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Das Tor des Todes

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 262

 

Das Tor des Todes.

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre, G.m.b.H., Berlin SO 16
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Mac Alferlan aus Indien †

Harsts plötzliche Vorliebe für die kleine Konditorei in der Nähe des Ringsbahnhofs Hohenzollerndamm war stark verdächtig. „Der Kaffee und der Kuchen sind vorzüglich, und die Pasteten noch besser,“ sagte er wiederholt, – natürlich faule Ausrede. Gerade er wird kaum halbe Tage auf einem Fensterplatz inmitten schwatzender Menschen ausharren. Für Süßigkeiten hat er schon gar nichts übrig.

Das ging so volle fünf Tage lang. Einige Male hatte ich ihn begleitet, um herauszufinden, wen und was er dort beobachtete. Schließlich brachte mich ein Zufall der Wahrheit nahe, denn von ihm selbst war nichts zu erfahren. Es gibt eben Zeiten, wo er seine Geheimniskrämerei bis zu bockbeinigster Verschlossenheit treibt.

Dieser Zufall hing mit Kapitän Johann Knork zusammen. Knork war einer jener Seeleute der alten Schule, die auf ihr Äußeres wenig geben und selbst in den Sechzigern noch nicht vom nassen Element freikommen. Knork hatte die meiste Zeit seines abenteuerlichen Daseins im Ausland verbracht und führte nun, obwohl er es nicht mehr nötig hatte, einen der Dampfer der Berliner Stern-Reederei, der im Sommer die Vergnügungstour zur Berlin-Ferch (am Schwielowsee) abgraste. Bei einer dieser Fahrten hatten wir ihn kennen gelernt und uns mit ihm um so eher angebiedert, als er in unserer Nähe in Halensee am Ringbahnhof wohnte. Zuweilen kam er im Winter in der stillen Zeit zu uns und spann dann lange Seemannsgarne, die zumeist ein Viertel Wahrheit enthalten mochten.

Diesem Johann Knork, schon von weitem seiner kolossalen O-Beine und langen, rudernden Affenarme wegen unverkennbar (von der Leuchtturmnase ganz abgesehen), begegnete ich am 16. Oktober mittags in der Untergrundbahn. Er stieg Bahnhof Wittenbergplatz ein, und nach derbem Händedruck fragte er gedämpft, – was er so gedämpft nannte: „Na, was hat denn Harst auf meinen Wisch hin getan?!“

Ich wußte nichts von einem Wisch, tat aber so, als ob …

„Ach, der Brief, Käpten … richtig, – na, das war doch ’n fauler Schnack …“

„Ha?! Fauler Schnack?!“ Er war geradezu erbost. Wenn es eine Möglichkeit für sein Gesicht gegeben hätte, noch blauroter zu werden, wär’s geschehen. „Das war vom Bug zum Heck die reinste Wahrheit, Sie junger Schnösel, Sie! Verstehen Sie!! Wenn ich aufschneiden will, tu’ ich’s mit ’m Maul, nicht mit der Feder, Sie!!“

Ich bat um Verzeihung, – die Umstehenden wurden schon aufmerksam, und Knork schlug einen sanfteren Ton an.

„Also wie steht’s mit dem alten Halunken Goßwarra, he?!“

Ich lächelte pfiffig. „Wollen Fehrbelliner Platz aussteigen, Käpten, – hier gibt’s zu viel Schweineohren ohne Erbsen.“

Ein paar geschniegelte Horcher bekamen rote Köpfe.

Knork aber lachte sein kerniges Seemannslachen, und dann schritten wir zu Fuß nachher weiter, und Knork ließ sich von mir wunderbar leicht ausholen.

„Sie halten den Goßwarra also noch immer für gefährlich …“ setzte ich meine Pumpe an.

„Der?! Ich schrieb Harst ja, – der größte Halunke in Baroda und Umgegend war’s, und wenn solch’ ein geriebener Fuchs plötzlich hier in Berlin ein Blumengeschäft aufmacht, ist doch sicher eine Riesenlumperei im Gange! Wie kommt der Schuft von Indien hierher?! Wozu?! Um Rosen zu verschachern?! – Der und Rosen!!“

Nun war ich halbwegs im Bilde.

Daß ich mich schämte, Knork einzugestehen, daß Harald in diesem Fall ganz auf eigene Hand bisher gearbeitet hatte, dürfte begreiflich sein.

„Wir könnten mal an dem Laden vorübergehen, Käpten. Ob Goßwarra Sie noch erkennen würde?“

„Ausgeschlossen. Es sind an die zwanzig Jahre her, seit ich ihn zum letzten Male sah, und unsere Beziehungen beschränkten sich in der Hauptsache auf eine einzige Nacht, in der dieser Bandit mit seiner Horde flüchtiger Sträflinge den Küstendampfer überfiel, den ich damals führte. Es war in der Bucht von Cambay mitten zwischen den verdammten Korallenbänken, und wenn ich mit meinem Schweinsrüssel nicht vorher Unrat gewittert hätte, würde der Streich wohl geglückt sein, so aber kam für Goßwarra nur ein Hieb mit dem Messer quer über die Visage dabei heraus, wobei auch die Nase etwas lädiert wurde, und für seine Schwefelbande ein Abgang von etwa acht Mann, – genau gezählt haben wir die Leichen nicht. Es war damals eine etwas wilde Zeit für die nordwestlichen indischen Küstenstriche … Aber das interessiert Sie kaum. Jedenfalls ist Goßwarra, der mit vollem Namen Goßwarra ben Cutch heißt, als Orientale nicht sofort herauszufinden, denn sein Gesichtsschnitt und seine Hautfarbe sind fast europäisch, dazu kommt jetzt noch das schneeweiße Haar, das wohl dem längeren Aufenthalt im Zuchthaus zuzuschreiben ist, und seine vielfachen Sprachkenntnisse, die er einer guten Erziehung, weiten Reisen und einem ungewöhnlichen Bildungshunger zu verdanken hat.“

Was der alte Knork mir von diesem Inder mitteilte, erschien recht widerspruchsvoll.

„Haben Sie das alles auch Harst geschrieben?“ fragte ich etwas unvorsichtig.

Er blieb stehen. Er hatte Augenbrauen wie Hängeschnurbärte, und unter diesem grauen Behang hervor warf er mir einen spöttischen Blick zu.

„Kiek mal, min Söhn, – also belögen hättst du den ollen Knork! Keen Schimmer hättst du von den Brief, du oll Swindler, du …!“ Er markierte den erbosten Leu, lenkte aber sofort wieder ein. „Na, nichts för ungaut, Mäxchen Schraut, – ich weiß ja, der Harald ist so einer von die janz feine Diplomatens oder Diplomingenieurs, – das muß doch wohl so halb dasselbe sein, nämlich vorn … Also er hat Ihnen den Brief verschwiegen. Dann können Sie mir auch gar nicht sagen, ob er in der Angelegenheit bereits irgendwelche Schritte unternommen hat, nicht wahr?“ – Knorks Deutsch war genau so wunderlich wie der ganze Mann.

„Ne,“ sagt’ ich darauf, „da kann ich gar nichts sagen, nur daß er in den letzten Tagen stets in dem kleinen Kaffee gegenüber dem noch kleineren Blumengeschäft am Fenster saß und die Zeitschriften las und – natürlich Herrn Goßwarra beobachtete.“

„Aha!! Sehr fein,“ lobte Knork begeistert. „Sehn Sie, Mäxchen, – nötig ist das Beobachten, denn ich hab’ mir die im Schaufenster ausgestellten Blumen schon mehrmals angesehen, und die Preise sind einfach wie auf ’ner Auktion oder beim Saisonausverkauf, was meist derselbe Schwindel ist. – Ich hab’ Goßwarra ganz durch Zufall hier aufgestöbert. Drei Häuser weiter wohnt nämlich ein alter Bekannter von mir, der mal in Baroda ein Geschäft hatte, ein Engländer von Geburt, aber England kann ihm was husten, denn für Mac Alferlan ist das ein bißken gefärbte Blut in seinen Adern immer ein Stein des Anstoßes gewesen, – der Vergleich hinkt und stinkt, aber ich bin ja kein Literat – – oder wie man die gelehrten Federhengste sonst nennt. Er wurde nie so recht für voll angesehen, weil seine Mutter Inderin war … Und die Briten, wissen Sie, die sind genau wie Yankees: Ein halber Farbiger bleibt für sie eine Mistgeburt – oder heißt es Mißgeburt, ich kenn’ mich so in den Spezialausdrücken nicht recht aus. Deshalb ist der Mac nun auch hier in Berlin ansässig, und er als Rentner und ich als Käpten von ’n ollen lütten Passagierkahn halten gute Kameradschaft, er hat ’n feinen Rum und feine Stinkadores, und … na, ich besuche ihn oft, – und da komm’ ich so vor acht Tagen an dem Blumengeschäft vorbei und ich freu’ mich über die Rosenpracht und geh’ rein und denk’, du nimmst mal der Frau Mac so was Duftiges mit. Er ist nämlich verheiratet, und das ist sein einziger Mangel, sonst ist er ein anständiger Kerl. Im Laden steht Goßwarra und dienert und redet Deutsch wie ’n Pollack, und ich muß mich ordentlich zusammenreißen, damit ich mein Erstaunen nicht verrate über dies Wiedersehen … – So war die Sache. Dann schrieb ich an Harst den kurzen Brief, – mit dem Schreiben ist’s nicht weit her bei mir, ich bin eben ein alter, abgewrackter Käpten, – na ja, – – und … Da vorn ist schon der Laden … Schöne Kränze hat er ausgehängt, der Halunke, und die Blumen neben der Ladentür …“

Er schwieg …

„Hallo, dem ist schlecht, dem Mac!“ – und er rannte mit seinen kurzen krummen Beinen auf einen eleganten Herrn zu, der sich in einem Anfall von Schwäche an einen Laternenpfahl gelehnt hatte und jetzt langsam zusammenknickte, bevor noch Knork zupacken konnte. –

Mac Alferlan war tot. Herzschlag, erklärte der rasch herbeigeholte Arzt.

Knork und ich hatten Mac, da wir zunächst nur an eine Ohnmacht glaubten, in die Wohnung getragen, – erste Etage, gleich das nächste Haus. Frau Susi Alferlan war nicht daheim, zum Glück. Sie erschien erst nach einer halben Stunde, mit Päckchen beladen, und Knork brachte ihr die traurige Kunde möglichst schonend bei. Er bewies ein Zartgefühl, das ich dem alten rauhen Burschen gar nicht zugetraut hätte.

Wenn häßliche Frauen oder solche mit Durchschnittsgesichtern ihrem Schmerz sich zügellos hingeben, wirkt es erschütternd und läßt nur den leisen Nebengedanken aufkommen, daß ein wenig Selbstzucht vielleicht auch in solchem Falle nötig sei.

Wenn eine Dame von Welt, eine blendende Schönheit wie Susi Mac Alferlan, die sicherlich stets wie aus dem neuesten Modeblatt geschnitten auftrat, in Schrei- und Weinkrämpfe fällt und der Zeuge dieser lärmenden Szene sich fragen muß, ob eine Frau in jugendlichem Alter einen ergrauten Sechziger wirklich so maßlos geliebt haben kann, dann wird der Zeuge ein unklares Gefühl, daß hier Komödie gespielt wird, beim besten Willen nicht los.

So erging es mir.

Ich war froh, unter einem Vorwand mich in aller Stille zurückziehen zu können, zumal noch ein Bekannter der Alferlans eingetroffen war, ein Herr von Binger, der, wie Knork mir zuraunte, der bestrickenden Susi scharf den Hof gemacht habe.

Dieser Oktobertag, an dem sich das soeben Geschilderte zutrug, war ein wundervoller letzter Gruß des scheidenden Sommers. Es war warm und windstill, und der Himmel zeigte jenes durchsichtige Blau, das nur der Herbst uns beschert.

Ich schritt in Gedanken vertieft die wenigen Meter bis zu Goßwarras Blumenladen dahin. Frau Susis dunkle Augen und dunkler zerzauster Bubikopf und ihre schrillen Schreie wollten mir nicht aus dem Sinn. Es hatte sehr theatralisch gewirkt, als sie das Herbsthütchen heruntergerissen und mit den weiß-waschleder-behandschuhten Händen den prächtig ondulierten Kopf zerstört hatte.

Ich hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge, und ich konnte Knork durchaus verstehen, wenn er vorhin von einem Mangel Alferlans gesprochen hatte. Diese Ehe mußte von Susis Seite Vernunftheirat gewesen sein, Mac Alferlan war kein Mann von besonderen äußeren Vorzügen, ein hagerer, früh gealterter Kaufmann, jetzt Rentner, – – er war tot. Daß Susi auf innere Vorzüge Wert legte, konnte ich mir nicht recht denken: Modepuppe, eingebildet auf den Reichtum ihres Gatten, etwas geziert … Sie gefiel mir nicht.

Eine brüchige Stimme schreckte mich auf. Am Bürgersteigrand neben einem Baume saß ein blinder Bettler neben seinem Blindenführerhund auf einem großen, wohl mit Heu gefüllten, platt gedrückten Sack und hielt im Schoße einen Kasten mit Zündhölzern, Sicherheitsnadeln und … künstlichen Blumen aus Seide von abscheulichen Farben.

Der Greis, dem die weißen Locken unter dem schäbigen Schlapphut hervorquollen, trug die dunkle Brille der Blinden, um seine erloschenen Augen dem Anblick der Sehenden zu entziehen. Auf seiner Brust hing ein Blechschild:

Völlig erblindet,

und links neben ihm stand eine Spieluhr uralter Herkunft, die mit wimmernden, girrenden Klängen einen Choral andeutete – als Begleitung zu den monotonen Bettlerworten: „Kaufen Sie mir etwas ab – – kaufen Sie mir etwas ab …“

Ich weiß am besten, daß die Hälfte aller Bettler Schwindler sind. Wir haben einmal mit einem „Blinden“ zu tun gehabt, der abends mit Monokel die Luxuslokale des Westens besuchte.

Dieser Greis mit dem leichenfahlen Gesicht, dem wirren Bart, den Riesenfilzschuhen, dem geflickten Mantel bekam von mir die üblichen zehn Pfennig. Er hielt mir mit dringender Gebärde eine flache Packung Abreißzündhölzer hin, und ich nahm sie auch. Seine Geste war ungeduldig und befehlend gewesen: Ich lasse mir nicht schenken!

Ich ging sehr langsam an Goßwarras Laden vorüber. Ich sah den Inder in einem dunklen Anzug gerade die Blumen im Schaufenster ordnen. Ich war überrascht über seine edlen melancholischen Züge. Er hatte das weiße Kopfhaar frei zurückgestrichen, sein farbloses Gesicht erinnerte mich an die durchgeistigten, weltabgeschiedenen Gesichter der indischen Yogi.

Als ich, die Straße überquerend, in der Konditorei nach Harald Ausschau hielt, war sein Fensterplatz leer. Vorhin, wie ich in die Stadt fuhr, hatte er hier hinter einer Zeitung gesessen.

Der Inhaber kannte mich. Er hat sein Hauptgeschäft bei uns in Schmargendorf, und wir beziehen alles von ihm.

„Morgen, Herr Beckersdorff …“

„Morgen, Herr Schraut …“

„Wo ist Harst?“

Er wurde verlegen. „Oh – schon lange weg, Herr Schraut …“

Weshalb wurde er verlegen?

Es war jetzt zwölf Uhr, wir essen erst um halb drei, und ich bestellte Pasteten und Kaffee Haag und setzte mich in den Vorgarten in die Sonne.

Weshalb war Beckersdorff verlegen geworden?!

 

2. Kapitel.

Der blaue Benz.

