein Freund von mir,“ fügte er hinzu und zeigte auf die Gärtnerei Thomas Birks, von dessen Zugehörigkeit zum Inneren Kreise der Loge Jane nichts ahnte.
Jane hatte bereits an ihrem Ärmel Blutspuren entdeckt, die nur von den Kopfwunden des Weibes herrühren konnten, das sie auf das Feldbett getragen hatte.
Sie hätte sich gern gesäubert, bevor sie eine Polizeiwache aufsuchte. Auch war es ihr nur lieb, daß sie den Greis irgendwo vorläufig unterbringen konnte.
„Schützen Sie uns!“ flehte sie den Rotbärtigen an. „Nehmen Sie uns mit zu Ihrem Freunde! Sie sollen dafür reich belohnt werden!“
„Gut – kommen Sie!“ nickte der Arbeiter, faßte den Greis unter und schritt quer über die Straße der Gärtnerei zu.
Er öffnete die unverschlossene Tür des Gärtnerhäuschens und stieß dann eine Tür rechter Hand auf.
Jane folgte ihm in das helle, behagliche Zimmer, wo er den alten Mann in die Sofaecke gleiten ließ.
Dann wandte er sich um.
„Nummer Acht heißt Sie willkommen, Jane Wellesley!“ sagte er mit harter Stimme.
Im selben Moment trat hinter einem Schranke ein zweiter Arbeiter hervor.
Udo von Brucksal stand am Fenster seines Arbeitszimmers und beobachtete die Straße, wie der Fürst es befohlen hatte.
Dann erschien Friedrich Blunk und meinte:
„Junge, es wird Zeit. Wir müssen Brex aus dem Sarge herausholen. Die Köchin und das Stubenmädchen habe ich weggeschickt. Bevor sie die Einkäufe erledigt haben, ist alles in Ordnung. Die Kiste für Brex steht bereit.“
Ein feines, leises Schrillen ertönte wie das Anschlagen einer fernen Glocke.
Udo stand auf, nahm ein großes Bild neben seinem Schreibtisch von der Wand und öffnete die Tür eines Geheimfaches, in dem ein Fernsprecher untergebracht war.
Udo von Brucksal hatte den Hörer erst wenige Sekunden am Ohr, als er mit einem Ruck den Kopf nach Blunk drehte und flüsterte:
„Verrat! – Der Fürst rechnet damit, daß wir fliehen müssen!“
Als er dann den Hörer in das Geheimfach zurücklegte und dieses schloß, war sein Gesicht vor Aufregung dunkelrot geworden.
„Jetzt heißt es schlau sein, Robb!“ meinte er nun zu dem angeblichen Diener. „Ulminski sagte mir eben, daß wir von der Polizei beobachtet werden. Wir sollen sofort die Leiche der Fürstin hier heraufbringen und sie dann, sobald die Kiste eintrifft, in dieser über die Dächer nach der Siegfriedstraße schaffen! Ein netter Auftrag!“
Blunk lächelte überlegen. „Auf die Polizei pfeif’ ich! Jedenfalls müssen wir gehorchen. Ob wir im übrigen ein paar Wochen früher oder später nach England kommen, bleibt sich gleich. Vorwärts! Zunächst also Brex!“
Sie begaben sich in das Sterbezimmer, rückten das Sofa von der Wand und stiegen in das geheime Gelaß hinab.
Blunks Laterne beleuchtete den dunklen Eichensarg.
„Verdammt!“ fluchte Blunk plötzlich. „Der Deckel ist ja zugeschraubt! Da – alle Schrauben sind an Ort und Stelle! – Hölle und Teufel, was hat das zu bedeuten?!“
Udo von Brucksal packte des Alten Arm.
„Ist’s nicht besser, wir lassen hier alles im Stich und fliehen?“ meinte er leise. „Mag Ulminski zusehen, wie er sich aus der Patsche zieht. Ich verspüre wenig Lust, ins Zuchthaus zu wandern!“
„Junge, daraus wird nichts!“ erklärte Blunk jedoch sehr energisch. „Los – heraus mit den Schrauben! Dieser Schuft von Brex ist uns entwischt. Er kann ja nicht mehr im Sarge stecken!“
Widerwillig nur gehorchte Udo. Dann schoben sie den Deckel beiseite.
Die Fürstin Sonja Ulminski lag in all ihrer Schönheit friedlich im Sarge, dem ein scharf süßlicher Chloroformgeruch neben den Kampferdünsten entströmte.
„Wußt’ ich’s doch,“ brummte Blunk, „Brex ist auf und davon!“
Udo versuchte jetzt nochmals den Alten umzustimmen.
„Bedenke, daß die Polizei im Hause ist,“ meinte er flüsternd. „Wie sollen wir da die Kiste mit der Leiche unbemerkt wegschaffen! Das ist unmöglich! Dabei riskieren wir, sofort verhaftet zu werden. Am besten ist’s, wir teilen Ulminski jetzt mit, daß wir soeben hier unten Brex gesehen hätten. Der Fürst wird dann darauf verzichten, daß die Tote nach dem Kirchhof gebracht wird.“
Blunk wurde nachdenklich. „Hm, du hast vielleicht recht, mein Junge,“ sagte er bedächtig. „Vorher aber wollen wir mal feststellen, was Ulminski in der Brusthöhle versteckt hat.“
Er lüftete das Seidentuch und das bestickte Hemd und legte die silberne Platte frei, hob sie heraus und entfernte auch das Kampferstück.
Da – über ihnen im Sterbezimmer hastige Schritte.
„Das kann Ulminski sein!“ stieß Udo hervor.
Blunk brachte das Kampferstück und die Platte rasch wieder an Ort und Stelle zurück.
Dann auch schon des Fürsten Stimme von oben aus der Falltür:
„Laßt alles, wie es ist! Kommt heraus – schnell!“
Blunk fand gerade noch Zeit, Hemd und Tuch in Ordnung zu bringen. Dann kletterten sie wieder empor.
„Wir müssen das Haus sofort verlassen,“ empfing Ulminski sie. „John Wellesley meldete mir soeben, daß Jane entflohen ist und mit ihr der Greis. Nehmt das Nötigste nur mit und folgt mir!“
Als sie über die Haupttreppe in Ulminskis Wohnung gelangt waren, stand Nadja bereits fertig angezogen im Flur.
In den Vorzimmern brannte überall Licht.
„Nadja verschwindet zuerst,“ sagte der Fürst, als die Vier nun sein Arbeitszimmer betreten hatten.
Blunk zuckte die Achseln. „Verschwinden?! Gut – einverstanden! Aber wie?!“
Ulminski machte eine herrische Handbewegung.
„Das ist meine Sorge, Blunk! Von den Maßnahmen, die ich zum Schutze derer getroffen habe, die dem Bunde und mir unbedingten Gehorsam gelobten, wissen Sie bisher das wenigste. Zunächst, hier sind alle Vorderzimmer erleuchtet! Wir werden die elektrischen Kronen auch brennen lassen, damit die Asphaltarbeiter da unten auf der Straße annehmen, ich befände mich in aller Ruhe hier im meinen Räumen. – Dann – wir drei werden in meinem Schlafzimmer, dessen Ostwand an die des Nebenhauses stößt, uns maskieren. Ich habe bereits alles zurechtgelegt. Sie beide müssen ein älteres Ehepaar vorstellen. Ich selbst werde mich um dreißig Jahre älter machen. Ich muß nachher den Leuten, die die lange Kiste bringen, Gegenbefehl geben, damit sie nicht abgefaßt werden. Janes Flucht –“.
Draußen hatte die Flurglocke geschrillt.
Ulminski gab den Dreien ein Zeichen, sich in das Schlafzimmer zurückzuziehen. Er selbst eilte zur Flurtür, spähte durch das Guckloch.
Da – wieder schlug die Glocke an.
Der Fürst bemerkte draußen zwei ihm unbekannte Herren. Er wußte jetzt – die Entscheidung war da!
Sein Zeigefinger suchte einen Knopf rechts neben der Tür.
Eine eiserne Rollwand senkte sich rasch und geräuschlos von oben herab.
Ulminski lief durch den Flur zum zweiten Wohnungseingang, in die Küche. Auch hier bemerkte er vor der Tür zwei Männer in Arbeitertracht. Also war auch dieser Ausgang versperrt. Aber auch hier glitt jetzt eine Rollwand herab, die nur mit Werkzeugen zu durchbrechen war.
