Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 7 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.
Es sind seltsame Geschöpfe, die durch den Lichtschein der Karbidlampe nachts in unsere Bambushütte gelockt werden. Der Türvorhang und Chi Apis feines Netzflechtwerk vor den Fenstern helfen gegen diese Invasion sehr wenig. – Es ist eine interessante Invasion. Da sind Nachtfalter von Handgröße, da sind Motten, pechschwarz mit gelben Kreisen auf den Flügeln, da sind jene unheimlichen Käfer, die wie ein kleines Flugzeug dahergesurrt kommen und mit einem klingenden Krach gegen die Lampenglocke prallen, halb betäubt herabfallen und mit ihren Krebsscheren wütend den Füllfederhalter packen, mit dem ich sie von meinem feuchten Papier zu streifen suche. – Alles ist hier feucht … Der Urwald haucht nachts seinen Moderodem aus. Die faulenden Stämme, die Sumpflachen, die dicken Lianen, die wie grüne Taue die Baumriesen mit Girlanden schmücken: Alles, alles strahlt Feuchtigkeit aus – nachts!
Doch – wozu schreibe ich dies hier bereits jetzt nieder?! Bis zur Hütte in den Dajak-Wäldern von Borneo ist es ein weiter Weg … Einer jener Wege, die gänzlich abseits der Heerstraße führen. Ein weiter Weg vom Viktoria-Fluß[1] in Australien zum Kapuasstrom in Borneo. – –
… So finster die Nacht damals auch war, als ich mit meinem zähen Fuchs vom Turnbull-Feld vor Kolonel Mallingrott entflohen und glücklich bis zum Viktoria gelangt war: Finster, aber den Lichtschimmer des Lagerfeuers in den Büschen sah ich um so deutlicher, und nicht minder deutlich erblickte ich droben am Buchenast den gehenkten Chinesen, da gerade der Mond für Sekunden die Wolkenwand durchbrach.
Es war nicht schwer, zwischen diesem armen Teufel und der im Uferbuschwerk johlenden Rotte eine zwanglose Verbindung herzustellen.
Ich hatte meinen Fuchs ein Stück zurück in einer Mulde verborgen. Nordaustralien zwischen dem 125. und 130. Breitengrad ist weder der Umgebung meiner Vaterstadt Malmö noch etwa der lärmenden Gemütlichkeit der Ostseebäderküste auf Usedom vergleichbar. Die Kimberley-Goldfelder sind nicht allzu weit entfernt (nicht zu verwechseln mit den südafrikanischen Edelsteinminen!), und wenn auch die Glanzzeit Kimberleys dahin ist: In den Wittenoon-Bergen waren unlängst neue Placers entdeckt worden, und die Miners dort waren ein tolles Völkchen, hatte mir Kolonel Mallingrotts Töchterchen gelegentlich erzählt. Daisy wußte eben alles, Daisy verstand nicht viel von allerneuesten Moden, desto mehr von Pferdebeinen und von dem Unterschied zwischen einer Sniders- und einer Winchesterbüchse und von Fährten und … vom Küssen … Letzteres wußte Percy Dobber am allerbesten, und wenn Dobber, Kamerad aus Zelle 112, nicht gewesen wäre, dann hätte ich vielleicht in Borraloola einen Standesbeamten recht gern bemüht, vorausgesetzt, daß mit Olaf Karl Abelsen sonst alles in Ordnung gewesen wäre …
Was nicht der Fall war und nicht der Fall ist, denn das ekle Stückchen Papier, Steckbrief genannt, bemüht sich noch immer um mein geringes Ich. Obwohl mein Gewissen … – aber auch das sind uralte Märchen: Es war einmal! –
Chi Api an dem Buchenast mit langgerecktem Hals und mit der Krawatte aus Hanf und der heraushängenden Zunge bot keinen erfreulichen Anblick dar. Der magere Chi hatte mich nicht bemerkt. Tote pflegen auf die Anwesenheit von Lebenden im allgemeinen auch wenig Gewicht zu legen. Aber auch Antje Vanderoos war ich entgangen, obwohl sie sich äußerst behutsam näherte. Sie hatte allen Grund dazu. Ich stand im Schatten von einem Dutzend dicht nebeneinander gewachsener Kasuarinenstauden, Riesenschachtelhalme, und da mein Jagdhabit in der Farbe durchaus der Umgebung sich anpaßte, erkletterte das blonde Mädel ahnungslos und mit imponierender Schnelligkeit die alte Buche und löste oben Chis Krawatte – das Ende, das um den Ast geschlungen war. Chi sank langsam ins Gras.
Der tote Chi – die Namen der Beteiligten habe ich hier vorweggenommen –, der bisher hoch oben keinerlei Lebenszeichen von sich gegeben, war als Gehenkter entschieden nicht einwandfrei. Von dem anständigen Gehenkten verlangt man, daß er im Grase stille liegt, selbst wenn Antjes blonde Schönheit ihn losgeknüpft hat. Chi war auch in dieser Hinsicht eine Rarität. Er richtete sich etwas schwerfällig zu sitzender Stellung auf und wackelte mit dem absolut kahlen Kopf matt hin und her. Das sah im erneuten Mondlicht recht gruselig aus.
Antje kniete neben ihm, stützte ihn, schnitt ihm die Armfesseln sehr rasch durch und flüsterte schluchzend:
„Oh Chi, was habe ich deinetwegen an Todesangst ausgestanden!!“
Chi faßte sich in den Mund und holte aus dem Schlund eine Röhre aus getrockneter Kasuarine hervor und warf sie von sich. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Chinesen sind sonst sehr pietätvoll und ehren jede Kleinigkeit, die zu ihrem eigenen Ich irgendwie in Beziehung steht. Chi hätte dieses Rohr unbedingt als Talisman weiterhin um den Hals tragen müssen. Es hatte ihm das Leben gerettet, allerdings noch etwas: Der dicke Hanfstrick, der durch Antje vorher präpariert worden war.
„Oh Chi, du lebst …!“ jubelte Antje unter Tränen und schleppte ihn in die entfernteren Büsche.
Für Minuten entschwanden sie mir.
Es war das eigentümlichste Pärchen, das ich je beobachtet hatte.
Ich war heimlich als dritter wieder zur Stelle. Ein Toter und ein Mädel in einer Art Jachtdreß hätten wohl selbst einen eingefleischten Verächter jeglicher Art von Nächstenteilnahme angelockt.
Leider war es nun in dem Gestrüpp so dunkel, daß ich die beiden Gestalten lediglich als Schatten wahrnahm. Ihre gedämpfte Unterhaltung, die vonseiten Chis in belegtem Tone und recht dumpf geführt wurde, gab mir über die Beziehungen zwischen China und Holland nur ungenügend Aufschluß.
„Oh Chi, ich fürchtete, es hätte alles nichts geholfen …“ sagte Antje rührend besorgt. „Wie fühlst du dich?“
Chi fühlte sich den Umständen entsprechend. Für einen Toten war es eine anerkennenswerte Leistung, so ausgedehnt an der Flasche zu saugen, die eine zarte Hand ihm in den Mund drückte. Ich hörte die bekannten Töne reichlichen Alkoholgenusses, und Chi erwiderte nach dieser Stärkung sichtlich gekräftigt: „Miß Antje, mein Herz ist wie ein blühender Kirschbaumzweig, der deine zarte gütige Seele duftig umkränzt. Meine Dankbarkeit wird nie sterben, und meine Hand soll verfaulen, wenn ich den vier Schuften nicht noch heute nacht die Kehle bis zur Wirbelsäule durchschneide!“
Chis poetische Sprache liebte entschieden die Kontraste. Kirschblüten und durchschnittene Kehlen reimen sich schlecht.
Antje schwieg zu diesen blutigen Plänen Chis und meinte nur: „Oh Chi, Gott hat geholfen, und wenn alles glückt, werden wir doch noch nach Padalara kommen.“
Ich vernahm abermals die unzweideutigen Geräusche des Gluckerns von Alkohol. Daß Chi nach seinem Gastspiel am Baumast Wasser trinken würde, war unwahrscheinlich.
Dieses zweite Labsal hatte den toten Chi offenbar gänzlich in das Reich der Lebenden zurückgeschwemmt.
„Holde Blume von Borneo,“ sagte er bereits weniger belegt, „die vier elenden Sandflöhe – verzeih’ den unfeinen Ausdruck – müssen hinüberwandeln in das Reich derer, die nie wiederkehren. Unsere drei Malaien und Araro, der Dajak[2], waren klug genug, ihre Treue zu verleugnen. Bleibe hier, Antje Vanderoos, und erwarte mein Zeichen. Es wird immerhin einige Zeit dauern, bis wir vier Löcher in den Ufersand gescharrt haben. Aber fürchte nichts, Padalara, es wird nicht einmal ein Schuß fallen, und deine zarte Seele wird durch keinen Schrei gestört werden. – Hast du mir mein Messer mitgebracht, Tochter Pieters van Vanderoos?“
Die zarte Blume hatte das Messer zweifellos zur Hand, denn Chi ließ einen schmatzenden Laut hören und sagte wieder:
„Antje, – meines Vaters Vater und dessen Väter haben diesen Stahl stets in Ehren gehalten. Es ist eine schöne Sitte, ihn vor jedem Kampfe zu küssen und die Kühle seiner scharfen Schneide mit den Lippen zu fühlen. – Lebe wohl, holde Tochter Pieters van Vanderoos. Wir werden das Schiff zurückerobern und heimkehren in die Wälder, wo nachts der Schrei der Waldmenschen die Blätter zittern läßt und die Freunde meines einzigen Freundes die Schädel der Toten mit weißer Farbe und frischen Blüten schmücken.“
Was Antje erwiderte, entging mir, da ich mich beeilte, vor Chi Api das Lagerfeuer am Flusse zu erreichen. Es lag nicht in meiner Absicht, in diese internen Angelegenheiten mir fremder Menschen einzugreifen. Ich wollte lediglich Zeuge einer primitiven Gerichtsbarkeit sein, die hier sicherlich berechtigt erschien. Weder Chi noch Antje machten auf mich den Eindruck, als ob sie grundlos eine so harte Justiz anwenden würden.
Ich kroch eilends an der alten Buche vorüber und stieß dort ganz zufällig mit der Hand gegen Chis Hanfkrawatte. Der Aberglaube, daß der Strick eines Gehenkten Glück bringt, kam hier als Motiv einer schnellen Inbesitznahme besagten Strickes weniger in Betracht. Wichtiger war mir der Besitz an sich, denn unter den vorliegenden Umständen konnte ich von diesem Hanferzeugnis vielleicht nützlichen Gebrauch machen. Ich rollte die Krawatte also schleunigst zusammen und stellte dabei fest, – als sie mir durch die Hand glitt, daß sie in verschiedenen Zwischenräumen weiche Auftreibungen hatte. Später hat Antje mir erklärt, daß sie in den Strick, bevor die Kerle aus Wittenoon den armen Chi aufknüpften, heimlich die braunen länglichen Früchte des Kokastrauches eingeflochten hatte, damit die Schlinge beim Niedergleiten Widerstand fände. Ihre Rechnung stimmte auch: Das Kasuarinenrohr und diese Knoten, die den Schuften in der Dunkelheit nicht auffielen, zumal der Alkohol ihre Sinne stark umnebelt hatte, schützten den zähen Chi vor dem Tode, – er brach sich nicht das Genick, ebensowenig wurden ihm die Schlagadern zusammengepreßt, und so war denn Chi einer der wenigen, die dem Tode in einer Hanfkrawatte entgingen.
Doch dies alles ist letzten Endes Beiwerk. Hauptsache war: Ich gelangte bis dicht an das Feuer, das vor den letzten Uferbüschen brannte, und ich sah neben der prasselnden Glut vier Gentlemen in recht abgerissenen Anzügen auf einer Wolldecke dem Würfelspiel huldigen, wobei es ebenso lärmend wie anrüchig herging. Es waren vier jener Strolche, wie jedes Diggerlager[3] sie schon zu Zeiten der ersten Goldfunde in Kalifornien kannte. Ein älterer Bursche, Galgenvogelgesicht, sicherlich Zuchthausstammgast, dann drei jüngere Leute, von denen nur der eine ein wenig annehmbar erschien, ein blasser, hagerer Mensch mit fast melancholischen Zügen, die jetzt freilich unter dem Einfluß des Whisky schamlos habgierig wirkten.
Anrüchig ging es zu. Der Alte, den die anderen drei mit Braxon anbrüllten, mogelte in unverschämtester Weise, dabei war er so schlau, sich gänzlich bezecht zu stellen, und seine Fingerfertigkeit im Austauschen der harmlosen gegen bleigefüllte Würfel hätte einen Bellachini[4] beschämt.
Dies sah ich mit einem Blick. Mit einem zweiten, der nun der weiteren Umgebung galt, entdeckte ich im Ufersande vier Gestalten, die wahrscheinlich der von Chi erwähnte Dajak Araro und die Malaien waren. Sie konnten lediglich gefesselt sein. – Auf dem hier etwa fünfzig Meter breiten Flusse erkannte ich undeutlich die Umrisse einer Dschunke mit gerefften Segeln.
Zu eingehenderen Beobachtungen fehlte mir die Zeit.
Braxon hatte soeben wieder einen großen Schlag gelandet. Die Kerle spielten um Goldkörner, und die Sicherheit, mit der sie Größe und Wert der einzelnen Nuggets abschätzten, konnte nur durch ein längeres, ernstes Studium als Banditen erworben sein.
„Ich bin blank,“ sagte der Bleiche und fluchte in widerwärtigster Art. „Spielt ihr drei allein weiter … Ich werde mal nach unserem blonden Mädel schaun …“
Er erhob sich taumelnd und schwankte unsicher auf eine Hütte aus Zweigen zu, die mir bisher, da halb in die Büsche hineingebaut, entgangen war.
Braxon rief ihm eine unflätige Redensart nach, – die vier bedienten sich jenes verdorbenen Küstenjargons, der von China bis hinab nach Melbourne und ostwärts bis Hawaii gesprochen und verstanden wird: Ein Mischmasch von Englisch, Französisch, Holländisch, gespickt mit indischen, malaiischen und Südseebrocken.
Ich war schneller als der Blasse. Entdeckte er Antjes Abwesenheit, so konnten Chis blutdürstige Absichten eine üble Wandlung erfahren.
Der Blasse lüftete das Stück Segel, das als Türvorhang diente …
„Hallo, Miß …!!“
Aber zu meinem Erstaunen folgte diesem Anruf sofort ein durchaus höflicher Nachsatz – nur geflüstert …: „Miß, ich werde Sie unter allen Umständen schützen … Fürchten Sie nichts. Ich habe Chis Schlinge auch …“
Das Weitere mußte er verschlucken. Ich hatte zugepackt, und der eine Hieb genügte. Ich schleifte ihn durch die kleine Hütte hinten in die Büsche und fesselte ihn. Es geschah in seinem Interesse. Ich hörte vom Lagerplatz her ein paar Schreie und Chis schrille Stimme:
„Araro, begnüge dich bitte mit dem einen Kopf! – Schnell, schaufelt sie ein! Antje, die duftende Blüte von Padalara, soll nichts von diesen schlechten Menschen mehr sehen!“
Chis zarte Sorgfalt gefiel mir. Noch mehr sein erstaunlicher Nachsatz, der nur mir gelten konnte: „Mr. Fremder, den Mann mit dem Namen Milo hätten wir ohnedies geschont. Bringe ihn nur her. Miß Antje führt dein Pferd herbei. Du bist uns willkommen, Mr. Fremder.“
Chi hatte den Dajak und die drei Malaien befreit, und von Braxon und Genossen waren außer dem Manne Milo nur noch drei flache Sandhügel übrig.
So machte ich die Bekanntschaft Chis und eines Teiles der anderen Mitspieler des ungewöhnlichen Abenteuers mit Araros frischer Trophäe.
Die Dajaks sind nämlich Kopfjäger.
Der Mann Milo saß mit am Feuer. Seine Fesseln störten ihn nicht. Er war genau so nüchtern wie Antje, Chi, ich und die vier braunen Kameraden. Aber über seine Person hüllte er sich in hartnäckiges Schweigen und betonte nur, daß er Braxon und Genossen erst ganz kurze Zeit gekannt hätte.
Antjes Gesicht, vom rötlichen Lichtschein umspielt, glich einer zarten Rose.
„Ich bedauere,“ sagte sie in fließendem Englisch, „Ihnen über unsere Reise und alles andere keinen Aufschluß geben zu können.“ Das war an meine Adresse gerichtet.
Chi ergänzte überhöflich: „Mr. Fremder, wir sind Leute, die jedes Wort dreifach abwägen müssen. Entschuldige gütigst, – wir wollen dich nicht verletzen … Darf ich dir den Teebecher nochmals füllen?“
Chi Api mochte vierzig Jahre zählen. Die Blattern hatten nicht nur sein Gesicht böse gesprenkelt, sondern ihm auch jeglichen Haupthaares beraubt. Nur unter der winzigen Nase saßen ihm noch ein paar unschwer zu zählende Barthaare, die ihn keineswegs verschönten. Daß er ein gebildeter Mann war, bewies nicht nur seine gewählte Sprache. Sein Benehmen, sein ganzes Auftreten deuteten sogar auf eine geistige Überlegenheit hin, von der er jedoch keinerlei Aufhebens machte.
Unsere Unterhaltung stockte notwendig, denn wir hatten uns gegenseitig nichts zu sagen. Ich wollte mein Inkognito nicht lüften, und die Begleiter Antjes zeigten dieselbe Vorsicht. Wir beschränkten uns also auf einen anständigen Imbiß und Nachttrank: Viel Whisky und wenig Tee!
Antje grübelte vor sich hin. Zuweilen traf mich ein schneller, prüfender Blick, und dann schaute sie wieder gedankenverloren zu der verankerten Dschunke hinüber und rauchte bedächtig ihre Zigarette. Sie hatte eine kleine, sonngebräunte Hand, und diese Hand erinnerte mich an Daisy Mallingrott.
Chi fühlte wohl, daß dieses Schweigen uns allen lästig wurde. Er sagte mit einer leichten Verbeugung: „Mr. Fremder, meine erhabenen Ahnen (er verneigte sich ehrfurchtsvoll bis zum niedergetretenen Grase, in dem er mit untergeschlagenen Beinen saß) haben die Ohren des roten Luchses der mandschurischen Wälder und die Augen des großen Geiers der mandschurischen Steppen mir vererbt. Sie waren zumeist Räuber und gingen mit dem Kopf im Arm in die Gefilde der Unsterblichkeit ein.“ (Was bedeuten sollte, daß seine erhabenen Ahnen geköpft worden waren.) „Ich sah dich bereits unter den Kasuarinen stehen, o Fremder, als die Blume von Padalara meinen Leib aus der Höhe herabgleiten ließ und ich wieder lebendig wurde. Ich hörte dich durch die Büsche schleichen, ich hörte deine Nähe und sah, daß du den Strick mitnahmst. Ich sehe und höre alles.“
Antje Vanderoos bemerkte hierzu: „Chi ist Stationspolizist in Padalara, Mister … Nebenbei auch Kaufmann und Orang-Utan-Fänger.“ Sie sagte dies mit größtem Respekt, und Chi nickte würdevoll-bescheiden: „Mr. Fremder, die Ausfuhr von Affen ist einträglicher als die Einfuhr von Menschen,“ – ein Satz, den ich nicht recht verstand. Aber Antje bekräftigte sehr ernst: „Menschen sind billiger, Mister. Für einen ausgewachsenen Orang-Utan[5] bekommt man bis zu dreitausend Gulden.“
Es war eine durchaus seltsame Unterhaltung in einer ebenso ungewöhnlichen Umgebung. Der Dajak Araro, ein Prachtkerl in Khaki, sowie die drei Malaien in hellen Bordanzügen hockten steif und stumm wie die Ölgötzen dabei. Der Mann Milo stierte melancholisch in die knisternden Flammen, und wir drei Sprechenden bemühten uns, die außerordentlichen Umstände durch eine etwas gekünstelte Zwanglosigkeit vor uns selbst zu bemänteln. Wir waren Menschen, die der unberechenbare Wind des Schicksals willkürlich hier zusammengeweht hatte, – wir empfanden dies auch, wir hatten jeder unsere Geheimnisse zu wahren, wir waren dennoch aufeinander angewiesen, keiner wollte als erster offen mit der Sprache heraus, keiner mochte dies den anderen Teil fühlen lassen, und wir stellten hier nicht weniger als drei Parteien vor: Antje Vanderoos und die Ihrigen, also insgesamt sechs Personen, – dann der Mann Milo, schließlich ich, für den höflichen Chi „Mr. Fremder“.
