Jane Wellesleys wahnwitziger Schrei, hervorgerufen durch namenlose Wut und Enttäuschung, war in demselben Moment fast erklungen, als die zweite Kugel über den blitzschnell samt dem Lehnsessel verschwindenden Fürsten hinwegpfiff.
Sergius Ulminski hatte diesen versenkbaren Stuhl durch Gunnar Börtgen herstellen lassen, damit er, falls die Logenbrüder vielleicht einmal während einer Sitzung aus irgend einem Grunde sich gegen ihn auflehnen sollten, jeder Zeit in der Lage wäre, sich heimtückischen Angriffen zu entziehen.
Er kannte eben die Wandelbarkeit der menschlichen Seele, kannte menschliche Schwächen, wußte, daß es vielleicht nur eines kleinen Anstoßes bedurfte, um die Männer, die seine gehorsamen Werkzeuge waren, völlig umzustimmen.
Er versank durch den Druck auf die Rosette samt dem geschnitzten Sessel, und über ihm klappte dann der Fußboden wieder hoch, als ob hier nie ein Sessel gestanden hätte.
Ulminski eilte sofort durch den kleinen Raum und einen schmalen Gang bis zu einer steilen Treppe, erklomm diese und drückte oben an der Decke eine Falltür auf, die ihm in den Vorraum der unterirdischen Halle brachte.
Kaum hatte er die Falltür wieder geschlossen, als Cesare Chivarri hier erschien. –
Der Italiener kehrte nach oben zurück, holte John, der gerade den Wagen hinausgelassen hatte, und meldete nun dem Fürsten, daß Dannick und die anderen Brüder zwei Spitzel festgenommenen hätten, die jetzt im Stalle lägen.
Ulminski beriet sich mit Chivarri und John.
„Jane wird nicht auf mich schießen, Meister, da haben Sie ganz recht,“ meinte John. „Ich werde die Halle betreten.“
Hier in dem unterirdischen Beratungszimmer hatte sich inzwischen jedoch die Lage für John noch mehr verschlimmert.
Börtgen war in demselben Augenblick wieder zu sich gekommen, als der Schuß knallte. Sein rechtes Auge war mit Blut verklebt. Nur seine ungeheure Energie ermöglichte es ihm, sich jetzt taumelnd zu erheben und auf Jane zuzuschwanken, die noch immer mit verzerrtem Gesicht auf die leere Stelle hinstarrte, wo Ulminski soeben noch so zwanglos und unbesorgt mit seinem rätselvollen Lächeln sie angeblickt hatte.
„Schieß!“ keuchte Gunnar Börtgen lallend. „Schieß mich nieder, Verräterin!“
Sie wich vor seinem blutbefleckten Gesicht unwillkürlich zurück.
Börtgen nahm seinen Vorteil wahr.
Er sah, daß sie den Arm mit der Waffe noch gesenkt hatte; er sah, daß er siegen würde, wenn seine Kraft zu einem einzigen Sprung ausreichte.
Und – er wagte den Sprung, umklammerte Jane, riß sie, in einem neuen Schwächeanfall umsinkend, mit zu Boden.
Sie schlug mit dem Hinterkopf schwer auf die Dielen auf, verlor für Minuten das Bewußtsein.
Gunnar Börtgen erhob sich.
Zitternd, keines Wortes mächtig, stand der Greis da. Er hielt noch die Seidenschnur seines Schlafrocks in der Hand.
Börtgen entriß sie ihm, fesselte Jane die Arme, ließ den Alten dabei nicht aus den Augen.
Doch – von dem drohte ihm keine Gefahr. Mit einem tiefen Seufzer fiel er in den nächsten Stuhl und stierte mit auf die Brust gesunkenem Kopf trübe vor sich hin.
Dann öffnete sich schon die Geheimtür, und John Wellesley trat langsam ein. Hinter ihm erschienen der Fürst und Chivarri.
Schweigend umstanden sie nun die gefesselte, am Boden liegende Jane.
Da – von der Geheimtür her ein schriller Pfiff – ein ganz bestimmtes Signal.
Peter Dannick stürmte herein. „Die beiden – sind entflohen! Die Stricke liegen auf dem Heu in der Kammer!“ rief er, und in seiner Hand glänzte die kleine Alarmpfeife.
„Flieht!“ befahl Ulminski sofort. „Räumt das Haus ohne Zögern! Ihr wißt Bescheid, was ihr zu tun habt!“
John und Dannick verschwanden.
Der Fürst raunte Chivarri etwas zu, der nun eine kleine vernickelte Spritze einem Kästchen entnahm, die nadelfeine Spitze in eine winzige Phiole tauchte und sich dann über Jane beugte.
Jane schlug die Augen auf. Sie sah, daß die Spritze sich in ihren linken Unterarm gebohrt hatte, daß der Italiener den Kolben herabdrückte.
Sie stöhnte nur auf; ihre Zähne begannen im Fieberfrost aneinander zu schlagen; in ihren Augen lag ein Ausdruck ungeheuren Entsetzens und einer durch Worte nicht zu bezeichnenden Angst.
Dann klappte bereits die Geheimtür hinter Chivarri zu. Ulminski hatte Börtgen inzwischen nach oben geleitet.
Im Hinterflur zogen schon leichte Qualmschwaden durch die Luft. Es roch nach brennendem Petroleum.
John Wellesley hatte in der Küche einen Brand entfacht, der nicht mehr zu löschen war.
Als letzter verließ der Fürst jetzt das Haus. Auf der Basedowstraße blieb er stehen, schaute nochmals zurück. John hatte alle Türen und Fenster im linken Flügel des Erdgeschosses geöffnet. Rauch und Flammen quollen mit der Zugluft ins Freie. –
Eine Hand legte sich auf die Schulter des in Gedanken versunkenen Fürsten.
„Meister,“ sagte Nummer Acht, Thomas Birk, eindringlich, „Meister, es wird Zeit!“
Ulminski ließ sich mit fortziehen.
„Die Vergangenheit brennt,“ meinte er leise. „Nun dürfen wir nur noch von der Gegenwart und der Zukunft etwas erhoffen!“
Der Abschied von dem Hause, in dem er wie ein König der Finsternis geherrscht und seine vielfachen Pläne gegen fremdes Eigentum vorbereitet und zur Ausführung gebracht hatte, wurde ihm schwer. Mit der Indra-Loge verlor er ein Stück seines eigenen Ichs. Sie war sein Werk gewesen, diese glänzend organisierte Geheimgesellschaft, deren Schlupfwinkel nun in Flammen aufging. –
Und unten in der unterirdischen Halle inmitten der blauen Wände und grinsenden Götter knotete jetzt der Greis die Fesseln Jane Wellesleys auf.
Sie erhob sich, lächelte den alten Mann mit einem Gesichtsausdruck an, daß ihm das Blut in den Adern vor Entsetzen stockte.
Ihr Lächeln war leer und töricht wie das jener Armen, die als lebende Leichname für immer hinter den Mauern eines Irrenhauses begraben sind; ihr Blick war der eines Kindes, das noch nicht mal ein einziges Wort lallen kann.
„Was – was fehlt Ihnen, Fräulein Jane?“ stammelte der Greis in plötzlicher Angst.
„Jane – Jane?!“ lispelte sie. „Fräulein – Jane? Wer – wer ist das?! Ich kenne keine Jane. Dich – ich bin die Fürstin –“ – Sie besann sich lange vergeblich – „bin eine – eine Fürstin. Den – den Namen habe ich vergessen –“.
Sie schüttelte wie verwundert den Kopf, fragte den Greis dann, immer noch so leise und eintönig, als hätte ihre Stimme jede Kraft verloren.
„Wer – wer sind Sie eigentlich? Und – wie sind wir hierher gekommen?“
Und da merkte der Greis, Jane Wellesleys Gedächtnis war für alle Zeit ausgelöscht –!
Oben aber – oben brannte der Tempel der Indra-Loge; oben rasselte die Feuerwehr herbei; oben im Logengarten sagte Brex zu Kommissar Fink:
„Oh – diese Schufte, diese Schufte! Aber – Olden ist hinter ihnen drein!“
*
Nachdem Erna Maletta mit dem Jugendgeliebten im Flur der Wohnung des Fürsten ein so merkwürdiges Wiedersehen gefeiert hatte, war das Haus der Geheimnisse mit einem Schlage leer und wieder still wie vordem. Die Verbrecherjagd war in anderer Richtung fortgesetzt worden. Die wenigen im dem großen Miethause anwesenden Personen atmeten nach den aufregenden Szenen der letzten Stunde erleichtert auf.
Der echte Graf Udo von Brucksal, der sich inzwischen in Oldens Schlafzimmer bei der Rechnungsrätin Prutz aus dem verkommen aussehenden Strolch in einen durchaus gesellschaftsfähigen Herrn verwandelt hatte, saß jetzt mit der ebenfalls wieder ihrer häßlichen Larve als zerlumptes Bettelweib entschlüpften Filmdiva in deren Eßzimmer an dem rasch gedeckten Tisch bei einer etwas bunt zusammengewürfelten kalten Abendmahlzeit.
Erna Maletta spielte mit Grazie und stillem Frohsinn die Hausfrau, hatte aus der Speisekammer aufgetragen, was an Vorräten vorhanden, und nötigte Udo in vertraulicher Fürsorge immer wieder zum Zulangen.
In beider Herzen war der einstige Liebesfrühling mit all seiner sonnigen Wärme wieder erwacht. In beider Augen strahlte versteckte Zärtlichkeit, strahlte das Sehnen nach heißen Liebesbeteuerungen.
Aber diese beiden Menschen, die einst eine Reihe von tückischen Zufällen getrennt und die das Schicksal dann weit auseinander geworfen hatte, Erna Maletta empor auf die strahlende Bahn schnell vergänglichen Ruhmes, den jungen Grafen aber tief hinein in die Eiseinöden Sibiriens – diese beiden Menschen fühlten doch, daß diese Nacht nicht dazu geeignet war, in glückseligem Getändel verbracht zu werden.
Sie ließen ihre Lippen verschweigen, was im Herzen lohte und brannte, ließen nur die Augen die heimliche Sprache der Liebe reden und unterhielten sich lediglich über all die seltsamen Geschehnisse, die das Haus Gudrunstraße Nummer 20 zum Haus der Geheimnisse gemacht hatten.
Dann erhob sich Graf Udo, trank sein Rotweinglas auf einen Zug leer und sagte: „Fräulein Erna, ich muß Gewißheit haben! Wenn Sie mich begleiten wollten, wäre ich Ihnen dankbar! Ich will nach der Friedhofskapelle, wo die Leiche meines Vaters aufgebahrt ist. Ich behaupte, daß hier noch weit größere Schurkenstreiche begangen worden sind, als wir alle ahnen! Dieser elende Schuft, der hier mit Hilfe meiner Papiere den Grafen Udo gespielt hat, wird meinen Vater vergiftet haben. Die Sehnsucht und ein anderes unbestimmtes Gefühl, mein Vater könnte vielleicht nur durch irgend ein teuflisches Mittel in totenähnlichen Schlaf versetzt worden sein, treiben mich nach der Friedhofskapelle.“
Die Filmdiva, die ja bereits in den verflossenen Stunden ungewöhnliche Energie bewiesen hatte, war sofort bereit, dem Geliebten auch bei diesem nächtlichen Gange nach dem Kirchhof treu zur Seite zu stehen. –
Inzwischen hatte der Wagen, der die Prinzessin Nadja und Lori Battner nach Johannistal bringen sollte, bereits das unbebaute Gelände außerhalb der letzten Straßen der Weltstadt erreicht und fuhr im scharfen Trab durch die düstere, regnerische Nacht die Chaussee entlang. Die Bäume am Wegrande huschten wie dunkle Schatten vorüber. Blinkende Lichter, Radler und Kraftwagen tauchten aus der Ferne auf und glitten vorbei. Ein einzelnes Auto, das mit gelöschten Scheinwerfern dem Wagen folgte, kündete sich den entgegenkommenden Fahrzeugen nur durch tiefe, kurze Hupentöne an. Horst Olden, vorn neben dem Chauffeur sitzend, ahnte nicht, daß die beiden Blunks jetzt auf dem Kutschbock hastig einen neuen Plan verabredeten, wie sie trotz all der widrigen Zwischenfälle doch noch feststellen könnten, was der Fürst in der Brusthöhle der Mumie seiner Gattin verborgen haben mochte. Herbert Blunk war nach wie vor überzeugt, Ulminski müsse der Toten einen Teil der Diebesbeute der Loge anvertraut haben. Es gelang ihm schließlich auch, seinen Vater Robert, der zunächst aus Angst vor Ulminskis rücksichtsloser Strenge nichts von alledem hatte wissen wollen, für sein Vorhaben zu gewinnen.
Der alte Blunk, der die Zügel führte, ließ die Pferde für ein paar Sekunden aus dem raschen Trab in Schritt fallen, so daß Herbert sich unbemerkt vom Wagen schwingen und hinter den nächsten Baum schlüpfen konnte.
So sah Herbert Blunk nun auch das Auto mit den gelöschten Scheinwerfern, sah undeutlich neben dem Chauffeur vorn eine zweite Gestalt und sagte sich sofort, daß die Polizei also auch jetzt ihnen auf den Fersen geblieben war.
Hämisch lachte er hinter dem Kraftwagen drein.
„Nur zu! Mir ist es gleichgültig, was aus Euch allen wird. Wenn ich nur dieser Jagd entgehe! Die Mumie wird mir die Schätze nicht vorenthalten, und irgendwo in einem fremden Lande werde ich dann in Ruhe die Millionen genießen, die ich meiner Schlauheit verdanke!“
Nicht ein einziger Gedanke galt seinem Vater, der jetzt doch ebenfalls Gefahr lief, verhaftet zu werden. Was galt diesem Elenden das Wort Vater! Nichts – nichts! Er sah in dem Manne, den er als Robert Blunk bei dem Grafen Oskar von Brucksal damals als Diener eingeschmuggelt hatte, nur ein Werkzeug für seine hinterlistigen Pläne, ein Werkzeug, das man eben wegwarf, wenn man es nicht mehr gebrauchte. –
Hastig eilte er der Riesenstadt wieder zu, traf ein Auto und ließ sich nach der Gudrunstraße bringen, wo er sehr bald merkte, daß das Haus Nummer 20 von der Polizei nicht mehr bewacht wurde.
Mit äußerster Vorsicht schlich er dann in die schmale Totenkammer, öffnete den Sarg und entnahm der leeren Brusthöhle der Mumie das Leinensäckchen.
Der Inhalt floß in seine linke, vor Gier zitternde Hand: Edelsteine – Edelsteine in allen Größen!
Er bebte am ganzen Körper. Seine Nerven drohten zu versagen. Das waren Millionen – ungezählte Millionen! Das war weit mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.
Und doch – die ungeheure Freude über diesen Raub wurde nur zu schnell durch allerlei ängstliche Erwägungen getrübt. Wie sollte er, der jetzt auf sich allein angewiesen war, die Flucht aus Berlin bewerkstelligen?! Er wußte nur zu gut, daß die Kriminalpolizei der Reichshauptstadt, deren gewaltigen Apparat mit seinen tausenden von Fangarmen er sehr wohl kannte, jetzt überall auf der Lauer liegen würde.
„Nein!“ überlegte er blitzschnell. „Nein – eine Flucht aus Berlin hinaus wäre jetzt zu gefährlich. Hier in der Weltstadt muß ich eine Weile im Verborgenen leben, muß die Edelsteine anderswo verstecken, bis der Eifer dieser Spürhunde nachläßt!“
Grübelnd schaute er der Mumie in das starre, immer noch so überaus liebreizende Gesicht.
Dann – ein Gedanke!
Eine dämonische Freude leuchtete in Herbert Blunks verlebten Zügen auf! – Ja – ein besseres Versteck gab es nicht! Ja – mochte der tote Greis doch Schatzhüter spielen! Dort – dort würde niemand diese Schätze vermuten – niemand, selbst Horst Olden nicht, der sich so schlau bei der Rechnungsrätin als harmloser Kaufmann Jameson eingemietet hatte! –
Blunk verließ das Haus wieder. Unangefochten kam er auf die Straße, nahm ein Auto und fuhr bis in die Nähe des Friedhofs.
Kaum war er dann an der Westseite über die Mauer geklettert und tief gebückt zwischen Gräberreihen verschwunden, als hinter einem nahen Ziegelhaufen, der hier für einen Neubau aufgeschichtet war, zwei Gestalten hervorschlüpften.
„Es war Herbert Blunk!“ flüsterte Graf Udo der Jugendgeliebten zu, die für diesen abenteuerlichen Gang aus ihrer reichhaltigen Garderobe einen Männeranzug hervorgesucht und angelegt hatte. „Ein Glück, daß wir ihn bemerkten, bevor wir den Kirchhofsinspektor herausgeläutet hatten. Erna, wir müssen ihn auf demselben Wege folgen. Er will ohne Zweifel in die Kapelle eindringen, hat irgend etwas mit dem Toten vor!“
Auch der sportgeübten Filmdiva war es ein leichtes, die Mauer zu überklettern. Dann reichte Udo ihr die Hand. Er ahnte ja, daß sie hier in dieser düsteren Umgebung zwischen den hellen Grabsteinen, die unheimlich durch die im Winde schwankenden, regenfeuchten Bäume und Sträucher wie wandelnde Gespenster hindurchschimmerten, von der blassen Angst aller Lebenden vor diesen Zeichen der Vergänglichkeit gepackt werden würde.
Hand in Hand eilten sie weiter auf die Kapelle zu. Das linke Haus des Friedhofsinspektors lag ohne ein einziges erhelltes Fenster unter den rauschenden Linden da.
Jetzt nur noch wenige Schritte, nur noch ein paar Stufen hinan, und Graf Udo legte die vor Erregung heißen Finger auf das kühle Metall des Türdrückers der hohen Kapellenpforte.
Im gleichen Moment glomm hinter den schmalen, bunten Seitenfenstern ein schwacher Lichtschein auf.
„Er ist bereits drinnen,“ hauchte Erna Maletta kaum hörbar. „Udo – wir sind unbewaffnet! Er wird Sie niederschießen. Lassen Sie uns –“.
„Unbewaffnet?!“ fiel der Graf ihr leise ins Wort. „Sie irren, ich habe eine Waffe bei mir! Und meine Kugel wird schneller sein als die Herbert Blunks! Ich lechze danach, ihm Auge in Auge gegenüber zu treten! Welch eine Rechnung habe ich mit ihm auszugleichen!“
Er preßte den schweren Türdrücker herab, stieß die Flügeltür auf.
Erna Maletta hatte die bereit gehaltene Taschenlampe rasch eingeschaltet.
Da stand an dem offenen Sarge Herbert Blunk – wie gelähmt, wie erstarrte vor Entsetzen.
„Schurke – endlich, endlich die Vergeltung!“ rief Udo mit einer Stimme, die den Elenden zurücktaumeln ließ. „Endlich ist die Stunde der Rache da!“
Mit erhobenem Revolver schritt er auf ihn zu.
„Denkst du noch an Sibirien, Herbert Blunk! Denkst du noch daran, wie ich dir dreimal das Leben rettete und wie du es mir vergolten hast! – Rühre dich nicht! Auch nur eine Bewegung, und du bist stumm für alle Zeit!“
Herbert Blunk, hell beschienen von dem Lichtkegel der Taschenlampe, verharrte in verzweifelter Reglosigkeit. Aber sein Hirn arbeitete desto schneller.
Noch hatte er das Säckchen mit den Diamanten bei sich, noch hatte er es nicht in dem Sarge verborgen.
Noch war er frei! Und – es mußte eine Möglichkeit geben, diesen unerbittlichen Gegner zu verwirren und eine Gelegenheit zur Flucht zu finden!
Es mußte ein Mittel gefunden werden, diesem Verhängnis zu entrinnen! Mußte! Und – abermals wie vorhin am Sarge der Fürstin ein jäher Einfall.
„Herr Graf,“ sagte er halblaut, „ich mag an Ihnen als Schurke gehandelt haben! Aber – ich bereue, was ich getan. Ich will Ihnen beweisen, daß diese Reue aufrichtig ist. Der den Sie hier im Sarge sehen, ist –“
„– mein Vater! Das weiß ich!“ rief Graf Udo ungeduldig und angewidert dazwischen.
„Nein – nicht Ihr Vater, Herr Graf! Aber – dessen Bruder Albert Graf Brucksal, der hier in Berlin zuletzt als Albert Battner lebte! Jener Graf Albert ist’s, den Ihr Vater in ein Irrenhaus einsperren ließ, den er um das Erbe betrogen hat, der dann angeblich in der Irrenanstalt starb, in Wahrheit aber entfloh! – Ihr Vater lebt, Herr Graf. Wir schafften ihn betäubt in das Gebäude der Indra-Loge, die ich brennen sah, eingehüllt in Rauch und Flammen, als ich hierher eilte, um am Sarge dieses Unglücklichen –“.
Graf Udo hatte die Waffe sinken lassen.
„Wie – mein Vater in dem brennenden Hause?“ keuchte er. „Etwa gefangen – etwa dem Flammentode preisgegeben? – Sprich, du Auswurf der Menschheit, sprich, wie kann ich ihn retten, wo befindet er sich?“
Herbert Blunk nahm seinen Vorteil wahr.
Mit einem Satz schnellte er sich an Udo vorüber, stieß die Filmdiva beiseite – und lief in der Tür dem Friedhofswächter in die Arme.
Der kräftige Mann packte ihn – packte nur den Schoß des Rockes.
Ein neuer Sprung – der Stoff riß, und Herbert Blunk stürmte die Lindenallee entlang dem Gittertore zu.
Graf Udo war rasch an den Sarg herangetreten und hatte sich über den Toten gebeugt.
„Ah – das Muttermal an der linken Halsseite fehlt! Es ist nicht mein Vater!“ gellte sein Ruf durch den gewölbten Raum.
Dann jagte auch er hinter dem Flüchtling drein.
Lori Battner wurde vor dem Häuschen des Motorschlossers Liedke aus dem Wagen gehoben und schnell in das eine Vorderzimmer getragen.
Doktor Grupp, der Herberts Fehler jetzt sofort bemerkt und dessen Vater nach seinem Verbleib gefragt hatte, wurde von Robert Blunk in eine Ecke des Zimmers gezogen.
„Herbert will auf der Chaussee Wache halten,“ erklärte der alte Blunk erregt. „Wir müssen sehr vorsichtig sein, Doktor!“
Grupp nickte nur. Er war ganz einverstanden, daß man jetzt alles tat, um sich die Polizei vom Halse zu halten.
Dann verließ der alte Blunk das Zimmer, da er den Wagen auf den Hof bringen wollte.
Der Schlosser Liedke, ein schlanker jüngerer Mann mit intelligentem Gesicht folgte ihm.
„Teufel, was ist denn eigentlich geschehen, Blunk?“ fragte er draußen ganz atemlos. „Droht uns Gefahr? So rede doch.“
„Die Polizei ist uns auf der Spur,“ erklärte der Alte kurz. „Du sollst den Dreidecker sofort startbereit machen. Der Meister trifft sehr bald ein. Es geht nach England!“
„Ah – nach England! Und meine Frau, mein Kind?“
„Frau – Kind?! – Du hast geschworen, auf nichts Rücksicht zu nehmen, wenn die Loge es verlangt! Börtgen ist verwundet. Du mußt den Dreidecker steuern! Mach daß du auf den Flugplatz kommst!“
Fritz Liedke kämpfte mit sich. Er liebte seine Frau, liebte seinen kleinen munteren Jungen. Und dieses stille Familienglück sollte er nun preisgeben, weil – weil er vor einem halben Jahr Bruder der Indra-Loge geworden, weil sein Ehrgeiz ihn auf die schiefe Bahn gedrängt hatte, dieser nimmermüde Ehrgeiz, es einst irgendwie zu einer angesehenen Stellung zu bringen?!
„Beeile dich!“ drängte Blunk da.
Und Fritz Liedke schritt langsam die Straße hinab – gehorchte. Er hatte damals dem Meister in die Hand blinden Gehorsam gelobt. Er – verehrte diesen Mann, diesen Fürsten, der eine so unerklärliche Macht über seine Anhänger besaß. Fritz Liedke hoffte, Weib und Kind bald wiederzusehen – irgendwo in der Fremde, wohin er sie dann nachkommen lassen wollte. –
Horst Olden ahnte nicht, daß Ulminski eins der Autos, die der Loge gehörten, dem Wagen sehr bald nachgeschickt hatte, damit Lori und die Prinzessin dieses benutzen könnten und schneller nach Johannistal kämen.
Dieses Auto, von dem Italiener Chivarri gesteuert, neben dem Gunnar Börtgen vorn Platz genommen hatte, raste jetzt die regenfeuchte Chaussee entlang.
Plötzlich erschien im Lichtschein der großen Autolampen ein anderer, in derselben Richtung fahrender Kraftwagen.
Börtgen, trotz seiner Verwundung bereits wieder im Vollbesitz seiner geistigen Regsamkeit, rief jetzt Chivarri zu:
„Das Auto da vor uns fährt ohne Licht! Cesare, das ist verdächtig – mehr als das, es ist der Beweis, daß sogar der Wagen verfolgt wird! Brex und Olden sind uns aus dem Stalle der Loge entschlüpft. Chivarri, ich wette, dieser Olden sitzt dort in jenem Auto! Nur er kann es sein. Er ist der gefährlichere der beiden.“
Dann gab er dem Italiener verschiedene Verhaltungsmaßregeln, nahm seine Mehrladepistole zur Hand und entsicherte sie.
Das Auto der Indra-Loge verlangsamte das Tempo, glitt nun an dem anderen Kraftwagen vorüber, blieb mit ihm in einer Höhe.
Gunnar Börtgens klare Stimme weckte Olden aus tiefem Sinnen, das wieder der treulosen Geliebten gegolten hatte.
„Anhalten – oder ich schieße! Anhalten! Und Sie, Herr Olden, Sie strecken sofort die Arme vor!“
Horst Oldens Kopf flog nach links.
Da – dicht vor ihm die matt blinkende Waffe.
Seine Gedanken jagten. Sollte etwa Loris Spur wieder verloren gehen?! Er wußte ja nicht, wohin Lori geschafft werden sollte. Er hatte zu wenig dort auf dem Hofe der Loge erlauscht, um all die Hilfsmittel und Mitglieder dieser großzügigen Verbrecherorganisation nunmehr zu kennen! Er wußte nichts von dem Dreidecker dort in Johannistal, nichts von Fritz Liedke, von dem entlegenen Häuschen in der Eichwalder Straße.
„Ich drücke ab, Herr Olden!“ rief Börtgen abermals und noch drohender.
Olden hob die Arme. Und der Chauffeur des Taxameterautos brachte den Wagen zum Stehen.