Als er wieder in den Vorderflur gelangte, hörte er schon das Splittern des Holzes vom Haupteingang, den man gewaltsam aufbrach.
Im Schlafzimmer riegelte er hinter sich die Tür ab, riß den großen Kleiderschrank auf und schob in der rechten Ecke die Rückwand nach außen.
„Her mit den Sachen, die dort auf dem Diwan liegen!“ flüsterte er Blunk und Udo zu.
Es waren die Verkleidungsstücke, die nun durch den Schrank in ein Zimmer des Nebenhauses flogen.
Dann schickte der Fürst die drei durch diese geheime Verbindung in jenes Zimmer, das er unter anderem Namen und anderem Aussehen als angeblicher Geschäftsreisender, der wenig zu Hause war, von einer älteren Witwe gemietet hatte.
Er selbst riegelte die Schlafzimmertür wieder auf, drehte das Licht aus und stieg in den Schrank hinein, zog die leicht klemmende Tür fest zu und rückte die auf Bügeln hängenden Anzüge wieder bis in die rechte Ecke, schloß die bewegliche Rückwand, schloß auch die Geheimtüren in der Mauer und stand nun im Dunkeln vor der zitternden Nadja und den beiden Brüdern der Indra-Loge, die den kommenden Dingen jetzt mit größter Ruhe entgegensahen, da sie abermals erkannt hatten, daß der Fürst nicht zu viel behauptet hatte, als er ihnen sichere Rettung verhieß.
Ulminski flüsterte ihnen dann zu: „Ich werde erst einmal feststellen, ob Frau Dierk, meine Wirtin hier, daheim ist. Sie hält sich keine Dienstboten.“
Er kehrte sehr bald zurück. „Sie ist ausgegangen,“ sagte er kurz. „Blunk und Udo – beginnen Sie mit der Maskierung. Ich werde Nadja bis zur Flurtür bringen. Ziehe den Schleier herunter, Kind. So, nun gehst du die Gudrunstraße nach rechts hinab bis zum Wernerplatz. Dort wartest du auf Blunk und Udo, die als älteres Ehepaar Arm in Arm erscheinen werden. Ihr Drei begebt euch durch den Hof der Speditionsfirma von der Rückseite in den Tempel. Der auf dem Hofe wohnende Kutscher der Firma gehört ja auch mit zu uns. Die Loge dürfte kaum schon umstellt sein. Sie wird höchstens von der Basedowstraße beobachtet werden. Ihr findet dort außer John noch Gunnar Börtgen vor –“.
Er war nachdenklich geworden. „Ich möchte doch erst noch anfragen, wie es mit der Sicherheit dort bestellt ist,“ fügte er hinzu, ging zum Schreibtisch und ließ sich mit der Nummer des Gärtnereibesitzers Thomas Birk, also mit dem Nebenhause der Loge verbinden.
„Hier der Meister,“ meldete er sich.
„Hier Nummer Acht,“ kam die Antwort. Also war Birk am Telefon. „Johns Aufregung war überflüssig,“ meldete Birk hastig. „Die beiden entlaufenen Hunde sind schon wieder eingefangen. Sie trieben sich vor dem Hause auf der Straße umher.“
„Sind noch mehr Köter auf der Straße? Vielleicht angelockt durch die Hündin Jane?“ fragte Ulminski mit einem tiefen Atemzug der Erleichterung.
„Nein. Nicht ein einziger.“
„Gut. – Schluß –“.
Der Fürst wandte sich den Dreien zu.
„Das Eindringen der Polizei in meine Wohnung muß andere Ursache haben,“ sagte er leise. „Jane und der Greis sind von den von mir aufgestellten Wachen wieder ergriffen worden. – Vorwärts nun! Beginnt mit der Verkleidung. Beeilt euch aber! – Komm, Nadja, du wirst in der Loge völlig sicher sein.“
Fünf Minuten später verließen auch Blunk und Udo das Haus, weitere fünf Minuten auch der Fürst, jetzt ein graubärtiger, gebückt gehender alter Herr mit goldenem Klemmer auf der verdächtig blaurot schimmernden Nase.
Ulminski, schwer auf einen Spazierstock sich stützend, warf einen kurzen Blick auf die Pechfackeln und die Asphaltarbeiter, die jetzt dicht vor der Tür von Nummer 20 standen und sich auszuruhen schienen.
Als zehn Minuten später ein offenes Auto, in dem drei Männer mit einer langen, hellen Holzkiste saßen, die Gudrunstraße entlang kam, trat der hinkende Herr dem Kraftwagen in den Weg, zwang ihn zum Ausweichen und rief den Insassen ein einziges Wort zu: „Meister!“
Das Auto hielt. Ulminski stieg ein. Es wendete und fuhr dem Werner Platz zu.
*
Erna Maletta, von deren Anerbieten, ihm bei den weiteren Ermittlungen zu helfen, der Kriminalkommissar Doktor Fink gern Gebrauch machen wollte, wurde gebeten, in der Verkleidung einer älteren Bettlerin das Haus der Geheimnisse zu besuchen, sich dort möglichst lange auf den Hintertreppen aufzuhalten und festzustellen, ob die Bewohner der zweiten und dritten Etage auf diesem Wege sich zusammenfänden, und was sonst dort vorging.
Die berühmte Filmdiva, die nun von dem schweren Verdacht des Mordes endgültig befreit und deren Verhaftung aufgehoben worden war, ließ sich von einer Vigilantin der Polizei die nötigen Kleidungsstücke beschaffen und machte sich eine tadellose Maske zurecht, in der niemand sie so leicht erkannt hätte.
Als sie dann am Werner Platz die Straßenbahn verließ, war es bereits dunkel geworden. Sie schritt mit ihrem Körbchen am Arm langsam die Gudrunstraße hinab, sah nun etwa hundert Meter vor sich die flackernden Pechfackeln der Asphaltarbeiter und wurde dadurch aus tiefem Sinnen, das der Vergangenheit gegolten hatte, in die reichbewegte, abenteuerliche Gegenwart zurückgerufen.
Diese Vergangenheit hing mit der Person Udo von Brucksals eng zusammen. Erna Maletta war in einer kleinen Stadt aufgewachsen, in deren Nähe das Stammschloß der Grafen von Brucksal lag. Als Mädchen von fünfzehn Jahren hatte sie daher sehr oft den jungen Grafen gesehen, wenn der entweder zu Pferde oder im eleganten Selbstkutschierer in die Stadt gekommen war. Für sie, das Kind eines Unterbeamten, war Graf Udo der Gegenstand phantastischer Träume geworden. Ihre heranreifende Schönheit war dem einzigen Erben des alten Namens sehr bald aufgefallen. Er grüßte den Backfisch mit den langen, dicken Hängezöpfen jedes Mal, wenn er ihm begegnete, und eines Tages hatte es dann der Zufall gefügt, daß er Erna vor der Stadt traf, sie ansprach und ein Stück begleitete. Auf dieses erste Beisammensein folgten bald heimliche Stelldicheins. Graf Udos munteres Wesen, seine Zwanglosigkeit und Ritterlichkeit ließen Erna völlig vergessen, daß er in der Nähe gesehen eigentlich recht häßlich war. Er blieb ihr stiller Schwarm, er wurde der erste, der ihre frischen Lippen küßte.
Dann starben ihre Eltern im Herbst 1913 kurz hintereinander, und Erna kam zu einer Schwester ihrer Mutter nach Berlin, während Graf Udo zur gleichen Zeit als aktiver Offizier an die Deutsche Botschaft in Washington abkommandiert wurde. Ohne Abschied wurden sie so vom Schicksal getrennt, hörten nichts mehr voneinander.
Dann brach der Weltkrieg aus. Erna Malert, so lautete ihr richtiger Name, machte rasch Karriere und hatte in drei Jahren ihrem Künstlernamen Erna Maletta internationale Berühmtheit gegeben.