Ich möchte meine Leser und Freunde, gerade was den Fall Goßwarra betrifft, nachdrücklichst vor voreiligen Schlüssen warnen. Die meisten dürften diese dunkle Geschichte aus den knappen Zeitungsberichten stückweise kennen. Die inneren Zusammenhänge, ich kann sagen: Der seelische Kern des Ganzen, ist in keinem Blatt auch nur gestreift worden. Zerschlagene Nasenbeine beim Boxmatch oder jene perverse Art seelischer Vertiefung, von dekadenten Phrasenschreibern stets frisch aufgewichst, sind heute wichtiger als ein wirklicher Blick in das Innere sonderbarer Charaktere.

Der Fall Goßwarra, der nachher nach Indien hinüberspielt, genau wie er seinen Ausgang von Indien nahm, gehört zu den wenigen Kriminalgeschichten, die die Bezeichnung „Problem“ verdienen, einen Ausdruck, den ich sonst hasse. Ein Problem verlangt, um den Begriff voll auszufüllen, unbedingt seelischen Einschlag. Der war hier vorhanden. –

Die Pasteten waren ausgezeichnet. Ich rief mir all das ins Gedächtnis zurück, was Johann Knork über Goßwarra berichtet hatte. Er mußte sich über den Charakter des Inders, der ein fanatischer Hindu sein sollte, unbedingt irren. Des Mannes Gesicht, in dem ich auch die verblaßte lange Narbe gesehen hatte, war niemals das eines Verbrechers.

Was tat Goßwarra hier in Berlin? Knork hatte bereits ermittelt, daß jener den Laden am 1. August gemietet hatte. Die Gegend war für ein Blumengeschäft sehr ungünstig. Der Hohenzollerndamm vom Fehrbelliner Platz bis hinauf zum Roseneck ist vornehme Avenue. Die meisten Anwohner haben Autos, und die Innenstadt wird leider noch bei Einkäufen bevorzugt.

Unsereiner pflegt die Phantasie stets eifrig spielen zu lassen, selbst wenn es sich um noch so zusammenhanglose Vorfälle handelt. Ich sagte mir: Goßwarra stammt aus Baroda am Golf von Cambay. In Baroda erwarb auch Mac Alferlan sein Vermögen. Goßwarras Vergangenheit sollte – nach Knork – höchst zweideutig sein. Konnte nicht zwischen ihm und Mac bitterste Feindschaft, glühender Haß geheime Fäden gesponnen haben?! Inder sind geduldig in der Erfüllung ihrer Rache, – noch geduldiger als die Chinesen. Jene Romane, die mangels Phantasie der Autoren immer wieder mit dem Trick gestohlener Tempelschätze und rachsüchtiger indischer Priester operieren, haben wenigstens in dem einen Punkt einen Schimmer von Sachkenntnis aufzuweisen: Der Inder hat eine Lammesgeduld! Jahrzehnte bereitet er seine Rachepläne vor, und zumeist stirbt das Opfer dann auf unerklärliche Art, und der Schuldige geht frei heraus.

War Goßwarra (kein Inder verläßt so leicht seine Märchenheimat) nur Mac Alferlans wegen nach Berlin übergesiedelt?! Knork hatte nichts davon erwähnt, daß Goßwarra und Mac sich gekannt hätten. Es war eine ganz lockere Vermutung meinerseits.

Eine dunkelblaue Benzlimousine fuhr vor der Konditorei vor. Ein junger Chauffeur sprang ab und half einer verschleierten Dame heraus, die mühsam mit tastenden Schritten in den Vorgarten kam und sich mit einem leisen Seufzer in einen Korbsessel fallen ließ – eine Kranke oder Genesende.

Ich saß dich dabei.

Sie sagte zu dem Chauffeur in einem leicht fremd klingenden Deutsch: „Parken Sie wieder drüben, Krüger … Nach einer halben Stunde holen Sie mich ab.“

„Sehr wohl, gnädige Frau …“

Sie war krank. Wenn sie auch gegen alle Mode das marmorbleiche, abgezehrte Gesicht mit den unnatürlich großen Augen hinter einem rosa Doppelschleier zu verbergen suchte: Ihr heiseres[1] Hüsteln, ihre Miene, die zusammengesunkene Haltung und das Zittern der kraftlosen Hände verrieten das Nahen des unerbittlichen Würgers Tod.

Sie bestellte Portwein und Pasteten. Ich sah sie im Profil, und die Sonne durchstrahlte den Schleier und zeigte mir die feinen, verwüsteten Züge.

Ihre Kleidung war von jener schlichten Vornehmheit, die die Mode nur so weit mitmacht, daß alles, was diese Mode der Halbwelt genehm erscheinen läßt, vermeidet. Der Knierock hat sein Gutes, schlanke Beine können hübsch wirken, – alles wird leider übertrieben, und die sogenannte „Gesellschaft“ aus Berlin WW hat längst verlernt, was wahre Eleganz ist.

Die Frau tat mir leid.

Ich hatte soeben drüben bei Mac, dem Toten, einen anderen Typ kennen gelernt, Susi. – Susi war WW. Diese Kranke war Gegenpol. Susi las sicherlich von allen Moderomanen die ersten zehn und die letzten zehn Seiten und verfügte über ein gut assortiertes[2] Lager von klingenden Redensarten, die Geist vortäuschen sollten. Mir rauschten diese Phrasen stets um die Ohren wie das Brausen aus einer hohlen Riesenmuschel.

Die Kranke nippte an dem Weinglas und blickte ins Leere. Sie regte sich kaum. Herr Beckersdorff hatte sie selbst bedient, sie mußte schon häufiger hier gewesen sein.

Nein, – ich irrte mich … Ihre Aufmerksamkeit galt doch dem blinden Bettler, der rechts vom Blumenladen hockte. Es schien, als ob der Blinde irgendwie spürte, daß er aus matten müden Augen beobachtet würde. Er erhob sich, nahm sein Sitzkissen und seinen Kasten, und der Hund führte ihn in beschleunigtem Schritt quer über die Straße, wo ein Weg zum Teil noch zwischen hohen Holzzäunen von Kohlen- und Zimmerplätzen dahinläuft.

Ich wurde noch erstaunter auf die Weiterentwicklung der Dinge. Die Kranke winkte hastig Herrn Beckersdorff herbei, zahlte und wollte dem Bettler offenbar folgen. Ihre Augen hafteten starr auf dem Eingang des wenig benutzten Weges.

Als sie kaum ein paar Schritte getan hatte, tauchte der Blinde bereits wieder auf, und sichtlich enttäuscht kehrte die Frau auf ihren Platz zurück, während der Bettler sich ebenfalls an der alten Stelle niederließ. Wahrscheinlich hatte er nur einmal abseits gehen müssen, und die blasse Dame hätte ihn peinlichst überraschen können.

Alles war nun wieder wie zuvor.

Wirklich alles?! – Was wollte die Dame, die mit dem blauen Benz gekommen war, von dem Bettler?!

Ein neuer Umstand war zu dem bisherigen hinzugetreten, die Dame und der Blinde, und meine Phantasie hatte neuen Stoff erhalten.

Auch ich habe Geduld. Daß hier irgend etwas nicht stimmte, war mit Sicherheit anzunehmen. Die Kranke hatte ihr Auto weggeschickt. Chauffeur Krüger sollte „drüben“ parken und war davongefahren. Er sollte nicht Zeuge dessen werden, was hier vorging. Ich wollte warten, ich ließ mir die vierte Pastete bringen und Zeitungen, und ich hoffte zuversichtlich, daß sich bis halb drei der Appetit wieder einfinden würde, denn unsere Mathilde, Beherrscherin der Küchenregion, versteht keinen Spaß. Faule Ausreden über Kopfschmerzen und Eßunlust beantwortet sie stets mit einigen schlecht wiederzugebenden Zitaten, frei nach Schiller.

Es lohnte zu warten. Ich hatte noch keine fünf Minuten immer dasselbe Bild eines berühmten Rennfahrers zum Schein angeglotzt – ich kann mir nicht helfen, diese Größen des Sports sehen alle etwas roh aus –, als von Roseneck her Herr Harald Harst im neuen Herbstanzug angeschlendert kam, so recht wie ein Genießer des köstlichen Herbstwetters.

Er sah mich.

Und übersah mich. Eine unauffällige Handbewegung genügte. Wir kannten uns nicht. Er betrat das Vorgärtchen, nahm Platz, Herr Beckersdorff brachte einen Kognak und redete Harst mit „Herr Doktor“ an, was ja bei einem Doktor juris utriusque[3] soweit seine Richtigkeit hat, nur, daß mein Freund absolut keinen Wert auf die Anrede legt. Somit war Beckersdorff auch in dieser Hinsicht vortrefflich instruiert, und ich – – hatte von nichts gewußt. Skandal.

Unweigerlich kleidete die neue Kluft meinen Freund vortrefflich. Nur die scharf gebügelten Beinkleider waren sehr zerknüllt.

Komische Situation: Wir beide, die Unzertrennlichen, saßen hier ohne Masken und nahmen keine Notiz voneinander. Was mußte Beckersdorff davon denken?! Allerdings: Er kannte unser Metier, das nichts einbrachte und dessen Unkosten zuweilen beträchtlich waren. Allein mein Frühstück heute hier … – ich hatte die fünfte Pastete vor, und an Mathilde mochte ich gar nicht denken.

Zehn Minuten geschah nichts. Harst rauchte Zigaretten und beäugte die Vorübergehenden.

Dann fuhr drüben vor Mac Alferlans (†) Haus ein Auto vor – ein zweites, – ich kannte diese Wagen, ich sah Doktor Lückes vornehme Erscheinung, den anderen Kommissar der Mordkommission, den Arzt, den Photographen, drei fernere Beamte …

Und dieser Aufzug bestätigte meinen Verdacht: Mac Alferlans Tod war nicht durch Herzschlag erfolgt.

Mord?! – Goßwarra?!

Dann konnte es sich nur um Giftmord handeln. Die Teufelskünste indischer Giftmischer geben noch heute den Chemikern böse Rätsel auf.

Lücke mit seinem Einglas im rechten Auge, dieser Lücke, der immer wie ein blasierter Kurfürstendammbummler ausschaut und der es doch so faustdick hinter den Ohren hat, hatte uns erspäht. Er winkte energisch … Wem galt das nun?! Harald, mir?! Wir waren ja heute hier getrennte Größen, halbiert …

Die bessere Hälfte beachtete die Winke nicht, sondern hob die rechte Hand und drehte sie langsam um, als ob er den Luftzug prüfen wollte. Lücke kannte das Signal, und auch die mindere Hälfte, ich, war der Mühe überhoben, irgendein Zeichen zu geben. Die Mordkommission verschwand in dem Hause.

Die verschleierte Frau wandte sich langsam nach Harald um und musterte ihn zögernd.

„Mein Herr …“ – die Stimme war noch brüchiger als vorhin.

„… Mein Herr, es waren doch Kriminalbeamte, die jenes Haus dort betraten … Ist dort etwas geschehen?“

Zu meiner ungeheuren Überraschung antwortete Harald, der doch in dieser kurzen Zeit unmöglich bereits irgendwie vom Tode Mac Alferlans Kenntnis erhalten haben konnte, zumal er doch seinen bestaubten Stiefeln nach einen längeren Spaziergang hinter sich hatte, mit einer Rücksichtslosigkeit, die mir gerade bei ihm unbegreiflich erschien:

„Mac Alferlan ist tot …“

Wußte er nicht, daß er eine Kranke vor sich hatte?! Hatte er nicht dadurch, daß er den Namen Mac Alferlan so ohne jede Erklärung nannte, genügend angedeutet, daß er bei der bleichen Frau eine Kenntnis des Namens voraussetzte?!

Wie dem auch sei: die Wirkung war wie die Folge eines Blitzstrahles … Die Ärmste sank in ihren Klubsessel zurück, klirrend fiel ihr Weinglas in den groben Zierkies, das sie mit der Hand umgestoßen hatte, – – sie war ohnmächtig geworden, ich sprang ihr bei, Harst jedoch stand regungslos, vorgebeugt da und hatte nur Interesse für die blassen und doch von leichtem Bronzeton überhauchten Züge, die ich nun enthüllt hatte, um der Bedauernswerten etwas Wasser einzuflößen und ihr die Stirn zu reiben.

Dann freilich half er mir, aber es geschah mit einer Miene, als ob er sich nur schwer zu diesem doch selbstverständlichen Samariterdienst verstehen könnte. Sein Verhalten wurde mir immer unverständlicher. Hegte er etwa gegen diese Frau irgendeinen Verdacht?!

Zum Glück kam sie sehr bald wieder zu sich. Ihre kurze Bewußtlosigkeit war nicht weiter aufgefallen. Wir waren im Vorgarten die einzigen Gäste, Herr Beckersdorff hatte im Geschäft zu tun, und die wenigen Passanten warfen kaum einen flüchtigen Blick auf unsere Gruppe.

Harst gab mir einen Wink, wieder an meinen Tisch zurückzugehen, als die Frau mit einem tiefen Seufzer die Augen wieder aufschlug. Ich gehorchte ungern, denn ich wollte mich nicht abermals beiseite schieben lassen. Harald hatte bereits übergenug durch seine Geheimnistuerei an mir gesündigt. Noch nie war es geschehen, daß er mich so vollständig ausgeschaltet hatte, ich hatte bis jetzt jeden Beginn eines neuen Falles miterlebt, mitstudieren dürfen und daran gelernt.

Weshalb diesmal die gänzliche Abweichung von einem feststehenden Programm?! Ich war ehrlich empört. Ich nahm mir vor, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, nichts zu fragen und auf eigene Faust die Dinge zu klären.

Hierzu bot sich mir jetzt sofort Gelegenheit, da der blinde Bettler drüben sein Kissen und seinen Kasten abermals aufnahm und mit seinem Führerhund abzog, freilich nicht nach dem Querwege, den er vorhin für wenige Minuten aufgesucht hatte, sondern in Richtung auf die nahe Kunostraße. Ich folgte ihm, Harst war noch immer mit der Dame beschäftigt, und gerade diese Dame, die doch vorhin genau dasselbe beabsichtigt hatte, wie ich’s jetzt mit mehr Glück tat, hatte mir den Gedanken hierzu eingegeben. Was mochte sie veranlaßt haben, dem Blinden nachzugehen und dann doch nur umzukehren, weil sie sich zu lange aufgehalten hatte?! – Ich wollte es schon herausbringen. Ihr Interesse für den weißlockigen Greis war verdächtig.

Zu meinem Erstaunen bog der Alte in der Kunostraße sehr bald nach links in einen Kellereingang ein, an dem das bekannte Schild „Für Lieferanten“ hing, – also der Nebeneingang der großen Mietskaserne war’s. Außerdem hatte ich inzwischen noch eine wertvolle Beobachtung gemacht. Der Greis da vor mir konnte nicht blind sein – ausgeschlossen, und seine Promenadenmischung von Schäferhund und Wolfsspitz mit ein wenig Pudelblut war für alles andere nur nicht für Führerdienst abgerichtet. Nicht der Hund führte den Herrn, sondern umgekehrt, und der Alte schwenkte mit so verblüffender Sicherheit als erster in den Kellereingang ab, ohne irgendwie umherzutasten, daß ich dann nicht weiter überrascht war, als er im Gartenhause links im Erdgeschoß die Flurtür aufschloß und in einer Wohnung verschwand, die meiner Schätzung nach nur zwei Zimmer haben konnte. An dieser Tür las ich, als sie wieder zugedrückt worden war, auf einem Messingschild neben dem Klingelknopf:

Dr. Günther Balk,
Bücherrevisor.