Kein Wort war bisher über Braxons und seiner Sippe zweifellos überraschenden Angriff auf die Dschunke gefallen, kein Wort über Ziel und Zweck der Fahrt dieses Schiffes, das doch ebenso zweifellos Antje gehörte. Eine Dschunke hier in Australien im Viktoria-Fluß?! Ausgerechnet eine Dschunke!! Schon das allein genügte zu den phantastischsten Vermutungen.
Es ist nun niemals meine Art gewesen, mir über Dinge, die mich nichts angehen, den Kopf zu zerbrechen. Im Grunde war mir auch der Mann Milo weit interessanter als meine übrigen Lagergenossen, Antje mit einbegriffen. Gewiß, sie war ein hübsches, junges Weib, ihr rundes Gesicht mit den großen dunklen Augen hatte nichts Puppenhaftes an sich, es besaß im Gegenteil die unverkennbaren Linien starker Weiblichkeit und dennoch den reichen Schmelz fraulicher Sanftheit. Sie war nicht mein Geschmack. Es war der Typ der amerikanischen Filmheldinnen, – ihr fehlte eins, das meine letzte weibliche Bekanntschaft überreich aufzuweisen hatte: Daisy Mallingrott war voller Schneid und Wagemut gewesen; schon in ihren Augen hatte sich die Kühnheit einer abenteuerlustigen Seele wiedergespiegelt.
Antje?!
Sie kam mir vor wie eine der farbenfrohen Tulpen, die in ihrer holländischen Heimat so künstlerisch gezüchtet werden und die in fremder Erde so selten ihre volle Schönheit bewahren. An dieser blonden Antje war etwas Unausgeglichenes, Widerspruchsvolles, man könnte sagen etwas Erkältendes. Ihr Verhältnis zu Chi Api zum Beispiel erschien mir fremdartig und ungewöhnlich. Als sie ihn aus seiner peinlichen Lage befreit hatte täuschte sie eine Energie vor, die nur ein Aufflackern kraftvollen Zielbewußtseins gewesen sein konnte. Jetzt am Lagerfeuer war sie verträumt, ohne innere Richtlinie, – an ihr allein lag es, daß wir drei Parteien miteinander nicht warm wurden. Weshalb trug der Mann Milo weiter die Fesseln, den Strick des gehenkten Chi?! Weshalb – –, aber diese Fragen hätten sich ins Ungemessene vermehren lassen, und ich, Mr. Fremder hier, beabsichtigte keineswegs, mein Hirn nutzlos zu zermartern. Der Morgen würde sehr bald heraufdämmern, und dann mußten ja die Dinge so oder so sich klären. Jedenfalls war ich schon jetzt entschlossen, dem Manne Milo insofern beizustehen als ich ihn mit auf die Dschunke nehmen wollte, das heißt: Ich würde Australien für immer verlassen, und er sollte gleichsam dieses Land fernerhin meiden, in dem er nur immer tiefer sinken konnte. Dazu, so schätzte ich ihn ein, war er zu schade, ihm war noch zu helfen, er mochte gestrauchelt sein, ein Verbrecher war er niemals. –
Es war recht kühl um diese Stunde am sanft plätschernden Viktoria. Chi Api füllte mir zuvorkommend abermals den Becher und machte dann des Mannes Milo linke Hand frei.
„Bitte, es wird dir gut tun,“ sagte er liebenswürdig.
Aber der Mann Milo mit den melancholischen Zügen wies den Becher zurück. Seine matten Augen ruhten glanzlos auf des Chinesen freundlichem Gesicht.
„Was hattet ihr mit Braxon hier zu erledigen?“ fragte er klanglos und müde. „Braxon weihte mich nicht ein, und doch ahne ich, daß ihr ihn hier treffen wolltet und daß er euch über irgend etwas Auskunft geben sollte. Ich verlange die Wahrheit zu hören, Chi Api.“
Er verlangte!!
Man denke, – der Mann Milo, gefesselt und mitschuldig an Chi Apis „Hinrichtung“, wenn auch offensichtlich nicht in demselben Maße wie die drei, die nun der Ufersand deckte, – dieser blasse, hagere Mensch erlaubte sich hier zu kommandieren! Merkwürdig war dabei, daß er, mochte seine Sprache auch noch so monoton und saftlos sein, in den Unterton ein gewisses, undefinierbares, metallisches Schwingen hineinzulegen wußte, das dem hellhörigen Chi nicht entging.
Leute von der Eigenart dieses Milo waren mir bisher nicht vorgekommen. Es war aus ihm überhaupt nicht klug zu werden. Ich bilde mir ein, Welt- und Menschenkenntnis zu besitzen. Man lernt nie aus. – Daß Milo, dessen Nationalität dem strohblonden Haar nach kaum zu bestimmen war (er selbst hatte hierüber nichts geäußert, und sein Englisch war durchaus einwandfrei, genau wie sein ganzes Benehmen) – daß er vorhin beim Würfelspiel sich lediglich dem rüden Ton seiner Gefährten angepaßt hatte und seinem wahren Charakter nach ganz anders geartet war, hatte ich längst gemerkt. Ein gewisser Stolz hielt ihn offenbar davon ab, sich näher darüber zu äußern, inwiefern er Chi Apis „Hinrichtung“ zu hintertreiben gesucht hatte. Auch dieser Punkt – Chi hatte gerade ihn schonen wollen – war noch nicht berührt worden. Alles schwebte unklar und doppeldeutig in der Luft wie eine fahle Wolkenwand, die vielleicht ein reinigendes Gewitter bringen kann. – Weshalb hatten die Kerle gerade Chi aufgeknüpft, – auch eine ungelöste Frage.
Der metallische Unterton veranlaßte Chi zu einer Andeutung, die ein wenig Licht in das Dunkel brachte.
„Mr. Milo, erlaube mir, daß ich dir meinen Dank ausspreche. Ich sah, daß du die Schlinge unter mein Kinn schobst. Du saßest oben auf dem Ast, und du mildertest auch den Sturz, indem du den Strick mit der Hand unmerklich an den Ast drücktest. Es wäre gut, wenn du die Liebenswürdigkeit hättest, ganz offen zu reden. Wie kamst du in die Gesellschaft dieses Braxon?“
Antje hatte durch jähe Kopfbewegung erkennen lassen, daß auch ihr diese Retterrolle Milos neu war. Sie blickte Milo voller Teilnahme an und sagte erstaunt:
„Dann darf Mr. Milo doch nicht gefesselt bleiben, Chi …!“
Der blatternarbige Sohn Chinas streichelte seinen schwarzen, mottenzerfressenen Schnurrbart. „Blume von Padalara, auch der Sieger hat die Besiegten mit Vorsicht zu behandeln. Mr. Milo kann mehr wissen, als uns lieb, und seine Reden können nicht seine Gedanken sein. Der weise Konfuzius schreibt, daß das gesprochene Wort wertlos ist, nur der Gedanke sei das wichtige. Wir kennen Mr. Milo erst seit Stunden.“
Milos graue Augen, ohne Glanz und stets mit nach innen gerichtetem Blick, betrachteten Chi mit eisiger Gleichgültigkeit. Er ließ etwas die Maske fallen. Sein Mund verzog sich zu einem hochmütigen Lächeln.
„Ich lüge nie,“ erklärte er und goß den Tee in das Feuer. Es zischte und prasselte, und eine Qualmwolke puffte hoch. „Ich kam vor vier Tagen aus den Wittenoon-Hügeln von meinem Claim (abgestecktes Goldfeld), wo ich nur Sand und Steine und in drei Monaten lediglich ein Säckchen Nuggets herausgewaschen hatte. Ich wollte hier zum Viktoria, wollte auf gut Glück mich nach einer lohnenden Ader umsehen. Unterwegs, vorgestern abend, stieß ich auf Braxon und die beiden anderen. Ich schloß mich ihnen an. Erst hier am Flusse eröffnete Braxon mir, daß flußabwärts eine Dschunke ankere. Wir müßten die Leute gefangen nehmen, es seien Piraten, mit denen er abzurechnen hatte. – Ich pflege scheinbar alles zu glauben. In diesem Falle spielte ich notgedrungen mit, denn Braxons Kugeln saßen sehr locker im Lauf, und ich selbst hatte nicht mehr eine Patrone für meinen verrosteten Revolver. Daß wir euch dann nach Dunkelwerden einzeln abfingen, wißt ihr am besten. Was Braxon mit Miß Antje und dir, Chi Api, nachher verhandelte, blieb mir verborgen. Braxon erklärte, du müßtest baumeln. Er wollte von dir ein Geständnis erpressen, ahnte ich. Ich tat abermals mit, aber du lebst, und ich würde es von dir anständiger finden, wenn du deine Dankbarkeit nicht lediglich in hohlen Worten zeigen wolltest.“
Chi blies in das Feuer. Er nickte unmerklich. „Der weise Konfuzius schreibt an einer Stelle, wo er über die Seele sich äußert, daß die Hülle des Leibes keinerlei Möglichkeit bietet, den Kern dieser Hülle bloßzulegen, es sei denn, man …“
Milo winkte ab. „Spare dir das alles … – Was hattet ihr mit Braxon zu tun?!“
Chi überhörte das. „… Es sei denn, sagt Konfuzius, man prüfe die Hülle durch Feuer und Stahl.“
„Also – Folter, ich verstehe,“ meinte Milo wegwerfend. „Ihr Chinesen seid das Volk der Gegensätze. Ihr könnt treu und gutmütig und dankbar sein, ihr könnt aber auch zu Bestien werden.“
Chi nickte wieder. „Ich wage dir nicht zu widersprechen.“ Kurze Pause … Seine kleinen Augen stachen scharf in die Milos hinein. „Du lügst nicht … du warst in Padalara, Mr. Milo, vor anderthalb Jahren. Damals trugst du einen blonden Vollbart, heute bist du schlecht rasiert, deine Rasierklingen sind stumpf, und als Seife hast du den blasigen Schleim der Chronosschnecke benutzt. Deshalb sind deine Züge bleich und farblos, aber deine Stirn, dein Hals, dein Nacken blieben braun. Du warst in Padalara, nur einen Tag, und es gelang mir nicht, deine Fährte wiederzufinden, dein Nachen hatte einen Außenbordmotor und war flink wie die grünen Wasserschlangen des Kapuasstromes.“
Milo erwiderte, – und der metallische Unterton schwang kräftiger: „Sage du mir, Chi Api, wo Jan van Vanderoos und sein Kind geblieben sind, und ich werde dir sagen, was ich zu wissen glaube.“
Antje sprang auf die Füße.
„Wer sind Sie?! Reden Sie …!! Wer sind Sie?!“
Ihre Erregung, ihre Blässe, die Unruhe in Chis Antlitz und die gespannten Mienen der vier Borneoleute[6] unterstrichen die Wichtigkeit ihrer Frage.
Milo entgegnete, indem er den matten Blick sekundenlang aufflammen ließ: „Jedenfalls können Sie nicht Antje Vanderoos sein, Miß, denn ich kenne Antje und ihren Vater … Ich kannte sie. Wo sind sie, und – wer sind Sie?!“
Das blonde Mädchen sagte leise: „Es gab zwei Brüder Vanderoos in Amsterdam, Jan und Pieter. Mein Vater war Pieter van Vanderoos, Mr. Milo, und ich wurde Onkel Jans und meiner Cousine Antjes gesetzliche Erbin. Ich bin die Besitzerin der Vanderoos-Plantage seit einem Jahr, und Braxon als einziger wußte, wo Onkel Jan und Antje, die stets Anja genannt wurde, geblieben sind. Braxon hat sie ermordet.“
Milo erhob sich langsam mit versteinertem Gesicht, schritt zum Wasser hinab, stieg in das Boot und setzte sich auf die Ruderbank und stützte den Kopf in beide Hände.
Der Strick des Gehängten war wie lose Fäden von ihm abgefallen.
Chi nahm die Stücke und beschaute sie.
„Er hatte ein Messer im Ärmel,“ sagte er, „und er ist klüger als wir alle.“
Der Morgen schlich herbei. Die Dämmerung enthüllte mir die Linien der schlanken, dunkelgrau gestrichenen Dschunke und ihre zierlichen Aufbauten. Seit Jahrhunderten haben die Chinesen an dieser Schiffsform festgehalten, und auch die malaiische Prau ist im Grunde nach denselben Richtlinien gebaut. Für die Gewässer Ostasiens und der Sunda-Inseln sind diese scheinbar plumpen Fahrzeuge der praktischste Schiffstyp.
Am Bug der Dschunke las ich in weißen Buchstaben – es war Aluminiumblech – den Namen „Kapuas“. Die schlanken Masten, die blitzblanken Fenster, die schneeweißen Segel, das neue Tauwerk und am Heck das dunkelgebeizte Schaltbrett verrieten die moderne Spielart dieser Küstenfahrer.
Milo saß noch immer in dem Boot am Strande, den Rücken uns zugekehrt und bewies eine Anteilnahme an Jans und Anjas Geschick, die durch ihre starre Ruhe und trostlose Schweigsamkeit doppelt stark ans Herz griff.
Antje fragte nach einer Weile leise:
„Chi, du hast mir gegenüber niemals diesen Mann erwähnt? Weshalb nicht?“
Der Chinese, dessen völlig kahler Schädel im ersten Sonnenlicht wie ein Kürbis leuchtete, beschaute seine langen dünnen Finger, die er vorhin sauber gewaschen hatte. Auch sein Anzug verriet Sinn für ein gepflegtes Äußere.
„Blume von Padalara,“ erwiderte er, sich leicht verneigend, „als Mr. Milo in unserer Station die Leute ausforschte und als ich zu spät davon erfuhr, warst du noch nicht bei uns. Die Gerichte hatten dich damals erst benachrichtigt, daß du ein Erbe antreten könntest, das dir nur Sorgen aufgebürdet hat. Ich hielt den blonden Europäer damals für einen Spion, – sehe ein, ich habe mich geirrt. Mr. Milo hat sein Herz vielleicht an deine stolze Cousine Anja verloren, als sie im fernen Lande im Westen in deiner Heimatstadt in dem Hause der klugen Schwestern weilte und dort all das lernen sollte, was die Urwälder um Padalara ihr nicht schenken konnten. Sie schenken uns vieles, aber ihre Stimme ist leise und geheimnisvoll, und was sie lehren, ist nicht die Klugheit und Weisheit der gedruckten Bücher, die euch so lieb sind.“
Antje glaubte, mir eine nähere Erklärung schuldig zu sein. „Sie müssen wissen, Mr. Fremder, daß mein Vater und Anjas Vater verfeindet waren. Mein Vater war Kapitän und ging mit seinem Fischdampfer in den isländischen Fischgründen unter, meine Mutter habe ich nie gekannt. Die Mitteilung des Gerichts, daß ich die Plantage geerbt hatte, kam mir gänzlich überraschend. Ich war damals vor vierzehn Monaten noch eine bescheidene Angestellte in einem Schiffskontor in Amsterdam. Daß Anja zwei Jahre im Kloster Buitenhoold erzogen worden, ahnte ich nicht. Auch zwischen uns hatte es keinerlei Beziehungen gegeben. Ich trat ein Erbe an, das ich kaum dem Namen nach kannte, und wenn Chi nicht gewesen wäre, der als Nachlaßpfleger die Plantage verwaltete, hätte ich mich nie in den großen Betrieb hineingefunden.“
Die Sonne kletterte höher, und es wurde Licht ringsum, – auch die dunklen Zusammenhänge dessen, was die Nacht mir als Abenteuer beschert, hellten sich allmählich auf. Dreierlei blieb als wichtigste Fragen ungelöst: Was hatte John Braxon mit den beiden Vanderoos zu schaffen gehabt, weshalb Chis „Hinrichtung“, und drittens: Wer war Milo?!
Inzwischen hatten sich die drei Malaien und der Dajak Araro in die Büsche zurückgezogen. Der Fluß mochte sie zum Frühbade anlocken, und ihre Stimmen hinter einer die Aussicht sperrenden bewaldeten Sandbank erklangen froh und lustig wie das Gekreisch übermütiger Kinder im lauen Wasser.
Wir befanden uns hier auf dem Westufer. Uns gegenüber stiegen die Abhänge der Marbuton-Berge recht steil an und gaben dem Landschaftsbilde mit ihren zum Teil freundlich grünen Kuppen ein angenehmes Aussehen. Der Wüstencharakter wurde nur noch durch einzelne Vertreter der Flora betont: Kasuarinen, Grasbäume und Eukalyptusstauden. Vorherrschend waren hier Buchen, weidenartiges Gestrüpp und einzelne verkümmerte Palmen.
Das Gespräch zwischen uns dreien war wieder ins Stocken geraten. Ich war müde, und auch Antje machte einen erschöpften Eindruck. Chi Api, der Tote hatte den Kopf gewandt und blickte nach der Stelle hin, wo jetzt aus dem Ufergrün kerzengerade eine dicke Qualmsäule aufstieg. Dort badeten die vier Borneoleute. – Badeten sie wirklich?! Mir fiel Chis mahnender Zuruf an Araro während des kurzen, nächtlichen Kampfes ein. Die Dajak sind noch heute auf Siegestrophäen, wie sie sie lieben, versessen und lassen von dieser Sitte nicht ab. Sollte etwa Araro, der beinahe sanfte Züge hatte, dort am Feuer … – Der Gedanke war ein wenig unbehaglich.
Chi drehte sein kahles Haupt der Blume von Padalara zu und sagte schmeichelnd:
„Miß Antje, du solltest deine Kabine im Kapuas aufsuchen. Wir werden sehr bald aufbrechen, und es bliebe nur noch die Frage zu erörtern, ob Mr. Fremder und Mr. Milo uns begleiten dürfen, was von dir abhängt.“
Antje schien überrascht zu sein. Sie fragte mich mit forschendem Blick: „Gedenken Sie denn Australien zu verlassen?“
„Ja,“ – aber nicht über meine Lippen kam’s. Chi Api hatte mir die Antwort vorweggenommen. „Mr. Fremder,“ fügte er hinzu, „gelangte auf ziemlich abgetriebenem Pferde hierher und wünscht seinen Namen für sich zu behalten. Die australische Polizei kann sich irren – wie ich mich geirrt habe, als Mr. Milo mit seinem Nachen Padalara besucht hatte. Mr. Fremder hat die Augen eines Mannes, dessen Seele rein ist.“
Antje musterte mich noch schärfer. „Sie wurden verfolgt?!“
Ich bestätigte dies kurz. „Ich bin ohne Heimat, Miß. Meine Heimat ist die Einsamkeit, meine Kameraden sind seit Jahren nur Menschen, die die Wildnis und die Freiheit lieben. Mein Herz blieb zurück an dem Grabe eines armen indianischen Jägers und Fischers, der doch ein Millionär und ein Königssproß war. Ich habe nichts mehr zu verlieren oder zu gewinnen. Nennen Sie mich einen Abenteurer. Vielleicht bin ich es. In jedem Falle werde ich meinen Fuchs laufen lassen, er wird die nächste Farm von selbst finden, und Milo und ich werden Gäste auf Ihrer Dschunke sein. Weshalb soll ich nicht die Urwälder Borneos besuchen?! Es wäre ein wirkungsvoller Kontrast zu den Einöden dieses Landes.“
„Sie beide sind mir willkommen,“ erklärte sie schlicht. „Es wird vielleicht eine Zeit geben, in der ich Männer und Kameraden nur zu nötig brauche,“ fügte sie leiser hinzu. – Sie reichte mir ihre braune kleine Hand und wir lächelten uns an wie zwei längst vertraute Gefährten.