Ein Zufall führte sie als Mieterin in dasselbe Haus, in dem der Vater Udos, der den Sohn in Rußland gefallen glaubte, jetzt ebenfalls wohnte. Plötzlich hörte die Künstlerin dann von ihrer Zofe, daß der totgeglaubte junge Graf aus sibirischer Gefangenschaft zurückgekehrt sei. Sie begegnete ihm denn auch sehr bald auf der Treppe. Sie hatte ihn nicht vergessen. War er es doch, der ihr Mädchenherz einst wachgeküßt hatte. Frauen vergessen ihren ersten Liebhaber niemals, erinnern sich gern der Tage reiner Sehnsucht. So ging es auch Erna Maletta. Sie war gespannt, ob der junge Graf, den sie sehr verändert fand, sie wiedererkennen würde. Achtlos schritt er das erste Mal an ihr vorüber, musterte sie nur kühl durch sein blinkendes Monokel. Nichts in seinem abschreckend mageren Gesicht verriet, daß er sich auf den Backfisch mit den langen Hängezöpfen besann. Ebenso achtlos ließ er sie dann stets an sich vorüber, grüßte sie nur mit korrekter Höflichkeit als Mitbewohnerin des Hauses.
So blieb es. Erna verspürte keine Neigung, ihm gelegentlich zu erklären, wer sie sei: Erna Malert, seine Schwärmerei von einst! – Sein jetziges Aussehen machte ihn ihr unsympathisch.
Und dann – dann war jener Abend gekommen, wo sie mit Hektor von Rabinski vom Brucksalschen Hofbalkon aus jene seltsame Szene beobachtet und wo sie zum ersten Male nun auch wieder des Grafen Udos Stimme gehört hatte.
Ja – er hatte sich nicht nur äußerlich sehr verändert. Auch seine Stimme klang völlig anders.
Hierüber grübelte Erna Maletta jetzt nach, als sie die Gudrunstraße entlang schritt, hierüber und über den merkwürdigen Zwiespalt in ihren Empfindungen. Gewiß, der junge Graf war ihr jetzt unsympathisch gewesen! Aber dieses Gefühl fast heftigen Widerwillens gegen seine Person hatte sie nur, wenn sie ihn vor sich sah. War sie ihm längere Zeit nicht begegnet, so schlichen sich in ihr Herz wieder andere Empfindungen ein, dann wurde er wieder ganz zu jenem Grafen Udo, an dessen Brust sie unter Schauern des ersten heißen Begehrens geruht hatte. –
Da – sie hätte beinahe leise aufgeschrien! – Da wäre dicht vor ihr ein alter Herr fast von einem Auto überfahren worden, in dem drei Männer mit einer langen schmalen Kiste saßen.
Nun hatte das Auto halt gemacht, nun sah sie den alten Herrn hastig einsteigen, vernahm noch gerade dessen Worte:
„– zu gefährlich! Die Asphaltarbeiter sind –“.
Mehr hörte sie nicht. Aber es genügte ihr. – ‚Zu gefährlich!‘ hatte der hinkende Herr gesagt und in gleichem Atem die verbleibenden Kriminalbeamten erwähnt! Ob der alte Herr und das Auto Mitglieder der Verbrecherbande waren? Hatte nicht Kommissar Fink angedeutet, daß man den Fürsten Ulminski jetzt für das Haupt einer großen Gaunerbande hielte? Und – war diese Stimme nicht die des Fürsten gewesen, mit dem sie häufiger hier und dort auf Gesellschaften zusammengetroffen war?
Sie sah, wie das Auto kehrt machte. Sie zauderte nicht, lief dicht an den Häusern hinterdrein, fand vor einer Kneipe ein Taxameterauto, dessen Motor leer lief und dessen Chauffeuer offenbar nur für kurze Zeit die Kneipe betreten hatte.
Sie schwang sich auf den Führersitz. Sie verstand auch einen Kraftwagen zu steuern. Ein paar Griffe, und das Auto ruckte an.
Dort weit vorn sah sie im Laternenschein die helle Holzkiste wie einen Turm aus dem Wagen Ulminskis emporragen.
Dieser Turm machte ihr die Verfolgung leicht.
Das Automobil vor ihr durchquerte im Zickzackweg allerlei Straßen, näherte sich dann wieder dem Viertel der Gudrunstraße und hielt schließlich vor einem Hause der Bloomstraße. Hier stiegen die drei Männer und der hinkende alte Herr aus. Der Wagen mit dem Chauffeur und der Kiste fuhr weiter. Die Vier gingen zu Fuß bis zur Parchimstraße, wo sie links an einem großen Holztor läuteten. Als sie verschwunden waren, ließ Erna Maletta den ohne Erlaubnis entliehenen Taxameterwagen langsam an dem Tore vorüberrollen und las das Firmenschild:
König und Co.,
Spedition und Möbeltransport,
Parchimstraße 111.
Dann lenkte sie das Auto nach der Gudrunstraße vor die Kneipe, wo sie es vor etwa einer Viertelstunde entführt hatte.
Sie sprang vom Vordersitz herab und schlich rasch davon.
Horst Olden hatte kaum gehört, daß der Mann wieder verschwunden war, der ihn mit der Kerze in der Hand im Sarge der Fürstin von oben durch die Falltür beobachtet hatte, als er auch schon den Sarg verließ und die Leiche wieder hineinlegte.
Daß der Mann ihn erkannt hatte war ausgeschlossen, da dessen ganzes Benehmen verraten hatte, wie sehr er durch den Anblick der scheinbar aufrecht sitzenden Toten erschreckt worden war.
Olden kombinierte jetzt folgendermaßen: Dieser Schreck wird bei dem Manne nicht lange anhalten. Der Betreffende, entweder der Fürst, Graf Udo oder der Diener, wird sich sehr bald sagen, daß er sich außerordentlich töricht benommen habe, indem der sich durch ein lebendes Wesen, das nur von rückwärts gesehen der Toten glich, verscheuchen ließ. – Er wird also, folgerte Olden weiter, wahrscheinlich in kurzem hier unten erscheinen und sich überzeugen, ob ein Fremder wirklich in das Sarggemach eingedrungen sei und ob er noch darin weile. Voraussichtlich kommt er nicht allein, sondern mit einem anderen, um den Eindringling bequem unschädlich machen zu können. ‚Es dürfte daher ratsam sein,‘ sagte der Detektiv sich zum Schluß, ‚nicht hier zu bleiben, da ich mich dadurch nur einer zwecklosen Gefahr aussetze. Ich habe eben Pech gehabt. Ich wurde überrascht, bevor ich den Sargdeckel wieder zuschieben konnte. Und nun sind diese fragwürdigen vornehmen Herrschaften der zweiten und dritten Etage gerade durch mich vorzeitig gewarnt worden – durch mich, der Wrobel und Brex gegenüber noch vorhin betont hat, daß man nicht zu früh zupacken dürfe. Unter diesen Umständen müssen wir es aber tun, obwohl ich nicht weiß, wie ich Lori finden soll, wenn Ulminski verhaftet wird, der wohl kaum verraten dürfte, wohin er sie gebracht hat.‘
Kein Wunder, daß Horst Olden jetzt seinen Entschluß, den Sarg als Versteck zu benutzen und von hier aus die Verbrecher zu beobachten, geradezu verwünschte.
In recht gedrückter Stimmung öffnete er daher jetzt, nachdem er den Sargdechel in die richtige Lage geschoben hatte, die innere der nach dem Fahrstuhlschacht führenden Geheimtüren, zog dann auch die äußere etwas auf.
Das Surren und Brummen des in Bewegung befindlichen Fahrstuhlkastens zwang ihn, noch eine Weile in dem Sarggemach auszuharren.
Er hatte abermals Pech, der Fahrstuhl machte im zweiten Stock halt und versperrte mithin diesen Ausweg, da er nun als Hindernis dicht vor der äußeren Geheimtür hing.
Olden hörte, daß der Portier Huberke sich mit seiner Frau auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage über das Aufrollen und Reinigen der Läufer unterhielt, die wieder mal geklopft werden müßten.
Horst Olden fieberte vor Ungeduld. Wenn seine Mutmaßungen zutrafen, mußten sehr bald vielleicht zwei der vornehmen Verbrecher hier erscheinen. Und was dann geschah, war gar nicht abzusehen. Zunächst, er selbst war unbewaffnet! Man konnte ihn niederschlagen. Und dann würden diese gefährlichen Gauner sofort das Weite suchen, bevor noch die Kriminalpolizei, die jetzt durch Wrobel herbeigerufen, das Haus bewachte und umzingelte!
Olden wurde ganz heiß, als er sich so diese Folgen seines übereilten Planes, hier sich zu verbergen, in allen Einzelheiten ausmalte – heiß vor verzehrendem Warten, daß der Fahrstuhl endlich sich wieder bewegen und ihm das Verlassen dieses Raumes ermöglichen möchte – heiß auch in dem Bewußtsein, daß durch seine Schuld der Fürst, Graf Udo und Friedrich Blunk entkommen könnten.