Ich wartete ein paar Minuten und lauschte angestrengt. Ich hörte in der Wohnung eine Tür klappen, und eine Stimme rief mit aller Süße frischen Jungmädchentums:

„Vater, – das Essen ist gerade fertig … Wenn du nur erst diesen abscheulichen Auftrag erledigt hättest!“

Worauf eine angenehme Männerstimme erwiderte: „Es war ein guter Verdienst, Mausel, – wir konnten’s brauchen. Die Sache ist erledigt, Mac Alferlan ist tot.“

Ein leiser Aufschrei folgte, dann klappte abermals eine Tür.

Ich zögerte nicht lange.

Ich läutete … – Flinke Schritte … „Wer es dort?“ … Und ich: „Kaufmann Schmiedecke … Herr Balk ist hoffentlich daheim.“

Die Flurtür öffnete sich, und vor mir stand ein überschlankes blondes Mädel mit halb keckem, halb melancholischem Gesichtel.

 

3. Kapitel.

Meine Erfolge.

„Ja, Vater ist daheim … Bitte, treten Sie hier ein … Sie bringen wohl Arbeit?!“

„Und ob …!“

Es war ein dürftig eingerichtetes Büro – eine Art Büro, und hier saß ich nun, und zu spät fiel mir ein, daß der Alte mich, falls er wirklich mit „Vater“ identisch war, unbedingt wiedererkennen müßte, – ich hatte ihm ja einen Groschen spendiert, und er hatte mir die Zündhölzer aufgedrängt und war nicht blind.

Daran ließ sich nichts mehr ändern. Für alle Fälle: Ich nahm meine Clement, treue Begleiterin auf allen Wegen, in die Jackentasche. Dann trat auch schon Doktor Balk ein.

Ich war ziemlich außer Fassung geraten, dieser Balk hatte mit dem lockigen Greis genau so viel Ähnlichkeit wie etwa sein Musterhund mit einem reinrassigen Dobermann.

Ich riß mich zusammen. „Schmiedecke“, stellte ich mich vor.

Balk war bartlos, hager, blaß, hatte spärliches graues Haar, eine kluge Stirn und ein paar gütige, trübe Augen hinter einer unmodernen goldenen Brille. Sein Anzug war fadenscheinig, aber sauber, sein Kragen daheimgeplättet, wahrscheinlich von der blonden Maus.

Er lächelte nachsichtig. „Doktor Balk heiße ich und der Name ist richtig, Herr Schraut.“

Man hat ja gute Nerven, man ist auch nicht so leicht zu verwirren. Ich glaube, meine Miene entlockte ihm dieses verstärkte Lächeln. Dann wurde er jedoch wieder ernst und deutete auf einen Stuhl. „Bitte … Sie wünschen, Herr Schraut?“

Ich setzte mich nicht … Nein, ich wollte mich denn doch so ohne weiteres nicht hineinlegen lassen. Der Mann hatte auf seines Kindes Frage vorhin eine so zweideutige Antwort gegeben, daß ich mich durch sein harmloses Äußere nicht beeinflussen lassen durfte.

„Waren Sie der Bettler?“ – Ich brachte den Kugelspeier langsam zum Vorschein. „Ich möchte Ihnen gleich sagen, daß ich bei dem ersten bedrohlichen Anzeichen Ihrerseits dort das Telephon benutze, – Sie verstehen mich …!!“

„Nicht ganz …“ – und er strich sich über die hohe Stirn und schaute zur Zimmerdecke empor. Ein grüblerischer Ausdruck trat in sein Gesicht. „Ach so …“ meinte er dann leicht mit dem Kopfe nickend. „Also das ist’s …!“

„Waren Sie der Bettler?“ – das klang schon einen Schimmer gereizt, – ich war es auch.

Er blickte mich wieder eine geraume Weile an, bevor er antwortete. „Ich hoffe, daß Sie mit mir keinen Scherz treiben, Herr Schraut. Sie sind doch Schraut? – Wenn Sie den alten Mann etwa zu belästigen gedenken, der sich jeden Mittag von uns das Essen holt,“ – er sprach mit erhobener Stimme – „dann suchen Sie sich besser anderswo Objekte für Ihre zweifelhaften Recherchen. Der Greis ist ein hochanständiger Charakter, und …“ – er schritt zur Tür und lehnte sich dagegen – „ehe ich dulde, daß Sie diesem Ehrenmann Schwierigkeiten bereiten oder gar das Spiel verderben, ich meine sein bißchen Verdienst, will ich lieber …“

Ich hörte jetzt deutlich die Flurtür zuschlagen, hörte auch, wie die blonde Maus (wahrscheinlich war es sie) die Sperrkette vorlegte.

Ich sah ein, daß Balk mir den Weg nicht freigeben würde … Ich riß daher das eine Fenster auf und wollte auf den Hof hinausspringen, das Fenster lag ja kaum ein Meter über dem Fliesenbelag des Hofes.

Balk riß mich zurück.

„Herr, – ich bin ein schlichter bescheidener Mensch …!“ Seine Augen flammten auf. „Aber den Mann werden Sie nicht greifen!“

Niemals hätte ich ihm die Kraft zugetraut, mit der er mir blitzschnell die Pistole entwand. Er schloß das Fenster. „Setzen Sie sich …!!“

Ich fühlte mich unglaublich gedemütigt. Mit meiner eigenen Waffe bedroht zu werden, – so mich blamiert zu haben, – – ich mußte gehorchen, Balks Miene verriet nichts Gutes. Zu allem Pech trat nun noch das blonde Mädel ins Zimmer, stemmte mit eigentümlichem Lächeln die Hände in die Seiten und sagte: „Soll ich die Polizei holen, Herr Balk?“

Er blickte nur flüchtig hin, beobachtete mich weiter und sagte unwirsch: „Gehen Sie an Ihre Arbeit …! – Herr Schraut befindet sich in einem für ihn sehr peinlichen Irrtum …“

Sie lachte kurz auf, starrte mich keck an und verließ das Zimmer wieder.

„Hier haben Sie Ihre Waffe zurück … Entfernen Sie sich …!“ – es klang grob und eindeutig. „Meinetwegen tun Sie, was Sie wollen … Zeigen Sie mich an – oder nicht … mir gleichgültig. Der Greis ist Ihnen entschlüpft, und keine Macht der Erde brächte mich dazu, ihn zu verraten.“

Ich stand dann draußen auf der Straße, das Geschehene war mir wie ein böser Traum … Ich schritt halb verstört dahin, bog nach rechts ein und hatte die lange Prachtstraße mit ihren Baumreihen und der schönen Mittelpromenade vor mir.

Neben seinem Baume saß der blinde, nicht blinde Bettler mit seinem Kissen, seinem Kasten, aber ohne den Hund.

Ich hatte vor Überraschung halt gemacht. Dann war ich mit langen Schritten vor dem Greise …

„Aufstehen, Freundchen!! Mitkommen!! Ihnen solle doch mal auf der Polizeiwache gründlichst auf den Zahn gefühlt werden!!“

Die Antwort …?!!

… Es war Harsts Stimme, – es war Harst …

„Geh’ heim, mein Alter … Ich werde um drei zu Tisch mich einfinden … – verschwinde, du störst …!“

Eine Ohrfeige von einem Weltmeisterboxer oder einem Boxweltmeister hätte nicht schlimmer sein können. Mir schoß das Blut zu Kopfe …

„Harald, ich finde dieses Benehmen …“ – aber mein Erguß wurde abgedreht.

„Scher’ dich zum Teufel …!“ Und er lachte leise und nickte mir zu …

Ich war entwaffnet und wanderte wie im Rausche heimwärts. Ein Glück, daß dann hinter mir ein Grogbaß ertönte …

„Hallo, Mäxchen … nehmen Sie doch den alten Knork bitte mit … – so eilig, – und so ’n Gesicht?!“

Ich platzte … Ich hatte noch die nette Redensart in den Ohren …

„Scheren Sie sich zum Teufel, Knork! Sie sind an allem schuld!!“

Er zog die blaurote Warzennase kraus.

„Na nu – so tücksch?! Und ich soll am Tode Macs schuld sein – ich?! Sie sind meschugge, Sie!! Die Kriminalpolizei hat bereits den Lump Goßwarra verhaftet, Sie!!“

Er tat nur beleidigt, er grinste versöhnlich, schob seinen Arm in den meinen und zog mich weiter …

„Im Ernst, bester Schraut, – der Goßwarra sitzt schon im Loch …!“

Ich hörte nur halb hin.

Ich dachte an Harsts zerknüllte Beinkleider …

Mir war nun so manches klar.

Ich sagte zu dem ollen Käpten:

„Wußten Sie, daß der Balk und Harst abwechselnd den Bettler spielten?!“

Knork erwiderte todernst: „Balken kenne ich, einen Balk nicht, aber so manchen Balg, – da rennen wieder so ein paar Bälge mit ihren Rollern über den Bürgersteig …!“

Er hatte kaum ausgesprochen, als hinter uns das Geknatter eines Zweiradbenzinstänkers ertönte … Es war ein Zufall, daß ich den Kopf halb drehte, – ich konnte Knork gerade noch zur Seite reißen, denn der Radler war mit der Geschicklichkeit eines Affen abgesprungen und die Maschine raste dicht an uns vorüber und wurde an der Mauer eines Vorgartens zu Alteisen verwandelt.

Ein blauer Benz jagte mit dem tückischen Attentäter davon.

Knork meinte etwas bleich:

„Donner noch eins, das galt uns, Schraut!“

Der Benz hatte die Nummer 13 1313.

Aber der Benz der Kranken mit dem leichten Bronzeton hatte die Nummer 13 1109 gehabt.

 

4. Kapitel.

Die gefüllten Gewächse.

Eine Menge Neugieriger hatte sich im Moment versammelt. Vom nahen Flinsberger Platz, der gärtnerisch völlig umgekrempelt wurde, kamen eine Menge Arbeiter herbei, die gerade Mittagspause hielten und den Vorfall beobachtet hatten. Einer von ihnen, offenbar Sachverständiger für Motorräder, erklärte sofort, die Nummer an dem Rade gäbe es gar nicht. Ein Schupobeamter fand sich ein, es wurde gefragt, notiert, protokolliert, und nach einer halben Stunde konnten Knork und ich unseren Weg fortsetzen.

Der Käpten war ziemlich kleinlaut. „Wissen Sie, Mäxchen, – wem galt das nun eigentlich in der Hauptsache, Ihnen oder mir?!“

„Keine Ahnung, – das heißt, eine Ahnung habe ich doch: Es hängt mit dem Tode Mac Alferlans zusammen.“

Er nickte versonnen. „Schon möglich …“ Und noch grüblerischer fügte er hinzu: „Der Herr Legationsrat von Binger, Ehrhard[4] mit Vornamen, besitzt ein blaues Auto, und es ist auch ein Benz, der Stern oben am Kühler macht gerade die Marke leicht erkennbar. Überhaupt – – Binger!!“ – und diesen Schlußworten folgte ein unverständliches Brummen.

„Ich warf ihm einen forschenden Blick zu. „Haben Sie etwas gegen Binger?“

Seine Knollennase zog sich wie bei einem Kaninchen kraus. „Mac war mein Freund, und Frau Susi war nicht meine Freundin, ich bin ihr nicht fein genug, ich habe keine polierten Fingernägel und trage Gummikragen und selten Manschetten, Oberhemden schon gar nicht, ich finde, ein Brettchen vor der Brust genügt … Na und Ehrhard von Binger, erst recht patente Nummer, Seidensocken, Lackpotten … er poussierte mit Susi, und wenn ich zu Mac kam, war ich dem Pärchen im Wege, – Binger sollte lieber um seine kranke Frau sich kümmern … Ihr Geld hat er eingesäckelt und verpulvert, sagt man, sie sollen bis an den Hals in Schulden stecken …“

Ich hatte sofort an die hüstelnde, heisere Schwindsüchtige gedacht. „Knork, ist Frau von Binger eine Spanierin?“

„Nee … Engländerin, oder genauer ausgedrückt Inderin.“

„Wie Inderin?!“

„Weshalb fahren Sie deshalb so aus der Haut, Schrautchen? Frau von Binger stammt wohl aus Indien, aber sie lebte in London, und dort lernte Binger sie kennen und … lieben, na ja: Ein Mädchen mit vierzigtausend Pfund Vermögen und ohne jeden Anhang, Waise, klug, gebildet, sehr hübsch und vornehmen, bevor sie erkrankte, – da schnappt jeder Hecht zu, es glitzerte ja nach Gold …“

Wir bogen in den Feldweg zwischen Blücherstraße und Laubenkolonie Kolberg ein. Die Kleingärtner waren noch eifrig bei der Arbeit, ich kannte jeden einzelnen, man rief mir Grüße zu, und der alte Remmle, der seine Parzelle gerade gegenüber unserem Gemüsegarten hatte, trat an den Zaun und drückte mir die Hand … „Hören Sie, Herr Schraut, – da war so ’n Lümmel bei Ihnen im Garten und wollte Ihre Kürbisse klauen … Sie müssen die Hinterpforte verschlossen halten und besser aufpassen …“

Im Augenblick waren mir unsere Riesenkürbisse herzlich gleichgültig. Ich dankte Remmle, und wir betraten unseren Gemüsegarten. Ich war in Gedanken bei Frau von Binger. Daß sie die verschleierte Dame gewesen, und daß sie aus Eifersucht ihren Gatten überwachte, war genau so sicher.

„Ach nee,“ rief Knork mit einem Male, „da steht ja mein oller Schüddelkopp[5] und glotzt Ihre Kürbisse an, Mäxchen!“

Das stimmte. Hinrich Schöttelkoff[6], stets nur Schüddelkopp genannt, weil er an nervösem Kopfschlackern nach einer Giftpfeilverletzung litt, war Jan Knorks Untermieter und Intimus, ein früherer Steward, der sich gleichfalls die Welt so von allen Seiten bekiekt hatte.

Schüddelkopp drehte sich langsam nach uns um. Im Gegensatz zu Knork gab er sehr viel auf sein Äußeres, obwohl er auch bereits den Sechzig nahe war. Er war vielleicht noch magerer als Knork, hatte jedoch ein von Alkohol und Tropensonne weniger verdorbenes Gesicht und sah wie ein stiller, aber straffer Gelehrter aus. Seine Ersparnisse sicherten ihm einen behaglichen Lebensabend. Er war noch sehr rührig, beschäftigte sich mit Technik und Chemie, war ein begeisterter Radiobastler und gehörte allerlei Vereinen an, – man traf ihn selten zu Hause, er hatte eine hübsche Jolle auf dem Wannsee mit starkem Außenborder, angelte, segelte und war nur etwas menschenscheu. Kurz, ein Original.

„Tag, Schüddelkopp …“

„Tag, Schraut …“ – Er gab nie jemandem die Hand zur Begrüßung und trug immer Zwirnhandschuhe. Knork sagte, Hinrich habe eine böse Flechte an den Pfoten.

„He, wat tust du denn hier, Hinrich?“ wollte der Käpten wissen.

„Ich beschaue mir die Harstschen Kürbisse, Jan. Sie sind sehr umfangreich. Der da hat sicher fünfzig Pfund, und der vielleicht sechzig. Auf so einem fetten Komposthaufen sollten die Dinger wohl gedeihen.“

Schüddelkopp, der heute einen Sportanzug mit Knickerbockers und braune Halbschuhe und weiche Mütze trug, fügte hinzu: „Was das Motorrad angeht, da habt Ihr Schwein gehabt.“ Er hob die Hand und deutete auf sein Fahrrad, das am Birnbaum lehnte. „Das Auto, das den Attentäter aufnahm, war leider zu flink, aber …“ – den Rest verschluckte er. „Werden Sie die Kürbisse bald ernten, Schraut?“

Knork platzte mit der Frage heraus, die mir auf der Zunge schwebte:

„Warst du denn mit dabei, Hinrich? Ich sah dich gar nicht.“

Schüddelkopp verzog den Mund.