Die Stimmung dieser Minute zerbrach vor dem gellenden Schrei, der klar und hell aus dem Ufergestrüpp kam, wo die vier Borneoleute steckten. Es war ein scharfer, kurzer Schrei, schrill und durchdringend wie der Ruf einer Möwe in totenstiller Meeresnacht.
Wir drei fuhren hoch. Ich griff nach der Büchse, Chi riß die Pistole aus dem farblos gewordenen verwitterten Lederfutteral, Antje stand vorgebeugt da …
Ruderschläge verwirrten die Sachlage noch mehr. Milo hatte das Boot vom Ufer abgestoßen und verschwand bereits hinter der Dschunke.
Zwei der Malaien tauchten aus den Büschen auf, beteuerten, keiner von ihnen hätte geschrien, – – Chi flüsterte mit ihnen, und seine gewohnte Höflichkeit schien diesmal einen argen Stoß erlitten zu haben, erregt deutete er auf die noch immer hochsteigende Qualmsäule, und der Name Araro kam wiederholt wie ein wütendes Zischen über seine Lippen.
Mir selbst erschien es weit wichtiger, den Mann Milo, der uns so unverfroren das Boot entführt hatte, wieder einzufangen. Er hatte sehr schlau unsere Ablenkung durch den gellenden Schrei zu einer unerwarteten Flucht benützt, die mir, gerade weil ich für ihn eingetreten war, doppelt peinlich sein mußte. Sollte ich mich wirklich in diesen Menschen so völlig geirrt haben?! Sollte er mit uns ein trügerisches Spiel gewagt haben?! – Doch nein, seine Äußerungen über Antjes Verwandte, mit denen die Amsterdamer Vanderoos so schlecht gestanden hatten, widerlegten diesen Argwohn vollkommen.
Wie schon erwähnt: Der Fluß war hier nur etwa fünfzig Meter breit. – Das ist keine Leistung für einen Schwimmer, der mit einem Coy Cala in der Gallegos-Bucht in schwerer Ledertracht ganz andere Strecken zurücklegen mußte, wenn einmal das leichte Fellboot auf einer Granitnase sich den Bauch aufgeschlitzt hatte.
Ich warf nur die Jacke und die Schuhe ab. Antjes erstaunter Ausruf hielt mich nicht zurück. Ich stieß kräftig aus, und als ich die Dschunke dann umschwamm, sah ich das Boot in einer Bucht am jenseitigen Ufer liegen. Milo war auf und davon. Ich holte das Boot, – eine Verfolgung war zwecklos. Mir stiegen nun doch wieder berechtigte Zweifel an Milos einwandfreiem Charakter auf, er konnte ja durch John Braxon von den beiden Vanderoos gehört haben, sein ganzes Verhalten konnte schlaueste Berechnung gewesen sein, – wer kennt sich so leicht in menschliche Charaktere aus, man wird immer wieder enttäuscht, aber diese Enttäuschungen sind auch die beste Schule für all die, denen Welt und Bewohner in allzu rosigem Lichte erscheinen.
Triefend stieg ich an Land. Antje kam mir entgegen. Sie hatte den leichten, federnden Schritt all derer, die gewohnt sind, nicht nur die gebahnten Wege westlicher Kulturstätten zu wandeln, – sie besaß jene zwanglos-aufrechte Haltung, die einst den Frauen so wünschenswert erschien, bevor eben die mißdeutete Lässigkeit der Bewegungen in Mode kam.
„Und Milo?“ fragte sie etwas zögernd. „Ist er wirklich entwichen?“
„Leider …“
Sie blickte an mir vorüber … „Vielleicht ist es besser so,“ meinte sie achselzuckend. „Ich werde jetzt an Bord gehen, Mr. Fremder … Vielleicht rudern Sie mich hinüber. Ich bin sehr müde; diese Nacht hat mich um eine Hoffnung ärmer gemacht.“
Sie sprang in das Boot.
Von Chi Api und den anderen war nichts zu sehen. Nur die Qualmsäule breitete sich im Flußtal wie eine Wolkenschicht aus. Mit leisem Schaudern dachte ich an eine primitive Art von Räucherkammer … Ich hatte genug über die Dajak gelesen. Kopfjäger sind wenig angenehme Kavaliere. Aber ich sollte sie recht bald von einer ganz anderen Seite kennen lernen.
Antje saß auf der Steuerbank. Wir sahen uns im Lichte der unbarmherzigen Morgensonne, und das Mädchen erschien mir vergrämt und traurig, nicht mehr verträumt und nicht mehr allzusehr ihrem Innenleben sich hingebend; die unsichere Beleuchtung bei Nacht mochte mich getäuscht haben. Ich entdeckte Linien um den kleinen, vollen Mund, die mein Urteil über ihre Wesensart gründlich änderten.
Und sie – dafür war sie Weib – betrachtete auch mich mit anderen Augen. „Ich möchte Sie nicht mit diesem kalten Mr. Fremder anreden,“ sagte sie ohne Scheu und streckte mir die Hand hin.
Ich ließ die Riemen schleifen und nahm diese warme, weiche Hand und erwiderte freimütig: „Recht so, Miß Antje, nennen Sie mich Mr. Olaf und denken Sie sich dabei nach Möglichkeit gar nichts.“
Ihre großen Augen forschten in den meinen. „Haben Sie sehr viel Trauriges erlebt?“
„Vielleicht …“ und ich griff wieder zu den Rudern.
Vergangenheit?! Nein – nicht daran rühren! Gegenwart genießen! Der Zukunft nicht einen Gedanken! Dort ankerte die schnittige Dschunke, meiner wartete eine Reise zu mir unbekannten Küsten: Das genügte mir.
Antje erklomm die Strickleiter, und ich wandte den Bug wieder dem Ufer zu. Diese Morgenstunde stimmte mich froh und machte mich frisch. Das Bad hatte mich erquickt, die nassen Kleider störten mich nicht.
Wenn eins mich störte: Daß ich meinen Fuchs herrenlos zurücklassen mußte. Wochenlang hatte er mich durch die Einöden Australiens getragen, und von Coy hatte ich das Pferd lieben gelernt.
Mein Tier, – wo war es? – Drüben über dem Gestrüpp hatte es zuweilen den Kopf gehoben und beim Weiden nach mir ausgeschaut und leise gewiehert. Wo war es?!
Minuten später wußte ich es: Der Mann Milo hatte es mir entführt, – eine frische Fährte lief gen Süden … Mein Fuchs war nicht mehr herrenlos, aber sein neuer Reiter war ein glattzüngiger Bursche, dem die Lüge leicht über die Lippen floß.
Ich strich Milo aus meiner Erinnerung und wandte mich nach links dem Ufer wieder zu. Die Qualmsäule wies mir den Weg.
In einer Sandmulde brannte ein Riesenfeuer, über dem nasse, frische Weidenzweige verkohlten und den dichten Rauch erzeugten. Nur der Dajak Araro stand in der Nähe und schnürte gerade einen braunen Segeltuchsack zu, in dem anscheinend ein Kürbis lag.
Er wandte mir sein Gesicht zu und lächelte unmerklich. Seine Züge zeigten ausgesprochen europäischen Schnitt. Er war ein hübscher Bursche, und seine dunklen Augen verrieten Intelligenz und ein geringes Maß Verschlagenheit und Hochmut. – Es ist eigentümlich, daß man bei so zahlreichen Naturvölkern diesen stolzen, hochmütigen, leicht verächtlichen Ausdruck findet. Erst die Berührung mit der Kultur und ihren zweifelhaften Segnungen macht die Kinder der Wildnis zu Sklaven neuer Lüste und nimmt ihnen die selbstverständliche Kraft des natürlichen Selbstbewußtseins.
Araro sagte in seinem verdorbenen Küstendialekt: „Chi Api und die anderen wollen eine Quelle suchen, Tuwan Fremder.“ Er deutete nach Süden … „Wir brauchen Trinkwasser für die Reise … In acht Tagen können wir mit der Dschunke in den Kapuas einlaufen …“ Er ließ den Sack am Boden liegen und löschte das Feuer durch Sand. Ich blickte auf den Sack, und mir schwebte eine Frage auf den Lippen, – ich schwieg und meinte nur: „Milo hat mein Pferd gestohlen … Er ist entflohen.“
Araro erklärte gleichgültig: „Tuwan Milo vielleicht reitet nach Padalara … Er ist ja ein großer Zauberer, er hat seine Stimme aus dem Boot in die Büsche geschickt, und sein Schrei war ihm Hilfe zur Flucht.“
Diese Deutung hatte manches für sich. Weshalb sollte Milo nicht Bauchredner sein?! Weshalb sollte er diese Kunst nicht irgendwo erlernt haben?! – Als ich Knabe war, entzückte mich ein Zauberer, der gleichzeitig mit Puppen allerlei Bauchrednerscherze zum besten gab. Dieser Mann, damals schon bei Jahren, hat es durch Sparsamkeit zu einem eigenen Hause in meiner Vaterstadt Malmö gebracht und betreibt vielleicht noch heute die Matrosenschenke, die ihres guten Essens wegen auch von reicheren Leuten besucht wurde.
Als ich Knabe war …! – Es klingt so wehmütig …
Man wächst heran, und letzten Endes hat das Leben uns doch um all die großen Hoffnungen betrogen.
Araro schulterte den verfänglichen Sack. „Tuwan Fremder, ich werde die Lagergeräte an Bord schaffen. Ist Miß Antje schon auf der Dschunke?“
Ich nickte. Meine Aufmerksamkeit galt den taktmäßigen Geräuschen, die plötzlich durch die im Morgenwinde wehenden Büsche an mein Ohr drangen.
Araro warf den Kopf etwas zurück.
„Tuwan Milo ist ein Narr,“ sagte der Dajak geringschätzig. „Laufen wir, – die Sandbank versperrt ihm den Weg …!“
Er hatte die Situation schneller und richtiger erfaßt als ich. Milos Flucht zu Pferde hatte uns abermals nur täuschen sollen. Er war zu Fuß zurückgekehrt, und die Dschunke war unterwegs zum offenen Meere.
Wir liefen. Araro hatte genau dieselbe Art wie Coy, einen weitausholenden Trab längere Zeit durchzuhalten. Als wir rechter Hand den Fluß überblicken konnten, stand Milo am Steuer der Dschunke und schenkte uns nicht die geringste Beachtung. Araro schlug die Richtung landeinwärts ein. Der Bogen, den der Fluß hier machte, mußte uns, die wir den Weg abkürzten, vor dem Schiffe an die Sandbank bringen.
Ich blieb stets drei Schritt hinter Araro. Es war ein Vergnügen, diesen muskulösen Dajak förmlich dahinschießen zu sehen, mit spielender Leichtigkeit, als gäbe es keine Sonne mit bereits sengenden Strahlen und kein Dickicht und keine Felsmassen als Hindernisse.
Mit der allen Naturkindern eigenen Sicherheit fand er sich hier in fremdem Gelände zurecht. Nach etwa zehn Minuten gelangten wir auf dürren Sandboden, und als wir das dünne Ufergestrüpp hinter uns hatten, sah ich, wie genau der Dajak auf die einzige Stelle zugehalten hatte, wo wir die Dschunke abfangen konnten: Eine Barre zog sich schräg über den Strom und ließ nur am Ostufer eine schmale Rinne frei. – Die Barre, durch Treibholz in einen stachligen Wall verwandelt, beherbergte bereits an ihrem äußersten Ende vier flinke Gäste: Chi Apis kahler Schädel blinkte hinter einem angeschwemmten Busche, und neben ihm lagen die drei Malaien und zogen soeben einen Buchenstamm, der bisher in der Stromrichtung gelegen, mit Hilfe von Weidentauen über die Rinne als lästiges Hindernis.
Chi sagte nur, als ich neben ihm niederkauerte:
„Der Mann Milo, fürchte ich, wird hier zurückbleiben und John Braxon Gesellschaft leisten.“
Chi irrte sich heute zum dritten Male. Er hatte seinen schlechten Tag.
Als zehn Minuten verstrichen waren, meinte ich zweifelnd: „Ob die Dschunke überhaupt noch erscheint?!“
Chi zupfte an seinen spärlichen Barthaaren.
„Mr. Fremder, ich wage nicht, dir zu widersprechen. Die Dschunke müßte längst hier sein, wenn auch das Fahrwasser durch kleine Sandbänke gesperrt ist. Es gibt nur eine Möglichkeit: Der Kapuas ist aufgelaufen, und wir werden Milo durch Kugeln überreden, das Schiff zu verlassen.“
„Und Antje?!“ warf ich ein. „Kugeln sind wenig angebracht, wenn der Mann Milo die Blume von Padalara in seiner Gewalt hat. – Sind Waffen und Munition an Bord?“ – Die Frage war eigentlich überflüssig.
„Übergenug,“ erklärte Chi mit langem Gesicht.
„So hattet ihr also von vornherein mit Kämpfen gerechnet, Chi Api. – Wandern wir am Ufer entlang. Ich werde sehen, was sich tun läßt. Ich möchte aber nochmals betonen, daß eure Taktik, Chi Api, mich im ungewissen über die Hauptpunkte eures Vorhabens zu lassen, sehr falsch ist. Entweder ihr vertraut mir alles an oder …“
Araro rief von seinem Auslug her, – er hatte einen belaubten Ast der die Fahrrinne sperrenden Buche erklettert:
„Die Dschunke!!“
Sie kam, sie schlich, der Motor arbeitete nur schwach, und am Steuer stand nicht der Mann Milo, sondern Antje van Vanderoos mit einem gelbbraunen kecken Südwester auf dem Kopf.
Chi lächelte freudig. „Die Blume von Padalara kann auch zur Stachelfrucht des Londa-Baumes werden … Du kennst sie noch nicht, Mr. Fremder.“
Es schien so. Sollte sie wirklich mit Milo irgendwie fertig geworden sein?!
Gurgelnd und murmelnd drängte der Viktoria sein lehmiges Wasser gegen den Baumstamm. Antjes echt seemännisches „Ahoi!!“ schallte uns verheißungsvoll entgegen. Rasch wurde die Buche wieder beseitigt, und der Kapuas näherte sich der Barre. Wir wateten bis zur äußersten Spitze, gleich darauf waren wir an Bord.
Das Mädchen nickte uns nur flüchtig zu. Die Dschunke erforderte all ihre Aufmerksamkeit.
Wie Antje dort am Steuer lehnte, die Hände an den Radspeichen, das linke Knie gegen das Rad gestemmt, – jeder Muskel gespannt, in allem schärfste Achtsamkeit, die Augen halb zugekniffen, um den zusammengepreßten Mund die Falten stählerner Energie: Wie hatte ich sie nur so vollkommen falsch beurteilen können?!
Das Schiff glitt durch die schmale Rinne sicher in offenes Wasser. Dann erst übergab Antje einem der Malaien das Steuer und sagte zu Chi und mir:
„Er liegt unten im Kielraum … Er ahnte nicht, daß ich an Bord gegangen war. Als er kaum ein paar hundert Meter zurückgelegt hatte, zwang ich ihn mit der Pistole in der Hand sich zu ergeben. Am besten ist wohl, wir bringen ihn sofort an Land. Was der Mensch allein mit der Dschunke wollte, ist mir unbegreiflich.
Chi blinzelte in die klare Luft empor und verfolgte den Flug eines Vogels – es konnte ein Schopfadler sein –, sagte etwas geistesabwesend, die kantige Stirn in Falten legend: „Blüte von Padalara, vieles ist unbegreiflich. Der Mann Milo muß ein Schwächling sein.“
Antje spielte mit einem Tauende und schaute mir mit sonderbarem Blick in die Augen. „Ich habe mich selbst gewundert, daß er nicht wenigstens den Versuch machte mich zu entwaffnen,“ meinte sie merklich unsicher.
„Soll der Mann unten im Kielraum bleiben?“ – und Chi Api der Tote, deutete schon durch den Ton an, daß er dies nicht wünschte. „Wenn ich auch zurzeit Urlaub habe, Miß Antje,“ fügte er immer noch respektvoll hinzu, „so bin ich doch schließlich Beamter der niederländischen Kolonialregierung, und dieses Schiff segelt unter derselben Flagge … Ich dürfte keine unnötigen Grausamkeiten dulden.“
Antje Vanderoos schüttelte leicht den Kopf. „Er wird doch die Dschunke sofort wieder verlassen, Chi. Mögen Tulan und Boba ihn heraufbringen. Ich habe ihn gefesselt, und …“
„Er bleibt besser an Bord,“ entschied der Chinese, dessen Verhalten mir jetzt reichlich widerspruchsvoll erschien. „Der Mann Milo ist für mich ebenfalls ein Glied in der Kette, die ich nun seit fast zwei Jahren zu schmieden suche. Es ist eine schwere Arbeit, Mr. Fremder. Zwei Menschen verschwinden, Vater und Tochter, und der reißende Urwaldstrom, angeschwollen durch Gewitterregen, gibt nur den leeren Nachen wieder her … Sechs Dajakruderer und zwei Weiße haben den Tod gefunden, so denkt man, so denke ich, so berichte ich an die Vorgesetzten in Sintang. Man wartet einen Monat, der Fluß gibt keine Leichen heraus, die Krokodile verschmähen nichts – denkt man … Und so werden Jan van Vanderoos und Anja amtlich für tot erklärt, und Antje kommt über die Meere von Westen her aus der Hauptstadt der Niederlande und weiß nichts von dem Plantagenbetrieb … – So begann die Arbeit, Mr. Fremder, denn in meiner Seele, die an Jan und Anja hing mit der Treue des Gibbons für sein Weibchen, – meine Seele zweifelte stets an diesem Unfall der acht Insassen des großen Nachens. Meine Zweifel waren wie die weißen Ameisen, die sich nicht vertreiben lassen und die das festeste Holz zermürben. Ich teilte der neuen Herrin von Padalara meine innersten Gedanken mit, und wir stellten insgeheim Nachforschungen an …“
Antje nickte. „Ja – und wir erfuhren mancherlei, Mr. Olaf …“
Chi deutete mit der Rechten gen Himmel. „Es wird der Tag kommen, Mr. Fremder, an dem all das, was im Dunkeln geschah und noch halb im Dunkel liegt, klar sein wird, wie diese sonndurchflutete Bläue über uns. Konfuzius, der große Weise, sagt mit Recht, daß man sechs Ochsen vor einen Karren spannen soll, wenn der Weg sandig ist. Nur die zähe Ausdauer dieser bedächtigen Tiere führt zum Ziel. Mein Ziel liegt noch fern, aber ich bin Chi Api, und die Regierung der klugen Königin dort in Amsterdam hat mich nicht umsonst als einzigen Beamten in die Wildnis von Padalara geschickt, damit die Dajak den blutigen Brauch der Kopfjägerei aufgeben und der Regierung Steuern zahlen und das Gute lernen, das für ihr Leben paßt. – Ich werde den Mann Milo fragen, weshalb er heimlich in Padalara vor anderthalb Jahren weilte und weshalb er … – doch wir reihen Worte an Worte, und nur Taten können helfen. Mr. Fremder, begleite mich in den Kielraum hinab.“
Antje meinte nur, – und sie gähnte verstohlen:
„Handele, wie du es für gut befindest, Chi. Ich habe keinen treueren Freund als dich … Ich werde mich niederlegen.“
Sie schritt der Tür des Achteraufbaus zu, und diese Tür fiel hinter ihr mit metallischem Knacken ins Schloß. Der Rollvorhang des kleinen, linken Fensters rasselte herab, und Chi sagte: „Es sind zwei Kabinen dort und eine kleine Mittelkammer, Mr. Fremder. Die Blume bewohnt die linke, wir beide werden uns in die andere teilen. Araro, der Dajak, schläft in der Kammer hinter einem Vorhang. Er ist Steuermann, ich bin der Kapitän, ich habe das Patent für große Fahrt.“
Auch das Letzte erklärte er mit der ihm eigenen Bescheidenheit, obwohl es doch sehr merkwürdig war, daß ein einfacher Stationspolizist, nebenbei Kaufmann und Affenjäger freilich, die Ausbildung als Schiffsführer genossen hatte. Allerdings werden an den Kapitän einer Dschunke in Ostasien nicht so hohe Anforderungen gestellt wie in Europa, und manch ein uralter Frachtdampfer läuft durch die Sundasee oder durch das Gelbe Meer unter dem Befehl eines Farbigen, der nicht einmal seinen Namen schreiben kann.