Ah – der Fahrstuhlkasten bewegte sich! Frau Huberke fuhr nach oben, um die Läufer der vierten Etage zu holen. Aber ihr Mann blieb auf dem Treppenabsatz des zweiten Stocks stehen und machte die Messingstangen der Läufer los.
Olden hatte sich zu früh gefreut. Er mußte jetzt an der Leitschiene in den Maschinenraum hinabklettern, mußte sogar noch jedes Geräusch vermeiden, wenn er den Portier nicht argwöhnisch machen wollte.
Doch auch für diesen Rückweg sollte es bereits zu spät sein.
Wieder vernahm Olden über sich das leise Herabgleiten der Falltür.
Er konnte gerade noch die innere Geheimtür schließen und unter den Diwan kriechen, konnte hier sich noch dicht an die Mauer schieben und die lang herabhängende Diwandecke so über sich breiten, daß sie ihn gegen einen flüchtigen Blick schützte – dann hörte er schon, wie jemand hier unten ankam, wie Blunk flüsterte: „Ich werde mal unter den Diwan schauen!“
Dies war der entscheidende Augenblick.
Aber – Blunk bemerkte nicht, daß die Diwandecke an der Wand sich bauschte. Er richtete sich wieder auf.
Nun entleerte Blunk die Chloroformflasche in den Sarg, dann schwangen er und Udo sich auf diesen, damit Brex, den sie ersticken wollten, den Deckel nicht beiseite drücken konnte.
Olden hörte all die Geräusche, wurde sich aber nicht klar darüber, was die Schurken eigentlich taten. Erst als Blunk nach gut fünf Minuten zu Udo sagte: ‚Der schlummert so allgemach aus der Narkose in die Hölle hinüber!‘, und als dann auch Brex’ Name genannt wurde, begriff er das höllische Unterfangen dieser beiden Schufte.
Die zwei kehrten jetzt nach oben in das Sterbezimmer zurück.
Olden atmete auf. Die Gefahr war vorüber. Nun hieß es, die Sachlage kühl überprüfen und nicht wieder überhastet etwas unternehmen. – Die Verbrecher glaubten Brex, den hier eingedrungenen Spion, nun ‚erledigt‘ zu haben. Sie würden sich daher Zeit lassen und nicht sofort fliehen. Inzwischen würde dann Kommissar Fink mit seinen Beamten das Haus umstellt haben. Die Sachlage war also günstiger als vordem.
Olden kroch unter dem Diwan hervor.
Alles still ringsum.
Nein – doch nicht! Dort im Salon der Prinzessin Nadja jetzt Stimmen.
Olden schlich bis dicht an die Holzwand, lauschte, erkannte des Fürsten tiefes Organ, verstand jedoch nur Bruchstücke der Unterhaltung zwischen Vater und Tochter.
Ah – der Fürst sprach lauter: „– Du sollst dort einige Tage bleiben, Nadja. Auch Fräulein Battner leidet unter der Einsamkeit –“
Fräulein Battner! Lori! – Horst Olden hielt den Atem an, um ja keine Silbe dessen zu verlieren, was nun der Fürst in steigender Erregung mit seinem Kinde verhandelte.
Der Brillantring wurde erwähnt.
Nadja in die Enge getrieben beichtete alles.
Und nun – nun Worte, die Horst Olden wie ein Peitschenhieb trafen: ‚Der Kampf um unsere Freiheit beginnt! Aber ich werde siegen – für Lori Battner und dich, für euch beide, die ihr mein höchstes Gut seid! Dort unten die Asphaltarbeiter – sind die Schergen, die uns umlauern!‘
Mehr hörte Olden nicht – wollte nichts mehr hören!
Er war zurückgetaumelt –.
Was – was nur bedeuteten diese Ausdrücke des Fürsten? Was hieß es, daß er Nadja und Lori sein höchstes Gut nannte?! Das klang ja gerade so, als ob er Lori liebte und von ihr wiedergeliebt wurde!
Olden fühlte kalte Schweißperlen auf der Stirn.
Lori – seine Lori, vielleicht – die Geliebte Ulminskis?! War das denn möglich?! Hatte Lori nicht ihn, Horst Olden, heute hier in diesem Gemach vor wenigen Stunden mit tiefer Zärtlichkeit geküßt?!
Was – was bedeutete das?!
Er stand und grübelte – grübelte. Mißtrauen schlich sich in sein Herz ein.
Sollte Lori ihn getäuscht haben? War es nicht auffallend, daß sie so schnell bereit gewesen war, ihm zu helfen und sich von Ulminski anderswohin bringen zu lassen?! Steckte sie etwa mit dem Fürsten doch unter einer Decke?! War sie vielleicht dessen Vertraute? Hatte sie vielleicht nur den Fürsten schützen wollen?! –
Immer tiefer fraßen sich Ulminskis Worte ‚Ihr Beide – mein höchstes Gut!‘ in Horst Oldens Hirn wie glühende, eherne Lettern ein, vernichteten den Glauben an Lori, ließen die giftige Saat der Zweifel hochschießen. –
Olden stöhnte auf.
Es mußte so sein. Lori hatte ihn belogen! Lori hatte seinen Liebesworten nur gelauscht, seine Zärtlichkeiten nur geduldet, um ihn auszuhorchen!
Eine jähe Wut packte Olden jetzt.
‚Weiber – Weiber! Wer sein Herz an euch hängt, den macht ihr blind, den macht ihr zum kurzsichtigen Narren! Und mir, mir, dem berühmten Olden ist es nun ebenso ergangen!‘
Er ballte die Fäuste.
‚Schlange, listige, verführerische Schlange, ich werde dir den Kopf zertreten, dir und deiner Brut!‘
Dann überkam ihn eine unnatürliche Ruhe.
Mit einer verächtlichen Handbewegung wies er alle weichen Erinnerungen an Lori von sich, richtete sich hoch auf, hob drohend die Hand nach dem Salon hin und öffnete die Geheimtüren zum Fahrstuhlschacht.
Der Weg war frei.
Olden schwang sich zu der Gittertür hinüber, schloß sie auf, gelangte auf den Treppenabsatz der zweiten Etage und hastete die Stufen empor.
Oben im vierten Stock in seinem Arbeitszimmer fand er Brex, Heinz Römer und Wrobel vor. Der dicke Wrobel war soeben erst wieder eingetroffen.
„Holen Sie Doktor Fink herauf!“ sagte Olden mit seltsam starrem Gesicht, als Wrobel erzählte, daß der Kommissar der Vorarbeiter der Asphaltleute unten vor dem Hause sei. „Schnell – wir müssen die Schurken verhaften! Sonst entwischen sie uns doch noch!“
Brex war erstaunt. „Mit einem Male so ganz anderer Meinung?“ fragte er Olden kopfschüttelnd.
„Sie werden hören, was ich Fink zu sagen weiß,“ erklärte Olden unfreundlich.
„Lori Battner hat mich hineingelegt,“ stieß Olden mit einiger Überwindung hervor. „Der Fürst will mit seiner Tochter fliehen, will sich dorthin begeben, wo sich – die Battner befindet. Aber er weiß, daß die Asphaltarbeiter Polizeibeamte sind! Er dürfte noch einen Notausgang für die Stunde der Gefahr bereithalten. Wir müssen also zupacken!“
Fink war einverstanden.
So kam es, daß vier weitere Kriminalbeamte, die in einer nahen Kneipe sich aufgehalten hatten, vier Minuten drauf bei dem Fürsten Einlaß begehrten, während Olden, Fink, Brex und Wrobel gleichzeitig bei Brucksal in der dritten Etage läuteten.
Gleichzeitig begannen beide Trupps die Türen zu erbrechen.
Die Wohnungen aber waren leer.
„Über die Dächer, über den Hof können sie nicht entschlüpft sein!“ rief Fink jetzt im Sterbezimmer des Grafen Oskar. „Drei meiner Leute sind dort postiert. – Wo sind die Vier also geblieben?“
Oldens eisige Ruhe wirkte auch auf die erregten Gemüter der anderen.
„Suchen wir den – Notausgang!“ meinte er. „Vielleicht sind sie durch den Fahrstuhlschacht in den Keller hinabgeklettert. Vielleicht gibt es im Keller geheime Türen und Gelasse.“
Man suchte. Man suchte so, wie es Leute tun, die das Finden als Kunst und Beruf betreiben.
