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Kapitel 31–40

31. Kapitel.

Um das Gold des ‚Atlantic‘.

Horst Olden machte erst halt, als er eine Seitenschlucht erreicht hatte, die auf eine Bucht der Nordküste mündete. Auch hier dicker Nebel. Und hier setzte er nun die teure Last behutsam ab.

Lori hatte so minutenlang an seiner Brust geruht, hatte sein Herz pochen gehört, hatte die Augen geschlossen und in süßer Mattigkeit sich dem beseligenden Gefühl des Geborgenseins hingegeben.

Nun stand sie vor ihm, nun standen sie Hand in Hand.

Und da überkam sie plötzlich das Grauen vor jener Sekunde, als sie den Revolver erhoben und abgedrückt hatte.

Sie lehnte sich leicht an den Geliebten, stammelte zitternd: „Ich – ich hätte dich töten können!“

Um sie her Dunkelheit, graue Schleier, Brandungsmusik, Kreischen nimmermüder Seevögel.

Olden packte wieder das ganze unendliche Weh, weil er Lori für immer verloren hatte. Wie anders hätte diese Szene sein können, welch traumhaft romantisches Glück hätte dieses Sichwiederfinden bedeutet, wenn Lori nicht die Beute des anderen gewesen!

„Es – sollte nicht sein!“ sagte er doppelsinnig. „Meine Uhr fing die Kugel auf –“.

Der kühle Ton seiner Stimme brachte Lori zur Besinnung.

‚Dirne – Dirne!‘ gellte es in ihrer armen Seele.

Sie löste ihre Hände aus den seinen. Sie zwang sich, ebenso sachlich zu denken wie er. Sie begann zu erzählen, was sie hier erlebt hatte.

„Eine Yacht?“ fragte Olden jetzt.

„Ja – die Yacht des Lords muß hier irgendwo an der Küste vertäut liegen –“.

Olden fragte, überlegte, fragte wieder: „Also nur dieser alte Jonny befindet sich auf der Yacht?“

„Nur Jonny!“

„Dann – dann werden wir sehr bald frei sein – sehr bald! – Lori, du wirst mich hier erwarten. Ich werde die Yacht suchen.“

„In dieser Finsternis – unmöglich!“ Angst war’s, die durch diese Worte zitterte.

„Kein Unmöglich – ein ‚Es muß‘! – Auf Wiedersehen, Schwesterlein!“ – Er hatte den richtigen Ton ihr gegenüber wiedergefunden.

Der Nebel entzog ihn rasch ihren zagenden Blicken.

Olden hing sich die Schuhe über die Schulter. Er durfte nicht das geringste Geräusch hervorrufen. Er vertraute seinem Ortssinn, gelangte nach den weißen Felsen zurück, drang tiefer in die Schlucht ein.

Der Wind frischte auf. Die Nebelmassen zerrissen zuweilen. Dann drang das Mondlicht mit fahlem Schein bis hinab auf die Felsklüfte von Klein-Foula.

Olden rechnete damit, daß die Yacht in der Nähe der Schlucht liegen würde. Zwei schmale Buchten hatte er bereits abgesucht.

Nun die dritte – mit himmelhohen Wänden, mit einem natürlichen Pfad am Ostufer.

Schon wollte er kehrt machen. Stand still – sog die Luft ein.

Das war Tabakrauch – Pfeifentabak.

Stand und lauerte, bis eine neue schwache Rauchwolke daher wehte.

Die Yacht –! Jonny –! Ganz in der Nähe! – Aber wo?

Jonny Prym saß auf dem Kajütenaufbau der Motoryacht und qualmte. Ohne seine geliebte Pfeife war Prym nur ein halber Mensch. Wenn’s im kurzen Pfeifenrohr so recht schmurgelte, wenn der scharfe Nikotinsaft ihm auf die Zunge kam, dann spie er seelenvergnügt aus. –

Soeben war Mr. Robbin bei ihm gewesen und hatte ganz was Unglaubliches erzählt. Das Mädel war entflohen, und der Kerl, dem er nötigenfalls einen Klaps vor den Schädel geben sollte, war ein Kollege von Robbin und Bricolm!

Jonny qualmte stärker. Eigentlich brauchte er hier jetzt gar nicht mehr zu wachen. Seine Lordschaft war ja mit Bricolm bereits nach dem großen Tal unterwegs, um den Deutschen herbei zu holen.

Da – sein verwitterter Schädel flog hoch.

Die Laufplanke hatte geknarrt – gerade so, als ob jemand sie betreten hätte.

„He – ist da jemand?“ rief Jonny Prym.

Keine Antwort.

„He – falls Sie es sind, Master –“.

Das Wort ‚Olden‘ verschluckte er notgedrungen, denn von hinten hatte ihm jemand einen derartigen Hieb gegen den Kopf versetzt, daß ihm für Sekunden die Sinne schwanden.

Und nun lag er mit gefesselten Armen und Beinen, einen Knebel statt der geliebten Pfeife im Munde, auf dem Tisch der Achterkajüte, und der ‚Kerl‘ band ihn kunstgerecht auf der Tischplatte fest.

Jonny grunzte in allen Tonarten, wollte sich auch durch Gesichterschneiden diesem verdammt dämlichen Olden verständlich machen. Doch der kümmerte sich um nichts, löschte die Kajütlampe wieder aus und verschwand. –

Als Lori und Olden gleich darauf derselben Bucht wieder zueilten, vernahmen sie irgendwoher laute Rufe, die sich ständig wiederholten.

Sie gelangten glücklich an Bord.

„Bewache Jonny,“ sagte Olden, der die Lampe wieder angezündet hatte.

Lori setzte sich auf das kleine Sofa. Jonny Prym schnitt Gesichter, grunzte.

„Liegen Sie still!“ befahl Lori und zeigte Bricolms Revolver. –

Olden zog die Laufplanke ein, machte die Yacht los und dirigierte sie mit dem Bootshaken langsam dem offenen Meere zu.

Der Wind drehte nach Westen. Die Nebelmassen schwanden.

Olden warf unweit der Buchtmündung Anker. Dann ging er in die Kajüte, untersuchte Jonnys Fesseln und nahm Lori mit an Deck in den Maschinenraum, warf den Motor an, unterwies Lori in den nötigsten Handgriffen.

Gerade als die kleine Yacht, die den stolzen Namen ‚Abukir‘ trug, ins freie Meer hinaus schoß, kamen Lord Ruthergleen und Bricolm an die bisherige Liegestelle ihres Schiffleins.

„Entführt!“ brüllte der Detektiv Bricolm.

„Durch Olden!“ seufzte der Lord.

„Aber – aber Robbin hat Jonny doch Bescheid gesagt!“

„Olden wird wohl etwas derb zugegriffen haben, lieber Bricolm –“.

„Nun – nun sind wir die Geleimten, Mylord! – Aber – wir haben ja die Funkspruchstation,“ fügte er aufatmend hinzu. „Wir werden nach England telegraphieren!“

Sie eilten nach der Höhle zurück. –

Die Motoryacht lief fünfundzwanzig Knoten. Sie war ganz neu, war ein Triumph der Schiffbaukunst. Die Motoren arbeiteten regelmäßig wie ein Perpetuum mobile. Da brauchte es keiner Nachhilfe.

Olden übergab Lori das Steuer. Im Osten graute der Morgen.

„Ich werde Jonny herbringen, Lori. Wir werden ihn verhören. Ich bin gespannt, was er uns vorlügen wird.“ –

Jonny war auf dem Tische eingeschlafen. Warum sollte er wach bleiben?!

Horst Olden band ihn los. Jonny riß die Augen auf, packte den Knebel samt Genickschnur, schmiß ihn in eine Ecke, sagte dann: „Das haben Sie fein gemacht, Mister Olden – verdammt fein!“

Olden horchte auf.

„Sie kennen meinen Namen?“

„Und ob, Mister Horst Olden. Ihr Kollege Robbin hat ihn mir eingetrichtert.“

„Kollege – Robbin?!“

„Nun ja. Wir sind doch der Funkspruchstation wegen hier nach Klein-Foula zurückgekehrt, Mister Olden, nachdem wir vor zehn Tagen auf der Tanne die Drähte und Stangen bemerkt hatten. Als er die Drähte entdeckte, dachte der Lord an militärische Spionage. Wir fuhren also nach Leith zurück. Dort sind wir nämlich zu Hause. Seine Lordschaft bestellte sich telephonisch zwei Detektive aus London, und dann gondelten wir wieder nach Klein-Foula. So fanden wir gestern morgen drei Kerle, die Funkleute der Station. Sie wollten uns nicht in die Höhle hineinlassen. Ich sag’ Ihnen, Mister Olden, die Schufte schossen auf uns, als ob wir Papierscheiben wären. Da knallte Mr. Bricolm den einen nieder, der Lord den andern. Der dritte jagte sich von selbst eine Kugel ins Gehirn, und der zweite, der nur verwundet war, tat dasselbe. Na – und dann kam der Dreidecker, dann nahmen wir die blonde Miß gefangen und hatten inzwischen das Buch mit dem Chiffrealphabet gefunden, schickten dem Dreidecker eine Depesche nach, daß hier alles in Ordnung sei. – So, nun denk’ ich, Mr. Olden, kehren wir um und holen Seine Lordschaft.“

Olden reichte Jonny die Hand.

„Entschuldigen Sie!“

„Bitte – der Hieb machte mir nichts aus!“

„Freut mich. Aber – umkehren, das geht nicht! Ich muß nach Liverpool, schleunigst! Geht wirklich nicht.“

„Ist Ihre Sache, Master. Werden wohl Ihre Gründe haben. Also dann nach Liverpool. Wenn wir Thurso an der schottischen Nordküste anlaufen, können Sie von da die Bahn benutzen.“

„Einverstanden. – Nun wollen Sie wohl Miß Battner begrüßen, Jonny –“. –

*

Der Motorradfahrer, der dem Auto Kommissar Finks vom Flugplatz Birkenhead aus heimlich gefolgt war, hatte sich auf eine Bank in den Anlagen gegenüber dem Polizeiamt gesetzt, nachdem er von einem nahen Fernsprechautomaten den Wirt der Kneipe ‚Zum Vater Nelson‘ angerufen hatte.

Bereits zehn Minuten drauf erschienen vier harmlos aussehende Radfahrer in kurzen Abständen und meldeten sich bei dem Manne, der auf der Bank gemütlich eine Zigarre rauchte und seine Motormaschine neben sich gestellt hatte.

Dieser Mann war kein anderer als John Wellesley, der Bruder jener Jane, die den Verrat und Ungehorsam gegen die Loge so bitter hatte büßen müssen.

Wellesley wartete jetzt das Eintreffen eines fünften Bruders der englischen Zweigloge ab. Auch der fand sich sehr bald ein, nahm das Motorrad nachher mit und überbrachte John ein gewöhnliches Fahrrad. Dieser Fünfte gehörte wie auch Wellesley zum sogenannten ‚Inneren Kreis‘ der Loge, zu den Eingeweihten. Alle anderen Mitglieder hätten, falls sie bei irgend einem Unternehmen verhaftet worden wären oder an Verrat gedacht hätten, so gut wie nichts aussagen können. Sie kannten nicht einmal den Namen der Organisation, erhielten lediglich gute Bezahlung und ihre Befehle derart übermittelt, daß sie nie wußten, um was es sich handelte. Auch hier in Liverpool wie in Berlin bestand innerhalb des Bundes ein fein ausgeklügeltes Überwachungssystem. Bisher war denn auch mit Ausnahme weniger Fälle keinerlei Verräterei vorgekommen.

Der Fünfte hatte neben John Platz genommen.

„Bruder,“ begann er leise, wobei er sein alkoholgedunsenes Gesicht dicht an Wellesleys Ohr brachte, „du kannst dem Meister von mir ausrichten, daß Bonar Scampry euch falsch informiert hat. Weshalb, ahne ich nicht. Der ‚Atlantic‘ soll bereits heute mittag in See gehen. Ich weiß es ganz bestimmt, obwohl es ja sehr geheim gehalten wird.“

Wellesley wollte vor Erregung aufspringen, blieb jedoch Herr seiner Nerven und fragte nur seltsam keuchend: „Heute mittag?! Und Scampry ist bestimmt davon unterrichtet?“

„Bestimmt! – Ich hatte gestern Nacht vor der Mersey Werft die Wache im Boot. Ich sah, wie die letzten Kisten mit Goldbarren verladen wurden. Der Nebel gestattete mir, ganz dicht heranzufahren. Dann schwamm ich bis an das Heck des U-Bootes. Auf dem Achterdeck standen Detektivinspektor George Everten, der mit der Bewachung des ‚Atlantic‘ betraut ist, und der Kapitän Pollingham. Ich konnte jedes Wort verstehen. Sie unterhielten sich darüber, daß in der verflossenen Nacht ein Unbekannter sich auf die Mersey Werft und an den Liegeplatz des U-Bootes herangeschlichen hätte. – Und dieser Mann, Bruder Wellesley, kann nur Ballomer gewesen sein. Der hatte vorgestern die Wache –“.

„Weiter – weiter!“ drängte John. „Jede Sekunde ist kostbar!“

„Als ich dann morgens Scampry Bericht erstattete und betonte, daß ich genau vernommen hätte, das U-Boot würde bereits morgen, also heute mittag, in See gehen, tauschten Scampry und Ballomer einen besonderen Blick aus. Dieser Blick und Scamprys schlecht geheucheltes Erstaunen über meine Meldung, schließlich seine Behauptung, ich müsse falsch gehört haben, gaben mir die Überzeugung, daß die Beiden längst wußten, daß die Abfahrt des ‚Atlantic‘ für drei Tage früher als ursprünglich angesetzt war. Ich tat jedoch, als wäre ich meiner Sache nicht ganz sicher, und meinte, es sei schon möglich, daß ich mich verhört hätte –“.

„Sehr gut so! – Und dann –?“

„Habe ich durch Vier vom ‚Äußeren Kreis‘, die weder Scampry, Ballomer noch den verdammten Chinesen, den Koch, kennen, die Drei belauern lassen –“.

„Und der Erfolg?“

„Scampry hat in seinem gelben Hause in den Courts zehn Zuchthäusler versteckt, die vor einer Woche aus Glarnby entsprungen sind –“.

„Ah –!“

„Und fünf von diesen zehn, habe ich festgestellt, sind frühere Seeleute, drei aber Mechaniker von Beruf und zwei wieder Kunstschmiede für den ‚Atlantic‘, Bruder!“

Dieser Hendriport, der durch seinen letzten Satz Bonar Scamprys geheime Machenschaften in ein besonderes Licht gerückt hatte, war seines Zeichens jetzt Winkelkonsulent und wohnte im ersten Stock des Hauses, in dem sich die Kneipe ‚Zum Vater Nelson‘ befand. Als früherer Advokat besaß Jonathan Hendriport sehr schätzbare Eigenschaften. Außerdem gehörte er zu des Fürsten glühendsten Bewunderern, war anhänglich und treu und in Wahrheit der Untermeister der Liverpooler Zweigloge, während Scampry nur dem Namen nach diesen Posten innehatte.

Wellesley hatte Hendriport die Hand jetzt schwer auf die Schulter gelegt.

„Bruder, du wirst recht haben,“ meinte er. „Das riecht nach Verrat. Wir andern sollten um die Beute betrogen werden. Scampry will selbst den ‚Atlantic‘ kapern.“

„Das will er,“ nickte der Exadvocat. „Aber es wird ihm nicht gelingen. Wir haben noch drei Stunden Zeit. Die genügen uns.“

Sie flüsterten noch leiser. Dann schwang Hendriport sich auf das Motorrad und fuhr davon.

Kaum war er verschwunden, als eine Straßendirne an Wellesleys Bank vorüberstrich. Sie musterte ihn scharf, blieb stehen, sagte leise: „Indra – Nelson –“.

„Indra – Berlin,“ erwiderte Wellesley sofort und erhob sich.

„Ich soll folgendes bestellen, Bruder,“ erklärte das geschminkte Weib, die nur das Äußere einer Dirne hatte. Es war Hendriports Frau. „Die Prinzessin Nadja ist entflohen.“

Wellesley entschlüpfte ein Ausdruck des Schreckens.

„Der Meister hat bereits die Helfer alarmiert. Sechzig Leute suchen nach ihr.“

John drückte Frau Daisy Hendriport die Hand. „Noch etwas, Schwester?“

„Ihr sollt auf eurem Posten bleiben.“ – Dann eilte sie weiter.

Wellesley bestieg sein Rad und fuhr langsam um das Polizeiamt herum. An jeder Ecke stand einer der Posten. Ihre Meldung lautete stets gleich: ‚Nichts bemerkt!‘

Wellesley wollte zu seiner Bank zurückkehren. Er schob jetzt sein Rad. Als er an dem einen Seitenausgang des Gebäudes vorüberkam, traten zwei Matrosen heraus.

John pfiff den Gassenhauer ruhig weiter. Aber in seinen Augen leuchtete es auf. Er kannte George Everten von früher her, und den kleinen Brex – den kannte er erst recht.

So blieb er denn nachher den beiden auf den Fersen. In den Courts begegnete er Frau Hendriport, die hier das gelbe Haus Bonar Scamprys beobachten sollte.

Sie folgte Brex und Everten, sie war’s, die von weitem den Diener Ballomer an der Bulldogge Sherry erkannte. Und – Ballomer war in Begleitung der Prinzessin! –

Als Everten und Brex dann die Polizeiwache betraten, hatte Frau Hendriport sich die Schminke aus dem Gesicht gewischt, ging ihnen nach und meldete auf der Wache zum Schein den Verlust ihres silbernen Handtäschchens. So hörte sie gerade noch, wie Everten den Namen Goddorpt Castle erwähnte.

Als sie dies dann draußen Wellesley mitteilte, jagte der sofort im Renntempo von dannen. Sein Gesichtsausdruck wechselte beständig, war zuerst geringschätzig und ironisch. Die Organisation der Loge hatte sich wieder einmal glänzend bewährt. Die Polizei – lächerlich! Der war man doch über! – Dann dachte er an den Verräter Scampry, an den elenden Bordellbesitzer, diesen Menschen, der vor Geldgier seinen eigenen Vater ins Unglück gestürzt hätte.

Jenseits des Mersey dicht hinter Birkenhead traf er mit Ballomer zusammen, der ebenfalls nach Goddorpt Castle zurück radelte. Den Hund hatte er an der Leine.

„Die Prinzessin soll ja entflohen sein,“ rief Wellesley dem Diener, während sie nebeneinander weiterfuhren, zu.

„Ja. – Ich habe sie vergeblich gesucht. Sie scheint den Elf-Uhr-Zug nach London noch erwischt zu haben. – Weshalb so eilig, Bruder John?“

„Der Meister schickte mir eine Botschaft.“

Ballomer wagte nicht zu fragen, welcher Art diese Botschaft gewesen.

Wellesleys Tempo machte auch eine weitere Unterhaltung unmöglich.

Um ein Uhr morgens waren sie in Goddorpt Castle. John ließ Ulminski in den Park rufen. Auch Börtgen und Chivarri fanden sich ein. Die Vier berieten.

Im ersten Stock des Turmes nahm Scampry zur selben Zeit Ballomers Bericht entgegen.

„Die Brieftaube ist eingetroffen,“ meinte er. „Nun erzähle Einzelheiten.“ – Er strahlte vor Schadenfreude.

Dann flüsterte er dem Diener und dem Chinesen zu: „Punkt zwei Uhr begeben wir uns unter einem Vorwand nach Liverpool. Punkt drei Uhr muß das U-Boot in unserer Gewalt sein. Ich habe alles vorbereitet. Es wird klappen. Ulminskis Gedanken sind jetzt durch Nadjas Entweichen voll in Anspruch genommen. Uns konnte nichts günstiger kommen als diese Flucht.“

Da – die Tür des großen Turmgemaches ging auf. Die vierzehn mit dem Dreidecker eingetroffenen Mitglieder der Indra-Loge, Ulminski voran, traten ein.

Der Fürst schritt auf Scampry zu. Sein Antlitz war wie aus Stein gemeißelt, war erstarrte Verachtung und Härte.

„Willst du gestehen?“ fragte er kurz.

Scampry erhob sich ruckweise. Jeder Blutstropfen verließ das Verrätergesicht.

„Ich – ich wüßte nicht, was, Meister!“ stammelte er.

„Wir wissen es um so besser! Wir haben bereits Gericht gehalten. Ihr drei müßt sterben.“

Ein Wink, und man packte die Männer.

Chivarri nahte mit der kleinen Nickelspritze.

Scampry brüllte um Hilfe.

Plötzlich verstummte er. –

Und als ein großes Polizeiaufgebot zwanzig Minuten später nach Goddorpt Castle vorrückte, schlugen bereits überall Flammen aus der Schloßruine. Unruhig umflatterten die freigegebenen Brieftauben den in Rauch gehüllten Turm.

Im Parke aber nahm die Polizei Scampry, Ballomer und den Chinesen fest, die hier blöde gestanden und in die Flammen gestarrt hatten.

Keiner der Drei war imstande, eine Aussage zu machen. Sie waren geistig tot, mußten später in eine Irrenanstalt gebracht werden.

 

32. Kapitel.

Wie das U-Boot geraubt wurde.

Inspektor George Everten und seine deutschen Gäste hatten sich nach kurzer Beratung nach den Courts begeben. Das gelbe Haus wurde umstellt.

Everten, Fink, Brex und Heinz Römer betraten es als harmlose Besucher. Ein Neger in goldstrotzender Livree riß die Glastür des Vorraums auf. Der Schwarze schien Blick für Polizeigesichter zu haben, oder aber er kannte Everten von Ansehen.

Der Inspektor sprang nämlich plötzlich zu und riß den Neger nach vorwärts, sagte dann kalt:

„Der Trick ist kein Geheimnis mehr. Du wolltest dort auf jenes Dielenstück treten und so das Alarmzeichen geben.“

Er hielt ihm seine Legitimation hin. „Geh’ auf die Straße!“ befahl er. „Dort werden meine Leute dich bewachen.“ –

Musik und Gelächter schollen den Herren entgegen, als sie nun den großen Saal betraten.

Fink und Brex waren überrascht. Eine solche Eleganz der äußeren Aufmachung hatten sie dort nicht erwartet. Der Saal wirkte samt den tanzenden Paaren und der ungarischen Kapelle wie eine erstklassige Tanzdiele.

Niemand beachtete die neuen Gäste. Nur drei der Pensionärinnen des gelben Hauses, die noch keine Kavaliere gefunden hatten, näherten sich in ihren tief ausgeschnittenen kostbaren Ballroben den vier Herren, die nicht weiter auffielen, da auch Everten und Brex wieder Straßenanzüge trugen.

Everten hatte dem kleinen Philipp und Fink etwas zugeflüstert, woraufhin sie quer durch den Saal schritten und die beiden anderen Ausgänge besetzten.

Dies wurde bemerkt. Die Musik schwieg plötzlich.

Aller Augen richteten sich auf Fink, der sich vor der Haupttür aufgepflanzt hatte.

Um die Kristallkrone schwamm feiner Zigarettenrauch.

In der Luft schwebte das charakteristische Gemisch von Parfüm, Weindunst, Speisenduft und kaum spürbarem Modergeruch, der allen Häusern in den engen Courts eigen ist.

Eine hagere, in schwarze Seide gekleidete Frau mit würdevoller grauer Haarfülle, in der ein Brillantstern funkelte, rauschte jetzt, in der Linken lässig ihr Lorgnon haltend, auf den Inspektor zu.

Es war dies Mißstreß Honoria Pallinax, die Hausdame dieses Liebestempels. Bonar Scampry hatte sie im Zuchthause kennen und ihre Eigenschaften schätzen gelernt. Sie mußte wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Kindesunterschiebung drei Jahre absitzen, und nach ihrer Freilassung fand sie dann in Scamprys gelbem Tugendsalon einen gut bezahlten Vertrauensposten.

Dieser Honoria Pallinax hätte niemand so leicht die abgefeimte Verbrecherin angesehen. Ohne Frage wirkte sie vornehm. In ihrem leicht gepuderten Antlitz war kein einziger gemeiner Zug zu entdecken. Ihre Augen strahlten Güte und Menschenfreundlichkeit aus.

Vor Everten machte sie halt und fragte mit leichtem Neigen des Hauptes: „Mein Herr, Ihr Verhalten hier ist etwas ungewöhnlich.“

George Everten fixierte sie scharf.