„Du siehst immer zu wenig, Jan … Ich war bei allem dabei, seit Tagen.“

„Wobei?!“

Aber er überhörte das und kam wieder auf die Kürbisse zu sprechen. „Schraut …“ – sein Kopf schlackerte noch stärker, „wenn Sie die Dinger abschneiden, würde ich Ihnen raten, erst mal den da zu öffnen …“ Er wies auf den Fünfzigpfünder.

Mein verständnisloser Blick zwang ihn zu der Ergänzung: „In dem Auto saß so ein Lümmel, den der Chauffeur, das sah ich noch, rasch an der Forkenbeckstraße absetzte. Der Kerl hatte zwei Pakete bei sich, wandte sich hier nach der Blücherstraße und bog in den Feldweg ein. Ich blieb hinter ihm. Er schlich hier in den Garten, – er kroch sogar auf allen Vieren, aber der alte Remmle drüben hat ihn doch zu spät bemerkt oder zu früh, wie man’s nimmt. Ihr braucht jetzt die beiden Riesendinger nicht mehr auszuhöhlen, Schraut, das hat der Bursche schon besorgt und sogar eine Füllung hineingetan und auch die Ranken, die die beiden verbinden, aufgeschlitzt und Drähte sehr sauber verlegt …“

Hinter uns dreien raschelte das dürre Laub. Harst im neuen Anzug mit noch zerknüllteren Beinkleidern begrüßte uns. Die armen Beinkleider waren durch die Bettlerverkleidung arg mitgenommen. Harald hatte die Blindenkluft übergezogen – fraglos, und das hatte die Hosen so faltenreich gemacht.

„Das sind wir ja alle bis auf Doktor Balk fein beieinander,“ meinte Harst und zwinkerte mir gutgelaunt zu. „Balk hat die Verschwiegenheit, die ich forderte, etwas übertrieben, mein Alter … Du darfst ihm das nicht nachtragen. Der arme Teufel war froh, daß ich ihm was zu verdienen gab … Er spielt auch Privatdetektiv, wenn es sein muß, um sich und seine Mausi über Wasser zu halten. Wenn der Mann mit seinem phänomenalen Zahlengedächtnis nicht so wenig geschäftstüchtig wäre, könnte er Millionär sein. Die wenigsten ahnen, daß dieser Balk das größte mathematische Genie unserer Zeit ist. Balk ist der einzige, der imstande war, sich zweihundert verschiedene Zahlen, ob sechs- oder vierstellig, in sieben Minuten zu merken. „Zahlenzerlegung“ heißt das Geheimnis Balks. Er promovierte als Mann von fünfunddreißig mit einer Arbeit über „Quadratische Reziprozitätsgesetze in algebraischen Zahlenkörpern“ zum Doktor. Wäre er auf dem Varieté aufgetreten, würde er schwer reich sein. Aber dazu ist er zu stolz. – Balk und ich wechselten uns als Bettler ab, ich hatte auf dem Bauhof neben der Konditorei Beckersdorff meinen Umkleideraum, und mein zweiter Assistent war Schüddelkopp …“

Schüddelkopp nickte und betrachtete die Kürbisse.

Jan Knork sagte erbost: „Hinrich, und das hast du mir verschwiegen?!

Was hätte ich da erst zu Harst sagen sollen!!

Er war schuldbewußt, er legte mir die Hand auf die Schulter … „Alterchen, ich wollte dich nicht stören … Du warst in den letzten Tagen so sehr in deine Schreiberei vertieft, daß ich dich wirklich nicht eines Phantoms wegen bemühen wollte, und der Fall Goßwarra war ein Phantom und konnte in nichts zerrinnen. Leider zerrann er nicht, ein Opfer ist tot, zwei weitere entgingen nur zufällig dem Motorrad – ihr beide, und vielleicht gibt es noch mehr … Unfälle.“

Schüddelkopp sagte sehr ernst: „Die hätte es gegeben … Sie und Schraut besorgen die Gartenarbeit gern allein, und Sie hätten nun wohl noch heute auf Remmles Warnung hin die Kürbisse abgeschnitten, und dann wäre von Ihnen beiden nichts übrig geblieben, – ich habe zum Glück gute Augen und ein Fernglas mit.“

Er bückte sich. Der Fünfzigpfünder lag auf einem Brett. Schüddelkopp hob die Hälfte ab. Der Riesenkürbis war etwa unterhalb des horizontalen Durchmessers durchgeschnitten und ausgehöhlt und der Oberteil wieder aufgedeckt worden. Die Füllung bestand aus einer mittelgroßen Trockenbatterie, von der die Drähte durch die Fruchtranke weitergeführt waren.

Hinrich löste den einen Draht vom Pluspol. „Wenn Sie die Ranken abgeschnitten hätten, wäre der da explodiert,“ – und er hob das Oberstück des Fünfundfünfzigpfünders ab.

In diesem Kürbis lag eine Dynamitpatrone, die wahrscheinlich ein Doppelbegräbnis überflüssig gemacht hätte. Wir wären zu Fetzen zerrissen worden.

„Kommt in mein Zimmer,“ sagte Harst etwas gepreßten Tones und nahm die Dynamitpatrone und trug sie ins Gewächshaus, das er abschloß.

Uns allen war wohl etwas eigentümlich zumute. Nur Schüddelkopp meinte wurstig: „Dynamit ist nicht so schlimm als die Giftpfeile der Zwergvölker in den indischen Windhya-Bergen …“ Er faßte sich in den Nacken, wo er dicht unter dem Haaransatz eine graublaue Beule hatte. „Damals, Jan, du weißt es,“ wandte er sich an Knork, „hast du mir den Kreuzschnitt gemacht und das Blut ausgesogen … Es war, als wir hinter Goßwarra her waren …“

Harst blickte Knork scharf an. „Ich glaube, über Goßwarra haben Sie noch viel zu berichten. Aber er ist zu Unrecht eingesperrt … Lücke ist da auf falscher Fährte. Das Gift, an dem Alferlan starb, dürfte von Frau Gwendolyn von Binger herstammen …“

 

5. Kapitel.

Alle guten Dinge sind … nicht drei.

Wir saßen zu fünf in Harsts Arbeitszimmer. Doktor Lücke hatte sich auch noch angefunden. „Harst, der Goßwarra leugnet hartnäckig, obwohl er zugibt, daß Mac Alferlan in seinem Laden war und für den Abend Blumen zur Tafeldekoration bestellte. Der Arzt hat festgestellt, daß Alferlan vergiftet ist. Die Pupille hat sich gelb verfärbt, und an der linken Hand hat der Tote eine frische kleine Wunde, es kann ein Stich von Rosendornen sein … Der Umkreis dieser Wunde in der Innenhand ist ebenfalls verfärbt.“ Lücke beäugte Knork durch sein Monokel. „Was meinen Sie dazu, Kapitän?“

„Ich meine, daß Mac und Goßwarra sich in Indien kaum kannten und in Baroda sich nur selten sahen … Ich müßte es wissen, wenn Goßwarra und Mac sich gehaßt hätten. Mac hatte keine Geheimnisse vor mir. Das betonte ich Ihnen gegenüber schon in Macs Wohnung, Herr Doktor.“

Lücke sog nachdenklich an seiner Zigarette …

„Alferlan kam aus Goßwarras Laden, und acht Meter weiter starb er … In dem Laden waren noch mehrere Käufer, gewiß …“ Lücke sprach stets etwas geziert und näselte leicht. Seine Hauptstärke als Kriminalist war mit seine fabelhafte Verstellungskunst. „Außer Alferlan waren noch anwesend – gleichzeitig eine verschleierte Dame, anscheinend Ausländerin, die einen Strauß Astern kaufte, dann ein jüngerer Mensch, der Alferlan als Stadtreisender Papiermanschetten für Töpfe anbot, und eine Hausangestellte des nebenan wohnenden Kommerzienrats Fiebig, die Tafelgrün holte … Dieses Mädchen und der Stadtreisende scheiden aus. Zu beachten wäre vielleicht die verschleierte Fremde … Goßwarra kennt sie nicht, sie war noch nie bei ihm. Der Verdacht bleibt also auf ihm sitzen, falls die Leichenschau nicht ergibt, daß der Stich in der Innenhand das Gift nicht in den Körper Macs hineinbeförderte.“

Hinrich Schüddelkopp hegte bei all seiner Bescheidenheit eine unaussprechliche Verachtung gegen Beamte, Behörden, insbesondere gegen die Kriminalpolizei. Mit welchen Titulaturen er diese belegte – zu Unrecht – sei hier verschwiegen. Er schaute Lücke mit offenem Hohn an und sagte grob – ausgerechnet er, der stets Zurückhaltende:

„Goßwarra werden Sie wieder laufen lassen müssen … Der Stadtreisende, den Sie ausscheiden wollten, ist derselbe Mensch, der hier in Harsts Garten die Kürbisse präparierte. Harst und Schraut sollten abgetan werden. Die Bande, die hinter alledem steckt, weiß, daß Harst den Laden beobachtete und genau so gut wie Sie die Personen kennt, die zusammen mit Alferlan in dem Blumengeschäft waren …“

Lücke verneigte sich leicht. „Danke, Herr Schüddelkopp …“

„Bitte, ich heiße Schöttelkoff!! Nenne ich Sie vielleicht Zahnlücke statt Lücke?! Suchen Sie diesen Stadtreisenden, den ich Ihnen genau beschreiben werde, und Sie haben einen der Bande … Die anderen …“ – er stockte, Harst hatte ihm unmerklich zugewinkt, – „die anderen werden auch zu finden sein, vielleicht rechnet Doktor Balk mit mathematischen Formeln aus, wer der Leiter des Ganzen ist …“ Es folgte die Beschreibung und noch ein eigentümlicher Nachsatz: „Jeder Mord, wenn nicht Raubmord, verlangt ein Motiv. Goßwarra und Mac hatten nichts gegeneinander, im Gegenteil, Mac war in den letzten Tagen häufig in dem Laden und hat sich stets längere Zeit mit dem Inder unterhalten: das wird Harst als Bettler mir bestätigen. Wir waren ja unser drei, die den Inder scharf beobachteten, Harst, Balk, und ich, und dumm sind wir alle drei nicht, nur andere sind blind und steckten Leute ein, die absolut schuldlos sind.“

„Sehr liebenswürdig,“ lächelte Lücke dünn. „Wie soll denn der „Reisende“ Mac vergiftet haben, Herr Schöt … tel … koff?“

„Das fragen Sie Harst, Herr Lük … ke … Herr Dok … tor … Vielleicht weiß er es, vielleicht kennt er auch das Motiv.“

„Nein,“ erklärte Harald gleichgültig. „Noch kenne ich es nicht … Aber es wird die Stunde kommen, wo ich alles durchschaue, so unklar der Fall auch liegt.“

Lücke blickte ihn zweifelnd an. „Harst, wenn Sie sagen, es wird die Stunde kommen, dann ist die Stunde meist schon da, – wir wissen doch Bescheid miteinander.“

Er verabschiedete sich. „Ich werde nun den Mann suchen lassen, Herr Schöttelkoff. Ihre Beschreibung erinnert mich an einen Burschen, der unlängst wieder mal aus Sonnenburg (Zuchthaus) ausgekniffen ist, – ein früherer herrschaftlicher Diener, der all seine Stellen zu Diebereien benutzte. – Wiedersehen, meine Herren … Sollte … der Tag früher kommen, Harst, so geben Sie mir Nachricht. Das Dynamit lasse ich abholen, und Sie haben wohl nichts dagegen, daß wir Ihnen beiden und dem Käpten eine kleine heimliche Leibgarde zuteilen. Es wäre schade, wenn ich bei diesem Prachtwetter einer Beerdigung beiwohnen müßte. Ich ziehe mich so ungern schwarz an.“

Er war schon an der Tür. Harst rief energisch: „Die Leibwache unterbleibt, und die Beerdigung auch … Wiedersehen …“

„Alter Murrkopf!“ brummte Lücke und fuhr mit seinem Dienstauto davon.

Wir Zurückbleibenden saßen eine Weile stumm da. Ein Engel ging durch’s Zimmer, lautet die Redensart für ein peinliches Schweigen. Der Engel, der hier umherschwebte, war keineswegs ein richtiger Engel, sondern ein gefallener Engel, unsere Gedanken umspielten wohl dieselbe Person, Frau Gwendolyn von Binger. Bis Schüddelkopp in seiner zumeist fein geschliffenen Sprache sagte: „Ich halte keine der in dem Blumengeschäft in dem kritischen Zeitpunkt anwesenden Personen für schuldig. Eine innere Stimme raunt mir zu, daß wir vorläufig auf gänzlich falscher Fährte sind.“

„Da haben Sie vollkommen recht,“ entgegnete Harst merklich ironisch. „Der Mörder Mac Alferlans ist ein Mann, der schlauer sein dürfte als wir alle. Aber jeder macht mal einen Fehler, und wenn Fehler sich häufen, wird die Sache kritisch.“

Jan Knork, der mit Eifer dem Rotwein sich widmete, den es bei uns für jeden Gast als mildes Anregungsmittel gibt, fragte hastig: „Fehler?! Welche?!“ Er hielt sein Glas in der Hand und ließ durch einen verirrten Sonnenstrahl köstliches Rubinrot in dem Kristall aufleuchten. Seine rotgeäderten Augen hafteten starr am Rande des Glases, wo sich die Stelle feucht abzeichnete, die seine Lippen berührt hatten. Seine Stimme hatte eigentümlich schrill geklungen, und in seinen Zügen ging eine eigentümliche Veränderung vor sich. Er wurde bleich, Schweiß trat ihm auf die Stirn, und plötzlich stöhnte er tief auf, das Glas entfiel ihm, und er rutschte aus dem Klubsessel vornüber auf den Teppich.

Wenn Harald nicht sofort uns dreien und dem am ärgsten mitgenommenen Knork ein wirksames Gegenmittel eingegeben hätte, wäre Lücke zu einer vierfachen Beerdigung in Schwarz erschienen.

Wir kamen mit starkem Unwohlsein davon. Die Flasche Rotwein war mit Laudanum vergiftet gewesen. Lücke hatte nicht getrunken, ich nur einen Schluck, Harst ein halbes Glas, Schüddelkopp etwa dieselbe Menge und Knork fast drei Gläser, daß Dritte freilich aus einer anderen, zweiten Flasche, und die enthielt kein Laudanum.

Mathildes Mittagessen blieb unberührt. Knork und Hinrich waren heimgefahren. Wir lagen im Gemüsegarten unter dem Walnußbaum in Liegestühlen und sahen wie die Seekranken aus. Frau Harst war soeben ins Haus gegangen, und Mathilde näherte sich mit einer Kraftbrühe in Tassen, die gute Seele. Schaudernd wandten wir uns ab. Der Gedanke an Essen genügte schon, den Magen umzukrempeln.

Mathilde stand mit dem Servierbrett traurig vor uns.