Chi kletterte die Treppe der hochgestützten Mittelluke hinab und zündete im Laderaum eine Laterne an. Der Gestank schlechten Petroleums mischte sich in die angenehmen Düfte des Sandelholzes, aus dem die Zwischenwände hier bestanden, und erst im Kielraum, der mit seinem Sandsackballast und brackigem Wasser einen Pestodem ausströmte, wurde mir Chis Eintreten für Milo verständlich: In dieser Luft konnte es kein Mensch länger als ein paar Stunden aushalten!
Der Mann Milo hockte gefesselt auf einem Sandsack. Er hob kaum den Kopf, als Chi sich zu ihm hinabbeugte. „Wir werden dich nach oben bringen, Mr. Milo,“ meinte Chi mit ausgesuchtester Höflichkeit. „Gestatte, daß ich deine Fesseln entferne … Dir wird geschehen, wie du es insgeheim wünschtest. Du wirst uns begleiten, und es hätte deines durchsichtigen Spieles nicht bedurft, uns deine Gegenwart aufzuzwingen.“
Die grauen Augen unseres Gefangenen verrieten nichts von seinen Gedanken. „Ich danke dir, Chi,“ sagte er nur, erhob sich, reckte sich und lächelte unbestimmt. „Es riecht hier nicht gerade gut,“ fügte er hinzu. „Doch ich kenne noch ärgere Düfte, – du wohl auch, Chi … Manche tropische Blume strömt Aasgeruch aus, manche Blüte leuchtet in köstlichen Farben und lockt doch nur die Aasfliegen an und erstickt sie in ihrem klebrigen Saft.“
Wir kletterten an Deck. Milo schritt ohne weiteres auf den Achteraufbau zu. „Du wohnst dort, Chi. In deiner Kabine wollen wir uns aussprechen.“ Es war wieder seine abgeklärte, selbstverständliche Art und sein müder Ton, der dennoch den bewußten Beiklang hatte. Er bestimmte abermals, – und Chi dienerte ergeben und riß vor ihm die Türen auf und ließ ihn eintreten. – Ich war überrascht, daß die Kabine nicht nur wohnlich, sondern mit gewissem Luxus eingerichtet war. Alles sah neu und wenig benutzt aus, alles roch noch gleichsam nach Möbeltischlerei. Wir nahmen um den Sofatisch Platz. Gerade unter uns dröhnte und ratterte der Vierzylindermotor des Kapuas. Wir hörten den Malaien Boba, der die Maschinenanlage bediente, laut singen und zuweilen den monotonen Gesang durch einen hellen Ausruf unterbrechen. Der Maschinenraum hatte einen besonderen Zugang zum Heck. Boba tauschte während seiner musikalischen Versuche mit Araro, dem Dajak, allerlei Bemerkungen aus.
Mr. Milo in seinem mehr als schäbigen Habit verlangte eine Zigarre. Chi hatte die Kiste bereits dem lackierten Zinkschrank mit Gummileisten entnommen. Zink ist in den Tropen nötig, wenn Zigarren nicht zu feuchten, mit weißen Schimmelpilzen bedeckten Nudeln werden sollen. – Auch ich langte zu. Chi verzichtete. Er benutzte eine langstielige reich geschnitzte Malaienpfeife mit winzigem gebrannten Tonkopf, und der Tabak roch verdächtig nach Opium.
„Chi erzähle,“ sagte Milo und rekelte sich bequem in der Rohrsofaecke. „Was hattet ihr mit Braxon zu tun?“
Er faßte mit der Linken unter die Jacke und holte aus der Achselhöhle eine kleine, neue Repetierpistole hervor. Er schob mit dem Daumen die Sicherung zurück und meinte mahnend: „Ihr habt gute Waffen an Bord, Chi Api. Ich hoffe, ich werde nicht zu drohen brauchen.“
Chi lächelte sanft. Die Sonne schien durch das kleine Fenster ihm gerade ins Gesicht.
„Mr. Milo, eine Pistole bedeutet hier gar nichts,“ erklärte er mit leichter Ironie. „Die Patronen dort in dem Kasten, den du geöffnet hast, enthalten nur Sand statt Blättchenpulver, und diese weise Vorsicht hat, wie du siehst, ihr Gutes gehabt.“
Milo zog enttäuscht die Augenbrauen hoch und drückte, die Mündung nach oben haltend, ab. Es gab einen schwachen Knall, – das Zündhütchen erzeugte ihn, und Milo warf die Waffe auf den Tisch. „Chi, du bist ein gerissener Bursche, das muß ich dir lassen!“
„Die guten Patronen liegen im Laderaum in einer Kiste mit Konserven,“ sagte Chi gleichmütig. „Um die Dinge nun völlig zu klären,“ setzte er bedächtiger hinzu, „muß ich noch folgendes erwähnen. Der weise Konfuzius hat an einer Stelle …“
„… Konfuzius mag ausgeschaltet bleiben,“ – und Milo sog an seiner Zigarre und schüttelte ungeduldig den Kopf.
Chi Api verbeugte sich. „Wie du es wünschest. – Jan van Vanderoos und Anja wollten mit dem Sampan nach Sintang zum Besuch des Assistentresidenten Kooster. Am Tage vorher war auf der Plantage ein fremder Händler eingetroffen, der sich John Braxon nannte und der größere Mengen Reis aufkaufen wollte. Jan Vanderoos verhandelte mit ihm längere Zeit hinter verschlossenen Türen, dann befahl er seinen Dienern, Braxon und dessen Begleiter davonzujagen. Die Plantage liegt an einer Bucht des größten Nebenflusses des Kapuasstromes, des Ketungau, und die drei Fremden waren mit einem Dampfer gekommen, den sie in Sintang von dem alten Halunken Scho Pani, einem Mischling, gechartert hatten. Sie fuhren davon, und am anderen Morgen traten Jan und Anja die Reise im Sampan an, da das Motorboot Jans unbrauchbar geworden war. Später stellte ich fest, daß der Motor durch Menschenhand verdorben worden war. Von dieser Fahrt kehrten Vater und Tochter nicht zurück. Am zweiten Tage nach ihrer Abreise ging ein schweres Gewitter nieder, und der Kapuas stieg in kurzem um drei Meter und riß ganze Waldstücke mit sich. Seit Jahrzehnten hat es bei uns kein solches Unwetter gegeben. – Meine Zweifel, ob Jan und Anja wirklich im Flusse umgekommen seien, wurden noch durch gewisse andere Ergebnisse meiner Nachforschungen verstärkt. Jedenfalls habe ich dann, als Antje, die Erbin, in Padalara anlangte, ihr sofort erklärt, es bestände sehr wohl die Möglichkeit, die beiden Verschollenen könnten noch am Leben sein. Ich erfuhr, daß Braxon mit dem gecharterten Dampfer geflohen war und Scho Pani, den Betrüger, gründlich betrogen hatte. Scho war sein Schiff los, und Scho schwor dem Manne mit dem weißen Schopf, denn Braxon hatte im Haupthaar eine schneeweiße, auffallende Strähne, blutige Rache.“
Milo zeigte bedenkliche Ungeduld. Er winkte Chi energisch zu. „Fasse dich kürzer … All das weiß ich bereits. – Antje erhielt dann einen Brief.“
„Ja, vor acht Wochen, Mr. Milo. Inzwischen hatte Antje bei Bolk in Pontianak die Dschunke bestellt. Als sie fertig war, verließen wir Padalara und …“
„Was stand in dem Brief?“
„Daß Antje genau am gestrigen Tage hier im Viktoria-Fluß sich einfinden und ein Lösegeld von fünfzigtausend Gulden für ihren Onkel Jan und ihre Cousine Anja mitbringen solle. Falls Antje jedoch die Behörden verständigen würde, hätte die Reise keinen Zweck und …“
„Weiter … – ihr fuhrt hierher, ihr kamt hier an …“ Milo sprach fast überstürzt. „Ihr traft mit Braxon zusammen … Ihr müßt mit ihm, bevor wir euch überfielen, insgeheim eine Unterredung gehabt haben, denn er entfernte sich bei Anbruch der Dunkelheit für zwei Stunden von unserem Lagerplatz …“
Chi zupfte an seinem dünnen Schnurrbart. „Es war so, Mr. Milo … Er war hier an Bord und verlangte von Antje das Geld. Ich selbst wohnte dieser Unterredung nicht bei … Antje forderte zuerst die Auslieferung ihrer Verwandten, und Braxon zog unverrichteter Sache ab und erklärte, er würde morgens seine Gefangenen bringen. Dann wurden wir von euch einzeln überfallen, und …“
„… Braxon ließ dich aufknüpfen, weil du das Versteck der fünfzigtausend Gulden nicht angabst,“ ergänzte Milo, sichtlich enttäuscht über das Gehörte. „Du starbst in der Schlinge, Chi, – und du lebst ohne Schlinge, und Braxon hat Antje höhnend erklärt, Jan und Anja seien tot …“
„So ist es,“ bestätigte Chi seufzend.
Milo lächelte trübe. „Und – du glaubst nun wirklich, daß die beiden doch im Kapuas ertrunken sind und Braxon, nur den Umständen sich anpassend, euch um das Lösegeld betrügen wollte?!“
Chi hob den Kopf und horchte nach oben …
Wir vernahmen Araros Stimme, die mit ihrem reinen Klang unverkennbar war.
„Es ist nichts,“ meinte Chi. „Sie unterhalten sich nur … – Mr. Milo, wenn ich ehrlich sein darf: Ich glaube nicht an den Tod der beiden, auch jetzt nicht, und ich werde daheim in Padalara eine andere Fährte aufnehmen, über die ich jetzt nicht sprechen werde. – Wer bist du, Mr. Milo? Gestatte, daß ich es wissen möchte. Ich habe alles erzählt, und …“
Milo rief halblaut: „Du hast nicht die Hälfte erzählt, Chi Api. Aber du bist Beamter, und ich will hier mit dir in Frieden auskommen.“ –
Damit endete diese Aussprache, die mir nur die eine Gewißheit gab, daß hier Dinge vorlagen, die immer noch dunkel waren wie Milos seltsame Persönlichkeit.
… Es ist nach Mitternacht, und in unserer Bambushütte surren die Insekten, und in meinem Hirn sind die Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit lebendiger denn je. – Ich habe diese ersten Seiten meiner Erlebnisse mit Anja soeben nochmals überlesen, und ich finde, ich hätte vielleicht Chis und Milos Charaktere noch schärfer herausarbeiten sollen.
Chi ist abwesend. Wir haben den Baum, auf dem der Orang eingekreist ist, durch eine Falle sachgemäß vorbereitet. Chi muß dieses Riesenexemplar unbedingt haben, erklärt er immer wieder. Und nun hockt er dort in der Urwaldlichtung neben der Falle und hält die Schnur der Klappe in der Hand und läßt sich von den Riesenmücken zerstechen. Chi ist hartnäckiger als ein amerikanischer Polizist. –
Zurück zur Dschunkenfahrt gen Norden. Es war eine eintönige Reise mit Gefährten, die ihre Zunge hüteten und mit denen ich fremd blieb wie mit Menschen, denen man nicht traut. Selbst Antje kam mir geistig nicht näher, und nur einer auf dem schnellen Segler schloß sich enger an mich an: Chi Api, der Tote. Trotzdem verhielt auch er sich reserviert.
Neun Tage dauerte diese Fahrt des Unbehagens, neun Tage war ich im Grunde auf mich allein angewiesen und studierte meine Gefährten wie Rätselwesen. – Da war Milo … Wer war Milo?! Er redete mit mir über alles Mögliche, nie über das Nächstliegende. – Da war Antje. Sie war still und bedrückt, aber ihre Stimmung wechselte häufig, und …
Wozu schreibe ich dies?! Wozu schreibe ich überhaupt?! – Der Urwald ringsum ist ein wundersamer, leuchtender Zauberhain … Keine Phantasie vermag sich diese Millionen von Leuchtkäfern vorzustellen, die in Schwärmen wie glänzende, glühende Wolken dahinziehen. Keine Feder wird je die Wunder der Wälder von Borneo restlos dem Unkundigen bildhaft vor Augen führen. Ich schreibe für mich. Und wenn einmal irgendwo, irgendwann diese Blätter mit den verlaufenen Schriftzügen die Setzmaschine in Bewegung halten, dann wird vielleicht der Zeitvertreib einsamer Stunden dem fernen, unbekannten Leser ein Zauberland näherbringen, das mir ein Zufall erschlossen hat: Borneo und die Dajakländer!
Die Deltamündungen des Kapuas sind bei Ebbe durch Sandbarren gesperrt. Wir lagen mit der Dschunke volle achtzehn Stunden im Schlick. Dann – zwei Tage bis Pontianak, fünf weitere bis Sintang, zwei bis zur Einmündung des Ketungau.
Flüsse in Borneo …
Ich hatte viele Flüsse befahren. Ich hatte noch nie Ströme wie diese gesehen, deren Ufer nur Urwald und Dickicht waren, nur grüne, hohe Mauern, und nur Einsamkeit …
Bis Sintang trafen wir wohl dann und wann ein paar Kähne und ein paar Dampferchen und Benzinstänker.
Dann und wann …
Im Ketungau begann das ganz große, heilige Schweigen dieser ungeheuren Wälder, die mit nichts vergleichbar sind, auch nicht mit den Waldgebieten am Amazonas.
Noch zwei Tage …
Die Dschunke glitt an Inseln vorüber, deren Sandbänke von Krokodilen belegt waren. Auf angetriebenen Bäumen standen silbergraue Reiher, saßen grüne, rote, violette Tauben wie bunte Perlenschnüre. Eisvögel, die wie Diamanten in der Sonne glitzern, schießen dicht über dem Wasser hin, tauchen die Schnäbel ein, fangen handgroße Libellen … Affenherden schwingen sich durch das Geäst des zweiten Stockwerks dieser grünen Riesendome: Über den Urwald hinaus ragt der zweite Wald der gigantischen Stämme mit ungeheuren Kronen …
Namen?! Namen der Bäume?!
Chi nannte mir einige. Chi weiß alles. Chi ist hier daheim. Und der Dajak Araro nennt mir andere, denn diese Waldmassen sind seine Geburtsstätte.
Antje liegt im Bordstuhl unter dem Sonnensegel und raucht Zigaretten und redet mit dem buckligen, alten Schuft Scho Pani, den wir in Sintang an Bord genommen haben. Scho stolziert in blendendem Weiß umher, trägt Tropenhelm und Hornbrille und hat ein Gesicht wie ein uralter Orang-Utan.
„Noch eine Biegung, Mr. Olaf, dann sehen wir die Plantage,“ sagt Chi zur mir und äugt hinüber nach Scho und Antje. „Was sie wohl sprechen mögen, Mr. Olaf?“
Es ist zehn Uhr vormittags, und die feuchte Hitze lähmt mich, lähmt Hirn und Muskeln. Der Körper kann nicht ausdunsten, die Haut ist klebrig, schlaff, – und ich frage Chi mit fauler Stimme:
„Gewöhnt ein Europäer sich wirklich jemals an dieses mörderische Klima?“
Chi Api sagt mit forschendem Blinzeln: „Mr. Olaf, wer vernünftig lebt, erträgt das Klima schon. Aber die Weißen, die nach dem großen Kriege scharenweise hierherkamen und neue Verdienstmöglichkeiten suchten, glaubten in ihrer Verblendung, Borneo sei nur eine etwas umfangreichere Südseeinsel und man könnte hier dem fruchtbaren Boden mühelos gute Ernten abgewinnen und nur zusehen, wie der Reis und all die anderen Früchte gedeihen, und in der Hauptsache der Liebe und dem Alkohol huldigen. Mr. Olaf, diese Insel ist ein Land für harte Männer. Diese Insel beschenkt jeden im Übermaß, der arbeiten will. Schau dorthin, – es ist nicht die erste tote Plantage, die ich dir während unserer Flußfahrt zeigte. Der Urwald überwuchert in einem einzigen Jahre jede mühselig gewonnene Lichtung und verbirgt Häuser und Baracken und Anlegestege und Brücken mit seinen grünen Teppichen. Dort, Mr. Olaf, wohnte ein Deutscher, den man aus der Südsee vertrieben hatte. Land ist hier billig, und die Dajak sind willige Arbeiter. Aber der Mann siechte dahin, das Fieber zerfraß ihn, – und so starben wie er viele, viele hier an den Ufern des Ketungau und seiner Nebenflüsse.“
Ich lehnte mit beiden Unterarmen auf der Reling, und meine müden Augen gewahrten in den Girlanden der bunt blühenden Lianen, die bis auf den Wasserspiegel hinabhingen, nur noch ein paar helle Pfähle mit einem morschen Brett als Geländer.
Welch erschütternder Kontrast war dies gegenüber der grausamen Unfruchtbarkeit der australischen Einöden! Dort nichts als Sand, elende Gräser, seltsame Bäume mit fahlem Grün wie in dauerndem Absterben begriffen! Hier hatte Mutter Natur ihres Füllhorns ungleiche Gaben allzu verschwenderisch ausgestreut, hier war man froh, wenn das Auge irgendwo einmal eine Sandbank entdeckte, auf der nichts wuchs!