„Lassen Sie die Komödie, Honoria Pallinax!“ meinte er kühl. „Sie erkennen mich ebenso gut wieder wie ich Sie! Wo haben Sie die Prinzessin Nadja Ulminski verborgen?“

Sie ward grau im Gesicht unter dem Puder wie ihr tadellos frisiertes Haar.

Blitzartig flog es über dieses Gesicht wie ein Muskelkrampf. Dann schoß ihr das Blut in die Wangen. Und mit einer Stimme, die angenehm weich klang, erwiderte sie:

„Ah – Inspektor Everten! – Sehr erfreut. – Sie sind in den letzten Jahren nicht gerade jünger geworden –“.

Everten merkte, daß sie Zeit gewinnen wollte, merkte aber auch, daß sie ihr Batisttüchlein zusammenknüllte und es mit Taschenspielergewandheit hinter sich warf. Es flatterte wie ein weißes Vöglein zu Boden.

Wieder lächelte Everten schwach. „Wir sind eingeweiht,“ sagte er ironisch. „Das Taschentuch bedeutet: Licht aus! – Aber meine Leute sind bereits auch über den Hof eingedrungen und halten das Lichtschaltbrett bewacht.“

„Ich verstehe Sie nicht ganz, Mr. Everten –“.

„Wo ist die Prinzessin?!“ fragte er ungeduldig.

„Eine Prinzessin?! Sie scherzen wohl –“.

Da packte Everten sie am Arm.

„Im Namen des Gesetzes, Honoria Pallinax, erkläre ich Sie für verhaftet! Setzen Sie sich dort in jene Ecke. – Mr. Römer, bitte, Sie bewachen diese Frau. Nehmen Sie Ihren Revolver. Sollte man Ihnen zu nahe kommen, dann schießen Sie auf meine Verantwortung hin.“

Er ging in die Mitte des Saales, rief hier: „Nehmen Sie alle Platz. Niemand verläßt den Raum! Ich bin Detektivinspektor Everten von Scotland Yard!“

In der Haupttür erschienen fünf von Evertens Leuten. Sie lösten Brex, Fink und ihren Vorgesetzten an den Türen ab und übernahmen auch Honoria Pallinax’ Beaufsichtigung.

Dann begann die Durchsuchung des gelben Hauses. An jeder Treppe, in jedem Flur, an jeder Außentür stand ein Beamter Evertens. Keine Maus wäre unbemerkt entkommen.

Im oberen Saal, wo ebenfalls getanzt wurde, wo aber die Kavaliere nur billigere Weinsorten zu bezahlen hatten und daher weniger erstklassig als in Erdgeschoß gekleidet waren, fiel den scharfen Augen des Inspektors sehr bald ein untersetzter Mann in schäbigem Smoking auf. Das kittgraue Gesicht und der kurzgeschorene Kopf verrieten den Zuchthäusler, der sich noch nicht lange der Freiheit erfreute.

„Ah – Tim Balny!“ meinte Everten gemütlich. „Mann, ihr habt Pech! Hier hätten wir euch nie gesucht.“

Tim gab seine Sache verloren, seufzte und sagte dann zerknirscht: „Mr. Everten, Sie kamen eine Stunde zu früh.“

„Weshalb?“

Tim lächelte. – „Raten Sie nur, weshalb?!“

Einer der Leute Evertens flüsterte jetzt seinem Vorgesetzten ins Ohr: „Alle zehn aus Glarnby Entsprungenen sind hier!“

Die Zuchthäusler ließen sich ohne Widerstand fesseln. Dann nahm Everten Tim Balny beiseite.

„Tim, ich werde für euch sorgen, wenn ihr mir beichtet, was Scampry mit euch zehn im Sinne hatte,“ sagte er vertraulich. „Scampry wird in dieser Stunde gleichfalls verhaftet. Ihr könnt also getrost reden.“

„Würde ich auch tun, Inspektor, wenn ich nur wüßte, worum es sich handelte. Scampry tat damit stets sehr geheimnisvoll – sehr. Nur eins scheint mir gewiß – wir sollten in dieser Nacht ein Schiff entern! Sie verstehen, Mr. Everten, ein Piratenstreich, wahrscheinlich hier im Hafen. Aber, das ist Tatsache und mehr weiß ich nicht.“

Brex stand dicht dabei und hörte alles mit an.

Vorhin auf dem Rückweg zum Polizeiamt hatte Everten ihm anvertraut, daß er jetzt seit Wochen einen sehr verantwortungsvollen Dienst hätte: Die Bewachung eines Schiffes, das eine wertvolle Ladung nach Neuyork bringen sollte! – Von dem U-Boot und den Goldbarren hatte er jedoch geschwiegen.

Brex und Everten hatten daher jetzt denselben Gedanken. Sie sahen sich an, nickten sich zu, und dann zog Everten den kleinen Philipp in eine Ecke.

„Mr. Brex, dieser Scampry und diese Zehn scheinen –“.

„– es auf ihr Schiff abgesehen zu haben,“ vollendete Brex hastig. „Und Scampry ist sicher Mitglied der Indra-Loge. Mithin steckt Ulminski dahinter.“

Everten krauste die Stirn. Dann lachte er kurz auf.

„Nein, Mr. Brex, das kann nicht sein. Im Vertrauen, das Schiff ist ein U-Boot, ein neues, wunderbares Fahrzeug, fünfzig Meter lang, Überwassergeschwindigkeit einundzwanzig Knoten, unter Wasser sechzehn bis achtzehn Knoten. Nein – an dieses Schiff wagt sich niemand heran. Wer sollte damit manövrieren können?!“

„Börtgen, Cesare Chivarri – und wie all die intelligenten Freunde Ulminskis heißen. Die können’s! Sie unterschätzen die Loge.“

Everten zuckte die Achseln. „Unmöglich! Das U-Boot wird an der Mersey Werft Tag und Nacht bewacht. – Suchen wir die Prinzessin!“ –

Heinz Römer irrte wie ein Verzweifelter ganz allein durch die Räume des gelben Hauses.

Nadja – seine Nadja – in diesem verrufenen Gebäude, in dieser Lasterhöhle!

Sein Herz krampfte sich zusammen in dem Gedanken, Nadja könnte hier das Opfer irgend eines reichen Wüstlings geworden sein. Er ahnte ja, und Brex und Fink waren derselben Ansicht, daß man Nadja ohne Wissen des Fürsten hierhin verschleppt hatte.

Die Detektivbeamten auf den Treppen und Fluren schauten ihm mitleidig nach, wenn er bei seinem planlosen Suchen an ihnen vorüber kam. Sein Herzensroman hatte sich unter ihnen schnell herumgesprochen.

Dann stieß er auf Brex.

„Denken Sie, Römer,“ sagte der Kleine überstürzt, „soeben ist die Meldung aus Goddorpt Castle gekommen, daß die Bande entflohen ist. Die Schloßruine brennt, und im Parke fand man –“.

„Nadja –?“

„Nein, lieber Römer – da fand man diesen Scampry, seinen Diener und seinen Koch in demselben Zustand, in dem Jane Wellesley und der alte Graf nach dem zuletzt hier eingetroffen Telegramm aufgefunden wurden, also: Geistesgestört!“

Heinz Römer hatte für all das nicht das geringste Interesse.

„Helfen Sie mir Nadja suchen!“ flehte er.

Dann gingen sie in die Kellerräume hinab. Dort war Römer noch nicht gewesen. –

Fink und Everten begannen indessen ganz systematisch das Haus vom Boden an zu durchforschen. Vier Beamte halfen ihnen.

Man ließ sich Zeit, entdeckte auch im zweiten Stock zwei kleine Geheimgemächer. Doch die waren leer.

So kamen sie schließlich auch an die Kellertür.

Der hier postierte Beamte meldete, daß Mr. Brex und Mr. Römer seit einer halben Stunde bereits dort unten seien, jeder mit einer Taschenlampe bewaffnet.

Fink stutzte.

„Eine halbe Stunde?!“ meinte er. „Mr. Everten, wenn da nur nichts passiert ist!“

Auch der Inspektor machte ein sehr bedenkliches Gesicht.

Man eilte die Treppe hinab.

Dumpfer, feuchter Modergeruch empfing sie. Weiße Pilzflächen glänzten von den Mauern; überall hingen Wassertropfen an den Wänden.

Nur leere Räume – nur kahle Mauern.

Unheimlich hallten die Schritte wieder. Beklemmend legte sich den Männern die schwere Luft auf die Brust.

Nirgends eine Spur von Brex und Römer.

Nirgends!

Man klopfte die Mauern ab. Sechs geübte Augenpaare glitten die Wände entlang.

Nichts – nichts!

Dabei waren alle Fenster eng vergittert und nur der eine Ausgang vorhanden.

Fink wurde nervös. Das fehlte noch, daß Brex und Römer hier verschwunden waren, wo jetzt auch Ulminski mit den seinen wieder das Weite gesucht hatte –!

Auch George Evertens stoische Ruhe geriet ins Wanken. Der Inspektor fluchte leise.

Nochmals wurde jeder Stein abgeklopft, selbst die Decke prüfte man.

Wieder nichts!

Fink und Everten schauten sich ratlos an.

„Eine nette Geschichte!“ brummte Fink.

Und im selben Moment irgendwoher ein Schrei – ein dumpfer Hilferuf.

Die Männer wurden zu Salzsäulen, lauschten.

Nichts mehr – nichts!

Minuten vergingen.

„Das war ein Weib – ein Schrei aus weiblicher Kehle,“ sagte Everten leise. Er wagte nicht, laut zu sprechen.

„Ein Hilferuf – Nadja!“ nickte der deutsche Kriminalkommissar.

Man stand in engem Kreise am Fuße der Treppe im Hauptgang des Kellers.

Man lauschte abermals.

Dann Everten zu zweien seiner Leute: „Holt die Pallinax!“

Vier Minuten später erschienen sie mit dem Weibe zwischen sich.

„Honoria Pallinax,“ sagte Everten drohend, „die Prinzessin ist hier! Wenn Sie uns das Versteck zeigen, verspreche ich Ihnen Straflosigkeit.“

Das Weib hob wie beschwörend die Arme empor. Der Schein so und so vieler Laternen lag auf ihrem heuchlerischen Antlitz.

„Bei Gott!“ rief sie. „Ich habe die Prinzessin nicht gesehen. Ich weiß von nichts!“

Im gleichen Augenblick derselbe Schrei.

Und Honoria Pallinax taumelte zurück.

„Die – die kleine Kammer,“ flüsterte sie und sank Everten bewußtlos in die Arme.

*

Im ersten Stock der Hafenkneipe ‚Zum Vater Nelson‘ ging es in dieser Nacht sehr lebhaft zu. Dort wohnte ja der Winkelkonsulent Jonathan Hendriport, und in dessen Räumen fanden sich jetzt nach und nach Ulminski und die übrigen aus Goddorpt Castle geflüchteten Mitglieder der Indra-Loge wieder zusammen.

Im ganzen waren hier gegen zwei Uhr morgens fünfundzwanzig Männer und Hendriports Gattin versammelt, die meisten Zugehörige des ‚Inneren Kreises‘.

Die anderen, die noch nichts von dem geplanten Anschlag auf den ‚Atlantic‘ ahnten, weihte der Meister jetzt mit wenigen Worten ein.

Die Rollen für den Überfall auf das U-Boot, der nun der veränderten Sachlage entsprechend sofort erfolgen mußte, waren längst verteilt.

Ulminski stand wie ein Fürst der Finsternis unter seinen Getreuen. Warnend erinnerte er nochmals an die Strafe, die Bonnar Scampry vorhin ereilt hatte.

Seine Augen ruhten nacheinander durchdringend auf dem Gesicht jedes einzelnen. Kein Blick wich dem seinen schuldbewußt aus.

„Dann – vorwärts!“ befahl er. „In einer Stunde muß das U-Boot unser sein! – Die Taucheranzüge liegen bereit, ebenso die Uniformen für die Schiffsoffiziere und Polizeibeamten –“. –

Gunnar Börtgen, Chivarri, Wellesley, Hendriport und fünf Mitglieder der Liverpooler Zweigloge begaben sich zu zweien und dreien zum Paal Dock hinab.

Dort lag ein großer Segelkutter, dort gingen sie an Bord.

Der spindelförmige, grüngrau gestrichene Leib des U-Bootes verschwamm mit den leichten Nebeln, die über dem Hafengebiet Liverpools lagerten, fast in eins.

Auf Deck des ‚Atlantic‘ schlenderten vier Wachen der Besatzung langsam auf und ab. An der Backbordreling nach dem Wasser zu hingen zehn elektrische Lampen und beleuchteten die Fluten bis zu fünfzehn Meter Entfernung tageshell.

Auf dem Bollwerk wieder patrouillierten vier von Evertens Beamten hin und her und verhinderten so jeden Annäherungsversuch vom Lande aus. Menschlicher Berechnung nach konnte niemand an das kostbare Schiff heran.

Ein Kutter, offenbar ein Fischerkahn, näherte sich mit schlappenden Segeln und warf fünfzig Meter von dem ‚Atlantic‘ entfernt Anker. Auf Deck des Seglers spielte jemand Ziehharmonika.

Die Wachen des U-Bootes lehnten sich auf die Reling und schauten nach dem nur undeutlich erkennbaren Kutter hinüber. Die Musik war eine kleine Abwechslung. Doch der Harmonikaspieler schien müde zu sein. Die Volkslieder verstummten, die Wachen begannen wieder das ihrer Meinung nach so zwecklose Auf und Ab. –

In der kleinen Kajüte des Kutters arbeiteten vier Luftpumpen. Vier Schläuche und vier Signalleinen liefen aus dem Kajütfenster ins Wasser hinab. Vier Mann in Taucheranzügen näherten sich auf dem Grunde des Mersey Flusses dem U-Boot.

Als sie es erreicht hatten, als sie mit hochgereckten Fingern den Stahlleib des ‚Atlantic‘ fühlten, hakten sie die Bleigewichte von den plumpen Schuhen los und schossen empor, schwammen oben im Schatten der Bordwand, schraubten die besonders eingerichteten Taucherhelme ab und ließen sie ins Wasser gleiten, entledigten sich auch der Taucheranzüge.

All das war an anderer Stelle mehrfach probiert worden. Die vier Leute waren auf alle diese Verrichtungen gedrillt.

Nun kam die Entscheidung, kam das Schwerste. –

Von Land, von der Werft her jetzt ein Trillerpfiff.

Dort hatten sich den vier Detektiven sechs Polizeibeamte in Uniform und drei wie Kapitäne gekleidete Männer genähert.

Der eine der Seeleute rief die vier Wachen zusammen.

„Ihr könnt gehen. Ihr werdet abgelöst,“ erklärte er bärbeißig. „Inspektor Everten braucht euch im gelben Hause der Courts. Verschwindet!“

Die Detektive sahen die uniformierten Kollegen, schöpften keinen Verdacht, grüßten und schritten davon.

Vier der ‚Polizisten‘ blieben auf dem Bollwerk. Die beiden anderen überschritten mit den drei Seeleuten die Laufplanke.

Die Bordwachen hörten den kurzen Trillerpfiff, sahen die Nahenden, blieben arglos. Es waren ja Polizeibeamte dabei.

Einer der Polizisten eilte etwas voran. Es war John Wellesley.

Er holte sich die vier Matrosen auf das Achterdeck.

„Leute,“ flüsterte er, „es soll ein Anschlag auf den ‚Atlantic‘ geplant sein. Wir sind zur Verstärkung herbeigeschickt worden –“.

Die drei Seeleuten und der zweite Polizist traten hinzu.

Und – über die Heckreling schwangen sich die Taucher.

Die Wachen starrten die vier nassen Gestalten verwundert an.

„Ebenfalls Beamte,“ flüsterte Wellesley.

Dann ein Wink.

Man packte blitzschnell zu. Harte Finger umkrallten Matrosenhälse. Chloroformgeruch duftete. Kurzes Ringen – Stöhnen – Stille. –

Die Matrosen wurden gefesselt und geknebelt. Wellesley führte die Seinen in die Kapitänskajüte, in die Kabinen der Schiffsoffiziere.

Schließlich ins Mannschaftslogis.

Überall dasselbe Spiel. Gewalt und List siegten! Die Indra-Loge war Herrin des U-Bootes.

 

33. Kapitel.

Der Schlammkanal.

Nadja war nach vorwärts getaumelt. Hinter ihr verschloß Ballomer die Hofpforte des gelben Hauses.

Dann zerrte er sie weiter über den dunklen Hof in das Stallgebäude. Sherry, die Dogge, trottete hinterdrein.

Im Stalle machte Ballomer Licht, nachdem er die Tür hinter sich verschlossen hatte. Der rötliche Schein der Petroleumlaterne zuckte auf, ward heller. Nadja, von stumpfer Gleichgültigkeit und Mutlosigkeit wie gelähmt, hatte sich auf ein umgestürztes Faß gesetzt und weinte still in sich hinein.

Ballomer räumte jetzt rasch von dem Fliesenboden des Stalles allerlei Gerümpel weg. Nachdem er so die Mitte des großen Raumes freigemacht hatte, kniete er nieder und stocherte mit einer dünnen Eisenstange in einer Ritze zwischen den Fliesen umher.

Da sah Nadja, wie sich ein quadratisches Stück des Bodens langsam senkte.

Ein Schacht und eine schmale eiserne Leiter wurden sichtbar.

„Klettern Sie voran!“ befahl der Diener barsch.

Nadja, bisher willenlose Sklavin, empörte dieser Ton. Sie wurde sich ihrer selbst bewußt. Das Herrenblut in ihren Adern wallte auf.

Sie sprang empor.

„Was wagen Sie!“ rief sie, und ihre Empörung wurde zu hochmütiger Verachtung. „Sie haben mir nichts zu befehlen!“

Ihre Hand glitt in die Tasche des seidenen Mantels. Dort steckte der winzige Revolver.

Ballomers höhnisches Kichern erstarb angesichts der blinkenden Waffe.

Augenblicklich änderte er seine Taktik.

„Prinzessin, der Meister ist zornig,“ sagte er. „Ich handle nach seinen Befehlen. Macht mir das Gehorchen nicht zu schwer. Der Meister wird euch in kurzem gegenüber stehen.“

Nadja Energie erlahmte schon wieder.

Der Vater – ihr Papascha! Ein Verbrecher! Und sie – sie seine Tochter! – War’s da ein Wunder, daß dieser Ballomer sich ihr gegenüber so viel herausnahm?!

Seufzend schob sie den Revolver in die Tasche zurück.

Wortlos kletterte sie die eisernen, feuchtkalten Sprossen hinab.

Unten lief ein enger niedriger Gang bis an die Südmauer des gelben Hauses – dorthin, wo dieses an das Nebengebäude sich anlehnte.

Und hier im Keller des Nachbargrundstücks war sehr geschickt ein winziges Gemach abgeteilt – eine kleine Kammer mit meterdicken Wänden, mit nur einem Zugang, einer doppelten Tür aus Eichenplanken.

Nur einen Tisch und eine Holzpritsche mit zwei Wolldecken gab es hier, dazu eine leere Flasche, in der eine fingerlange Kerze steckte. An der Wand der Pritsche gegenüber stand ein großer Schrank.

„Wartet hier, Prinzessin,“ sagte Ballomer scheinheilig. „Der Meister kommt sofort.“

Er zündete die Kerze an, nahm die Dogge bei der Leine und warf die Tür hinter sich zu.

Nadja war allein.

Die Kerze knisterte, flackerte. Ein Schauer ging Nadja über den Leib. Das Gefühl unendlicher Einsamkeit, völligen Verlassenseins, trieb ihr Tränen in die Augen.

Sie setzte sich auf die Pritsche, vergrub das Gesicht in beide Hände.

Und – hob den Kopf. Da war ihr plötzlich ein widerlicher Geruch in die Nase gedrungen.

Es roch hier nach Chemikalien – wie in einer Apotheke. Und – soeben war dieser Geruch noch nicht zu spüren gewesen.

Die Kerze knisterte andauernd, schickte einen dicken Qualmfaden empor.

Nadja starrte in die zuckende Flamme. Ob die Kerze diesen Geruch verbreitete? – Nadja stand auf, sog den Qualm ein wenig ein und – fühlte sich von jähem Schwindel gepackt.

Zitternd, gegen eine Ohnmacht ankämpfend, lehnte sie jetzt an der Wand. Eine furchtbare Ahnung stieg in ihr auf. Der Qualm der Kerze war ein Betäubungsmittel.

Rasch bließ sie das heimtückische Licht aus.

Tastete sich nach der Pritsche hin. Die Sinne schwanden ihr.

Und unter Frostschauern erwachte sie später.

Dunkelheit – Totenstille.

Nadjas Gedächtnis zeigte ihr die letzten Ereignisse: die Kerze, Ballomer, den Kerker.

Mit leisem Schrei schnellte sie hoch. Wahnsinnige Angst befiel sie. Sie schwankte vor Schwäche, taumelte, riß den Tisch um, stürzte – stürzte mit dem Kopf gegen die untere Türfüllung des Schrankes.

Ein Krach. Die Führung war nach innen herausgefallen, und Nadja lag mit dem Gesicht in dem alten, wurmstichigen Möbel.

Halb bewußtlos verhielt sie sich minutenlang regungslos. Bis – bis ein Plätschern, kaum hörbar, sie lauschen ließ – in den Schrank hinein.

Bis sie den faden, eklen Geruch fauligen Wassers immer deutlicher unterschied, dazu eisige, von unten heraufdringende Kälte.

Sie richtete sich halb auf, tastete mit den Händen umher. Und stellte so fest, daß der Schrank keinen Boden hatte, daß da ein Loch war mit glatten Rändern, ein Loch, dessen Tiefe mit den Armen nicht abzumessen war.

Sie beugte sich weiter in den Schrank hinein. Das Plätschern ward jetzt deutlicher.

Dann – ein neuer Schwindelanfall.

Und Nadja glitt nach vorn, verlor den Halt, fiel – fiel. Wasser spritzte auf.

Das Wasser umgab sie, trieb das Blut rascher zum Hirn.

Sie arbeitete sich empor in wilder Todesangst, stand aufrecht.

Finsternis – Entsetzen.

Das Wasser reichte ihr nur bis zu den Hüften. Als sie dies merkte, schwand die gehirnzerfressende Furcht, hier ertrinken zu müssen.

Ein kühler Luftzug strich über sie hin. ‚Dieser Kanal muß irgendwo im Freien münden!‘ belebte eine winzige Hoffnung das arme junge Weib.

Sie begann vorwärts zu schreiten.

Sie war noch keine vier Meter vorgedrungen, als ein Tier ihr ins Gesicht sprang – eine Ratte.

Nadja schrie gellend auf.

Ein Schrei – fast nicht mehr menschlich, überlaut.

Kraftlos lehnte sie an der Mauer des Kanals.

Finsternis, Gurgeln des Wassers – Entsetzen – jenes Entsetzen – das Haare zu bleichen vermag.

Nadja merkte, daß sich jemand watend ihr näherte.

Spürte jetzt eine Hand auf ihrer Schulter.

Und – wieder derselbe Schrei. Dann fiel sie vornüber – Philipp Brex an die Brust.

Eine Taschenlampe gleißte. Heinz Römer stolperte herbei.

„Nadja!“ – Er holte tief Atem.

Und riß die teure Last aus Brex’ Armen, küßte die kalten Lippen. Das war das Wiedersehen Romeos und Julias – in dem Schlammkanal unter dem gelben Hause, unter dem – Bordell!

*

Honoria Pallinax, die würdige Pensionsmutter des gelben Hauses lag bewußtlos an George Evertens Brust. Ihr Kopf war zur Seite gesunken. Dabei war die künstliche Haarpracht, diese graue tadellos gearbeitete Frauenperücke, etwas verrutscht – verschob sich jetzt immer mehr, da Kriminalkommissar Fink sie noch weiter zur Seite zog.

Denn – zwischen Perücke und dem nur von einem spärlichem Kranz von Haaren bedeckten Schädel der ehemaligen Zuchthäuslerin war ein durchfettetes Blatt Papier, eine Zeichnung mit blauen Strichen und Zahlen, sichtbar geworden.

Everten hielt das Weib fest an die Brust gedrückt. Seine Augen ruhten auf Finks Hand, der jetzt das Papier völlig aus seinem Versteck hervorzog.

Fink prüfte es.

Da war der Mersey Fluß. Da war die Mersey Werft. Und hier – hier – das sollte ein U-Boot vorstellen! –

Everten hatte mit Fink ebenfalls über Brex’ Verdacht, die Indra-Loge und die Zuchthäusler könnten es auf den ‚Atlantic‘ abgesehen haben, gesprochen.