Auch das andere Auto hielt. Chivarri sprang ab, knotete im Nu Oldens Hände mit einem Taschentuch brutal fest zusammen, befahl dem Chauffeur abzusteigen. Der Mann gehorchte brummend. – Auch Börtgen sprang auf die Straße. Seine Schmerzen waren vergessen. Hier galt es die Sicherheit der Flucht, hier gab es keine Rücksichten auf körperliche Gebrechen.
Er fesselte den Chauffeur, der jetzt laut zu fluchen begann.
„Verhalten Sie sich still!“ herrschte Gunnar Börtgen ihn an und stopfte ihm mehrere Banknoten in die Tasche. „Hier haben Sie zehntausend Mark. Wir werden Ihr Auto dort auf den Acker fahren.“
Der Chauffeur blieb eng gefesselt in seinem Wagen auf dem Stoppelfelde zurück.
Olden saß jetzt Börtgen gegenüber in dem Auto der Indra-Loge. Man hatte ihm noch mit zwei Stricken die Hände über der Brust festgebunden, und Gunnar Börtgen hielt die Pistole stets schußbereit.
Das Auto glitt weiter. Der Knebel in Oldens Mund machte Hilferufe unmöglich. Die Vorhänge der Fenster waren zugezogen. An der Decke brannte die kleine Glühbirne.
Wie Todfeinde lehnten die beiden Männer in den Polsterecken des dahinschießenden Kraftwagens. Horst Olden wurde es nicht leicht, sich in die Rolle des Besiegten hineinzufinden. In seiner Laufbahn als Berufsdetektiv war er nur sehr selten in die Gewalt von Verbrechern geraten. Er besann sich, daß dies eigentlich nur zwei Mal geschehen, und da hatte er es mit einer ganz anderen Art von Gesetzesverächtern zu tun gehabt, mit halb vertierten Burschen, ohne höhere Intelligenz, nur ausgestattet mit der mehr instinktmäßigen Schlauheit der langjährigen Gewohnheitsverbrecher. Hier kämpfte er gegen eine tadellos geleitete Bande, der alle möglichen Berufsarten als Mitglieder angehörten; hier war er trotzdem nur deshalb unterlegen, weil – ein Weib ihn schwach gemacht hatte, weil seine wehmütigen Gedanken bei Lori Battner gewesen waren.
Einen Moment flackerte in seiner Seele etwas wie Haß gegen Lori auf. Aber diese unreine Flamme sank ebenso schnell wieder in sich zusammen. Wie wollte er Lori und die Beweggründe ihres Handelns richtig einschätzen, da der sie doch kaum kannte?! Was er bis zu dieser Nacht von ihr gewußt, war nur Gutes: ihr Fleiß, ihre Aufopferung für den kranken Vater, ihre Reinheit und nicht zuletzt ihr seltener Mut, den sie bewiesen hatte, als sie die tollkühne Flucht zum Fenster hinaus wagte. –
Dann begann Börtgen, dessen Stirn jetzt unter der weichen Mütze einen dünnen Verband trug, zu sprechen.
„Sie werden sich wundern, Herr Olden,“ sagte er mit kühler Ruhe, „woher wir über Sie so gut unterrichtet sind. Fräulein Battner hat es für zweckmäßig gehalten, dem Fürsten einiges über Ihre Person mitzuteilen.“
Das sollte von Börtgens Seite keine Verhöhnung der Herzensempfindungen Oldens, also kein Schwertstreich in die Seele des anderen sein. Gunnar Börtgen wußte nichts von den zarten Beziehungen, die zwischen Lori und dem Detektiv für so kurze Zeit bestanden hatten. Aus einem ganz anderen Grunde hielt der Ingenieur es für angebracht, Olden ein wenig aufzuklären. Diese Absicht trat jetzt klar aus seinen ferneren Sätzen zu Tage.
„Sie sind auf der Suche nach den Diamanten des Fürsten Jussugoff hier nach Berlin gekommen, Herr Olden,“ fuhr Börtgen fort. „Wir brauchten diese Diamanten, wie wir alles brauchen, was hohen Wert besitzt. Wir sind keine Verbrecherbande, und das möchte ich Ihnen gegenüber besonders betonen, die lediglich aus Scheu vor ehrlicher Arbeit und aus Lust an einem bequemen Faulenzerdasein stahl. Wir sind keine Mörder, wir verachten sogar jede Gewalttat, wenn wir auch das Leben eines Einzelnen gering einschätzen. Der Mord an dem jungen Baron Rabinski kommt nicht auf unser Konto, noch weniger der Selbstmord seiner Mutter, der Baronin Xenia Rabinski. Unser Ziel ist edel. Die ungeheure Beute, die uns jetzt die Erreichung dieses Zieles ermöglichen wird, stammt von Leuten her, die im Überfluß lebten. Vielleicht wird die Welt einst, wenn all unsere Straftaten verjährt sind, erfahren, daß die Indra-Loge der Menschheit neue Bahnen zu friedlicher Zusammenarbeit gewiesen hat. Glauben Sie mir, ein Mann wie ich wäre nie Mitglied der Loge geworden, wenn er nicht erkannt hätte, daß wir, die Verbrecher, einst zu Wohltätern an Hunderttausenden werden könnten.“
Olden, der zunächst bei Börtgens Worten nur an die üblichen Verbrecherphrasen über eigene Schuldlosigkeit und Reinheit des Endzwecks moralischer Entgleisungen gedacht hatte, spürte deutlich, daß sein Gegner ein feingebildeter Mensch war und nicht mit Lügen umging. Er beugte sich jetzt etwas vor, um ihn besser verstehen zu können.
Sofort erwachte jedoch Börtgens Mißtrauen.
„Lehnen Sie sich wieder zurück!“ befahl er hart. „Mich überlisten Sie nicht! Sie entgehen Ihrem Schicksal nicht. Wir werden Sie irgendwo auf einem Inselchen des Atlantischen Ozeans aussetzen, wo Sie erst nach Wochen gefunden werden. Dann sind wir in Sicherheit, dann ist die Indra-Loge, oder wenigstens der Hauptteil ihrer Mitglieder, wie eine Seifenblase zerplatzt und nicht mehr zu finden. Geben Sie dann getrost das Suchen auf, Herr Olden. Wir sind nicht zu fassen. Was wissen Sie denn von uns?! Wie viele Namen der Unsrigen kennen Sie?! Nicht einmal den meinen! Treten Sie uns nie wieder in den Weg! Ich warne Sie! Wir haben ein Mittel, das Gedächtnis der Menschen auszulöschen, daß sie wie neugeborene Kinder werden und das Sprechen erst wieder lernen müssen!“
Das Auto fuhr langsamer, hielt. Cesare Chivarri klopfte an die Scheibe.
Börtgen nahm ein Tuch und verband Olden die Augen. Dann mußte der Detektiv aussteigen, wurde über eine pfützenreiche Straße in ein Haus und in ein Zimmer geführt, wo man ihn auf einen Stuhl festband.
Das Tuch wurde entfernt. Olden sah sich in einem schlicht eingerichteten Wohnzimmer, blinzelte in das grelle Licht einer elektrischen Deckenlampe.
Vor ihn standen Börtgen und Blunk.
„Wenn Sie versprechen, nicht um Hilfe zu rufen, will ich Ihnen auch den Knebel ersparen,“ sagte Gunnar Börtgen mit seiner angenehmen Stimme.
Olden nickte. Er ahnte, daß hier unter diesem Dache auch Lori weilte. Vielleicht – vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich mit ihr zu verständigen.
Börtgen zog ihm den Knebel aus dem Munde.
„Ich halte Sie für einen Ehrenmann,“ meinte der Ingenieur. „Sie werden nicht um Hilfe rufen!“
„Nein!“ erklärte Olden schlicht. „Ein Versprechen ist bei mir so gut wie das Ehrenwort. Das genügt Ihnen wohl.“
Robert Blunk brummte ärgerlich: „Viel zu viel Rücksichtnahme, Bruder! Nun – Sie tragen die Verantwortung!“ – Das galt Gunnar Börtgen.
Dann verließen sie den kleinen Raum nach dem Hausflur hin. Chivarri hatte das Auto bereits auf den Hof gebracht, wo es nun neben dem Wagen stand.
Hier trafen Börtgen und Blunk mit dem Italiener zusammen, der, eine Zigarette rauchend, sie erwartet hatte.
„Zum Flugplatz!“ sagte Börtgen hastig. „Blunk bleibt als Wache hier.“
„Doktor Grupp genügt,“ meinte der Alte mißmutig. „Ich will mal nach Herbert sehen, der auf der Chaussee Posten ist. Jetzt, wo wir Olden abgefaßt haben, brauchen wir vorläufig weitere Verfolger nicht zu fürchten. Herbert ist dort jetzt also unnötig.“
Börtgen war einverstanden, sagte Doktor Grupp Bescheid und eilte mit Chivarri in die regnerische Nacht hinaus.
Blunk war nur zum Schein ein Stück die Chaussee entlang gegangen, machte nun wieder kehrt, um in dem Auto der Indra-Loge nach Berlin zurückzukehren, sobald Herbert wie verabredet telephonisch Bescheid gesagt hatte, ob er das Erhoffte in der Mumie gefunden. –
Die Prinzessin Nadja war vor Übermüdung in der Sofaecke des Vorderzimmers eingeschlafen. Sie lächelte glückselig im Traume vor sich hin. Sie träumte von Heinz Römer, dem fernen Geliebten, mit dem sie, wie der Vater ihr versprochen hatte, bald wieder vereint sein sollte.
Der kleine hagere Grupp saß in einem altertümlichen, hohen Korbstuhl. Er nahm es mit seiner Wächterpflicht nicht so genau. Trunksucht hatte ihn auf die schiefe Bahn gebracht. Mädchen und Frauen, die unwillkommener Mutterschaft entgegen sahen, hatten in ihm einen willfährigen Helfer gefunden, bis eines Tages die Kriminalpolizei sich einmischte und Grupp verhaftete. Man konnte ihm jedoch nur einen einzigen Fall nachweisen, und so kam er mit zwei Jahren Gefängnis davon. Mit dem ärztlichen Beruf war es allerdings vorbei. Er wurde dann Kurpfuscher, fand Anschluß an die Indra-Loge und ward eines der begabtesten Mitglieder, obwohl er dem Trunke nie ganz entsagte. Auch jetzt führte er das übliche Seelenlabsal, eine flache Flasche Cognac, bei sich. Da Lori ebenfalls in ihrem Krankenstuhl eingeschlafen zu sein schien, legte er sich keinen Zwang weiter auf, nachdem er die Tür zum Hinterzimmer, wo Olden gefesselt saß, etwas geöffnet hatte, um den Gefangenen bequemer beobachten zu können.
Doktor Grupp hatte die Flasche schnell geleert. Jetzt lehnte er in wohligem Hindämmern in dem Sessel, den Kopf gegen die Kissen gestützt.
Er machte sich keine Gedanken darüber, daß die Polizei die Loge entdeckt hatte und daß man noch in dieser Nacht fliehen mußte. Er hatte nichts zu verlieren. Die Zukunft konnte ihm nur Gewinn bringen – dort in der Ferne eine neue Tätigkeit als Arzt, denn er liebte ja seinen Beruf über alles.
Draußen rieselte der Regen plätschernd die Zinkblechrinne herab. Das monotone Geräusch schläferte ihn ein. Er schloß die Augen, riß sie schlaftrunken wieder auf, musterte Lori und Olden, der mit dem Rücken nach der Tür hin saß, war beruhigt und ließ die Lider abermals herabsinken.
Schlief ein – verfiel in den bleiernen Schlaf des alkoholumnebelten Hirns – begann zu schnarchen.
Da öffnete Lori Battner die großen, wundervollen Augen, in denen jetzt das bittere Weh einer brennenden Reue düster aufglomm.
Vorhin, als Horst Olden im Nebenzimmer die wenigen Worte gesprochen hatte, war ihr feines Gehör noch geschärft worden durch den Klang dieser – gerade dieser Stimme.
Ihr Kopf war wieder klar trotz der schweren Verletzung. Das drohende Wundfieber blieb ihr fern. Frei und hemmungslos fluteten rastlose Gedanken durch ihr Hirn.
Erinnerungen erwachten. Und diese Erinnerungen an jüngst Vergangenes überprüfte sie mit kühl kritischem Verstande, suchte sich zurecht zu finden in dem tiefen Weh der eigenen unzulänglichen Seele.
Sie stand jetzt wie vor einem unfaßbaren Rätsel. Wie – wie nur war es möglich gewesen, daß ihr Vertrauen zu Horst Olden so schnell hatte erschüttert werden können! Wie hatte sie dann so leicht, so gedankenlos sich dem Andern hingeben können, diesem Manne, der, ein Fürst über die Herzen aller, die ihn kennen lernten, auch sie in Bann geschlagen hatte! Wie entsetzlich war das Erwachen nach diesem kurzen Rausche gewesen. Dirne – Dirne! Die Geliebte eines Verbrechers! Denn nur das konnte Ulminski sein – nur das!
Da – die rasselnden Schnarchtöne Doktor Grupps riefen Lori in die Gegenwart zurück.
Grupp schlief – Nadja schlief.
Und dort nebenan der eine Mann, dem einzig und allein ihr jetzt geschändetes Herz gehörte, der für sie immer verloren war.
Aber wieder gutmachen wollte sie einen Teil dessen, was sie gefehlt hatte.
Sie erhob sich langsam, vorsichtig. Ihre Knie zitterten vor Schwäche. Sie überwand den Anfall halber Ohnmacht, tastete sich bis zur Tür, betrat den Nebenraum.
Und – stand nun Olden gegenüber, dicht gegenüber, an den Tisch sich lehnend, wagte es nicht, den Blick zu ihm aufzuschlagen.
Olden las in ihrem schmerzzerwühlten totenblassen Antlitz die ganze Qual ihrer Seele.
Er ahnte das richtige. Der Hauch der Reinheit war von dieser Mädchenstirn weggewischt. Eine Schuldige, eine Gefallene hatte er vor sich.
Namenloser Schmerz zerschnitt ihm die Seele.
„Lori – Lori!“ flüsterte er bang. Vielleicht – vielleicht täuschte er sich.
Sie senkte den Kopf noch tiefer. Helle Röte flutete ihr in die Wangen. Ein Zittern ging über ihren Leib hin.
‚Tapfer sein – büßen!‘ schrie eine Stimme in ihrem Innern.
Und hastig stieß sie hervor: „Ich – ich darf für Sie nur noch eine Fremde sein! Ich – ich habe unsere Liebe betrogen! Aber retten will ich Sie – befreien!“
Sie beugte sich herab, löste bebend die Knoten.
Horst Olden stand auf.
Sie war zurückgetreten.
Da faßte er ihre schlaff herabhängenden Hände. Eiskalt lagen sie in den seinen.
„Lori, die Wahrheit!“ flehte er. „Sind Sie – Ulminskis Geliebte geworden?“
Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie hob die Augen.
Ein Blick traf Olden wie der eines todwunden Rehs – ein Blick aus den Tiefen eines reuegemarterten Herzens.
Er gab ihre Hände frei. Er fühlte, daß ihm alles Blut aus dem Gesicht gewichen war.
Sein Liebestraum war aus – endgültig.
Und – er sah Lori wanken, fing sie noch im letzten Moment auf.
Wie leblos ruhte sie in seinen Armen, an seiner Brust.
Und – war doch eines andern Geliebte –! Unfaßbarer Gedanke! – Welche Tücke des Schicksals konnte nur dieses reine Herz dem Sinnentaumel unterjocht haben?! Welch unheimliche Macht mußte dieser Ulminski über die Menschen besitzen, daß es ihm geglückt war, Flammengluten der Leidenschaft in diese unberührte Seele zu gießen –?! –
Lori kam wieder zu sich, wollte sich aus Oldens Armen frei machen.
Ihr verzweifelter Blick schnitt ihm ins Herz.
„Lori,“ hauchte er. „Lori, ich habe dich über alles geliebt! Du sollst in all deinem Jammer nicht allein dastehen. Lori, dein Bruder will ich sein, dein Freund!“ Er flüsterte immer rascher. „Lori – willst du mir helfen, diese Verbrecher zu fangen? Willst du mir sagen, was sie vorhaben? Willst du bei ihnen bleiben und mir Nachricht geben?“
„Alles – alles, Horst!“ – Oh – wie beseligend war das zarte Wort ‚Bruder‘ in ihr Ohr gedrungen! Ihr Bruder wollte er sein! Welche Seelengröße sprach aus dieser Zusage! Er verachtete sie nicht, er hatte Mitleid mit ihr.
„Sie wollen im Flugzeug nach Liverpool,“ erklärte sie überstürzt. „Flieh’ jetzt, Horst, ehe es zu spät ist! Flieh’!“
Das Telephon schlug leise an.
Sie fuhren beide erschrocken zusammen. Olden warf einen prüfenden Blick auf Nadja und Grupp. Dann nahm er den Hörer ab. Sofort eine heisere Stimme:
„Hier Herbert!“
Ah – also Herbert Blunk!
Und ebenso undeutlich meldete Olden sich:
„Robert – was gibt’s?“
„Alles geglückt, Robb. Sie waren mir verflucht dicht auf den Pelz gerückt. Ich erwarte dich also mit dem Auto auf dem Belle Alliance-Platz – sofort! Belle Alliance-Platz! Verstanden?“
„Ja. Schluß. Wiedersehen.“
Olden hängte ab.
„Horst, flieh’!“ drängte Lori abermals.
Er zog sie halb an sich, küßte sie auf die Stirn. „Leb’ wohl, Schwesterlein! – Geh’, stelle dich schlafend! Ich ordne hier alles so, als hätte ich die Stricke mit den Zähnen aufgeknotet.“
Gleich darauf schwang er sich zum Fenster hinaus – gerade als Robert Blunk ebenfalls um das Haus auf den Hof kam.
Heinz Römer war nach der vergeblichen Durchsuchung des Hauses der Geheimnisse durch die Kriminalpolizei in die schräg gegenüberliegende Kneipe gegangen, wo Kommissar Fink jetzt sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte.
Fink und der junge Künstler hatten sich Essen bestellt. Die anderen Beamten saßen am Nebentisch. Heinz Römer berichtete jetzt dem Kriminalkommissar nochmals all die Vorgänge, die mit dem Tode der Baronin Rabinski zusammenhingen, erzählte auf Finks Bitte besonders genau die Szene, wie die Baronin ihm eröffnet hatte, daß sie seine Mutter sei.
Der Kommissar nickte wiederholt und sagte nun, indem er Heinz vertraulich die Hand auf den Arm legte: „Wir haben in der Wohnung der Baronin jetzt nochmals alles durchsucht und dabei Papiere gefunden, die das Geständnis dieser Frau vollständig bestätigen. Sie, Herr Römer, sind in der Tat ihr Sohn, ein Kind der Liebe –“.
„Und – und mein Vater?“ fragte der junge Geiger atemlos.
„Ist – der Fürst Kasimir Jussugoff, der jetzt in Danzig wohnt und der den Detektiv Olden mit der Suche nach den Diamanten beauftragt hat –“.
Heinz Römer bedeckte die Augen mit der Rechten und saß lange Zeit regungslos da. Also es war niederschmetternde Wahrheit: er ein uneheliches Kind! Er, der seine Augen zu Nadja, zu einer Prinzessin, erhoben hatte –! Mochte sie auch die Tochter des Anführer einer Verbrecherbande sein: sie war Ulminskis eheliches Kind!
Und er – er?! Trug er nicht das Schandmal dieser Abstammung auf der Stirn?! Durfte er es je wagen, Nadja nochmals mit heißen Wünschen zu nahen?!
Nur an die Geliebte dachte er – nur an sie! Der Aufruhr in seiner Seele duldete ihn nicht in der qualmerfüllten Kneipe. Er sprang auf, wollte hinaus in die regen- und winddurchpeitschte Nacht.
Der dicke Kriminalbeamte Wrobel näherte sich dem Tische und meldete überhastet seinem Vorgesetzten: „Brex hat soeben telephoniert. Die Loge brennt, die Verbrecher haben sich zerstreut. Brex erwartet uns an der Brandstätte.“
Fink riß Hut und Gummimantel vom Garderobenständer.
Zwei Autos rasten mit den Beamten und Heinz Römer davon. Dem jungen Künstler kam diese Ablenkung nur gelegen. Weshalb noch an Nadja denken?! Sie war ja doch für immer verloren! –
Brex empfing den Kommissar mit der tröstlichen Nachricht, daß auch Olden entwischt und hinter dem Wagen her sei, der Lori und Nadja davongeführt hätte.
Das Feuer hatte eine Unmenge von Neugierigen herbeigelockt. Wie die Mauern standen die Menschenmassen mit vom Flammenschein überglühten Gesichtern da, von der Polizei in respektvoller Entfernung zurückgehalten. Allerlei Gerüchte schwirrten umher. Einige der müßigen Gaffer hatten den Kriminalkommissar Fink und ein paar seiner Beamten erkannt. Andere, die die Feuersbrunst von Anfang an beobachtet hatten, waren durch die blitzschnelle Ausbreitung des Brandes durch das ganze Haus bis zum Dach hinauf von selbst auf die naheliegende Vermutung eines absichtlich hervorgerufenen Feuers gekommen und hielten den Umstehenden langatmige Vorträge über ihre Beweise für diesen Verdacht. Andere wieder, die hier in derselben Straße wohnten, wollten plötzlich in der Villa schon früher allerlei Geheimnisvolles bemerkt und die Logenbrüder längst für fragwürdiges Gesindel gehalten haben.
So wob die Fama auch hier ein Gespinst, das viel Wahres enthielt.
Niemand von diesen Tausenden von Gaffern ahnte, daß mitten unter ihnen acht der Logenbrüder auf Ulminskis Befehl weilten und besonders Brex, Heinz Römer und die Kriminalbeamten nicht aus den Augen ließen.
Wie immer hatte auch heute der Logenmeister seine Anordnungen trotz der unmittelbaren Gefahr mit größter Besonnenheit getroffen. Nachdem er sich rasch bei Thomas Birk in der Gärtnerei als rotbärtiger, etwas buckliger einfacher Mann verkleidet hatte, mischte er sich ebenfalls unter die Menge. Er wußte, so lange Fink und Brex und die anderen Beamten in Zivil die Brandstätte nicht verließen, drohte ihm und den Seinen keine Gefahr. Er wollte nichts übereilen, wollte sich Gewißheit verschaffen, ob jemand dem Wagen etwa gefolgt und so der Unterschlupf bei dem Schlosser Liedke in Johannistal entdeckt sei. –
Immer höher leckten die Flammen empor. Die Motorspritzen der Feuerwehr schleuderten ungeheure Wassermassen in das brennende Haus – vorläufig ohne sichtbare Wirkung.
Ulminski beobachtete mit steigender Ungeduld die Löschversuche der Feuerwehr. Wenn er auch überzeugt war, daß die in dem verborgenen Kellergelaß eingeschlossene Jane und der Greis keinerlei Gefahr liefen, dort unten zu ersticken, so konnte er doch ein gewisses Unbehagen in Gedanken an die beiden Gefangenen nicht verscheuchen.
Dann drängte sich Thomas Birk bis zu dem Fürsten durch die dicht gestaute Masse und raunte ihm zu:
„Soeben meldete Chivarri aus Johannistal, daß sie Olden erwischt haben, der im Taxameterauto dem Wagen heimlich folgte. Wir haben also wieder einmal Glück gehabt, Meister.“
Prasselnd krachte drüben der Dachstuhl in sich zusammen. Eine ungeheure Funkengarbe schoß zum nächtlichen Firmament empor.
Ulminski riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb ein paar Zeilen, gab das Papier Thomas Birk und flüsterte:
„Laß den Zettel sofort durch irgend jemand an Fink aushändigen. – Es heißt jetzt scheiden, Tom. Du bleibst hier als mein Stellvertreter zurück. Hier hast du vorläufig eine Million Mark für Auslagen. Halte die Brüder zusammen, unterstütze die, bei denen es ratsam erscheint, daß sie verschwinden. Verberge sie gut. Ich weiß, du bist zuverlässig. – Lebe wohl, Tom. Und – auf Wiedersehen auf Tamira!“
Er betonte das letzte Wort besonders. Noch nie war dieser Name einem der Brüder gegenüber von ihm genannt worden. Nur Gunnar Börtgen war völlig eingeweiht.
Noch ein fester Händedruck, und Ulminski entfernte sich langsam.
Gleich darauf wurde Fink durch einen Polizisten ein zusammengefalteter Zettel überreicht.
„Ein Arbeiter gab ihn mir,“ erklärte der Beamte. „Er hat ihn von einem Unbekannten erhalten.“
Fink las die flüchtigen Bleistiftzeilen: „Sorgen Sie dafür, daß die in einem Kellerraum der Loge befindlichen zwei Personen gerettet werden. Lebensgefahr besteht für die Beiden kaum. – Fürst Sergius Ulminski.“
Brex, der neben dem Kommissar stand, überflog jetzt gleichfalls den Zettel.
Dann drängten sich auch schon Erna Maletta und Graf Udo mit aller Gewalt durch die Menschenmauern. Man wollte sie aufhalten. Beamte traten ihnen entgegen. Udo rief ihnen ungeduldig zu:
„Jede Minute ist kostbar! Mein Vater schwebt dort im brennenden Hause in Lebensgefahr!“
Sie eilten weiter, atemlos, erhitzt.
Fink bemerkte sie, lief ihnen entgegen. Hastige Fragen und Antworten hin und her. Der Kommissar suchte den Branddirektor auf, teilte ihm mit, daß zwei Personen sich in den Kellern befänden.
Der Branddirektor beruhigte ihn. „Es brennt nur noch der Oberstock. Die Keller stehen unter Wasser.“
Durch brennende Teile des herabstürzenden Dachstuhles war jetzt jedoch auch eins der Gewächshäuser der benachbarten Gärtnerei aufgeflammt. Die darin aufgeschichteten Strohmengen lohten sofort wie Zunder hoch. Die Fensterscheiben sprangen. Im Nu war durch Stichflammen auch das kleine Wohnhaus von züngelnden gierigen Feuerzungen bedroht. Das Pappdach qualmte, fing Feuer, bald auch der hölzerne Stall hinter dem Hause. –
Thomas Birk sah sein Eigentum dem Verderben preisgegeben. Aber noch stärker als der Schmerz über den Verlust seines Besitzes quälte ihn die Furcht, daß durch einen Zufall der unterirdische Gang zwischen Gärtnerei und Loge entdeckt werden könnte. Er atmete erst wieder erleichtert auf, als Dach und Stall durch zwei Schlauchleitungen rasch abgelöscht wurden.
Kaltblütig begab er sich nun auf sein Grundstück. Ihn, den Eigentümer, mußte man passieren lassen. Er hielt sich im Stalle zwei Ziegen. Es waren seine Lieblinge. Kein Wunder, daß er sofort nach ihnen sehen ging. So glaubten wenigstens die Feuerwehrleute, die sich auch nicht weiter um ihn kümmerten. Hier gab es ja für sie nichts mehr zu tun. Die Gefahr war schnell und gründlich für die Gärtnerei beseitigt worden.