Olden und Fink standen jetzt vor dem geöffneten Sarge der Fürstin. Der Kommissar war ergriffen von so viel überirdischer Schönheit.
„Ein seltsamer Mensch, dieser Ulminski,“ meinte er leise. „Ein hochintelligenter Mann, ein zärtlicher Vater, ein Gatte von seltener Anhänglichkeit selbst an eine Verschiedene – und doch ein Verbrecher!“
„Und fraglos einer der gefährlichsten, der bedeutendsten, die die Erde je getragen hat,“ fügte Olden hinzu. „Ein Mann, der sich alles untertan macht, der eine Baronin Rabinski in den Tod hetzte, der Lori Battner betörte, der – allmächtig ist, weil er die Menschen zu nehmen versteht!“
Einer der Beamten rief durch die Falltür herab, daß Brex im Schlafzimmer des Fürsten einen Durchgang nach dem Nebenhause gefunden habe.
Olden und Fink kletterten an dem Seil in das Sterbezimmer des Grafen Oskar empor. Als sie den Flur betraten, kam ihnen Heinz Römer mit dem Strolche entgegen – dem angeblich taubstummen Strolch, der nun plötzlich mit einer Gentlemanverbeugung sagte:
„Meine Herren, Herr Römer hat mir soeben bei der Rechnungsrätin nochmals zugeredet, die Maske zu lüften, und mir erzählt, daß jetzt auch Graf Udo von Brucksal mit entflohen sei. Meine Herren – ich selbst bin Udo von Brucksal! Der, den Sie suchen, ist der Sohn Friedrich Blunks namens Herbert, ist der, der mir, seinem Mitgefangenen, die Ausweispapiere in Sibirien stahl und mich durch niederträchtige Ränke noch tiefer in die Waldeinöden verschleppen ließ, wo ich dann als tot begraben, aber durch ein Tungusenmädchen gerettet wurde.“
Olden reichte dem Grafen sofort die Hand. „Ich habe diesen Zusammenhang geahnt,“ meinte er einfach. „Herbert Blunks Verhältnis zu dem Diener, besonders die Tatsache, daß sie sich insgeheim duzten, ließ nur diesen Schluß zu. Ihre Ähnlichkeit mit Herbert Blunk muß, wenn man Ihren Bart entfernt, recht groß sein, Herr Graf.“
Die Ereignisse überstürzten sich jetzt.
Brex eilte herbei, brüllte fast:
„Die Lumpen sind entkommen! Ulminski hatte bei der Witwe Dierk im Nebenhause als Kaufmann Ulberg ein Zimmer gemietet. Nun haben wir das Nachsehen!“
Und dann erschien auch Wrobel mit einem alten Bettelweib – mit Erna Maletta.
Die Flurlampe beschien des echten Grafen Udo mageres bärtiges Gesicht.
Erna Maletta stutzte, trat näher, schaute den Grafen lange an.
„Es ist der wahre Graf Brucksal,“ erklärte Fink. „Was bringen Sie Neues, Fräulein Maletta?“
Die Filmdiva mit ihrer abschreckend zurechtgeschminkten Fratze lächelte Udo von Brucksal an, sagte leise:
„Sie ein – Strolch – ich ein altes Bettelweib! So sehen wir uns wieder! – Herr Graf, ich in Erna Malert!“
Des Grafen düsteres Gesicht strahlte auf.
„Erna – Erna Malert!“ rief er. „Das – das kann nicht sein! Aber – die Stimme ist’s, dieselbe liebe Stimme von einst!“
Sie streckte ihm beide Hände hin.
„Ich bin’s wirklich – nur daß ich sonst etwas netter ausschaue als jetzt, wo ich der Polizei diene!“ Sie lachte leise und klingend. Es war das Lachen verführerischer Jugend.
Graf Udo drückte ihre Hände.
„Eine glückliche Vorbedeutung ist’s, daß ich gerade Sie hier wiederfinde, Fräulein Erna!“
Fink wurde ungeduldig.
„Fräulein Maletta,“ meinte er, „Wrobel hat mir soeben zugeflüstert, daß Sie den Fürsten verfolgt haben. Bitte, sprechen Sie!“
Sie berichtete kurz, wie sie dem Fürsten nachgefahren war.
Fink blickte Olden an.
„Nun haben wir sie!“ sagte er siegesgewiß.
„Wir wollen nicht zu früh triumphieren. Ich bin bereit, mit Brex erst einmal der Parchimstraße einen Besuch abzustatten und mir jenes Speditionsgeschäft näher anzusehen. Wenn Sie, Herr Kommissar, mit allzu viel Leuten dort anrücken, warnen wir die Verbrecher nur. Brex und ich werden sicher nicht auffallen, wenn wir in passender Maske auftreten – vielleicht als Diebe!“ –
Gleich darauf saßen Brex und Olden in des letzteren Schlafzimmer oben bei Frau Prutz und halfen sich gegenseitig, aus ihren Gesichtern zwei waschechte Gaunervisagen mit Hilfe von Perücken, Bärten und Schminken herzustellen.
*
Jetzt, wo der Abend immer weiter vorrückte und das nächtliche Berlin erwachte, zog sich über der Reichshauptstadt schwarzes Gewittergewölk zusammen.
Ein blinkender Stern nach dem andern wurde von der finsteren Wolkenwand verschluckt. Selbst in den tiefen, kanonartigen Straßen zwischen den himmelhohen Mietskasernen spürte man, wie schwer und elektrizitätsgeladen die Luft war. Die abgetriebenen Droschkengäule ließen die Köpfe noch matter hängen, klapperten noch träger mit steifen Gelenken über das Pflaster hin. –
Der Fürst hatte das Auto, das von Erna Maletta gelenkt wurde, sehr bald bemerkt. Auch der Italiener Cesare Chivarri, einer der anderen drei Insassen, war auf den Kraftwagen da hinten längst aufmerksam geworden.
„Wir werden verfolgt, Meister,“ hatte er Ulminski zugeflüstert.
„Das tut nichts,“ meinte der Fürst kühl. „Wir müssen darauf hoffen, daß Nummer Dreizehn uns später deckt, wenn wir den Hof der Spedition passiert haben. Mit unserem Auto davonzurasen und zu versuchen, den Verfolger auf diese Weise loszuwerden, wäre zwecklos und sogar unklug. Das Auto der Verfolger mag schneller als das unsere sein und den Befehl erhalten haben, uns gewaltsam zu stellen, sobald wir mit Höchsttempo zu fliehen scheinen. Ich kann nicht erkennen, was es für ein Wagen ist und wer sich darin befindet. Jedenfalls ist es besser, daß wir in der Bloomstraße ruhig aussteigen und daß Nummer Neunzehn unser Auto und sich dann in Sicherheit bringt, was nicht schwer sein dürfte, da die Verfolger unserem leeren Auto kaum noch nachfahren werden. Vier andere der Brüder werden dann eben bei Nummer Dreizehn die harmlosen Gäste spielen, wenn die Polizei ihre Spürer ausschickt, den Hof der Firma näher zu durchsuchen, um festzustellen, wo wir geblieben sind. Sollten die Hunde lästig werden, so konnte man sie ja unschädlich machen. Der Logentempel muß ohnedies in dieser Nacht geräumt werden.“
Die klaren, kühl durchdachten Vorbeugungsmaßnahmen des Fürsten wirkten auf seine Begleiter geradezu belebend.
„Meister,“ sagte Cesare Chivarri begeistert, „mit Ihnen zusammen Gefahren trotzen, ist ein Vergnügen!“ –
Das Auto der Indra-Leute hielt jetzt. Die Vier verließen es, und sofort rollte es weiter die Bloomstraße hinab. –
Ulminski hatte dann die in dem riesigen Holztor in dem einen Flügel angebrachte Pforte mit einem Schlüssel geöffnet, verschloß sie jetzt wieder und blieb dahinter an dem runden Guckloch stehen.
Erna Maletta kam mit ihrem Taxameterauto in langsamer Fahrt vorüber.
Ulminski paßte scharf auf, flüsterte jetzt Cesare Chivarri zu:
„Ein Weib – nur eine Spionin! Chivarri, rasch das Rad –! Rasch! Und dann rasen Sie hinterdrein!“
Der Italiener sprang in den nächsten Schuppen. Ulminski öffnete die Pforte wieder, und Chivarri sauste die Straße hinab.