Der Kommissar hatte jetzt seiner Überzeugung nach den untrüglichen Beweis für die Richtigkeit dieses Verdachts in den Händen.

„Mr. Everten,“ sagte er gepreßt und würgte die jäh in ihm aufsteigende Erregung hinab, „diese Skizze –“ – er hielt sie dem Beamten hin – „zeigt eine Werft und –“.

Everten hatte einen seltsam gurgelnden Laut ausgestoßen, hatte das Weib zu Boden gleiten lassen und Fink das Papier entrissen.

„Verdammt!“ – Sein Gesicht zog sich förmlich zusammen. „Es ist – ist – das Goldschiff!“

Honoria Pallinax kam zu sich, stützte sich auf die Hände, stierte auf die in ihrem Schoße liegende Perücke.

Everten rief, befahl. Zwei seiner Leute stellten das Weib aufrecht. Da sah sie die Zeichnung. Ihre Muskeln waren wie gelähmt vor Schreck. Ihr Unterkiefer klappte herab.

Im Laternenschein blinkten die goldenen Ersatzzähne im offenen Munde.

Und Evertens Hand fuhr ihr an die Schulter, krallte sich in den Spitzen, in der Seide fest.

„Was soll diese Zeichnung?“ zischte er. „Sprechen Sie! – Damit Sie’s gleich wissen, wir sind über die Indra-Loge gut orientiert. Scampry und andere sind verhaftet. Retten Sie Ihre Freiheit. Treten Sie als Kronzeugin auf, damit Sie straffrei bleiben!“

Das Weib glotzte den Inspektor verwirrt an.

Dann ein wimmernder, winselnder Laut. Ihre Widerstandskraft war gebrochen.

„Ich – ich will sagen, was ich weiß – alles!“ Die Angst vor dem Zuchthaus lag wie Grauen in ihrem Blick. „Von – von einer Loge – habe ich nie etwas gehört. Aber Doktor Scampry wollte das U-Boot kapern – mit Hilfe der Zuchthäusler. Er erzählte mir, daß auch ein Bekannter von ihm, der Fürst Ulminski, dasselbe plante. Er wollte ihm jedoch zuvorkommen, hatte ihm falsche Berichte über die Abfahrtzeit des ‚Atlantic‘ geschickt. Heute sollte das U-Boot um drei Uhr morgens genommen werden. Es waren vier Taucherausrüstungen –“.

Evertens Hand fiel von des Weibes Schulter.

„Das genügt!“ unterbrach er sie hastig. „Und – die kleine Kammer, die sie erwähnten – und Brex und Römer und die Prinzessin?“

Die Pallinax zitterte.

„Da – da der – der ganze Fußboden des Kellerverschlages ist eine – doppelte Falltür,“ winselte sie und zeigte nach rechts. „Darunter liegt einer der alten Kanäle. Die beiden Männer werden bei der Suche nach einer geheimen Tür den Verschluß gelöst haben und sind in den Kanal gefallen. Die Falltür schließt sich wieder von selbst –“.

„Ah – und dort werden auch wohl schon andere den Tod gefunden haben!“ Everten ballte die Fäuste. Er hätte das Weib niederschlagen mögen.

„Und – die Prinzessin?“ rief er dann.

Die Pallinax verriet auch dies, das Geheimnis des Stalles, des Kellerraumes im Nachbarhause!

„Fesselt sie!“ befahl der Inspektor. „Mister Fink, suchen Sie die drei. Ich muß zur Mersey Werft. Ich nehme zwölf Leute mit. Ihnen bleiben noch genug.“

Seine Trillerpfeife gellte oben im Flur.

Fink war mit vier Detektiven und dem Weibe im Keller zurückgeblieben.

Man ließ die Falltür herabklappen. Laternenlicht spiegelte sich im trüben Wasser des Schlammkanals.

Fink brüllte hinab: „Brex – hallo – Brex!“

Keine Antwort. –

Man stürmte auf den Hof, in den Stall. Einer der Detektive hörte an der Hofpforte das Heulen eines Hundes, öffnete.

Die Bulldogge Sherry trottete in den Hof heraus mit durchnagter Leine am Halsband, wandte sich zum Stall, wo Fink bereits auf der eisernen Leiter stand.

Dem kam ein Gedanke. Er streichelte den Hund, hob ihn empor, nahm ihn mit. Unten im Gang ließ er ihn wieder frei. Sherry lief, die Nase am Boden, weiter.

Man fand das Kellergemach, den Schrank mit der herausgeschlagenen Türfüllung, den umgestürzten Tisch.

Die Doggen winselte, verschwand im Schrank.

Wasser platschte auf. Und Sherry schwamm den Kanal entlang – der Prinzessin nach, die als erster Mensch sein Hundedasein durch Liebkosungen verschönt hatte und an der er daher mit der ganzen Hingabe seiner treuen Hundeseele hing. –

Brex watete voran.

Bald war der Kanal tiefer, bald wieder flacher. So ging es wohl zehn Minuten lang weiter.

Nadja war erwacht. Sie weinte vor Seligkeit.

„Heinz – Heinz, nie mehr verlasse ich ich dich!“

Er trug sie, und sie küßten sich immer wieder.

Dann machte Brex halt.

Da war ein verrostetes Gitter, Balkenwände. Und da draußen jenseits des Gitters frische Luft, eine große Wasserfläche, Schiffskonturen, leichte Nebelschwaden: Der Hafen von Liverpool.

Brex nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne, packte das Gitter, rüttelte, riß losgefaulte Schrauben ab, bog die Eisenstäbe zur Seite.

Noch anderthalb Meter Balkenwände. Und rechts ausgetretene Steinstufen – zum Bollwerk hinab.

Die Drei erklommen die Treppe. Sahen neben sich einen Riesendampfer auf Stapel, umgeben von Balkengewirr.

Und vor sich am Bollwerk ein Schiff mit einem Turm, eine riesige Stahlspindel.

Und – Polizeibeamte in Uniform dicht dabei.

„Gott sei Dank!“ sagte der kleine Philipp. „Wir sind gerettet!“

Er schritt auf die Beamten zu. Nadja und Heinz folgten Arm in Arm. Und noch jemand folgte. Sherry, die Bulldogge, triefend, prustend, mit dem kleinen Schwänzchen wedelnd.

John Wellesley, noch in Uniform der Hüter von Recht und Ordnung, hatte die drei erspäht. Die elektrischen Bogenlampen enthüllten ihm Philipp Brex’ dürre, unverkennbare Gestalt und der Prinzessin mädchenhafte Schlankheit.

Der ahnungslose Brex blieb vor Wellesley stehen: „Master, ich bin ein deutscher Kollege von Ihnen. Wir drei sind aus einer Lasterhöhle der Courts entflohen.“

John faßte an den Helm. „Sie sind völlig durchnäßt, Master. Die Lady dort auch. Kommen Sie bitte mit auf das U-Boot. Dort finden Sie alles!“

Sie blieben hinter ihm – gingen über das kahle Deck der Stahlspindel, wo die Reling bereits heruntergeklappt war, wo flinke Hände die Ketten lösten, die den ‚Atlantic‘ mit dem Bollwerk verbanden.

Folgten ihm hinab durch die große flache Achterluke in die Kajüte des Kapitäns – des Herrn des U-Bootes.

Und – standen Sergius Ulminski gegenüber, der am kleinen Schreibpult saß und ein vorhin aus Südamerika eingetroffenes Funktelegramm entzifferte, das die Station auf dem Turme von Goddorpt Castle gerade noch vor dem Brande empfangen hatte.

„Meister,“ sagte John Wellesley ernst, „der ‚Atlantic‘ hat drei weitere Fahrgäste erhalten.“

Nadja starrte den Vater an, klammerte sich fester an Heinz. Neben ihr hatte sich Sherry aufgepflanzt wie ein zweiter Beschützer.

Sie sagte: „Nun bleibe ich bei dir, Papascha! Denn ich habe Heinz wiedergefunden.“

Ulminski erhob sich. Sein strenges Gesicht wurde weich. Er dachte an sein eigenes Herz – an seine Liebe zu Lori – an das, was er verloren: Das zweite Liebesglück!

„Sei willkommen, Kind! Das Schicksal wollte es also, daß du mit nach Tamira kämest.“

Dann zu Brex: „Sie, Herr, sind mein Gefangener! Ich muß auch Sie mitnehmen. Sie sind gefährlich. Vielleicht werden Sie einst ein nützliches Mitglied des Reiches Tamira werden.“

Philipp Brex hörte plötzlich, daß die Motoren des U-Bootes zu arbeiten begannen.

„Ah – der ‚Atlantic‘ flieht!“ rief er.

Und ein furchtbarer Hieb gegen die Herzgrube warf John Wellesley gegen den Fürsten.

Brex schlug die Tür der Kajüte hinter sich zu.

Der Schlüssel steckte im Schloß. Er drehte ihn zweimal herum. In dem matt erleuchteten Gange war niemand zu sehen.

Er rannte – rannte nach der falschen Seite.

Hörte das Donnern von Fäusten gegen die Tür, die er versperrt hatte.

Dann von der Achterluke her laute Rufe.

Und schoß weiter – eine Eisenleiter hinab – wieder durch einen Gang, durch eine Tür in einen engen Raum, verkroch sich hinter Kisten und Koffern, die hier hoch aufgestapelt waren. –

George Everten und seine Leute rasten zum Bollwerk.

Stutzten.

Da lagen an einem Haufen Fässer gebundene Männer – zwölf – sechszehn – einer neben dem andern, alle noch im Chloroformrausch: Die Besatzung und die Wächter des Goldschiffes!

Und da drüben verschwand gerade in den dünnen Flußnebeln die stählerne Riesenspindel.

George Everten überlief ein Zittern. Sein Ruf, seine Stellung standen auf dem Spiel. Er drehte sich um, lief davon – den Werftgebäuden zu, lief in die erleuchteten Büros, wo die Nachtschicht der Zeichner arbeitete.

Sprang an den Fernsprecher.

„Hier Inspektor Everten. – Der ‚Atlantic‘ ist gekapert, fährt davon. Die Mersey Kanäle müssen gesperrt werden. Alle verfügbaren Kriegsschiffe zur Verfolgung –“. –

Im Büro des Hafenkommandanten von Liverpool hängte der Marineoffizier vom Nachtdienst den Telephonhörer an und stürzte in die Dienststube der Ordonnanzen.

Die Hafenkommandantur wurde lebendig. Fenster flammten auf, Autos sausten davon. –

Sechs im Hafen unter Dampf liegende Torpedozerstörer verließen zehn Minuten drauf ihre Ankerplätze.

Der ganze Hafen wurde nervös. Polizeibarkassen, Zollkutter jagten stromaufwärts der Irischen See zu.

Aber all das war umsonst.

Gunnar Börtgen, jetzt Kapitän des ‚Atlantic‘, ließ das schnelle Goldschiff den Vorsprung ausnutzen, ließ es ruhig über Wasser dahinschießen – dem breitesten der Kanäle zwischen den vorgelagerten Sandbänken zu, dem Crosby Kanal.

Erst dicht vor der Einfahrt tauchte der ‚Atlantic‘, doch nur so weit, daß der Kommandoturm etwas herausragte, daß man durch die Linsen noch beobachten konnte. –

George Evertens Befehle waren um eine Minute zu spät gekommen.

Als im Crosby Kanal die Stahlnetze, noch vom Kriege her im Gebrauch, versenkt wurden, um den stählernen Fisch zu fangen, befand der ‚Atlantic‘ sich bereits jenseits der Netzsperre, war – entkommen.

 

34. Kapitel.

Liebesqualen.

Lori Battner saß in einem Liegestuhl auf dem Achterdeck der Motoryacht ‚Abukir‘.

Neben ihr lehnte Horst Olden an der Reling. Jonny stand im Steuerhäuschen, summte ein altes Matrosenlied und spähte nach Land aus.

Die Sonne näherte sich bereits dem westlichen Horizont, hatte ihr strahlendes Gold in wundervolles Rot verwandelt und umspielte mit ihren zart rosigen Strahlen Loris ernstes, schönes Antlitz.

Man näherte sich der Nordküste Schottlands. Dort nach Osten zu ragten die finsteren Orkney Inseln über die langen Wogen des Atlantischen Ozeans hinaus.

Es war Abend geworden nach einem Tage stiller Qual. Denn für diese beiden Menschen, die sich hier an Bord der Yacht Lord Ruthergleens wieder zusammengefunden hatten, die sich liebten, deren Herzen zueinander drängten und die doch wußten, daß jedes Liebesglück für sie zerstört war, bedeutete die Abgeschiedenheit auf diesem schmucken, dahinsausenden Fahrzeug nichts als eine stetig sich steigernde Pein.

Das, was die seltsamen Umstände ihrer Wiedervereinigung an gegenseitigen Mitteilungen und Erklärungen erfordert hatte, war ja bereits nach der Abfahrt von Klein-Foula erledigt worden. Dann hatte Olden Loris Verband erneuert und sie nach einem kleinen Imbiß bewogen, in einer der beiden Miniaturkabinen sich auszuruhen.

Der Schlaf floh das arme blonde Weib. Neben dem Bett, auf dem sie, hald entkleidet, mit offenen Augen lag, fanden sich nur zu bald die Gespenster der jüngsten Vergangenheit ein: Die Erinnerung an die ersten Küsse, die sie mit Olden im Sarggemach des Hauses der Geheimnisse ausgetauscht hatte – diese köstliche Erinnerung – dann die andere, als Ulminski den Argwohn gegen Olden in ihrer Brust wachgerufen und sie nach dem Gebäude der Verbrecherloge gebracht hatte.

Dann das Unbegreiflichste, das Unfaßbarste, das je einem Weibe begegnet: Dirne – Dirne! Ihre Reinheit dem Fürsten geopfert, den sie nicht einmal liebte!

Und nun, nun wieder mit Horst Olden vereint auf den Planken der eleganten Yacht, vereint und doch auch wieder getrennt durch unüberschreitbare Abgründe.

Nur eine einzige schmale Brücke führte über diese Kluft, eine Lügenbrücke, etwas Unwahres, Unmögliches – ein Name, eine Bezeichnung für das Erstorbensein bräutlicher, begehrender Liebe, für eine andere Liebe: Der Name Bruder!

Wie hatte Lori sich damals im Häuschen des Schlossers Liedke gefreut, als Olden ihr erklärt hatte: ‚Ich will dein Bruder sein, will dich schützen, Schwesterlein!‘

Auch diese Freude war nur ein Sichselbstbelügen gewesen!

Bruder – Schwester! – Das war das Todesurteil der Zukunft, aller Hoffnungen gewesen.

Lori hatte dies nur zu bald begriffen. Sie wollte diese brüderliche Liebe nicht, sie wollte keine Freundschaft! Sie lechzte nach Zärtlichkeit, nach Oldens Lippen, nach seinen starken Armen!

Und – hatte sich vorhin so mit geradezu unnatürlicher Gewalt beherrschen müssen, als er ihr mit sanften Fingern einen neuen Verband um den Kopf schlang, als er ihr körperlich so nahe, als sein Atem sie wieder streifte wie auf Klein-Foula im dichten Nebel auf der Flucht vor Lord Ruthergleen und dem Detektiv Bricolm.

Hatte die Fingernägel ins Fleisch gepreßt, um nicht die Arme ihm um den Hals zu schlingen und zu betteln, zu flehen – um Liebe, die er ihr ja nie wieder schenken würde.

Vielleicht hatte er in ihren Augen dieses stumme Flehen gelesen.

Er war plötzlich so erzwungen heiter geworden, hatte rasch die Kajüte verlassen, hatte Lori mitgenommen zum Steuerhäuschen, zum alten Jonny – damit sie nicht mehr allein sein sollte.

Qual – Qual war diese enge Gemeinschaft hier an Bord.

Qual und Reue, Hadern mit dem Geschick, Verwünschungen jener Stunde, als des Fürsten dämonische Seelenbeherrschung auch ihre Sinne entflammt hatte. –

Lori hatte sich wieder erhoben. Sie sah ein, daß es für sie keinen erquickenden Schlummer geben würde. Müde, zerschlagen, seelisch wie gebrochen setzte sie sich in den kleinen Korbsessel. –

Es war die Kabine Lord Ruthergleens, in der sie sich befand.

Da war ein Schränkchen mit vielen Fächern.

Da war ein Fach, die Bordapotheke!

Lori dachte: ‚Vielleicht gibt es dort ein Mittel, das dir Vergessen bringt!‘ Und zog das Fach heraus, fand Fläschchen und Schächtelchen, fand eins, darauf stand: Morphium!

Zwölf Pulver waren’s in blendend zarten Papierhüllen.

Lori hielt den Tod in den Händen. Sie wußte, diese zwölf Pulver genügten! Dann schlummerte man schmerzlos in die Ewigkeit hinüber. Dann waren Selbstvorwürfe, Reue, heiße Wünsche – alles war dann vorüber! –

Der Tod lockte.

Lori saß da, das Schächtelchen in der Hand.

Ganz still saß sie da.

Die Yacht tanzte über die Wogen hin. Wellenkämme schäumten an dem runden Fenster vorbei.

Lori kämpfte mit dem letzten schwachen Hoffnungsfünkchen, daß Horst Olden eines Tages sie doch an seine Brust ziehen und alles vergessen, verzeihen würde!

Unsinnige Hoffnung! Nie würde dieser Tag kommen – nie – nie! –

Sie stand auf und füllte ein Glas mit Wasser. Schüttete das erste Pulver hinein.

Oben an Deck Oldens Stimme, dann Jonnys Lachen.

Lori nahm das zweite Pulver, wollte die Hülle auseinander falten.

Sank in den Stuhl zurück, stellte das Glas auf das Tischchen.

Schluchzte. „Ich kann nicht – ich kann nicht! Die Hoffnung läßt sich nicht morden! Ich hoffe – hoffe! Und mit diesem Hoffen im törichten Herzen will ich weiterleben! Vielleicht beschert Gott mir eine Stunde, wo ich mich für Horst opfern kann – vielleicht! Das wäre ein wundervolles Ende!“

So trank sie nur das eine Pulver.

So schlief sie ein, erwachte erst gegen drei Uhr nachmittags. –

Olden empfing sie an Deck mit einem harmlos scheinenden Lächeln. „Schwesterlein, wie blühend du aussiehst!“

Und da begann die Qual von neuem.

Nun stand er neben ihr an der Reling.

„Du könntest mir von deinen Jugendjahren, deinem Vater berichten, Lori,“ bat er und vermied es, ihren Augen zu begegnen.

Loris toter Blick ruhte auf den dahinschießenden weißen Wogenkämmen.

Sie begann zu sprechen – von dem kleinen Dorfe Seskowzo an der westpreußischen Grenze, wo der Vater eine Schlosserei besessen.

Die Mutter hatte sie nie gekannt. Selten nur, daß der Vater von ihr etwas erzählte. Er mußte sie sehr geliebt haben. Sie war bei Loris Geburt gestorben.

Oft kam der alte Fürst Kasimir Jussugoff von drüben, aus dem russischen Polen herüber. Der Vater war so eine Art Vertrauter und Bevollmächtigter des Fürsten gewesen, unternahm für ihn Reisen, kaufte für ihn landwirtschaftliche Maschinen und anderes.

Lori besann sich, daß Fürst Kasimir wiederholt von seinem Bruder gesprochen hatte, mit dem er seit langem zerfallen war.

„Das ist Fürst Alexei Jussugoff, mein Auftraggeber,“ warf Olden ein. „Er schickte mich auf die Suche nach den fünfzig Diamanten des Älteren, mich, den bekannten Detektiv. Ich fuhr nach Polen hinein, fand das Schloß Jussugoff zerstört, stellte fest, daß der Fürst Kasimir 1919 von aufrührerischen Bauern erschlagen worden und das Schloß niedergebrannt war. Ich blieb im Dorfe Jussugowo zwei Monate, horchte die Leute aus, hörte, daß Fürst Alexei mit einem gewissen Albert Battner drüben in Westpreußen befreundet gewesen und noch am Tage vor seinem Tode zu ihm gefahren sei. So kam ich euch auf die Spur, Lori. Damals hattet ihr das Dorf Seskowzo schon vor einem Jahr verlassen. Niemand wußte, wohin ihr euch gewandt hattet. Nur eins behaupteten die Bauern dort: Der Schlosser und Schmied Albert Battner sei wahrscheinlich ein vornehmer Herr gewesen, und der Fürst Alexei müßte dies gewußt haben, denn sonst wäre er wohl nicht so und so oft Arm in Arm mit dem Schlosser die Dorfstraße entlang gegangen. –

Und dann fand ich dort auch den Nachtwächter des Dorfes. Der erzählte mir, daß Fürst Alexei zum letzten Male nachts in Seskowzo bei Battner gewesen. Der Wächter hatte aus Neugier durch eine Ritze der Fenstervorhänge der Schlosserei gespäht und gesehen, daß der Fürst dem Battner mehrere Bündel Papier und einen schwarzen Kasten aushändigte. –

Ich aber, Lori, wußte wieder von meinem Auftraggeber, daß die fünfzig Jussugoff-Diamanten in solch einem Kästchen aufbewahrt wurden. So suchte ich denn nach euch, bis ich euch in Berlin in der Gudrunstraße Nummer 20 in der Mansarde in bescheidensten Verhältnissen lebend fand. Da wurde ich als Stuart Jameson Mieter bei der Rechnungsrätin Prutz. Und dann kam jener Abend, als du von der Baronin Rabinski heimkehrtest und den Vater sterbend antrafst, dann schlich ich in eure kleine Wohnung hinauf und durchwühlte die Ofenasche, entdeckte Reste verbrannter Papiere –“.

Er schwieg eine Weile.

„Lori,“ er beugte sich etwas zu ihr hinab und schaute sie an, „Lori, diese Papierreste habe ich stets bei mir getragen. Erst jetzt hier auf der Yacht fand ich die Zeit, sie genauer zu prüfen. Ich habe dir seltsame Eröffnungen zu machen, Lori. Dein Vater war – ein Graf Brucksal, war der ältere Bruder jenes Grafen Oskar, der ebenfalls im Hause der Geheimnisse wohnte. Graf Oskar, das geht aus den Resten einer Niederschrift deines Vaters hervor, hat ihn in eine Irrenanstalt bringen lassen. Von dort entfloh er. Der Leiter der Anstalt verheimlichte dies und teilte dem Grafen Oskar mit, der Kranke, der ja niemals krank gewesen, sei gestorben. Dein Vater, menschenscheu und verbittert, wurde Schlosser, ließ sich in Seskowzo nieder – mit seiner jungen Gattin, der Tochter eines kleinen Beamten aus Thorn. Du ist eine Gräfin Brucksal, Lori –“.

Lori lächelte bitter.

Gräfin –! Wie gleichgültig ihr all das war!

„Anderes noch deckten die Papierreste auf,“ fuhr Olden fort. „Fürst Alexei hatte einst mit der Tänzerin Xenia Warbska, der späteren Baronin Rabinski, eine Liebelei. Die Tänzerin gebar einen Knaben, der dann zu einem Ehepaar Römer in Pflege gegeben wurde. Dieser uneheliche Sohn des Fürsten Alexei Jussugoff ist Heinz Römer, der Geiger –“.

Lori blieb stumm. All das glitt an ihren Ohren eindruckslos vorüber.

„Unter den verbrannten Papieren aber war ein Blatt aus Asbest – unverbrennbar,“ fügte Olden hinzu. „Ein Testament des Fürsten Alexei, in dem er Heinz Römer zu seinem Universalerben ernennt. Mithin gehören die Diamanten Heinz Römer, Lori, dieselben Diamanten, denen ich nachjagte –“.

Loris Blicke glitten wieder über das endlose Meer hin. Was gingen sie die Geschicke anderer an?! Hatte sie an dem eigenen nicht genug zu tragen?!

Dann aber wurden ihre Augen klarer, heller.

Da war soeben über den weißen Wogenkämmen ein rundes Etwas aufgetaucht – eine flache Kuppel.

Hob sich höher und höher heraus.

„Ein U-Boot!“ rief Lori. „Horst – ein U-Boot!“

Olden drehte sich um. Ja – es war der Turm eines Unterseebootes, das emportauchte.

Auch Jonny rief jetzt: „Master Olden – ein Stahlfisch!“ –

Olden ahnte noch nichts von den Vorgängen in Liverpool, nichts von dem Goldschiffe. –

Das U-Boot nahte. Die Turmluke öffnete sich. Ein Mann erschien, winkte mit einer Flagge.