*
Vergebens hatte der Greis, kein anderer als Graf Oskar von Brucksal, in dem Kellersaal des Logengebäudes nach einem Ausgang gesucht. Die Geheimtür verstand er nicht zu öffnen. Sie gewaltsam zu sprengen, dazu reichten seine Kräfte nicht. Erschöpft sank er jetzt in einen der hochlehnigen Sessel und starrte voller Grauen auf Jane Wellesley, die ihm gegenüber teilnahmslos in einem anderen Sessel saß und aus einem Zeitungsblatt eifrig Schnitzel herausriß, die sie dann auf den Tisch legte und dazu allerhand ungereimtes Zeug plapperte.
Der alte Graf dachte mit Entsetzen, daß er hier mit einer Wahnsinnigen eingesperrt und vielleicht dem Hungertode preisgegeben war.
Die kurze Gefangenschaft hier im Hause der Indra-Loge und die dann folgenden erschütternden Ereignisse hatten ihn innerlich völlig verwandelt. Er, der ein so schweres Verbrechen auf seine Seele geladen, der den älteren Bruder heimtückisch hinter den Mauern eines Irrenhauses begraben hatte, erblickte in diesem Erlebnis, diesem Beisammensein mit der zum Kinde gewordenen Jane eine Fügung des Schicksals. Das starre, harte Herz des Greises, der nur ein einziges edleres Gefühl, die Liebe zu seinem Sohne gekannt hatte, war weich und zugänglich für die bitterste Reue geworden. Und gerade dieser Sohn hatte ihm nun verraten, wie er, noch immer in dem Wahn befangen, Herbert Blunk sei wirklich der aus Sibirien heimgekehrte Udo, infolge der Eröffnung, die Jane ihm gemacht hatte, bestimmt glaubte. Jane selbst war nie so weit in die vielverzweigten Pläne der Indra-Leute eingeweiht worden, daß sie an Herbert Blunks Echtheit als Graf Udo gezweifelt hätte.
So saß denn jetzt der alte, gebrochene Mann als Opfer seiner unstäten Gedanken zusammengesunken da und überlegte abermals, was sein vor vielen, vielen Jahren verübter Schurkenstreich ihm wohl eingebracht hatte: Nichts – nichts! Sogar der Sohn war ihm jetzt genommen worden, hatte ihn in einem Koffer bewußtlos hierher gebracht, um die Lebensversicherungssumme sich aneignen zu können, also auch um schnöden Geldes wegen! Ein anderer Mann war unter dem Namen eines Grafen Brucksal nach dem Friedhof überführt worden und sollte dort in der Familiengruft derer von Brucksal beigesetzt werden!
Der Greis stöhnte auf – holte tief Atem – erschrak!
Brandgeruch war ihm in die Nase gedrungen.
Er hob den Kopf, zog nochmals prüfend die Luft ein.
Stand rasch auf, zitterte, ließ halbirre Blicke durch das phantastisch geschmückte Gemach schweifen.
Dann – erloschen urplötzlich die elektrischen Lampen.
Oben war die Leitung durch die Feuersbrunst zerstört worden.
Diese Finsternis – unheimliche Stille.
Graf Brucksal tastete sich bis zu der Wand hin, wo die Geheimtür sich befand.
Hier war der Brandgeruch stärker.
Kein Zweifel, das Gebäude stand in Flammen! Und er und Jane Wellesley hier unten eingeschlossen – dem Tode des Erstickens überliefert!
Seine Sinne verwirrten sich. Die rächende Hand der ewigen Vergeltung streckte ihren Arm strafend nach ihm aus. So fühlte er nun mit furchtbarer Klarheit. Was er hier auf Erden verbrochen, sollte auch noch auf Erden vergolten werden!
Mühsam tappte er nach seinem Sessel zurück, verfehlte die Richtung, stieß gegen den Tisch.
Dann auch schon Janes schrille, unnatürliche Stimme:
„Licht – Licht! Weshalb ist es so dunkel?! Sie sollen das Licht wieder andrehen, Sie – Sie, den ich nicht kenne! Wer sind Sie, – wo sind Sie! – Licht – Licht!“
Die Wut des Irrsinns packte sie. Sie schrie Drohungen in die Finsternis hinein, begann ihren Gefährten zu suchen.
Ihr Gedächtnis war tot. Aber ihr Hirn lebte und gebar wahnwitzige Vorstellungen.
Der Greis hörte, daß sie sich ihm näherte.
„Ich – ich erwürge dich, du Teufel der Finsternis!“ schrillte ihre Stimme. „Wo bist du?! Ich werde dich finden, ich werde dir die Kehle durchbeißen, ich bin eine Katze, ich sehe im Dunkeln –“.
Dann eine gellende Lache.
Graf Brucksal hatte beim Zurückweichen einen Stuhl umgeworfen, war gestolpert, gefallen, fühlte Janes Hände an seinem Leibe, fühlte gierige Finger an seiner Kehle, brüllte heiser um Hilfe.
Mit letzter Kraft stieß er die Wahnsinnige von sich, wollte sich erheben.
Schon wieder lag sie über ihm.
Er spürte heißen Atem an seinem von eiskaltem Schweiß bedeckten Gesicht, spürte Zähne in der Haut des Halses.
Plötzlich ein schwaches Geräusch.
Lichtschein flammte auf.
Thomas Birk war mit Hilfe des geheimen Ganges in die Kellerräume eingedrungen, war durch die Öffnung des versenkbaren Sessels hier hineingelangt, riß Jane von ihrem Opfer weg, streckte die Rasende durch einen Faustschlag zu Boden.
*
Kaum war Horst Olden aus dem Hinterfenster des Häuschens in den Hof geklettert, kaum hatte er das Fenster wieder zugedrückt, als durch das offene Hoftor infolge des Lichtscheins einer nahen Straßenlaterne der Schatten eines rasch sich nähernden Mannes auf die feucht glänzenden Pflastersteine fiel.
Olden huschte sofort hinter die Regentonne, duckte sich zusammen, erkannte Friedrich Robert Blunk, den Vater Herberts. –
Der Alte hatte es sehr eilig. Schnell kurbelte er den Motor des Autos an, schwang sich auf den Chauffeursitz.
Das Auto verließ den Hof, lenkte in die breite Chaussee ein, jagte gen Berlin.
Friedrich Blunk schmunzelte in sich hinein. Dieser Herbert –! Der Junge hatte also wirklich den Mut gehabt, das Sarggemach im Hause der Geheimnisse zu besuchen und die Mumie der Fürstin zu bestehlen!
Blunk konnte ja nicht ahnen, daß Herbert zunächst auch ihn hatte im Stich lassen wollen, um den Raub allein irgendwo in voller Sicherheit zu genießen, und daß erst seine Flucht aus der Kapelle es ihm hatte ratsam erscheinen lassen, seinen Vater mit dem Logenauto zu beordern.
Der alte Verbrecher, ein selten vielseitiger Mann, lenkte den Kraftwagen mit größter Sicherheit. Johannistal lag längst hinter ihm.
Da – auf dem Verdeck des Autos regte es sich. Eine geschmeidige Gestalt, gehüllt in ein Strolchkostüm, aber mit dem schmalen, entschlossenen Gesicht Horst Oldens, glitt an dem einen Kotflügel herab, schwang sich nach vorn.
„Anhalten!“ rief Olden kurz. „Bringen Sie den Wagen zum Stehen, Friedrich Robert Blunk!“
Blunk schrak derart zusammen, daß er die Hände vom Lenkrad fallen ließ.
Das Auto schleuderte, schoß auf einen der dicken Chausseebäume zu.
Olden sah das Unheil kommen, sprang ab – im letzten Moment.
Dann schon ein dumpfer Krach, das helle Splittern von Fensterscheiben, ein schnell verhallender Schrei.
Der Kraftwagen hatte sich überschlagen, war in den Graben gerast.
Und ebenfalls im Graben lag Friedrich Blunk, dem ein dicker Splitter der Windschutzscheibe den Hals durchbohrt hatte.
Gleißende Lichtfluten des einen noch brennenden Scheinwerfers umspielten den auf dem Rücken halb auf die Böschung gestützt Daliegenden.
In diesem Strahl sprang der rote Saft des Lebens aus der tiefen Halswunde.
Bereits von Todesschauern umflorte Blicke begegneten den Augen Horst Oldens, der sich über den Todgeweihten beugte.
„Ich – ich hätte treu bleiben sollen – treu dem Logeneid!“ stieß der Todgeweihte hervor. „Mein Sohn – mein Verführer! Mein Verderben!“
Matt sank der Kopf zur Seite. Ein Zucken ging durch den Leib.
Und Friedrich Blunk starb – starb in dunkler Nacht im Straßengraben – wie ein Landstreicher.
Olden löschte den Scheinwerfer, überlegte kurz, schaute sich um, sah dort nahe der Bahnlinie ein einzelnes großes Gebäude, stampfte über aufgeweichte Saaten und fand bald den Wächter der Fabrik, der ihn dann in das Kontor führte, zum Fernsprecher.
Oldens tadelloses Gedächtnis hatte die Telephonnummer jener Kneipe, wo Fink sein Hauptquartier für diese Nacht eingerichtet hatte, schnell bereit.
Wrobel, der dicke Wrobel, meldete sich.
„Hier Olden. – Hören Sie zu, Wrobel. Ich war von den Leuten Ulminskis gefangen genommen, konnte wieder entfliehen. Melden Sie Fink, daß die Bande sehr bald von Johannistal mit einem Dreidecker das Weite suchen wird, angeblich Richtung Liverpool. Fink soll sogleich mit genügend Beamten im Auto nach Johannistal kommen, direkt zum Flugplatz. Ich will versuchen, den Dreidecker irgendwie zu demolieren. Ich befinde mich hier in einer Fabrik, will mit dem Fahrrad des Fabrikwächters nach Johannistal zurück. – Dann weiter: Herbert Blunk erwartet seinen Vater auf dem Belle Alliance Platz. Der Alte wollte soeben im Auto nach Berlin. Er ist tot. Der Kraftwagen zertrümmert. Sorgen Sie dafür, daß Blunk auf dem Belle Alliance Platz abgefangen wird. – Schluß.“ –
Olden nahm das Fahrrad des Wächters und radelte auf einem Zufuhrwege der Chaussee zu.
Er hatte sie kaum erreicht, als zwei Autos in rasendem Tempo von Berlin gen Johannistal jagten – zwei offene Wagen, in jedem sechs Männer einschließlich des Chauffeurs.
Olden wußte, wer diese zwölf waren: Ulminski nebst Anhang.
Er trat schärfer in die Pedale, legte sich fest auf die Lenkstange.
Das Rad schoß dahin – den Kraftwagen nach. Olden biß die Zähne zusammen. Er durfte – durfte nicht ermüden! Er mußte die Abfahrt des Dreideckers um jeden Preis verhindern.
Da – die ersten Fabriken, die ersten Häuser von Johannistal.
Dort links ging es dem Orte zu; dort lag der Flugplatz.
Olden hoffte, daß Ulminski durch das Abholen Nadjas und Loris aus dem abgelegenen Häuschen etwas aufgehalten werden würde. Vielleicht – vielleicht kam er noch zur Zeit; vielleicht war auch Lori schlau und tapfer genug, dem Fürsten auf irgend eine Weise die Flucht zu erschweren.
Ein Waldstück tauchte auf. Olden wußte hier Bescheid, hatte oft genug als Zuschauer in Johannistal geweilt.
Dann der Eingang zum Flugplatz.
Olden sprang ab, legte das Rad neben den Weg, lief links am Zaun entlang, fand zwischen den Rückseiten zweier Flugzeugschuppen eine Stelle, wo er die Plankenwand erklettern konnte. Ein Astloch gab seiner linken Fußspitze Halt. Ein Schwung – er war oben, ließ sich an der Innenseite herab fallen, hastete weiter.
Wo – wo mochte der Schuppen des Dreideckers sich befinden?! – Suchen – suchen – weiter – nur weiter!
Er rannte tief gebückt dahin, machte kehrt, den Tribünen zu.
Und stutzte, warf sich lang hin.
Da rollte gerade der mächtige hellgelbe Vogel aus einem Schuppen heraus – hinein in den sprühenden Regen. Gestalten huschten hin und her. Abgerissene Worte trug der Wind dem Lauscher entgegen.
Zu spät – zu spät –!
Zwei Frauen dort – zehn – zwölf – vierzehn Männer.
Die beiden Propeller sausten. Ein Erdanker hielt den riesigen Vogel. In den Passagierkabinen wurde es hell. Die Fenster strahlten auf.
Die Frauen verschwanden in den Kabinen, die Männer folgten.
Lauter pfiffen die Luftflügel in rasender Umdrehung.
Die Kabinentüren knallten zu. Ein Ruck an der Drahtauslösung des Ankers, die Krallen gaben nach, der Dreidecker rollte – rollte – schwang sich empor.
Und unter den Kabinen im Aluminiumrohrgestänge saß ein zerlumpter Mann mit schmalem, entschlossenem Gesicht, ließ jetzt Zettel auf Zettel herabfallen, bekritzelt mit seinem Namen, Seiten aus seinem Notizbuch – als Zeichen für Fink, daß Horst Olden als blinder Passagier mit aufgestiegen war.
Als Doktor Grupp aus seinem festen Schlaf infolge eines Geräusches des an den Fenstern vorübergleitenden Autos in jähem Schreck hochfuhr, als er noch schlaftrunken wild um sich stierte, fiel sein Blick durch die halb offene Tür ins Nebenzimmer – auf den leeren Stuhl.
Im Moment war er völlig wach.
Olden entflohen – entflohen?! – Wie war das möglich? Wie hatte jener die kunstvoll geschlungenen Fesseln abstreifen können?!
Grupp war erblaßt. Er wußte, daß er sich einer groben Pflichtverletzung schuldig gemacht hatte. Lautlos, nach scheuem Blick auf die schlafenden Mädchen, schlich er in den Nebenraum, untersuchte die vor dem Stuhl liegenden Stricke.
Offenbar hatte Olden die Knoten mit den Zähnen gelöst. Stellenweise waren die Stricke speichelfeucht.
Grupp sann finster vor sich hin. Niemals durfte er Ulminski gegenüber zugeben, daß er eingenickt war. Er mußte lügen, mußte sich herauszureden suchen.
Er wurde ruhiger. Ihn traf schließlich weniger Schuld als die, von denen Olden so oberflächlich gefesselt worden war.
Dann fiel ihm das Geräusch des davonfahrenden Autos ein. Er sah den einen Fensterflügel nur angelehnt, stieß ihn auf, schaute hinaus. Auf dem Hofe stand nur noch der Wagen.
Also war Olden mit dem Auto entflohen! –
Grupp trat zum Fernsprecher, rief Berlin an, die Nummer Eins der Brüder, der schräg gegenüber der Loge wohnte.
Der Mann meldete sich sofort.
Grupp seinerseits in bebender Hast:
„Olden ist fort. Bestellen Sie es dem Meister.“
„Der ist schon unterwegs zu euch. Wenn der Vogel bereitsteht, klappt alles noch. Der Finke und seine Finkenschar singt hier noch auf der Brandstätte.“
„Danke. Dann muß der Meister sehr bald eintreffen. – Schluß.“
Grupp wischte sich den Schweiß von der Stirn. Man hatte es hier also vorläufig mit Olden allein zu tun! –
Lori Battner schlief nicht. Jedes Wort, das Grupp soeben am Apparat gesprochen, hatte sie verstanden.
Ulminski unterwegs hierher! Sie würde ihn wiedersehen – ihn, der sie geschändet, der sie liebte.
Liebte?! – Durfte er auf Grund dieser Liebe seine Macht über menschliche Seelen so weit ausnutzen, ein schutzloses Weib zu entehren?! War das Liebe?! War’s nicht lediglich ungestüme Leidenschaft, tierisches Begehren gewesen?!
Loris Herz flatterte in seltsamer Angst vor diesem Wiedersehen.
Sie haßte Ulminski jetzt. Er hatte sie betört, er hatte ihr Horst Olden als raffinierten Heuchler hingestellt.
Sie prüfte ihre Gefühle. – Haß – Haß?! War es wirklich Haß?! War sie nicht halb freiwillig in seine Arme gesunken, hatte sie nicht an seinem Herzen unnennbare Wonnen heißer Zärtlichkeit durchlebt?!
Hassen –?! Durfte sie ihn hassen?! Hatte er ihr nicht bewiesen, daß er sie mehr liebte als einst sein erstes angebetetes Weib?! War er nicht groß, erhaben, einzig selbst als Verbrecher?!
Regungslos, mit fest geschlossenen Augen horchte sie so auf die Stimmen der eigenen Seele.
Nein – sie konnte ihn nicht hassen, konnte nur darüber Klarheit gewinnen, daß er ihr als Mann völlig gleichgültig geworden. Der krankhafte Rausch, den er in ihrer Brust entfacht hatte, war dahin. Reue, namenlose Scham zerwühlten ihr Herz. Und – Scham war es, die sie jetzt dieses Wiedersehen fürchten ließ. –
Dann draußen das Geräusch rasch sich nähernder Kraftwagen.
Die Tür flog auf.
Nadja erwachte.
„Oh – Papascha – endlich!“ rief sie.
Grupp trat zu Ulminski, erstattete Bericht, log.
Des Meisters verächtlicher Blick brachte ihn zum Schweigen.
„Ihr Atem stinkt nach Fusel!“ sagte der Fürst hart. „Ihr Glück, daß wir das Auto unterwegs im Chausseegraben fanden, daneben den toten Blunk. Bevor Olden die Polizei alarmiert hat sind wir in Sicherheit.“
Er schritt auf Loris Liegestuhl zu.
Sie blickte zu Boden.
Er bückte sich, flüsterte:
„Wer hat Olden befreit, Lori? Sprich!“
Sie schwieg. Glutröte flog über ihre Wangen.
„Lori, du hast mich – belogen,“ flüsterte Ulminski weiter. „Ich fand im Sarggemach Spuren, die mir bewiesen, daß du dort mit Olden zusammen gewesen. – Lori, wer löste Oldens Stricke?“
Sie erbleichte langsam.
„Also – Spionin!“ sagte er grausam. „Nichts als Spionin – selbst mit dem eigenen Leibe!“
Dann zu seinen Leuten, die in der Tür standen:
„Vorwärts – tragt sie in das Auto!“
Lori erhob sich.
„Lassen Sie mich hier!“ rief sie flehend. „Sie haben kein Anrecht mehr auf mich!“
Ulminski winkte den Seinen.
„Das Anrecht dessen habe ich, der seine Getreuen vor einem ränkesüchtigen Weibe schützen muß!“ erklärte er mit maßloser Bitterkeit, und in seinen Augen lag dabei ein Ausdruck, als würde er diese Herzenstäuschung nie verwinden.
Lori ging freiwillig hinaus. Nadja hängte sich in ihres Vaters Arm ein.
„Papascha, so finster?!“ fragte sie klagend.
„Ja – es ist dunkel in mir geworden, Kind. Eine große Hoffnung ist mir zerstört worden!“ –
Die beiden Kraftwagen glitten weiter. –
Vor dem Schuppen warteten Chivarri, Börtgen und Liedke in nervenzerreibender Ungeduld. Die Koffer und Kisten waren bereits in den Kabinen verstaut, alles zur Abfahrt fertig.
Endlich – endlich lösten sich aus dem Dunkel und den dünnen Regenschleiern mehrere Gestalten.
Fritz Liedke half den Riesenvogel ins Freie rollen.
Er handelte wie im Traum.
Weib – Kind, sein Häuschen – all das sollte er hier zurücklassen?!
Er kämpfte mit sich.
Und nahm den Meister schnell beiseite, stammelte: „Geben Sie mich frei! Ich – ich liebe Frau und Kind! Ich bitte Sie – geben Sie mich frei!“
Ulminski war weich gestimmt.
„Gut – es sei,“ nickte er. Und gab dem Manne noch allerlei Ratschläge, wie er sich der Polizei gegenüber verhalten sollte, reichte ihm die Hand zum Abschied.
Fritz Liedke würgte Tränen hinab. Das Häuschen verdankte er dem Meister. Und jetzt, jetzt wurde er untreu! Trotzdem kein Wort des Vorwurfs.
Er blieb im Schuppen zurück.
Er sah im letzten Augenblick den Mann, der sich dort ins Gestänge schwang, wollte hinter dem Dreidecker drein.
Gab es auf – als zwecklos, eilte bis unter das Schuppendach die Stiege empor, klappte die Luke auf, hißte die Antennen der Funksprucheinrichtung an der Fahnenstange, kehrte in die Kammer zurück, hantierte an den blinkenden Hebeln, ließ Wellen elektrischer Energie die Luft durchschneiden.
Er wußte, daß der Funkspruch vom Dreidecker aufgefangen werden würde. Er meldete, daß ein Mann als blinder Passagier die Flucht mitmachte – ein Spion. –
Dann verschloß er den Schuppen, ging zur Polizeiwache – ganz wie Ulminski ihm geraten.
Spielte den Harmlosen, der heute Freunden Unterkunft gewährt, die ihm dann mit zum Flugplatz genommen und ihm nun verdächtig vorkämen, da sie scheinbar bei Nacht und Nebel in einem Dreidecker Berlin verlassen wollten.
So kam es, daß zwei Beamte mit ihm zum Flugplatz zurückeilten, daß sie den Schuppen erbrachen, leer fanden.
Jetzt Stimmen, Zurufe.
Fink, Brex, Heinz Römer, acht Beamte stürmten herein.
Brex, der kleine dürre Brex, schüttelte beide Fäuste gegen den düsteren Nachthimmel: „Nach Liverpool! Entwischt! Diese Halunken!“
Und fügte lachend hinzu: „Können wir auch, nach Liverpool fliegen, Herr Kommissar! Wir haben ja einen Doppeldecker hier für ähnliche Fälle stets bereit!“
Fink fragte nach Olden. Niemand hatte ihn gesehen. Fritz Liedke spielte weiter den Harmlosen. Keiner schöpfte Argwohn.
Heinz Römer packte Brex’ Arm: „Sie müssen mich mitnehmen – Nadjas wegen! Ich will sie fragen, ob sie auch den unehelichen Sohn des Fürsten Jussugoff noch genau so liebt wie den Caffeehausgeiger Heinz Römer!“
Fink leuchtete mit der Taschenlampe draußen die Eindrücke der Räder des Dreideckers ab, verfolgte sie, wollte schon umkehren, fand einen Zettel, noch einen – suchte, fand den dritten und vierten, und auf allen stand:
Horst Olden
„Er ist mit aufgestiegen, Brex!“ sagte er zu dem kleinen Manne ganz laut.
Fritz Liedke ballte heimlich die Fäuste.
„Welcher Leichtsinn,“ meinte Philipp Brex ärgerlich. „Sie werden ihn entdecken und herunterknallen. Irgendwo wird man dann vielleicht einen Haufen menschlicher, verspritzter Leichenreste finden: Horst Olden! – Schade um ihn! Aber – er soll gerächt werden! In einer halben Stunde fliegen auch wir gen Liverpool.“
*
Der Belle Alliance-Platz machte in dieser schwülen, regendurchstäubten Nacht mit den wie hinter Schleiern brennenden Laternen einen überaus trübseligen Eindruck.
Der letzte Hochbahnzug war soeben wie eine geräuschvolle Fata-Morgana mit seinen erleuchteten Fenstern vorbei gesaust.
Der Mann, der da, eng in eine Türnische gedrückt, mit der Finsternis in eins zerfloß, hatte seine Augen und Ohren überall.
Jetzt kam dicht an ihm derselbe korpulente Mann mit dem runden Pausbackengesicht auf dem Bürgersteig vorüber, den er schon zweimal bemerkt hatte.
Dieser dicke Mensch schlenderte zwar scheinbar harmlos um den Platz herum, erschien dem andern in der Türnische jedoch genau so verdächtig wie fünf weitere Gestalten, die gleichfalls schon zum dritten Male die Runde machten.
Der Mann in der Türnische hatte es in einem reich bewegten Leben gelernt, vorsichtig und argwöhnisch zu sein. Der Mann war Herbert Blunk. –
Wrobel, der Dicke, begegnete jetzt einem der Kollegen, die in anderer Richtung den Platz umschritten.
„Nichts!“
„Nichts!“
Und sie gingen weiter.
Trafen sich bei der vierten Runde gerade vor jener Haustür.
„Nichts!“
„Nichts!“
Und gingen weiter.
Herbert Blunks Luchsohren war das zweifache ‚nichts‘ eine neue Warnung gewesen. Er merkte: Hier war die Luft nicht rein, hier hieß es, sich schleunigst aus dem Staube machen.
Er paßte genau auf.
Da kam ein Auto – leer, Taxameterauto.
Da kam auch der Dicke.
Blunk vertraute dem falschen Bart und der Brille, tat, als schlösse er die Haustür ab, machte es recht geräuschvoll, rief ebenso laut und sicher das Auto an, fuhr davon, hatte dem Chauffeur Bahnhof Friedrichstraße angegeben.
Wrobel war weiter gegangen – ahnungslos, daß der Vogel soeben entkommen. –
Blunk drückte bereits an der Kreuzung der Leipziger auf den Ball, rief dem Chauffeur zu: „Basedowstraße. Wilmersdorf.“
Das Auto bog nach links ab.
Herbert Blunk rauchte nervös eine Zigarette nach der anderen. Er hatte Pech. Erst auf dem Friedhof die Hetzjagd, nun hier auf dem Belle Alliance Platz berufsmäßige ‚Greifer‘! Wie ging das zu?! Wer hatte ihn verraten? Etwa der Vater? War der vielleicht der Polizei in die Hände gefallen?!
Blunk hatte das Gefühl, als wandelte er über einen Boden mit lauter geheimen Falltüren hin. Jeden Augenblick, fürchtete er, konnte sich etwas neues Widriges ereignen. Er wollte jetzt in der Basedowstraße Umschau halten, wie es mit dem Brande stand. Vielleicht traf er Thomas Birk, dem er dann schon irgend ein Märchen auftischen würde, weshalb er nicht in Johannistal geblieben. Birk konnte ihn vielleicht eine Nacht beherbergen. Die Gärtnerei hatte ja verschiedene Schlupfwinkel.
Das Auto hielt. Blunk wanderte zu Fuß weiter.
Schon aus der Ferne erkannte er, daß nur noch wenige Gaffer die Brandstelle umstanden.
Das Feuer war abgelöscht. Die Ruinen des Logenhauses qualmten nur noch. Wehrleute hatten sich einen Zugang zu den Kellern gebahnt. Auch Graf Udo und Erna Maletta waren jetzt mit dem Branddirektor dort hinabgestiegen. Hitzewellen und Rauchwölkchen schlugen ihnen entgegen, das Krachen von Axthieben drang an ihr Ohr.