Milo schlenderte herbei. Ihm machte diese laue Hitze nichts aus. Er konnte den quälenden Durst stets durch Energie unterdrücken, er war vielleicht zu mager, um der stechenden Sonne eine größere Angriffsfläche zu bieten, er schaute melancholisch an mir vorüber und meinte zu Chi:
„Du bist nun hier in meinem Machtbezirk, Chi Api … In Pontianak und Sintang hast du die Behörden meinetwegen nicht bemüht. Was soll werden?“
Chi verneigte sich ehrerbietig. „Mr. Milo, Padalara ist eine Welt für sich, Padalara hat nur ein Oberhaupt, abgesehen von dem Ältesten des Dajakdorfes, der ebenfalls mir zu gehorchen hat. Ich habe dir wiederholt erklärt, daß ich genau weiß, daß John Braxon dich niedergeknallt hätte, wenn du am Ufer des Viktoria für mich eingetreten wärest. Du hast getan, was du konntest, und meine Dankbarkeit ist ebenso ehrlich wie meine Rede jetzt: Du bist frei, Mr. Milo. – Ich sage dies, weil ich dich nun kenne. Ein Schiff zwingt zu enger Gemeinschaft, und meine Blicke sind besser als meine Ohren. Worte sind leerer Schall zumeist, aber das Gesicht eines Menschen kann ein klarer Spiegel sein. Was ich in diesem Spiegel sah, das war gut und ohne Falsch. Bleibe bei uns in Padalara und hilf uns, Jan und Anja van Vanderoos zu suchen, denn sie leben, ich schwöre es dir, und John Braxon hält sie irgendwo gefangen. Sprich mit niemandem über diese meine vertrauliche Offenheit, denn Padalara und die Vanderoos-Plantage sind voller trügerischer Ohren und Zungen, und John Braxon hat hier mehr Freunde, als wir es ahnen.“
Er zupfte mit seinen dünnen, langen Fingern an seinem kläglichen Schnurrbart und blickte scharf auf den alten Mischling Scho Pani, der mit Antje noch immer am Heck allerlei zu flüstern hatte.
Milos graue Augen leuchteten einen Moment stärker auf.
„Es ist gut,“ sagte er trotzdem nur und warf seinen Zigarettenrest über Bord. „Ich bleibe … Natürlich bleibe ich, denn ich kenne nur ein Ziel im Leben: Anja zu finden, falls sie wirklich noch zu[7] finden ist … zu finden sein sollte. – Und Sie, Olaf?“
Er legte mir die Hand auf die Schulter. Seine Augen suchten die meinen. „Und Sie, Olaf?!“ wiederholte er eindringlicher. „Wollen Sie nur Zuschauer spielen, Sie … ein Mensch, der doch mehr erlebte als selbst Chi Api …!“ – Er zog eine Zeitung aus der Tasche. Es war die in Batavia erscheinende niederländische Kolonialzeitung, offizielles Regierungsorgan – leider.
„Hier, Olaf, – auch Chi hat dieses Blatt in der Tasche … Hier steht etwas über einen gewissen Abelsen, der in Australien in einer Bucht des Carpentaria[8]-Golfes seine schwimmende Insel versinken sah … Hier steht etwas von dem Kreuz der Wüste und daneben ein Bild eines Steckbriefs. – Olaf, wir können Sie gut brauchen, – wollen Sie Jan und Anja suchen helfen?“ Seine Hand glitt an meinem Arm hinab und umspannte meine Hand. „Olaf, ich habe Anja geliebt, – sie hat es gewußt, ich habe es ihr nie gestanden, denn sie war das einzige Kind Jans van Vanderoos, des Millionärs, und ich fuhr auf demselben Dampfer als Steward … Ich war nie ein Mitgiftjäger, nie ein Mensch, der … – soll ich vor Ihnen beteuern, daß Anja meinem verpfuschten Dasein eine neue Wendung gegeben hat?! Schauen Sie mich an: So, wie ich hier vor Ihnen stehe, sieht mir es niemand mehr an, daß über meiner Kindheit ein Stab von Hütern wachte … Sie, Olaf, lernten mich so kennen, wie ich dem Teufel einst in die Krallen geriet. Sie beobachteten mich und Braxon und dessen Spießgesellen beim Würfelspiel … Der Lederbecher und die knöchernen Würfel mit den tückischen schwarzen Punkten sind das Roulette der Banditen. Ich war nie Bandit … Aber ich habe die hüpfende weiße Kugel angebetet und habe … – genug davon! Es war einmal! Nur eins blieb mir: Der Satan im Hirn, der Spielteufel! Und – – meine Liebe zu Anja … – Glauben Sie mir, Olaf: Das Geschick wirft Menschenwege nicht wahllos übereinander und schafft nicht zwecklos Wegekreuzungen, an denen wir Leute abseits der Heerstraße uns begegnen und uns anblicken und wie die Vagabunden dann vereint weitertippeln. Es liegt Sinn in dem Walten des Schicksals. Wohl dem, der diesen Sinn begreift und gläubig wird. – Sie müssen ein ganzer Kerl sein, Olaf …! Also – auf treue Kameradschaft, – – ja oder nein?!“
Eine Entscheidung treffen?! – Alles sollte man sich erst vierundzwanzig Stunden überlegen, alles … „Schnell von Entschluß,“ – das ist nur eine jener leeren Redensarten, mit denen man vielleicht Leute, die nie an selbständiges Denken gewöhnt waren, einzufangen vermag. „Impulsiv handeln“, – nicht genug kann man davor warnen. Nur die kühlen Rechner erobern die Welt. Ich werde hier noch von einem weißen Radscha[9] zu reden haben, von einem Nachfolger eines kühnen Abenteurers. Dieser Mann war bedächtiger als der gewiegteste Diplomat, und sein Nachkomme regiert heute als Fürst ein Reich so groß wie halb Deutschland.
„Milo,“ erwiderte ich ehrlich, „wenn Sie einen Teil meiner Vergangenheit kennen, werden Sie begreifen, daß ich einem vielleicht anfechtbaren Prinzip huldige: Ich mische mich ungern in fremde Angelegenheiten! Ich will Ihnen natürlich meine Hilfe nicht versagen, falls Sie diese brauchen sollten. Aber – Sie werden sie kaum nötig haben, denke ich, denn so wie ich Sie einschätze, werden Sie auch allein die Schwierigkeiten überwinden, die …“
Seine Hand hatte sich aus der meinen gelöst. Er war sichtlich enttäuscht. Er war Spieler, er hatte in der Vergangenheit vielleicht Hab und Gut sinnlos und verblendet vom Rausch des Augenblicks vergeudet. Er war impulsiv, er drehte sich jäh um und schritt dem Heck zu, setzte sich dort auf die Reling neben den Malaien Boba, der das Steuer bediente, und kümmerte sich nicht weiter um Chi Api und mich, den er nicht verstehen konnte, weil wir zu grundverschiedene Naturen waren.
Chi sagte nur, und seine Bemerkung bewies mir erneut, wie sehr dieser seltsame, pockennarbige Sohn des Himmels an mir bereits hing: „Mr. Olaf, du tatest recht … Ich schaue in deine Seele hinein, und sie hat keine Geheimnisse vor mir. Du wirst Antjes Gast sein … Halte die Augen offen, es ist besser zu sehen als zu handeln, wenn man in der Dämmerung dahinschreitet. – Dort ist die Plantage …“
… Als ich an der Gallegosbucht lebte und Coy noch bei mir war und Coys beherrschtes Temperament mir, dem schwerblütigen Nordländer, zuweilen Feuer in die Adern goß, hätte ich nie vermutet, daß ich jemals die dürftigen Gefilde, das Meer und die Felseninseln dort im südlichsten Südamerika verlassen würde. Coy starb, und Chubur und Chanaf entschwanden mir auf dem Pazifik für immer. Monatelang hatte der Pazifik mich dann willkürlich umhergeführt – hierher und dorthin – – bis Australien … Wege des Zufalls, Wege abseits vom Alltag.
Eine neue Welt tat sich mir auf, als wir die Schlammbarren des Kapuas glücklich hinter uns hatten. Borneo schenkte mir den grünen, bunten Reichtum seiner Urwälder, und dankbar nahm ich trotz lähmender Schwüle alles hin, was mir diese Rieseninsel darbot. –
Plantage Vanderoos …
Ich kannte Farmen, Plantagen. Ich kannte noch keine wie diese, hineingestellt von kühner Hand in den brodelnden Dunst der borneanischen[10] fernsten Dschungel.
Da war eine seeartige Erweiterung des Ketungau … Und hier hatte Jan van Vanderoos einst den zähen Urwald niedergebrannt, um Raum zu schaffen für Gebäude, Bootsbrücken, Felder, Lagerhäuser und eine kleine Festung.
Niedergebrannt …
Was das bedeutet, begreift nur der, dem ein einziges Mal das Glück vergönnt war, in diesen gründämmerigen Urwäldern dahinzuwandeln. Das sind keine Kiefernforsten, denen es an Feuchtigkeit mangelt und die nach Regen lechzen. Das sind ungeheure Laubgewölbe, deren Boden halbmetertief mit feuchtem Humus bedeckt ist …
Feuer …
Ich habe es mit erlebt, wie die Dajak, Ureinwohner dieser nassen Wildnis, sich abmühten, hier auch nur einen Stamm zunächst in Brand zu stecken. Sie suchen sich dazu stets einen jener abgestorbenen, innen zu Zunder zermürbten Riesenstämme aus, die längst in sich zusammengebrochen wären, wenn nicht die Lianen und andere Schlinggewächse die Krone wie mit Ketten festhielten. Solch ein Riesenrohr, gefüllt mit Baummehl, Ameisen und Insekten aller Art, flammt wie ein Strohwisch empor, wenn er nur erst Feuer gefangen hat. Dieses Riesenrohr von vielleicht drei Meter Stärke entwickelt eine ungeheure Hitze, – die Schlingpflanzen und benachbarten Bäume verdorren in wenigen Stunden, gehen gleichfalls in Flammen auf, – – falls nicht einer der urplötzlich auftretenden Gewitterregen die ganze Arbeit illusorisch macht. Und gelingt das Werk, dann wälzen sich Qualmwolken schwarz oder fahl wie von feuchtem, schwelenden Stroh über das erste Stockwerk des Dschungels hinweg, – Feuerzungen lecken hoch, als ob ein Wolkenkratzer in Brand geraten wäre. – Man läßt brennen, was brennt … Man ist froh, wenn es brennt … Das ist keine Vernichtung, das ist Beginn des Reisanbaus, und Reis ist die Speise der Dajak. Alle drei Jahre werden auf diese Art neue Reisfelder, Ladang genannt, gewonnen, und deshalb auch rechnet der Dajak nicht nach Jahren, sondern nach diesen Feldwechseln: Drei Jahre nur trägt ein Reisfeld volle Frucht, dann muß der Platz eben gewechselt werden. –
Plantage Vanderoos: Ich war sprachlos über die Großartigkeit dieser Anlagen. Freilich, ich fand hier kein Wohnhaus wie auf der Ruxa-Farm in Australien, keinen künstlichen Weiher, keinen Park.
All diese Bauten standen auf fünf Meter hohen Eichenpfählen, genau wie auch die Polynesier, Dajak und Malaien ihre Wohnstätten gegen die Bodenfeuchtigkeit auf dieselbe Weise schützen. Nicht nur gegen die Feuchtigkeit … Auch gegen die Feinde. Gewiß, im Ketungau-Gebiet sind die Ureinwohner längst zahm geworden. Aber nicht so zahm, daß nicht doch einmal der Blutrausch sie befällt und die nächtlichen Wälder von dem gellenden Geschrei der Kopfjäger widerhallen.
Da war unweit des sandigen, hellen Ufers zunächst das Wohnhaus: Ein weiß gestrichener, langer Bungalow mit blanken Fenstern, umlaufenden Veranden, weit überragenden Zinkdächern, – aber in der Luft schwebend auf Eichenpfosten, die jede Woche zum Schutz gegen die weißen Ameisen frisch mit Karbolineum oder Teer gestrichen werden müssen. Weiße Ameisen zerstören hier alles. Nichts ist vor ihnen sicher. Nur das sagenhafte Eisenholz widersteht ihren Beißzangen.
Da waren vier Lagerhäuser von sechzig Meter Länge, da war eine Feldbahn mit puffender Lokomotive, da waren endlose Felder, da waren Flachboote, Motorschlepper, Krähne, – – und wimmelnde, winkende Menschen, alle spärlich bekleidet, Weiber, Männer, Kinder, alles Dajak, wenige Malaien, einige Mischlinge und ein paar Chinesen, letztere natürlich in gehobenen Stellungen, denn gerade auf Borneo trifft man den Chinesen als Kuli kaum an.
Wie beliebt Antje bei ihren Leuten war, bewies schon allein dieser Empfang, der, durch nichts vorbereitet, die ganze harmlose Fröhlichkeit dieses Urwaldvölkchens wiederspiegelte.
Mir als Unbeteiligtem war hierbei in der Hauptsache das eine interessant: Chi Api hielt sich vollkommen zurück und überließ auch die vielfachen, zum Teil recht komischen Ehrungen Antje ganz allein, die nur mich zwanglos neben sich gewinkt hatte und mir dadurch eine Bevorzugung angedeihen ließ, die durch nichts irgendwie begründet war.
Es machte überhaupt auf mich den Eindruck, als ob die bisher so herzlichen Beziehungen zwischen Antje und Chi sich gelockert hätten. Selbst der Abschied der beiden – denn Chi und Milo fuhren noch ein Stück flußaufwärts bis zur Station Padalara, die auf einer Insel im Flusse sich befand – war recht flüchtig und ohne jede Wärme gewesen. Antje hatte Milo zum Beispiel nur kurz zugenickt und geäußert: „Wir sehen uns dann beim Abendessen wieder …“ – eine Einladung, deren Form kaum kälter sein konnte.
Nachdem Antje von den Dajakmädchen mit Blumen geschmückt und unter monotonen Gesängen zum Wohnhause geleitet worden war, empfing uns in der Vorhalle der chinesische Hausmeister, ein unheimlich fetter, kleiner Kerl in lächerlichem Kopfputz. Trotzdem war der Dicke eine treue, harmlose Seele und besaß nur einen Fehler: Er liebte den Schnaps allzu sehr, und seine Äuglein schimmerten stets verdächtig feucht.
Ich war überhaupt von der prächtigen Ausstattung der Räume und dem Komfort, den man hier mit den einfachsten Mitteln geschaffen hatte, überrascht. Meine beiden Zimmer links von der Halle hatten die Fenster nach dem Flusse hinaus und boten daher einen Ausblick von bezaubernder Vielseitigkeit.
Ich hatte kaum ein erquickendes Bad genommen, als einer der drei mir zugeteilten Diener Antje in dringender Angelegenheit anmeldete.
Sie trat ein. Sie hatte ihr Bordkostüm abgelegt und trug einen Reitanzug aus hellem Khaki mit sehr weiten Kniehosen und glanzledernen Schnallgamaschen, in der Linken einen aus Krokodilleder geflochtenen Reitstock mit Wildschweinzahnkrücke und am Gürtel … zwei Pistolenfutterale.
Sie war erregt, sehr erregt, sie beherrschte sich nur mühsam, – irgend etwas mußte seit unserer Ankunft geschehen sein, das sie vollständig aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte.
Sie stand vor mir, – in ihren Augen las ich einen verzweifelten Entschluß. Sie starrte mich in einer Weise an, wie sie es bis dahin nie getan hatte.
„Mr. Olaf …“ – ihre Stimme war schwächer als vorsichtiges Flüstern – „wollen Sie mir helfen?!“
Eigentümlich das: Vor kaum anderthalb Stunden war über Milos Lippen dieselbe Frage gekommen!
„… Sie müssen mir helfen, Mr. Olaf.“ Ihre rechte Hand griff nach der meinen: – „Ich habe hier keinen einzigen Verbündeten, der für mich in Chi Apis Residenz unauffällig einige Ermittlungen anstellen könnte.“
Mein erstaunter Blick verwirrte sie.
„Ermittlungen?!“ meinte ich. „Das klingt ja ganz so, als ob …“
„Mr. Olaf, – zu langen Erörterungen fehlt uns die Zeit … Chi treibt ein Doppelspiel, ebenso dieser Milo … Glauben Sie mir, das ist so … – Haben Sie nicht schon auf der Dschunke bemerkt, daß …“ – sie brach ab … – „Nein, – nur keine Worte! Nehmen Sie das Boot mit dem Außenbordmotor und geben Sie vor, sich Chis Station ansehen zu wollen … Besser noch: Landen Sie an der Westseite der Insel – – aus Versehen … Dort finden Sie nur spärliches Dickicht. Von dort können Sie unbemerkt die Stationsgebäude erreichen und … und vielleicht herausbringen, ob Araros Leinensack …“ – sie stockte und erblaßte – „wirklich einen Kopf enthält …“ Wieder eine halb verlegene Pause … „Nicht nur das, Mr. Olaf: Chi hat auf der Dschunke heimlich ein paar Leute verborgen gehabt … Ich will wissen, wer diese Leute sind.“
Sie holte tief Atem … Sie war sichtlich froh, daß sie dieses Schwerste über die Lippen gebracht hatte.
„Spion …?!“ sagte ich langsam. „Wie schätzen Sie mich ein?! Was gehen mich all diese dunklen Dinge an?! Nichts, Miß Antje! – Entschuldigen Sie also: Auch ich würde doppelzüngig sein, wenn ich Ihrer Bitte willfahren wollte.“
Ihre Miene ward trostlos, mutlos. Aber sie war Weib, und alle Frauen sind Diplomaten.
Sie lächelte gezwungen. „Ja, Sie haben recht. Ich war töricht, auch nur dieses Ansinnen an Sie zu richten … Wahrscheinlich täusche ich mich auch. Meine Nerven sind überreizt … Ich sehe überall Gespenster … – Kommen Sie, frühstücken wir … Es ist auf der Nordveranda bereits gedeckt, und mein Koch ist eine Perle … Unsere Hühner sind …“
Mein mißbilligendes Kopfschütteln verschlug ihr die Rede.
„Miß Antje, – nur nicht eine Komödie aufführen, wo es sich zweifellos um bitterernste Dinge dreht!“
„Leise!!“ warnte sie ängstlich. „Bedenken Sie stets: Wände und Fußboden sind nur dünne Bretter, und …“
Sie hatte sich schnell gebückt und den feinen, bunten Bastteppich aufgehoben. Ich sah in den gefirnisten Dielen einige daumengroße Bohrlöcher.
Ich beugte mich rasch hinab: Und unten an einem der Eichenpfähle erblickte ich Araro, den Dajak mit den so seltsam europäischen Zügen … – als Horcher!!
Antje ließ den Teppich vorsichtig zurückgleiten.
„Da, Mr. Olaf, – das sind meine Getreuen!!“ Es klang unendlich bitter.
Ich war ehrlich empört.
„Warten Sie …“ – und leise schlich ich auf meinen Segeltuchschuhen durch die Halle und sprang dann die breite Treppe hinab.
Man konnte ja unter dem Hause hindurchsehen, und ich … sah nur die dunklen Eichenpfähle und den groben, weißen Kies, der hier den Boden bedeckte.
Araro war verschwunden. Nur ein paar zahme Gibbonaffen und drüben am Hinterausgang der dicke Hausmeister waren die einzigen Lebewesen weit und breit.
Ich kehrte nicht um. Araro hätte in den wenigen Sekunden kaum verschwinden können. Ich ging unter dem Hause entlang und musterte die Dielen. Sie waren von ungleicher Breite … Ich orientierte mich schnell, ich fand die Balken, die zu meinen Zimmern gehören mußten, – ich hatte sehr bald eine Gefolgschaft von einem Dutzend schnatternder Gibbons, die meine fremde Erscheinung mit äußerster Mißbilligung beobachteten …
Und ich entdeckte, was ich finden mußte: Da war ein sehr breites Brett durch geteerte Leisten unternagelt, und als ich nun ohne weiteres einen der Pfähle erkletterte, konnte ich ein Quadrat des Dielenbrettes hochklappen und in einen Raum hineinsteigen, dessen Rolläden und Vorhänge geschlossen waren.