*

„Eingeschlossen!“ brüllte John Wellesley, der trotz des Boxhiebes des kleinen Philipp sich sofort wieder vorgeschnellt hatte und am Türdrücker rüttelte.

Er trommelte mit den Fäusten gegen das Holz, er brüllte noch lauter: „Laßt ihn nicht entweichen! Aufhalten – aufhalten!“

Ulminski blieb ruhig.

„Mag er doch entfliehen, Wellesley! Dann sind wir ihn los!“

Die Tür ging auf. Drei der Brüder standen im Gange.

Wellesley fragte nach Brex.

Niemand hatte ihn bemerkt. Man suchte, man forschte die Leute aus, die an Deck zu tun hatten.

Gunnar Börtgen meinte: „Er mag an Land geflüchtet sein. Wir hatten anderes vor.“

Wellesley nahm die Sache jetzt nicht mehr so ernst. Der Fürst hatte schließlich recht. Mochte Brex entwischen!

Immerhin wurde noch das ganze U-Boot durchsucht, als es bereits den Hafen entlang fuhr.

Von Brex keine Spur. – Chivarri lachte: „Der Mann wird sich gehütet haben, an Bord zu bleiben!“

So ward Philipp Brex vergessen – derselbe Brex, der im untersten Schiffsraum hinter den Goldkisten steckte, die er um und über sich zu kunstvollem Bau aufgeschichtet hatte. –

Sergius Ulminski war mit Nadja und Heinz Römer in der Kajüte allein geblieben.

Zum ersten Male bekam er heute den Geliebten seines Kindes zu Gesicht, zum ersten Male den Mann, der Nadja ihm geraubt hatte. Bis dahin war seine Tochter nur sein gewesen – sein Alles, sein Einziges! Und dieser schlanke Heinz Römer mit den Schwärmeraugen hatte den Vater aus dem Herzen des Kindes verdrängt.

Trotzdem fühlte Ulminski in seiner Seele keinerlei Bitterkeit gegen Nadjas Herzenserkorenen.

Nein – der Fürst konnte, selbst ein Lebensweiser, alles verstehen und alles verzeihen, am meisten das, was aus Liebe geschah.

Sein Blick forschte still in Heinz Römers hübschem, offenem Antlitz.

Dann fragte er mit leichter Rührung: „Sie lieben Nadja. Wie denken Sie sich zu mir zu stellen? Sie wissen, was ich bin? Für die Welt ein Verbrecher!“

Heinz Römer zog Nadja fester an sich. „Ja – ich liebe Nadja! Ich bitte Sie selbst über uns zu bestimmen.“

„Da müßte ich erst wissen, ob Sie zu denen zu rechnen sind, die mir nachstellen,“ erklärte Ulminski ernst.

„Ich habe kein Recht, Ihre Handlungen so oder so zu kritisieren, Durchlaucht. Für mich sind Sie Nadjas Vater. Ich bin nicht Ihr Feind. Aber – auch Ihr Freund könnte ich nicht sein. Sie sind mir unbegreiflich. Wie ein Mann Ihrer Herkunft und Bildung sich zum Führer einer Verbrecherschar –“.

„Halt!“ unterbrach Ulminski ihn da. „Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, Ihnen und meinem Kinde offen Aufschluß über meine Pläne zu geben. – Setzt euch!“ Er deutete auf das Wandsofa. „So – nun hört mich an: – Nadja weiß, daß wir aus unserer Heimat im Kaukasus fliehen mußten. Meinen Vätern hatten dort unermeßliche Ländereien und ein Schloß wie eine kleine Stadt gehört. Der Weltkrieg und die Umwälzungen, die er zur Folge hatte, zwangen auch mich, die Heimat zu verlassen. Ich war dort in Wahrheit ein Fürst gewesen, ich hatte über Tausende regiert, hatte ihnen die Segnungen wahrer Kultur erschlossen, hatte stinkende Steinhütten in wohnliche Häuser verwandelt. Aber der Freiheitsrausch des russischen Volkes, entstanden durch jahrelange Knechtschaft, brandete auch bis in die Berge des Kaukasus hinauf. Sendboten erschienen in unseren Dörfern, predigten Freiheit und Haß gegen alle Besitzenden. Nichts wird schneller vergessen als Wohltaten. So vergaßen sie, denen ich Gutes getan, auch all das, was sie mir verdankten. Wenige nur blieben mir treu, seltsamerweise gerade die, denen man Schlechtes nachsagte – die Verbrecher. Mit ihrer Hilfe entkam ich. Ich gelangte nach Berlin –“.

Er schwieg. Börtgen erschien und meldete, daß der ‚Atlantic‘ sofort tauchen würde.

Dann ging er wieder.

 

35. Kapitel.

Brex im Golde.

Der Fürst fuhr fort:

„Ein Zufall ließ mich in Berlin mit dem Schiffsingenieur Gunnar Börtgen wieder zusammen treffen. Ich kannte ihn seit Jahren. Ich hatte weite Reisen gemacht, war in der ganzen Welt zu Hause. Schon vorher hatte ich durch die Baronin Rabinski, deren Gatte ein internationaler Abenteurer war und bald darauf starb, erfahren, daß ihr Mann eine einsame Insel im Stillen Ozean von der Regierung Chiles, die sie als ihr Eigentum betrachtete, gekauft hatte, da er deren Bodenschätze ausbeuten wollte. Baron Rabinski vertraute mir dann an, daß diese Insel, Tamira mit Namen, durch ein sogenanntes Seebeben, das heißt ein Erdbeben unter dem Ozean, beträchtlich vergrößert worden sei. Durch das Beben waren weite Strecken des Meeresbodens gehoben worden und hatten Tamira, das außerhalb jeder Dampferlinie liegt, um das Zwanzigfache ausgedehnt.

Kurz – ich ließ durch Börtgen, der als Käufer auftrat, die Insel von dem Baron Rabinski erwerben und beschloß, dort einen – neuen Staat ins Leben zu rufen, eine Art Verbrecherkolonie.

Die Erfahrungen, die ich in meiner Heimat mit dem sogenannten Auswurf der Menschheit gemacht hatte, ließen mich hoffen, aus diesen Elenden wieder nützliche Mitglieder einer Gemeinschaft heranziehen zu können.

Da mein Vermögen jedoch zur Verwirklichung dieser Pläne nicht hinreichte, wollte ich mir das nötige Geld auf gewaltsame Weise beschaffen. So wurde ich – der Meister der Indra-Loge. Wir haben in anderthalb Jahren eine Riesenbeute zusammengerafft. Wir stahlen nur dort, wo Überfluß vorhanden, stahlen besonders gern da, wo der Reichtum auf unredliche Weise erworben. Kriegsgewinnler aller Länder, Schwindelbankiers, betrügerische Juweliere und Schieber aller Art waren unsere Opfer.

Unsere Zweiglogen in Liverpool, Neuyork, Pernambuco und Bombay arbeiteten wie wir. In meiner Hand liefen alle Fäden der großen Organisation zusammen.

Dann meldete die Liverpooler Zweigloge, daß von dort ein neues U-Boot mit einer riesigen Goldladung nach Neuyork abgehen sollte. Ich rechnete aus, daß diese zehn Millionen Pfund Sterling in Goldbarren genügen würden, meine Gründerpläne zu finanzieren.

Aber zu plötzlich mußten wir von Berlin fliehen. Ich ließ dort mit das Teuerste zurück, was ich besitze: die Leiche meiner Frau!

Ich, der die Liebe als Höchstes ansieht, kam durch Liebe in Gefahr, durch dich, meine Nadja, durch deine Liebe zu Heinz Römer!

Wir entkamen. Wir haben das U-Boot gekapert, fahren jetzt nach Tamira – nach meinem neuen Reiche!“

Er richtete sich höher auf. Hinter den Gläsern der Brille blitzten die großen, bezwingenden Augen.

„Tamira wird mein Reich heißen! Dort werde ich wieder ein Fürst sein! Schon sind Dutzende von Dampfern bereit, mit ihren Ladungen dorthin abzugehen: Baumaterial, Maschinen, zerlegbaren Häusern, Instrumenten, Tieren, Getreide, Waffen. Hundert werden folgen! Chinesische und indische Kulis, an die achttausend, sind angeworben. Wir alle werden dort arbeiten, von früh bis spät, dort in Tamira! Wir alle werden Brüder sein! Fürst Ulminski wird sterben. Ein einfacher Armenier namens Sergius Ullanoff ist Herr der Insel – ich! – Das ist mein Werk, Heinz und Nadja – das!“

Heinz Römer kam sich in all seiner Unbedeutendheit wie ein Zwerg diesem genialen, gewissenlosen Manne gegenüber vor.

Auch er empfand, was alle bisher empfunden, die den Fürsten kennengelernt: die Macht der Persönlichkeit!

Er fühlte, daß Ulminski auf eine Antwort wartete, auf irgend eine Äußerung.

Und so sprach er das aus, was seine ehrliche Überzeugung war: „Schade um all Ihre Fähigkeiten, Durchlaucht! Ich fürchte, die Enttäuschungen werden nicht ausbleiben! – Aber – wenn Ihre ganze Denkungsart mir auch fremd ist, Sie wollen das Gute! Und deshalb bitte ich Sie jetzt auch, seien Sie mir Vater, wie Sie es Nadja sind!“

Ulminski lächelte glücklich. Dieser starke Mann hatte Tränen in den Augen.

„Meine Kinder – meine Kinder!“ flüsterte er.

Nadja flog ihm an die Brust. „Papascha – Papascha, wir haben dich lieb!“

Ulminski umarmte dann auch Heinz Römer, küßte ihn, sagte innig: „Mein Sohn, ich bin Fürst von Tamira! Dieses Schiff gehört jetzt mir. Und hier will ich als erste Handlung, als Herr Tamiras, euch beide ehelich verbinden. – Wartet, ich hole nur die Trauzeugen, Chivarri, Wellesley und Doktor Grupp. Börtgen als Kommandant des ‚Atlantic‘ ist ja leider nicht abkömmlich.“ –

Gerade als das U-Boot die Irische See erreicht hatte, fügte Fürst Ulminski die Hände der Liebenden zusammen.

Ein Teil der Besatzung wohnte als Zuschauer der kurzen Feier bei.

Dann begaben Heinz und Nadja sich in die kleine Kajüte, die man ihnen eingeräumt hatte. Sherry nahmen sie mit sich in ihr winziges Brautgemach.

Hier sanken sie sich wortlos in die Arme.

Nadja schluchzte vor Glück. Und doch, ihr war so seltsam bang zumute – so, als drohte ihnen irgend ein fernes Verhängnis! –

Oben im Kommandoturm aber sagte Ulminski strahlend zu Gunnar Börtgen: „Ein Goldschiff – ein Hochzeitsschiff! Das ist eine gute Vorbedeutung!“

Der blonde Däne nickte: „Hoffen wir es! Obwohl Scamprys Verrat mir sehr zu denken gegeben hat! Menschen sind wankelmütig, Meister!“

Ulminski kniff die Lippen zusammen. „Wozu verderben Sie mir die Freude dieser Stunde, Börtgen?“ meinte er leise und verließ den Turm. –

Zu derselben Stunde etwa fand im Gebäude der Hafenkommandantur bei dem Admiral Sir Connington eine große Beratung statt, deren Gegenstand die Entführung des ‚Atlantic‘ bildete.

Auch der deutsche Kriminalkommissar Fink war zu dieser Besprechung hinzugezogen worden.

Nachdem Inspektor Everten die letzten Vorgänge im gelben Hause der Courts geschildert und betont hatte, daß Honoria Pallinax offenbar nichts über die Loge wüßte, verlas der Admiral eine Funkspruchdepesche, die von London aus als Rundtelegramm an alle Hafenkommandanturen weitergegeben war:

„Insel Klein-Foula.

Habe hier geheime Funkstation entdeckt. Deutscher Privatdetektiv Horst Olden mit meiner Yacht ‚Abukir‘ zusammen mit einer Miß Lori Battner und Bootsmann Jonny infolge Irrtums über gegenseitige Absichten entflohen. Olden und die Miß wurden hier von Dreidecker mit zahlreichen Insassen abgesetzt, offenbar Verbrechern. Funkstation fraglos diesen Verbrechern gehörig. Drei Funktelegraphisten der Bande hier vorgefunden, jetzt tot. Bitte auf Dreidecker zu fahnden und Olden aufzuklären. Meine Yacht bitte hierhin zurück. – Soeben trifft Chiffredepesche der Bande ein. Lautet: ‚Geglückt! Holen Euch von dort ab. Station zerstören. Alle Anzeichen Eurer Anwesenheit beseitigen. Der Meister.‘

Diese Depesche, vom Anführer der Bande fraglos, hat bei mir Entschluß bewirkt, zu versuchen, die Leute hier festzuhalten. Habe die Londoner Privatdetektive Robbin und Bricolm bei mir. Bitte sofort durch Flugzeuge mir Hilfe zu senden. – Lord Ernest Ruthergleen.“

Die Londoner Admiralität hatte dieser Runddepesche ihrerseits hinzu gefügt:

‚Yacht ‚Abukir‘ bisher nicht gemeldet. Olden ist bei Eintreffen zu vernehmen. Hilfe nach Klein-Foula unterwegs.‘ –

Die Mienen der Anwesenden hellten sich auf. Admiral Connington nickte Everten aufmunternd zu.

„Sie sehen, Mr. Everten, daß eine Reihe besonderer Zufälle uns die Hoffnung gibt, den ‚Atlantic‘ bei Klein-Foula abzufangen,“ sagte er mit grimmem Lächeln. „Ruthergleen ist ganz der Mann dazu, es mit diesen Piraten aufzunehmen.“

Der Inspektor erhob sich rasch. „Wenn Sie gestatten, Sir, will auch ich noch nach Klein-Foula mich begeben. Der ‚Atlantic‘ kann dort vor heute abend nicht eintreffen. Es ist jetzt ein halb acht morgens. In anderthalb Stunden kann ein Flugzeug bereit sein. Bis Klein-Foula dürfte man acht Stunden Fahrtdauer rechnen –“.

„Sieben höchstens,“ verbesserte der Admiral.

„Also dann wäre ich bereits nachmittags dort. Ich nehme vier Beamte und den deutschen Kollegen Fink mit –“.

Auch Fink erhob sich. Der Admiral war einverstanden. Sein Adjutant telephonierte sofort nach der Marineflugstation. Die Antwort der Station lautete: ‚Sämtliche Flugzeuge bis auf eins suchen das U-Boot. Das hier verbliebene ist in vierzig Minuten startbereit.‘

Fink und Everten verließen die Kommandantur.

„Alles klappt tadellos!“ meinte der Inspektor strahlend. „Ein Mißerfolg ist ausgeschlossen. Wir kriegen sie, Mr. Fink.“

Auch der Kommissar war nun wieder davon überzeugt.

Um halb neun vormittags verließ das Wasserflugzeug L 18 den Hafen von Liverpool in nördlicher Richtung.

*

Philipp Brex fror in seinen nassen, schlammigen, stinkenden Kleidern in dem Versteck hinter den Goldbarrenkisten sehr bald derart, daß ihm die Zähne klapperten.

Nachdem die Gefahr einer Entdeckung bei der freilich recht oberflächlichen Durchsuchung des U-Bootes vorüber war – Brex hatte mit jagenden Pulsen diese drei langen Minuten zugebracht, als zwei Leute den Raum betraten und lediglich hinter den Kofferstapeln geschaut hatten, wobei der eine noch eine Bemerkung über den Inhalt der Holzkisten machte – wagte der kleine Philipp sich aus seinem kunstvollem Bau hervor, indem er zwei der Kisten, die dicht an der Wand standen und die er schon als Schlupfloch vorbereitet hatte, beiseite rückte und dann seine Taschenlampe einschaltete.

So sah er denn, daß die Tür der länglichen Kammer ins Schloß gedrückt war und daß die Koffer leicht zu öffnen waren.

Er hatte den einen angehoben. Das leichte Gewicht ließ ihn darin Kleidungsstücke vermuten. Kurz entschlossen verschwand er damit hinter dem Kistenberg, der durch Latten derartig abgestützt war, daß er nicht ins Rutschen kommen konnte, falls das Boot sich einmal allzu sehr überlegte.

Er brach die Schlösser auf. Damenwäsche und zwei seidene Schlafanzüge bildeten den Inhalt. Der dürre Philipp lächelte vergnügt. Im Nu hatte er seine nassen Sachen abgestreift, schlüpfte in ein langes Damennachthemd und zog beide Schlafanzüge übereinander an.

Seide wärmt, Brex fühlte sich wie neugeboren. Sein Unternehmungsgeist erwachte. Hier unten blieb alles still. Niemand schien den untersten Schiffsraum zu betreten.

Brex wollte so etwas auf Entdeckungsreisen gehen. Wenn man ihn erwischte, was lag daran! Er mußte ja ohnedies damit rechnen, daß er sich diesen Piraten freiwillig würde ausliefern müssen, da er es hier ohne Wasser und Speise keine zwei Tage aushalten konnte. Anderseits bestand die Möglichkeit, daß er in der Nähe einen Proviantraum fand, den er heimlich plündern könnte. Jedenfalls, man mußte alles versuchen, die Freiheit sich zu bewahren! – Und Philipp Brex war ganz der Mann danach, für seine Freiheit allerlei zu wagen.

Er öffnete die leichte Metalltür. Sie war aus Aluminium gefertigt und hatte drei Patentschlösser. Doch keines der Schlösser war mit einem Schlüssel versehen. Brex wußte auch, weshalb. Die Leute der Indra-Loge brauchten die Goldschätze voreinander nicht unter Verschluß zu halten!

Der Gang draußen, schmal und niedrig, war dunkel. Phillips Lampe glühte nur noch schwach.

Da war gleich linker Hand eine zweite Tür. Er schaute hinein. Ein Baderaum!

‚Vortrefflich!‘ dachte Philipp.

Und weiter fand er zwei Materialkammern, einen leeren Verschlag, den großen Süßwassertank und an der fünften Tür ein Schild: Proviantraum 2.

Auch unverschlossen, bis oben gefüllt.

Brex triumphierte. Baderaum, Süßwasser, Proviant! – Was wollte er mehr!

Beladen mit drei Büchsen Hartzwieback und zwei Büchsen Fleisch kehrte er in sein Versteck zurück.

Während er im Dunkeln aß, überlegte er, wie er das U-Boot zwingen könnte, die Unterwasserfahrt aufzugeben und aufzutauchen. Wenn der ‚Atlantic‘ infolge irgend eines Maschinenschadens über Wasser fahren mußte, würden die Verfolger ihn schon einkreisen. Diese Jagd würde ja fraglos in ganz großzügiger Weise betrieben werden.

Philipp Brex sann und sann. Es war seine Pflicht, diesen Piraten das Entweichen zu erschweren. Wenn es ihm gelang, Ulminski und dessen Genossen den Verfolgern in die Hände zu spielen, würde die Geldbelohnung sicher nicht gering sein. Und Brex war ein armer Teufel.

Wenn er nur besser mit der Einrichtung eines U-Bootes vertraut gewesen wäre! Aber was er davon wußte, war recht gering.

Außerdem bestand ja noch die große Gefahr, daß er den ‚Atlantic‘ durch einen allzu schweren Maschinendefekt völlig manövrierunfähig machte, daß das U-Boot sank und alle Insassen auf dem Meeresoden jämmerlich erstickten.

Die Sache wollte sehr gründlich überlegt sein – sehr!

Der kleine Brex wurde jetzt nach dem Essen müde und schlief im Sitzen ein. Das Hinlegen gestattete die Enge des Raumes nicht. – Als er erwachte, stand seine Uhr auf Zwei. Es mußte Nachmittag sein. Länger als sieben Stunden hatte er bestimmt nicht geschlafen.

Und abermals sann er und sann, kaute Zwieback dabei und schlüpfte dann in den Waschraum. –

Gunnar Börtgen stand im Kommandoturm neben dem Italiener Chivarri, der während des Krieges erster Maschinist auf einem italienischen U-Boot gewesen.

„Wir sind dicht vor dem Pentland Firth zwischen der schottischen Nordküste und den Orkney Inseln,“ sagte Börtgen in bester Laune. „In zwei Stunden wird es dunkel. Dann tauchen wir auf.“

Chivarri betrachtete das Bild der Meeresoberfläche, das der Spiegel des herausgeschobenen Sehrohres zeigte.

„Von Norden her nähert sich ein kleines Fahrzeug,“ meinte er. „Im übrigen nur drei Segler, die ungefährlich sind.“

Börtgen horchte auf. Vom Maschinenraum kam ein Klingelzeichen.

Er beugte sich über das Telephon. „Hier Kommandoturm! – Was gibt’s?“

„Die Schraubenwellen haben sich heiß gelaufen. In der dritten Schmierbuchse fand ich Sand –“.

„Sand?! Unmöglich!“

„Es ist so. Wir müssen nach oben. Es hilft nichts.“

Börtgens Stirn lag in Falten. Er wandte sich an Chivarri: „Begreifen Sie das?! Sand in der Schmierbuchse?!“

„Es kann eine Niederträchtigkeit eines Mannes der früheren Besatzung vorliegen, Börtgen. Von den Unsrigen wird doch niemand an solche Streiche denken.“

„Sie mögen recht haben.“ Aber Börtgen blieb trotzdem beunruhigt.

Der ‚Atlantic‘ stieg langsam an die Oberfläche. Als der Turm über Wasser stand, beobachtete Chivarri durch die Linsen mit Hilfe eines Fernrohrs das jachtähnliche Fahrzeug.

„Es sind nur drei Leute an Deck,“ erklärte er. „Darunter eine Dame. Es ist eine Motoryacht, sehr elegant –“.

„Immerhin unangenehm, daß die Leute uns zu Gesicht bekommen, Chivarri. Man müßte ihnen die Weiterfahrt erschweren, damit sie unsere Gegenwart hier nicht verraten können.“

„Sehr richtig. Ein Motordefekt ist leicht herbeigeführt. Wenn die Yacht nur drei Stunden daran zu reparieren hat, kann sie uns nicht mehr schaden. Wir sind dann –“.

Er schwieg – rief: „Börtgen – die Lori Battner! Wahrhaftig, sie ist’s!“

Im selben Moment erschien der Fürst im Turm. Er hatte noch den Namen verstanden.

„Her mit dem Glas, Chivarri!“

Er stellte es ein, schaute hindurch. Alles Blut stieg ihm zu Kopfe.

„Sie und Olden!“ sagte er gepreßt. „Die beiden sind also von Klein-Foula geflohen. Wie kommen sie aber zu der Motoryacht?“

Börtgens Gesicht wurde noch finsterer.

„Die Reise beginnt schlecht! Erst die heißgelaufenen Schraubenwellen, jetzt – Olden!“

Ulminski fragte. Kurze Sätze flogen hin und her.

„Wir müssen Olden überlisten,“ meinte der Fürst dann. „Der dürfte kaum ahnen, daß wir die Herren dieses U-Bootes sind. – Schnell – Hendriport soll englische Polizeiuniform anlegen! Auf Klein-Foula muß etwas passiert sein. Hendriport muß Olden aushorchen. Von uns, die Olden kennt, läßt sich niemand sehen.“ –

*

„Ah – noch ein zweiter Mann!“ rief Lori.

„Ein englischer Polizeibeamter!“ nickte Olden.

Jonny hatte das Steuer des ‚Abukir‘ bereits herumgeworfen. Die beiden Fahrzeuge liefen aufeinander zu, lagen bald mit wenigen Metern Zwischenraum nebeneinander.

Jonathan Hendriport rief hinüber: „Hier Polizeiboot auf Suche nach großer Schoneryacht. Habt Ihr eine weiße Yacht gesichtet? Es sind Verbrecher darauf, eine ganze Bande, von Liverpool entflohen.“

Olden rief zurück: „Nichts gesichtet. – Hier Privatyacht ‚Abukir‘ Lord Ruthergleens auf Fahrt nach Thurso. – Welche Verbrecherbande meint Ihr? Wie heißt der Anführer?“

„Ulminski – Ul – mins – ki!“

„Dann habe ich wichtiges mitzuteilen –“.

„Schwingt euer Boot aus! Kommt herüber.“

„Sofort –“.

Olden wandte sich an Lori.

„Wie wär’s, Lori? Willst du mitkommen? Ein U-Boot von innen sieht man nicht alle Tage.“ –

Sie kam mit. Olden ruderte. Dann standen sie auf dem Deck der Stahlspindel.