Sie kamen gerade zur rechten Zeit. Soeben war die Geheimtür zur Kellerhalle erbrochen worden.
Laternenschein irrte über die blauen Wände und die Götzenbilder, die Sessel und den langen Tisch hin.
Leer – leer! Von Menschen keine Spur!
Udo suchte. Er feuerte die Leute an, die Wände abzuklopfen. Vielleicht gäbe es hier noch mehr verborgene Gelasse.
Ein Wehrmann fand die Versenkung im Fußboden, fand den Schacht, die Hebevorrichtung.
Leer – nichts!
Nirgends weiter ein Anzeichen für noch andere Räume. Schließlich gab man das Suchen auf.
Der Morgen dämmerte bereits. Erna Maletta und Udo gingen heim nach der Gudrunstraße – stumm, bedrückt. Saßen dann in der Filmdiva Speisezimmer wie schon vor Stunden und horchten auf das Singen und Brozeln der Teemaschine, schwiegen meist. Die Enttäuschung, den alten Grafen nicht gefunden zu haben, lähmte ihre Zungen und Herzen.
Die Filmdiva, von scheuer Zärtlichkeit für den Jugendgeliebten erfüllt, streichelte jetzt seine auf der Tischplatte ruhende Hand und meinte tröstend:
„Mut, Udo, Mut! Vielleicht hat jener Elende nur gelogen, vielleicht war Ihr Vater gar nicht Gefangener der Logenbrüder, vielleicht weilt er anderswo.“
Der junge Graf blickte verstört auf. Seine Augen hatten einen ganz geistesabwesenden Ausdruck.
Er umklammerte Erna Malettas Hand, als ob er irgendwo einen Halt suchte.
„Erna, Sie vergessen Ulminskis Zettel!“ flüsterte er. „Ulminski hat doch Fink benachrichtigt, daß sich in den Kellern zwei Personen –“
Sie unterbrach ihn: „Der Zettel kann von Herbert Blunk herrühren.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, es war des Fürsten Handschrift. Der kleine Brex sagte es.“
Dann sprang er auf, begann hin und her zu gehen, machte schließlich neben Erna halt.
„Es ist ja nicht allein die Sorge um meinen Vater,“ erklärte er dumpf. „Es ist da noch etwas weit Schlimmeres, Erna! Nicht ohne Grund bat ich Sie, zu verschweigen, was dieser Schurke von Herbert mir an Anklagen gegen meinen Vater ins Gesicht schleuderte – daß er seinen Bruder um das Erbe betrogen haben soll und daß dieser Bruder Albert Battner war, also – der Tote in der Friedhofskapelle!“
„Häßliche Verdächtigungen, Udo! Nichts weiter!“
Der junge Graf legte seine kühle Hand der Geliebten leicht auf die Schulter, blickte Erna starr an und flüsterte: „Mehr als bloße Verdächtigungen sind’s! Glaube mir!“
Ganz unbewußt war ihm das vertrauliche Du wieder über die Lippen gekommen.
„Bedenke, Erna, welch große Ähnlichkeit zwischen dem Toten und meinem Vater besteht! Bedenke ferner, daß niemand, selbst das verbrecherische Hirn eines Herbert Blunk, sich solche Einzelheiten nicht ausdenken kann! Und schließlich, ich habe es stets gespürt, daß es mit meinem Onkel Albert, den ich freilich nie gekannt habe, etwas besonderes auf sich haben müßte. Sein Name wurde nie erwähnt. Als Knabe erfuhr ich nur durch die Dienerschaft, daß mein Vater noch einen älteren Bruder besäße. Später, als Jüngling, brachte ich einmal das Gespräch auf ihn. Da erblaßte mein Vater und befahl mir, den Namen nie mehr zu nennen. Aus Neugier forschte ich dann insgeheim nach, was aus diesem Grafen Albert Friedrich Ernst Brucksal geworden. Ich stellte fest, daß er mit sechsundzwanzig Jahren hatte entmündigt und in die Nervenheilanstalt eines Doktor Trebra geschafft werden müssen. Dort sollte er nach zehn Jahren in tiefster geistiger Umnachtung gestorben sein.“
Seine Stimme zitterte immer mehr. „Furchtbarer Gedanke, Erna,“ stieß er hervor, „annehmen zu müssen, daß mein Vater, der mit so rührender Liebe an mir hing, wirklich aus schnödem Eigennutz einen Gesunden in jener Anstalt eingesperrt haben sollte! Noch furchtbarer, daß ich, der endlich Heimgekehrte, hier mit solchen Nachrichten empfangen wurde!“
Seine Augen waren wie umflort. Sein Mund zuckte.
Heißes Mitleid stieg da in dem Herzen der schönen Filmkönigin auf. Sie verstand ihn. Er, der voller Sehnsucht der deutschen Heimat zugeeilt war, fand diese Heimat so ganz anders vor, als er erwartet! Statt Wiedersehensfreude Aufregungen und trübe Gedanken, die jetzt noch durch die Furcht, den Vater als Ehrlosen durchschaut zu haben, vermehrt wurden!
Mitleid und Liebe rissen die Schranke ein, die durch die Enttäuschungen dieser Nacht zwischen ihren Herzen entstanden.
Erna Maletta erhob sich gleichfalls, legte Udo die Arme sanft um den Hals, errötete hold und sagte innig: „Ich will dir alles tragen helfen, Udo! Du sollst nicht das Gefühl haben, als stündest du hier in der Heimat allein da!“
Auch über sein Antlitz ging da ein seliges Leuchten hin. Alles Dunkle, Trübe versank.
Er zog sie an sich, küßte sie.
„Erna, Geliebte – jetzt für immer mein – für immer!“
Eng aneinander geschmiegt standen sie da.
Bis der erste Rausch der Seligkeit allmählich verebbte, bis Erna den Kopf zurückbog und Udo fest anblickte:
„Ich soll dein Weib werden! Ich darf es! Ich bin rein – rein geblieben trotz aller Versuchungen! Die Welt schätzt mich anders ein. Gewiß – ich brauchte Anbeter, brauchte sie, weil keine Schauspielerin ohne stärkeres Erleben bestehen kann. Diese Männer blieben Anbeter meiner Reize! Keiner besaß mich ganz!“
Ein neuer, heißer Kuß.
Draußen die ersten Sonnenstrahlen über dem Dächermeer der Weltstadt, ein neuer Tag
Hier in zwei Herzen der Glaube an ein neues, gemeinsames Leben, an eine sonnige Zukunft.
Herbert Blunk näherte sich sehr zögernd der Gärtnerei. Der Regen hatte jetzt aufgehört, die dunklen Wolken waren bis auf eine finstere Wand dort im Süden verschwunden – dort, wo Johannistal lag.
Herbert hatte die Augen überall. Abermals beschlich ihn das ungewisse Gefühl, daß ihm irgend ein Unheil drohte. Er stand jetzt neben einer Gruppe von Gaffern, die sich laut darüber unterhielten, weshalb die Feuerwehr wohl so rasch in die Kellerräume der Brandruine eingedrungen sein mochte.
„Sie suchen zwee!“ meinte ein blasser Bursche, dessen Scheineleganz und unruhige Augen auf eine sehr anrüchige Berufsart hindeuteten.
„Wat – in die Keller?!“ lachte ein Straßenbahnschaffner.
„Jewiß – in die Keller! Ick hab’s von eenen von die Löschfritzen! Die Polizei hat ’n Zettel jekriegt. Zwee stecken in die Keller!“
„Dann sind sie ooch dot, erstickt!“
„Ah – das sind Axthiebe! Hören Sie’s, Männeken. In so ’ne Loge jibt’s immer jeheime Jelasse. Det weeß man doch.“
Herbert Blunk horchte gespannt. Er hätte den Leuten sagen können, wen man suchte: Jane und den alten Grafen!
Und wieder glitt sein Blick über die Fenster des Gärtnerhauses hin.
Ob er’s wagte, hineinzugehen? – Thomas Birk würde ihm vielleicht einen guten Rat geben, wo er sich verbergen sollte.
Ha – ein schwacher Lichtschein dort hinter einem der Fenster.
Und jetzt der Schatten eines Mannes auf den Vorhängen.
Birk war also daheim. –
Herbert Blunk zögerte nicht länger, schlenderte im Bogen auf die weit offene Gartenpforte zu, klopfte an die Tür – dreimal – Pause – wieder dreimal, einen besonderen Wirbelschlag.
Der Lichtschein hinter dem Fenster erlosch langsam, so, als ob jemand mit einer Lampe in der Hand den Raum verließ.
Dann ging die Haustür nach innen eine Handbreit auf. Die Sicherheitskette blieb vorgelegt. In der Spalte erschien Birks längliches, knochiges Gesicht mit den scheinbar so schläfrigen Augen.
„Herbert Blunk!“ flüsterte der draußen Stehende. „Laß mich ein!“
Birks Augen glühten auf – einen Moment nur.
„Aha du bist’s!“ Und er hakte die Kette los.
Blunk trat ein.
„Geh’ ins Hinterzimmer,“ meinte Birk in seiner maulfaulen Art, die genau so nichts als Maske war wie der schlafmützige, verträumte Blick.
Blunk durchschritt den kurzen Flur, stieß die Tür auf und hörte, wie Birk abschloß und die Kette wieder vorlegte.
Aber – auf der Schwelle blieb er stehen, zog den rechten Fuß unwillkürlich wieder zurück.
Da saßen um den Tisch mit dem braunroten Glanzlederbezug vier Polizeibeamte in Uniform. Ihre Tschakos standen auf dem Fensterbrett vor dem geschlossenen, weiß gestrichenen Fensterladen, über den kreuzweise zwei dunkle Eisenstangen hinliefen.
Blunks Schreck war nur kurz. Er lächelte jetzt, setzte den rechten Fuß wieder vor und sagte: „Guten Abend, Brüder! Eure Gesichter und Kostüme wirken ziemlich echt!“
Birk drückte jetzt die Stubentür ins Schloß und lehnte sich an die braun gestrichene Füllung.
Herbert Blunk wurde bei dem eisigen Ausdruck der Gesichter der Vier plötzlich unbehaglich zu Mute. Eine heiße, nervöse Welle stieg ihm vom Herzen zum Kopf. Er drehte sich nach Tom Birk um.
„Wo kommst du her?“ fragte Birk gleichmütig.
„Aus Johannistal –“ – Blunk stotterte. Birks Frage ließ ihn das Schlimmste befürchten.
„So – so!“ meinte Birk. „Aus Johannistal! – Wann bist du nach Berlin zurückgekehrt und weshalb?“
Blunk krallte die Fingernägel in die Handflächen. Wenn er jetzt nicht ruhig blieb, war er verloren. Die Luft des kleinen Zimmers hier schien ihm mit unausgesprochenen Drohungen angefüllt zu sein.
Geschickt mischte er Wahres und Erdichtetes, log immer kaltblütiger: daß er unterwegs mit seinem Vater vereinbart hätte, er solle die Chaussee, den Zugang nach Johannistal, bewachen; daß er vom Wagen gesprungen sei und dann drei verdächtige Männer bemerkt hatte, die mit dem letzten Vorortzuge nach Berlin fuhren. Er folgte ihnen und wurde dann leider als Verfolger bemerkt, entkam nur mit geraumer Not und glaubte sich schon gerettet, als er zwei dieser Leute, fraglos Geheimpolizisten, abermals in seiner Nähe auf den Belle Alliance Platz spürte, wohin er auf seiner Flucht geraten war.
So lautete sein mit Einzelheiten reichlich ausgeschmückter Roman.
Birk nickte verschiedentlich, meinte nun achselzuckend: „Ja, dann haben wir dich eben in einem falschen Verdacht gehabt, Blunk. Wir glaubten schon, du seist aus andern Gründen verduftet. – Wir dürfen jetzt hier nicht mehr allzu lange bleiben,“ fügte er lebhafter hinzu. „Die Feuerwehr sucht drüben nach Jane und dem Alten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß man den Verbindungsgang entdeckt. Dann ist auch meine Zugehörigkeit zur Loge erwiesen. Bisher beargwöhnt man mich nicht. – Wir haben von hier noch verschiedenes wegzuschaffen. Beeilen wir uns.“
Blunk kam nicht dazu, noch irgend etwas zu fragen. Birk hatte sich gebückt und den Bastläufer aus der Mitte des Zimmers rasch aufgerollt. Rissige Dielen ohne jede Spur von Farbe wurden sichtbar. Sie waren so abgetreten, daß die blanken, rundgeschliffenen Nagelköpfe überall herausragten.
Tom Birk bückte sich und drückte mit einem Hohlschlüssel auf einen der Nägelköpfe. Herbert Blunk dachte: „Also ein neues Geheimnis dieses Hauses!“
Ein längliches Stück des Fußbodens, zwei Dielen breit, klappte herunter und gab den Zugang zu einem engen gemauerten Schach und einer Leiter frei.
„Nimm die Petroleumlampe, Schmidt,“ sagte Birk zu einem der als Polizisten Verkleideten.
Dann kletterte er voran in den Schach hinab. Schmidt folgte als zweiter. Als dritter Herbert Blunk. Dann die drei anderen Brüder.
Zwei Leitern führten gut acht Meter tief hinab und endeten in einem offenbar sehr alten Kellergewölbe.
„Der Keller eines Bauernhauses aus dem 17. Jahrhundert,“ sagte Birk erklärend zu Herbert.
Das Gewölbe zog sich, aus Feldsteinen, Lehm und Kuhdung, dem Mörtel früherer Zeiten, errichtet, als Gang nach Norden zu, bis an eine neuere Tür aus starken Brettern mit einem modernen Drückerschloß.
Der Schlüssel steckte von außen. Blunk schloß auf und ließ die andern den länglichen Raum betreten.
Ein paar Kisten, zwei Holzbetten, ein einfacher Tisch und drei alte Rohrstühle standen hier. Auf dem Tische brannte eine Küchenlampe mit Messingreflektor. Auf zweien der Stühle aber saßen Jane und der Graf Oskar von Brucksal.
Jane riß wieder in tiefster geistiger Stupidität Schnipsel aus einer Zeitung. Der Graf, die Reste eines belegten Brotes vor sich auf einem Teller, schaute den Männern ebenfalls mit stumpfem Gleichmut entgegen.
Schmidt stellte die Lampe weg – zu der andern auf den Tisch.
Schweigend nahm Birk sie wieder auf und trat an die linke Wand heran, an eine der Bettstellen.
Dort lag ein mit einer dünnen gelben Seidendecke verhüllter menschlicher Körper. Die Nase, das Kinn, die auf dem Leibe gefalteten Hände hoben sich unter der schimmernden Seide scharf ab.
„Komm’ mal her, Blunk,“ meinte Tom Birk.
Ahnungslos näherte dieser sich.
„Wie – eine Leiche?“ flüsterte er erstaunt.
„Ja. – Wer mag’s wohl sein?“
Birks Stimme klang schärfer. „Lüfte mal die Decke! Es ist was Bekanntes!“ Eine unheimliche Ironie lag in diesen Worten.
Blunks Wangen verloren plötzlich alle Farbe. Die weißen Flecke dehnten sich von den Wangen weiter aus. Die Nase wurde vor namenloser Angst schmal und lang, die Augen starr und groß.
Birk riß die Decke zur Seite.
Blunk taumelte, wurde von hinten gepackt. Eine derbe, knochige Hand drückte ihm die Kehle zu.
Birk sprach leise, verächtlich weiter: „Verräter, du hast nicht damit gerechnet, daß der Meister das Haus Nummer 20, in dem seine Gattin noch im Sarge ruhte, weiter beobachten lassen würde. Schmidt stand dort Posten. Schmidt sah dich hinein schlüpften, sah dich wieder heraus kommen! Er konnte dir nicht folgen. Aber eine Stunde später holten er und die drei anderen Brüder, geschützt durch die Uniformen, die Mumie der Fürstin Sonja aus dem Sarggemach und brachten sie in einem Koffer hierher. Da stellte sich denn heraus, daß das Säckchen mit den Edelsteinen fehlte, mit den fünfzig Diamanten des Fürsten Jussugoff, die Horst Olden suchen sollte! –
Du bist der Dieb. Du und dein Vater. Ihr wurdet zu Verrätern. Dein Vater liegt im Chausseegraben dicht vor Johannistal mit durchschnittener Halsschlagader. Ihn hat die Strafe von selbst ereilt. Du aber –“.
Mehr hörte Herbert Blunk nicht. Vor seinen Augen sprühten Funkengarben auf.
Und dann – dann ein feiner Schmerz im linken Unterarm.
Da sah er – sah die kleine Nickelspritze in Schmidts Händen.
Ein gurgelnder Schrei noch.
Und Herbert Blunk sank bewußtlos in sich zusammen.
Eine halbe Stunde später setzte ein geschlossenes Taxameterauto auf dem Belle Alliance Platz einen bartlosen, blassen Mann ab und fuhr dann schnell weiter, hielt abermals und setzte ein blöde lächelndes, üppiges Weib ab: Jane Wellesley!
Der dicke Wrobel patrouillierte hier mit seinen Leuten noch immer auf und ab.
Dann erblickte er einen scheinbar Betrunkenen, einen Mann, der mit dem Grafen Udo Brucksal auffallende Ähnlichkeit hatte.
Wrobel nahm die Pfeife an den Mund.
Ein schriller Pfiff – dann packte er den Verbrecher.
„Herbert Blunk, Sie sind verhaftet!“
Blunk stierte ihn mit seltsam leerem Blick an.
„Was – was wollen Sie?“ lallte er. „Blunk – Blunk – ich – ich heiße nicht so. Wie – wie heiße ich doch? Ich – ich hab’s vergessen – alles vergessen – alles!“
Er murmelte nur noch. –
Man brachte ihn ins Präsidium. Gleich darauf wurde auch ein Weib eingeliefert: Jane! – Auch sie war den Beamten ein Rätsel – tagelang, bis die Ärzte erklärten, sie gehöre ins – Irrenhaus. –
Auch Herbert Blunk ward am selben Tage nach Dalldorf geschafft. Als die Pforte sich dort hinter den beiden neuen Kranken schloß, war die Welt für immer für sie tot. Sie waren gefügige Patienten, zu Kindern geworden. Ihr Gedächtnis lebte nie wieder auf.
*
In der vorderen Passagierkabine des gelben Riesenvogels saß Lori Battner an einem der schmalen Fenster in einem Korbsessel, dessen gepolsterte Kopfstütze und Fußbrett einen Liegestuhl vollständig ersetzte.
Vor ihr saß Nadja. Dann an dem winzigen Tisch nach der Führerkoje zu Sergius Ulminski, jetzt ohne Verkleidung, wieder mit der strengen, ernsten Hornbrille vor den dunklen Schwärmeraugen.
Hinter Nadja hatten Cesare Chivarri und Doktor Grupp sowie zwei andere Brüder Platz genommen.
Niemand sprach zu ihr. Sie war eine Gefangene.
Ulminski, gleichfalls tief in den Sessel zurückgelehnt, grübelte vor sich hin. Seine Augen beobachteten das Brett über dem Tische mit den blinkenden Apparaten und besponnenen Drähten.
Der Dreidecker flog ruhig und stetig unter Gunnar Börtgens sicherer Führung. Der Wind kam von rückwärts. Mit rasender Schnelligkeit schoß das Flugzeug nach Nordwest – den Küsten Englands zu. In den Spanndrähten sang der Wind. Die Propeller sausten. Die Musik der Motoren war gleichmäßig wie starkes Brandungsgeräusch.
Ulminskis Gedanken eilten dem Riesenvogel voraus nach Liverpool.
Noch vier Tage, dann würde das Handelsunterseeboot ‚Atlantic‘ Liverpool mit zehn Millionen Pfund Sterling in Goldbarren in aller Stille verlassen. England wollte einen Teil seiner Kriegsschulden an Amerika bezahlen.
Ulminski erwog nochmals seinen sorgfältig vorbereiteten Plan. Wenn sich in sein Denken die Wehmut über den Verlust Loris einschleichen wollte, ballte er stets die Fäuste, jagte all das in die stillen Winkel seines Herzens zurück. Er hatte diese Leidenschaft begraben. Sie sollte ihn nicht mehr stören – ihn und seine Zukunft! Alles, was Weib hieß, sollte für ihn abgetan sein! Er würde nur noch von den Erinnerungen an die Mutter seines Kindes zehren. Sonja, die einst so heiß Geliebte, sie gehörte ihm – ihm allein! Und wenn er erst in Tamira angelangt war, sollte der treue Birk die Tote herüberbringen, dann sollte Sonja dort eine Ruhestätte finden, wie sie nur indische Kaiser ihren Gattinnen errichtet hatten: weißer Marmor und Gold – nichts weiter – nur Gold und weißer Marmor! –
Ein Lämpchen glühte am Schaltbrett über dem Tische auf. Sein greller Schein traf auch Loris Antlitz.
Ulminskis Hände regten sich.
Elektrische Wellen kamen und meldeten:
„Ein Mann sitzt unten im Gestänge, ein Spion. Gruß und Dank – Fritz Liedke.“
Ah – ein Mann! – Er – fraglos er: Horst Olden!
Eifersucht, Rachegelüste quollen in des Fürsten Herzen hoch.
Dann lächelte er kalt. Das war vorbei – überwunden.
Er drehte den Kopf.
„Chivarri!“
Der geschmeidige Italiener drängte sich in dem schmalen Gang an Lori vorbei, beugte das Ohr zu Ulminskis Mund.
„Ein Spion macht im Gestänge die Fahrt mit, Chivarri. Natürlich Olden – natürlich!“
Der Fürst flüsterte. Doch nicht leise genug.
Loris Ohr umstrich wie ein Hauch der geliebte Name.
‚Olden –! Was war’s mit ihm?‘ fragte sie sich bang.
Der Italiener lächelte grausamer. Auch das sah Lori, begriff, daß in diesem Lächeln die Gewißheit der Rache lag. –
„Ich muß mit Börtgen beraten. Nehmen Sie meinen Platz ein Chivarri –“.
Der Fürst öffnete die winzige Tür nach der Führerkoje. Benzindunst schlug ihm entgegen.
Börtgen horchte, nickte.
„Natürlich Olden! Auf die Insel mit ihm und dem Mädchen! Mögen die Beiden ein Robinsonidyll erproben!“
„Ein weiter Umweg, Börtgen?“
„Es geht. Sechs Stunden vielleicht. Es schadet nichts. Wir wollen ja ohnedies bei Nacht in Liverpool landen.“ –
Ulminski nahm seinen Platz am kleinen Tische wieder ein, nachdem er gesehen, daß Nadja eingeschlafen war.
Der Morgen graute. Horst Olden hockte mit gekrümmtem Rücken zwischen den Aluminiumstangen, hatte die Mütze tief ins Genick gezogen. Die scharfe Zugluft strich um seinen gebogenen Rücken, sauste an den Ohren vorbei, durchkältete ihn bis ins Mark.
In dieser Höhe merkte man nichts von Sommerwärme. Seine Hände, seine Füße waren wie starre Eisklumpen.
Immer klarer ward es ihm, daß er geradezu unsinnig gehandelt hatte, als er, der Eingebung des Augenblicks folgend, unter den Riesenvogel gekrochen war und sich dann hatte mit emporziehen lassen.
Weshalb hatte er’s getan – weshalb?! Doch nur Loris wegen – nur! Weil er gefürchtet, sie könnte als seine Befreierin entdeckt werden und der Rache dieser Verbrecher dann schutzlos preisgegeben sein!
Welch ein Wahnsinn! Als ob er sie schützen konnte?! Wie – wie sollte ihm dies möglich sein! Wenn es erst hell wurde, mußte man ihn ja bemerken! Jeder, der sich nur zu einem der Kabinenfenster hinausbog, sah ihn.
Wahnwitz – Unvernunft, törichte Aufopferung – zwecklos!
Und vor Eiseskälte zusammenschauernd, suchte er die erklammten Finger zu bewegen, zu erwärmen, wollte die Beine strecken, um den Blutumlauf zu beschleunigen.
Umsonst! Umsonst! Die Muskeln gehorchten nicht mehr.
Wie eine Vision sah Olden sich in die endlose Tiefe hinabstürzen – sah sich unten irgendwo zerschellen.
Das – das mußte das Ende sein – mußte! Seine Finger würden den Halt verlieren, würden im Krampf sich öffnen.
Dann – hinab ins Leere – hinab zur Erde.
Die eisige Todesangst kroch ihm langsam zum Herzen.
Sterben –?! – Gab’s denn keine Rettung?! War er nicht Horst Olden, der Zauberer, der geniale Olden?!
Seine Energie erwachte.
Er überlegte.
Da unter ihm die beiden Schwimmkörper aus Aluminiumblech, lange, geschlossene Boote.
Da die vier Räder, pneumatikumhüllt, im Luftzuge sich drehend.
Die Schwimmkörper!
Eine glühende Welle belebender Hoffnung ging ihm durch den Körper.
Er biß die flatternden Kiefer zusammen.
Er bewegte Finger, Füße, abwechselnd die Arme.
Bis er es wagte und tiefer kletterte, bis er den einen Schwimmkörper erreicht hatte.
Da war oben die mit Gummirändern wasser- und luftdicht eingelassene viereckige Luke, festgehalten durch zwei Patentklammern.
Er öffnete die Klammern, klappte die Luke hoch, kroch hinein ins Dunkle, legte sich in dem glatten Zylinder lang hin, zog die Öffnung zu.
Seine Hände berührten kleine Kisten, runde Dosen.
Ein Streichholz rieb er an. Erkannte den Proviant für die beiden auch als Rettungsboote zu benutzenden Schwimmkörper und merkte, daß sein Magen sich vor Hunger zusammenkrampfte.
Fleischkonservenbüchsen mit Reißschlüsseln zum öffnen.
Oh – wie das schmeckte! Wie er gierig schlang, wie er wieder ganz der alte Olden wurde!
Wie fest er hoffte, hier nicht entdeckt zu werden! Er ahnte nichts von der Funksprucheinrichtung. Er triumphierte. Er würde Sieger bleiben – in Liverpool!
Der wieder gefüllte Magen arbeitete, spendete Wärme.
Sieger – Sieger! Kein Wahnwitz diese Fahrt! Ein Triumph!
Und der Dreidecker schoß weiter dahin – weiter durch den grauenden Morgen, über die Nordsee mit den weißen Wogenkämmen, über Helgoland hinweg.
Der Wind frischte auf. Der Riesenvogel wiegte sich, den graziösen Möwen gleich, im Sonnengold des frühen Morgens.
Börtgen wurde durch Cesare Chivarri abgelöst.
„Er ist nicht zu sehen!“ schrie der Italiener lachend dem Ingenieur ins Ohr. „Er steckt im rechten Schwimmkörper, Börtgen! Die offenen Deckelklammern verrieten ihn. Nun ist er gefangen. Ich bin hinabgeklettert. Klammern zu! Mag er dort ersticken!“
Gunnar Börtgen blickte Chivarri mißbilligend an.
„Mit Ulminskis Einwilligung?“ fragte er.