Jetzt hatte Erna Maletta einen Verfolger. Sie ahnte es nicht; sie wußte nicht, wie gut die Vorkehrungen getroffen waren, die die Indra-Loge schützen sollten.
Chivarri, ein sehniger kleiner Mensch, der trotz seiner erst dreißig Jahre bereits tausend Berufe versucht und doch stets wieder aus reiner Abenteurerlust auf die Bahn des Verbrechers geraten war, wurde so Zeuge, wie das Bettelweib das Auto vor der Kneipe stehen ließ und dann die Gudrunstraße weiter entlang bis zur Arbeitsstelle der Asphaltmänner schlurfte, wo sie halt machte und mit den verkleideten Geheimen sprach.
Chivarri radelte gemächlich vorüber, pfiff dabei einen Gassenhauer und beugte sich weit nach vorn, stach blitzschnell mit dem Messer in den Vorderschlauch.
Mit einem leisen Knall entwich die eingepreßte Luft.
Fluchend sprang der Italiener nun aus dem Sattel und begann den Schaden zu besichtigen. Die kaum zehn Meter entfernten Asphaltarbeiter hatten den Knall gehört, glaubten an einen zufälligen Luftschlauchschaden und beachteten den Mann nicht weiter, der nun den Reifen abnahm und zu flicken suchte.
Chivarri sah alles – alles! Sah, wie der dicke Wrobel mit der Bettlerin im Hause verschwand, spitzte noch mehr die Ohren, fing einen Namen auf, den einer der Geheimen dem anderen halblaut zurief:
‚Erna Maletta!‘
Chivarri schmunzelte. Also die Filmdiva leistete der Polizei Spitzeldienste! –
Der Reifen war längst wieder heil. Aber Chivarri blieb und tat so, als pumpe er ihn auf und als hielte der Reifen nicht dicht.
Seine Augen hatten den Eingang von Nummer 20 ständig unter Beobachtung. Nichts – nichts entging den durch Erfahrung geschärften Blicken des kleinen Italieners.
Hm – die beiden fragwürdigen Gestalten, die da soeben aus dem Kellereingang auf die Straße schlüpften und denen einer der Asphaltarbeiter jetzt den Weg vertrat – diese beiden, ein kleiner und ein fast um zwei Köpfe größerer, die der Geheime nun doch unbelästigt passieren ließ, erschienen Cesare Chivarri so beachtenswert, daß er ihnen jetzt mit äußerster Vorsicht folgte.
Sehr bald hatte er gemerkt, daß sie der Parchimstraße zustrebten.
Es waren also Beamte, es waren Spione, die von der Maletta auf diese Fährte gewiesen worden waren.
Chivarri schwang sich auf das Rad und fuhr den beiden voraus. An der Pforte der Hoftür stand jetzt Nummer Dreizehn, der hier wohnende Kutscher der Firma, ein dicker, stiernackiger Mann mit langem Hängeschnurrbart namens Peter Dannick. Der war Junggeselle und lebte mit seiner buckligen Schwester Karoline zusammen. Beide bewohnten links neben dem Tore an einem Ende des Stalles zwei Zimmer.
„Guten Abend, Bruder Dreizehn,“ begrüßte der Italiener den Kutscher flüsternd und schob rasch sein Rad auf den Hof. „Verschließen Sie die Pforte,“ befahl er kurz. „Zwei Schnüffler werden sofort erscheinen, zwei Kerle, die wie Lazzaroni aussehen. Also aufgepaßt! – Wo ist der Meister?“
„Im Tempel, Bruder. – Was die beiden Spione betrifft – sie sollen nur kommen! Werden sich wundern, denk ich!“ Der Riese lachte grimmig.
Von Westen her flog über den pechschwarzen Himmel das erste Aufzucken eines Blitzes hin.
„Es wird eine böse Nacht werden,“ meinte der Italiener und schaute empor.
„Oh – es spielt sich gut Skat, wenn es donnert,“ brummte Peter Dannick. „Zu vieren Skat – und der fünfte steckt dort im Möbelwagen mit dem Sandschlauch!“
Chivarri begriff sofort, nickte dem Kutscher zu und schritt rasch den schmalen, tiefen Hof entlang, kletterte über die Mauer, sprang in den Garten der Indra-Loge hinab und läutete an der Hintertür des Tempels.
Als Ulminski mit seinen beiden Begleitern von John Wellesley in den Tempel eingelassen worden war, galt seine erste Frage seinem Kinde.
„Wo ist Nadja?“ fragte er. – Daß sie hier wohlbehalten angelangt war, hatte er bereits von Peter Dannick gehört.
John machte ein sehr zerknirschtes Gesicht.
„Meister, sie befindet sich oben bei – bei der Verwundeten,“ meinte er zögernd. „Fräulein Battner hat wohl in den Keller hinabsteigen wollen und traf auf der Treppe mit Jane zusammen, von der sie – mit einem Eisenstab niederschlagen wurde –“.
Ulminskis Gesicht erstarrte zu einer Maske zermürbender Angst.
„Schwer verletzt?“ stieß er hervor.
„Es – es geht,“ erklärte Johns scheu. „Bruder Neun, der zusammen mit Bruder Acht, Jane und den Greis abgefangen und beide wieder hierher gebracht hat, war ja zum Glück zur Stelle und hat die Wunden sofort gereinigt und verbunden.“
Der Fürst stürmte schon die Treppe empor, holte vor Loris Schlafzimmertür tief Atem, als ob er Mut brauchte einzutreten, und öffnete dann leise die Tür.
Nadja saß dicht am Bett der abermals infolge des starken Blutverlusts ohnmächtig Gewordenen.
Nummer Neun, ein früherer Arzt, der wegen strafbarer Liebesdienste an Frauen zu Zuchthaus verurteilt worden war, reinigte sich gerade am Waschtisch die Hände.
Die mattgelbe Deckenampel beleuchtete schwach Loris in Verbände gehüllten Kopf. Ulminski blieb stehen, nickte Nadja flüchtig zu, schaute lange auf die reglose Gestalt und wandte sich dann an Doktor Grupp.
„Gefahr vorhanden?“ flüsterte er heiser.
„Nein, Meister. Nur Hautverletzungen und großer Blutverlust. In acht Tagen ist die Patientin wieder frisch und munter.“
„Transportfähig?“ fragte Ulminski ebenso kurz.
„Ja – wenn es sein muß,“ erklärte Grupp, ein älterer Mann mit einem von Reue, Ausschweifungen und Menschenhaß verwüsteten Gesicht.
„Es muß sein! Sie werden meine Tochter und Fräulein Battner begleiten, Doktor! John wird sofort unsere Droschke anspannen. Nummer Eins fährt als Kutscher. Er wird bald hier eintreffen. Richten Sie also die Droschke zum Transport her. Sie begeben sich nach Johannistal. Den Weg werde ich Ihnen vorschreiben. Ich schicke Ihnen unser Auto nach, das für die Verwundete angenehmer ist. In Johannistal wohnt der Motorschlosser Liedke in einem eigenen Häuschen in der Eichwalder Straße Nummer 12. Der ist Bruder. Dorthin schaffen Sie Fräulein Battner vorläufig. – Sie haben begriffen, Doktor?“
„Jawohl, Meister. Schlosser Liedke, Eichwalder Straße 12, Johannistal.“
„Das Auto kommt, falls nötig, sofort nach Berlin zurück und wartet an der Kreuzung der Basedow- und der Knorrstraße. Der Chauffeur soll sich reichlich mit Benzin versehen.“
Ulminski trat jetzt an Nadja heran, beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn.
„Armes Kind,“ flüsterte er. „So viel Aufregungen!“
Nadja haschte nach seiner Hand.
„Oh Papascha – für dich alles – alles!“ sagte sie mit schwärmerischer Zärtlichkeit.
Der Fürst seufzte. „Ja – alles für mich! Alle tun’s mit Freuden! Und – was gebe ich ihnen dafür? Werde ich je meine weitschauenden Pläne verwirklichen können?!“
Wieder küßte er Nadja, schaute Lori abermals lange in das bleiche Antlitz und schlich auf Zehenspitzen hinaus.
Unten in John Wellesleys Wohnung benutzte er dann mehrmals den Fernsprecher. Er benachrichtigte die auf diese Weise erreichbaren Brüder, daß die weiteren Befehle schriftlich zugehen würden.
Dann trat Thomas Birk als würdiger, älterer Herr mit Brille verkleidet, ins Zimmer.