Hendriport bat sie höflich, in die Kajüte des Kapitäns hinabzusteigen. Die Achterluke war schon aufgeklappt.

In der Kajüte saß einer der englischen Brüder in Kapitänsjacke. Olden und Lori mußten Platz nehmen.

Hendriport ließ sich von Olden erzählen, was auf Klein-Foula vorgefallen.

„Da haben Sie ja Glück gehabt, Mr. Olden.“ sagte er jetzt ironisch. „Großes Glück sogar. Sie haben sich mit Ihren Neuigkeiten gerade an die richtige Adresse gewandt –“.

Olden horchte auf.

Dann öffnete sich schon die Tür.

Lori fuhr mit leisem Schrei hoch.

In der Tür stand – Ulminski.

„Herr Olden,“ sagte er eisig, ohne Lori zu beachten, „es dürfte ratsam sein, Sie hier festzuhalten. Sie beide sind meine Gefangenen.“

Horst hatte die Farbe gewechselt. Ungeheure Enttäuschung, Wut und Ärger verzerrten sein Gesicht.

Ulminski ließ drei Matrosen an sich vorüber. Sie packten Olden. Er wehrte sich nicht. Es hätte ja keinen Zweck gehabt.

Da rief Lori schluchzend, indem sie die Hände flehend gegen Ulminski ausstreckte:

„Töten Sie ihn nicht! Bitte schenken Sie ihm das Leben! Ich will auch –“.

„Lori!“ Oldens Stimme war hart, brutal. „Einen Verbrecher bittet man nicht!“

Weinend fiel sie auf das Wandsofa zurück. –

Die Leute brachten Olden hinab in den untersten Raum, in einen kleinen Verschlag, eine winzige Kammer. Die Metalltür flog zu. Draußen wurde ein Riegel vorgeschoben.

Nach einer Weile erschienen dieselben Leute mit einer Matratze, ein paar Decken, einem Nachtstuhl und einer Glühbirne. Diese schraubten sie in die Deckenlampe ein.

Dann wurde draußen an die Tür noch ein zweiter Riegel angenietet.

Olden saß wie stumpfsinnig auf der Matratze und rührte sich nicht. Bald schlug die Tür wieder zu. Er war allein in seinem Gefängnis.

 

36. Kapitel.

Der große Anschlag auf den ‚Atlantic‘.

„Ich stelle es Ihnen frei, auf die Yacht zurückzukehren,“ sagte der Fürst in der Kajüte mit kühler Förmlichkeit zu Lori, nachdem auch Hendriport hinaus gegangen war.

„Ich bleibe!“ erklärte Lori fest. Ihre Tränen waren versiegt.

„Lieben Sie Olden so sehr?“ Höhnisch und bitter klang die Frage.

„Ja – ich liebe ihn genau so sehr, wie ich Sie hasse und verabscheue!“ – Ihr Schmerz um den Verlust des Geliebten wurde hier zur leidenschaftlichen Anklage gegen den Zerstörer ihres Glückes. „In meinen Augen sind Sie schlimmer als ein Mörder!“ –

Ihre Stimme wurde lauter, wurde fast kreischend. Ihr blasses Antlitz zuckte vor Erregung. Sie stand auf, trat dicht auf ihn zu. „Sie haben meine Ehre gemordet, haben Ihre Macht über die Menschen schändlich ausgenutzt!“ –

Jede Scham fiel von ihr ab. Wie eine Rächerin reckte sie sich vor ihm empor. – „Das Schicksal wird Sie strafen, Sergius Ulminski! Ein Weib, das man liebt, entehrt man nicht! Ihre sogenannte Liebe war Sinnenrausch – war demütigend für Sie selbst, der Sie sich Herr über alles dünken!“

Der Fürst vernahm nichts mehr von den letzten Sätzen. Die Nähe Loris wirkte. Jetzt fühlte er wieder, wie namenlos er sie geliebt hatte – noch liebte.

Wie schön sie war in dieser Ekstase beleidigter Weiblichkeit! Wie ihre Lippen bebten.

Seine Wangen färbten sich plötzlich dunkler. Wie Nebel lag es vor seinen Augen.

Und – da hob er die Arme, riß Lori an sich, keuchte:

„Mein bist du – mein bleibst du!“

Seine Lippen suchten ihren erblaßten Mund.

Sie rang mit ihm, bog den Kopf zurück. Und fühlte, daß sie unterliegen würde.

Die verzweifelten Anstrengungen ihn abzuwehren, trieben ihr das Blut in die schwere Kopfwunde. Rasende Schmerzen lähmten ihre Gesichtsmuskeln. Nicht einmal um Hilfe schreien konnte sie.

Ulminski faßte ihren stummen Widerstand anders auf. Irre Gedanken und Hoffnungen durchzuckten sein Hirn. Vielleicht – vielleicht war Lori nur durch Olden gegen ihn aufgestachelt worden! Vielleicht war sie sich selbst über ihre tiefsten Gefühle im unklaren! Frauenherzen – ewige Rätsel! Darauf hoffte er.

Und suchte durch die Berührung ihres Körpers Loris heißes Blut in Wallung zu bringen.

Kam sich selbst verwerflich vor in diesem Bestreben, konnte nicht Herr werden über die entflammten Sinne.

Da – Lori hatte mit verzweifeltem Griff als letztes Mittel, ihm zu entgehen, den Verband vom Haupte gerissen.

Schrie auf vor Schmerz. Die Wundränder, kaum geschlossen, öffneten sich. Roter Lebenssaft rann Lori über die Stirn.

Ulminski wurde aschfahl, gab sie zurücktaumelnd frei.

„Sie – Sie Elender!“ sagte Lori mit einer Verachtung im Ton, die ihn wie ein Keulenschlag traf.

Er stierte sie an.

Sank vor ihr in die Knie. Griff nach dem Saum ihres Gewandes, stammelte: „Verzeih’ mir – verzeih’ mir!“

Lori verstand kaum, was dies bedeutete.

Ulminski – Sergius Ulminski ihr zu Füßen – ein Bettelnder!

Dieser Ulminski, von dem Horst Olden noch vorhin auf dem ‚Abukir‘ gesagt hatte: ‚Ein Verbrecher – gewiß! Aber ohne Frage ein Mann, der unter anderen Verhältnissen einer der Ersten der Menschheit geworden wäre!‘

Wie – wie mußte er sie lieben, daß er sich so demütigte!

Und weiter stammelte er: „Lori, wir Kaukasier sind wie die wilden Berge unserer Heimat, gewaltig – in allem, in Lieben und Hassen! Lori – verzeih’ mir!“

Er haschte nach ihrer Hand, preßte sie an die Lippen, erhob sich.

Und keiner von beiden hatte bemerkt, daß die Tür der Kajüte vor Minuten sich eine Handbreit geöffnet hatte.

Jonathan Hendriports gedunsenes Gesicht hatte hineingelugt. Im diesem bartlosen Gesicht, lasterhaft, schlau, brutal, malte sich höchstes Erstaunen.

Und als Ulminski dann vor Lori kniete, erschien um Hendriports brutalen Mund ein ironisches Lächeln.

Ulminski, der Meister, ein Sklave dieses Weibes! – Hendriport schloß die Tür wieder, schritt davon, dachte: ‚Er ist nicht der, wofür ich ihn hielt! Er ist noch jämmerlicher als ich, denn – mich würde kein Weib in die Knie zwingen!‘ –

Ulminski holte Doktor Grupp. Lori erhielt einen neuen Verband, erhielt Gunnar Börtgens Kabine zugewiesen, die zweitbeste des U-Bootes. Ohne Widerrede gab Börtgen sie her. Ulminski nahm ihn bei sich in der großen Kapitänskajüte auf.

Nun lag Lori in dem schmalen Bett, und Doktor Grupp reichte ihr einen leichten Schlaftrunk. Sie tat ihm leid. Er hatte vorhin eine Flasche Cognac erwischt, und in diesem Zustand hätte er keine Spinne töten können, war er ganz Mitgefühl und – Weichlichkeit.

„Armes Kind, ruhen Sie sich aus. Schlafen Sie ohne Sorge,“ sagte er leise. „Ich wohne dort Wand an Wand mit Ihnen. Wenn Sie etwas wünschen, brauchen Sie nur irgend etwas gegen die Wand zu werfen. Nachher wird die Prinzessin Sie besuchen – Frau Nadja Römer jetzt –“.

Lori horchte auf.

„Nadja hier, Herr Doktor?“ fragte sie matt.

„Ja – und seit sechs oder sieben Stunden Frau Römer – nach feierlicher Trauung hier an Bord.“ Er lächelte lüstern. „Das junge Paar hat sich in das Brautgemach zurückgezogen. Aber – der Hunger wird es wohl wieder sichtbar machen. – Auf Wiedersehen, Fräuleinchen Battner.“ –

Jonny, der Bootsmann der Motoryacht, wartete umsonst auf die Rückkehr Oldens und Loris.

Auch auf Deck des U-Bootes zeigte sich niemand mehr. Eine halbe Stunde verging so. Dann erschienen zwei Leute in Matrosentracht, bestiegen das kleine Beiboot der Yacht und ruderten herüber.

„Na, Jungs,“ empfing der alte Jonny sie kameradschaftlich, „was gibt’s denn?“

Der eine fragte unfreundlich: „Habt ihr Notsegel an Bord?“

„Und ob!“ nickte der ahnungslose Jonny.

Dann ging der andere der beiden in den Maschinenraum hinab, während der erste einen Revolver zog und spannte.

„Setz dich dorthin!“ befahl er kurz.

„Verdammt, Boy, was heißt das?!“ platzte der Alte heraus.

„Maul halten! Setz dich!“

Jonny gehorchte. Der Kerl da hatte böse Mörderaugen.

Nach einer Weile kam der Andere aus dem Maschinenraum wieder nach oben, knotete eine lange Leine an das Beiboot.

Sie stiegen ein, ruderten zum ‚Atlantic‘, und Jonny konnte das Beiboot mit Hilfe der Leinen wieder einholen.

Als er dann, von einer bösen Ahnung getrieben, die Motoren untersuchte, fand er verschiedene Ventile nicht mehr vor. Da begriff er langsam alles. Das U-Boot war ein Piratenfahrzeug, und die Frage nach den Notsegeln bewies, daß diese Schufte dem ‚Abukir‘ die Schwingen gelähmt hatten, damit er nur noch wie eine elende Kröte über die See hinkriechen konnte.

Jonny stieg blaurot vor Wut wieder an Deck. Das U-Boot, das zu beiden Seiten in goldenen Buchstaben am Turme den Namen ‚Atlantic‘ zeigte, war bereits ein paar hundert Meter abgetrieben.

Jonny hißte die Notsegel und steuerte nach Osten auf die Insel Hoy zu, deren schroffe Gestade, vom Abendrot umflossen, gerade noch über dem Horizont sichtbar waren. Um Mitternacht landete er in einer Bucht bei einem Fischerdorfe, warb zwei Leute an, brachte die Motoren mit Hilfe der vorhandenen Ersatzteile in Ordnung und fuhr nach Klein-Foula zurück, wo er noch die gesamte inzwischen mit Flugzeugen eingetroffene Polizeimacht antraf.

Als er dann Lord Ruthergleen, Fink und George Everten seine Begegnung mit dem U-Boot schilderte, biß Everten sich vor namenlosem Grimm die Lippen blutig.

Nun wußte er ja, die Indra-Leute würden niemals sich hier einfinden, hatten Olden fraglos überlistet und ihm die volle Wahrheit über die Ereignisse auf Klein-Foula entlockt!

Niedergeschlagen, gedemütigt kehrte das Polizeiaufgebot nach Liverpool zurück.

Der ‚Atlantic‘ war entwischt.

Die endlose Weite des atlantischen Ozeans hatte die Stahlspindel mit ihren Schätzen und den Piraten schützend aufgenommen. – Fink blieb nur noch einen Tag in Liverpool. Dann brachte der Polizeizweidecker ihn und seine Beamten über die Nordsee in die Heimat zurück.

Trotzdem wurde die Jagd auf das gekaperte Goldschiff nicht etwa eingestellt.

Funktelegramme benachrichtigten sämtliche Häfen der Welt von dem frechen Streich der Indra-Leute. Sämtliche Kriegsschiffe aller Nationen erhielten Befehl, scharf nach einem verdächtigen U-Boot Ausschau zu halten. Die Zeitungen aller Länder brachten spaltenlange Berichte über die Indra-Loge. Die englische Regierung setzte eine Million Pfund Sterling als Belohnung für den aus, der das Reiseziel der Piraten in Erfahrung bringen könnte.

So wurde die Jagd auf die Indra-Leute zu einer internationalen Angelegenheit. Nie wieder hat ein Verbrechen die Welt derart in Atem gehalten wie dieses. Die Entführung eines Fahrzeuges aus dem Hafen von Liverpool war eine Sensation, der gegenüber sogar die hohe Politik bedeutungslos wurde.

*

Philipp Brex war mit dem ersten Erfolg seiner unheimlichen Tätigkeit auf dem U-Boot ganz zufrieden. Der Sand in der Schmierbuchse hatte seine Schuldigkeit getan. Seit Stunden waren die Motoren des Schiffes verstummt.

Brex langweilte sich in seinem Versteck über alle Maßen. Gewiß – draußen im Gange vor der Tür der Schatzkammer ging es jetzt recht lebhaft zu. Zweimal war sogar jemand in der Kammer gewesen, hatte die Deckenbirne eingeschaltet und sich die Goldkisten angesehen.

Aber Brex waren diese Besuche sehr gleichgültig. Er wußte, daß man nicht mehr nach ihm suchte.

Allmählich wurde es draußen wieder ruhiger.

Er sah nach der Uhr. Zehn Uhr abends. – Bald ward es ganz still. Und zehn Minuten vor halb elf begannen die Motoren wieder zu arbeiten. Ein Zittern ging durch den Schiffsrumpf. Das U-Boot setzte seine Fahrt fort – mit südwestlichem Kurs, nach Pernambuco.

‚Schade!‘ dachte der kleine Philipp. ‚Ich hätte gewünscht, die Schraubenwellen wären zum Teufel gegangen! Aber Sand allein macht’s nicht, scheint’s!‘

Seine Taschenlampe glühte kaum mehr. Ein Jammer, daß er keine Ersatzbatterie besaß.

Er schlich zur Bodenkammer. Als er sie verließ, sah er an der dritten, kleinsten Tür den neu angenieteten Riegel. Und beide Riegel waren vorgeschoben.

Hm – was bedeutete das?! Ob man hier etwa Heinz Römer eingesperrt hatte? –

Brex lauschte. In ganzen Schiffe Totenstille, bis auf das ferne Stampfen der Maschinen.

Er schob die Riegel ganz leise zurück, öffnete. In der winzigen Kammer brannte die Deckenlampe.

Da lag auf einer Matratze ein Mann – schlief.

Brex beugte sich tiefer – holte Atem.

Das war eine Überraschung: Olden – Olden! –

Sollte er ihn wecken? War das nicht gefährlich?! Wenn jemand jetzt hier herunter kam, dann war’s mit der Freiheit vorbei.

Brex schloß die Tür wieder, schob die Riegel vor, schlich nach der einen Materialkammer. Hier fühlte er sich sicherer. Hier konnte er leicht hinter Fässern und Kisten verschwinden.

Er schaltete das Licht ein und untersuchte die Aufschriften der Kisten, fand, was er suchte: Ersatzbatterien, Metallbohrer, dünnen Draht.

Und kehrte nach Oldens Zelle zurück, bohrte neben den Riegeln zwei enge Löcher in die Metalltür, lächelte zufrieden, öffnete die Tür und trat ein.

Olden war munter geworden.

„’n Abend, Herr Olden,“ meinte Brex gemütlich und nickte ihm zu. „Ich will nur mit Hilfe dieses Drahtes und der Löcher hier von innen die Riegel wieder vorziehen. – So, das wäre gemacht.“

Er reichte Olden die Hand.

Der war noch immer völlig sprachlos.

Brex setzte sich neben ihn auf die Matratze. „Wenn jetzt jemand nach Ihnen sehen kommen sollte, lieber Olden, dann krieche ich dort unter die Decken. – Fein, daß wir nun wieder beisammen sind. Zu zweien läßt sich mehr unternehmen.“

Erst um ein Uhr morgens schlüpfte Brex wieder in seine Goldkistenpyramide, nachdem er noch schnell in der Proviantkammer sich mit Lebensmitteln versehen hatte. Von Olden war er gewarnt worden, jetzt sofort wieder einen Anschlag gegen das Schiff zu unternehmen. „Warten Sie damit, bis wir in einem Hafen oder in der Nähe einer Küste sind.“

Brex schlief fest und traumlos. In der nächsten Nacht besuchte er Olden abermals. Ulminski hatte jetzt dafür gesorgt, daß Oldens Zelle wohnlicher hergerichtet wurde. Selbst Bücher hatte er ihm geschickt. Nachmittags war er dann selbst erschienen und hatte von Olden verlangt, er solle sein Ehrenwort geben, nicht zu entfliehen und nichts gegen die Indra-Leute zu unternehmen.

Olden lehnte dies rundweg ab und erklärte, er würde im Gegenteil mit allen Mitteln danach trachten, die Verbrecher so zu schädigen, daß sie irgendwie den Behörden in die Hände gerieten. –

Dies erzählte Olden jetzt dem kleinen Philipp, der wieder auf der Matratze hockte.

Auch Brex brachte Neuigkeiten. Ulminski hatte vormittags Nadja und Heinz Römer die Goldkisten gezeigt.

„Römer ist also in voller Freiheit, lieber Olden. Dies ist für uns sehr wichtig. Wenn ich mich nur mit ihm in Verbindung setzen könnte. Wo er mit Nadja wohnt, habe ich aus einer Bemerkung Ulminskis erfahren. Hier im Achterschiff in Kabine Nr. 4. Daß Römer zu den Verbrechern abgeschwenkt sein sollte, halte ich für ausgeschlossen, wenn er jetzt auch des Fürsten Schwiegersohn ist. Ob ich’s mal versuche, ihn zu sprechen? Ob ich mich nach oben wage? Jetzt nachts fährt der ‚Atlantic‘ doch fraglos über Wasser, und da werden nur auf Deck Wachen stehen. Alles übrige schläft.“

„Und Nadja?“ meinte Olden zweifelnd.

„Ja – Nadja! Sie ist jetzt Römers Weib. Und als Frau steht sie dem Gatten näher als dem Vater.“

Olden blieb bedenklich.

„Das Risiko ist groß, lieber Brex –“.

„Der Vorteil einer Verbindung mit Heinz Römer noch größer. – Ich wage es!“ –

Zur selben Zeit saß Nadja am Krankenlager Loris.

Lori fieberte stark. Doktor Grupp hatte Nadja gebeten, bei ihr bis ein Uhr morgens zu wachen. Dann wollte er sie ablösen.

Lori phantasierte, warf sich unruhig hin und her. Immer wieder flüsterte sie sehnsüchtig den Namen Horst Oldens.

Nadja, das Herz voller Seligkeit, die Lippen noch heiß von des Geliebten unersättlichen Küssen, hielt ihre fieberheißen Hände und sprach ihr begütigend zu.

Da schrie Lori gellend auf. In einem lichten Augenblick hatte sie Nadja erkannt.

„Du – du bist seine Tochter!“ rief sie. „Geh’ – geh’, er hat mich entehrt – gemordet! Ich war sein – weil er mich zwang! Geh’ – laß mich sterben! Was gilt mir noch das Leben, wo Olden meine Liebe zurückweist, die Liebe einer – Dirne!“

Nadja zitterte. – Jetzt wußte sie die Wahrheit. Ihr Vater der Verführer Loris – entsetzlicher Gedanke! Ihr Vater nicht nur Verbrecher, sondern auch Mädchenschänder! –

Loris fieberirrer Geist schaute bereits andere Visionen. Ihre Atemzüge wurden ruhiger. Ein Schimmer von Glück überstrahlte ihr Gesicht.

„Horst – Horst, küsse mich! – Horst, nicht deine Schwester, deine Geliebte!“

Ihr Flüstern ward immer leiser. –

In Kabine Nr. 4 saß Heinz Römer in dem leichten Rohrsessel und blätterte wie geistesabwesend in einem Roman.

Nadja – Nadja! Seine Gedanken waren nur bei ihr – seinem Weibe, bei der warmen Schönheit dieses jungen Frauenleibes.

Dann – ein Pochen an die Tür.

Sie ging auf.

Römer glaubte ein Gespenst zu sehen. Brex – Brex, das Gesicht voller Bartstoppeln.

Dann stand der kleine Philipp schon vor ihm.

„Wo ist Nadja?“

„Bei Lori Battner –“.

„Ah – sehr gut. – Hören Sie mich an, Freund Römer – wir sind jetzt zu dreien hier auf dem U-Boot, denn Olden sitzt unten in einer Zelle. Wir drei werden der Bande den Spaß versalzen – gründlich! Sie machen doch mit, Römer?“

Der zögerte mit der Antwort.

Da legte Brex ihm schwer die Hand auf die Schulter. „Sie müssen! Wollen Sie Mitschuldiger werden, Sie, der Sohn des Fürsten Jussugoff! Denn – das sind Sie! Olden hat die Beweise dafür. Erbe des Fürsten, Erbe der fünfzig Diamanten, ungezählter Millionen!“

Heinz Römer lallte wie ein Trunkener: „Sie – Sie phantasieren, Brex!“

„Ich bin nie klarer im Kopf gewesen wie in dieser Minute. Glauben Sie mir, Ulminski wird eines Tages samt seiner Bande vor den Richtern stehen! Wollen Sie mit ins Zuchthaus wandern?!“

Römer drückte Brex auf den anderen Sessel. Er war blaß geworden vor Erregung, begann zu erzählen: Von Tamira, der vulkanischen Insel im Stillen Ozean, von Ulminskis Plänen.

Brex lauschte, lächelte. „Phantast!“ meinte er dann. „Ein Phantast ist dieser Mensch! Also – machen Sie mit, Heinz Römer?“

„Ja – unter einer Bedingung, daß wir Ulminski entfliehen lassen! Er ist mein Schwiegervater –“.

Draußen im Gange Schritte. Blitzschnell kroch Brex unter das eine schmale Bett.

Nadja trat ein, bleich, verstört. Sie flog dem Geliebten an die Brust. „Heinz, es ist furchtbar! Lori – Lori ist von meinem Vater verführt worden. Doch sie liebt Olden –“.

Die schlanke Nadja schluchzte bitterlich. „Und zu denken, daß mein Vater auch diese Schuld auf sein Gewissen geladen hat! – Heinz – wenn wir fliehen könnten! Mir graut vor meinem Vater. Lori jetzt in schwerem Fieber – auch durch ihn! Wer weiß, was in der Kajüte vorgefallen ist! Vielleicht – vielleicht war er roh, brutal zu ihr!“

Heinz Römer flüsterte Nadja hastig zu: „Brex ist hier –“.

Der kleine Philipp kam schon zum Vorschein.

Dann saßen die Drei eng beisammen. Nadja lehnte jede Teilnahme an Oldens Vorhaben ab, verlangte andererseits jedoch auch nicht von dem Geliebten, daß er untätig bliebe. „Wenn Sie uns versprechen, Herr Brex,“ betonte sie nochmals, „daß mein Vater flüchten darf, mag geschehen, was da will!“ –

Um zwei Uhr morgens schlich Brex wieder in Oldens Zelle. –

So begannen hier die drei Männer im Schoße des Stahlfisches das Netz zu weben, in dem sie die Indra-Leute zu fangen und die Schätze zu retten hofften.

 

37. Kapitel.

Unter Anklage.

Eine Woche war vergangen. Der ‚Atlantic‘ ankerte weit südlich von Pernambuco in einer einsamen Bucht.

Es war gegen zehn Uhr abends. Lori, Nadja und Heinz Römer saßen auf dem Achterdeck und unterhielten sich krampfhaft. Es fiel ihnen schwer, Gelassenheit und Ruhe zu heucheln. Gestern abend, als das U-Boot hier Anker geworfen hatte, waren Heinz und Nadja angeblich zu einem Spaziergang eine Stunde an Land gewesen, und da hatte Römer dem Besitzer einer kleinen Hazienda einen versiegelten Brief mit der Bitte übergeben, das Schreiben sofort in Pernambuco dem englischen Generalkonsul zu überbringen.

Der Haziendero war auch sogleich davongeritten.