„Ja! – Da hat’s vorhin in unserer Kabine eine hochdramatische Szene gegeben.“ Sein grausames Grinsen ward lüstern. „Liebeszene – Eifersucht – Bajazzo! Die blonde Fee hat Ulminski angefleht, Olden zu schonen, nachdem sie gemerkt hatte, nach wem wir durch das Fenster ausspähten, hat Ulminski ins Gesicht geschrien: ‚Verführer – Seelenbezwinger! Ich liebe Olden!‘ – Oh, da hätten Sie den Meister sehen sollen, Börtgen! So sah ihn noch keiner – Gesicht zur Fratze, Augen wie Flammenkrater! Nichts hat er erwidert, hat nur gewinkt – mir, hat die Handbewegung gemacht: Klammern zu! – Nun liegt das Mädel bewußtlos im Sessel. Grupp bemüht sich um sie. Und dann kam von Birk Funkspruch: ‚Fürstin geborgen. Jane und Herbert, beide ungefährlich, in Händen der Polizei. Herbert gestohlene Diamanten abgenommen. Kein Mißtrauen gegen mich. Bleibe in Gärtnerei.‘ – So, nun ruhen Sie sich aus, Börtgen!“
Und er nahm auf dem schmalen Sitz Platz, packte die Hebel, brachte die Füße in die Lederschuhe der Steuerung.
Börtgen stand und starrte durch das Fenster in die Ferne.
Ihm tat Olden leid. Und Lori Battner noch mehr.
Dann ging er hinüber in die Kabine, wo Lori soeben wieder zu sich gekommen war.
Grupp reichte ihr ein Glas Wein.
Sie trank gedankenlos. Sie hätte auch Gift getrunken.
Und – trank es auch, wenn auch nur ein Schlafmittel, das in wenigen Minuten wirkte.
„Vier Mann außer dem Führer trägt der Doppeldecker, Herr Kommissar,“ sagte der kleine Philipp Brex zu Fink vor dem Schuppen des Polizeivogels. „Nehmen wir Römer mit. Er hat’s verdient.“
Fink überlegte. „Er wird uns wenig nützen, Brex.“
„Er wird vielleicht mehr nützen als ein halbes Dutzend Beamte,“ erklärte Philipp eindringlich. „Er liebt Nadja, und sie liebt ihn. Liebe ist unberechenbar. Die Prinzessin wird zu jeder Torheit bereit sein. Die Sehnsucht wirft alles über den Haufen – auch Kindesdank. Sie verstehen, Herr Kommissar, Römer ist der Kontakt zwischen uns und den Flüchtlingen, denn – auf Olden dürfen wir nicht mehr hoffen.“
„Gut denn!“ nickte Fink. „Also wir vier, Sie, Römer, Bogdan und ich. – Vorwärts – hinein in die Kabine!“ –
Der Zweidecker begann zu rollen, immer schneller – klebte am Boden, hielt an im dichten Regen.
Der Führer Bark, ein junger, schneidiger Kerl, sprang fluchend zur Erde, untersuchte die Laufräder.
Rief jetzt Fink zu, der im Kabinenfenster lehnte: „Beide Pneumatiks luftleer! Keine Anfahrt! Verdammt – hier hat ein Messer gearbeitet!“
Brex kletterte herab, besah den Schaden mit der Taschenlampe.
„Ja – ein Messer! Wer kann’s gewesen sein?“
Otto Bark schwieg verbissen.
Fink trat hinzu.
„Halten wir uns nicht lange auf! Bark, anfassen – zurück nach dem Schuppen – neue Schläuche! Es müssen ja Ersatzschläuche da sein!“
Ein Irrtum! Nicht einer war da!
Bark wetterte, suchte. Und Fritz Liedke, die beiden Johannistaler Polizeibeamten und drei Monteure halfen suchen.
Draußen stand der Zweidecker. Von der oberen Tragfläche troff der Regen herab.
Fritz Liedke schlich herbei, schwang sich empor.
Ein paar Hammerschläge, kaum hörbar. Der Motor würde versagen.
‚Ich bin’s dem Meister schuldig!‘ dachte Liedke und huschte zum Schuppen zurück, war der erste, der Fink riet, einen der benachbarten Schuppen zu erbrechen.
Man tat’s, fand Gummireifen.
Und wieder rollte der Zweidecker, schwang sich empor. War noch keine fünfzig Meter hoch, als der Motor zu stottern begann – wie ein Kranker.
Bark ging im Gleitflug zur Erde. Fink brüllte, Brex schäumte vor Wut:
„Die Schufte haben mit der Verfolgung gerechnet! Man merkt’s!“
Zwei Stunden Zeitverlust. Der Morgen kam. Klarer Himmel. Selbst die Wolkenbank dort im Südwest verschwand.
Dann stieg der Polizeivogel endlich auf.
Liedke ging heim zu Weib und Kind, die oben in der Dachstube schliefen. – Nein – sein Weib schlief nicht, stürmte wie sie war die Treppe hinab, riegelte die Tür auf.
„Fritz – Fritz, – du – du ist noch hier?!“
Sie lag an seiner Brust, schluchzend vor Seligkeit.
„Ich bleibe hier, Anna. Er hat mich freigegeben!“ sagte der Mann zitternd. „Er – er hat ein Herz, Anna!“
Er küßte sie. Und dachte an Sergius Ulminski, den Seelenbezwinger. –
Die Morgensonne beschien die düstere, leicht qualmende Brandruine, die geschwärzten Mauerreste, die gesprungenen Scheiben des langen Gewächshauses und den angekohlten Giebel des kleinen Wohnhäuschens Tom Birks.
Der kam aus dem Stalle, hatte seine Ziegen gefüttert, sprach mit der Brandwache über den Zaun hinweg, rauchte seine Pfeife, machte schläfrige Augen.
Dann ging er ins Haus, riegelte hinter sich ab und stieg in die Gewölbe hinunter.
Der alte Graf Brucksal schlief auf einem der Betten. Die Mumie war anderswo untergebracht worden.
Birk trat leise an sein Lager.
‚Er weiß zuviel, der alte Mann,‘ überlegte er wieder. „Ich kann ihn nicht freilassen –“.
Ihm war der Gefangene unbequem. Zu gern wäre er ihn losgeworden. Er ärgerte sich, daß er ihn und Jane aus dem Kellersaal der Loge hierher geholt hatte. Sein Mitleid war stärker als die kühle Berechnung gewesen. Sie sollten dort nicht elend umkommen.
Er war unschlüssig geworden. Nun hatte er den Greis auf dem Halse. –
Er ließ den Schein der Lampe auf das Gesicht des Schlafenden fallen. Der Greis bewegte die Lippen, murmelte im Traum, seine Augenlider zuckten. –
Birk kehrte nach oben zurück, hatte kaum die Falltür geschlossen und den Läufer darüber gedeckt, als die Glocke der Vordertür anschlug.
Birk schlich an das Guckloch.
Ein Herr – eine Dame. Udo und Erna Maletta!
Birks Herzschlag ging schneller.
Udo Graf Brucksal! Bedeutete das etwa Gefahr?
Da – wieder gellte die altmodische Zugglocke.
„Komme ja schon!“ rief Birk und warf Jacke und Weste ab.
Öffnete, ließ die Sicherheitskette vor.
„Sie wünschen?“
„Sie sind doch der Besitzer der Gärtnerei,“ meinte Udo rasch. „Ich möchte gern von Ihnen über das Nachbarhaus und seine Bewohner Auskunft haben.“
„Herr, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen,“ brummte Birk unfreundlich. „Wollte mich gerade hinlegen.“
„Herr Birk, ich bin Graf Udo Brucksal,“ sagte Udo eindringlich. „Mein Vater ist dort im Logenhause gefangen gehalten worden und jetzt verschwunden. Meine Braut und ich wollen ihn suchen –“.
„Na – gut! Einen Augenblick!“
Birk schloß die Tür, trug Jacke und Weste in sein Schlafzimmer und zog einen alten Hausrock über, ließ dann die Beiden ein.
In dem ärmlich möblierten Vorderzimmer fragte Udo den Gärtner aus.
„Ich habe mich nie um die Leute drüben gekümmert, Herr Graf,“ erklärte Birk bedächtig. „Nein, ich lebe ganz für mich. Ich kann Ihnen leider nicht helfen. Ich weiß nichts.“
Erna Maletta saß Hand in Hand mit dem Geliebten auf dem harten Ripssofa.
Sie als Schauspielerin hatte bessere Augen als Udo, hatte einen schärferen Blick für Verstellung und Masken, die die Menschen unsichtbar vor dem Antlitz trugen.
Dieser Gärtner war ihr unsympathisch. Seine leiernde Sprechweise wirkte unnatürlich. Das schläfrige Auge war Komödie.
Sie griff jetzt ein.
„Wie lange wohnen Sie hier, Herr Birk?“ fragte sie, nur um die Unterhaltung zunächst fortzuspinnen.
Birk kniff die Lider zu. – Eine peinliche Frage das.
„Hm – so etwa anderthalb Jahre,“ erwiderte er wahrheitsgetreu. Er wußte nicht, daß Erna Maletta sich bereits als Detektivin versucht hatte, daß sie gefährlich war.
Und die Filmdiva überlegte blitzschnell: anderthalb Jahre! So lange wohnte auch Ulminski jetzt im Hause der Geheimnisse!
Und fragte weiter: „In anderthalb Jahren, Herr Birk – haben Sie da mich wenigstens gelegentlich dieses und jenes von den Leuten drüben gesehen?“
„Fräulein, der Bretterzaun ist hoch. Und wir Gärtner sind besinnliche Menschen, wie die Schuhmacher. Unsere Gedanken sind meist anderswo.“
Das Gespräch schleppte sich weiter.
„Sie sind Junggeselle, Herr Birk?“
„Ja. Mit Weibern gebe ich mich nicht ab.“
Erna lächelte ihn an. „Na, na, Herr Birk. Eine Liebe hat doch jeder!“
„Stimmt. Ich liebe meine Blumen und meine Ziegen.“
Ernas linke Hand streichelte das Seitenpolster des Sofas.
„Halten Sie sich nicht einmal eine Aufwärterin, Herr Birk?!“
„Nein. Hier hat kein Weib was zu sagen.“
Erna Malettas Linke glitt von dem Polster herab, war geballt, als hielte sie etwas fest.
Seufzend wandte sie sich an Udo. „Dann wollen wir Herrn Birk nicht länger stören –“.
Sie stand auf.
Udo legte eine Banknote auf den Tisch. „Für den Zeitverlust, Herr Birk!“
„Danke vielmals. Mit dem Gärtnerberuf sieht’s schlecht aus. Bei den Zeiten –!“
Das Brautpaar durchschritt den Garten. Erna flüsterte, sich an Udo schmiegend:
„Du – ein Erfolg war’s! – Siehst du hier etwas von Blumenbeeten? Alles ist verwildert.“
Udo war stumm vor Überraschung. Dann bestiegen sie das wartende Auto.
„Gudrunstraße 20,“ rief Erna dem Chauffeur zu.
Und – öffnete die linke, noch immer geballte Hand, als die Tür zuschlug – diese zarte Hand, in der jetzt – drei lange rotblonde Haare lagen: Frauenhaare!
„Das fand ich auf dem Seitenpolster des Sofas, Schatz!“ sagte die Filmkönigin strahlend. „Begreifst du, Birk spielte den Weiberfeind! Kein Weib hat bei ihm etwas zu suchen. Und – da flimmerten diese Haare golden auf dem roten Rips der Seitenlehne! Da hatte der Kopf einer Frau geruht, einer rotblonden, Udo! Denke an den dicken Wrobel, der vor einer halben Stunde bei uns war und uns die Verhaftung Herbert Blunks und jener Jane Wellesley mitteilte, die mit ihrem Bruder im Logenhause wohnte. Diese Jane, Udo, beschrieb Wrobel uns – als rotblond! Und diese drei Haare werden wir jetzt durch Wrobel mit denen Janes vergleichen lassen. Begreifst du, Schatz! Birk, der seit anderthalb Jahren Nachbar der Loge ist, gerade seit anderthalb Jahren, hat Jane bei sich empfangen – vielleicht! Stimmt das, dann ist Birk selbst Mitglied der Indra-Loge, dann – dann dürfte es lohnen, sein Grundstück zu durchsuchen!“
Udo von Brucksal nahm sie und küßte sie stürmisch ab.
„Liebling – Liebling, ein Hoffnungsstrahl! Ja – ich erkenne die Wichtigkeit deiner Beobachtungen! – Also nach dem Präsidium zu Wrobel!“
Tom Birk schlief. Er hatte sich keine Sorgen dieses Besuches des Brautpaares wegen gemacht.
Und träumte von – Tamira, von schlanken Palmen, von schmeichelnden Düften exotischer Pflanzen, von dem rauchenden Vulkan, von den tiefen Schluchten, in denen weißer Marmor leuchtete.
So hatte der Meister von der fernen Insel der Zukunft gesprochen. Und jetzt wußte Birk auch, wie diese Insel hieß: Tamira!
Im Schlafe murmelte er abermals: „Tamira!“ –
Wrobel schwitzte vor Aufregungen, rannte im Zimmer des Polizeipräsidiums auf und ab.
„Fräulein Maletta, gleich wird Kommissar Halpern kommen. Halpern – Sie kennen den Namen! Oh, der ist ein Draufgänger!“
Und Halpern kam, stellte sich vor, hob die drei rotblonden Haare zwischen Daumen und Zeigefinger ganz hoch.
„Es sind Jane Wellesleys Haare! Die Farbe stimmt genau! Ich habe bereits Befehl gegeben, daß sich zehn Beamte bereit halten. Wir werden die Gärtnerei umstellen, werden suchen!“
Dem Taxameterauto des Brautpaares war der Bruder Max Schmidt, jetzt wieder ohne die Uniform, mit seinem Rade gefolgt. Er war’s, der schräg gegenüber der Loge wohnte, der vom Fenster aus Udo und Erna an der Haustür der Gärtnerei bemerkt hatte.
Die Brüder der Indra-Loge, gedrillt zu dauernder Vorsicht, jetzt noch wachsamer und mißtrauischer nach den Ereignissen dieser Nacht, bewiesen abermals ihre nimmermüde Wachsamkeit.
Schmidt, seines Zeichens harmloser Hausdiener eines Konfektionsgeschäftes, hatte mit seinem Rade auf der Straße die Rückkehr des Paares erwartet, radelte hinterdrein, sah, daß das Auto eine andere Richtung nahm – zum Alexanderplatz – zum Präsidium.
Kehrte um, stellte das Rad in einem Zigarrenladen unter, sprang in einen Kraftwagen, fuhr zu Birk, trommelte ihn heraus.
Birk hörte zu, lächelte. „Ah – dieses Weib! Der Graf, der war zu dämlich! Aber sie – sie hat irgendwie Verdacht geschöpft!“
Sie berieten. Der Graf Oskar mußte fortgebracht werden.
„Der Koffer!“ meinte Schmidt.
„Und – Chloroform!“ nickte Birk.
„Wohin aber?“
„Zu Liedke nach Johannistal. Er läutete mich an. Er ist hiergeblieben, zuverlässig –“. –
Sie stiegen in das Gewölbe hinab.
Der Greis schlief, atmete im Schlaf das Chloroform ein.
Draußen fuhr eines der offenen Autos der Loge vor.
Birk und Schmidt trugen den Koffer in den Kraftwagen, Schmidt als Dienstmann verkleidet. Er schaute dem Auto nach, kehrte in sein Zimmer mit Flureingang zurück, stellte sich ans Fenster.
Drei Minuten nur – dann war die Polizei zur Stelle!
Drei Minuten – eine Ewigkeit in diesem Falle!
Schmidt lachte ironisch.
Da verschwanden auch der Graf und die Maletta im Hause.
Kommissar Halpern fand die Falltür, fand unten in dem Gewölbe auf dem Tische einen Zettel.
‚Wie im Film – ausgerückt! Nun suchen Sie!‘
Man suchte weiter. Entdeckte in einem anderen Gewölbe die Mumie der Fürstin Sonja.
Das war alles, denn der Geheimgang zur Loge, den Wrobel herausschnüffelte, sprach auch nicht mit.
Lebende hatte man finden wollen.
Eine Tote war der ganze Erfolg! –
Erna Maletta drückte Udos Hand.
„Schatz – wir beide werden doch siegen!“ sagte sie leise. „Was Fink vor seiner Abfahrt mit dem Zweidecker telephonisch seinem Kollegen Halpern über den Motorschlosser Liedke und über die Hinderungsgründe der Abreise mitgeteilt hat, erscheint mir jetzt in neuem Lichte. Diese Loge hat Mitglieder in allen Berufszweigen, Udo. Davon bin ich überzeugt. Gerade einen Motorschlosser brauchte man für den Dreidecker. Und – da soll dieser Liedke harmlos sein, soll nur geglaubt haben, einer Kranken sein Vorderzimmer zur Verfügung gestellt zu haben?! – Udo – wir werden nach Johannistal fahren. Wir beide allein. Die Zusammenarbeit mit der Polizei hat uns kein Glück gebracht. Selbst ist der Mann!“
Sie strahlte vor Unternehmungslust. –
Um acht Uhr morgens brachte ein Vorortzug sie nach Johannistal.
Donnernd und tobend leckten die Brandungswellen des Atlantik an der Steilküste der felsigen, düsteren Insel hoch, die da weit westlich der Shetland-Gruppe im Norden Englands aus den Tiefen des Ozeans einsam herauswächst.
Ein Inselchen nur, Klein-Foula genannt nach der größeren Schwester im Osten, unbewohnt, von Nebeln eingehüllt, von Seevögeln umschrien.
Ein Inselchen, lang gestreckt, mit spärlichem Baumwuchs, mit einem winzigen Flüßchen, einem weiten, steinigen Tale.
In diesem Tale ging nachmittags gegen drei Uhr der Indra-Vogel nieder, landete glatt. –
Horst Olden war nicht erstickt in dem luftdichten Gefängnis.
Sergius Ulminski hatte durch John Wellesley in die Aluminiumhaut zwei faustgroße Löcher neben der Luke schlagen lassen.
Auch das hatte er verwunden: daß Loris Liebe dem Detektiv gehörte! Sein Haß, sein Vernichtungswille waren schnell zerflattert.
Was ging ihn noch Lori Battner an?! Sollte er ihretwegen zum Mörder an einem Manne werden, der nur seine Pflicht getan hatte, als er es wagte, die Fahrt mitzumachen?! War dieser Olden nicht als Feind bewundernswert?!
Das hatte auch Gunnar Börtgen betont, hatten die meisten Brüder ebenfalls bestätigt. –
Man hob jetzt die in halber Bewußtlosigkeit infolge des starken Schlafmittels dahindämmernde Lori aus der Kabine heraus und trug sie in ein nahes Gebüsch.
Kein Wort fiel. So hatte der Meister es gewollt.
Dann entleerte man den anderen Schwimmkörper, legte die Kisten mit Dauerzwieback und die Blechbüchsen neben den Busch, legte Wolldecken dazu, einen Wasserkessel, Zündhölzer, manches andere.
Ulminski ließ den Deckel öffnen.
Olden kroch heraus, stand aufrecht da, musterte die Feinde, die – seltsam! – sämtlich ihre Revolver bereit hielten – so viele gegen einen!
Nadja schaute ihn an, rief: „Also so sehen wir uns wieder, Master Jameson!“
In ihren Augen leuchtete naive Bewunderung, obwohl Olden in seinem Strolchkostüm keineswegs imponierend wirkte.
Ulminski winkte. Zwei seiner Leute griffen zu, banden Olden die Hände auf dem Rücken zusammen.
Ein neuer Wink, und die Kabinen füllten sich wieder.
Der Indra-Vogel rollte, stieg elegant empor.
Außer Nadja hatte niemand ein Wort gesprochen. –
Olden blickte dem Dreidecker nach. Er lachte hart auf. Diese stumme Szene war Effekthascherei gewesen. Das hatte nach Schmierenkomödie gerochen. Es war Unnatur, daß Ulminski, Börtgen und die anderen den Feind keines Wortes würdigten. Glaubte der Fürst etwa, ihn, Horst Olden, durch solche Mätzchen zu schrecken?!
Der Dreidecker war längst in den dünnen Nebelschleiern verschwunden. Olden konnte die Fesseln leicht abstreifen, reckte und streckte sich, horchte auf das nimmermüde Brandungsgeräusch, auf den ermunternden Kraftgesang des Ozeans, sog die salzhaltige Luft in vollen Zügen ein und dachte – an Lori!
Dachte weiter an all die Fragen, die sich in dieser Lage wohl jedem aufgedrängt hätten.
Wo befand er sich?
Wie würde er diese Insel – denn daß es eine Insel war, ahnte er – verlassen können?
Würde sie bewohnt sein?
Würden hilfsbereite Fischer ihn zur Festlandküste bringen?
Und – würde der kleine Brex, zu dem er noch das meiste Vertrauen hatte, schnell genug nach Liverpool kommen, um Ulminski und die anderen Verbrecher abzufangen? –
Er schaute sich bedächtig um, sah den Proviant, die Wolldecken.
Sah noch nichts von Lori, die in den Büschen wieder in tiefen Schlaf versunken war.
‚Ein Zeichen von Großmut!‘ schoß es ihm beim Anblick der zurückgelassenen Gegenstände durch den Kopf. ‚Ich soll nicht verhungern. Zugleich aber der Beweis, daß diese Insel unbewohnt ist. Sonst hätte man mich hier nicht verproviantiert.‘
Er wollte sein Robinsoneiland kennen lernen, wollte dort jenen Berg ersteigen, schritt frisch und kräftig aus, entfernte sich immer mehr von der Geliebten.
Mancherlei überlegte er, während seine Beinmuskeln den schwierigen Anstieg bezwangen.
Eine Insel – ohne Frage! Wo konnte sie liegen?
Er zog die Uhr.
Halb vier nachmittags! Und gegen ein Uhr morgens war der Dreidecker in Johannistal aufgestiegen. Das waren also vierzehn und eine halbe Stunde Flugdauer. Der Dreidecker hatte nordwestliche Richtung von Johannistal aus genommen – gen England.
Also vielleicht eine der Orkney- oder Shetland-Inseln. Das konnte mit der Flugdauer und der Entfernung stimmen.
Der Gipfel des Berges war erreicht. Das Panorama der zerklüfteten Insel und des Atlantik lag zu Oldens Füßen.
Nirgends ein Zeichen, daß hier Menschen hausten. Nur ungeheure Möwenschwärme in der Luft.
Kein Segel weit und breit. Der Wind riß weite Lücken in die grauen Nebelschleier, bald hier, bald dort, gab so die Aussicht frei, bis die feuchten Vorhänge sich wieder schlossen.
Jetzt abermals ein Loch gegen Osten.
Die Sonne glänzte dort hinten siegreich auf den Wogen, und dort am Horizont etwas wie ein schwarzes Wölkchen: Land – eine andere Insel!
‚Also die Shetland-Inseln!‘ dachte Olden. ‚Die Eilande der Orkney-Gruppe liegen dichter beieinander. Auch der Nebel spricht für Shetland.‘
Er wandte sich um, musterte im Rundblick nochmals sein Robinsongestade.
Neue Gedanken. Erwägungen scharfer Logik, keimten auf. – Ohne Zweifel war diese Inseln den Logenbrüdern gut bekannt. Wie hätte es sonst ein Flugzeug von der Größe des Dreideckers wagen dürfen, dort im Tale zu landen?! – Sehr gut mußten Ulminskis Leute hier Bescheid wissen!
Oldens Blicke wurden plötzlich schärfer, blieben auf einer Schlucht der Nordküste haften.
Das war Rauch, diese gekräuselte dunkle Masse, die so schnell über dem Rande der Höhen zerflatterte, Rauch eines Feuers.
Wo Rauch war, da lebten auch Menschen! Vulkane oder dergleichen gab es hier nicht.
Olden begann den Abstieg, behielt die nördliche Richtung bei, machte wieder halt.
Da stand am Westrande jener Schlucht eine einzelne Tanne, uralt, kerzengerade.
Da ragte über den Wipfel der Tanne noch etwas hinaus, das nicht mit zu dem Baume gehörte: eine Stange, Drähte, Raaen, Querstangen.
Olden kniff die Augen klein, um schärfer zu sehen. Das Bild blieb: die Tanne – oben die Empfänger einer Funkspruchstation. Denn das war’s: modernste Telegraphie!
Er kletterte weiter. Überlegte wieder. Die Station gehörte der Verbrecherloge. Davon war er überzeugt. Und Menschen wohnten hier, Logenbrüder. Auch das war sicher. – Was taten sie hier in der Meereseinsamkeit?
Olden fand keine Antwort. – „Ich werde es feststellen,“ sagte er sich, und das Abenteurerblut in seinen Adern rann schneller.
Der Berg lag hinter ihm. Schluchten, Täler durchquerte er. Die Aussicht nach der Tanne war ihm genommen. Aber bald erspähte er ihn wieder, den dunklen, hochragenden Nadelbaum, keine vierhundert Meter entfernt.
Und stand wie angewurzelt, wischte mit der Hand über die Augen.
Die Tanne – ja! Aber die Stangen, die Drähte, die weißen Porzellanisolierungen – die waren verschwunden.
Verschwunden auch der Rauch. Nur Möwen – Möwen wie weiße Tupfer im Nebelgrau.
‚Rücksichtnahme auf meine Person!‘ dachte er ironisch. ‚Die Brüder hier wissen, daß eine Spürnase zu Gaste gekommen. Sie haben die Empfänger entfernt, das Feuer gelöscht. – Machen wir kehrt – im Bogen, tun wir, als hätte ein Zufall mich hierher geführt. Die Nacht eignet sich besser für solche Ausflüge.‘
Zehn Minuten drauf war er wieder in dem langgestreckten Tale angelangt. Der Marsch hatte ihn hungrig gemacht. So steuerte er denn auf den Rand der Büsche zu, auf die Vorräte, bückte sich nach einer Konserventrommel, der größten.
Da lag auf dem Deckel ein weißes, schillerndes Perlmutterknöpfchen mit einem winzigen goldenen Vierklee als Verzierung in der Mitte.
Olden hob den Blusenknopf fast andächtig auf, betrachtete ihn. Er hatte ihn sofort erkannt. Der stammte von Loris bastseidener Bluse, die sie angehabt hatte, als Olden sie im Hause Fritz Liedkes wiedersah.
Wie kam der Knopf hierher? – Durch einen Zufall? – Das war ausgeschlossen. Der Knopf war doch offenbar absichtlich auf die große Blechbüchse gelegt worden, damit er ins Auge fiel. – Etwa ein grausamer Scherz Ulminskis? Hatte der Fürst den Knopf hier zurückgelassen als hohnvollen Gruß Loris?! – Olden hielt dies nicht für unmöglich. Die wortlose Komödie seiner Aussetzung hier fiel ihm ein. Wirklich Ulminski?!