Es war Jan van Vanderoos Arbeitszimmer, das neben meinem „Salon“ lag.
Dämmerlicht hier, Halbdunkel, muffige Luft. Jene Luft unbewohnter Räume, die in den Tropen noch bedrückender wirkt.
Aber kein Araro.
Meine Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel. Ich staunte: Jans großes Herrenzimmer zeigte den Luxus eines europäischen Gemachs irgendeines Reichen von Geschmack und Stilempfinden.
Da waren Gemälde, Bronzen, indische Elfenbeinschnitzereien, – da waren Bücherschränke, ein riesiger Diplomatenschreibtisch …
Kein Araro, – und die Türen verschlossen.
Araro hatte die Schlüssel. Das war wohl die natürlichste Lösung, und Araro war über alle Berge.
Ich durchsuchte trotzdem den großen Raum, natürlich ohne Erfolg.
Dann hörte Antje mich von nebenan und schloß die Verbindungstür auf. Als ich ihr die Falltür zeigte, war sie ganz fassungslos.
„Die gab es früher nicht,“ erklärte sie mit aller Bestimmtheit.
Wir begaben uns sehr nachdenklich zum Frühstück.
Es war meine erste Mahlzeit auf der Vanderoos-Plantage, aber das Vorspiel dazu war kein angenehmes Vorgericht gewesen.
Antje sprach über gleichgültige Dinge. Vier Malaien mit verschmitzten Gesichtern bedienten. Drei Riesenfächer schwangen über unserem Tische und milderten die Hitze und peinigten die Ohren durch das Quietschen ihrer schlecht geölten Antriebräder. Ein elektrischer Motor gab die nötige Kraft her. Die Plantage hatte ihr eigenes Kraftwerk, das die Unbasi-Fälle durch Turbinen ausnutzte.
Ach – es war im Grunde nur ein mondsüchtiges, bleiches Erleben, diese ganze Chi-Api-Geschichte, dachte ich immer wieder, und Antjes Wortstrom rauschte an meinen Ohren unbeachtet vorüber.
Ich tat, als hörte ich zu. Sehnen schlich in mein Herz, – jene Sehnsucht nach großem feierlichem Abenteuer, wie es mir wiederholt beschert war.
Von der Nordveranda überblickte ich die endlosen Reisfelder und sah die stehengebliebenen dunklen Riesenstümpfe der Urwaldgiganten, die als Säulen von einstiger grüner, himmelstürmender Kraft redeten …
Farnkräuter hatten sich oben auf den Stümpfen angesiedelt, und ihre zarten Fiederblätter hingen wie wunderliches Haar herab.
Nein – niemals würde ich mich hier eingewöhnen, fühlte ich mit aller Deutlichkeit. Niemals würde meine Seele hier den freien weiten Schwung der durch nichts gefesselten Gedanken finden: Der gemordete Urwald mit seinen versengten schwarzen Baumleichen störte mich. Ich wollte den Urwald haben – unberührt, in all seiner Buntheit und Wildheit und mit all seiner Pracht und Erhabenheit.
Antje legte mir die Hand auf den Arm.
„Sie träumen ja …“
„Vielleicht …“ Und meine Geste galt den schwarzen Stümpfen. „Die da kommen mir vor wie all die vernichteten, ausgesogenen Existenzen, die ein Millionär beim Anstieg zum Multimillionär hinter sich läßt … Leichen, Antje, – – Leichen, die anklagen und deren Klage doch unberechtigt ist … Ernte spendet der mißhandelte Boden –, überall ist es so … In den Nordländern zerreißen Egge und Pflug die Erde, – hier vernichtet das Feuer und gebiert nachher …“
Ich schwieg minutenlang.
„Antje,“ fügte ich freimütig hinzu, „geben Sie mir ein Boot und alles Nötige: Ich hasse all dies!! Wo ich mit Menschen zusammentraf, bescherten sie mir ihre selbstsüchtigen Geheimnisse – stets! Nur die Wildnis und die Wilden sind meine Nächsten. Antje, mein Entschluß ist unwiderruflich: Noch heute tauche ich ein in die endlosen Flußläufe und Dschungel und Wildnisse! Dies hier, Antje, ist unser Abschiedsmahl. Ich passe nicht mehr hinein in eine Umgebung, die halb Natur, halb Kultur ist.“
Ihre Finger umkrallten meinen Arm, und ihre weiten, entsetzten Augen verrieten mir, was ich nie geahnt, – ihre Tränen verrieten das Letzte …
Ihr Kopf sank auf ihren Arm … –
Der dicke Hausmeister kam und meldete mit unendlichen Verneigungen:
„Herrin, Seine Exzellenz der Herr Assistentresident Wieg[11] aus Sintang wünschen vorgelassen zu werden …“ –
Eine Stunde drauf stieß ein Sampan mit Sonnendach vom Kai der Stationsinsel Padalara ab, und zwei Männer ruderten in die Wildnis hinein …
Chi und ich.
Ich weiß noch genau, daß ich hinter der ersten Flußbiegung einen tollen, gellenden Schrei zum grünen Laubdach der weit überhängenden Zweige emporschickte.
Chi Api, der Tote, und ich hatten uns auf Gedeih und Verderb gefunden. Chi floh vor der Niedertracht und Undankbarkeit der Menschen, und ich … floh vor den Menschen selbst.
Chi, blatternarbig, kahl, mehr Pavian als Mensch, genügte mir. Chi war ein Mann.
Mynher Wieg, dürr, gelb, leberkrank und hochnäsig, hatte das Schreiben des Gouverneurs mitgebracht, das die Verhaftung Chi Apis wegen Waffenverkaufs an die Dajak, wegen verbotener Ausfuhr von Maias (Orang-Utans[12]) und anderer Vergehen wegen befahl.
Gleichzeitig hatte er eine zweite Ordre bei sich, einen gewissen Olaf Karl Abelsen betreffend: Steckbrief – – und so weiter!
Mynher Wieg wurde von Antje grob angefaucht. Aber auf dem Flusse lag Wiegs Motorboot mit sechs Soldaten und zehn Mann Besatzung, und die Dinge nahmen eben ihren Lauf: Man brachte mich auf den schnellen Kutter, und so lernte ich für zehn Minuten Chis Residenz kennen.
Als Wieg dem Chinesen, der in Padalara wahre Wunder geschaffen hatte, den Haftbefehl hinhielt, sagte Chi nur ergeben:
„Es ist alles Lüge. Wer hat mich angeschwärzt?!“
Und dann … flohen wir.
Wie?
Nun, wir verständigten uns schnell, wir fanden den Sampan am Westufer der Insel, und der Außenbordmotor knatterte und … ein Gewitter brüllte und tobte und prasselte mit Regengüssen herab und ermöglichte so die Flucht. – Ich habe Gewitter stets geliebt. Sie sind die Sprache der Natur, sie sind der Ausgleich in der Natur … Sie haben nichts Schreckhaftes für den, dem das Leben nur ein Spiel mit Gefahr.
Der Donner tobte, und es regnete aus Fässern. Blitze zerschnitten die Finsternis dieser Gewitterstunde, feurige Schlangen zuckten herab, Sturmwirbel heulten durch den Urwald, und das Krachen stürzender morscher Riesenstämme war das grandiose Finale dieser Sinfonie der Naturgewalten. – Eine Stunde Gewitter, Finsternis, Lärm wie beim Weltenuntergang, und wir beide schwammen längst in einem Nebenfluß des Ketungau, waren in Sicherheit.
Uns suchen?!
Zwei Stecknadeln in einem Riesenheuhaufen …?! –
Chi sagte, als die Sonne wieder schien und wir den Sampan ausschöpften: „Mr. Olaf, es ist alles wahr, was man mir vorwirft. Aber es ist alles übertrieben und entstellt. Gewiß, ich habe den Dajak Feuerwaffen geliefert, uralte Flinten, die sie brauchten, um die Affen aus ihren Reisfeldern zu verjagen. Ich habe auch Orang-Utans ausgeführt, obwohl ein Gesetz diese Menschenaffen schützt. Ich weiß hier in meinem Distrikt und in den Wäldern nach der Grenze von Sarawak besser Bescheid als die Herren in Pontianak, die ihre Verordnungen erlassen und nie bis hierher sich in unsere Dschungel hineinwagen. Die Maias vermehren sich schnell, und ein einziger Maia kann in einer Nacht ein halbes Reisfeld einer Gemeinde vernichten. Ich habe weiter auch verbotenerweise Handel getrieben mit den feinsten Rotangflechtwerken, die die Dajakfrauen herstellen. Alles ist wahr, und doch tat ich vor meinem Gewissen nichts Unrechtes. Irgend jemand hat mich denunziert, Mr. Olaf, und ich hatte Neider und Feinde, obwohl der Gouverneur selbst auf mich große Stücke hält.“
Er warf die Schöpfkelle in den Vorderteil des Sampan und füllte Benzin für den Motor nach. Seine Verteidigungsrede hatte mich wenig berührt. Ich war froh, daß Chi Api mir Gelegenheit bot, gerade die Teile Borneos zu durchstreifen, die bisher keines Europäers Fuß betreten hatte.
Ich sagte nur: „Du bist nun ein Flüchtling und arm geworden, Chi … Schmerzt dich der Verlust deiner Habe?“
Er ließ den Motor knattern, und wir schossen hinein in das grüne Dach eines anderen Flußlaufes, über den der Urwald von beiden Seiten seine Äste und Girlanden vereinte.
Chi lächelte. „Mr. Olaf, wir Chinesen werden immer mit einem Volke des Westens verglichen, – man sagt, wir seien die Griechen Ostasiens, die besten Kaufleute. Es ist so. Unser Volk, zahllos wie die Ameisen, hat keinen Raum mehr in der Heimat. Hungersnöte verjagen uns, wir sind geduldete Fremdlinge in allen Küstenstrichen und auf allen Inseln des Stillen Ozeans. Ein weiser Kaufmann legt seinen Reichtum so an, Mr. Olaf, daß er nicht bestohlen werden kann. Du wirst sehen …“
Er sprach das letzte mit ganz eigentümlicher Betonung. Seine Schlitzaugen strahlten auf, die kurze Oberlippe hob sich und entblößte die gelblichen Zähne noch mehr.
„Mr. Olaf, noch drei Stunden,“ fügte er mit dem Stolz eines Mannes hinzu, der sich aus eigener Kraft emporgearbeitet hat, „– noch drei Stunden, und wir werden mit Anbruch der Dämmerung mein Reich betreten haben.“
Der Fluß, in dem der Sampan jetzt dahinschoß, war derart verkrautet, daß es immer wieder schien, als ob wir nicht einen einzigen Meter weiter vorwärtskommen könnten. Aber Chi saß am Steuer, und nur er kannte dieses schwierige Fahrwasser und fand überall einen Durchschlupf.
Er …!!
Chi Api …
Und er sprach von „seinem Reiche“ …! Er konnte das nur in übertragenem Sinne gemeint haben. Wahrscheinlich hatte er damit ausdrücken wollen, daß es sich um einen bisher unerforschten Landstrich handele.
So dachte ich und fragte nicht. Hatte auch übergenug zu sehen, – sah im Dämmer des linken Ufers zuweilen unklare Gestalten, die mir für Affen, selbst für Orang-Utans zu groß erschienen. Sie huschten dahin wie Schatten, verschwanden, tauchten von neuem auf, blieben stets mit uns auf einer Höhe und bewegten sich ebenso rasch wie unser Nachen. – Ich griff nach dem Fernglas … Da schienen sie ins grüne Halbdunkel zu entweichen …
Ich wartete …
Ich legte mir die Büchse entsichert über die Knie und lugte noch schärfer nach den geheimnisvollen, unheimlichen Begleitern aus.
Der Sampan rannte sich auf einem unter Wasser treibenden Baumstamm fest, und während Chi mit dem Bootshaken das Hindernis wegdrückte, erkannte ich endlich ganz deutlich zwischen den unterspülten Riesenwurzeln eines Baumgiganten einen braunen Wilden. Blitzschnell huschte er mir aus dem Blickfeld, und Chi rief in liebenswürdigem Spott:
„Mr. Olaf, meine Wachen haben vorgeschobene Posten … Schieße nicht, du wirst doch unsere Beschützer nicht niederknallen wollen … Hätten sie Messingbecken, würdest du Signale hören.“
Es war ein Zwischenfall ohne Bedeutung. Nur etwas merkte ich daraus: Chis sogenanntes Reich mußte von ihm sehr oft besucht worden sein. Wenn er von Wachen und vorgeschobenen Posten redete, konnte er nur Dajakleute meinen, mit denen er heimliche Handelsbeziehungen unterhielt.
Ich täuschte mich. Es war alles ganz anders!
Unsere flinken Begleiter am Ufer gaben sich jetzt weniger Mühe, sich meinen Blicken zu entziehen, es waren drei Mann, und einige Male tauschten sie rasche Zeichen mit den Händen mit Chi Api aus. –
Ich verstaute unser geringes Gepäck, das wir während des Gewitters mit einer Ölplane bedeckt gehabt hatten. Ich fühlte mich Gott gleich in dieser Stunde, da ringsum die durch das Laubgrün brechenden Sonnenstrahlen die Wassertropfen in Diamanten verwandelten und ein kühlerer Lufthauch durch die Gipfel strich und Vogelwelt und Tierwelt nach diesem ergiebigen Bade in doppelter Lebensfreude sich tummelten. Ich spürte den Odem der reinen, unverfälschten Natur, und ich habe die Natur lieben gelernt und mir meinen eigenen Glauben geschaffen, der mit dem Märchen von einem strafenden, grollenden Gottvater nur das eine gemeinsam hat: Der Garten Eden ist versperrt durch einen Engel mit feurigem Schwert, – dieser Garten Eden, das verschlossene Paradies der stillen Glückssucher, will erobert sein, nicht durch die Kriegskünste der Leiter der Völkergeschicke, nein, nur durch den Einzelnen, der wie ich, wie viele andere die Hohlheit dessen erkannt haben, was sich aufgeblasen Kultur, Zivilisation nennt.
Und – die Pforte des Paradieses lag zwei Stunden später vor uns. Seine Engel bewachten sie, – nur nackte Dajak, die das Hüfttuch als spärliche Badehose zwischen den Schenkeln hochgeknüpft hatten und in den Händen fünfzackige Fischspeere hielten.
Die Pforte war ein enger Zaun von Bambuspfählen quer durch den ganzen, hier vielleicht dreißig Meter breiten krautfreien Fluß. Dieser Zaun, von beiden Seiten noch durch feine engmaschige Netze aus nie faulenden Baststreifen verstärkt, war ein Fischwehr und versorgt die Dajak auf einfachste Art mit den prächtigsten Exemplaren dieser von flinken Schuppentieren wimmelnden Ströme.
Sie saßen oben auf den Pfählen, die acht prächtigen Kerle mit der rötlichbraunen Haut, die so sehr an die Farbe der Indianer erinnert. Sie starrten uns erstaunt entgegen, die acht, und dann ließen sie ein Freudengeheul erschallen, daß im Vergleich zu der Begrüßung, die man Antje hatte zuteil werden lassen, ein unerhörter Jubel war.
Ich war sprachlos. Die Kerle benahmen sich wie die Tollen, – nie hätte ich geglaubt, daß Chi Api bei diesen Naturkindern so beliebt wäre.
Unser Sampan stoppte, einer der Dajak öffnete rasch ein Tor in dem Bambuszaun, der etwa zwei Meter hoch war, – wir glitten hindurch, und ich erblickte nun am linken Ufer halb ins Wasser hineingebaut ein Pfahlhaus, das recht geräumig war und nach vorn eine offene breite Galerie besaß, auf der die Frauen, Mädchen und Kinder dieser Grenzwache ihren verschiedenen Arbeiten nachgingen.
„Meine Grenzwache,“ hatte Chi erklärt und auf das saubere Pfahlhaus gedeutet, das so versteckt hinter herabhängenden Zweigen lag, daß es von jenseits des Fischwehrs unmöglich zu bemerken war.
An einem der Dachbalken hing eines jener großen Messingbecken, wie sowohl Malaien wie Dajak sie von chinesischen Händlern beziehen: riesige Schalen, hergestellt als Unterlagen für Kohlenfeuer, hier und überall im Sunda-Archipel noch heute benutzt als Signaltrommeln.
Was Chi den Weibern oben auf der Galerie zurief, verstand ich nicht. Eine der Frauen ergriff jedenfalls einen langen Holzklöppel und schlug damit gegen das Becken – in gewissem Takt, – Wirbel folgten auf einzelne Schläge, – es war die Telegraphie dieser Wildnis, und diese Fernverständigung hatte schon vor mehr als einem halben Jahrhundert dem Radscha von Sarawak Leben und Thron gerettet.
„Mr. Olaf, bitte horche!“ sagte Chi und deutete nach Nordost.
Ich hörte, nachdem die Frau ihren Klöppel weggelegt hatte, von weit her genau dieselben Töne.
„In fünf Minuten, Mr. Olaf, wissen meine Untertanen, daß ihr Fürst sich seiner Residenz nähert …“ – und Chi warf den Motor von neuem an und wir glitten davon, – um eine scharfe Biegung …
Chi schaute mich an. Ich saß vor ihm auf der ersten Ruderbank.
„Es gab einmal einen Chinesen, Mr. Olaf, der drüben in Sarawak dem weißen Radscha in Treue diente … Das war mein Großvater. Aber unsere Landsleute drüben, die fast förmlich einem Geheimbunde angehörten, einem Kongsi, zettelten in der Hauptstadt Kuching einen Aufstand gegen James Brooke, den weißen Herrscher, an. Brooke entging nur durch einen Zufall dem Tode, flüchtete ins Innere, alarmierte durch die Signalbecken die ihm treuen Dajak und rückte mit einem Heere gegen Kuching vor, eroberte es zurück und ließ sämtliche Aufrührer hinrichten, auch meinen Großvater. Von da an, Mr. Olaf, durften die Chinesen sich nur an bestimmten Orten in Sarawak ansiedeln. Mein Vater, damals im Jahre 1857 erst ein Kind, flüchtete mit anderen auf holländisches Gebiet, und so wuchs ich in Pontianak auf. Meine Reisen ins Innere brachten mich durch Zufall an jenen Berg, der in den Sagen der Dajak eine so große Rolle spielt. Die Dajak glauben, daß ein völlig weißer uralter Orang-Utan in einer Berghöhle irgendwo hause: Als König all der Menschenaffen Borneos, als mächtiger König, umgeben von bewaffneten Maias und kampflustigen Wildebern. – Ich fand diesen Berg, fand auch den sagenhaften See Tapulat, und nur ein Wunder schützte mich vor den dort hausenden Dajak, die, umgrenzt von einem undurchdringlichen Sumpfgürtel, keinen Fremden unter sich dulden wollten. Mir gelang es, nachdem ich in Padalara Stationsbeamter geworden, die dortigen Dajak mir zu Freunden zu machen. Ihnen lieferte ich die Schußwaffen, lieferte ich europäische Instrumente und brachte sie in zehn Jahren auf eine Kulturstufe, wie selbst die weise holländische Kolonialregierung sie bei ihren farbigen Schutzbefohlenen nirgends erreicht hat. Und das, Mr. Olaf, ist mein Reich und mein Reichtum, – das Gebiet kann niemand mir rauben, dort bin ich nicht Chi Api, der bescheidene Sohn Chinas, sondern der Radscha von Tapulat, – so habe ich mein Fürstentum benannt.“
Was Chi mir hier über den weißen Radscha James Brooke, über den Chinesenaufstand und Brookes strenges Vorgehen gegen die Europäer erzählt hatte, war mir nicht neu. Ich wußte es längst, ich hatte darüber in verschiedenen Werken noch Näheres gelesen. James Brooke, dessen jetziger Nachfolger, Sohn seines Neffen Charles Brooke, immer noch der einzige weiße Fürst eines Landes von Farbigen ist, war eine Abenteurernatur ähnlich einem Kolumbus, einem Vasco da Gama[13], einem Livingstone, Stanley, – ein Engländer von Unternehmungsgeist, Kühnheit und Klugheit. Er erhielt Sarawak von dem malaiischen Radscha Muda Hassim im Jahre 1840 regelrecht geschenkt für – – nichts, denn die Kriegshilfe, die Brooke dem bedrängten Radscha leistete, hatte kaum irgendeinen Erfolg gehabt. – Man denke: Ein Abenteurer wird durch blinden Glückszufall Herr eines Gebietes von der Größe meiner schwedischen Heimat, – dieser Abenteurer erwirbt sich die Liebe und Achtung seiner räuberischen Untertanen, die entweder Piraten oder Kopfjäger sind, – in dreißig Jahren verwandelt er dieses Sarawak in ein wohlhabendes Reich, hinterläßt seinem Neffen nicht nur eine Hauptstadt mit aufblühendem Handel, sondern auch ein Heer blind ergebener Dajakleute, die für den weißen Fürsten durchs Feuer gehen! – Ein Abenteurerroman, aber historisch bis in die kleinste Einzelheit, – ein Beweis, was das Genie eines Einzelnen zu schaffen vermag! –
Und hier im dahingleitenden Sampan berichtet mir ein pockennarbiger Chinese ein ähnliches, wahres Märchen: Chi Api, Fürst von Tapulat, Herr jenes sagenhaften Gebietes, das des weißen uralten Menschenaffen Eigentum sein soll!