Der Brief enthielt nichts anderes als die genaue Angabe, wo das gekaperte Goldschiff sich zur Zeit befand und den Vorschlag, die Bucht von der Land- und Seeseite einzuschließen. Das U-Boot würde nicht entschlüpfen können, da die Unterzeichner des Briefes die Schraubenwellen durch Einfüllen von feinem Sand und Schwefelsäure in die Schmierbuchsen unbrauchbar machen wollten. –

Unterschrieben war der Brief mit: ‚Horst Olden, Privatdetektiv, zur Zeit Gefangener an Bord des ‚Atlantic‘ und Philipp Brex, Kriminalbeamter, zur Zeit blinder Passagier ebenda.‘

Dieses Schreiben erhielt der Generalkonsul jedoch durch eine Nachlässigkeit seines Dieners erst mittags ausgehändigt. Umgehend setzte er sich mit der Polizei in Verbindung, benachrichtigte auch die Kommandanten der beiden im Hafen liegenden englischen Kreuzer und den des amerikanischen Schlachtschiffes ‚Idaho‘.

Die Vorbereitungen zu dem nächtlichen Unternehmen wurden mit aller Vorsicht und Verschwiegenheit betrieben. Nur wenige Offiziere waren eingeweiht.

*

Ulminski, Börtgen und Chivarri waren nachmittags in einem Kutter, der der Zweigloge in Pernambuco gehörte, nach der Stadt gefahren, um von dort einige Kisten mit gemünztem Golde und Kleinodien zu holen und die Mitglieder des ‚Inneren Kreises‘ der Zweigloge, die mit nach Tamira sollten, mitzubringen. Sie waren bisher nicht zurückgekehrt, und Nadja befand sich deshalb auch in verzweifelter Angst, weil sie fürchtete, ihr Vater könnte zu spät an Bord eintreffen, und sie daher nicht mehr die Gelegenheit haben, ihn, wie genau vereinbart, den Häschern zu entziehen.

Ihre Angst stieg mit jeder Minute. Immer wieder blickte sie mit dem Fernglas nach dem breiten Eingang der Bucht hinüber. Aber der Kutter erschien nicht.

Ulminski hatte auch an Land rund um die Bucht Wachen aufgestellt. Als Alarmzeichen sollten drei Revolverschüsse dienen. –

John Wellesley, der jetzt auf dem U-Boot den Dänen Börtgen als Kapitän vertrat, kam soeben vom Kommandoturm her auf die Drei zugeschlendert. Lässig, die Zigarette im Mundwinkel behaltend, sagte er mit einem Blick zum ausgestirnten Himmel empor: „Eine wundervolle Nacht!“

„Sind Sie meines Vaters wegen nicht in Sorge?“ fragte Nadja rasch.

„Nein, durchaus nicht. Was soll ihm wohl zustoßen? Wir haben Beziehungen in Pernambuco bis in die höchsten Ämter hinauf. Die Südamerikaner sind billig – zu bestechen –“.

„Auch die Polizei?“ warf Lori ein.

„Auch die, Fräulein Battner. Und wir sparen nie mit dem Gelde, wo es –“.

Er fuhr zusammen.

Von Land her drei Schüsse.

Wellesley war mit ein paar Sprüngen am Turm. Seine Signalpfeife schrillte. –

Nadja, Lori und Römer waren gleichfalls hochgeschnellt. Ihre Herzen rasten.

Nadja stützte sich schwer auf Lori. „Oh mein Gott – er wird verloren sein!“ stammelte sie. „Und ich – ich habe –“. – Tränen erwürgten ihre Stimme.

Durch die Uferbüsche brachen drei Reiter, zwei Packpferde hinter sich.

Nadja erkannte den Vater. Riß sich los, flog über die Laufplanke, flog auf ihn zu.

„Papascha – Papascha!“ Die Stimme versagte ihr.

„An Bord!“ rief Ulminski rauh und riß Nadja mit sich.

Da umschlang sie ihn. Sie zitterte, flüsterte: „Flieh – flieh – oder du bist verloren!“

Er stand wie gelähmt, starrte ihr ins Gesicht.

Börtgen schob ihn weiter. „Vorwärts, Meister, vorwärts!“

Ulminski hob Nadja empor, trug sie zur Achterluke.

„Geh’ hinab!“

Sein Gesicht war fahl wie das einer Leiche. In den Augen war ein Ausdruck unendlichen Schmerzes. Er ahnte jetzt, sein Kind hatte mit geholfen, ihn zu verraten!

„Geh’!“ rief er nochmals. Seine Stimme war wie zerbrochen.

Römer half Nadja die Leiter hinab. –

Die Stahltrossen wurden losgemacht. Die Schrauben des U-Bootes schlugen an. Der ‚Atlantic‘ kam in Fahrt, steuerte dem Ausgang der Bucht zu.

Börtgen hatte das Kommando wieder übernommen.

Jetzt bog das Goldschiff um eine kleine Halbinsel. Noch tausend Meter, dann war das freie Meer erreicht.

Aber in den Uferbüschen überall helle Gestalten, Matrosen in weißen Tropenanzügen.

Jetzt wurde das U-Boot angerufen: „Stoppen! Oder ich lasse feuern!“

Ein Marineoffizier war’s.

Börtgen stand oben auf dem Turm. Der ‚Atlantic‘ stoppte nicht.

Schüsse knallten – eine Salve – von beiden Ufern.

Gunnar Börtgen warf die Arme in die Luft, schlug lang hin.

Ulminski entstieg dem Turme. Geschosse umpfiffen ihn.

Er trug den Todwunden in den Turm hinab. Hier starb Börtgen in des Meisters Armen.

Noch sechshundert Meter. Dort die lange Sandbank – man mußte rechts dicht am Ufer entlang.

Ulminski hatte den Befehl übernommen, ließ das Boot tauchen – bis zum unteren Turmrand.

Chivarri spähte durch die Linsen – und sah jenseits der Sandbank dunkle Bootsschatten – zehn – zwölf – mindestens fünfzehn.

Er knirschte mit den Zähnen: „Ihr sollt uns nicht fangen – noch nicht!“

Neue Schreckenskunde aus dem Maschinenraum, die Schmierbuchsen brannten! Die Schraubenwellen, heiß gelaufen, kreischten in den Lagern.

„Gießt Wasser darauf! Benutzt die Spritzen!“ befahl Ulminski.

Vom Ufer abermals Schüsse.

„Sie zielen auf die Linsen des Turmes!“ brüllte Chivarri. „Die Schutzdeckel vor!“

Wellesley, der dritte im Turme, stand an der Steuerung.

Die Tiefenverhältnisse der Bucht waren längst genau ausgelotet worden. „Hier zehn Meter!“ rief Chivarri, die Karte prüfend. „Noch eine kurze Strecke, dann kommt die Rinne mit achtzehn Metern –“.

Heulend sauste die Granate eines Revolvergeschützes über den Turm hin.

„Tiefer hinab!“ befahl Ulminski.

Wellesley griff in die Hebel. Das U-Boot schrammte am Buchtgrunde entlang. Dann hörte das bedrohliche Geräusch auf. Trübe Flut umspülte den Turm. Die Rinne war erreicht. Über dem Turme standen drei Meter Wasser.

Noch drehten sich die Schrauben.

Die drei Männer stierten sich aus schweißtriefenden Gesichtern an.

„Gerettet!“ sagte Ulminski und blickte herab auf Börtgens Leiche. „Gerettet – und er mußte sterben – gerade er!“

Oben aber zuckte Scheinwerferlicht über die Bucht hin, jagten Barkassen, Torpedoboote umher.

Oben – sah man ein, daß die Piraten entwischt waren.

*

Entwischt – aber nur mit Not.

Denn kaum hatte Ulminski durch die wenigen, mit so tiefer Trauer gesprochenen Worte bewiesen, wie nahe ihm Gunnar Börtgen gestanden hatte und was er ihm gewesen war, als auch schon die Motoren des Goldschiffes verstummten.

Selbst die dauernde Berieselung mit Wasser hatte die Überhitzung der Schraubenwellen nicht herabmindern können.

Chivarri stellte fest, daß der ‚Atlantic‘ jetzt mit der aus der Bucht herausführenden Strömung langsam unter Wasser in den Ozean hinausgetrieben wurde, was nur als durchaus günstig bezeichnet werden konnte.

Die Aufregung der Besatzung legte sich. Die Gefahr war vorüber.

Ulminski erschien im Maschinenraum und besichtigte persönlich die Schmierbuchsen.

Der Maschinist Jenkins und Hendriport gaben die nötigen Erklärungen. Noch andere Leute umdrängten den Fürsten. Überall finstere, verbissene Gesichter, eine gewisse heimliche Aufruhrstimmung, die sich gegen Ulminski richtete.

Er fühlte das ganz deutlich. Besonders Hendriport hatte hier das große Wort. Sein Benehmen war geradezu herausfordernd. Seit er Ulminski vor Lori hatte knien sehen, war der Meister für ihn keine Respektperson mehr.

Ulminski vermied es absichtlich, die Schuldfrage näher zu erörtern. Als er jetzt erklärte, die Sache würde aufs strengste untersucht werden, sagte der Exadvocat frech:

„Das wollen wir hoffen, Meister. Rücksichten irgend welcher Art darf es hier nicht geben. Ich bin Rechtsanwalt gewesen. Ich werde die Schuldigen vernehmen, und dann wird das Gericht sofort zusammentreten.“

Ulminski blickte ihn an. Aber in seinen Augen war nichts mehr von jenem bezwingenden Ausdruck von früher. Geheime Sorge und eine angstvolle Verlegenheit verriet auch seine Miene.

„Die Schuldigen?“ meinte er. „Die müßten doch erst gefunden werden, Hendriport.“ – Und er dachte an die Szene vorhin an Land, als sein Kind sich ihm an die Brust geworfen und ihm zur Flucht geraten hatte – mehr noch, ihn angefleht hatte, sich in Sicherheit zu bringen. Er wußte deshalb auch, wer einzig und allein diese Schuldigen sein könnten, und in seinem Vaterherzen erwachte ein Sturm widerstreitender Empfindungen.

Hendriport hatte laut aufgelacht. Und durch den Kreis der Leute ging ein Murren.

„Wer sollte hier wohl anders in Betracht kommen als dieser Heinz Römer und Olden!“ rief der Exadvocat und schaute Ulminski fast drohend an. „Von den Brüdern würde keiner an diese Schufterei auch nur im entferntesten gedacht haben! Römer und Olden und – und Ihre Tochter, Meister! Die Drei werde ich vernehmen. Und dann – dann werden auch Sie, Meister, uns erklären, wer und wie man uns den Behörden in Pernambuco verraten hat!“

Ulminski merkte, daß sein Einfluß hier auf dem Spiele stand, seine und seiner Pläne Zukunft –! Er sah ein, er mußte ohne jede Rücksicht handeln, wenn er nicht sein Ansehen völlig einbüßen wollte.

Seine Gestalt schien zu wachsen. In seinen Augen glomm ein drohendes Leuchten auf.

„Mäßigen Sie sich, Hendriport!“ sagte er scharfen Tones. „Die Schuldigen werden bestraft werden, sei es, wer es sei! Aber – vorläufig habe ich noch darüber zu bestimmen, was in dieser Angelegenheit zu geschehen hat.“

Hendriport zuckte die Achseln. „Gut, warten wir ab!“ meinte er patzig. „Wir werden ja kontrollieren, ob wirklich niemand geschont wird – niemand!“

Ulminskis Gesicht veränderte sich jäh. Er trat ganz dicht an den Engländer heran.

„Was wagen Sie!“ Seine Stimme war wie das Pfeifen einer Klinge. „Das ist Aufreizung! Denken Sie an den Logeneid, Hendriport!“

Der ehemalige Zuchthäusler grinste. „Tun Sie es auch, Meister! Dann ist schon alles in Ordnung.“

Wieder lief ein Gemurmel durch den Kreis.

Ulminski erbleichte vor innerer Erregung. Sein Blick glitt langsam über die schweißigen Gesichter hin. Zumeist waren es Engländer, die sich hier um ihn geschart hatten, Kreaturen Hendriports.

„Ah – Rebellion!“ stieß er hervor. „Und Sie sind der Hetzer, Jonathan Hendriport!“

Wellesley und Chivarri drängten sich jetzt neben ihn. Sie hatten soeben erst den Maschinenraum betreten und nur Ulminskis letzte Worte gehört.

„Meister, was geht hier vor?“ fragte Wellesley bestürzt.

„Nur das, was nottut,“ erklärte anstatt des Fürsten der Exadvocat. „Wir verlangen eine sofortige Aburteilung derer, die uns den Feinden in die Hände spielen wollten. Der Meister müßte, da seine Tochter mit beteiligt ist, sich am besten überhaupt nicht einmischen, damit er jeden Anschein der Parteilichkeit vermeidet.“

Ulminski machte eine verächtliche Handbewegung und wandte sich an Wellesley und Chivarri.

„Ich befehle, daß Hendriport wegen Aufreizung zum Ungehorsam sofort in Eisen gelegt wird – sofort!“ sagte er in so eisigem, unbeugsamem Tone, daß der Exadvocat die Farbe wechselte. „Sie, Cesare Chivarri, sind jetzt als Nachfolger Börtgens, Kommandant des Schiffes. Wellesley aber beauftrage ich mit der Führung der Untersuchung gegen die Schuldigen. Dem Gericht werde ich dann nur als Zuhörer beiwohnen. Als Richter bestimme ich sechs Mitglieder des ‚Inneren Kreises‘ der Loge. Sie sind durch das Los zu wählen.“

Langsam schritt er davon. Die Leute machten ihm hastig Platz. Er stieg die schmale Treppe aus dem Maschinenraum empor und begab sich in seine Kabine, die er ja zuletzt mit Börtgen geteilt hatte.

Man hatte Börtgens Leiche inzwischen aus dem Turme in die Kabine geschafft, auf das Bett gelegt und mit der Flagge des zukünftigen Staates Tamira bedeckt, die im hellblauen Felde ein Kreuz aus gelben, ineinandergreifenden Händen, umgeben von einem gelb und blau gestreiften Kranze zeigte.

Ulminski zog die Flagge von dem Antlitz des toten Freundes und stand minutenlang in tiefer Ergriffenheit regungslos da.

Er dachte an Börtgens dunkle Ahnungen, die dieser freilich nur angedeutet hatte, als er von dem Hochzeitsschiff, dem Glücksschiff, gesprochen.

Er dachte an die soeben durchlebte Szene im Maschinenraum. Und wieder beschlich ihn das niederdrückende Gefühl, daß er sich vielleicht doch in der Treue und Zuverlässigkeit seiner Leute genau so getäuscht hätte wie in seines eigenen Kindes Anhänglichkeit und Liebe.

Nadja hatte ja ohne Zweifel bei diesem Anschlag auf den ‚Atlantic‘ mitgewirkt, war in ihres Gatten Absichten eingeweiht gewesen. Ulminski hatte noch gerade in letzter Minute in Pernambuco durch einen Polizeibeamten eine schriftliche Warnung erhalten, in der gesagt war, daß der englische Generalkonsul mittags durch einen Brief auf die Anwesenheit des U-Bootes in der Bucht aufmerksam gemacht worden sei.

Diesen Brief konnten nur Nadja und Heinz, als sie am vergangenen Abend angeblich an Land frische Luft schöpfen wollten, jemandem zur Beförderung nach Pernambuco übergeben haben.

Ulminski war dieser Zusammenhang vollkommen klar. Ebensowenig zweifelte er daran, daß Heinz sich heimlich mit Horst Olden in Verbindung gesetzt hatte und daß der ganze Plan von diesem stammte. Heinz und Nadja hätten niemals diesen Anschlag ersinnen können, dessen Mißlingen lediglich dem Umstand zuzuschreiben war, daß der bestochene Polizeibeamte den Verräter gespielt hatte. –

Der Fürst deckte die Flagge jetzt mit hastiger Bewegung wieder über Gunnar Börtgens fahles Antlitz.

Ein besonderer Gedanke trieb ihn hinüber zu Nadja und Heinz, eine Angst, die rasch ins ungeheure wuchs und ihm Schweißperlen auf die Stirn drängte. –

Das junge Paar saß nebeneinander auf dem Wandsofa, Hand in Hand, mit verstörten Gesichtern, mit einer ähnlichen hirnzerfressenden Angst in den Herzen, wie der sie empfand, der jetzt kurz an die Tür pochte und eintrat.

Sie wußten ja beide, was ihnen bevorstand. Der Verdacht würde sich auf sie und Olden lenken und bei der Strenge der Gesetze der Indra-Loge drohte ihnen – der Tod!

Sie wußten es. Der Anschlag war mißglückt. Nun erwartete sie das Verhängnis. –

Zwei furchterfüllte Augenpaare blickten Ulminski entgegen.

Der drückte die Tür ins Schloß – blieb stehen.

Nadja war für ihn nicht vorhanden. An Heinz Römer richtete er die schicksalsschwere Frage: „Sage mir die Wahrheit! Was enthielt der Brief an den englischen Generalkonsul in Pernambuco?“

Heinz Römer ward blutrot unter diesem ebenso von Bitterkeit und Trauer als auch von Verachtung erfülltem Blick des Mannes, der ihm sein einziges Kind zum Weibe gegeben und ihn ‚Sohn‘ genannt hatte.

In diesem Moment verwünschte Heinz Römer den unseligen Zufall, der Philipp Brex an Bord des Goldschiffes belassen hatte.

In diesem Moment erschien ihm seine Handlungsweise geradezu ungeheuerlich. Bis in die Schläfen empor stieg ihm die Schamröte. Er fühlte Nadjas eiskalte Hand in der seinen, fühlte, wie sein Weib zitterte.

Und er – er war es gewesen, der sie zum Verrat gegen ihren Vater bestimmt hatte! Denn – was wollte es heißen, daß man Ulminski hatte entkommen lassen wollen, daß Nadja ihn hatte warnen sollen! Niemals, daran hatte Heinz nie gezweifelt, würde der Fürst seine Leute im Stich gelassen haben!

Heinz Römer war Künstler, war eine weichliche Natur. Die Folgen seiner Handlungsweise auch jetzt auf sich zu nehmen, dazu gehörte ein anderer, stärkerer Charakter, als er ihn besaß. Er hing am Leben, das für ihn jetzt durch Nadjas Liebe erst Inhalt, Ziel und Sinn erhalten. Er fürchtete den Tod, der ihn mitten aus heißem Sinnenrausch erster ehelicher Gemeinschaft herausriß. Und – er schämte sich vor Ulminski, dem er nun auch Nadja entfremdet, geraubt hatte.

Er schlug die Augen zu Boden.

„Sprich – antworte!“ rief Ulminski. „Und – lüge nicht!“

„Der – der Brief enthielt nur – die Angabe des Ortes, wo das U-Boot zu finden war,“ stammelte Heinz leise.

„Schwöre mir, daß nichts von Tamira in dem Briefe stand – schwöre es bei der Liebe zu deinem Weibe!“ herrschte der Fürst ihn an.

Die Tür flog auf.

Nadja fuhr mit einem Schrei empor.

Wellesley und vier Leute traten ein.

„Meister,“ sagte Wellesley rauh, „ich will die Beiden da in den Speiseraum bringen lassen. Dort sollen sie vernommen werden.“

Ulminski nickte nur und kehrte straff aufgerichtet in seine Kajüte zurück.

 

38. Kapitel.

Die Gerichtssitzung.

Unterdessen hatte sich im Maschinenraum etwas ereignet, das für die Stimmung eines Teiles der Besatzung recht kennzeichnend gewesen war.

Chivarri als neuer Kommandant des ‚Atlantic‘ hatte, nachdem Ulminski den Maschinenraum verlassen, Hendriport am Arme gepackt.

„Folgen Sie mir!“ befahl er.

Da riß der Exadvocat sich los.

„Oho, Bruder, so weit sind wir noch lange nicht!“ rief er drohend. „In den Gesetzen der Loge gibt es auch eine Reihe Paragraphen, die von den Pflichten des Meisters handeln und davon, daß auch er unter gewissen Bedingungen unter Anklage gestellt werden kann. Ich erhebe diese Anklage, weil es des Meisters Pflicht gewesen wäre, sofort diesen Verräter Römer und Nadja einzeln einzukerkern, da er ja wußte, daß ein Brief nach Pernambuco abgegangen war, der uns verraten hat. Der Meister tat nichts – nichts! Es ging ja um sein Kind!“

Beifallsgemurmel ringsum.

„Und unter diesen Umständen sollte ich nicht das Recht gehabt haben, den Meister an seine Pflicht zu erinnern?!“ rief Hendriport noch lauter. „Brüder, ihr seid Zeugen, ob ich euch aufgehetzt habe! Ich tat es nicht! – Ich beantrage, daß der Meister von den Mitgliedern des ‚Inneren Kreises‘ auf seine Pflichtversäumnis aufmerksam gemacht wird und sich verantwortet!“

Abermals Zurufe ringsum, die für Hendriports Antrag stimmten.

Cesare Chivarri stand unschlüssig da. Er wandte sich mit fragendem Blick an John Wellesley, der jedoch absichtlich zur Seite schaute.

In dem von Öldunst erfüllten Raume entschied sich in dieser Minute Sergius Ulminskis Geschick. Die jäh erwachte Machtgier des englischen Exadvocaten errang den ersten Sieg.

Chivarri merkte, daß auch John Wellesley sich den schlau gewählten Worten Hendriports nicht verschloß.

Ulminski hatte ja offenbar einen schweren Fehler begangen, sagte der Italiener sich, daß er die Vaterliebe über seine Pflicht als Meister der Loge gestellt hatte. Hendriports Vorwürfe waren berechtigt. Und da es hier um die Sicherheit aller ging, war des Meisters Pflichtversäumnis um so bedenklicher.

Genau dasselbe empfand John Wellesley. Ulminski hatte ihn heute enttäuscht. Jeder andere hätte doch ohne Zögern Heinz Römer und Nadja einzeln in sichere Haft gebracht, damit sie nach dem Mißglücken des Anschlags nicht weitere Verabredungen treffen könnten.

So sagten sich auch diese beiden Getreuen innerlich bereits von Ulminski los.

Hendriport spürte, daß er jetzt schon sein Ziel erreicht hatte. Er durfte getrost noch mehr wagen!

Und daher sagte er, nunmehr mit der gleißnerischen Biederkeit des lediglich um das Wohl und Wehe der Brüder Besorgten: „Ich widersetze mich meiner Verhaftung nicht! Mein Gewissen ist rein. Meine Vorwürfe gegen den Meister wurden im Interesse aller vorgebracht. Man mag mich aburteilen.“

„Nein – niemals!“ brüllte da Hendriports Anhang.

Plötzlich blitzten Revolver in den Fäusten dieser Gesellen, die, acht an der Zahl, vorhin als erste von Hendriport umgarnt worden waren.

Chivarri atmete schwer.

Das war Rebellion, Aufruhr. Das war eine Bestätigung dessen, was der Fürst diesem Halunken Hendriport vorgeworfen hatte.

Aber – es war leider, und dies entging weder Chivarri noch Wellesley, auch der Beweis, daß die allgemeine Stimmung infolge der soeben durchlebten bangen halben Stunde der Einkreisung jetzt gegen Ulminski war.

Wellesley rettete die Situation, indem er erklärte: „Ich bin vom Meister mit der Untersuchung der Verräterei beauftragt worden. Da die Auseinandersetzung zwischen dem Fürsten und Ihnen, Hendriport, mit in diese Sache übergreift, soll Ihre Verhaftung vorläufig unterbleiben. – Geht jetzt an die Arbeit, Brüder, und bringt die Schraubenwellen wieder in Ordnung.“

Er und Chivarri verließen den Maschinenraum. Oben im Gang des zweiten Decks sagte der Italiener leise zu Wellesley: „Dies ist der Anfang vom Ende! Und – wer hat die Schuld? Doch nur wieder – die Weiber, die Liebe! Hätte Ulminski nicht dieser Lori Battner nachgestellt, dann wäre alles anders gekommen – alles! Und hätte Nadja nicht –“.

Wellesley unterbrach ihn. „Ich beneide Börtgen,“ meinte er finster. Dann ging er hinüber in die Kabine des jungen Paares. –

Im Speiseraum brannten die drei Deckenlampen.

John Wellesley fragte Heinz Römer abermals, ob er mit Olden zusammen den Anschlag vorbereitet hätte.

Römer blieb wie bisher stumm. –

Auch Nadja antwortete auf keine Frage.

Wellesley ließ die beiden jetzt hinab in die als Zellen bereits vorbereiteten Materialkammern führen.