„Sagen Sie, Thildchen,“ fragte Harst matt, „war vormittags jemand in meinem Zimmer?“

Die brave Dicke säuselte mitfühlend: „Ne, muß Ihnen bloß schlecht sein, Herr Harald …! Sie hatten den Mann doch selbst geschickt, und er zeigte mir auch Ihre Visitenkarte vor und brachte das Schloß am Bücherschrank in Ordnung … Die linke Tür klemmt ja schon lange und quietschte entsetzlich …“

„Hm – ließen Sie den Mann im Zimmer allein?“

„Nur für drei, vier Minuten … Es war so’n netter bescheidener alter Schlosser aus der Viktoriastraße …“

Als Mathilde mit ihrer Bouillon enttäuscht abgezogen war, meinte Harald zu mir: „Wie der nette Giftmischer wohl zu meiner Visitenkarte gekommen sein mag?! Und woher er gewußt haben mag, daß die linke Schranktür nicht in Ordnung war und daß gerade in dem Schrankteil der Wein steht?!“

Ich wandte mühsam den wüsten Schädel nach ihm hin. „Harald, Knork fragte so übereifrig nach den Fehlern, die der Attentäter und Mörder nebst Spießgesellen begangen hätte.“

Er fügte hinzu: „Und Knork erholte sich so rasch … – Mein lieber Alter, diese Ratte hat viele Schwänze, und du weißt wohl, daß nach altem Aberglauben ein Rattenschwanz an der Spitze giftig ist … Womit ich nicht andeuten will, daß etwa Jan Knork mit dabei ist. Die Geschichte wird immer verworrener. Ich wünschte nur, mir wäre nicht so hundsmiserabel zu Mute. Wir sind für heute außer Gefecht gesetzt, und das ist sehr schade. Ich möchte mich über zwei gewisse blaue Mercedes-Benz näher informieren und auch Frau Gwendolyn von Binger gern sprechen. Was möchte ich nicht alles. Die Schurken haben alles sehr fein vorbereitet: Motorrad, Dynamit, Laudanum – alle guten Dinge sind drei, hoffentlich nicht vier, ich traue dem Frieden nicht, es geht hier um die Wurst, der Hauptmacher ahnt wohl, daß ich schließlich doch ahnen werde, und … warten wir ab und halten wir die Augen offen.“

Frau Harst kehrte jetzt mit ihrer Stickerei zu uns zurück. Sie sah recht angegriffen aus, der Schreck über die letzten Vorgänge hatte der lieben Matrone übel mitgespielt.

„Harald, Schüddelkopp rief soeben an …“ begann sie behutsam …

Harst setzte sich mit einem Ruck aufrecht …

„Knork ist tot?!“

„… Ja … Er bekam daheim plötzlich einen Anfall von Herzschwäche … Schüddelkopp holte noch rasch zwei Ärzte … Es war zu spät.“

Harald leckte sich seltsam verstört die farblosen Lippen.

„Ich … ich mache mir große Vorwürfe, ich hätte unbedingt …“

Mathilde kam herbeigekeucht … „Herr Harald … Herr Harald, die Aufwartefrau von Knork telephonierte … Schüddelkopp ist … ist … auch beinahe tot … Mit ’n Mal fiel er um … Der eine Arzt war noch da … Er hat die Polizei rufen lassen …“

Ich stierte aus trüben Augen völlig benommen geradeaus … Ich hatte den ganzen Gemüsegarten im Blickfeld, auch den Zaun nach dem Feldwege hin.

Ein blaues Auto fuhr langsam vorüber.

Ich konnte mich gerade noch von der Seite mit vollem Schwung gegen Harst werfen, wir beide rollten auf der Erde, und die vier blitzschnell aus dem Fenster abgegebenen Schüsse gingen in den dicken Walnußbaum.

Ich hatte nur flüchtig einen Frauenarm mit einer langen Maximpistole mit Schalldämpfer und ein verschleiertes Gesicht gesehen.

Eine halbe Stunde darauf war unser Grundstück von zehn Kriminalbeamten bewacht. Frau Harst hatte dies von Lücke erbeten – mit Recht, denn hier konnten alle guten Dinge nicht drei, sondern auch sechs, sieben oder acht sein. – Zum ersten Mal in unserem Leben wagten wir es nicht, uns im Garten oder am Fenster zu zeigen. Diese Bande ging aufs Ganze.

 

 

Ein Glaubensfanatiker

 

1. Kapitel.

Sir Francis Gnoog.

Es war Abend geworden. Wir hatten die Fensterläden geschlossen, wir waren jedoch oben im Laboratorium und hatten nur zum Schein bei Harald Licht brennen lassen. Es ging uns besser. Unser alter Sanitätsrat hatte uns wieder leidlich auf den Damm gebracht. – Lücke war bei uns gewesen und hatte uns viel Neues berichtet. Schüddelkopp war außer Gefahr. Als Knork und er mittags von uns kommend heimgekehrt war, hatte Knork aus der angebrochenen Flasche Kognak eine Herzstärkung sich geleistet, und auch Hinrich tats leider. Der Kognak war vergiftet gewesen und kostete dem armen braven Käpten das Leben, sein Freund Schöttelkoff kam mit erneuter arger Seekrankheit davon und lag nun zu Bett, neben sich zwei Beamte und eine Pflegerin. Lücke wollte alle irgendwie bedrohten Personen sorgsam schützen, hatte auch sogar Doktor Günther Balk und dessen Töchterchen Maud, stets Mausel oder Mausi genannt, unter schärfste Obhut genommen. –

Goßwarra war entlassen worden. Die Polizei konnte ihn nicht länger festhalten. – Weiter hatte Lücke gemeldet, daß Frau Gwendolyn von Binger nicht aufzufinden sei. Sie war vormittags zehn Uhr mit dem Benz davongefahren, und der Chauffeur Krüger hatte umsonst nachher vor der Konditorei Beckersdorff gewartet. Niemand wußte, wo sie geblieben war. – Es gab zwei blaue Benz, die hier eine Rolle spielten. Der, aus dem die Verschleierte auf uns gefeuert hatte, konnte nicht das Bingersche Auto sein, – ob die Schützin Frau Gwendolyn gewesen, betonte ich Lücke gegenüber, wäre sehr ungewiß. –

So standen die Ereignisse um neun Uhr abends.

Harst probierte seinen neuen Lichtnetzempfänger mit Schirmgitterröhre, ich lag auf dem Diwan in dem durch Eisenladen und Stahltür geschützten Laboratorium, und das beruhigende Bewußtsein, daß draußen eine kleine Schar tüchtiger Leute wachte, gab mir die nötige Fähigkeit zur Gedankenkonzentration, nur der neue Empfänger störte mich. Er brummte sanft, die Wechselstromgeräusche waren doch nicht völlig abgedrosselt, und sobald Harald beim Suchen nach fernen Sendern die Rückkopplung betätigte und drüben gerade eine Elektrische vorüberfuhr, gab es höllisches Prasseln neben Musik und schönen Reden.

„Hör’ auf!!“

Meine Gehirnarbeit litt unter dem Maschinengewehrfeuer.

Er drehte die Rahmenantenne etwas herum, und ich vernahm eine englische Stimme aus dem Äther.

„Daventry, Welle 479,“ sagte Harst und ging mit der Rückkopplung zurück. Der Empfang wurde tadellos.

Der englische Ansager gab Tagesnachrichten.

Ich horchte auf, als der Name Baroda mein Ohr erreichte.

„… ist vor einer Woche der reichste Mann Nordwestindiens verstorben. Gestern wurde sein Testament eröffnet. Sir Francis Gnoog hat sein gesamtes Vermögen im Werte von fünfzig Millionen seinem ehemaligen Jachtkapitän Johann Knork, einem jetzt in Berlin lebenden Deutschen, hinterlassen. Gnoog besitzt keinerlei Angehörige und war in Baroda und an der ganzen Küste bis hinab nach Ceylon als Sonderling bekannt.

Es gab einen Knack, der Empfänger war ausgeschaltet, und Harsts graue Augen ruhten seltsam stier auf meinem Gesicht.

„Endlich!“ sagte er … „Endlich …!“

„Was soll das – endlich?!“

Wir beide wurden lebendig. Harst schritt erregt hin und her, ich hatte mich aufrecht gesetzt.

„Was das soll, mein Alter?! Sehr einfach: Es sind zwei Verbrechen, die hier parallel laufen, und wir haben bisher nur mit einer „Bande“ gerechnet. Nach englischem Recht vollzieht sich der Erbfall formlos nach dem Tode des Erblassers, ein Erbantritt ist nicht nötig. Da Sir Francis Gnoog vor einer Woche verstorben ist, wurde unser alter Jan Erbe, und da er nun gleichfalls tot ist, erben die, die er bedacht hat. Er steht allein da. Er wird ein Testament gemacht haben. Fragen wir Schüddelkopp.“

Er nahm den Hörer vom Apparat und verlangte Amt und Nummer Knorks.

Ich war neben ihn getreten. Die fünfzig Millionen waren ein fetter Bissen für Leute, die vielleicht den Inhalt der letztwilligen Verfügung Sir Gnoogs gekannt hatten und ihrerseits Knorks Erben waren.

Es meldete sich ein Kriminalassistent.

„… Schöttelkoff schläft, Herr Harst.“

„Wecken Sie ihn …“

Es dauerte geraume Zeit, bis Hinrichs müde Stimme klagte:

„Ach, lieber Harst, – ist das nicht einfach furchtbar!! Nun stehe ich ganz allein auf der Welt da – ganz allein. Jan war mein einziger Freund. Aber eins ist gewiß, sobald ich wieder bei Kräften bin, geht’s diesen Halunken schlecht. Von der Polizei, Sie wissen, halte ich ’n Dreck. Es mag Vorurteil von mir sein, aber die ganzen Behörden reiten nur immer ihren alten Amtsschimmel im Trab und …“

„Diese Ergüsse kenne ich von Ihnen schon auswendig, lieber Hinrich. – Unser herzliches Beileid … Vergessen Sie nicht, daß Sie Blücherstraße 10 zwei treue Freunde besitzen, denen Sie leider bei Ihrer Menschenscheu zu selten das Vergnügen Ihres Besuchs bereiteten. – Sagen Sie mal, hat eigentlich Jan ein Testament hinterlassen?“

„Ja … Er und ich haben jeder ein eigenhändiges Testament gemacht und uns gegenseitig zu Erben eingesetzt. Jan hat außerdem noch bestimmt, daß ein Viertel seines Besitzes an Mac Alferlan fallen soll, und zwar sollte Alferlan wählen dürfen, was Jans Möbel, Andenken und Raritäten betrifft. Viel hat er ja in bar nicht erspart, so weit ich weiß, sind es dreißigtausend Mark, ich besitze das Doppelte, unter uns gesagt, zeigen Sie mich aber nicht bei der Steuerbehörde an … Jan und ich führten seit Jahren gemeinsame Kasse, und was mein war, war sein, und umgekehrt. – Mac Alferlan ist tot, Gott sei’s geklagt, aber ich werde Frau Susi, mag sie mir auch noch so unsympathisch sein, das Viertel auszahlen, – ich brauche es nicht, ich habe übergenug für meine geringen Ansprüche, wenn auch meine technischen und chemischen Spielereien allerhand kosten.“

Ich hatte jedes Wort mitverstanden. Ich tauschte mit Harald einen langen Blick.

Also Mac Alferlan – ein Viertel!! Und Frau Susi und Ehrhard von Binger … – ich witterte etwas!

Harald fragte in die Muschel hinein:

„Kennen Sie einen Sir Francis Gnoog in Baroda?“

Ein Lachen … „Und ob!! Wer kennt Gnoog nicht. Ich am besten außer meinem armen Jan. Es ahnt niemand, wer Sir Francis eigentlich ist. Bitte – im Vertrauen: Jan hatte einen Bruder, der mit achtzehn Jahren als Kellner nach London ging und dann als verschollen galt. Als Jan in Baroda den Küstendampfer führte, begegnete er mal dem inzwischen geadelten und Engländer gewordenen Franz Knork, seinem Bruder, Sir Francis Gnoog ist Franz Knork, Herr Harst. Jan und er kamen überein, die Verwandtschaft zu verschweigen, obwohl Sir Gnoog zuerst nichts davon wissen wollte. Aber Jan paßte zu dem vornehmen Multimillionär wirklich nicht recht und erkannte das auch. Eine Weile war Jan Kapitän der Luxusjacht seines Bruders, die unter vier Augen stets aufs herzlichste miteinander verkehrten. Ich allein war eingeweiht. – Wie kommen Sie auf Sir Gnoog?“

„Er ist tot,“ sagte Harald langsam.

„… Tot, der?! Der war doch noch wie ein Vierziger, und noch vor zehn Tagen bekamen wir einen Brief von ihm nebst Einlage, tausend Pfund, die Jan natürlich wieder umgehend zurückschickte wie immer – mit dem höflichen, herzlichen Vermerk, wir hätten genug zum Leben – wie immer. – Steht etwas in den Zeitungen von Gnoogs Tod?! Ich kann gar nicht recht daran glauben, daß …“

„Es ist Tatsache … Er ist tot, lieber Hinrich, der Sender Daventry gab eben die Nachricht bekannt … Knork ist Universalerbe von fünfzig Millionen …“

„Das überrascht mich nicht. Nur – Knork wäre Erbe, aber …“

„Nein, er ist Erbe, und nach englischem Recht erben jetzt Sie und Alferlan oder dessen Hinterbliebene …“

Stille …

Dann sagte Schüddelkopp gedehnt: „Aha – – mir geht ein Licht auf! Aber darüber reden wir morgen persönlich. Für den Fernsprecher eignet sich das nicht.“

Das Gespräch war beendet.

Harst setzte sich neben den Diwan in den Schreibsessel und drückte mich auf den Diwan nieder. „… Damit du nicht umfällst …!“

Er holte aus der inneren Westentasche ein flaches zerknittertes Päckchen hervor, schlug die Zeitungspapierumhüllung sorgsam auseinander und hielt mir den Inhalt dicht vor die Augen.

Es war eine kurzstielige, zerblätterte dunkelrote Rose, verwelkt, verfärbt, unansehnlich.

„Diese Rose,“ sagte er leise, „brachte Mac Alferlan den Tod …“

Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

„Nicht die Dornen am Stiel,“ fügte er hinzu, „denn die sind entfernt worden, aber das dunkelrote Pulver, das zwischen die Blütenblätter geschüttet worden war. Die Polizeiärzte dürften kaum die indische giftige Liane kennen, die dort Furra genannt wird. Ihr Saft trocknet schnell ein, wird hart, läßt sich zu Pulver zerstoßen und wirkt eingeatmet absolut tödlich. Legationsrat a. D. Ehrhard von Binger war zwei Jahre amtlich in Baroda. Er ist Alferlans Mörder.“

Es war gut, daß ich auf dem Diwan saß …

„Binger …?!“ – Ich stotterte …

„Ja, er und Frau Susi, – ich werde jetzt Lücke anrufen …“

Es war nicht nötig. Es klopfte gegen die Stahltür, und als ich Lückes Stimme draußen erkannte, schloß ich auf.

 

2. Kapitel.

Die rote Rose.

Lücke trat hastig ein.

„Harst, Goßwarra ist entflohen …!“ Er war ganz außer Atem.

„Ich denke, er ist enthaftet[7] …“

„Ich ließ ihn natürlich noch bewachen … Hinter seinem Laden hatte er zwei Wohnräume. Vor einer halben Stunde trat er ohne Hut auf die Straße hinaus und rauchte am Rande des Bürgersteiges eine Zigarre. Ein dunkles Auto kam plötzlich von der Innenstadt her, am Steuer saß eine verschleierte Frau, Goßwarra sprang hinein, das Auto verlangsamte nur wenig das Tempo und jagte weiter. Meine beiden Beamten, mißtrauisch geworden, fanden in der Wohnung des Inders auf dem Tisch einen Zettel für den Hauswirt, die Miete für ein halbes Jahr und Geld für die Aufwartung. Der Zettel besagte, daß Goßwarra Europa für immer verlasse. – Er ist entflohen … Er war doch der Mörder, und seine Helfershelfer waren die Attentäter und die geheimnisvolle Frau, die nur Frau Gwendolyn von Binger sein kann.“

Harst deutete auf die rote verwelkte Rose …

„Ich wollte Sie gerade anrufen, Lücke … Verhaften Sie Herrn von Binger und Frau Mac Alferlan, die trauernde Witwe wegen Ermordung Alferlans …“

Lücke schien wenig überrascht zu sein. Er nickte nur unmerklich und setzte sich auf den großen Holztisch mit den zahllosen Apparaten, Flaschen und Retorten und schlenkerte leicht mit den Beinen. Er liebte Tische mehr als Stühle und Sessel.