Ich verzichte auf jede Frage. Ich werde sehen, ich werde vielleicht bewundern, – und ich sehe …
Da ist eine zweite Grenzwache im Flusse, wieder nur ein Zaun von Bambus, wieder nur ein Pfahlhaus und eine Besatzung von acht Dajak mit ihren Weibern und Kindern. Wieder dieselbe lärmende, ehrlich-freudige Begrüßung, – wieder ein Tor in dem starken Zaune, der so harmlos aussieht und der doch den einzigen Zugang in das Reich Chi Apis schützt. Aber hier hält Freund Chi sich länger auf. Was er da mit dem einen Dajak erregt palavert, scheint etwas kritisch zu sein. Chis Miene verrät Unruhe, und dann wendet er sich mir zu, der ich von den braunen Männern, Weibern und Kindern wie ein Wundertier angestarrt werde.
„Mr. Olaf, Scho Pani war vor zehn Tagen hier!“ sagt er sehr ernst und legt die kantige Stirn in Falten. „Scho Pani hat spioniert, Mr. Olaf, und Mynher Wieg steckt mit Scho unter einer Decke … Noch andere haben ein Interesse daran mich zu verderben … – Da – hörst du das Becken? Es befiehlt der ersten Flußwache, die bereits eingekerbten Uferbäume umzustürzen. Ein Wall von Stämmen wird den Fluß sperren, und auch hier wird dieses Pfahlhaus verschwinden und die Bäume werden fallen, und der Fluß wird ansteigen und den Dschungel unter Wasser setzen, – Sumpf wird werden, was Land gewesen, – – und für uns wird es keine Rückkehr geben in die Länder der Untreue und Verlogenheit, – alter Sumpf wird sich mit neuem paaren, Sumpf wird Scho und Wieg den Weg verschließen, – – diese Urwaldflüsse, Mr. Olaf, warten nur darauf, ihre Fluten in die tieferen Stellen der Wildnis zu ergießen …“
Ein dämonisches Leuchten glomm in seinen Augen auf …
„Aber, Mr. Olaf, der du mich deinen Freund nennst, – ein Weg bleibt uns … Wir werden ihn gehen, wenn ich das große Geheimnis gelöst habe: Wo Jan und Anja von John Braxon gefangen gehalten werden!“
… Und wieder schoß der Sampan davon …
Hinter uns krachten die Baumriesen nieder … Das Dröhnen pflanzte sich fort durch den grünen Tunnel des Flußlaufes, und Affen und Vögel, Krokodile und Reiher lauschten der Stimme der Vernichtung, und glichen mir, der ich still da saß und horchte und mir ausmalte, wie diese Wälder von den Fluten gierig umspült werden würden.
Dann sagte Chi nach längerer Pause ganz unvermittelt:
„Mr. Olaf, vor zwei Stunden fuhr ein Sampan, von Araro gesteuert, diesen selben Weg dahin … Der Sampan brachte John Braxon und die beiden anderen Männer lebend nach Tapulat, meiner Hauptstadt. Sie leben, Freund Olaf, – es wäre ihnen besser, sie wären tot.“
Ich war nicht allzusehr erstaunt. Das, was Antje von mir erbeten hatte, war bereits ein Hinweis auf Chis jetzige Erklärung gewesen. Die Dschunke hatte Braxon und seine drei Spießgesellen beherbergt, und die drei Sandhügel am Ufer des Viktoria sowie der „Kopf“ in dem Leinensack Araros waren bewußte Täuschung gewesen.
Chi sprach weiter, und seine Stimme war dumpf und schwer: „Mr. Olaf, John Braxon ist Antjes Vater, Pieter van Vanderoos, der angeblich tote Schiffskapitän!“
Meine Zigarre entfiel mir. Ich starrte Chi ungläubig an. Er nickte nur …
„Es ist so, Freund Olaf, – – und Antje ist eine Pestpflanze der Wälder Borneos.“
Ich griff nach der Whiskyflasche.
Also doch …!!
Schade um das Mädel …
Chi deutete gleichmütig zur Seite, wo das linke Flußufer vollständig von drei Meter hohem fahlgelben Röhricht eingezäunt war. „Dort zieht sich ein Teil der Sümpfe bis hier an den Fluß, Freund Olaf …“ – er wechselte vielleicht absichtlich das Thema. Er mochte befürchten, daß ich einige ihm unbequeme Fragen stellen könnte. „Die Sumpfgebiete von Borneo sind der beste Schutz gegen das allzuschnelle Vordringen der Kultur …“ Er verzog den Mund, und ich verstand ihn. Wir beide waren uns auch in diesem Punkte durchaus einig: Wo der Europäer als Nutznießer der Harmlosigkeit der Eingeborenen mit den zweifelhaften Segnungen der Zivilisation auftritt, wo die schamlose Ausnutzung billiger Arbeitskräfte mit dem durchsichtigen Mäntelchen sogenannter „Kulturaufgaben“ umhängt wird, da ist es mit der friedvollen Unbefangenheit der sogenannten „Wilden“ vorbei. Gerade die Station, die sich einst so eifrig an der Bekämpfung der Sklaverei beteiligte, hatte in ihren Südseekolonien geradezu barbarische Methoden der Plantagenarbeiter-Anwerbung angewandt.
… Die Sümpfe, undurchdringlicher wie Mauern aus Granit, haben nicht nur dies eine Gute an sich,“ fuhr Chi leichthin fort. „Sie gewähren auch all den Tieren, die man hier beinahe ausgerottet hätte, sichere Zufluchtsstätten. Ich denke an verschiedene Vogelarten, ferner an …“
Was Chi an Tieren noch anführen wollte, blieb unausgesprochen. Unser Sampan hatte gerade eine schmale Rinne zwischen angetriebenem Gestrüpp passiert. Der Fluß erweiterte sich hier zu einem unendlichen Krautfeld, alles Wasserpflanzen mit zart blauen großen Blüten, – ein blauer, betäubend duftender schwimmender Teppich …
Aber nicht diese wunderbare Schönheit verschlug Freund Chi die Rede … Nein, was uns beide urplötzlich aus trügerischem Sicherheitsgefühl wachrüttelte, war etwas ganz anderes, war das jähe Aufflackern ernstester Gefahren …
In diesem blauen, endlosen Teppich lagen ein paar bewaldete Inseln … Die nächste, kaum zehn Meter entfernt, zeichnete sich durch einen Urwaldriesen aus, der aus den Bambusschößlingen und den übrigen tropischen Stämmen wie eine grüne dicke Säule sich emporreckte und überall von Lianen durchzogen war. Uns gerade gegenüber, noch außerhalb der Bambusstauden, hatte sich eine Arekapalme angesiedelt und stützte den schlanken Stamm auf ein Gewirr bis zu drei Meter hoher Luftwurzeln, die durchaus den Stäben eines Käfigs glichen und zumeist in das Wasser hinabtauchten. Hinter diesem Wurzelgitter hatte Chi einen Sampan erkannt, und diesmal war er es, der die Gefahr schneller als ich bemerkte: In dem Sampan hockten drei Männer mit wilden Stoppelbärten, bleich, schweißtriefend, – bleich geworden in ihrem Versteck auf der Dschunke …
Es waren Pieter van Vanderoos und seine Spießgesellen.
Chi saß steif und starr und wurde erst durch meinen harten Griff von der Steuerbank hinter die schützende Bordwand gerissen.
Fast gleichzeitig knallte ein Büchsenschuß, dem ein unregelmäßiges Pistolenfeuer folgte.
Ich war sofort unter den Ruderbänken nach vorn gekrochen … Chi kauerte hinter den achtern verstauten Proviantkisten, und so kam es, daß unser Sampan blindlings, steuerlos mit voller Kraft des Außenborders in das blaue Wasserblumenfeld hineinraste und schon nach wenigen Metern natürlich festlag: Die Schraube war durch die Pflanzenstengel unklar geworden, und die Krautmassen hielten uns mit unzähligen zähen Armen fest.
Inzwischen hatten die drei am Inselufer die zwecklose Knallerei aufgegeben. Unser Sampan war aus Eichenholz gefertigt, und die borneanischen Eichen zeichnen sich durch ein Holz von außerordentlicher Härte aus, das noch durch die ständige Berührung mit dem Wasser geradezu eisenhart wird. Gewiß, – die Planken dieser leichten Fahrzeuge sind dünn, aber nur eine Büchsenkugel konnte sie durchschlagen, niemals eine Pistolenkugel.
Ich lugte vorn durch die Löcher hindurch, die am Rande des schnabelartigen Bugs zum Befestigen der Haltetaue eines Treibermastes eingebrannt waren. Vorsichtig zog ich meine Metfordbüchse[14] heran und wartete das weitere ab. Die Entfernung bis zur Insel betrug jetzt dreißig Meter. Wir steckten etwa zwanzig Meter tief in dem blauen Wasserteppich. Von Pieter Vanderoos und Konsorten war nichts mehr zu sehen. Auch sie hatten Deckung genommen.
Chi rief mir halblaut zu: „Freund Olaf, wir haben Zeit … Die da drüben werden sehr bald erfahren, wie töricht es war, Araro und die vier Ruderer zu überwältigen, denn nur so ist dieser Überfall auf uns zu erklären.“
Ich verstand ihn nicht sogleich. Aber seine Seelenruhe – er zündete sich eine Zigarette an und streckte sich lang – erinnerte mich an die Dajak, die hinter uns die nunmehr zerstörten beiden Wachthäuser mit ihren Sampans längst verlassen haben mußten und zweifellos in kurzem hier eintreffen würden.
„Freund Olaf, unser Erscheinen ist Pieter Vanderoos zumindest ebenso überraschend gekommen wie uns die Kugeln,“ sagte Chi nach einer Weile. „Ich schätzte, meine Dajak werden kurz vor Dunkelwerden hier sein … Bis dahin sind es noch anderthalb Stunden. Ich werde ihnen zur rechten Zeit die nötigen Signale geben …“
Der Sonnenuntergang erfolgt auf Borneo stets zur selben Stunde, – um sechs Uhr, genau wie morgens sechs Uhr die Sonne aufgeht, jahraus, jahrein, – für die Dajak und Malaien die beste, einfachste und sicherste Zeitansage!
Nach Sonnenuntergang bleibt es noch etwa eine Stunde zehn Minuten (ziemlich genau) so hell, daß man erst nach dieser Frist vom Anbruch der Nacht reden kann. –
Chis unerschütterlicher Gleichmut wirkte auch auf mich so beruhigend, daß ich die Metfordbüchse wieder beiseite legte. Es war ohnedies ein älteres Modell, Kaliber Nummer neun, und als ich vorhin während der Fahrt den Lauf geölt hatte, entdeckte ich in den Zügen so starke Rostnarben, daß ich dieser Donnerbüchse nicht viel zutraute. Der Himmel mochte wissen, wie sie einmal den Weg hier nach Borneo gefunden hatte.
Ich stützte den Kopf in die Hand und konnte so die Gegner im Auge behalten, – wenigstens ihren Sampan. Sie selbst blieben unsichtbar. Ich nahm eine Zigarre aus meinem Bastetui. Sie war in Staniol gewickelt, dennoch war sie nur eine feuchte Nudel, aber sie brannte.
Chi begann ganz von selbst über Antje zu sprechen.
„Freund Olaf, Antje mag nicht so schuldig sein, als es den Umständen nach scheint. Sicherlich hat sie nicht gewußt, daß ihr Vater seinen Bruder Jan und dessen Tochter verschwinden ließ, um sein eigenes Kind, eben Antje, in den Besitz des reichen Erbes zu bringen und um später von Antje Bargeld fordern zu können. Sie wird sogar erst in Australien am Ufer des Viktoria-Flusses den wahren Sachverhalt erfahren haben, und ihr etwas widerspruchsvolles Benehmen dort und nachher kann kindliche Rücksichtnahme gewesen sein. Trotzdem hat sie unrecht gehandelt, – genau wie ich,“ betonte er ehrlich, „denn auch ich führte sie hinters Licht, ich ahnte bereits seit längerer Zeit den wahren Sachverhalt, da ich unter Antjes Bildern, die sie hierher mitbrachte, auch mehrere ihres Vaters sah und mir dessen Ähnlichkeit mit John Braxon sofort auffiel.“
Mein Interesse an diesen unangenehmen Dingen war nur mäßig.
„Was hältst du von Milo, Freund Chi?“ lenkte ich unser eigentümliches Gespräch auf den merkwürdigen Menschen, von dem wir uns auf der Inselstation Padalara nicht einmal hatten verabschieden können. Wir hatten es ja recht eilig gehabt, – wären uns die Minuten nicht so kostbar gewesen, hätten wir Milo gern als dritten mit im Sampan verfrachtet.
Chis faltiges, narbiges Gesicht war ohne bestimmten Ausdruck, als er erwiderte:
„Der Mann Milo ist nicht das, was er zu sein vorgibt, Freund Olaf.“
„So?!“ Meine feuchte Zigarre brannte schief, und ich hatte meinen Ärger mit ihr. „Diese Ansicht möchte ich nicht teilen, Chi. Ich beurteile ihn anders … Er ist eine jener durch Leichtsinn gescheiterten Existenzen, die erst durch den völligen Niederbruch sich seelisch wieder erneuern und …“
… Der Ärger mit der Nikotinnudel war endgültig vorüber. Von der Insel her erhob sich urplötzlich ein solcher Höllenlärm, daß sie mir aus den Lippen rutschte und zwischen die Bodenbretter ins Nasse fiel.
Ich habe allerhand Affenherden skandalieren gehört … Aber das Zetermordio, das dort von einem Trupp der großen borneanischen Nasenaffen auf dem einzelnen Urwaldriesen des Inselchens angestimmt wurde, übertraf denn doch meine kühnsten Vorstellungen von der Lungenkraft der Vierhänder.
Chi rief mir zu:
„Gib acht, Freund Olaf, – die drei wollen uns von den Baumästen aus beschießen und klettern empor und haben die Affen aufgestört, die sehr gern diese Flußinseln zur Nacht aufsuchen, wo sie vor den Raubtieren am sichersten sind.“
Ich lugte wieder durch das Loch und wurde Zeuge einer Szene, die ich nur in Abessinien ähnlich beobachtet habe, als ich beim Bahnbau dort beschäftigt war. Abessinien ist die Heimat des äußerst bissigen und gefährlichen großen Mandrill, des Mantelpavians. Jeder Zoologische Garten beherbergt diese selbst in der Gefangenschaft nie zahm werdenden Affen.
Der borneanische Nasenaffe, größer als der Mandrill, behender und klüger, ist ein guter Schwimmer, genau wie die kleineren sogenannten Javaaffen, die in Borneo überall in Riesenherden zu finden sind.
Braxon und Anhang hatten Pech. Die Nasenaffen (der Baumriese beherbergte mindestens vierzig dieser Tiere) begannen von oben her ein Bombardement auf die drei menschlichen Störenfriede, das zweifellos für diese übel abgelaufen wäre, wenn nicht ein gut gezielter Schuß den Führer der Horde heruntergeholt hätte.
Die Tiere brachen armdicke, halbdürre Äste ab … Und daß Affen tadellos werfen können, sollte ich später noch am eigenen Leibe erfahren.
Wir hörten die Flüche der drei Gegner bis zu uns herüberschallen, – wir hörten den Schuß, ich sah das stärkste der Männchen aus zwanzig Meter Höhe ins Wasser fallen, so weit ragte der Ast über die Insel hinweg, ich sah die Herde flüchten, und – das todwunde[15] Tier schwamm und arbeitete sich mit seinen letzten Kräften ausgerechnet bis zu unserem Sampan hin.
Es war ein schöner Zug Chis, daß er den armen, blutenden, nassen Nasenaffen schnell beim Genick packte und ins Boot hob. Das Tier fletschte die Zähne, kauerte sich dann aber wimmernd zusammen und preßte die schwarze, unbehaarte Hand auf die Schußwunde in der Brust.
Ich hatte noch nie einen Affen sterben sehen. Hier sah ich es … Ich war erschüttert von dem ergreifend-schmerzlichen Ausdruck der hellbraunen Augen … Ich kroch zum Heck. Ich hatte Tiere stets geliebt, – ich liebe sie als Gottes Geschöpfe wie die ganze große erhabene Natur.
Der sterbende Affe war zur Seite gesunken. Chi suchte ihm Wasser einzuflößen und stützte seinen Kopf. Ich habe Chi dies nie vergessen.
Und ich – ich habe nie ohne Not auf einen Vierhänder geschossen, nie! Wer jemals in das brechende Auge eines dieser Tiere schaute, die uns Menschen so nahe stehen, der muß ein Rohling sein, erhöbe er je die Büchse gegen diese Geschöpfe, mögen sie auch noch so viel Schaden anrichten. Mit meinen Dajakfreunden bin ich dieserhalb des öfteren hart aneinandergeraten – später …
Es war nur ein Affe, nur ein Nasenaffe mit häßlichem Gesicht und hochaufgestülpter, spitzer Nase. Aber als Chi ihn dann über Bord in den blauen Teppich gleiten ließ, blickte ich zur Seite … – Es mußte sein. Was sollten wir mit dem toten Tiere, das in dieser feuchten Glut in kurzem in Verwesung übergehen würde?! –
Die drei Gegner gaben ihre Absicht, aus der Baumkrone zu feuern, freiwillig auf. Es trat wieder Ruhe ein. Die Affenherde war zum Ufer geschwommen.