Spähend schritt er umher, um die Büsche herum, schließlich hinein in die Sträucher, den deutlichen Spuren von Männerstiefeln nach, die das spärliche Gras halmweise niedergetreten hatten. Fand so die Stelle, wo offenbar ein Mensch in dem hier dichteren Grase gelegen. Fand so – den zweiten Knopf, halb unter ein Steinchen gedrückt.
Olden streckte sich ganz lang hin, brachte die Nase dicht an den Boden, schnupperte wie ein Hund, sog die Luft ein.
Da war eine Stelle im zerdrückten Grase, die nach Jodoform roch – ganz wenig – nach Loris verbundenem Kopf, nach dem Verband der Hiebwunde.
Lori hatte hier gelegen. Jetzt wußte Olden es mit aller Bestimmtheit.
Und der nächste Gedanke: wenn die Indra-Leute Lori hier ins Gebüsch getragen und niedergelegt hatten, dann – dann war auch sie hier zurückgelassen worden! Wozu hätte man sie sonst aus der Kabine des Riesenvogels herausgeschafft?
Ja – sie war hier gewesen, vielleicht in tiefem Schlafe, vielleicht betäubt.
Aber – wo weilte sie jetzt? War sie erwacht, war sie davongeeilt, hatte sie die Knöpfchen für ihn als Zeichen niedergelegt?
Fragen auf Fragen bestürmten Olden. Die meisten konnte er sich beantworten, als er noch im Tale nach eifrigem Suchen zwei weitere Vierkleezeichen fand: Lori war nicht freiwillig gegangen, war gewaltsam weggeholt worden! Die Knöpfe sollten ihm das Rätsel lösen helfen! –
Olden setzte sich und begann seine einsame Mahlzeit. Er aß wie eine Maschine. Das Geheimnis dieser Insel beschäftigte ihn unausgesetzt. Seine erste Annahme, daß hier Leute Ulminskis als Bediener der Funkstation in der Verborgenheit lebten, war jetzt wie ein Kartenhaus umgesunken. Die einfache Überlegung, daß Ulminskis Verbündete sich doch kaum an Lori vergriffen und sie weggeführt haben würden, genügte neben anderen ähnlichen Erwägungen vollauf, diese Vermutung umzustoßen.
Wenn es nicht Ulminskis Leute waren, wer lebte sonst hier? Wer hatte die Station eingerichtet?
Über diese Fragen kam Olden nicht hinweg. Sie waren die Schranke, die alles weitere Grübeln nutzlos machte. –
Er stand auf und suchte jetzt einen Unterschlupf für die Nacht. Eine Grotte, mehr eine Felskluft mit engem Zugang und noch engerem Luftabzug nach oben, auf einem schmalen Felsgrat der Westwand des Tales gelegen, nahm dann den Proviant, die Decken, alles übrige auf. –
Olden fühlte sich ständig beobachtet. Unauffällig spähte er nach dem Augenpaar aus, das er, der Feinnervige, fortwährend spürte und das ihn unfrei machte. Er wurde nervös. Als er Gras für sein Lager ausraufte, kollerte von der Steilwand ein Felsbrocken herab. Also da oben steckte das Augenpaar! Aber – niemand war zu bemerken.
Das Meer sandte jetzt immer dichtere Nebelschwaden über die Insel hin. Der Abend nahte. Täler und Schluchten füllten sich mit brauenden kühlen Dämpfen.
Olden liebte diesen Nebel. Er war für ihn die Tarnkappe, die ihn unsichtbar machte. Gegen sieben Uhr war die Insel wie ein Wolkengebilde. Nebel – überall die grauen Schleier – nur auf wenige Schritte Aussicht gewährend.
Da brach Olden aus seiner Höhle auf, schlich ins Tal, wandte sich nach Süden, machte kehrt, schlich der Nordküste zu, blieb oft stehen, lauschte.
Nichts als das Brandungslied, nichts als schrille Möwenrufe. Kein Verfolger konnte dem Einsamen auf den Fersen bleiben. Der Nebel verschluckte ihn.
Olden hatte viel erlebt. Etwas wie dies hier noch nie. Das war echte Romantik: eine Insel, starre Berge, starre Felsmassen, Stille, schleiernde Dämmerung, ein Wandern wie im Dampfbad, eine Suche nach – ja – wonach? Nach Lori –?
Zweifel kamen ihm, ob Lori überhaupt hier weilte, geweilt hatte. Was besagte schließlich Jodoformgeruch, was die vier Knöpfchen? Konnte nicht all das vorbereitete Täuschung sein? – Bei Tageslicht hatte er an seine Kombinationen geglaubt. Jetzt in der trüben, unheilschwangeren Dämmerung fielen Mißtrauen und Zweifelsucht über ihn her, vielleicht geboren aus einer noch stärkeren Sehnsucht nach der Geliebten, aus einer Sehnsucht, die er sich selbst nie eingestanden hätte.
Vielleicht war’s diese selbe Sehnsucht, die ihn wie ein Tier jetzt, das da mit weit feineren Organen ausgestattet ist als der Herr der Schöpfung, in blindem Instinkt durch Nebel und Felswildnis den rechten Weg finden ließ – hin zu jenem immergrünen mächtigen Nadelbaum, dessen Spitze der Neuzeit grandioseste Erfindung, die drahtlose Fernsprache in Gestalt einfacher Apparate, getragen hatte.
Er hörte die Tanne rauschen und säuseln. Er roch sie, roch den feinen würzigen Harzduft. Noch sah er sie nicht. Aber er wußte, er stand vor ihr! – Denn noch etwas spürten seine Geruchsnerven: Rauch – Rauch brennender Scheite!
Er war am Ziel! Hier mußte er zu suchen beginnen. Hier mußte das Geheimnis der Insel verborgen sein.
Er stand und atmete tief.
Die Tanne umschmeichelte mit Heimatswispern sein Ohr. In seiner westpreußischen Heimat, im Schloßgarten von Oliva bei Danzig, reckten ebenfalls so riesige Nadelbäume ihre dunkelgrünen Kegelgestalten hoch.
Er stand und horchte. Seine Ohren waren hier das einzige, worauf er sich verlassen konnte. Die anderen Sinne jetzt nutzlos.
Er hörte nur Unverdächtiges, kein Gleiten von Sohlen über harten Boden, kein Rascheln von Steingrus, kein Poltern abstürzender Steinchen. Er war dem Verfolger entschlüpft. Denn – daß ein Spion in der Nähe seiner Höhle gelauert hatte, erschien ihm gewiß.
Er regte sich nicht, war nur Bildsäule mit lebendigem Gehör und arbeitendem Hirn.
Der Wind kam von Osten. Und die Schlucht da rechts von ihm zog sich nach Nordost dem Meere zu. Der Rauch des Feuers, das die Unbekannten jetzt im Schutze des Nebels wieder hatten aufflammen lassen, würde seine Schritte lenken. Der Geruch würde die Stelle verraten, wo dieses Feuer brannte. –
Er streifte die Schnürschuhe ab, band die Senkel zusammen, legte die Schuhe um den Hals, daß sie ihm vor der Brust lagen.
So auf lautlosen Strümpfen, durch die er jedes Steinchen fühlte, wagte er den Abstieg in die Schlucht.
Ein Wagnis, zu dem ein trainierter Leib gehörte, Finger wie Eisenhaken, Füße wie die Greifpfoten des Affenvolkes.
Es gelang. Dreißig Meter abwärts, schätzte er. Eine halbe Stunde unerhörter Qualen! Die Hände blutig, die Haut der Fußsohlen zerfetzt, die Zehennägel eingerissen, die Muskeln gespannt durch Krämpfe nach diesen maßlosen Anforderungen an ihre Leistungsfähigkeit.
Aber – gelungen! – Er stand unten in der Schlucht, spürte den Feuerqualm deutlicher, aber nicht regelmäßig, horchte auf die Windstöße und merkte, daß der Rauch irgendwoher von oben durch den kräftigen Odem des Ozeans herabgedrückt wurde.
Schlich Schritt für Schritt, dem witternden Raubtiere gleich, an der Westwand der Schlucht entlang.
Die Rauchwellen wurden noch kräftiger.
Dann vor ihm ein Hügel von Felsblöcken, gespenstisch leuchtend, weil über und über mit dem Unrat der Seevögel bedeckt – weiße Ruinen einer Burg gleichsam, oder auch wie ein Bauwerk von Gigantenhänden, aus Übermut errichtet, ohne Sinn und Zweck.
Felsblöcke von jeder Form – Würfel, Kegel, Pyramiden, Kugeln – und alle glänzend wie gekalkt durch des Meeres geflügelte Boten, die hier ihre Lieblingssitze gehabt, dicht an dicht, bis die Menschen sie verscheuchten, um hier im verborgenen Verborgenes zu treiben.
Hier war der Qualm am stärksten, kam in Wolken von oben her – aus einem unsichtbaren Schlote. – Olden lauschte wieder. Da vor ihm mußte die Schlucht zur Meeresbucht werden, da vor ihm rollten die Wogen des Atlantik klatschend gegen die Enge der Felsenmauern.
Er lauschte, lehnte am Gestein, starrte auf den Hügel von falschem Marmor.
Dann – es mochten zehn Minuten so vergangen sein – ein gellender Schrei – aber gedämpft durch Hindernisse – wie aus den Tiefen der Erde herauf, wie forttönend durch gewundene Höhlengänge.
Olden duckte sich sprungbereit.
Lori – Lori!
Das war Weibesmund gewesen, dem der Schrei entfahren.
Ein Schuß jetzt – kurz, hell, – aber ebenfalls gedämpft – von fernher herüberklingend mit Schallwellen, die durch Grotten sich fortpflanzten.
Oldens Rechte fuhr nach hinten zur Schlüsseltasche. Der Revolver war ihm gelassen worden. Ulminski hatte dadurch wohl andeuten wollen, wie wenig er ihn fürchtete. – Seltsamer Widerspruch! – Hatten doch nachmittags all diese Banditen, als er aus dem Schwimmkörper hervorkroch, ihre Repetierpistolen in den Händen gehabt!
Olden schob die Sicherung der Waffe zurück.
Dann schon neben den hellen Felsen wie ein Gespenst eine Gestalt, auftauchend im Nebel, deutlicher werdend, bis der weiße Verband um den Kopf leuchtete: Lori – Lori!
Ein Satz ihr entgegen.
Ihr Arm schnellte hoch. Ein Feuerstrahl zuckte aus ihrer Hand auf, und Olden sank lautlos vornüber zu Boden.
Als der Dreidecker sich der Insel Klein-Foula genähert hatte, war die Funkstation dort vorsichtshalber von Ulminski angerufen worden.
Dreimal ließ er die elektrischen Wellen blitzgeschwind den Antennen auf der Tanne zueilen.
Die Antwort blieb aus. Die Station meldete sich nicht.
Börtgen stand neben dem Fürsten an dem kleinen Tische. Ulminski blickte jetzt zu ihm auf. In seinem Gesicht war Unruhe und Besorgnis zu lesen.
„Ob dort etwas vorgefallen ist, Börtgen?“ meinte er. „Morgens um sechs, als ich uns anmeldete und den Dreien Verhaltungsmaßregeln gab, hatte ich doch sofort Verbindung.“
Gunnar Börtgen zuckte die Achseln. „Was soll passiert sein, Meister?! – Die Drei mögen an Strande sein, baden, erwarten eben keinen Anruf mehr.“
Ulminski blieb mißtrauisch. Nach zehn Minuten versuchte er’s nochmals, mit der Station auf Klein-Foula in Verbindung zu treten.
Abermals nichts. Die Antwort blieb aus.
Da wurde auch Börtgen nachdenklich, da erteilte der Fürst den Seinen allerlei Befehle, so auch: ‚Sollten wir etwa beim Landen überrascht werden, sollte man uns bedrohen, so wird rücksichtslos geschossen.‘ –
Die Landung erfolgte. Nichts ereignete sich. Ulminski sah ein, daß Börtgen wohl recht gehabt haben mochte. Die drei Brüder, die hier seit Monaten hausten, waren nicht in der Höhle gewesen, hatten eben mit keinem Anruf mehr gerechnet!
So stieg der Dreidecker denn sofort wieder auf, nahm Kurs gen Liverpool.
War noch keine Stunde unterwegs, als das Lämpchen am Schaltbrett aufflammte:
„Hier auf Insel alles in Ordnung. Müssen Apparat von Baumspitze einziehen, da der Mann die Insel durchsucht.“
Ulminski nickte befriedigt. Erst jetzt war auch diese Sorge völlig von ihm genommen.
Der Riesenvogel zog weiter.
Die Prinzessin Nadja schlief. Börtgen übernahm wieder das Steuer. Ulminski, Chivarri und John Wellesley besprachen sich jetzt flüsternd. Es galt, nochmals das Programm für Liverpool genau festzulegen. Vieles war noch zu tun, um das U-Boot ‚Atlantic‘ mit den Goldbarren nie sein Ziel Neuyork erreichen zu lassen.
Der Fürst hatte alles notiert. Eine Riesenorganisation wie die Indra-Loge so zu leiten, daß alle Räder der Maschine exakt ineinander griffen, war für das Gedächtnis selbst des Meisters zu viel.
Ulminski breitete auf dem Tische eine Karte der Umgegend von Liverpool aus, deutete hierhin, dorthin, sprach angeregt, fühlte sich wieder Herr von Menschenschicksalen.
Wellesley und der Italiener stimmten allem zu.
Hinter ihnen lag Nadja im Korbsessel. Sie schien nur zu schlafen. Doch sie war wach. Die Stimme ihres Vaters wurde heller, lauter, eherner. Nadja verstand jetzt jedes Wort.
Goldbarren – U-Boot – Mersey-Werft – anderes noch umrauschte ihr Ohr.
Zehn Millionen Pfund Sterling in Goldbarren! – Also auf die war es abgesehen! Deshalb die Flucht nach Liverpool.
Nadja schauerte zusammen. Dem Hirn ihres Vaters entsprangen all diese Pläne – ihres Vaters!
Die Größe seiner Verbrechernatur ward ihr bewußt. Diese Größe schreckte sie. Sie fühlte, daß er ihr fremd wurde, daß ihre schrankenlose Kindesliebe jetzt bei seinen klaren Worten zerschellte.
Sie hatte mit geschlossenen Augen dagelegen und in süßen Erinnerungen an Heinz Römer ihre Sehnsucht ins Unendliche gesteigert. Wie ein eisiger Regen waren dann die Worte ihres Vaters auf sie herabgefallen. Der Gegensatz war zu stark gewesen. Ihr Herz erfüllt von wehmütigem Sehnen, ihr Blut durchglüht in Gedanken an die eine Liebesnacht – und dann: Gold – Gold – Raub – Verbrechen –!
Sie fror – blinzelte durch die Wimpern.
Dort das herrische Gesicht des Vaters, seine stattliche Gestalt, voll Kraft, voll Stolz. Seine Lippen gaben strafwürdige Gedanken preis, als handelte es sich um harmlose Geschäfte.
Sie drückte die Lider wieder zu. Das Gefühl der Einsamkeit kam, des Fremdseins. Sie merkte, all diese Männer hier waren wie ihre Feinde, hatten ihr den Vater geraubt.
Und – weiter dachte sie. An die Szene in der Stube des Häuschens in Johannistal zwischen Lori Battner und ihrem Vater, an die andere Szene hier in der Kabine, als Lori gerufen hatte: ‚Ich liebe ihn – Horst Olden!‘
Da war ihr klar geworden, daß Lori ihre Reinheit durch den Vater verloren hatte, durch denselben Mann, der mit der Leiche seiner ersten Gattin, ihrer Mutter, einen förmlichen Götzenkult getrieben.
Also war auch er in der Liebe unvollkommen, war ein Treuloser, ein Sklave seiner Begierden.
Nadjas Eifersucht erwachte. Sie, das einzige Kind der Fürstin Sonja, hatte ihre Mutter stets wie eine Heilige angebetet. Nie hatte sie es für möglich gehalten, daß der Vater seiner toten Gattin je untreu werden könnte! Was hatte er doch in die silberne Platte in der Brust der Toten eingravieren lassen:
‚Du wirst bis über den Tod hinaus geliebt!‘
Und nun – nun war ihm Lori zum Opfer gefallen, Lori, deren Herz dem andern gehörte.
Eifersucht, Widerwille, kalte Abneigung erfüllten ihre Seele.
Desto lauter schrie ihr junges Herz, ihr waches Blut nach dem Geliebten.
Bei Heinz Römer war jetzt ihre wahre Heimat, an seiner Brust war Frieden und Ruhe. Er war der Einzige, dem sie nahestand, war ihr Alles!
Ein flüchtiger Gedanke huschte durch ihr Hirn: Fliehen – fliehen!
Der Gedanke enteilte, kehrte klarer zurück. In Liverpool würde sich ihr eine Gelegenheit zur Flucht bieten!
Der Gedanke blieb bei ihr, ward ihr eigen, ward zum Entschluß. –
Der Riesenvogel zog weiter – in endloser Höhe über Wolkengebirge hin – gen Liverpool.
*
Am Morgen dieses selben Tages erhob sich Frau Anna Liedke leise von dem breiten, zweischläfrigen Lager in der Giebelstube des Häuschens, kleidete sich mit verträumtem Lächeln ebenso leise an, um ihren Fritz und ihren Jungen nicht zu wecken, und stieg auf weichen Pantoffeln in die Küche hinab.
Das Gas puffte auf, die Wasserleitung rauschte. Die blonde Anna wusch sich vor dem Spiegel, lächelte sich zu.
Ihr Fritz! So hatte die Liebe also doch gesiegt. Er war bei ihr geblieben, war wie ein Jungvermählter in der Hochzeitsnacht zu ihr zurückgekehrt.
Seine Küsse brannten noch auf ihren Lippen. Dort am Kinn hatte sie eine rote Stelle, von den kurzen Bartstoppeln. Mund auf Mund hatten sie geruht in einem Meer von Liebesgluten. –
Anna fühlte, daß sie in dieser Nacht abermals Mutter geworden. Wenn die Zeit erfüllt war, würde wieder ein Kindlein oben in der Wiege liegen, würde sie wieder tastende kleine Fäuste an dem prallen Rund der Mutterbrust fühlen, wieder dem kleinen Wesen Nahrung spenden dürfen. –
Das Wasser auf dem Gasherd warf den Deckel des Kessels klappernd mit seinen Dampfwolken hoch.
Frau Anna brühte Kaffee auf, deckte den Tisch für das Frühstück, lüftete die Wohnstube, blickte zum Fenster hinaus in die sonnige Landschaft.
Spatzen balgten sich im Flieder des Vorgartens. Zwei Krähen stolzierten wippend auf der Straße hin und her und suchten einen Morgenimbiß.
Flogen jetzt träge auf vor einem nahenden Auto.
Frau Annas Augen weiteten sich, die Finger krallten sich zusammen.
Die Finsternis nahte wieder, das graugelbe Auto der Loge, darin der wohlbekannte Chauffeur und Thomas Birk mit einem Riesenkoffer!
Frau Anna hörte Birks Stimme:
„Schnell – das Hoftor öffnen! – Teufel, beeilen Sie sich!“
Sie hörte es und streckte nur abwehrend die Arme aus.
Birk sprang herab, kletterte durch das andere offene Fenster ins Zimmer.
„Sind Sie närrisch! Was fehlt Ihnen?“ fauchte er die erblaßte Frau an.
Er lief in den Hof, öffnete das Tor. Das Auto kam, stand vor der Hintertür. Der Chauffeur faßte mit zu. Sie hoben den Koffer heraus – ins Haus damit. Doch Anna versperrte ihnen den Weg.
„Niemals – ich dulde es nicht!“ keuchte sie. „Fritz ist vom Meister freigegeben worden. Fritz ist nicht mehr einer der euren! Ich dulde es nicht!“
Birk wollte sie beiseite drängen. Sie stieß ihn zurück, packte die Tür, wollte sie zuschlagen.
Von der Treppe ihres Mannes Stimme:
„Anna –!“ – Zögernd, unsicher klang’s.
In Fritz Liedkes Brust stritten Liebe zum Meister und Liebe zu Weib und Kind.
Thomas Birk sagte kalt: „Willst du zum Verräter werden, Nummer Vierzehn?“
Nummer Vierzehn! Nur eine willenlose Nummer im Dienste der Indra-Loge, so hatte Liedke einst geschworen!
Das traf wie ein Hieb, dieses ‚Verräter‘, dieses ‚Nummer Vierzehn‘!
„Mach’ Platz, Anna,“ sagte er rauh.
Sie schaute ihn an. „Niemals! Niemals! Denk’ an dein Kind, denk’ an das zweite, das ich unter dem Herzen tragen werde!“
Sie zitterte. Und Fritz Liedke flog dunkle Röte über das Gesicht.
„Was soll’s mit dem Koffer, Birk?“ fragte er scheu.
„In den Keller soll er – und ich dazu, Nummer Vierzehn! Das soll’s und muß es!“
„Niemals!“ Anna schwang die Tür. Birk stemmte sich dagegen.
Liedke zog sein Weib zurück.
„Anna, – ich kann nicht anders! Der Meister war unser Wohltäter. Ihm gehört dies Häuschen, Anna. Er hat die Möbel gekauft. Dann – heiratete ich dich. Anna – ich muß gehorchen.“
Sie weinte auf, schwankte in die Küche, sank auf den harten Holzstuhl, schlug die Hände vor das Gesicht.
Alles wieder vorbei – alles wieder wie früher. Heimliche Angst, daß eines Tages Fritz verhaftet werden könnte, der sich doch nie an den Diebstählen beteiligt, sondern stets nur den Dreidecker gelenkt hatte. Das war seine ganze Aufgabe gewesen! Gewiß – da unten im Keller noch die unsichtbare Tür und dahinter der dunkle, als Wohngemach eingerichtete Raum! Aber er war noch nie benutzt worden – nie!
Und – deswegen – deswegen all diese schrecklichen, schlaflosen Nächte, diese bebende Furcht, das doch einmal alles aufgedeckt werden könnte.
Sie weinte – weinte.
Dann kam ihr Mann, strich ihr über das Blondhaar. „Anna, ich konnte wirklich nicht anders,“ flüsterte er.
Sie nickte schwach. Sie sah das ja ein. Sie hatte den Meister nur zweimal gesprochen. Aber auch sie war halb und halb seine Sklavin geworden.
„Niemand wird Birk hier suchen, Anna. Das Auto ist schon wieder davongefahren. Birk bleibt nur ein paar Tage. Er mußte fliehen –“.
Den Koffer erwähnte er nicht.
Aber Frau Anna tat’s. „Und – und was war in dem Koffer, Fritz?“
Der zauderte. „Papiere, Anna –“.
Sie blickte auf. „Du lügst, Fritz!“
Er schritt zum Fenster.
„Wir wollen Kaffee trinken, Anna. Ich muß in die Fabrik, komme sowieso zu spät – “.
Die Angst trieb sie hoch. Sie trat hinter ihn, umfaßte ihn.
„Fritz, was enthält der Koffer?“
„Frag’ nicht!“
„Mein Gott – etwa – etwa eine – Leiche?“
„Nein, nein!“ Er drehte sich um. „Ich lüge nicht, Anna – keine Leiche!“
„Da – dann – dann einen Gefangenen! Wen – wen?“
„Anna, quäl’ mich nicht, ich muß schweigen.“
Sie ging zum Tisch.
„Unser Glück wird bald zu Ende sein,“ murmelte sie. „Ich fühl’s – ich ahne es!“
Wortlos saßen sie sich gegenüber. Dann küßte Liedke sein Weib zum Abschied und verließ das kleine Haus. –
Eine Stunde später.
Frau Anna hörte vorn die Glocke schrillen, schrak zusammen, putzte noch schnell ihrem Bübchen das Näschen und ging öffnen – wie eine müde, alte Frau. Ihr war jetzt alles gleichgültig – alles!
Draußen standen ein eleganter Herr und eine noch elegantere Dame.
Die Dame nannte ihren Namen: Erna Maletta – lächelte freundlich. „Vielleicht haben Sie mich schon einmal im Film gesehen, Frau Liedke –“.
„Ja – ja! – Womit kann ich dienen? Wollen Sie nicht näher treten?“ – Die Furcht schwand. Nur die berühmte Filmschauspielerin und vielleicht deren Verehrer! Nicht die Polizei! –
Erna Maletta schaute sich im Zimmer um.
„Ah – wie sauber hier alles ist, Frau Liedke! Und doch hatten Sie in der vergangenen Nacht Gäste, wie mir Kriminalkommissar Halpern erzählte –“.
Frau Anna packte ein Schwindel. Ganz verstört blickte sie zu Boden. –
Erna Maletta lächelte nicht mehr.
„Ich möchte Sie verschiedenes fragen, Frau Liedke. Kannten Sie die Leute, die nachts hier bei Ihnen waren?“
Anna schüttelte nur den Kopf. Sprechen konnte sie nicht. Aufzublicken wagte sie nicht.
„Sie lügen! Ihr Mann ist Mitglied der Indra-Loge!“
Der Schlag traf. Die Frau schwankte auf ihrem Stuhl haltlos hin und her. Wäre umgesunken, wenn Erna Maletta sie nicht rasch gestützt hätte.
Sie weinte, an die Filmdiva gelehnt. Ihr Leib bebte.
Dann – glitt sie plötzlich in die Knie, umklammerte die andere, schrie jammernd: „Erbarmen – haben Sie Erbarmen mit uns!“
Selbst die Maletta erblaßte jetzt. Das Mitleid kam.
„Sagen Sie die Wahrheit, Frau Liedke. Wir, mein Verlobter und ich, sind ja keine Polizeibeamten –“.
Sie hob die Frau auf, rückte einen Stuhl näher, nahm Frau Annas Hände.
„Reden Sie – erleichtern Sie Ihr Herz. Sie können keine Verbrecherin sein –“.
„Oh – ich bin’s nicht – bei Gott – ich bin’s nicht!“
Neue Tränen.
Dann ein Geständnis – hastig, mit zuckenden Lippen – alles, was sie wußte. – Es war ja so wenig! – Neues Flehen um Gnade – jammervolle Worte, die Udo ebenfalls erschütterten.
Erna Maletta waren die Augen feucht geworden.
Eine Lebenstragödie –! Und wieder der Fürst der Schuldige! Dieser Mann war unheimlich als Sklavenhalter der Seelen!
„Beruhigen Sie sich doch! Beruhigen Sie sich doch!“ Ernas Stimme streichelte. „Wir werden Sie und Ihren Mann nicht verraten. Das versprechen wir Ihnen. – Also der Gärtner Birk kam mit einem Koffer?“
„Ja. Ich wollte ihn wegschicken. Fritz wollte es ja auch. Aber –“.
„Schon gut. – Und Birk ist jetzt mit dem Koffer im Keller?“
„Ja. In dem Raum mit der Tür, die keiner finden kann –“.
„Führen Sie uns hinab!“
Anna zögerte.