Ulminski erkannte ihn erst, als er seine Nummer nannte.
„Ah, Tom!“ flüsterte der Fürst und drückte Birk die Hand. „Ich danke Ihnen, daß Sie so gut aufgepaßt haben. Wäre Jane entkommen, hätten wir überhastet das Feld räumen müssen. So aber haben wir noch Zeit, vor unserer Flucht alles zu vernichten, was uns irgendwie schaden könnte. Fliehen müssen wir. Die Polizei hat uns bis zur Parchimstraße verfolgt. Aber eine Stunde sind wir mindestens noch vor Überraschungen sicher.“
„Die Basedowstraße ist frei, Meister,“ sagte Birk gelassen. „Ich habe sie soeben nochmals abpatrouilliert.“
„Wo befinden sich Jane und der Greis?“
„Im unterirdischen Tempel, Meister. Börtgen bewacht sie dort.“
„Dann sind vom Inneren Kreis also Sie, Börtgen, Doktor Lamberg und Chivarri anwesend. Chivarri wird sofort erscheinen. Diese Anzahl genügt nach den Satzungen zu einer Gerichtssitzung. – Wie benahm John sich gegenüber seiner Schwester?“
„So, als wäre Jane für ihn eine Wildfremde!“
„Halt – Chivarri soll ja Fräulein Battners Transport begleiten. Das möchte ich umändern. Blunk und Udo sollen mit. Blunk ist ein Hitzkopf, aber zuverlässig. Ich werde Doktor Grupp Bescheid sagen. Teilen Sie Blunk und seinem mir wenig sympathischem Sohne mit, daß sie sich bereithalten sollen. Sie selbst, Tom, bleiben noch eine Viertelstunde in der Basedowstraße und sehen zu, ob etwa sich auch dort Spitzel zeigen.“
Gleich darauf schritt Ulminski die Kellertreppe hinab, wo John Wellesley gerade die Blutspuren wegwusch.
Der Fürst blieb stehen.
„John,“ meinte er ernst. „Jane wird nach einer Viertelstunde vom Inneren Kreis abgeurteilt werden. Wir können sie nicht mitnehmen. Wir sind ohnedies fast zuviel Personen für den Dreidecker.“
Die auf der einen Treppenstufe stehende Petroleumlampe beschien John Wellesleys finsteres Gesicht, das jetzt wie vor verhaltenem Schmerz zuckte. Johns graue Augen aber ruhten fest auf denen Ulminskis.
„Meister, ich kenne nur noch eine Verräterin, ich kenne keine Schwester mehr!“ erklärte er dumpf. „Ich habe mich mit Leib und Leben Ihnen verschrieben, weil ich Sie – verehre! Ich bin treu, Meister – Verbrechertreue!“
Der Fürst nickte ihm zu. „Es ist gut, John. Jane soll leben bleiben, aber – sie wird nichts verraten können. – In einer Stunde etwa verlassen wir dieses Haus für immer!“
Er eilte weiter, bog dann unten im Kellergang rechts ab und blieb nach genau fünfzehn Schritten stehen. Er hatte eine Taschenlampe eingeschaltet und beleuchtete den mit ausgetretenen Ziegelsteinen gepflasterten Boden.
Nichts verriet, daß sich an dieser Stelle ein Zugang zu einem tieferen Kellergeschoß befand. Und doch war ein Teil der Steine in einen eisernen Rahmen als Falltür eingefügt. Diese Falltür senkte sich, als Ulminski jetzt an der rechten Mauer des Ganges auf einen tief in eine Fuge eingelassenen Eisenknopf drückte.
Eine schmale Steintreppe ward sichtbar. Der Fürst stieg hinab, zog an einem von der Decke herabhängenden Metallgriff, und die Falltür schloß sich wieder.
Dieser Raum hier war bis auf einige Kisten leer. Er schien keinen zweiten Ausgang zu haben. Der Fürst trat jedoch an die östliche Mauer heran und zog eine ähnliche Geheimtür auf, wie sie in die Kellerzelle führte, aus der Jane und der Greis entflohen waren.
Strahlende Helle empfing nun den Fürsten in diesem weiten, gewölbten Gemach, dessen Wände und Decke hellblau gestrichen und mit phantastischen Gemälden indischer Götter geschmückt waren.
Drei große Petroleumlampen mit Spiegelschirmen hingen an der Decke. In der Mitte stand ein langer Tisch, rund herum vierundzwanzig hochlehnige Stühle, die jeder in goldenen Zahlen eine Nummer trug, von eins bis vierundzwanzig. Nur ein erhöht an einer Schmalseite des Tisches stehender kostbarer, alter Sessel hatte keine Nummer. Dies war der Platz des Meisters.
An den Wänden bemerkte man mehrere Schränke und kleinere Tische, in einer Ecke ein fellbelegtes Ruhebett und einen Glasspind mit Gläsern, Krügen und Flaschen gefüllt.
Jane und der Greis saßen auf zweien der hochlehnigen Stühle dicht nebeneinander, ihnen gegenüber der Schiffsingenieur Gunnar Börtgen, vor dem eine Mehrladepistole lag.
Börtgens intelligentes Gesicht drehte sich dem Fürsten zu, der noch seine Verkleidung trug, in der Erna Maletta ihn nur an der Stimme wiedererkannt hatte.
Ulminski winkte seinem Vertrauten nur mit den Augen zu und richtete seinen flammenden Blick dann auf die Verräterin Jane.
„Wahnsinniges Weib!“ sagte er mit eisiger Verachtung. „Nicht genug, daß du ungehorsam und treulos der Loge gegenüber warst, – nein, deine verruchte Hand erhob sich auch –“.
Er konnte nicht weitersprechen.
Jane, die ganz zusammengekauert, aber sprungbereit dagesessen hatte, warf sich halb über den Tisch, ergriff Börtgens Pistole und feuerte sofort.
Mit einem schweren Streifschuß an der Schläfe sank der Ingenieur in seinem Sessel bewußtlos zusammen.
Dann flog Janes bewaffneter Arm herum.
„Keine Bewegung!“ warnte sie den Fürsten mit vor Erregung überschnappender Stimme. „Ich werde dich nicht schonen, so wahr ich dich einst liebte und dich jetzt hasse – hasse, wie nie ein Mann gehaßt wurde!“
Der schwache Pulverrauch des ersten Schusses zog in dünnen grauen Wölkchen zur Decke empor.
Durch diesen feinen, wehenden Rauchschleier sah Jane, daß der Fürst lässig die Arme über der Brust kreuzte und sich an seinen erhöht stehenden Sessel lehnte.
„Jane Wellesley,“ sagte er mit einer Ruhe, die etwas Unheimliches an sich hatte, „Jane, das Maß deiner Verfehlungen läuft über! Und doch, Jane – ich werde dich vor dem Gericht des Inneren Kreises verteidigen. Deine Eifersucht hat dir die Sinne verwirrt. Dich –“.
Sie unterbrach ihn mit höhnischem Auflachen.
„Zeit gewinnen willst du, durch Redensarten die Minuten strecken, bis hier einer deiner Sklaven erscheint! – Binden Sie ihn!“ rief sie dem Greise zu. „Nehmen Sie die Seidenschnur Ihres Schlafrocks!“
Ihr Zeigefinger war um den Abzug gekrümmt.
Ulminski sah es. Er wußte, sie würde abdrücken, würde treffen! Sie schoß vorzüglich.
Und doch – er lächelte jetzt nur ein rätselvolles Lächeln, als der Greis sich rasch erhob.
Seine über der Brust gekreuzten Arme waren keine Pose, waren kühlste Berechnung.
In der geschnitzten Seitenleiste des alten Sessels befand sich eine kleine Rosette. Und diese Rosette hatte des Fürsten rechter Zeigefinger jetzt, unbemerkt von Jane, durch Tasten gefunden.
Sein Lächeln verwirrte das rothaarige Weib. Eine dumpfe Ahnung sagte ihr, daß die geheimen Machtmittel Sergius Ulminskis ihrer Drohungen spotteten, daß er ihr doch entkommen würde und daß sie schließlich wieder das Spiel verlieren könnte, wenn – wenn sie noch länger zögerte, durch eine zweite Kugel die Entscheidung herbeizuführen.
Ihre Augen wurden kleiner. Über der Nase erschienen in der Stirnhaut ein paar Falten.