Er nahm das Papier mit der Rose und meinte einfach: „Ich habe bei Knork manches gefunden, auch Briefe Sir Francis Gnoogs, und ich bin im Bilde: Brüder, der eine Multimillionär. – Anfrage in London meinerseits, umgehend der Bescheid von dort: Gnoog tot, Testament eröffnet … Schöttelkoff und Alferlan erben … Ersterer scheidet aus. Bleibt als Rest das Liebespaar Susi-Binger. In diesem Moment dürften mein Kollege die beiden bereits abgeholt haben – zum Roten Alex. – Aber die Rose, Herr Harst, – darüber weiß ich nichts. Auch nichts davon, wie man Mac ermordete. Ich habe, was das Paar betrifft, nur zugegriffen, weil …“

Schnurr … r … r … r … rrr …

Telephon …

„Hallo, hier Harst … – Lücke, Ihr Kollege wünscht Sie …“

Die Meldung war verwirrend: Susi Alferlan und Binger waren nicht aufzufinden, und sowohl in Susis wie in Bingers Wohnung deutete alles auf übereilte Vorbereitungen zur Flucht hin.

„Nun sind also Goßwarra, Gwendolyn von Binger, Susi Alferlan und Ehrhard von Binger auf und davon,“ meinte Lücke ärgerlich und setzte sich wieder auf die Tischkante und nahm eine Zigarette aus der Schale. „Wie mag das ehebrecherische Pärchen nur geahnt haben, was ihm drohte?! – Unverständlich!!“

„Sie sind gewarnt worden, Lücke,“ – und Harald reichte ihm Feuer.

„Von wem?! – Von Goßwarra oder Gwendolyn?!“

Harst beugte sich über die dunkelrote Rose. „Ich will Ihnen die Dinge in großen Zügen nochmals vor Augen halten. Knork schreibt mir einen Brief über Goßwarra, einen Inder zweifelhaftester Vergangenheit. Dieser Inder, der nach Knorks Ansicht große Reichtümer zusammengeraubt haben muß, betreibt hier plötzlich ein kleines Blumengeschäft. Nach Empfang des Briefes rufe ich Knork, auch unter Ausschaltung Schrauts, sofort an und höre von ihm Einzelheiten, die mich veranlassen, den Blumenladen zu beobachten. Gleich am ersten Nachmittag fällt mir in der Konditorei Beckersdorff die Verschleierte auf, Frau Gwendolyn von Binger. Von den Fenstern des Kaffees übersieht man auch leicht die Nebengebäude, und ich merkte, daß die Frau für das Haus Alferlans Interesse zeigte. Ich spüre an verschiedenem, daß der Fall kritisch ist, und verabrede mit Doktor Balk, dem ich gern Verdienst zubiegen will, abwechselnde Überwachung der Häuser in der Bettlermaske und mit Beckersdorff und dem Bauhofbesitzer das Weitere zu schleunigem diskreten Umkleiden. Am nächsten Tag bietet mir der vielseitige Hinrich Schöttelkoff seine Hilfe an. Wir sind nun drei, die die Entwicklung der Dinge verfolgen. Es geschieht jedoch nichts Besonderes, nur Gwendolyn betritt häufig den Laden Goßwarras und bleibt längere Zeit dort – immer dann, wenn ihr Gatte Ehrhard und Susi in Abwesenheit Alferlans Schäferstündchen halten. – Es geht etwas vor, es droht ein Gewitter, fühle ich, aber woher es aufziehen und wo der Blitz einschlagen wird, bleibt mir verborgen. Heute schlug der Blitz nun ein. Ich saß als Bettler mit Balks harmlosem Mischmaschhund am alten Platz, als folgendes sich zutrug. In Goßwarras Laden ist ausnahmsweise Kundenandrang. Alferlan ging hinein, vor ihm war schon Gwendolyn eingetreten, ein Mann, den wir den „Reisenden“ getauft haben, war der nächste, die Zofe von Kommerzienrat Fiebig die vierte.“

Lücke gähnte verstohlen.

„Was Sie nicht wissen, Sie Ungeduldiger,“ sagte Harst erhobenen Tones, „ist die Tatsache, daß Frau Susi Alferlan kurz vorher allein bei Goßwarra war und mit fünf dunkelroten Rosen wieder herauskam und nebenan das Konfitürengeschäft betrat.“[8]

Lücke putzte eifrig sein Monokel. „Es wird spannender,“ warf er ein.

„… Als Mac Alferlan den Laden des Inders verließ, rief Susi ihn aus der offenen Tür des Konfitürengeschäfts an und sprach mit ihm wenige Worte. Leider verdeckte ein Vorgartenstrauch mir die beiden. Alferlan ging an mir vorüber, Susi schritt über die Straße zu ihrem Selbstfahrer und fuhr gen Roseneck, und Alferlan sank Jan Knork tot in die Arme. Knork und Schraut trugen ihn nach oben in die Wohnung. Ich wollte mit der Inhaberin der Süßigkeiten sprechen, fand jedoch vor den Stufen zwischen den Gitterstäben des Vorgartens – alle Läden und Häuser haben dort Vorgärten – eine zertretene tiefrote einzelne Rose, die seltsam verwelkt aussah. Niemand hätte sie mehr beachtet. Sie lag zwischen Grasbüscheln. Aber – ich sagte „seltsam verwelkt“, und das bewog mich sie aufzuheben und einzustecken. Als Frau Susi ihren Selbstfahrer bestieg, hatte sie nur noch vier dunkelrote Rosen in der Linken. Ich kann gut zählen und zähle auch scheinbar Nebensächliches. Die fünfte hatte ich in der Tasche. – Ich nahm meinen Platz wieder ein, dann kam Schraut aus Alferlans Haus, kaufte mir etwas ab und ging in die Konditorei, – ich wechselte nachher mit Balk die Rolle, in der Konditorei spielte sich die Szene mit Gwendolyn ab – sie wurde bei der Nachricht von Alferlans Tod ohnmächtig –, Schraut hatte derweil auch bei Balk einiges erlebt. Dann begann die Serie der Attentate: Motorrad, Dynamit, Laudanum in der neuen geschmacklosen chemischen Zubereitung, Schüsse aus einem Auto, Knorks Ende, Schöttelkoffs schwerer Erkrankung durch den Kognak. Es ging also recht lebhaft her, zu lebhaft. Erst heute abend erfuhr ich durch Daventry Welle 479 von Sir Francis Gnoogs Existenz, Tod, Testament, und Schüddelkopp, treuester selbstlosester Freund Knorks, ergänzte das Radio-Neueste: [Knork und][9] Gnoog waren Brüder, und Alferlan war in Knorks Testament zu einem Viertel mit bedacht. Da erst, Lücke, konnte ich die beiden Verbrechen, die unabhängig voneinander sich vermischt hatten, genügend trennen und das eine, den Mord an Alferlan durch seine Frau und Binger, der das Gift für die Rose geliefert hatte, vollständig durchschauen. – Susi Alferlan hatte folgendermaßen operiert. Sie wußte, daß ihr Mann bei Goßwarra Tafelschmuck bestellen würde, sie eilte vor ihm zu dem Inder, kaufte fünf Rosen, vergiftet die eine mit dem staubfeinen Pulver der Todesliane und erwartete Alferlan nebenan in dem Konfitürengeschäft, dessen Inhaberin ihr wohlbekannt, sie aus dem Laden in den Vorratsraum zu entfernen weiß, damit diese nicht sieht, wie sie Alferlan an der einen Rose riechen läßt. – Sie ahnte nicht, daß der Bettler, ich, sie beobachtet hat. Ich selbst habe nur die Rose und sonst keine Beweise gegen sie. Erst hier im Laboratorium, als Schraut noch tafelt, stelle ich das Gift fest. – Der Plan des verbrecherischen Paares war glänzend entworfen.“

„Allerdings,“ nickte Lücke grimmig, „dieses Weib Susi hat mir gegenüber getrost erklärt, auch sie sei bei Goßwarra gewesen und zeigte dabei auf die vier Prachtrosen in der Vase.“

„… Aber,“ sagte Harst sanft, „der Plan hatte ein Loch: Ich war das Loch, und außer mir hat noch jemand durch dieses Loch geschaut …“

„Schüddelkopp?!“

„Er war nicht in der Nähe, glaube ich. Ein anderer: Der „Reisende“, also der Attentäter, der mit dem Benz nach dem Motorradattentat entfloh. Außer ihm ist noch ein dritter mit beteiligt, der in der Maske Gwendolyns auftrat.“

„Natürlich …“ und Lücke sog an der kalten Zigarette. – Man vergaß das Rauchen. – „Dieser „Reisende“, ehemals Diener, Dieb, Einbrecher, Zuchthäusler, heißt nebenbei bemerkt Karl Murg und ist leider bisher unauffindbar.“

Harst, noch immer am Tische stehend, wickelte die Todesrose sorgsam wieder ein. „Es geschieht ferner Folgendes: Goßwarra und Gwendolyn, die eine gemeinsame Flucht vereinbart haben, entziehen sich der Polizei sehr schlau im Auto, nachdem der Inder wieder enthaftet worden ist. Diese Flucht, die Goßwarra durchaus nicht beschönigt, da er Zettel und Geld offen hinterläßt, beweist eine engste Verbindung des Inders mit der schwindsüchtigen, um ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen und um ihr Lebensglück betrogenen Frau Gwendolyn. – Die Flucht Susis und Bingers beweist etwas weit Wichtigeres. Sie müssen gewarnt worden sein, jemand muß ihnen mitgeteilt haben, daß … – geben Sie acht, Lücke –, daß ich die welke Rose aufhob, daß ich der armselige blinde Bettler war …! – Wer warnte sie?!“

„Die „Bande“, natürlich …“ meinte Lücke grübelnd. „Diese Attentäterbande, die bisher für uns aus zwei Personen besteht: Karl Murg und dem Spießgesellen, der Frau Gwendolyn mimte und den Verdacht in falsche Richtung lenken wollte.“

Harst schloß die Todesrose in den Stahlschrank ein und sagte dabei mit dem Rücken nach uns hin: „Sie irren sich, Freund Lücke, – es sind drei, die wir kennen, drei von der Bande, aber der dritte, dem ich fälschlich Vertrauen schenkte, ist ein so glänzender Rechner, ein so phänomenaler Schachspieler, daß ich keinerlei Beweise gegen ihn habe – noch nicht.“

Lücke lachte etwas rauh. „Dieses mathematische Genie wird bereits überwacht, Harst, – das heißt, vorläufig war’s nur ein Schutz, jetzt wird es eine Einkreisung. – Aber – was hat Doktor Balk für Vorteile von Knorks Tod?!“

Harst drehte sich um und kam an den großen Tisch zurück.

„Das kann ich Ihnen sofort erklären, Lücke. – Hinrich Schüddelkopp ist ein Wohltäter im geheimen, und er hat Balk, den er erst durch mich und den Fall Goßwarra kennen und schätzen lernte, in einem Nachtrag zu seinem Testament bedacht – und zwar so fein verklausuliert, daß Balk, wenn nun auch Schüddelkopp stirbt, einige Millionen von dem Riesenvermögen Francis Gnoogs erhält.“

Lücke seufzte fast kläglich. „Die Menschheit wird immer jämmerlicher … Ich hätte für Balk die Hand ins Feuer gelegt.“

„Ich auch,“ sagte Harald und lächelte schwach. –

Um zehn verabschiedete sich Lücke. Harst sagte ihm noch, daß die Bewachung unseres Grundstücks jetzt nicht mehr nötig sei. „Schraut und ich sind außer Gefahr, lieber Lücke.“

„Weshalb?!“

„Fragen Sie Balk, nachdem das Material gegen ihn zur Verhaftung genügt. Jedenfalls ist es so: Die Leute draußen sind überflüssig geworden. Nur Hinrich Schüddelkopp bedarf noch strengsten Schutzes. Er ist am meisten gefährdet.“

Wir gingen sehr bald zu Bett. Ich überlegte mir vor dem Einschlafen noch mein Erlebnis bei Balk, und wenn ich an die Szene dachte, wie er mich plötzlich völlig verändert bedroht hatte, konnte ich Harald nur beipflichten: Der Mann war ein Blender! –

Ich schlief ein.

Balk war ein Blender, und ich war ein blinder Narr. Blender und Blinder klingen sehr ähnlich.

 

3. Kapitel.

Das Legat.

… Ich kenne viele Kriminalromane, in denen vergiftete Blumen vom Autor als billiges Mittel zum Knalleffekt benutzt worden sind. Der Trick mit diesen irgendwie vergifteten Blumen ist so abgenutzt, daß ich mich geschämt hätte, meinen Freunden so salzlose Kost vorzusetzen, wenn der Fall Goßwarra nicht einen ganz anderen „Trick“ als Hauptspannungsmoment besäße. Ich habe bereits vorher an einer Stelle angedeutet, daß es hier um – sagen wir – sehr ideelle Dinge geht. Ideale sind verschieden. Der Bantuneger zieht sich Elfenbein durch die Nase, andere Schwarze behängen die Ohrläppchen pfundweise mit Messingzierrat, – das ist ihr Schönheitsideal. Europäerinnen schminken sich die Lippen brennend rot in Herzform – auch ein Ideal. Es gibt mehr Ideale als man aufzählen kann. Mein Ideal ist ein friedliches Dasein mit zeitweiligen sanften Erregungen kriminalistischer Art. Harst sorgt dafür, daß diese Erregungen bis zu Kürbissen, dynamitgefüllt, sich steigern. –

Am Morgen war ich frisch und munter, duschte und bat den lieben Gott, daß der Herr Doktor Balk nebst Konsorten sowie Susi und Binger recht schnell gefunden werden möchten. Das Wetter war so herrlich, und ich sehnte mich nach unserem Angelkahn und einem friedlichen Tag auf dem Wasser.

Als ich zum Frühstücken im Wintergarten erschien, zerrannen meine stillen Träume. Lücke saß mit am Tisch, und Harsts Mutter machte ein sehr bedrücktes Gesicht. Mithin war wieder etwas passiert.

„Schraut, in dieser Nacht ist dem armen Hinrich beinahe das Lebenslicht ausgeblasen worden,“ eröffnete mir Lücke düsteren Tones.

Frau Harst warf mir einen schmerzlichen Blick zu. „Es geht weiter, lieber Schraut … Eine gräßliche Geschichte!“ Und dann entschuldigte sie sich und begann ihre Morgenpromenade.

„… Regelrecht ausgeblasen, im vollsten Sinne des Wortes,“ ergänzte Lücke.

Zu meinem Erstaunen lächelte Harald infam, aber ganz diskret.

„Also Gas,“ sagte ich und widmete mich den weichen Eiern. Harald hatte eine neue Eieruhr gekauft, und jetzt hatte Mathilde keine Ausrede mehr, daß der Sand nicht regelmäßig liefe. – Sie kennen doch Eieruhren?