Dann versammelte sich die ganze Besatzung hier, insgesamt neununddreißig Mann. Als letzter erschien Ulminski und nahm den Ehrenplatz an der Schmalseite des langen Tisches ein.

Die Wahl der sechs Richter begann. Es wurden gewählt: Hendriport mit zweiundzwanzig, Chivarri mit fünf, Doktor Grupp mit drei, Wellesley mit drei, der Maschinist Jenkins mit drei und ein gewisser Smitson, ein Anhänger Hendriports, ebenfalls mit drei Stimmen.

Jonathan Hendriport verstand es sehr fein, seinen Triumph unter der Maske strenger Unparteilichkeit zu verbergen.

Ulminski räumte seinen Platz jetzt Hendriport ein.

Das Gericht trat zusammen. Die übrigen Leute stellten sich zu beiden Seiten des Tisches auf. Ulminski hatte sich ein Stück hinter Hendriport in einen Sessel gesetzt. Sein bleiches Gesicht war müde und abgespannt, die Augen düster und wie verschleiert. Was in der Seele dieses Mannes vorging, der so plötzlich zur gestürzten Größe geworden, ahnte niemand. Hendriports Wahl zum Vorsitzenden des Gerichts und Chivarris verlegene Mitteilung von der Unterlassung der Verhaftung des Exadvocaten vorhin hatten ihm gezeigt, wie die Dinge jetzt lagen.

Olden wurde als erster vorgeführt.

*

Philipp Brex, noch immer unentdeckt, hatte in seiner Goldkistenpyramide mit atemloser Spannung auf all die Geräusche geachtet, die die Flucht des U-Bootes aus der Bucht begleiteten.

Sehr bald war es ihm dann zur Gewißheit geworden, daß der ‚Atlantic‘ entschlüpft sein mußte.

Die Motoren schwiegen. Er hörte im Gange hastige Schritte, hörte Rufen.

Wieder Stille. –

Da wagte er sich hinaus. Er mußte Olden sprechen – um jeden Preis!

Als er gerade die Schatzkammer geöffnet hatte, vernahm er Schritte.

Er konnte die Tür nur noch rasch hinter sich anziehen.

Doch dann siegte die Neugier. Er blickte denen nach, die da soeben vorübergekommen.

Es war – Heinz Römer zwischen zwei Leuten – mit auf dem Rücken gefesselten Händen! Dann folgte Nadja unter gleicher Bewachung. –

Der kleine Brex kroch tief niedergeschlagen in sein Versteck zurück. Unter diesen Umständen durfte er nichts tun, was seine Sicherheit irgendwie gefährdete. Er war ja der einzige, der den Freunden Hilfe bringen konnte.

So saß er denn im Dunkeln mit seinen trüben Gedanken. Er ahnte, was im Schiffe sich jetzt abspielte. Man hielt Gericht über die Attentäter!

Nur über einen nicht – über ihn selbst! Und das war Philipps einziger Trost. –

Nach einer halben Stunde etwa abermals Geräusche im Gange. Man holte Olden.

Brex hörte eine barsche, haßerfüllte Stimme: „So – jetzt geht’s Ihnen an den Kragen, Spion!“

Nun wieder alles still.

Brex überlegte: ‚Oldens Verhör wird eine geraume Weile dauern. Vielleicht kann ich Heinz Römer sprechen.‘

Er huschte in den Gang.

Die Tür der ersten Materialkammer war nur verriegelt.

Brex öffnete, blieb stehen, fragte flüsternd ins Dunkle hinein: „Römer, hören Sie mich?“

Nadja antwortete schluchzend: „Ich bin’s!“

„Mut – Mut! Noch bin ich frei! Die Hauptsache, verraten Sie mich nicht!“

„Niemals!“

„Und Heinz Römer?“

„Wir hatten verabredet, überhaupt nicht zu antworten.“

„Ah – das ist am besten. – Ich muß fort. Mut, Nadja! Wenn es nicht anders geht, sprenge ich das Schiff auseinander. In dieser Kammer lagern drei Fässer rauchloses Pulver. Mut!“

Er kehrte eiligst in seinem Schlupfwinkel zurück.

Schon polterten Schritte herbei. –

Olden hatte man jetzt die Hände gefesselt. So stand er als Angeklagter am unteren Ende des Tisches.

Hendriport versuchte umsonst all seine Kniffe, ihn zum Reden zu bringen. Er geriet in Hitze, der aufgeschwemmte Exadvocat, wurde grob, höhnisch.

Er hatte noch etwas Besonderes in Bereitschaft. Er wußte ja, daß Lori Battner, die bisher völlig unbeachtet geblieben, Oldens Liebe durch Ulminski verloren hatte.

Mit hämischem Grinsen sagte er jetzt: „Man führe die Geliebte des Meisters vor, Lori Battner!“

Totenstille folgte.

Ulminski war da emporgeschnellt, hatte sich jedoch wortlos wieder gesetzt. –

Lori kam, wurde neben Olden gestellt.

„Sie sehen hier das Gericht der Indra-Loge vor sich,“ begann Hendriport mit schmalziger Würde. „Angeklagt wegen Attentats auf dieses Schiff sind vorläufig Heinz Römer, dessen Frau und Horst Olden. – Sie sollen zunächst nur als Zeugin vernommen werden. Wollen Sie aussagen?“

„Ja!“ – In Loris Hirn war blitzschnell ein Entschluß gereift.

„Waren Sie in den Plan dieses Anschlags eingeweiht?“ fragte Hendriport jetzt.

„Nein, nicht eingeweiht. Ich habe den Plan ersonnen, ich holte den Sand und die Schwefelsäure, ich füllte die Ölbuchsen der Schraubenwellen, ich schrieb den Brief für den Generalkonsul in Pernambuco.“

Olden hatte Lori Einhalt gebieten wollen. Ein Blick von ihr ließ ihn schweigen.

Hendriport lächelte.

„Und weshalb taten gerade Sie dies alles?“

„Weil ich den Fürsten hasse!“

Hendriport nickte. „Und dieser Anschlag war also die Vergeltung für – für des Fürsten Handlungsweise an Ihnen?“

„Ja!“ – Ihr bleiches Gesicht rötete sich. „Er – er hat mich entehrt, geschändet!“

„Aber Olden und das Ehepaar Römer wußten von dem Plan?“

„Nein! Olden wußte gar nichts davon. Und Nadja und ihr Gatte, die den Brief befördern sollten, habe ich über den Zweck dieses Schreibens belogen. Ich sagte ihnen, ich würde nachts nach Absendung des Briefes zu fliehen versuchen. Ich hätte daher den englischen Generalkonsul gebeten, mich bei sich aufzunehmen.“

„Hm – und das glaubten die beiden Ihnen?“

„Ja!“

„Sie lügen recht geschickt,“ höhnte Hendriport.

„Ich lüge nicht! Es ist so!“

„Wissen Sie auch, welche Strafe Ihnen droht, Miß Battner? Wir haben da ein Pflanzengift, das gewisse Gehirnzentren für immer lähmt. Wem wir dieses Gift in die Blutbahn spritzen, vergißt alles – alles, wird zum Kinde, zum blöden Narren – für immer!“

„Soll ich etwa andere meiner Rachsucht wegen unschuldig leiden lassen?!“ rief Lori mit bebenden Lippen, immer noch von dem Wunsche erfüllt, sich für Olden und die beiden andern zu opfern.

Hendriport paßte es durchaus nicht, daß Lori hier Nadja zu entlasten suchte. Nadja mußte mit verurteilt werden, damit Ulminski, um sie, sein Kind, zu retten, sich eine neue Blöße gäbe.

Er wandte sich an die Beisitzer des Gerichts.

„Sie lügt ganz offenbar,“ flüsterte er. „Ich schlage vor, auch Nadja und Römer vorzuführen und in ihrer und Oldens Gegenwart zwecks Erpressung eines Geständnisses eine kleine Komödie zu spielen, Lori zum Schein zu verurteilen und das Urteil sofort vollstrecken zu lassen – zum Schein! Wenn Olden sieht, daß man Lori das Gift beibringen will, wird er schon reden!“

Wellesley protestierte hiergegen. „Das ist unser unwürdig.“ Auch Chivarri und Doktor Grupp wollten von dieser Infamie nichts wissen.

Da meinte Hendriport hämisch: „Es scheint, Ihnen dreien liegt nicht gerade sehr viel an der Erforschung der Wahrheit! Stimmen wir ab.“

Da seine Stimme als die des Vorsitzenden den Ausschlag gab, und da Chivarri, Wellesley und Grupp bereits einsahen, daß dieser Schurke sich zum Herrn der Loge gemacht hatte und daß sie hier kaum etwas ändern könnten, wurde die widerwärtige Komödie tatsächlich zu Ende geführt. –

Nadja und Heinz erschienen. Als Hendriport ihnen Loris Geständnis vorhielt, blieben sie abermals stumm.

Nun kam des Exadvocaten letzter Streich. Nach kurzer Beratung verkündete er feierlich das Urteil:

„Freispruch für Olden und das junge Paar, geistiger Tod für Lori!“

Lori hatte inzwischen zum zweiten Male Horst Olden einen Blick zugeworfen, der alles besagte. Er solle schweigen, damit Nadja, Heinz und er selbst, also drei Menschen, gerettet würden! Er sollte dieses Opfer hinnehmen, da an ihrem verpfuschten Leben niemand mehr ein Interesse hätte!

Und – Olden verstand den Blick. Er sah Lori jetzt gleichsam als Heldin vor sich. Alles, was er für sie empfand, die ganze unendliche Liebe, erwachte stärker denn je!

Aber Olden durchschaute auch die teuflische Absicht dieses Hendriport.

Kaum hatte dieser den Spruch des Gerichts verkündet, als er auch schon rief: „Lori, fürchte nichts! Man will mich nur zwingen, die Wahrheit zu gestehen. Du aber wolltest dich opfern – für mich! Diese Wahrheit ist: Ich habe die Schmierbuchsen gefüllt, ich schrieb den Brief, ich belog Nadja und Heinz Römer in derselben Weise, wie Lori Battner es hier angegeben hat! Ich wollte fliehen, sagte ich Heinz und Nadja, denn ich war ja imstande, meine Zelle jeder Zeit zu verlassen, da ich neben den Riegeln Löcher in die Tür gebohrt hatte, so daß ich diese mit einem Stück Draht zurückziehen konnte! Wie hätte wohl ein Weib einen solchen Plan ausklügeln können?!“

Hendriport biß sich vor Wut auf die Lippen. Nadja drohte ihm zu entschlüpfen.

„Ich werde mich überzeugen, ob die Löcher in der Tür vorhanden sind,“ erklärte er und erhob sich. Er hoffte, er würde nichts vorfinden.

„Ich begleite Sie dann,“ sagte Wellesley ernst.

Sie verließen den langgestreckten Speiseraum.

Wieder Totenstille.

Ulminski hatte die Hand mit den Augen bedeckt. Lori war in einen Stuhl gesunken und starrte vor sich hin. Nadja und Heinz hatten sich aneinander gelehnt – bleich – gefaßt. Nadja raunte dem Geliebten zu:

„Nichts verraten. Brex wird helfen!“

Dann kehrten Hendriport und Wellesley zurück. Der Exadvocat verkündete, daß die Löcher in der Tür vorhanden seien.

„Das beweist jedoch noch nicht die Schuldlosigkeit des Ehepaares und Lori Battners,“ fügte er hinzu. Seine Augen funkelten. „Nein – das beweist nur, daß diese Löcher von – außen gebohrt worden sind, wie Wellesley ebenfalls erkannt hat. Man sieht dies genau. Der Bohrer wurde von außen angesetzt! Also – hat ein anderer Olden die Möglichkeit verschafft, seine Zelle zu verlassen, und dies kann nur die Person gewesen sein, die volle Bewegungsfreiheit hier an Bord hatte: Nadja Römer!“

Heinz wollte etwas dazwischen rufen. Aber Nadjas Hand preßte vielsagend seinen Arm.

„Ja – ich war’s!“ erklärte sie rasch. „Ich holte den Bohrer aus dem großen Werkzeugkasten des Maschinenraums!“

„Mit Wissen Ihres Gatten?“ fragte Hendriport lauernd.

„Nein!“

„Und der Brief, Nadja Römer? Was wußten Sie über dessen Inhalt?“

Da erwiderte Olden achselzuckend: „Ich denke, das habe ich bereits klargestellt. Nadja, Heinz und Lori glaubten lediglich, ich wollte fliehen und in Pernambuco bei dem Generalkonsul unterkommen.“

„Schweigen Sie!“ fuhr Hendriport ihn an. „Niemand wird an diese Lüge glauben – niemand! – Ich halte den Sachverhalt jetzt für genügend geklärt. Oder wünscht einer der Beisitzer die Angeklagten noch zu befragen?“

Stille.

„Dann beantrage ich gegen die Vier dieselbe Strafe: Den geistigen Tod!“

Hendriport sagte es stehend, feierlich, mit einem vor satanischer Freude geradezu leuchtenden Gesicht.

„Und weiter beantrage ich, daß die Strafe sofort vollstreckt und die vier dann an der Küste irgendwo ausgesetzt werden! – Was haben die Angeklagten zu ihrer Verteidigung noch anzuführen?“

Die vier schwiegen.

Ulminski ließ jetzt die Hand von den Augen sinken. Stand auf. Trat neben den Exadvocaten.

 

39. Kapitel.

Brex als Retter.

Auf diese Einmischung hatte Hendriport gewartet, gehofft.

Mit scheinbarer Unterwürfigkeit, die jedoch in ihrer ganzen Art so übertrieben war, daß sie wie versteckter Hohn wirkte, wandte er sich Ulminski zu:

„Sie befehlen, Meister?“

Ulminskis fahles Gesicht mit den plötzlich so tief eingefallenen Wangen und den großen runden Gläsern der Hornbrille hatte etwas Totenkopfähnliches an sich. Aber die Augen flammten dafür in einem unnatürlichen Feuer.

Er stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. Dreimal holte er tief Atem. Dann sagte er mit tonloser Stimme, und doch überlaut und schneidend – wie der Warnungsruf einer schrillen, auf denselben Ton abgestimmten Hupe:

„Ich befehle nichts! Ich bin hier nur Zuhörer. Aber gerade deshalb habe ich das Recht, hier als Verteidiger der vier Angeklagten aufzutreten. Die Gesetze der Indra-Loge gestatten es, daß ein beliebiger Bruder die Verteidigung eines Angeschuldigten übernimmt.“

Ein maliziöses Lächeln umspielte Hendriports Lippen.

„Das ist richtig, Meister. Niemand würde etwas dagegen haben,“ erklärte er mit einer Verneigung.

Ulminski wollte mit seiner Ansprache beginnen, richtete sich höher auf. Sein Blick flog über die Versammelten hin.

Da sagte Hendriport wieder: „Niemand würde etwas dagegen haben, daß Sie, Meister, hier den Verteidiger spielen, wenn der zur Aburteilung stehende Fall nicht derart läge, daß auch Ihre Aussage als Zeuge vielleicht zur Klärung des Sachverhalts noch nötig wäre. Ich hätte sehr wahrscheinlich jene Einzelheit, über die Sie gehört werden könnten, vergessen. Jetzt aber treten wir in die Verhandlung nochmals ein.“

In Ulminskis Antlitz zeigte sich einen Moment leichte Unruhe. Dann aber erklärte er etwas hochfahrend: „Fragen Sie!“

Hendriport verbeugte sich wieder. „Sofort, Meister. – Für die Beisitzer des Gerichts möchte ich folgende Szene zunächst schildern. Als die drei Alarmschüsse fielen, als der Meister dann aus den Uferbüschen hervorkam, stürmte ihm die Angeklagte Nadja Römer, seine Tochter, entgegen. Ich beobachtete dies von der vorderen Turmluke aus, ebenso Jenkins –“.

Jenkins nickte eifrig.

„Ich hatte nun den ganz bestimmten Eindruck, daß Nadja Sie, Meister, von der Laufplanke wegdrängen wollte. Ihre Tochter flüsterte Ihnen etwas zu, worauf Sie sie mit einem merkwürdigen Blick musterten. Börtgens Zuruf veranlaßte Sie dann, an Bord zu gehen. – Ich frage Sie nun als Zeugen, Meister: Was hat Ihre Tochter Ihnen zugeraunt?“

Vor Ulminskis Augen wallten blaurote Nebel. Dicke Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Seine gefolterte Seele, in der jetzt schrecklicher noch als zuvor die Liebe zu seinem Kinde und die heiße Leidenschaft für Lori und der Wunsch, beide zu retten, mit dem strengen Pflichtgefühl des Logenmeisters stritten, ließ ihn in diesem Moment den Tod ersehnen.

Er wußte, wenn er die Wahrheit sprach, waren Nadja und Lori mit verloren! Denn Nadjas flehende Bitte auf der Laufplanke, er solle fliehen, um dem Unheil zu entrinnen, ergab ja den Beweis, daß Olden die Häscher mit Wissen der anderen jetzt Angeklagten herbeigerufen hatte, daß Nadja eben genau vorausgesehen hatte, was sich ereignen würde: Die Einkreisung des Goldschiffes!

Der Kampf in Ulminskis Seele war kurz, währte nur Sekunden. Ein Gedanke gab bei ihm den Ausschlag: Daß er sich in der Treue, Anhänglichkeit und Dankbarkeit seiner Leute getäuscht hatte, daß dieser Hendriport, bis dahin scheinbar einer seiner ergebensten Mitthelfer, in wenigen Stunden es fertig gebracht hatte, die Besatzung des ‚Atlantic‘ größtenteils auf seine Seite zu ziehen.

Ulminski fühlte sich frei und rein vor sich selbst, als er jetzt gleichmütig erwiderte:

„Meine Tochter war offenbar in großer Sorge wegen meiner verspäteten Rückkehr. Was sie mir zuflüsterte, kann ich wörtlich nicht mehr wiederholen. Der Sinn war der, daß ich das U-Boot schleunigst ins offene Meer hinaus führen sollte, da die Schüsse doch eine sehr ernste Warnung seien. Ich war zu erregt, um auf Nadjas Worte besonders achtzugeben. Wenn ich Nadja irgendwie in auffälliger Weise angeschaut haben soll, so mag es bei mir eben aus Sorge um ihre Sicherheit geschehen sein. Wer will in solchen Momenten sich Rechenschaft über seine Blicke geben können?!“

Er zuckte leicht die Achseln. „Mehr kann ich nicht aussagen, Hendriport.“

Der Exadvocat war enttäuscht. Der wohlüberlegte Hieb war daneben gegangen. Er ahnte zwar, daß Ulminski gelogen hatte, konnte ihm aber diese Lüge nicht nachweisen.

Aber – etwas anderes konnte er.

Und er tat’s mit der ganzen Raffiniertheit des schlauen Anwalts.

„Meister, es bedarf hier kaum der Erwähnung,“ sagte er sehr gedehnten Tones, „daß Sie als Zeuge keinerlei Rücksicht auf Ihre Tochter nehmen dürfen –“.

„Zweifeln Sie an meinen Worten?“ meinte Ulminski eisig.

„Zweifel wäre zwecklos, da niemand gehört hat, was Nadja Ihnen zuraunte. Ich frage Sie aber, ob Sie Ihre Aussage auf Ihren Logeneid nehmen?“

„Ja, das tue ich!“

„Nun gut. Dann dürfte kaum jemand noch auf den Gedanken kommen, Sie – könnten etwas Falsches hier bekundet haben –“.

Er machte eine längere Pause, ließ diese Sätze sich erst hineinfressen in die Hirne der Versammelten.

Dann fügte er, wieder mit dem scheinbar so unterwürfigem Lächeln hinzu:

„Gestatten Sie noch eine Frage, Meister. Ist Ihnen nicht sofort in Pernambuco nach der Warnung durch den Polizeibeamten der Gedanke gekommen, daß der Spaziergang Nadjas und ihres Gatten vorgestern abend dazu gedient haben könnte, den Verräterbrief an den Generalkonsul befördern zu lassen?“

Wieder eine Pause.

„Ich muß Ihnen nämlich mitteilen, Meister, daß ich eine Untersuchung gegen Sie wegen Pflichtversäumnis beantragt habe, dies natürlich nur zu dem Zweck,“ er verbeugte sich tief – „Ihnen Gelegenheit zu geben, vor den Brüdern gewisse Möglichkeiten der Mißdeutung Ihrer Handlungsweise restlos zu beseitigen. Daher frage ich nochmals: Dachten Sie nicht sofort an Nadja und Römer als die Absender des Briefes?“

„Ja, gewiß. Aber dieser jäh in mir aufgezuckte Verdacht erschien mir so ungeheuerlich, daß ich ihn sofort wieder verwarf. Welcher Vater wird annehmen, daß sein Kind mitgeholfen haben könnte, ihn ins Zuchthaus oder an den Galgen zu bringen?“

Hendriport zog die Augenbrauen hoch und ließ ein Hüsteln hören.

Dann wandte er sich an Chivarri: „Bruder, Sie waren mit in Pernambuco – der Meister, Sie und Börtgen. Gunnar Börtgen ist tot. – Hat der Meister seinen Verdacht gegen Nadja und Römer Ihnen gegenüber irgendwie Ausdruck verliehen?“

Chivarri fuhr sich mit der Hand über die feucht gewordene Stirn.

„Nein,“ erklärte er zögernd. „Ich war es, der diesen Verdacht aussprach.“

„Ah – und was tat der Meister da?“ Hendriports Augen fraßen sich in des Italieners Gesicht fest. „Er muß sich doch dazu geäußert haben, Bruder Chivarri!“

„Er – er gab nur seinem Pferde die Hacken und jagte uns voraus. Ich halte es aber für durchaus wahrscheinlich, daß der Meister diesen Verdacht als etwas einfach Unmögliches aus seinen Gedanken rasch verdrängt hat. Wer den Meister so kennt wie ich, der weiß wie sehr er sein Kind liebt und wie –“.

„Das sind persönliche Ansichten,“ unterbrach Hendriport ihn schroff, der auch jetzt wieder fühlte, daß Ulminski ihm entglitt. „Ansichten, Überzeugungen sind’s, die Sie besser nicht laut werden lassen sollten, Bruder Chivarri, denn – die Tochter, die den Vater verriet, hat den geistigen Tod doppelt verdient.“

Dann zu Ulminski: „Meister, haben Sie noch die Absicht, als Verteidiger der Angeklagten aufzutreten?“

„Ja! Aus dem einfachen Grunde, weil ich der einzige bin, der die Handlungsweise der Angeklagten verstehen und entschuldigen kann. – Zunächst Horst Olden. Er ist Privatdetektiv. Er hat sich den Kampf gegen Gesetzesverächter zum Beruf erwählt. Wir sind Verbrecher nach den moralischen Anschauungen der Welt. Es war seine Pflicht, uns unschädlich zu machen. Er wurde nicht zum Verräter an uns! Nein, er war keiner der unsrigen, war unser Gefangener. Wer ein Mann ist, muß für ihn, seinen Mut, seine Selbstaufopferung Sympathie empfinden. Die ihm zugedachte Strafe wäre zu hart, falls wir überhaupt berechtigt sind, ihn zu bestrafen! Und hiermit komme ich auf den Punkt zu sprechen, der einzig und allein ausschlaggebend ist. Nachdem ich im Maschinenraum unter dem ersten Eindruck der Geschehnisse, also übereilt, der Einsetzung eines Gerichts zugestimmt hatte, nachdem ich dann hier gesehen habe, daß dieses Gericht mindestens zur Hälfte aus Leuten besteht, die –“ – und sein herrischer, zwingender Blick streifte Hendriport, Jenkins und Smitson – „die sich bemühen, Mißtrauen gegen meine Person hier zu säen, habe ich die rechtliche Seite dieses Gerichtsverfahrens in Gedanken nochmals geprüft –“.

Er drehte sich halb zurück. „Hole mir aus meiner Kajüte das Gesetz der Indra-Loge, Warmbke,“ befahl er, und jetzt war er wieder in Haltung, Sprache und Gesten derselbe Ulminski, dem bisher niemand zu widersprechen gewagt hatte.

Der Berliner Warmbke eilte hinaus.

„In diesem Gesetz,“ fuhr Ulminski fort, „steht lediglich einiges über die Aburteilung von Brüdern der Loge, die sich eines Verrats, eines Ungehorsams oder einer Pflichtversäumnis schuldig gemacht haben, nichts darüber, daß wir auch ein Gericht über Nichtmitglieder anerkennen. Nein – Nichtmitglieder, die uns gefährlich werden, zu beseitigen oder zu bestrafen, ist einzig und allein Aufgabe des Meisters. Ich werde euch die Paragraphen vorlesen.“

Der Berliner brachte das in schwarzes Leinen gebundene Heft.