„Nochmals, Wir verraten Sie nicht!“ erklärte die Filmdiva eindringlich. „Aber – der Koffer enthielt den Vater meines Verlobten, Frau Liedke. Wenn nötig, mag auch Birk entfliehen – Ihretwegen, liebe Frau! Ihres Kindes wegen!“
„Ja – und – dieser Nacht wegen – des zweiten Kindes wegen!“ schluchzte das arme Weib und wollte Ernas Hand an die Lippen ziehen.
„Kommen Sie!“ Erna stand auf.
Sie gingen leise die Kellertreppe hinab. Eine Petroleumlaterne warf gedämpften Schein auf gestapelte Preßkohlen.
Dicht daneben in der ungeputzten Mauer ein harmloser Eisenhaken. Ein Beutel mit Zwiebeln hing daran.
Frau Anna faßte zu, drückte, zog. Und die Geheimtür ging auf.
Da brannte eine Lampe auf einem Tisch. Da saßen zwei Männer.
Birk fuhr empor.
Udo von Brucksal zielte: „Arme hoch, Birk!“
Die Maletta hatte ebenfalls den kleinen Damenrevolver gespannt.
Birk lachte: „Das Spiel scheint aus zu sein!“
Er tat, als wollte er gehorchen und die Arme heben, stieß die Lampe um, sprang zurück.
Ein Knall – der dumpfe Krach seines Leibes auf die Steinfliesen. Thomas Birk hatte sich selbst gerichtet! –
Graf Brucksal stierte blöde seinen Sohn an.
„Papa, erkennst du mich nicht?“ rief Udo. „Papa – ich – ich bin –“.
Er schwieg. Der leere Ausdruck dieses Greisengesichts entsetzte ihn.
Er nahm den Vater, führte ihn nach oben.
Anna und die Filmdiva, beide leichenblaß, sich gegenseitig stützend, folgten. –
Hier oben war Sonne, Licht, Klarheit.
Der Greis stand und lächelte kindisch. „Ich – ich – bin müde – müde. Ich – ich bin kein Graf! Wer ich bin – ich – ich weiß es nicht –“.
Erna hing an Udos Arm.
„Genau wie Jane Wellesley!“ hauchte sie.
Frau Anna hatte vor Grauen den Kopf in die Sofaecke gewühlt.
Udo schaute die Geliebte an. „Erna – die Strafe!“ sagte er. „Die Strafe für die Vergangenheit!“
Dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Und der Greis lächelte wie ein Kind. –
Zwei Stunden später wurde Kommissar Halpern von Erna Maletta telephonisch angerufen.
„Ja – hier Erna Maletta. Denken Sie, Herr Halpern, Udos Vater hat sich soeben eingefunden. Ich war gerade unten bei meinem Verlobten, als es läutete. Es war Graf Oskar von Brucksal. Wir haben bereits nach einem Arzt geschickt. Der alte Herr scheint schwer krank zu sein. Sein Gedächtnis versagt vollkommen –“.
„Nicht möglich – – ganz von selbst eingefunden?“
„Ja – ja, so ist’s! – Entschuldigen Sie – ich muß an das Krankenbett zurück –“. –
Halpern begab sich sofort nach Gudrunstraße 20. Aber von dem Greise war nichts zu erfahren – nichts. Der Arzt erklärte: ‚Geistige Umnachtung!‘
Ein paar Tage später wurde der Graf Oskar von Brucksal in eine Privatheilanstalt für Gemütskranke gebracht, wo er nur noch wenige Monate als lebender Leichnam dahin dämmerte. –
Thomas Birks Leiche aber begrub Fritz Liedke nachts in dem Wäldchen hinter dem Hause. – Als Bruder Schmidt dann eines Tages nach Birk fragen kam, verhehlte Frau Anna ihm nichts. Schmidt drückte ihr die Hand und ging seiner Wege. Seitdem hat Fritz Liedke von den Brüdern der Indra-Loge nur durch die Zeitungen etwas erfahren. Was er so erfuhr, war jenes Drama, dem die Presse aller Länder ganze Spalten widmete: Das Drama von Tamira! –
Am Tage nach dem unbekannt gebliebenen Ende Tom Birks erhielt Kriminalkommissar Halpern zu seinem Erstaunen ein kleines eingeschriebenes, in Berlin zur Post gegebenes Paket: die fünfzig Diamanten des Fürsten Kasimir Jussugoff!
Dabei lag ein Zettel, auf dem in einzelnen aus einer Zeitung ausgeschnittenen und aufgeklebten Worten folgendes zu lesen war:
‚Lassen Sie sich die Edelsteine nicht wieder rauben, wie dies dem kleinen Brex passierte.‘
Als Halpern das Papier dann auf Fingerabdrücke untersuchen ließ, wurden solche auch gefunden: offenbar die einer zarten Damenhand!
Die Ermittlungen, wer diese Frau sein könnte, blieben ergebnislos.
Erna Maletta und Udo hätten hierüber genaue Auskunft geben können, denn ihnen hatte Fritz Liedke das Säckchen mit den Edelsteinen ausgehändigt, das er in Tom Birks Jackentasche durch einen Zufall entdeckt hatte.
Kehren wir nach Klein-Foula zurück. Sehen wir zu, was Lori Battner erlebt hatte, bevor sie in Verkennung der Sachlage Horst Olden niederschoß. –
Lori erwachte. Die frische, kühle Seeluft hatte die Wirkung des Schlafmittels beseitigt.
Sie erwachte, richtete sich auf, glaubte zu träumen.
Ringsum grüne Sträucher mit roten Beeren, vom Winde hin und her bewegt, leicht rauschend – rauschend wie das nahe Meer.
Loris Hand glitt zur Stirn.
Ein stechender Schmerz in der Wunde machte sie völlig munter. Die Erinnerung kam mit zahllosen Bildern: die Stube in dem Häuschen, der gefesselte Olden, der Dreidecker, die Kabine, die Todesangst um den im Schwimmkörper verborgenen Geliebten, die leidenschaftliche Szene mit Ulminski. Und dann Doktor Grupp, der ihr das Glas Wein an den Mund hielt – dann die bleierne Müdigkeit.
Und jetzt – jetzt an Land, zwischen Büschen.
Dort drüben Brandungsgeräusch; Nebel in der Luft, Salzgeruch des Meeres. –
Wo befand sie sich? War sie allein? –
Sie wollte sich erheben, war noch zu schwach.
Durch eine Lücke in den Büschen konnte sie einen Teil des Tales überblicken.
Zwei Männer sah sie heran kommen – schleichen.
Männer in Touristenanzügen, mit Sportmützen, mit bartlosen Gesichtern, in denen die Muskeln wie Wulste hervortraten, mit breiten, brutalen Kiefern.
Fliehen – fliehen! Das waren Fremde, das waren keine Leute des Fürsten!
Fliehen?! Wohin?!
In bebender Furcht dachte Lori an Olden. Er würde sie suchen – überall, auch hier! Er sollte wissen, daß sie hier gewesen.
Und sie riß einen Knopf von der Bluse, warf ihn durch die Lücke der Büsche. Klappernd fiel er auf den Deckel der großen Blechbüchse, deren eingebogener Rand ihn festhielt.
Lori riß einen zweiten ab, schob ihn unter ein Steinchen.
Dann standen die beiden Fremden schon vor ihr. Kühle, scharfe Augen musterten sie.
„Wer sind Sie, Miß?“ fragte der größere auf englisch.
Lori antwortete deutsch: „Ein Weib, dem Sie Ihren Schutz nicht versagen werden.“ – Sie fürchtete sich nicht mehr. Die beiden Männer hatten sogar höflich die Mützen gezogen. Es war die Eingebung eines Augenblicks, daß Lori die Kenntnis des Englischen durch die deutsch gegebene Antwort ableugnete.
„Sie sprechen das Englische nicht, Miß?“ fragte der Lange wieder, jetzt ebenfalls in deutscher Sprache, die er offenbar nur unvollkommen beherrschte.
„Nein. Ich bin nur ein einfaches Mädchen, meine Herren,“ erklärte sie ruhig.
„Sie sind verwundet?“
„Ja –“.
„Wo? Durch wen?“
„Das ist eine lange Geschichte. In Berlin war’s. Man schlug mich nieder – im Dunkeln. Wer – das weiß ich nicht –“.
„Es war vorhin ein Dreidecker hier. Sie, Miß, und ein Mann wurden ausgesetzt. Dann flog der Dreidecker wieder davon. Der Mann war gefesselt, aber wohl nur zum Schein. Wir beobachteten ihn. Er streifte die Stricke ab und will jetzt den höchsten Berg der Insel erklimmen.“
‚Ein Mann – gefesselt! – Olden – Horst Olden!‘ jubelte Loris Herz.
„Der Mann sah wie ein Strolch aus?“ fragte sie atemlos.
„Ja – dem Anzuge nach, Miß. Sie kennen ihn also?“
Irgend etwas mahnte Lori zur Vorsicht.
„Von Ansehen ja –“.
„Sonst nicht? Gehört er zu den Leuten des Flugzeuges?“
„Das weiß ich nicht.“
Die Beiden flüsterten – doch nicht leise genug, sprachen englisch.
„Wir nehmen sie am besten mit, Robbin,“ meinte der Lange.
„Natürlich! Man muß sie erst genau ausfragen. Sie lügt, Bricolm, glaube mir! Sie kennt den abgerissenen Kerl genau. Ihr Gesicht verriet das.“
„Stimmt, Robbin. Ihr Gesicht sagte ‚Ja‘, und ihr Mund ‚Nein‘. Sie log.“
Dann wandte der Lange sich wieder an Lori. „Miß, Sie werden uns begleiten –“.
„Wohin?“
„Das werden Sie sehen. Fürchten Sie nichts. Wir sind Gentlemen.“
„Und wenn ich mich weigere?“ – Sie dachte nur an Olden. Vielleicht kehrte er bald zurück. Sie wollte Zeit gewinnen.
„Dann müssen wir Sie führen, Miß. Wozu aber es darauf ankommen lassen?! Falls Sie uns nachher offen auf alles Antwort geben, wird Ihnen nichts geschehen. Hoffen Sie etwa auf Hilfe durch den Mann, den Sie angeblich nicht genau kennen?! Er ist bereits weit fort.“
Lori stand auf. Sie hielt es für ratsam, es mit diesen Leuten nicht zu verderben.
Der Lange half ihr, stützte sie. Der Kleinere, Robbin, ging voran.
Es war ein mühseliger Marsch. Lori atmete keuchend. Oft drohte sie vor Schwäche umzusinken.
Dann zog der Lange ein sauberes großes Taschentuch hervor.
„Miß, wir müssen Ihnen die Augen verbinden,“ meinte er mit kühler Höflichkeit.
Lori warf rasch einen Blick in die Runde. Man befand sich hier in einer Schlucht. Da vorn war ein mächtiger Haufen seltsamer weißer Felsen.
„Wenn es sein muß!“ sagte Lori ergeben.
Bricolm faltete das Tuch zusammen und knotete es ihr lose über die Augen. Dann nahm er wieder ihren Arm und führte sie weiter.
Wieder nur eine Eingebung des Augenblicks: Lori zählte die Schritte! Sie ahnte, daß sie irgendwohin in ein Versteck gebracht werden sollte.
Noch dreißig Schritt geradeaus. Dann bog ihr Führer nach links ab, dann wieder zehn Schritt, dann sagte er: „Bücken Sie sich, Miß –“.
Er schob sie weiter. Kühlere Luft wehte Lori entgegen. Die Schritte hallten wie in einer Kirche, wie in einem Gewölbe. Es mußte eine Höhle sein, eine Grotte.
Wieder achtzig Schritt. Dann nahm der Lange ihr das Tuch ab.
Lori stand in der Ausbuchtung einer Höhle. Dieser Winkel war ganz wohnlich eingerichtet, ein Tisch, drei Stühle, drei Betten, ein großer Schrank, ein eiserner Kochherd mit hohem Blechrohr, rechts an der Wand ein zweiter Tisch mit Apparaten, mit Drähten, die von oben her herabliefen. –
Der Lange schob Lori einen Stuhl hin. Sie setzte sich. Die auf dem Tische stehende Karbidlampe brannte mit großer, weißer Flamme unter leisem Zischen.
Bricolm setzte sich Lori gegenüber. Robbin reichte ihr einen Aluminiumbecher.
„Es ist Wein, Miß. Sie sehen sehr elend aus. Trinken Sie nur.“
Sie dankte. „Geben Sie mir Wasser,“ bat sie.
„Wir haben nur kalten Tee,“ meinte Robbin gleichmütig. Auch er sprach nur recht mäßiges Deutsch.
Lori trank Tee. Bricolm steckte sich eine kurze Pfeife an. Dann begann das Verhör. Er leitete es durch die nochmalige Versicherung ein, daß er und seine Gefährten Gentlemen seien. Lori sollte jedoch nicht mit Lügen umgehen. „Wir sind Leute, Miß, die die Wahrheit doch herausbekommen – stets! Richten Sie sich danach.“
Loris Kopf schmerzte. Aber der Tee hatte sie doch etwas erfrischt.
„Fragen Sie,“ meinte sie gelassen.
„Nein, erzählen Sie, Miß – alles, was mit Ihrer Verwundung und dem Dreidecker zusammenhängt.“
„Dazu bin ich zu schwach,“ erklärte sie nach kurzem Überlegen.
„Das heißt, Sie wollen nicht sprechen!“ sagte der Lange drohend.
„Fragen Sie!“ bat Lori, und ungewisse Angst beschlich sie abermals.
Robbin, der sich an den Schrank gelehnt hatte, rief Bricolm auf englisch zu: „Mache sie doch nicht scheu! Warte lieber, bis der Lord kommt.“
„Da ist er schon!“ Und der Lange stand respektvoll auf.
Ein hagerer jüngerer Mann mit blauem Jachtanzug trat in den Lichtschein der Lampe, verbeugte sich nachlässig vor Lori, indem er die Hand an die weiße Seglermütze legte, und wandte sich an den Langen: „Nun, Bricolm? Wie steht’s?“
„Mylord, das Mädchen spricht nur Deutsch. Sie kann kein Wort englisch. Jedenfalls wird die Geschichte immer geheimnisvoller.“
„So?!“
„Das Mädchen lügt, Mylord. Wenn Eure Lordschaft sie vielleicht ausfragen wollten?“
Lori spielte die Teilnahmslose, obwohl ihr nichts von dieser Unterredung entging.
Der Lord hatte ein tief gebräuntes, schmales Gesicht, trug einen ganz kurz gestutzten Schnurrbart und war alles in allem eine recht sympathische Erscheinung.
Er nahm jetzt auf Bricolms Stuhl Platz und fixierte Lori scharf. Sie hielt dem Blicke stand und sagte dann auf deutsch: „Mein Herr, ich bitte Sie, auf meine Verwundung Rücksicht zu nehmen. Ich fühle mich sehr schlecht.“
„Jede Rücksicht, Miß, die den Umständen nach möglich ist. Diese Umstände sind seltsam genug und würden auch die Anwendung schärferer Mittel, um von Ihnen die Wahrheit zu erfahren, rechtfertigen.“
„Auch die Unhöflichkeit, mir nicht mitzuteilen, mit wem ich es hier zu tun habe?!“ meinte Lori mit so viel natürlicher Würde, daß der Lord sich erhob, die Mütze abnahm und sich vorstellte:
„Lord Ernest Ruthergleen. – Dort Mister Robbin, Mr. Bricolm.“
Also wirklich ein Lord! – Loris Sicherheitsgefühl wuchs, aber in demselben Maße auch die Klarheit ihres Denkens. Und aus dieser Klarheit entsprang der Wunsch, es völlig Horst Olden zu überlassen, was diese Herren hier über ihre Schicksale wissen sollten und was nicht. Daher erklärte sie nun:
„Mylord, ich vermag Ihnen über den Dreidecker so gut wie nichts anzugeben. Ich bin eine Waise aus Berlin namens Lori Battner, wurde dort vorgestern in ein Haus gelockt und flüchtete in den Keller, als ich merkte, daß man Böses mit mir vorhatte. Auf der Kellertreppe schlug mich jemand nieder. Dann kam ich erst in der Kabine des Dreideckers wieder zu mir, wo außer mir noch mehrere Männer und ein junges Mädchen saßen, ferner jener Mann, der nun hier ebenfalls ausgesetzt worden ist.“
Lord Ruthergleen lächelte zweifelnd: „Sie sind sehr schlau, Miß.“ Dann zu dem langen Bricolm: „Sie verstehen mehr davon. Fragen Sie!“
„Wie Mylord befehlen. – Miß Battner, nun drei Fragen, die leicht zu beantworten sind,“ wandte er sich an Lori.
Sie fürchtete diesen Mann. In seinem Gesicht entdeckte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Oldens. Diese Ähnlichkeit lag mehr im Ausdruck, in den Anzeichen für eine ungeheure Energie, und in dem Blick der Augen, der die kühle Klarheit und Tiefe eines Menschenkenners besaß.
„Die erste Frage, Miß. Wer lockte Sie in jenes Haus? – Ich möchte bemerken, daß eine junge Dame doch nicht von irgend einer fremden Person sich verschleppen lassen wird.“
Der letzte Satz war wie eine Warnung: ‚Lüge nicht!‘
Lori verfügte nicht über genügend Erfindungsgabe, sofort eine zweckmäßige Erwiderung bereit zu haben. Sie brauchte mehr als eine halbe Minute, bis sie dann entgegnete:
„Ein Herr wollte mich als Gesellschafterin für seine Tochter engagieren. So kam es, daß ich jene Villa betrat.“
Bricolm zuckte leicht die Achseln. Er glaubte ihr nicht.
„Weshalb nennen Sie nicht auch sofort den Namen des Herrn, Miß Battner?“ meinte er. „Sie machen mir meine Aufgabe sehr schwer. Ich betone, Miß, es handelt sich hier um verdammt ernste Dinge – für uns, die wir die Wahrheit ergründen wollen!“
„Der Herr war ein russischer Fürst namens Sergius Ulminski,“ erklärte Lori rasch.
„Dann die zweite Frage, Miß. Befand dieser Fürst sich mit seiner Tochter auch in dem Dreidecker?“
„Ja.“
Bricolm schien zu überlegen. Dann: „Die dritte Frage, Miß. Der Dreidecker hatte Funksprucheinrichtung. Wurde diese Einrichtung während der Fahrt benutzt?“
„Ja.“
Bricolm nickte befriedigt. Auf englisch sagte er nun zu Lord Ruthergleen: „Dann unterliegt es keinem Zweifel, daß die drei Leute, die sich hier so verzweifelt zur Wehr setzten, zu den Insassen des Dreideckers in Beziehung standen, Mylord. Im übrigen traue ich dem Mädchen nicht. Sie verheimlicht all zu viel. In ihre Lage würde jede andere Frau aus einem jedem Weibe eigenen Mitteilungsbedürfnis heraus uns lange Geschichten mit reichlich Einzelheiten erzählt haben, und das wäre dann die Wahrheit gewesen. Diese beschränkt sich auf ganz kurze Antworten, um nicht zu viel zu sagen, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln. Ich glaube, ich habe sie durchschaut. Sie gehört mit zu den Leuten, die hier die geheime Funkspruchstation unterhielten. Morgens, als wir hier bereits Herren der Lage waren, wurde die Station dreimal angerufen. Da wir die Chiffrezeichen nicht deuten konnten, meldeten wir uns nicht. Das mag den Insassen des Fahrzeuges verdächtig vorgekommen sein. Um festzustellen, was hier vorgefallen, landeten sie für kurze Zeit und setzten den Mann und das Mädchen als Spione ab. Die Leute hielten ihre Pistolen schußbereit. Sie waren also mißtrauisch. Den Mann fesselten sie zum Schein, damit der Eindruck hervorgerufen werden sollte, die beiden Spione seien Feinde der Dreideckerinsassen. Kurz – die Beiden gehören mit zu den Leuten, Mylord, und wir tun gut, dieses Mädchen nicht freizugeben und den Mann noch eine Weile zu beobachten.“
„Bricolm, Sie werden recht haben!“ meinte der Lord. „Ich sehe auch ein, daß ein weiteres Verhör des Mädchens nutzlos ist. Es ist eine sehr schlaue Person. Ihre Schönheit und Verderbtheit dürften sich die Waage halten.“
Hastige Schritte erklangen.
Ein vierter Mann, offenbar ein Seemann von Beruf, mit grauem Vollbart und einer knolligen Trinkernase näherte sich.
„Alles erledigt, Mylord,“ meldete er, ebenfalls in fließendem Englisch. „Die Tanne ist ein harmloser Baum geworden. Die Drähte, Stangen und Isolatoren habe ich vorn in der Höhle versteckt.“
„Gut, Jonny. Nun kehre zur Yacht zurück. Laß dich aber nicht sehen. – Was treibt der Mann?“
„Er hat den Berg wieder verlassen und scheint die Insel zu durchsuchen, Mylord. – Ich soll also auf der Yacht bleiben?“
„Ja. Wenn sie auch in dem engen Kanal gut versteckt liegt, kann doch ein Zufall den Mann dorthin führen. In diesem Falle, Jonny, rufe ihn an und sieh zu, daß du ihn fängst. Wir müssen ihn lebendig haben. Bricolm meint, er gehört mit zu den Dreidecker-Leuten, ist nichts als ein Spion. Benimm dich geschickt, Jonny, sonst brennt auch dieser Kerl sich eine Kugel vor die Schläfe. Aus Toten läßt sich kein Geständnis heraus pressen.“
„Sehr wohl, Mylord. Auf Jonny ist Verlaß. Wo diese Faust trifft, biegt sich der dickste Schädel. Ich werde, wenn’s nottut, dem Mann einen Klaps vor die Stirn geben, bevor er noch nach dem Revolver greifen kann.“
Er machte einen altmodischen Kratzfuß vor dem Lord und schritt wieder in das Dunkel der Grotte zurück.
Lori hatte alles verstanden – jedes Wort. Sie hatte gleichmütig vor sich hin geschaut, und doch waren ihre Gedanken so rege wie noch nie.
Wer waren diese Männer? Was taten sie hier? Sie waren offenbar auf einer Yacht hierher gelang. Es schien früh morgens zwischen ihnen und drei Leuten Ulminskis, die hier gehaust hatten, zum Kampf gekommen zu sein, und dabei schienen die Drei sich erschossen zu haben, vielleicht in der Erkenntnis, einer Gefangennahme nicht mehr entgehen zu können.
Und jetzt – jetzt hatte der Lord es auf Olden abgesehen! Denn daß der vornehme Herr ein Lord war, daran zweifelte Lori nicht mehr. Sein ganzes Auftreten, die Unterwürfigkeit der drei anderen bewiesen, daß er ein Mitglied des englischen Hochadels sein mußte. –
Lori wartete. Lord Ruthergleen beobachtete sie. Sie fühlte seinen Blick.
Dann sagte er auch schon: „Wenn Sie, Miß, den Mann nicht weiter kennen, der hier auf Klein-Foula mit Ihnen zusammen ausgesetzt wurde, dann haben Sie auch kein Interesse daran, mit ihm zusammen zu kommen. Sie werden unser Gast sein, Miß. Dort drüben befindet sich eine durch Bretter abgeteilte Proviantkammer, die fast leer ist. Wir werden diese Kammer für Sie sofort herrichten. Sie bedürfen der Ruhe. Wenn Sie gestatten, wird Master Robbin einmal nach Ihrer Verletzung sehen und den Verband erneuern.“
Bricolm nahm die qualmende Pfeife aus dem Munde. „Ja, Mylord, das wollte ich ebenfalls raten. Oft bedeckt ein Verband einen gesunden Kopf, zumal bei einer Spionin, die uns Märchen erzählen und Mitleid erwecken soll.“ Er hatte wieder englisch gesprochen. –
Nach kurzer Zeit schon kam Robbin und meldete dem Lord, der schweigend bei Lori sitzen geblieben war, daß die Kammer in Ordnung sei.
Lori erhob sich. „Ich danke Ihnen für Ihre Fürsorge, Mylord,“ sagte sie schlicht. Dann folgte sie Robbin nach der anderen Höhlenseite, wo vor einer Spalte eine Holzwand gezogen war. Die Brettertür hatte außen nur einen Hakenverschluß. Eine Karbidlampe brannte auf einem Holzstuhl. Daneben war eins der Betten aufgestellt. –
Als Robbin und Bricolm zu Lord Ruthergleen zurückkehrten, meinte der lange Bricolm sinnend: „Sie ist wirklich verwundet, Mylord. Sie muß einen bösen Hieb abbekommen haben. Die Wunde ist genäht worden. – Ehrlich gesagt, die Sache ist mir jetzt rätselhaft. Hätte das Mädchen den Verband zwecklos getragen, so wäre das eine Bestätigung meiner Vermutungen über ihre und des Mannes Mission gewesen. So aber?!“
Und er setzte sich grübelnd auf einen Stuhl und stopfte sehr bedächtig seine Pfeife. –
Lori hatte sich auf das Bett gelegt und sofort eingeschlafen. Als sie erwachte, zeigte ihre silberne Armbanduhr die achte Stunde. Also Abend war’s geworden, und – sie war allein mit ihren Gedanken, die sofort wieder über sie herfielen, die ihr Horst Olden zeigten, wie er die Blusenknöpfe finden und dann nach ihr suchen würde.
Sie erhob sich ganz leise, schlich zur Brettertür, spähte durch die breiten Ritzen, sah drüben in der Ausbuchtung der Grottenwand den Lord schlafend auf dem Bett liegen und Bricolm am Tische sitzen und Zeitung lesen.
Mehr noch sah sie, daß man von außen gegen die Tür zwei dicke Latten als Verschluß gelehnt hatte! – Sie war also wirklich eine Gefangene.
Aber – sie wollte frei sein, sie wollte Olden aufsuchen, wollte ihm alles mitteilen.
Fliehen – fliehen! Aber wie?!
Sie nahm die Karbidlampe und leuchtete umher. Die Felsspalte verengte sich nach hinten. Lori drängte sich hinein. Sie hoffte, die Spalte würde nach oben einen Ausgang haben. Sehr bald erkannte sie, daß dieser Weg nicht in die Freiheit führte. Sie kehrte nach der Tür zurück. Doch über der Tür – und ihr Herz begann zu jagen! – war die Bretterwand den unregelmäßigen Felsen schlecht angepaßt worden. Dort gab es eine Öffnung, durch die ein schlanker Leib sich wohl hindurchzwängen konnte.
Lori dachte an ihre Flucht aus der Wohnung der Rechnungsrätin Prutz – diese waghalsige Flucht zum Fenster hinaus in die Brucksalsche Etage! Im Vergleich zu dem Wagnis war dies hier ein Nichts!
Kaltblütig, vorsichtig, lautlos stellte sie den Stuhl an die Tür, kletterte auf die Stuhllehne, zog sich zu der Öffnung empor.