„Ja, Gas … Und die Krankenschwester, die am Bett wachte, wäre beinahe auch erstickt. Sie hatte den einen Fensterflügel offen gelassen, ein Kerl war an der Regenrinne emporgeklettert, und wenn ihm nicht sein Gasbehälter entglitten wäre, würden Knork und Hinrich nun zusammen in der Leichenhalle stehen. Meine Beamten hörten den Knall des Gasbehälters auf den Fliesen des Hofes, den Schuft selbst bekamen sie leider nicht mehr … – Hinrich geht es sehr schlecht, und die Krankenschwester hat abgelöst werden müssen. Aber etwas haben wir doch gewonnen: Die Leute von mir, die Balk „beschützen“, haben beobachtet, daß er seine Wohnung um ein Uhr nachts verlassen hat und zwar über die Dächer. Sie benahmen sich sehr klug, folgten ihm nicht, um ihn nicht argwöhnisch zu machen, und in der nächsten Nacht wird der ganze Häuserblock unauffällig umstellt werden, dann werden wir wohl auch Karl Murg finden.“

Harst, im Korbsessel zurückgelehnt, wehte den Rauch seiner Zigarette mit der Hand weg.

„Das bezweifle ich, Lücke …“ sagte er mit jener Ironie, die nicht gerade angenehm wirkt.

„Was bezweifeln Sie, Sie … alter Zweifler?“

„Daß Balk, ein so glänzender Rechner, solche Fehler begeht. – Balk war in dieser Nacht bei mir. Er pochte an mein Schlafstubenfenster, und wir haben über den Doppelfall Goßwarra gesprochen und zwei Flaschen Rotwein ohne Laudanum getrunken.“

Lücke klemmte rasch sein Monokel ein …

„So?! Er wollte sich also ein Alibi schaffen!“

„Selbstredend. Ihm ist nicht beizukommen. Anderseits hat er mir bewiesen, daß er als Amateurdetektiv auch sehr brauchbar ist. Er hat ermittelt, daß Goßwarras Privatjacht in Stettin im Dock lag, während Goßwarra hier Blumen verkaufte und Beziehungen zu Gwendolyn anknüpfte. Allerdings war der Inder so vorsichtig, die Schiffspapiere auf einen anderen Namen ausstellen zu lassen. Balk kam dahinter, indem er vorgestern Goßwarra zum Postamt folgte, wo dieser eine Depesche nach Stettin an seinen Kapitän aufgab. Balk las den Text. Der Inder ordnete an, die Jacht für heute früh sechs Uhr seeklar zu halten. Es ist jetzt halb zehn, und die „Trawadi“, so heißt die Jacht, wird längst im Nebel der Ostsee schwimmen.“

Lücke sprang auf. „Ich muß telephonieren … Die Jacht muß angehalten werden und …“

„Setzen Sie sich! Seit gestern herrscht in der Ostsee bis ins Kattegat[10] dickster Nebel … Wollen Sie eine Stecknadel in einem Saal im Dunkeln suchen?! Und nach der Wettermeldung in der Zeitung wird der Nebel so dick bleiben – bis morgen mindestens.“

Lücke sagte wütend: „Gebt mir einen Kognak!! Ich verliere die Gewalt über meine Nerven.“

„Bitte – bedienen Sie sich – gleich zwei.“

Ich trank mit, auch zwei, und dann fragte ich: „Was mag Balk mit diesem Verrat bezweckt haben?“

Harald goß sich Mokka ein. Er trinkt ihn schwarz wie Teer. Mein Herz verträgt das nicht. „Balks Kalkulationen sind überaus fein, mein Alter …“ erwiderte er mit einem verdächtigen Zucken um die Mundwinkel. „Ihm lag nicht nur daran, ein Alibi zu haben, also beweisen zu können, daß er mit dem Gasmann nichts zu tun hatte, sondern auch daran, seine Person mit dem Glorienschein erfolgreicher Helferarbeit zu umgeben.“

Mathilde schwebte herbei.

„Man bringt den Schüddelkopp,“ meldete sie zu unserer Verblüffung.

Selbst Harst starrte Thildchen ungläubig an.

„Man? – Wer?“

„Eine Krankenschwester stützt ihm, und ein Herr schiebt ihm,“ erklärte die Dicke.

Ich eilte nach vorn in den Flur und schob mit …

Hinrich sah wie ausgelaugter Hering aus.

Wir betteten ihn in einen Liegestuhl.

„Ich wollte an die Luft …“ keuchte er …

„Welcher Leichtsinn!“ schallt Harald. „Hinrich, Sie verdienen das Tauende!!“

Die Schwester und der Beamte entschuldigten sich, – Schöttelkoff habe durchaus im Auto spazieren fahren wollen und dann den Chauffeur zu uns dirigiert. – Sie wurden in den Garten geschickt, und Hinrich meinte kläglich: „Wie ein Baby behandeln Sie mich!!“

Er war ein recht krankes Baby. Sein kluges Gesicht war kaum wiederzuerkennen.

„… Und ich muß doch an die Luft, damit ich rasch zu Kräften komme … Heute um neun Uhr war ein Sekretär der englischen Botschaft bei mir …“

„Weiß ich …“ sagte Lücke. „Sie sollen nach Indien reisen und persönlich die Erbschaft antreten. Sie werden Indien lebend nie erreichen, lieber Schöttelkoff.“

Herr Schöttelkoff – – bitte!!“ Hinrichs Beamtenkoller war noch recht mobil. „Ich werde Indien erreichen, Herr Lücke, denn Harst und Schraut werden mich begleiten, hoffe ich. Was die verdammten Millionen … Verzeihung, – was die Millionen angeht, so werde ich im Sinne Knorks handeln, meines alten lieben Jan: Ich werde das Geld wohltätigen Zwecken zuführen, ich danke für den Ballast solchen Reichtums!“

„Und – und Ihre Schenkung für Balk?“ tippte die Lücke vorsichtig an.

„Soll er haben, geschenkt ist geschenkt.“

Ich hatte ihm Portwein gereicht, und er trank Harald zu. „Sie begleiten mich doch?“

„Gern, lieber Hinrich. Nur – wenn Balk nun zum Beispiel derjenige wäre, der Ihnen und uns nach dem Leben trachtete, würden sie die Schenkung …“

„Unsinn!“ rief Hinrich japsend, und er wurde vor Ärger rot. „Doktor Balk ist ein Ehrenmann … Ich besitze genug Menschenkenntnis, ich …“

„Vielleicht auch nicht,“ meinte Lücke sehr nachdrücklich. „Harst, Schraut und ich sind uns darüber einig, daß nur Balk mit diesem Karl Murg und weiterem Gelichter verbündet sein kann, um Ihnen in den Himmel zu verhelfen und ein paar Millionen einzukassieren. Ihre Schenkung, ihr Legat, lieber Herr Schöttelkoff, hat erst den zweiten Stein ins Rollen gebracht. Der erste tötete Alferlan, der zweite wird Sie erledigen …“

Hinrichs Schädel wackelte vor Aufregung geradezu beängstigend.

„Das … das … wäre …“ – er konnte nicht sprechen, er schaute uns nur trostlos an.

Aber allgemach ließ auch er sich durch Lücke überzeugen.

Seine trüben, kranken Augen, bekamen einen bitteren Ausdruck. „Man kann die Einsiedler von einst verstehen,“ sagte er schmerzlich … „die Menschen enttäuschen uns nur. – Die Beamten am meisten …“ – –

Da nach drei Tagen weder gegen Balk neue Beweise vorlagen noch die Flüchtlinge gefunden waren, – da somit die ganze Angelegenheit auf dem toten Punkt angelangt war, reisten wir drei unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln mit dem Orientexpreß zunächst bis Konstantinopel, dann zu Schiff weiter und landeten genau zwei Wochen später auf indischem Boden.

Ich möchte nur noch bemerken, daß Lückes Versuch, die Jacht Trawadi im Suezkanal anhalten zu lassen, von den englischen Behörden zurückgewiesen worden war. Die Tatumstände ergaben gegen Goßwarra nichts Belastendes.

Und wieder nach drei Tagen lagerten wir zu vieren in den Windhya-Bergen.

Nun wird der Leser das Tor des Todes kennen lernen und miterleben, wie Doktor Günther Balk doch noch sein Ziel erreichte – trotz allem!!

(Der Leser tut gut, die letzten Sätze nicht zu überfliegen.)

 

4. Kapitel.

Chinin.

Wie wir in die Berge kamen? – Nun, Freund Hinrich hatte in Baroda mit dem Notar, der als Nachlaßpfleger von dem britischen Agenten bestellt worden war, die Formalitäten sehr bald erledigt und bestimmt, daß das gesamte Vermögen Sir Francis Gnoogs flüssig gemacht und an die Bank von England überwiesen werden solle. Wir drei hatten in Baroda in dem Haus Gnoogs gewohnt und waren froh, als wir der fürchterlichen Hitze dieser Hauptstadt des gleichnamigen indischen Fürstentums wieder entfleuchen konnten. – Ich werde über Baroda, den Fürsten, die Umgebung der wenig schönen Stadt und manches andere noch im nächsten Band zu sprechen haben und spare mir die Schilderung von Land und Leuten deshalb für später auf.

Woher Harst sich die sichere Nachricht verschafft hatte, daß Goßwarras Jacht Trawadi an einer einsamen Strandstelle der Bucht von Cambay mehrere Personen nachts ausgebootet hatte, woher er weiter noch erfahren, daß sich unter diesen Personen Goßwarra selbst, ferner zwei dicht verhüllte Gefangene, sowie ein Zinksarg, in gelbe Seide gewickelt, befunden hatten, war aus ihm nicht herauszupressen, obwohl Hinrich und ich mit Recht sehr neugierig waren und ihn mit Fragen bestürmten. Noch merkwürdiger bei alledem war, daß er während der zwei Tage in dem Backofen Baroda zumeist allein ausgegangen und allerlei Beziehungen angeknüpft hatte, die zum Teil wenig angenehm waren. Am Abend des zweiten Tages hatte er Freund Hinrich erklärt, er habe sich entschlossen, Goßwarras kleiner Karawane in die Windhya-Berge zu folgen, – dorthin hätte sich Goßwarra gewandt. Schüddelkopp, der wohl durch das Klima überaus nervös geworden war, wollte durchaus mitmachen. Harst hatte einen alten Inder als Führer angeworben, einen stummen unglaublich schmierigen, stinkenden Kerl, der die nötigen Vorbereitungen für den Ritt in die Wildnis allerdings sehr umsichtig getroffen hatte. Die Reit- und Lastkamele waren erstklassig, und der englische Agent in Baroda (gewöhnlich nennt man diese Aufpasser für die indischen „freien“ Fürsten Resident) hatte uns einen Geleitbrief mitgegeben.

Als ich dann erst im Dromedarsattel saß, vergaß ich sogar den Ärger über Haralds Verschlossenheit, und als wir nun auf einem buschreichen Plateau lagerten und der romantische Zauber des Lagerlebens und der Tropennacht mein kleines Poetenherz umschmeichelte, war ich vollkommen in meinem Element. Europa, Berlin, Autos, U-Bahn – alles war vergessen. Indien hatte mich in seine Märchenarme genommen, und ich war glücklich.

Unser Mistfink von Führer – der Edle hieß Tawiru und war ein fanatischer Hindu – hielt sich stets abseits, nicht aus Bescheidenheit. Unsere Nähe hätte ihn verunreinigt, und er zündete auch stets sein eigenes Feuer an, kochte allein seine Mahlzeiten … – zum Glück, der alte bärtige, zottelige Kerl stank wie die Pest. Aber von seinem Handwerk verstand er etwas.

Das Bergplateau war nur von geringem Umfang. Nach Norden zu erhoben sich schroffe, bewaldete Hänge, die anderen Seiten gingen im flachen Abfall in den berüchtigten Dschungel über. Überall traten aus dem fruchtbaren, verwitterten Boden die für diesen Gebirgszug kennzeichnenden Steinarten, Sandstein und grünblauer Schiefer, entweder in flachen Erhöhungen oder gewaltigen kahlen Blöcken zutage. Das Windhyagebirge ist als Basis des indischen Hochlanddreiecks, seine höchsten Berge bleiben mit 1400 Meter bescheiden, die Pässe und Paßstraßen sind gut, die Rasthäuser vortrefflich, aber – – der Dschungel ist gefürchtet, – sumpfig, voller Schlangen, Heimat von Tigern und anderen Bestien, zu denen auch die Schwärme von Stechmücken zu rechnen sind. Es berührt vielleicht seltsam, daß in einem ausgesprochenen Hochlandgebiet morastische Dschungel alle ebenen Flächen bedecken. Die Erklärung ist einfach. Die Regenmassen der feuchten Jahreszeit finden in dem Felsboden keinen Abfluß, und in Jahrtausenden haben die Tropenregen alle Mulden ausgefüllt, in Sumpf verwandelt und eine Vegetation von großartigster Üppigkeit hervorgezaubert. Gerade dieser Gebirgszug ist überreich an Erinnerungen an Indiens glänzendste Zeiten. Mitten im Dschungel liegen verfallene Tempel, Paläste, von Unkraut überwucherte Stadtruinen. Engländer haben diese Ruinen nach Schätzen durchwühlt, – und ihr Lohn war der Tod durch Sumpffieber.

Wir schluckten jeder dreimal täglich unsere Portion Chinin als Vorbeugungsmittel, und als Harst nun nach dem Abendessen diese Portionen verteilte, meinte der fahrige Hinrich, dessen Schädel bedenklich wackelte, diese Berge seien ihm zuwider, – und er faßte an seine Narbe im Genick und murmelte etwas von Giftpfeil.

„Die Zeiten sind gewesen,“ sagte Harst leichthin. „Das Zwergvolk, das hier noch vor zwanzig Jahren hauste, hat sich mehr südlicher in die Waldregion zurückgezogen …“

Er hielt das Papierblättchen mit dem Chinin noch in der Hand. Der Flackerschein des Feuers war durch Qualm noch mehr gedämpft worden, Hinrich hatte soeben ein paar Zweige des indischen Kampferbaumes hineingeworfen.

Ich wollte meine Portion mit einem Schluck Tee hinabspülen, als Harst meine Hand ergriff. „Warte … ich muß mich geirrt haben …“ sagte er schroff. „Chinin glitzert, dies weiße Pulver ist stumpf in der Farbe …“

Hinrich lachte rauh. „Bitte – es ist die Aluminiumbüchse – die richtige, – hier steht: Chinin!“

Er schüttete seine Portion auf die Zunge und trank rasch einen halben Becher Tee hinterher. –

Harald und ich sind aufeinander eingespielt wie Jongleure. Ein Blinzeln genügt.

Ich sah, daß er heimlich sein Pulver verschüttete und nur das leere Papier zum Munde führte.

„Sie haben recht, Hinrich, – es war doch Chinin,“ sagte er dann …

Ich war gewarnt, und mit Bellachini[11]-Fixigkeit tat ich genau dasselbe, bekam aber doch noch ein paar Stäubchen des Pulvers auf die Zunge und schmeckte sofort, daß es nicht Chinin war, trank, hustete und ließ den Tee in das vorgehaltene Taschentuch rinnen.

Dieses kleine Intermezzo rüttelte mich auf, zumal ich beobachtete, daß Harst das Papier zu sich steckte. (Wir hatten in Baroda Chinin in Tablettenform nicht auftreiben können und das lose Chinin selbst abgewogen und in kleine Tüten verteilt.) – Was war’s mit dem Chinin?! Sollte etwa …

Und mein Blick streifte Hinrich Schüddelkopp, der jetzt seine Pistole einzufetten begann.

Irgendwo schrie ein Ochsenfrosch. Es hörte sich nicht schön an. Große Nachtschwalben schossen durch die Schwärme der Stechmücken, die das Feuer umsurrten, und der schrille Pfiff der Schwalben gellte mir überlaut in den Ohren. – Was war’s mit dem Chinin?! – Hinrich rieb an seiner Pistole herum und sprach über Goßwarra, den großen Verbrecher, der nun im Alter den feudalen Millionär spielte. „… Mein armer Jan und ich haben damals, als ich den Giftpfeil in den Nacken bekam, Goßwarra hier nachgespürt … Es ging unter den Barodesen das Gerücht, der Pirat besäße in den Windhya-Bergen ein Versteck, einen ehemaligen Tempel, dort hätte er seine Reichtümer aufgestapelt. Wir mußten umkehren, da es mit mir sehr schlecht stand.“

„Wie jetzt …“ sagte Harst, gähnte und warf seinen Zigarettenrest in die Glut.