Ulminski las vor – langsam, mit scharfer Betonung. Dann erklärte er: „Ihr alle habt dieses Gesetz durch Eid als Richtschnur eures Tun und Lassens bestätigt. Ich hebe daher dieses Gericht wieder auf und bestimme als Strafe für die Schuldigen folgendes: Sie sind einzeln bis zu unserer Ankunft in Tamira in Gewahrsam zu halten. Dort soll Olden so lange in strenger Haft verbleiben, bis er schwört, daß er nie wieder etwas gegen uns unternehmen und nichts davon verraten will, was er auf dem U-Boot hier und auf Tamira erlebt hat. – Nadja und Heinz Römer aber werden für alle Zeit auf Tamira bleiben. Sie müssen Mitglieder der Loge werden. Tun sie es nicht, so bleiben sie lebenslänglich in Haft. – Lori Battner –“ – er zögerte merklich – „dürfte die am wenigsten Schuldige sein. Sie soll daher auf Tamira sich frei bewegen dürfen, wenn sie schwört, nicht zu entfliehen. Weigert sie den Eid, so wird sie als Gefangene, aber rücksichtsvoll behandelt. – Dies ist mein Spruch! Er ist gerecht, ohne Haß, ohne Bitterkeit. Und bei diesem Spruch bleibt es!“

Hendriport schnellte, weiße Flecken der Wut auf den schwammigen Wangen, empor, kreischte: „Brüder, das – das ist eine willkürliche Auslegung unseres Gesetzes! Das ist –“.

Aber jetzt hatte Ulminski sich selbst wiedergewonnen. Jetzt übertönte seine Stimme drohend die des Hetzers.

„Schweigen Sie! Ich bin noch nicht zu Ende! – Ich befehle nochmals, daß Jonathan Hendriport wegen Aufreizung zum Ungehorsam in Eisen gelegt wird! – Brüder, bisher herrschte volle Einigkeit unter uns! Bisher glückte alles, was ihr unter meiner Führung unternommen habt! Wollt ihr jetzt, wo wir dicht am Ziel unseres jahrelangen Strebens sind, wo wir uns unterwegs nach Tamira, dem Lande unserer Zukunft, befinden, auf die Einflüsterungen eines ehrgeizigen Narren hören, der plötzlich mich verdrängen und sich selbst zu eurem Meister und Herrn aufschwingen will?!“

Seine Augen flammten über die Versammlung hin.

Da war es Jenkins, der Maschinist, der spöttisch rief: „Wir wollen einen Meister, der das Gesetz nicht verdreht!“

Einen Moment Stille.

Dann vereinzeltes Beifallsgemurmel.

Dann – flog Ulminskis rechter Arm hoch.

Ein Schuß knallte.

Und Jenkins sank durch die Stirn getroffen hintenüber.

*

Nicht die ganze Besatzung des ‚Atlantic‘ hatte an der Gerichtsverhandlung als Zuhörer teilnehmen können. Im Kommandoturm waren drei Leute zurückgeblieben, die Chivarri persönlich zu diesem Dienst kommandiert hatte. Es waren dies drei deutsche Brüder der Berliner Hauptloge, Ulminskis Leibgarde, wie man sie meist nannte. Er hatte sie stets zu seinem Schutz bei sich gehabt, wenn man irgendwo auswärts ein größeres Unternehmen vorhatte. Diese Drei waren unbedingt zuverlässig. Das wußte Chivarri.

Das U-Boot trieb noch immer mit einer ostwärts gehenden Strömung in einer Tiefe von zehn Metern in den Ozean hinaus. Da es hier keine Inseln, flache Stellen oder dergleichen gab, wo das Goldschiff etwa hätte auflaufen können, war der Dienst dieser drei keineswegs anstrengend.

Sie besprachen jetzt unter sich die letzten Vorgänge, besonders das, was sie über Hendriports Verhalten im Maschinenraum von ihrem Landsmann Warmbke gehört hatten.

Sie unterhielten sich in dem engen Turm ohne Scheu. Lauscher brauchten sie nicht zu fürchten. Manch kräftiges Wort fiel gegen den Exadvocaten und seinen Anhang.

Und doch wurden sie belauscht. Philipp Brex war, von einer nicht mehr zu bezwingenden Unruhe getrieben, aus dem untersten Schiffsraum emporgestiegen und hatte sich durch die matt erleuchteten Gänge bis an die Klappe eines Ventilators geschlichen, der in den Speiseraum mündete.

So wurde er ebenfalls Zuhörer der denkwürdigen Gerichtsverhandlung, bis ihn Warmbke verscheuchte, der das schwarze Heft holen ging. Brex mußte nach oben flüchten, um nicht bemerkt zu werden. Auf diese Weise gelangte er in die Nähe der schmalen eisernen Treppe, die in den Turm führte.

Der Name Hendriport erreichte sein Ohr.

„Schuft!“ sagte oben im Turm eine erregte Stimme.

Brex horchte. Bald wußte er genug. Er eilte in sein Versteck zurück. Dort lagen schon die acht gut verkorkten Flaschen, die er vorbereitet hatte, nachdem er mit Nadja gesprochen.

Acht Flaschen, jede mit einem Zettel, auf dem in drei Sprachen, Deutsch, Englisch, Französisch, folgendes stand:

‚U-Boot ‚Atlantic‘ hat als Fahrtziel die Insel Tamira an der Küste Chiles. Bitte umgehend nächste Hafenbehörde oder Kriegsschiff benachrichtigen. Die Insel soll vorsichtig umzingelt, aber nicht besetzt werden, da dort sicherlich Funkspruchstation vorhanden, die das U-Boot warnen könnte. – Philipp Brex, Kriminalbeamter aus Berlin, zur Zeit heimlich an Bord des ‚Atlantic‘.‘

Diese Flaschen nahm er jetzt mit nach einem der Steuerbordventile des Schiffes, die so eingerichtet waren, daß man auch Gegenstände hinausbefördern konnte, ohne daß Wasser in dem Schiffsraum eindrang.

Brex mußte die Verschlüsse und den ganzen Mechanismus erst probieren. Seine Findigkeit ersetzte die technischen Kenntnisse.

Die acht Flaschen schossen nacheinander nach oben, trieben auf der leicht bewegten See weiter, zerstreuten sich.

Zwei Tage drauf fischte ein Zollkutter in der Nähe des Hafens von Pernambuco eine dieser Flaschen auf. –

Brex hatte die jetzt im U-Boot herrschende Ruhe benutzt. Er war zufrieden. Die Flaschen schwammen. Alles weitere blieb dem Zufall überlassen.

Der kleine Philipp kehrte in das Oberdeck an die Ventilationsklappe zurück.

Kaum hatte er sie geöffnet, als durch das breite Metallrohr der Knall eines Schusses zu ihm empordrang.

Er lauschte. Ein Ausdruck wilden Schrecks flog über sein faltiges Gesicht.

Dann – ein Gedanke, die Eingebung eines Augenblicks.

Er jagte die Eisenleitern hinab.

Er war im Maschinenraum. Dort die Brennstoffkammer.

Dort ein angebrauchter Ballon. Er packte einen Schraubenzieher, schlug ein Loch in die Wandung. Packte ein schmutziges Taschentuch, ölstinkend.

Ein Streichholz flackerte. Das Taschentuch schwelte. –

Brex raste in sein Versteck, wartete.

Er zitterte am ganzen Leibe.

Um einen Verbrecher zu retten, hatte er vielleicht das Leben aller aufs Spiel gesetzt.

*

Jenkins lag regungslos am Boden.

Ringsum bleiche Gesichter.

Hendriport kauerte zusammengeduckt in seinem Sessel – sprungbereit.

Ulminski legte den Revolver vor sich auf den Tisch.

„Schafft den Toten fort!“ befahl er. „Hendriport wird gefesselt – sogleich! – Smitson, Sie werden es tun.“ Seine Stimme war kalt, wehte über die erbleichten Gesichter wie ein Eishauch hin.

Dann hatte Hendriport sich halb über den Tisch geworfen, ergriff den Revolver, stieß den Stuhl um, sprang zurück – legte auf den Meister an.

„Seid ihr Memmen!“ brüllte er. „Seht ihr nicht, daß er mit euch umgeht wie mit räudigen Hunden!“

Der Sturm brach los.

Erst nur zwei – drei Stimmen.

Dann ein wahnsinniger Chor. „Nieder mit ihm, dem Mörder!“

Wellesley, Chivarri und ein paar treu Gebliebene stellten sich schützend vor Ulminski.

Chivarri hielt schon den Browning in der Hand.

Der Fürst – lächelte seltsam. Es war in diesem Lächeln eine solche Trauer, eine solche Verachtung, daß es mehr wirkte als des Italieners Waffe.

Das wüste Geschrei erstarb.

„Schießen Sie doch!“ sagte Ulminski zu Hendriport und schob Wellesley beiseite. „Schießen Sie! Dann ist dieser erbärmliche Verrat besiegelt!“

Der frühere Zuchthäusler zauderte.

Chivarri zielte auf ihn.

Eine unheimliche Stille folgte.

Und dann – dann ein dumpfer Krach von unten her.

Das U-Boot erbebte, schwankte.

Starre Gesichter blickten angstvoll auf den Meister, den Herrn. Die Furcht erstickte jedes Gefühl der Auflehnung.

Wellesley und einige Leute stürmten davon. Ein Wink Ulminskis hatte genügt.

Chivarri trat rasch auf Hendriport zu, nahm ihm den Revolver weg. Drei Leute packten den Hetzer. Drei andere Smitson. –

Ulminski folgte Wellesley in den Maschinenraum hinab, wo dieser das explodierte Gefäß bereits durch Sand hatte beschütten lassen.

Das Feuer war bald gelöscht. Aber dicker Qualm zog durch alle Gänge, vergiftete die Luft.

Das U-Boot mußte emportauchen. Ulminski stieg als erster durch die Turmluke, hielt Ausschau.

Dort nach Westen zu die hellen Lichtfinger von Scheinwerfern – dort suchte man die Piraten. In der Nähe nur die Dämmerungen, der Frieden der Tropennacht.

Ulminski ging und setzte sich auf den noch nassen Deckel der Achterluke.

Sann vor sich hin. Seine Seele war tot. Seine Leute hatten sie gemordet – durch Untreue! Was wollte es besagen, daß sie jetzt wieder zur Besinnung gekommen waren?! –

Dann kam Chivarri.

„Meister, wir haben ein halb verkohltes Taschentuch Hendriports gefunden,“ sagte er erregt. „Es ist fraglos als Lunte benutzt worden. Hendriport leugnet natürlich. Aber Smitson hat jetzt, um den eigenen Kopf zu retten, alles verraten: Hendriport wollte mit sechs Leuten der Liverpooler Zweigloge die Schätze des ‚Atlantic‘ für sich und sie beiseite schaffen, wollte sich zunächst an Ihre Stelle setzen und dann –“.

Ulminski unterbrach ihn mit einer müden Handbewegung.

„Sie sind Kommandant, Chivarri. Ich muß vorläufig allein sein.“

Der Italiener ging zögernd zum Turme zurück.

 

40. Kapitel.

Der Grabstein des Meisters.

Der Mond tauchte aus dem Meere auf. Ulminski starrte in die Silberbahn des Nachtgestirns.

Börtgen – wie er Börtgen den Tod neidete! Was blieb ihm noch in diesem Dasein? Nichts – nichts! Sein Kind sogar treulos, seine Nadja.

Alles verloren – alles: Den Glauben an die Menschheit! Alles zusammengestürzt, was er in seinem Innern aufgebaut: Die Hoffnung, dort in Tamira ein Geschlecht braver, arbeitsamer, zufriedener Menschen großziehen zu können, schlechte Instinkte zu beseitigen!

Alles verloren – auch die Geliebte! Alles gegen ihn im Kampf! Er das gehetzte Wild – er – er!

Sein bitteres Lachen gellte in das Rauschen der Wogen.

Er sah nicht, daß Nadja auf ihn zuschlich.

Er spürte plötzlich ihre Arme, hörte ihr Schluchzen. Auf den Knien lag sie vor ihm.

„Papascha – mein Papascha!“

Und stammelte halb irr ihre Entschuldigungen. Daß sie doch darauf bestanden hätte, er solle entfliehen dürfen. Daß Heinz dasselbe gewollt. Nur Brex erwähnte sie nicht. Das wagte sie doch nicht.

Ulminskis Herz wurde weich. Wie wohl das tat, dies alles zu hören! Also doch nicht allein – nicht ganz einsam! Sein Kind war ihm geblieben.

Er küßte Nadja. Er hatte ihr verziehen.

Dann dachte er an seine Pflicht – mußte hart sein.

„Geh’, Nadja! Chivarri soll euch beide in eurer Kajüte bewachen lassen –“.

Und sie ging – freudig, heiter, befreit von der schweren Seelenlast.

Ulminski blieb einsam an Deck.

Eine Viertelstunde später nahte eine Abordnung der Besatzung, fünf Leute, die dem Meister im Namen aller versichern sollten, daß sich nie wieder etwas derartiges ereignen würde wie vorhin.

Der Sprecher war einer von Hendriports Anhang. Doch der Mann meinte es ehrlich. Ulminski fühlte das, reichte ihm die Hand.

Und war wieder allein. Der stille Mond beschien ein Männerantlitz, in dem die Hoffnung aufgelebt war. –

Als Wellesley jetzt kam und ihm den Wunsch der Besatzung überbrachte, Nadja, Heinz und Lori sollten in Freiheit bleiben, war der Fürst wieder ein anderer geworden.

„Nein, Wellesley,“ erklärte er ernst, „was ich befohlen habe, wird ausgeführt. Es muß sein. Sie werden das selbst einsehen. Hendriport soll sofort abgeurteilt werden.“

„Er – er ist schon tot, Meister. Er hat sich erhängt.“

*

An Bord des U-Bootes herrschte nun wieder Frieden und Eintracht.

Unaufhaltsam setzte es seine Fahrt nach Süden fort, umschiffte Kap Hoorn und näherte sich immer mehr seinem Ziele.

Die vier Gefangenen wurden nicht allzu streng beaufsichtigt. Lori hatte eine Kabine für sich allein erhalten, Nadja und Heinz bewohnten weiter die Kajüte und Olden saß noch immer unten in seiner engen Kammer.

Täglich durften sie einzeln für mehrere Stunden an Deck. Aber niemand sprach mit ihnen. Ulminski ließ sich nicht sehen, wenn sie oben frische Luft schöpften. Die Leute sollten merken, daß er jetzt nur noch Meister der Loge war und keine Rücksichten kannte.

Brex war der heimliche Verkehr mit Olden unmöglich gemacht worden. Man hatte an Oldens Kammertür ein Schloß angebracht, und vor dieser Tür stand nachts zudem noch eine Wache.

Der kleine Philipp langweilte sich entsetzlich. Er hatte jetzt einen stachligen Stoppelbart bekommen, hatte mindestens acht Pfund Fett sich zugelegt, denn er ernährte sich nicht schlecht und hatte außer den Freiübungen keinerlei Bewegung.

Die Schatzkammer wurde selten von jemand besucht. Brex durfte sich völlig sicher fühlen. –

Olden las viel. Sehr bald hatte er dann ein Mittel entdeckt, mit Lori heimlich Briefe zu wechseln. Er hatte in einem Roman aus der Schiffsbibliothek einen Zettel Loris gefunden, auf dem sie einige Stellen aus dem Roman abgeschrieben hatte. Das gab ihm den Gedanken ein, in das Buch, das er gerade las, einen anderen Zettel hineinzulegen, einen kurzen Gruß an Lori. Doktor Grupp, der sich täglich von dem Gesundheitszustand der Gefangenen überzeugen mußte, bat er, Lori das Buch zu empfehlen. So wurde die Korrespondenz eingeleitet und fortgeführt. Die Briefe wurden länger und länger. Lori lebte auf. Der Ton dieser Briefe, die sie von Horst erhielt, ward inniger. Versteckte Zärtlichkeiten drängten sich ein. Sehnsucht durchwehte die Zeilen. –

Ulminski hatte das feierliche Begräbnis Börtgens Anlaß gegeben, die Seinen nochmals zur Einigkeit zu ermahnen.

Keiner der Leute wagte jetzt mehr, gegen den Meister auch nur die geringste abfällige Äußerung laut werden zu lassen. Man pries seine Härte gegenüber den Gefangenen. Man vertraute ihm wieder.

Und doch – des Fürsten Seele war in jener Nacht des Aufruhrs zu sehr enttäuscht worden. Er genoß Vertrauen, aber – er hatte kein Vertrauen mehr. Er kannte jetzt die Wankelmütigkeit der Menschen. Der geringste Anstoß, fürchtete er stets, und die Rebellion würde wieder erwachen. Niemand wünschte sehnlicher als er, daß die hohen, zerrissenen Gestade endlich am Horizont erschienen, denn dort auf Tamira würden die Arbeit und der Reiz der Neuheit die Leute nicht mehr an die Stunden denken lassen, in der ihr Meister als Angeklagter vor ihnen gestanden hatte. –

Und auch diese Stunde kam, wo endlich im Morgengrauen das Inselreich der Indra-Brüder aus den Fluten emporstieg.

Wo der hohe Kegel des Vulkans an der Nordspitze der durch das Seebeben vielfach vergrößerten Insel mit seiner Rauchkrone als erster die Besatzung des ‚Atlantic‘ begrüßte.

Wo der Funkspruchapparat von der Insel her die Meldung brachte, daß auf Tamira alles in Ordnung war, und der Fürst dann feierlich die Fahne des neuen States hissen ließ.

Dicht gedrängt standen die Leute auf dem leicht gewölbten Deck.

Deutlicher und klarer wurden die Gestade. Da winkten hochragende Palmen, da zogen sich grüne Matten die Abhänge hinan. Mit dem Fernrohr unterschied man bereits in der tiefen, durch eine Riffbarriere geschützten Bucht die Häuser am Buchtufer, in denen die vorausgesandten Gefährten wohnten.

Die Sonne war aufgegangen. Aber sie blieb in gelblichen Dunst gehüllt. Ein fahles Licht lag über Meer und Insel. Die starken Rauchwolken, die dem Krater des Vulkans entstiegen und ein dumpfes Rollen wie fernes Gewitter, einzelne hochaufschäumende Wellen und aus der See emporquellende Dampfwolken bewiesen, daß die unheimlichen Mächte des Erdinneren sich wieder einmal regten. –

Ulminski hatte Chivarri und Wellesley beiseite genommen.

„Diese Zeichen beunruhigen mich,“ meinte er leise. „Wir werden die Bucht nicht anlaufen, sondern dort vor den Riffen ankern. Ein Seebeben könnte zu leicht derartige Veränderungen der Strandlinie hervorrufen, daß das U-Boot in der Bucht wie in der Mausefalle festsäße.“

So ging der ‚Atlantic‘ denn draußen vor der Riffreihe vor Anker.

Von Land her näherten sich vier große Ruderboote. Ulminski verstand es, daß seine Leute recht schnell die Insel betreten und sich ansehen wollten. Nur er blieb mit zehn Männern an Bord zurück – und den Gefangenen.

Er ließ sie jetzt an Deck holen. Smitson brachte Olden herauf – als letzten.

So sah Olden denn die Geliebte wieder – nach zehn Tagen zum ersten Male.

Aber – dieses Wiedersehen war nur zu sehr dazu angetan, seine wilde Eifersucht auf den Fürsten erneut aufflammen zu lassen.

Lori stand vor Ulminski, hatte ihm die Hand gereicht. Und Olden hörte gerade, wie sie tief bewegt sagte: „Ich verzeihe Ihnen –“.

Sah des Fürsten freudig leuchtende Augen. –

Neben Nadja und Heinz, die sich umschlungen hielten, hockte die Bulldogge Sherry und winselte – vielleicht mit dem feinen Instinkt des Tieres die Katastrophe vorausahnend.

Da – Smitsons schriller Ruf: „Verrat – Verrat! Dort – U-Boote – sechs – acht – keine zweitausend Meter entfernt! – Dort – neue tauchen auf! Wir sind eingekreist!“

Ulminski fuhr herum.

Der Feind! Der Feind – von allen Seiten!

„Ankerkette über Bord!“ befahl er. „Wir tauchen! Smitson – in den Turm! Die Gefangenen hinab!“

Die zehn Leute drängten zu den Luken. Aber Philipp Brex’ Werk war bereits getan.

Qualmwolken schlugen aus den Luken hoch.

„Verrat!“ brüllte Smitson aufs neue.

Der Vulkan der Insel begann im selben Moment ungeheure Massen von Flammen, Lava und Steinen auszuwerfen. Die Insel bewegte sich. Palmen knickten um, Hügel verschwanden, Täler wurden zu Anhöhen.

Die See war blitzartig zu einem brodelnden, dampfenden Kessel geworden.

Brex erschien aus der Achterluke. In jeder Hand einen Revolver.

„Olden – her zu mir!“

Smitson und zwei andere Leute hatten ebenfalls ihre Brownings gezogen.

„Schuft, stirb!“ schrie Smitson.

Zielte auf Olden.

Lori sprang vor.

Ein Schuß.

Und Ulminski fing Lori auf.

Ein zweiter Schuß.

Ulminski taumelte, glitt über Bord – verschwand lautlos in den höher und höher gehenden Wogen.

Ein furchtbarer Stoß traf den ‚Atlantic‘ von unten. Das Heck wurde hoch emporgeworfen. Was noch an Menschen auf den Deckplanken gestanden, war hinab geschleudert worden in den kochenden Ozean.

Olden hatte Lori im Sturze zu packen bekommen – hielt sie fest, hielt sie über Wasser.

Sherrys weißes Gebiß vergrub sich in Nadjas Arm. Die Bulldogge rettete Nadja, bewahrte sie vor dem sicheren Tode.

Der ‚Atlantic‘ sank.

Und drüben die Insel – nur noch ein Inselchen, immer kleiner, zurückgleitend in die Fluten, die sie einst geboren, hinab in den Schoß des Meeres, wieder Meeresboden werdend.

Nur noch der kahle Vulkan überragte die schäumende, wild gepeitschte See. –

Ein englisches U-Boot war als erstes zur Stelle, rettete die fünf Menschen und den Hund – rettete sonst niemand.

Alles – alle hatte der Ozean verschluckt. Die Schätze des ‚Atlantic‘ ruhten in endloser Tiefe. Leichen trieben umher, Häuserreste, entwurzelte Bäume. –

Lori lag in dem schmalen Bett des Kommandanten; soeben zum Bewußtsein zurückgekehrt, bereits verbunden, mit durchschossener Schulter.

Olden kniete neben dem Bett – küßte ihre Hand. Und wie ein Hauch traf die flehende Bitte sein Ohr:

„Nicht Schwester – nicht Schwester!“

Er beugte sich über sie, küßte ihre Lippen, streichelte ihr Haar.

„Mein Liebling – du mein Liebling!“ sagte er immer wieder.

Und Lori lächelte im seligen Bewußtsein, daß sie mit ihrem Blute sich ihre Reinheit, ihr Glück wieder erobert hatte.

*

Das Haus der Geheimnisse birgt keine Geheimnisse mehr, oder doch nur glückliche Geheimnisse.

Da wohnen jetzt die drei Liebespaare, deren Schicksale wir hier miterlebt haben.

Da erscheint sehr häufig der kleine Philipp Brex als Gast, und dann sitzen diese sieben Menschen im Salon Frau Lori Oldens in der früheren Wohnung des Grafen Brucksal beieinander und lassen ihre Gedanken in einer Pause des Gesprächs hinüber schweifen über Meere und Länder bis hin zu jenem einsamen Vulkan, jenem Überrest der Insel Tamira, wo der Mann den Tod fand, der dieses Ende niemals verdient hatte.

Sergius Ulminskis Grabstein ist der Vulkan von Tamira, ein Grabstein, seiner würdig, der Grabstein eines irrenden, edlen Menschen.

*

So geh’ hinaus, du Werk so vieler Nächte,
Du Spiel der Phantasie gedankenreich;
ich wünschte, daß ein jeder dächte:
wir alle sind dem einen gleich,
der hier als ‚Meister‘ schuf Geschicke,
der hier als Dieb und als Phantast
begründet hat drei Lebensglücke,
dem aufgebürdet war die Last,
mit der auch wir uns schleppen voller Leid
des Menschen stete Unvollkommenheit!

 

Ende