Die Wunde begann infolge der Anstrengungen und des erhöhten Blutzudrangs zu brennen. Lori beachtete die Schmerzen nicht, biß die Zähne zusammen und schob sich zwischen Gestein und Bretterwand weiter und weiter, hing mit dem Kopf nach unten, stützte sich mit den Händen auf ein Querbrett der Wand, verlor plötzlich den Halt, fiel herab. Ihr Rock zerriß mit kreischendem Schnarren, milderte aber den Sturz.
Im Nu war sie wieder auf den Füßen.
Auch Bricolm war aufgesprungen, starrte in das Dunkel hinein.
Lori zitterte. Er hatte etwas gehört, hatte Verdacht geschöpft, griff nach der Lampe.
Lori schlich an der Felswand entlang dem Ausgang zu, duckte sich hinter Steinbrocken zusammen, huschte weiter – entrann dem Lichtschein, tastete sich vorwärts, vernahm Bricolms Alarmruf.
„Entflohen! Ihr nach!“
Lori stürmte blindlings dahin, stolperte, raffte sich wieder auf, stieß mit den vorgestreckten Händen gegen rauhes Holz, ahnte, daß es die Tür ins Freie war, fühlte nach dem Verschluß mit bebenden Fingern, hörte hastende Schritte hinter sich, dann Bricolms Stimme:
„Halt – oder ich schieße!“
Da hatte sie den eisernen Riegel gefunden, riß ihn zurück, riß die schmale, schwere Tür auf.
Bricolm war dicht hinter ihr, packte zu. Der harte Griff um ihren linken Arm entlockte Lori einen gellenden Schrei.
Bricolm hatte sie zurück gezerrt. Sie fiel nach hinten, fiel und schlug verzweifelt um sich, traf den Revolver in Bricolms Hand, der sich sofort entlud.
Fühlte sich frei, sah den Engländer umsinken, griff nach der seinen Fingern entglittenen Waffe; raste vorwärts – durch die Türöffnung – durch Nebel und Felskolosse, bog nach rechts ab.
Und – vor ihr ein Mann.
Es konnte nur Robbin sein! Robbin war nicht in der Höhle gewesen.
Der Mann sprang auf sie zu.
Sie schoß – schoß.
Der Mann taumelte, sank.
Aber schnellte wieder hoch.
„Lori!“
Da hielt er sie schon in den Armen, hob sie empor – und die grauen Nebelgebilde fielen hinter ihnen wieder zusammen. –
Als Lord Ruthergleen und Bricolm, dem die Kugel die Stirn gestreift hatte, hier draußen erschienen und das Licht der Karbidlampe gespenstisch durch den Nebel leuchtete, fanden sie nur vor dem weißen Felsen auf dem Boden eine goldene Uhr, die offenbar von der Kette irgendwie losgerissen und deren Sprungdeckel von einer Kugel halb durchbohrt war. Das abgeplattete Bleigeschoß steckte noch in dem Deckel. –
Bricolm sah sich die Uhr genauer an. Auf dem Innendeckel war noch eine Gravierung zu entziffern:
In Dankbarkeit dem Manne, der mir die Ehre rettete, seinem Freunde Horst Olden!
Kommerzienrat Doktor Hans Schäffer,
Danzig, den 11. Oktober 1919
Bricolm zeigte dem Lord diese Widmung.
„Mylord, die Sache wird immer rätselhafter!“ meinte er. „Dieser Horst Olden ist nämlich ein Kollege von mir. Habe schon viel von ihm gehört.“
„Also auch Detektiv –“.
„Jawohl, Mylord – einer der besten Deutschlands. – Mylord, als wir die Uhr fanden, war die Bleikugel im Deckel noch warm. Also hatte die Miß auf einen Mann gefeuert, der diese Uhr bei sich trug, die ihm das Leben rettete und ihm dann aus der Tasche fiel. Dieser Mann kann nur der zerlumpte Kerl sein. Vielleicht – vielleicht ist es gar Kollege Olden!“
Lord Ruthergleen sprang empor.
„Bricolm – dann, dann müssen wir uns sofort mit ihm in Verbindung setzen! Olden wird mehr über die Dreidecker-Leute wissen als wir!“
„Fraglos, Mylord! Ich habe mich da fein geirrt! Die Leute haben Olden hier zurückgelassen, um ihn loszuwerden. Er war ja in dem Schwimmkörper verborgen. Die Geschichte klärt sich. Gehen wir – suchen wir ihn! Ich werde seinen Namen in den Nebel hinausbrüllen! – Mylord, jetzt nehme ich die Schramme an der Stirn gern hin! Ich merke, wir sind hier großen Geheimnissen auf der Spur!“
Das Lichtermeer des Hafens von Liverpool leuchtete mit großen und kleinen gleißenden Pünktchen durch die klare Sommernacht.
Brex lag im Fenster der Kabine des Polizeizweideckers und genoß das grandiose Bild mit der stillen Freude des Naturschwärmers. –
Man hatte unterwegs über Holland eine Panne gehabt. Beim Landen war auf der sumpfigen Wiese eines der Laufräder abgebrochen. Die Reparaturen hatten viele Stunden in Anspruch genommen. Als man wieder aufstieg, war es Spätnachmittag geworden.
Fink war sehr ungeduldig gewesen, aber der kleine Brex hatte ihn getröstet: „Besser, wir treffen bei Nacht in Liverpool ein, Herr Kommissar. Wenn ich auch nicht fürchte, daß Ulminski ahnt, wir wüßten sein Reiseziel, so ist Vorsicht doch stets ratsam. Nachts sieht uns niemand, wenn wir auf dem Flugplatz Birkenhead jenseits des Mersey Flusses niedergehen.“
Nun war Liverpool in Sicht. Man überflog die in Terrassen am Nordufer des Mersey sich empor dehnende Stadt und den belebten Hafen, erkannte dann die bunten Blinkfeuer des Flugplatzes und landete dort ohne Unfall im Gleitflug.
Fink legitimierte sich auf der Polizeiwache des Flugplatzes, erhielt ein Auto und fuhr mit seinen Begleitern über die Woodside Fähre am Stadthause und Nelson Denkmal vorüber nach dem Polizeiamt, wo er den ihm persönlich bekannten Detektivinspektor George Everten noch antraf.
Es war jetzt elf Uhr abends. – Everten, ein älterer Mann mit Nickelbrille, wie ein englischer Geistlicher ausschauend, ließ für die deutschen Gäste sofort ein Abendessen holen und vernahm dann voller Spannung Finks eingehenden Bericht über die Indra-Loge, das Haus der Geheimnisse und all die Ereignisse, die sich seit vorgestern Schlag auf Schlag in Berlin abgespielt hatten.
„Den Dreidecker werden wir sehr bald haben,“ meinte Everten darauf. „Ein so großer Flugapparat ist schwer zu verbergen.“
Er begann zu telephonieren. Bis zu zehn Meilen im Umkreis wurden alle Polizeiämter angewiesen, nach dem Dreidecker zu forschen. Dann nahm Everten am Tische seiner Gäste wieder Platz.
„Versprechen Sie sich von dieser Suche etwas, Mr. Everten?“ meinte der dürre Philipp ehrlich. „Ich nicht! Eine Gaunerbande, die Autos, Pferde und Wagen hält, die eine Villa bewohnt, die über drahtlose Telegraphenapparate verfügt, dürfte hier in der Nähe von Liverpool eine Filiale haben – irgendwo ein entlegenes Gehöft. Dort werden sie gelandet sein, dort wird kein Mensch sie beobachtet haben.“
Der Inspektor nickte da widerstrebend. „Sie mögen recht haben, Mr. Brex. Man muß doch aber irgend etwas unternehmen.“
„Könnten Sie mir mal eine recht genaue Karte von Liverpool und Umgegend für eine Weile überlassen, Mr. Everten?“ bat Brex, indem er seinen Teller beiseite schob und nach einer Zigarre griff. „Ich möchte auf dieser Karte alle einsam gelegenen Villen und Grundstücke heraussuchen, möchte sie daraufhin prüfen, welches davon als Sitz der Filiale, also auch als Landungsplatz für Flugzeuge in Betracht käme. Diese Grundstücke müßten dann genau beobachtet werden.“
George Everten warf Brex einen besonderen Blick zu.
„Sie gefallen mir, Mister Brex. Ich hole die Karte.“
Dann saßen Everten und der kleine Brex und musterten diese Karte, prüften, notierten Anschriften und gaben die Namen durch den Fernsprecher weiter.
Genau um Mitternacht waren sie fertig.
„Nun will ich mir noch das Liverpooler Nachtleben ansehen,“ erklärte Brex. „Kommen Sie mit, Römer?“
Der junge Geiger war zu müde. Auch Fink wollte sich schlafen legen. Everten hatte für die Gäste bereits zwei Zimmer mit Betten im Seitenflügel in Ordnung bringen lassen.
„Wenn Sie mich mitnehmen wollen, Mister Brex,“ sagte der Inspektor jetzt. „Ich ziehe mich nur um. Auch Ihnen könnte ein Matrosenhabit nichts schaden.“
„Stimmt! Meine Alltagsvisage ist zu auffällig, Mr. Everten.“
Um halb eins verließen sie das Polizeiamt durch eine Nebenpforte.
Als der Polizeizweidecker auf dem Flugplatz Birkenhead niedergegangen war, hatten zwei mit Nachtferngläsern ausgerüstete, wie Dockarbeiter gekleidete Männer, die auf einem Hügel unweit des Plankenzaunes des Platzes im Gebüsch gelegen hatten, ihr Versteck verlassen und waren zum Haupteingang geeilt, wo sie denn auch Fink und seine Begleiter das Auto besteigen sahen.
Die beiden Bogenlampen vor dem Eingang hatten für den mit besonderen Platten versehenen Momentapparat des größeren der beiden Arbeiter gerade genügend Licht gespendet.
Als sie nun sahen, daß ein dritter Mann, der vor einer nahen Kneipe gestanden hatte, auf ein Zeichen des Kamerabesitzers hin mit seinem Motorrad dem Auto folgte, meinte der kleinere der beiden auf englisch:
„Es ist verblüffend, Meister, wie sorglos diese Leute sind. Nun haben wir den Anschluß mit ihnen wieder hergestellt, nun haben wir sogar ihre Lichtbilder, die wir nur zu vergrößern brauchen, um –“.
„Schneller, Scampry, schneller!“ unterbrach der Fürst ihn und beschleunigte sein Tempo. „Es gibt noch viel zu tun in dieser Nacht.“
Bonar Scampry konnte mit Ulminski kaum gleichen Schritt halten. Sie holten jetzt ihre Räder, die sie in jenem Gebüsch auf dem Hügel verborgen hatten, und fuhren einen Feldweg entlang nach Südwest zu, kamen auf eine Chaussee, bogen nach Süden wieder in einen Feldweg ein und passierten das sogenannte Headgroll Moor, ein sumpfiges Gebiet von etwa einer Meile Ausdehnung.
Mitten in dieser moorigen Heide, deren alte Birkenbestände durch die Nacht leuchteten wie weiß gekalkte Reihen von krummen Pfählen, lag Bonar Scamprys ländliche kleine Besitzung Goddorp Castle, die Ruine eines uralten Schlosses, die der Chemiker Doktor Scampry vor einem Jahr samt zwanzig Morgen Heideland erworben hatte.
Von Goddorpt Castle war nur noch der Oststurm bewohnbar. Hier in diesem Gemäuer hauste Scampry mit einem Diener namens Ballomer und Sapitaho, einem chinesischen Koch. Ein verwilderter Park mit längst eingestürzter Feldsteinmauer umgab die Ruine.
Als der Fürst und Scampry vor der Treppe, die zu der schweren Eichentür des Turmes mit acht Stufen emporführte, von den Rädern sprangen, öffnete sich die Tür, und ein dürrer, kleiner Chinese in einem blauen Leinenanzug huschte geschwind wie ein Affe die Treppe hinab.
Das Licht der einen Radlaterne zeigte ein schmutziggelbes, mageres Asiatengesicht mit schmalen, grausamen Lippen und listig funkelnden Schlitzaugen.
„Was gibt’s, Sapitaho?“ fragte der Fürst etwas beunruhigt, da der Chinese vor ihm stehen geblieben war.
„Die – die Miß sein weg!“ stieß der Koch hervor. „Schon zwei Stunden, und Master Börtgen und Master Chivarri und Ballomer sein sie suchen gegangen.“
„Wer?! Die Miß – meine Tochter?“ fragte Ulminski hastig.
„So sein es, Meister. – Hier, diese Brief lagen in die Koje von die Miß –“. Er hielt Ulminski einen versiegelten Umschlag hin. Darauf stand: ‚Meinem Vater, dem Fürsten!‘
Sergius Ulminski riß den Umschlag auf, bückte sich und las beim Schein der Radlaterne folgendes:
‚Verzeih’ mir! Ich konnte nicht anders. Ich kehre nach Berlin zu Heinz zurück. Es ist besser, daß wir uns trennen, Papascha. Ich muß mich erst an den Gedanken gewöhnen, daß mein angebeteter Papascha seine phantastischen Ziele auf so dunklen Wegen zu erreichen sucht. Gib mich also frei – vorläufig! Wenn die Vorsehung es will, werden wir uns wiedersehen. Von dem, was ich weiß, werde ich nichts verraten – nichts!
Ich bete für Dich!
Deine Nadja.‘
Ulminski stierte auf dieses ‚Ich bete für Dich!‘ wie gebannt.
Zum ersten Male seit anderthalb Jahren, seit er die Verbrecher-Loge ins Leben gerufen – fühlte er den Boden unter sich schwanken. Daß sein einziges Kind ihn verlassen hatte, machte selbst ihn unsicher und verstört. Dieser Schlag kam zu plötzlich. Zum ersten Male stieg es in seiner Seele wie eine dumpfe Ahnung auf, daß all diese dunklen Wege, dieses Wandern durch die Finsternis, und all diese Verbrechen vielleicht umsonst gewesen sein könnten, daß seine hochfliegenden Pläne scheitern würden. –
Neben ihm stand Bonar Scampry und beobachtete ihn still. Des Chemikers durch einen falschen Bart entstelltes Gesicht hatte etwas Lauerndes, fast Feindseliges. Scampry als Engländer konnte es nur schwer ertragen, daß er in der Indra-Loge nur die Rolle des Untermeisters spielte, denn er und Ulminski, von früher her miteinander befreundet, hatten gemeinsam diese großzügigste Verbrecherorganisation aller Zeiten ins Leben gerufen, wenn auch der Gedanke selbst und das Programm des Fürsten genialem Kopf entsprungen waren.
„Nadja hat sich von dir losgesagt, Sergius?“ flüsterte er jetzt.
Scamprys Stimme brachte Ulminski wieder zu sich. Sein feines Ohr hatte in der scheinbar teilnahmsvollen Frage des anderen doch den Unterton gehässiger Ironie herausgehört. Seit Monaten spürte er bereits diesen kaum merklichen Hauch von Neid und Eifersucht, der den Engländer umgab. Jetzt hatte er die Gewißheit; Scampry war nicht mehr der ergebene, treue Freund von einst! Die niedrige Seele des wegen Falschmünzerei vorbestraften Chemikers lag klar vor ihm.
Auch diese Feststellung, daß einer der Loge, und gerade der, den er neben Börtgen das meiste Vertrauen geschenkt hatte, ihm jetzt entfremdet war, ließ abermals für einen Moment in seiner Seele das unklare Gespenst der Zweifel an der Erreichbarkeit seiner Ziele, eine Art Mutlosigkeit und Lähmung aller Energiequellen, lebendig werden.
Ebenso schnell war alles überwunden. Er knüllte den Brief zusammen und meinte achselzuckend: „Liebestrieb, Scampry! Nadja hat da in Berlin einen kleinen Roman erlebt. – Sie wird Berlin nie erreichen.“
Er schritt die Stufen empor. Im hochgelegenen Erdgeschoß, das vier Räume enthielt, telephonierte er nach Liverpool an den Wirt der Hafenkneipe ‚Zum Vater Nelson‘, gab Befehl, die Bahnhöfe zu überwachen, die Autoverleiher, die Dampferkais. –
Sechzig Leute, alles Hafengesindel schlimmster Art, aber treu wie Gold und tapfer wie alle die, die nichts mehr zu verlieren haben, dabei listig und verschlagen, erprobt im Kampfe gegen Gesetz und Recht, schickte Old Cutty, der Wirt vom ‚Nelson‘, in die Nacht hinaus. –
Scampry und der Chinese waren dem Fürsten langsam gefolgt. In der kleinen Vorhalle flüsterte Sapitaho: „Master, Ballomer hat den Sherry mit. Ballomer findet die Miß durch Sherrys Nase. Die Miß hatte gespielt mit Sherry, und der Hund findet stets, wen er lieben.“
„Ah – Sherry!“ Bonnar Scampry kniff das linke Auge zu. „Dann bringt Ballomer die Miß fraglos zuerst in den Courts unter. Mach’ fix, Sapitaho – laß dich mit der Nummer verbinden. Ballomer soll, sobald er im Court mit der Miß eintrifft, mir eine Brieftaube senden und dort bleiben. Niemand darf erfahren, wo die Miß weilt.“
Der Koch eilte in den Keller hinab. Dort war versteckt ein zweiter Telephonapparat angebracht. –
Nadja war aus ihrem Stübchen, das neben dem des Vaters im Erdgeschoß des Turmes lag, durch eines der kleinen Fenster entwichen, hatte dann aus dem Mittelbau der Ruine, der als Stall und Autogarage benutzt wurde, ein Damenfahrrad herausgeholt, das sie bereits im vergangenen Herbst bei einem Besuche hier in Goddorpt Castle benutzt hatte.
Die Bulldogge Sherry, ein abschreckend häßliches Tier mit dem Blick eines harmlosen Kindes, war in Nadjas Stube zurückgeblieben. Als Nadja gar nicht wiederkehrte, wurde der Hund unruhig. Sein leises Jaulen lockte Börtgen herbei. So ward die Flucht der Prinzessin entdeckt worden.
Der Diener Ballomer, ein Schotte von etwa vierzig Jahren, hatte dann als letzter mit dem Hunde an der Leine den Turm verlassen. Der finstere Mensch, dessen Vergangenheit niemand kannte, der aber Bonar Scampry für die Zwecke der Loge recht geeignet erschienen war, hoffte auf eine Extrabelohnung von seiten Ulminskis, wenn er Nadja ohne Hilfe der andern zurückbrachte.
Sherry hatte den Diener zuerst nach der Fahrradkammer geführt. Von hier verfolgte Ballomer mit Hilfe einer Laterne diese Radspur quer durch den Park bis zu einem schmalen Pfad, der sich durch das Moor bis in die Nähe von Birkenhead hinabschlängelte.
Ballomer schwang sich jetzt gleichfalls auf sein Rad. Eine halbe Stunde drauf hatte die Bulldogge in einem Wäldchen dicht vor Birkenhead Nadjas Fahrrad aufgestöbert. Die Prinzessin war von hier zu Fuß weitergegangen. Der Hund nahm ihre Fährte begierig auf, und wieder eine halbe Stunde später hatte Ballomer den Mersey Tunnel passiert und betrat den Waterloo Bahnhof.
Sherrys Nase bewährte sich auch hier. Obwohl hunderte von Menschen inzwischen bereits über Nadjas Spur dahingeschritten waren, zog die Dogge den Diener nach der Tür des Wartesaales.
Nadja saß hier in einer Ecke und studierte das Kursbuch, das sie sich vor dem Stationsgebäude von einem Händler gekauft hatte. Vor ihr auf dem Tische standen die Reste einer Mahlzeit.
Als Ballomer sie erblickte, machte er sofort kehrt. Er wußte, daß auf dem Bahnhof zwei der Brüder die ankommenden Züge zu überwachen hatten. Schon wollte er den einen, den er dicht am Ausgang der Bahnsteige bemerkte, ansprechen, als er sich’s wieder anders überlegte. –
Nadja wollte mit dem Ein-Uhr-Morgenzug nach London reisen. Sie war reichlich mit Geld versehen. Sie hatte jetzt nur einen Wunsch, einen Gedanken: Heinz! – Die Sehnsucht nach dem Geliebten war so mächtig, daß sie, das weltfremde, verwöhnte Prinzeßchen, plötzlich aus dem halben Kinde zu einem reifen, kühl erwägenden Weibe geworden war.
Sie hatte den weißen Schleier ihres kleinen Filzhutes bis zur Nasenspitze herab gezogen. Zunächst war von ihr auf die Menschen hier im Wartesaal mit der scheuen Angst der Missetäterin, die mit einer Verfolgung rechnen muß, achtgegeben worden. Doch dann war ihre erste Angst allmählich zerflattert. – ‚Wer soll mich hier finden?!‘ dachte sie siegesgewiß.
Nun bezahlte sie den Kellner, nahm ihre große Lacklederhandtasche und wollte sich eine Fahrkarte lösen.
Sie ging den richtigen Schalter suchen. Plötzlich hinter ihr ein kurzes Bellen – dumpf, gurgelnd.
Dann schon Ballomers Stimme, der den Hut gezogen hatte: „Ihr Vater, Miß Nadja, läßt Sie grüßen. Er ist Ihnen nicht weiter böse. Ich soll Sie bis London begleiten, damit Sie sicher dorthin gelangen.“
Nadja war unter dem Schleier erblaßt. Dieser stille, finstere Ballomer war ihr stets unheimlich gewesen. Der Mensch glich einer Maschine. Sein Gesichtsausdruck blieb stets der gleiche. Seine Stimme änderte nie den näselnden Tonfall.
Nadja ahnte, daß Ballomer log. Er war einer der Häscher. Sie mußte ihm entfliehen, mußte heucheln.
„Ah – Sie sind’s, Ballomer,“ meinte sie und bückte sich zu der Dogge herab, die ihren Kopf gegen ihre Knie gepreßt hatte. „Dann werde ich gleich für Sie und Sherry Fahrkarten mitlösen. Warten Sie hier –“.
Sie glaubte sehr schlau zu handeln, als sie nun das Stationsgebäude verließ, als sie ein Auto bestieg und sich zum Lime Street Bahnhof fahren ließ.
Ballomer mit der Bulldogge war in einem zweiten Taxameter hinter ihr. Als Nadja den Chauffeur vor der Lime Street Station bezahlte, tauchte Ballomer wieder neben ihr auf, flüsterte dem Wagenlenker etwas zu, zeigte ihm einen gefälschten Ausweis als Detektivbeamter und sagte dann barsch zu dem abermals fahl gewordenen Mädchen: „Steigen Sie wieder ein! Vorwärts! – Nach der sechsten Polizeiwache, Chauffeur!“
Er drängte Nadja in den Kraftwagen. –
Die sechste Polizeiwache war die der berüchtigten Courts, des Liverpooler Verbrecherviertels, jener engen Sackgassen, in denen Armut, Laster und Diebesgesindel aller Art Tür an Tür in muffigen Mietskasernen nebeneinander hausten.
Nadjas Mut und Entschlossenheit war gegenüber Ballomers eisiger Ruhe nur zu rasch dahin geschmolzen. Schluchzend lehnte sie in ihrer Polsterecke, Sherrys Kopf auf den Knien.
Ballomer sprach kein Wort. Vor der Polizeiwache reichte er dem Wagenlenker ein größeres Geldstück und betrat mit Nadja, die er am Arme festhielt, den Flur des großen Gebäudes, wo rechter Hand die Büros der Polizeiwache lagen.
Er führte Nadja an allen diesen Türen hastig vorbei, führte sie durch zwei Höfe in ein anderes Sackgäßchen und schloß hier die Holzpforte einer hohen Hofmauer auf. –
*
Brex wollte sich von Everten die ‚berühmten‘ Courts zeigen lassen. Arm in Arm schlenderten sie, die leicht Angetrunkenen spielend, in ihren Matrosenanzügen durch die Spacewelly Street, wo Kneipe an Kneipe, Kellerlokal an Kellerlokal liegt.
Wüster Lärm scholl bis auf die Gasse hinaus. Dirnen aller Preise, von der seidenrauschenden ‚Dinner-Lady‘ bis herab zur zahnlosen ‚Dock-Miß‘, strichen vorüber. Verdächtige Kerle, Schiffsvolk, Neger, Inder, Anamiten, Chinesen und Weiße, fluteten vorbei. Zwischen den Kneipen gab es zuweilen schmale, dunkle Häuser mit herabgelassenen Stabjalousien an allen Fenstern.
„Bordelle!“ erklärte der Inspektor achselzuckend.
Dann schwenkten sie in eine neue Gasse ein, umschritten einen Häuserblock und befanden sich plötzlich in einer völlig toten Gegend. Kein Mensch weit und breit. Nur ein Polizist kam langsam daher, musterte sie scharf und ging weiter.
Ein Auto kam angerollt, hielt vor einem knallgelb gestrichenen Hause mit herabgelassenen Stabläden. Vier Schiffskapitäne verschwanden in dem Gebäude.
„Auch?“ fragte der dürre Philipp nur.
„Auch!“ nickte Everten. „Das eleganteste hier. Eine Luxuslasterstätte, Mister Brex.“
Das Auto rollte davon. Ein zweites nahte. Drei Herren im Abendanzug mit leuchtend weißen Frackwesten folgten den vier Seeleuten.
Brex und Everten standen in der tiefen Toreinfahrt eines früheren Warenspeichers.
„Das Haus gehört einem gewissen Doktor Scampry,“ flüsterte Everten. „Einem früheren Zuchthäusler. Übrigens haben Sie den Namen von mir schon einmal gehört. Er ist der Eigentümer von Goddorpt Castle, das Sie ja ebenfalls der Karte nach auf die schwarze Liste –“.
„Still!“ – Brex preßte des Inspektors Arm.
Da kamen ein Mann und ein Mädchen daher. Hinter ihnen trottete eine Bulldogge.
Man hörte das Mädchen leise weinen.
Der Mann schloß jetzt eine Mauerpforte dicht neben dem gelben Hause auf.
Brex keuchte vor Erregung.
„Prinzessin Nadja!“ hauchte er. „Nadja Ulminski! Sie ist’s! Genau denselben Hut hatte sie in –“
Ballomer drängte Nadja in den Hof hinein. Sie schrie leise auf.
Brex wollte vorstürzen.
„Ruhe!“ mahnte Everten leise. „Ruhe!“
Die Pforte knallte zu.
Everten fragte kopfschüttelnd: „Wollten Sie alles verderben, Mr. Brex?! Nun haben wir doch eine Spur: die Prinzessin! – Nun behaupte ich: Dieser Scampry gehört mit zu der Bande!“
„Aber – aber Heinz Römer!“ entfuhr es dem kleinen Philipp. „Römer wird –“.
„– nichts erfahren,“ sagte Everten hart. „Hier handelt es sich nicht um Liebesromane, sondern um Verbrecherstreiche! – Kommen Sie zur Polizeiwache. Ich werde telephonieren. Goddorpt Castle wird nach einer Stunde eingekreist sein!“