Hinrich blickte auf. „Weshalb – – wie jetzt?!“

Harald erwiderte müde: „Mit Ihren Nerven sieht’s miserabel aus, das werden Sie zugeben, mein lieber Hinrich. Sie grübeln zu viel. Es mag ja schwer sein, sich darüber schlüssig zu werden, wie man ein solches Riesenvermögen richtig verwendet … Oder, Sie machen sich zu viel Gedanken darüber, aus welchem Grund ich noch immer hinter Goßwarra drein bin … Sie sind auch sehr zerstreut … Ich will Ihnen gewiß nicht nahetreten, aber als Sie vorhin unsere Reiseapotheke ordneten, haben Sie entschieden die Pulvertüten durcheinandergebracht … Schraut und ich hätten soeben statt Chinin Opium erwischt, und die Dosis hätte uns mindestens vierundzwanzig Stunden schlafen lassen. Hoffentlich sind Sie glücklicher gewesen und haben wirklich nur Chinin geschluckt … Sie würden sonst die große Abrechnung mit Goßwarra verschlafen …“ Harald deutete nach links, wo hinter einem Felsen des stinkigen alten Tawiru Feuer brannte. „Ich habe Tawiru weggeschickt … Sein Platz ist leer. Was Ihnen und dem armen Knork nicht glückte, gelang Tawiru. Wir sind Goßwarras Tempel sehr nahe.“

Schüddelkopp stierte Harst aus seltsam glühenden Augen an. Sein Gesicht war ein Leichentuch, sein Kinn zitterte ebenfalls, und der Kopf noch mehr.

„Oh, Sie … Sie …“ – es war wie das pfeifende Zischen einer bißbereiten Kobra.

Im Moment hatte er die Pistole vorgestreckt. Es war eine neue Maximpistole mit Schalldämpfertrichter.

Er drückte ab … Blitzschnell zielte er auch auf mich.

Aber nur ein Zündhütchen einer Patrone knallte. Die Selbstladevorrichtung versagte.

Harst lachte ironisch.

„Herr Schöttelkoff, Ihren Nerven verlangen ein Beruhigungsmittel … Was Sie schluckten, war auch Opium … Ich habe Ihre kleinen Experimente zunichte gemacht. – Sitzen Sie still … In zehn Minuten werden Sie schlafen. Bis dahin ist’s noch genügend Zeit, Ihnen einige kleine Versehen vorzuhalten. – Bleiben Sie sitzen, denn ich würde schießen, und aus meinen Patronen habe ich das Pulver nicht entfernt, mein lieber Hinrich.“

Schüddelkopp bot einen kläglichen Anblick dar. Sein Unterkiefer war herabgesunken, seine Zunge leckt die Unterlippe, seine Stirn troff von Schweiß.

Mir aber war’s ganz anders zu Mute. Mir war eine Binde von den Augen gerissen worden. Entgeistert schaute ich diesem entsetzlichen Heuchler in die halb erloschenen, von wahnwitziger Angst erfüllten Augen.

Der Ochsenfrosch brüllte, und irgendwo an einem nahen Felsen geckerte eine der großen Eidechsen …

„Es gab einen Mann,“ begann Harald, „der sich an einem gewissen Biedermann Knork heranmachte, nachdem er in Baroda erfahren hatte, daß Jan Knork einst die Millionen Sir Francis Gnoogs erben würde. Dieser Heuchler verfolgte seine fernen Ziele mit der Beharrlichkeit eines Orientalen. Er unterhielt Verbindungen bis Baroda hin, und als er durch eine Mittelsperson ein Radiogramm mit der Nachricht vom Tod Gnoogs empfing, konnte er mit den letzten Schritten getrost anfangen. Es galt, Knork zu töten, jedoch so, daß auf den Mann selbst keinerlei Verdacht fiele. – Sehen Sie, Herr Schöttelkoff, ich wäre vielleicht nicht so bald auf Sie aufmerksam geworden, aber der Eifer, mit dem Sie mir Ihre Hilfe im Fall Goßwarra anboten, war stark übertrieben. – Der zweite Fehler war der gefüllte Kürbis, den Sie entdeckten. Sie sind Amateurchemiker und –techniker, Sie hatten das Dynamit beschafft und die Höllenmaschine konstruiert und ließen sie durch Karl Murg, Ihren Haupthelfer, in die Kürbisse einbauen, – Sie retteten uns scheinbar vor dem Tode, nur damit ich niemals irgendwie gegen Sie Argwohn schöpfen sollte. – Sie waren sehr schlau, zu schlau. Das Legat für Doktor Balk war auch … zu schlau. – Ich will hier nicht zu sehr ins einzelne gehen, ich sehe, das Opium wirkt … Sie ließen unseren Rotwein vergiften, Sie vergifteten Knorks Kognak, Sie sind der großzügigste Schurke, der mir je begegnete, aber – – Ihnen fehlt zum Verbrechergenie die weise Mäßigung. Sie schossen in allem über das Ziel hinaus, das Gasattentat war auch ein Fehler, und der schlimmste war, daß Sie uns mit nach Baroda nahmen, natürlich um uns hier abzutun, denn so ganz sicher waren Sie sich Ihrer Sache noch immer nicht … was meine Arglosigkeit betraf. – Schlafen Sie schon?“

Schöttelkoff war gegen den Packsattel gesunken, der ihn im Rücken stützen sollte. Er versuchte, sich wieder aufzuraffen … sank vollends zur Seite und lag still.

Ich glaube, ich war damals genau so farblos im Gesicht wie er. Das soeben Gehörte hatte mich wie Keulenschläge getroffen. Dazu schämte ich mich, – ich war ein blinder Tor gewesen …

Ein leichter Schritt, das Poltern von Steinen, der Schmierfink Tawiru stieg eine Regenrinne empor und stand vor uns.

„Lieber Balk,“ sagte Harst, „wie ist’s dort drüben?“ – Und zu mir … „Doktor Balk reiste verkleidet mit uns … Er ist wirklich ein vorzüglicher Privatdetektiv, mein Alter … Er ließ die Bucht von Cambay bewachen, und durch ihn erfuhr ich, daß Goßwarra auf dem Marsche zu seinem Tempel war.“

Balk streckte mir die Hand hin. „Ich werde mich nachher sofort waschen und umziehen, Herr Schraut … Der Gestank meiner Lumpen ist auch mir lästig, aber er gehörte zu meiner Rolle, – Herr Harst, ich werde also Schöttelkoff bewachen. Sie können den Weg nicht verfehlen …“ Er beschrieb ihn sehr genau. „In einer Stunde sind Sie dort … Durch die Felswand führt ein natürliches Tor, dahinter liegt das Waldstück mit der Tempelruine … Beeilen Sie sich … Der Scheiterhaufen ist bereits fertig.“

Ich sagte gar nichts mehr. Ich trank nur noch schnell einen langen Schluck Whisky. Es war nötig. Scheiterhaufen?! – Was sollte das nun wieder?!

Wir nahmen unsere Repetierbüchsen, und Harst legte ein Tempo vor, daß ich kaum mitkonnte … Meine Fragen überhörte er natürlich … Ich hatte auch kaum Zeit, an den Scheiterhaufen viel zu denken, der Weg war schwierig, zweimal verscheuchte der Lichtkegel der Taschenlampe Haralds eine Kobra, und dann raschelte es wieder verdächtig im Dickicht, und wir blieben stehen und erwarteten eine Tigerangriff. In diesem Distrikt von Barwini waren im Vorjahre vierzig Leute von Tigern zerrissen worden. Aber unser Tiger zog es vor, sich still zu verhalten … Der Mond ging auf, es wurde fast taghell, und nach einer schwierigen Kletterpartie drückten wir uns links in die Büsche neben dem Felsentor – dem Tor des Todes.

Ich vernahm eintönigen Gesang … Ich roch Rauch … Harst sagte:

„Gwendolyn von Binger wird eingeäschert.“

Mir blieb der Atem weg.

 

5. Kapitel.

Großvater und Enkelin.

Das Tor des Todes, umgeben von bunt blühenden Büschen, Palmen, Zypressen, bot einen romantischen Anblick dar. Schlinggewächse aller Art hingen von oben herab wie heitere Girlanden. Aber was sich hinter diesem Felsdurchbruch abspielte, war nicht Romantik, sondern Tragik.

Ich schob den Kopf vor … Ich sah den Holzstoß mit der weiß verhüllten Leiche … Flammenzungen leckten hoch, Rauch wirbelte auf, – der Gesang schwoll an, – es waren die mir längst bekannten Totengesänge der Hindupriester bei Leichenverbrennungen.

Ich sah hinter der kleinen Lichtung den Dschungel mit seinem im Mondlicht gleißenden Blätterreichtum, – rechts eine verfallene Steintreppe und Säulen und Mauerreste. Auf dieser Treppe saß einsam Goßwarra in indischem Gewand mit gelbem Turban, das Haupt in die Linke gestützt.

Die Flammen prasselten höher und höher, roter Schein tauchte die Umgebung in unwirkliches Licht, – – Harst raunte mir zu:

„Ein Großvater, ein fanatischer Hindu, hat seine einzige Enkelin, Tochter seiner einzigen Tochter, heimgeführt in die Dschungel von Windhya, eine Sterbende, eine um Liebe und Glück Betrogene … Unterwegs auf der Jacht muß sie verschieden sein. – Deshalb kam Goßwarra nach Berlin, – aus Liebe zum Kinde seines Kindes, das unglücklich war und dahinsiechte. Wir werden hören, was er selbst dazu zu äußern hat. – Komm’ nur, er ist vorbereitet, Balk hat uns angemeldet.“

Wir durchschritten das Tor des Todes, und Goßwarra schaute uns still entgegen, winkte uns neben sich auf die Marmorstufe und sagte schmerzlich: „Ich hoffte, Gwendolyn würde die Seereise und die Heimat Genesung bringen … Ihr Leib zerfällt dort zu Asche … Sie hat sich zurückgefunden zu dem Glauben ihrer Mutter, die einen Engländer heiratete und auch dahinsiechte in dem Steinmeer von London. Damals war ich noch voller Haß und Groll gegen mein Kind, – ich wurde alt, und meine wilde Vergangenheit reute mich. Hier in dieser Tempelruine fand ich das, wonach hunderte gesucht haben: den berühmten, sagenhaften Schatz der Fürsten der Windhya-Berge, deren Hauptstadt der Dschungel längst verschluckt hat. Ich gab denen zurück, was ich ihnen geraubt, und mein Gewissen ward frei und meine Seele schrie nach dem Kinde meines Kindes. Ich fuhr gen Westen in euer Land, Sahib Harst, und ich habe Gwendolyn mir und meiner Religion zurückerobert. Sie hat einsehen gelernt, daß eure Kultur und eure Menschen, eure Gewissen und Herzen wertloser sind als der Staub, den der Wind über diese Berge fegt. Ihr Gatte betrog sie, ward Mörder, half seiner Geliebten das Gift in die Rose tun, – ich wußte alles, Sahib. Aber es war der Mann meiner sterbenden Enkelin, und er sollte nicht in den Mauern eurer Gefängnisse büßen. Das wäre keine Buße gewesen, keine Strafe. Ihr seid ein verweichlichtes Geschlecht geworden, ihr straft nicht mehr, ihr schont die Schuldigen. Eure Gedankengänge sind uns fremd. In eurer Bibel steht es klar und schlicht: „Auge um Auge, Zahn um Zahn … Wer Menschenblut vergießt, deß Blut soll wieder vergossen werden.“ – Ich habe den Mörder und seine Geliebte, auch Mörderin, hierher gebracht, ich habe auch den anderen Mann gefangen, der den Kapitän Jan Knork töten half.“

Ein Windstoß drückte den Rauch des Scheiterhaufens für Sekunden auf den Boden herab, und wir wurden von dem gelbbraunen wohlriechenden Qualm, der nach dem Harz der breitästigen indischen Kiefer und nach Ambra duftete, völlig eingehüllt.

Goßwarra schwieg. Als der Rauch zerflattert war, fragte Harst sinnend: „Du warntest Binger und Susi?“

„Sahib, ich warnte und fing sie so … Ich war nicht allein in Berlin. Ich habe zuverlässige Freunde … Ich wußte, daß du mich beobachtetest, aber ich fürchtete dich nicht. Du würdest mir nie hindernd in den Weg getreten sein, ich hatte mich nach dir erkundigt. – Komm’, du sollst die Gefangenen sehen …“

Er stieg die Stufe hinan, wir traten in eine weite Tempelhalle ein, in der nichts von Zerstörung zu sehen war. Sie war sauber hergerichtet, die reichen Schnitzereien schimmerten weiß im Schein einiger Harzfackeln …

Goßwarra hob drei der großen Fliesenplatten aus und legte eine Kellertreppe frei. Er hatte eine Fackel aus dem Wandringe gehoben und schleuderte sie in die Finsternis hinab …

Sprühend schlug sie auf nacktes Gestein auf …

Ein paar Brillenschlangen glitten blitzschnell davon, und undeutlich erkannte ich weiter hinten drei reglose Gestalten.

Goßwarra schloß die Öffnung.

Mir lief es eisig über den Rücken … Wie eine Vision sah ich vor mir eine verwelkte dunkelrote Todesrose …

Das Tor des Todes hatte sich hinter drei Schuldigen geschlossen. –

Still kehrten Harst und ich zu unserem Lagerplatz zurück. Wir fanden Doktor Balk gefesselt und geknebelt mit tiefer Kopfwunde neben dem Feuer. Heinrich Schöttelkoff war entflohen. Als Balk wieder zu sich kam, berichtete er das Unglaubliche: Schöttelkoff hatte uns genarrt, – er hatte das Opiumpulver weggeschüttet und mithin Harsts Vorhaben durchschaut und durchkreuzt. –

Hiermit endet die Geschichte von Goßwarra, dem Mann, der seine reine Seele wiederfand. – Doktor Balk war noch Patient im englischen Lazarett in Baroda, als wir beide uns bereits mit dem Stern von Kabinur beschäftigten. Daß Francis Gnoogs Millionen zum Teil an Günther Balk fielen, hat in allen Zeitungen gestanden. Der Rest der Erbschaft ward britisch-indisches Staatseigentum.

Und die drei im Schlangenkeller …?!

Später …

 

Nächster Band:

Der Stern von Kabinur.

 

 

Anmerkungen:

  1. Ein Wort umgestellt. Originaltext: „Ihr Hüsteln, ihre heisere Miene …“
  2. (franz.) nach Warenarten ordnen und vervollständigen.
  3. Doktor beider Rechte, des welt. (Zivil-)Rechts und des kanonischen Kirchenrechts.
  4. Die im weiteren Textverlauf unterschiedlichen Schreibweisen wurden einheitlich auf „Ehrhard“ geändert.
  5. Die im weiteren Textverlauf unterschiedlichen Schreibweisen wurden einheitlich auf „Schüddelkopp“ geändert.
  6. Die im weiteren Textverlauf unterschiedlichen Schreibweisen wurden einheitlich auf „Schöttelkoff“ geändert.
  7. Aus der Haft entlassen.
  8. In der Vorlage sind 2 Zeilen vertauscht.
  9. In der Vorlage fehlen 2 Worte, die ergänzt wurden.
  10. Meeresgebiet zwischen Jütland (Dänemark) und der schwedischen Westküste.
  11. Samuel Bellachini war einer der bekanntesten Zauberkünstler des 19. Jahrhunderts in Deutschland.