Sie war zu einem Entschluß gelangt. Mochte Ulminski sterben. Was lag daran?! Kein Richter würde sie wegen Mordes verurteilen können. Sie handelte ja in Notwehr! Ihr drohte durch das Logengericht der Tod.
Auch der letzte Funken eines wärmeren Gefühls für ihn, der jetzt hier seine Geliebte beherbergte, war in diesem Moment erloschen.
Ihr Arm straffte sich. Ihr Auge visierte über Hand und Pistolenlauf auf Ulminskis Herz.
Dann ein kurzes Krümmen des Zeigefingers.
Dann – ein Schrei von Janes Lippen – ein Schrei, der nichts Menschliches an sich hatte und der den Knall des Schusses noch übertönte.
*
Der kleine dürre Philipp Brex stand dicht neben Horst Olden im Schatten eines Haustürwinkels gegenüber dem Grundstück Parchimstraße Nummer 111.
Über dem breiten Tore leuchtete das große weiße Schild der Firma König & Komp. Es leuchtete jetzt noch heller, da soeben ein neuer Blitz über den schwarzen Himmel hinzuckte.
„Es wird bald regnen,“ flüsterte Brex. „Das wäre nur günstig, Herr Olden. Dann können wir uns freier bewegen.“
Kaum hatte er den Satz beendet, als es auch schon zu tröpfeln begann.
Dann folgte ein wahrer Wolkenbruch.
Wieder ein paar Minuten drauf ein förmliches Bündel von Blitzen, das selbst die Vorhänge dieser stürzenden Wassermassen mit seinem grellen Schein durchdrang und oben auf dem Tore zwei Gestalten für den Bruchteil einer Sekunde erkennen ließ.
Olden sprang jetzt elastisch in den Hof hinab. Brex folgte.
Sie standen und lauschten. Wenn es hier Hofhunde gab, konnten sie hoffen, daß der Regen die Tiere in ihre Hütten gescheucht hatte.
Linker Hand waren in dem Stallgebäude zwei Fenster erleuchtet. Olden schlich dorthin, spähte hinein. Die Fenstervorhänge waren nicht geschlossen. Dort saßen vier Männer um den Tisch und spielten Karten, rauchten, tranken und schlugen mit der Faust ihre Trümpfe auf die Wachstuchdecke.
Olden fühlte, daß Brex neben ihn trat. Der kleine Brex reckte den Hals.
„Teufel – da sitzt ja einer, der genau so aussieht, wie die Maletta den hinkenden Herrn, den verkleideten Ulminski, beschrieben hat,“ raunte Brex dem Detektiv zu.
Olden schwieg.
Dann packte er Philipp Brex am Arm. „Brex – das ist eine Falle,“ rief er atemlos. „Das ist ein Doppelgänger, den Ulminski hierher befohlen hat! Das ist der Beweis, daß die Gauner damit rechneten, es würden Spione hier erscheinen! Begreifen Sie, Brex, dieses Kartenspiel ist Komödie, soll uns täuschen, soll die harmlose Erklärung abgeben, weshalb die vier Leute aus dem Auto den Hof der Spedition betraten! – Fort von hier, Brex, ehe es zu spät –“.
Das ‚ist‘, das letzte Wort des Satzes, kam nicht mehr über seine Lippen.
Von hinten war aus einem nahen Möbelwagen ein Mann an die Beiden herangeschlichen, hatte den rechten Arm hochgeschwungen, hatte den mit Sand gefüllten Sack auf Oldens nur mit einer weichen, schmierigen Mütze bedeckten Kopf niedersausen lassen.
Olden brach wie vom Blitz getroffen zusammen.
Der kleine Brex wollte entfliehen. Der Mann stellte ihm ein Bein, und Brex flog mit dem Gesicht in eine Wasserpfütze, bekam ebenfalls einen kräftigen Hieb und rollte bewußtlos ein paar Schritt zur Seite. –
Der Mann fesselte erst Olden mit Stricken, dann auch Brex, band ihnen noch Lappen vor die Augen und trug sie nun in den leeren Möbelwagen.
Dann pochte er fünfmal an das Fenster. Die Kartenspieler warfen die Karten hin, kamen heraus.
Der Regen ließ allmählich nach.
„Bringen wir sie zunächst in die Wagenremise des Tempels,“ sagte Peter Dannick zu den andern. „Dann mag der Meister bestimmen, was geschehen soll.“
So wurden denn die beiden Gefangenen über die Mauer geschafft. Als die Männer sie durch den Garten des Tempels nach dem Stalle trugen, begegneten sie Doktor Grupp.
„Nicht in die Remise,“ meinte der, als Dannick ihm Bescheid sagte. „Legt sie in die Geschirrkammer auf das Heu. Der Meister ist unten. Ich muß sofort mit dem Wagen abfahren. Die Pferde sind schon vorgespannt. Wir haben eine kostbare Ladung, die Prinzessin Nadja und Lori Battner, die von Jane übel zugerichtet worden ist.“
Horst Oldens kräftiger Körper hatte den Hieb schneller verwunden, als die hier versammelten Brüder vermuten konnten. Er war schon wieder zu sich gekommen, bevor man ihn noch über die Mauer hißte. Aber er stellte sich absichtlich weiter bewußtlos. Er fühlte, daß die Stricke, die seine Hände auf dem Rücken zusammenhielten, durch den Regen feucht und seine Haut schlüpfrig war. Er hoffte, daß er sich würde befreien können.
Dann dicht neben ihm das leise Gespräch zwischen Grupp und Dannick.
Kein Wort entging ihm davon.
Nun – nun Loris Name – nun Grupps Andeutung, daß sie schwer verwundet sei! –
Lori – Lori! – All der Schmerz um die Treulosigkeit der Geliebten ward jetzt in Oldens Herz wieder lebendig.
Aber – er drängte diese weiche Regung zurück. Hier hieß es handeln, hier hieß es schnell handeln! –
Die Männer trugen Brex und Olden weiter in die Geschirrkammer, warfen sie hier achtlos auf einen Heuhaufen, verließen den Stall wieder.
Olden hatte im Moment die Handfesseln abgestreift, hatte die Stricke an den Fußgelenken aufgeknotet, rüttelte Brex.
Und Philipp Brex kicherte. „He, he – mein dicker Bierschädel verträgt schon ’nen Puff! Ja – mir geht’s ganz gut so weit.“
Oldens Messerklinge fuhr durch Brex Fesseln.
„Brex,“ flüsterte er, „hören Sie genau hin. Ich werde versuchen, mich unter dem Wagen festzuklammern, mit dem Nadja und Lori Battner sofort weggeschafft werden. – Sie müssen schleunigst zu Fink und ihm alles melden. Er sitzt ja mit zehn Beamten in der nächsten Kneipe. Auf Wiedersehen, Brex. Ich werde die Tür der Kammer öffnen –“.
In der Remise stand der bespannte Wagen. Sonst war niemand hier.
Brex sauste ins Freie, bog nach links ab, tauchte im dunkeln Garten unter.
Kaum hatte Olden sich unter dem Wagen festgeklammert, als auch schon Nadja und Blunk über den Hof gehuscht kamen. Hinter ihnen her trugen Grupp und Udo die in einen Liegestuhl gebettete Lori.
Der Liegestuhl wurde in den Wagen gestellt. Grupp und Nadja stiegen gleichfalls ein. Udo – oder besser Herbert Blunk, wie wir ihn jetzt richtig nennen wollen – kletterte zu seinem Vater auf den Bock. Dann setzte sich der Wagen langsam in Bewegung und durchfuhr das von John geöffnete Tor, der es sofort wieder verschloß.
Olden hatte bis zuletzt gefürchtet, er könnte entdeckt werden. Aber die Dunkelheit war zu groß. Es regnete auch wieder stärker, und so durfte er denn jetzt auf der Straße seine unbequeme Stellung sich etwas erleichtern, bis er in einer Nebengasse nahe an einer Hauptstraße und einer Autohaltestelle sich auf das Pflaster fallen ließ und dann dem vordersten Auto der wartenden Reihe zuhetzte.
Der Chauffeur musterte den Strolch verächtlich.
„Detektiv!“ flüsterte Olden. „Vorwärts – zehntausend Mark, wenn wir die Droschke dort nicht aus den Augen verlieren!“
Der Chauffeur merkte, wen er vor sich hatte. Olden nahm neben ihm auf dem Vordersitz Platz.
Dann ruckte der Kraftwagen an.