Es ist eigentümlich, daß gerade die höheren oder Menschenaffen Borneos nicht schwimmen können. Der Gibbon und der Orang-Utan (die Schreibweise Orang-Utan ist richtiger als Orangutan[16], denn Orang bedeutet Mensch und Utan Wald, und Dajak und Malaien sprechen die Bezeichnung für den „Waldmenschen“ stets getrennt aus, also Orang-Utan) können Flüsse lediglich dann überqueren, wenn die Baumkronen beider Ufer sich berühren oder angetriebene Stämme natürliche Brücken bilden. Deshalb sind auch sowohl Gibbon als Orang-Utan durch die Hauptströme Borneos auf bestimmte Gebiete von jeher angewiesen gewesen und zeigen aus demselben Grunde geringe Verschiedenheiten in der Färbung. Am eindrucksvollsten tritt dies bei den Maias (Orang-Utans) in die Erscheinung. Die Maias zwischen Kapuas und Nordküste sind weit zierlicher gebaut, ihr Haar ist feiner und auch die Größe etwas geringer als die der grobknochigeren Maias des Südens. –
Chi hatte jetzt eine Vierpfundkonservenbüchse geöffnet: Huhn mit Reis. – Mir fehlte der Appetit. Ich wusch das Affenblut von den Bodenplanken und auch Chi aß nur wenig.
Weshalb er die Büchse so verschwenderisch umfangreich gewählt hatte, wurde mir sehr bald klar: Er benutzte sie als Trommel, um seinen Dajak Signale zu geben.
Die blechernen Töne – Wirbel und Schläge in bestimmter Reihenfolge – dröhnten durch die tiefe Stille des anbrechenden Abends und weckten die zahllosen Wasservögel, die bereits zur Ruhe gegangen waren.
Chi wiederholte die Signale so lange, bis von Süden her Antwort kam. Er lächelte zufrieden, nahm eine neue Zigarette und meinte: „Pieter van Vanderoos wird sehr bald die Härte der Baststricke von neuem schmecken.“
Ich kroch nach vorn und hielt Ausschau. Die Dämmerung legte sich verschleiernd über den Urwaldfluß, und auch die Vogelwelt kam wieder zur Ruhe.
Ein neues Signal von Süden her mit Messingbecken …
Chi lauschte.
„Der Mann Milo ist bei ihnen,“ erklärte er dann.
Ich wollte etwas erwidern, – abermals knatterten da Schüsse, und als nach einer Viertelstunde John Braxon gebunden in unserem Sampan saß, versenkten die Dajak zwei Tote im Flusse.
Das trügerische Grab am Viktoria in Australien war für Braxons Gefährten zum nassen Grabe im borneanischen Urwaldstrom geworden.
Milo hatte uns nur flüchtig die Hand gedrückt.
„Dieses Ekel von Mynher Wieg wollte auch mich verhaften,“ erklärte er wegwerfend.
„Und wer half dir, Mr. Milo? Wer zeigte dir den Weg?“ fragte Chi mißtrauisch.
„Der alte Gauner Scho Pani,“ antwortete Milo etwas widerstrebend. „Scho ist dann mit dem Motorboot Antjes wieder umgekehrt, als wir das erste deiner Wachthäuser erreicht hatten, verehrter Chi … Das Wachthaus bestand zwar nur noch aus Trümmern, aber deine Untertanen waren noch anwesend und nahmen mich mit.“
Er verneigte sich vor Chi – mit allem Respekt.
„Scho läßt dir sagen, – dir, dem Radscha von Tapulat: Er ist ganz auf deiner Seite und wird nichts verraten. Er bittet dich, ihn in deiner Residenz zu empfangen, da er den Ort, wo Anja und Vanderoos verborgen sind, zu kennen glaubt.“
Scho Pani, der Mischling, hatte sich mit hineingedrängt in die bunte Reihe der Mitspieler dieser figurenreichen verdeckten Schachpartie. Auf mich hatte der verschmitzte Alte, der in so alberner Geckenhaftigkeit sein Knochengerüst mit tadellos gebügeltem Tropenweiß behängt hatte, von vornherein einen äußerst fragwürdigen Eindruck gemacht. Seine heimlichen leisen Unterredungen mit Antje mußten Verdacht in ganz anderer Richtung erwecken. Nun plötzlich diese Botschaft durch Milo an Chi Api …! War es nur Bluff, hatte Scho Pani ganz anderes im Sinne, steckte Antje als treibende Kraft dahinter?! –
Unser Sampan hatte bereits den blauen See passiert und hatte nun auch treue Gefolgschaft, nicht weniger als acht weitere Boote gleicher Art, beladen mit Hausrat, Weibern, Kindern, Hunden, Ziegen, – jeder Kahn eine Arche Noah für sich, aber alles recht vergnügte Archen, denn die Ruderer sangen und pfiffen und machten den Urwald rebellisch. Araro, der offenbar in Chis verborgenem Reiche eine besondere Vertrauensstellung einnahm, war der Anführer dieser Flottille. Wir in unserem Motorknatterer, nunmehr zu vieren, hatten gleich den anderen Sampans je vier Fackeln auf jeder Bordseite angezündet und glitten im rötlichen Flackerschein der knisternden und tropfenden armdicken Äste der borneanischen Kiefer durch die schwüle Nacht über blinkendes Wasser. Kein Baum der Erde ist so harzreich als diese tropische Schwester der europäischen Fichte, keine Fackel entwickelt so fatale Rußschwaden wie diese.
Milo saß neben mir auf der Mittelbank, Chi steuerte wie bisher, und John Braxon (oder Pieter van Vanderoos) hockte vorn und war zur Sicherheit noch an seine Bank gefesselt. Er mußte Milos Mitteilung an Chi gehört haben, – ich drehte mich nach ihm um, und ich sah auf seinem verwitterten, verwüsteten Gesicht ein fatales Grinsen.
Bisher hatte er auch nicht ein einziges Wort gesprochen. Er hatte den Tod seiner Gefährten mit eisiger Gleichgültigkeit hingenommen und hatte doch auch wie ein Mann gekämpft. Erst als Araro ihm mit überraschend sicherer Kugel die Büchse aus den Händen schoß, hatte er sich ergeben. Irgend etwas an diesem Manne erweckte mein Interesse als Menschenbeobachter. Irgend etwas milderte das Unsympathische seines Äußeren. Seine herausfordernde Miene, seine Gleichgültigkeit auch gegenüber Chis grimmigen Drohungen und eine nicht näher zu bezeichnende geradezu geringschätzige stille Verhöhnung seiner Gegner deuteten vielleicht auf einen Menschen von brutaler Energie hin.
Und – das eine habe ich stets geachtet: Mann sein!! – Fehler, Schwächen hat wohl ein jeder. Wo aber eine eiserne Seele den starren Hintergrund dieser Charaktermängel bildet, wird stets in dem dunklen Born einer solchen Kraftnatur auch ein Äderchen reiner Empfindungen fließen.
Sein fatales Grinsen konnte eine Maske sein.
Die zuckenden Lichtstreifen der Fackeln mochten mit dazu beitragen, seine Züge zu verschleiern und die Ergründung seiner wahren Gedanken zu erschweren.
Ich fragte ihn, – und ich fragte nicht als Feind:
„Geben Sie endlich der Wahrheit die Ehre: Sind Sie Pieter van Vanderoos, haben Sie Ihren Bruder und dessen Kind irgendwohin verschleppt?!“
Milo, dessen hagere Gestalt zusammengekrümmt und scheinbar teilnahmlos neben mir saß, fügte von sich aus hinzu: „Sie sind doch kein Feigling, Mann!! Reden Sie endlich!! Nichts ist jämmerlicher als …“
„Wenn ich reden wollte,“ sagte da der Gefesselte mit ironischem Auflachen, „würden wahrscheinlich sogar die Affen der Dschungel sich zusammentun und …“ – dann eine unendlich verächtliche Handbewegung: „Sparen Sie sich alle Worte! John Braxon wird John Braxon bleiben, – das genügt.“ Er ließ den Kopf wieder sinken und beachtete uns nicht weiter.
Vom Heck her rief Chi: „Laßt ihn in Ruhe, bitte ich euch …! Er ist mein Gefangener, und ich werde ihn sehr bald zum Sprechen bringen, wenn nur erst die Sonne den See Tapulat begrüßt und der weiße Maia mir seine Befehle erteilt hat.“
Zum zweiten Male erwähnte Chi jetzt den sagenhaften König der Orang-Utans. Diesmal gab er bereits etwas mehr von den Geheimnissen von Tapulat preis. Bisher war nie die Rede davon gewesen, daß der Menschenaffenherrscher seine Macht auch auf Chi ausdehnte.
Zu meiner Überraschung zeigte Milo selbst für diese doch immerhin recht eigentümliche Bemerkung unseres Freundes Chi keinerlei Interesse. Er bat mich lediglich um eine Zigarre und meinte, als er sie aus dem Staniol wickelte: „Der weiße Maia hat starken Bedarf an Zigarren, hat man mir erzählt … Du beziehst sie direkt aus Batavia, Chi, und sie werden in verlöteten Zinkkästen geliefert und kosten pro Stück einen halben Gulden, – beneidenswerter Affenkönig, solch ein teures Kraut!!“
Chi sagte nur, – seine Stimme war farblos wie zumeist, nur der höfliche Unterton fehlte nicht: „Dein Besuch in Padalara, Mr. Milo, scheint reiche Früchte getragen zu haben … Die Zigarren des Maiaherrschers dürften nicht das Wichtigste sein, das dir offenbart wurde.“
Milo schwieg. – Es war eine eigentümliche Lage für mich. Ich fühlte immer eindrucksvoller, daß hier mit Geheimnissen operiert wurde, deren verborgener Kern mir noch immer vollkommen entzogen worden war. Harte Schalen umgaben ihn, und wie man diese sprengen könnte, war im Grunde eine Frage von größter Nebensächlichkeit. Was gingen mich diese undurchsichtigen Ereignisse an, die sich an Antjes schlanker Gestalt wie jene Kletterpalmen hochrankten, die im Dämmer des Urwaldes mit aller Kraft zum Lichte streben und schließlich wirklich das Blätterdach durchbrechen und von Sonnenstrahlen sich umschmeicheln lassen, während der dünne, endlose, kerzengerade Stamm weiterhin gegen die neidvolle Finsternis des Dschungels ankämpft.
Nacht war es längst geworden. Längst hatte das Firmament seinen schillernden Mantel angelegt, und die Fahrrinne im Flusse war betupft mit schillernden Pünktchen, war gerötet vom Schein der tropfenden Fackeln und belebt von dem Rattern des Außenborders und dem Plätschern der Blattruder und dem fröhlichen Geschwätz der Dajak und den Lauten der Tiere, die mit in die Sampans eingepfercht waren.
Eine romantische nächtliche Fahrt, – man spürte den Reiz der Stunde in den sanft schwingenden Nerven, die keine Entspannung brauchten, – der köstliche Odem der Einsamkeit umwehte uns, und schweigend verharrten wir, bis die trägen Gedanken im Halbschlaf sich verwirrten und die Phantasie märchenhafte Bilder zu scheinbarem Leben weckte. Ich träumte. Und – – fuhr hoch, weil ich im Schlafe vornübergesunken war. Ich riß die Augen auf, eine Qualmwolke der Fackeln trieb mir das Naß aus den Lidern, und vom Boden des Sampans her sagte Milo, der sich dort ausgestreckt hatte: „Hier ist es leidlich bequem, Olaf … Weshalb sitzen Sie noch?! Chi will sich am Steuer nicht ablösen lassen … Da, hören Sie, – auch Braxon schnarcht ganz vorn, ich habe ihn sicher angekettet, und … hier sind noch zwei Wolldecken … Araro warf sie herüber, sehr aufmerksam, in der Tat …
Schlaftrunken streckte ich mich neben ihn. Ein Rippenstoß half, und Milo flüsterte: „Ich muß mit Ihnen ins Reine kommen, Abelsen … Wir beide sind doch nicht dazu da, daß man uns immer neue Binden um die Augen legt! – Abelsen, ich fürchte, Chi belächelt uns … Hat er uns erst in seiner sogenannten Residenz, werden wir das Schicksal all derer teilen, die ausgezogen sind, den sagenhaften See, den Berg und den Affenkönig zu finden. Sie haben sich wenig um diese internen Dinge Borneos gekümmert, ich desto mehr …“ Sein Mund war dicht an meinem Ohr, und sein hastiges Flüstern zerstörte die Weihe dieser einzigartigen Romantik. Meine Müdigkeit schwand, und ich entgegnete genau so gedämpft und überhastet wie der Mann Milo: „Was wissen Sie?! Halten Sie Chi für einen Verräter?!“
Er zauderte … Seine hellblonden Haare lagen ihm etwas wirr in die Stirn hinab. Er strich sie zurück. „Abelsen, die Regierung in Batavia fürchtet Chi … Ihnen wird bekannt sein, daß der Bolschewismus gerade unter den Javanern überraschend schnelle Verbreitung gefunden hat. Chi soll ein politischer Agent sein – soll … Jedenfalls sind in den letzten vier Jahren nicht weniger als sechs Beamte in dieser Gegend samt ihren Fahrzeugen und Begleitern spurlos verschwunden … Genügt Ihnen das?!“
„Nein …!“ Ich gähnte herzhaft. „Wissen Sie, mein lieber Milo, ob Bolschewik oder chinesischer Nationalist: Chi ist ein anständiger Kerl, und meine Menschenkenntnis dürfte mich diesmal kaum im Stiche lassen … Ich werde nie glauben, daß Chi Api ein Mörder ist …“
Milo lachte leise. „Da haben Sie vollkommen recht, Olaf … Mörder, nein, – aber ein farbiger Machthaber ohne jede Rücksichtnahme. Wir werden die kultivierte Welt nie wiedersehen, niemals! Und ich mache dieses gefährliche Spiel nur mit, weil ich eine heilige Pflicht zu erfüllen habe: Jan und Anja van Vanderoos, behaupte ich, sind in Tapulat, und Chi …“
„Gute Nacht, Milo … die Sonne wird uns alles klären …“ – ich drehte mich auf die andere Seite und war im Nu eingeschlafen. –
Mein Schlaf war tief und bleiern wie eine schwere Narkose. Ich hatte diese Erscheinung, diesen seltsamen Einfluß der Tropenluft bereits seit Tagen gespürt: Entweder lag ich nur im leichten Halbschlummer da oder ich verfiel in diesen eigentümlichen Zustand, der mehr einer Bewußtlosigkeit als erquickendem Schlafe glich. Allen Reisenden, die die feuchten Urwälder Borneos oder Sumatras durchziehen, ergeht es ebenso. Das Erwachen nach diesen Nächten ist alles andere als angenehm. Der Kopf ist wirr und wüst wie nach aufregenden Fieberträumen, den ganzen Körper bedeckt ein klebriger Schweiß, die Augen schmerzen stundenlang und die Gelenke sind steif und knacken beängstigend. Es gehören schon stählerne Naturen dazu, dieses Klima sofort zu ertragen. Ich hatte mich bisher für äußerst widerstandsfähig gehalten, – ich kapitulierte vor diesem Lande, das in verschwenderischer Fülle alle möglichen Früchte und reiche Ernten spendet, – ich schaute Milo aus verglasten Augen an und wunderte mich, wie frisch und heiter er dreinblickte.
In der Mitte eines jeden Sampans, vielfach auch vorn befindet sich eine Steinplatte, auf der während der tagelangen Flußreisen die Mahlzeiten gekocht werden.
Milo schürte das Feuer, und Chi rief mir höflich wie immer einen blumenreichen Morgengruß zu.
„Nach dem ersten Becher Kaffee werden Sie sich ganz anders fühlen,“ tröstete Milo und schüttete gemahlenen Javakaffee in die Aluminiumkanne.
Meine brennenden Augen suchten die Umgebung als klares Bild meinem Bewußtsein zu vermitteln. Wir befanden uns noch immer auf einem etwa vierzig Meter breiten Flußlauf, noch immer standen die grünen Mauern des Urwaldes an den unsichtbaren Ufern, – unsichtbar, denn von Land oder festem Boden war nirgends etwas zu bemerken. Nur die Luftwurzeln der Dschungelbäume bildeten den Grenzzaun zwischen Land und Wasser. Die Sonne blinkte schräg durch den grünen Tunnel, und hinter unserem großen Nachen folgten wie bisher die anderen Sampans, – das Bild war im Grunde das gleiche wie am verflossenen Abend.
Nicht lange mehr. Gerade als wir Kaffee tranken und ich mich bei Milo erkundigte, ob ihm denn dieses mörderische Klima nichts anhabe, öffnete sich zur Rechten der Urwald zur felsigen, sanft ansteigenden Gebirgsterrasse, hinter der die noch in Dunst gehüllten Berge von Madjang, dem Grenzgebiet nach Sarawak hin, sichtbar wurden. Hiermit hatten wir die Dschungelniederung hinter uns, und Chi Api betonte, daß die Luft nun weit gesünder und erquickender werden würde. Das traf zu … Nachdem ich vom Sampan aus ein Bad genommen hatte, nachdem Milo mir echt kameradschaftlich den Körper mit feinem Flußsand abgerieben und meine Haut krebsrot geworden, fühlte ich mich wie neugeboren. Diese Sandmassagen sind übrigens bei den Malaien tägliche Kost, und es wäre wünschenswert, daß auch die Dajak diese Reinigung sich angewöhnten. Mögen sie auch herzensgute Menschen sein: Ihr Bedarf an Seife ist allzu minimal. Sie duften. Die Farbigen haben freilich alle ihr besonderes Hautparfüm. Der Neger riecht anders als der Chinese, – der Dajak riecht zumeist nach ranzigem Palmöl, ohne daß er je den Körper damit salbt. Es ist Naturduft. –
Der Fluß ward reißender. Felsen tauchten auf, umsprudelt von weißem Gischt, kleine Stromschnellen zwangen zu vorsichtiger Fahrt, der Urwald erschien nicht mehr als eine ungeheure grün verfilzte Masse, wurde lichter und niedriger, die Ufer zeigten hellen Kieselboden, und die kleinen Lichtungen zu beiden Seiten gewährten uns den Ausblick auf kahle Berghäupter.
Chi, dem man es in keiner Weise anmerkte, daß er die Nacht über gewacht und gesteuert hatte, deutete gegen zehn Uhr vormittags auf einen gelblichen Streifen, der sich quer über den rauschenden Fluß zog.
„Es ist die Hauptwache vor dem See,“ erklärte er.
Es war ein Bambuswehr, der gelbe Streifen, aber zusammengefügt aus den dicksten Stauden dieser eigenartigen Pflanze, die man bekanntlich wachsen sehen kann. In wenigen Stunden durchbrechen die frischen Triebe die zumeist fußdicke Humusschicht, und niemand sieht es diesen spargelähnlichen Schößlingen (die übrigens eßbar sind) so leicht an, wie riesenlang sie werden, wie glashart ihre Oberfläche wird und welche Lasten solch ein Bambusrohr von Schenkeldicke zu tragen vermag. Durchschnittlich wachsen die jungen Triebe in den ersten drei Tagen in jeder Stunde etwa einen Zentimeter. Allerdings ist das noch ein bescheidener Wachstumsrekord im Vergleich zu den Lianen. Die indische Dschungelliane hält den Rekord mit vier Zentimeter pro Stunde, und eine Schachtelhalmart in Brasilien soll es bis auf drei Zentimeter bringen. Befestigt man an der Spitze eines Bambusschößlings einen dünnen weichen Bleistift und läßt diesen über ein Blatt Papier gleiten, so kann man die Aufwärtsbewegung der Bleistiftlinie tatsächlich verfolgen, da seltsamerweise die Schößlinge ruckartig emporstreben.
Die Hauptwache sperrte den Zugang zu einer Bucht des sagenhaften Sees und war mit dreißig Dajakkriegern besetzt, deren Wohnhaus (Weiber, Kinder und Viehzeug lebten in engster Gemeinschaft) am linken Ufer im dichtesten Gestrüpp sich erhob und etwa sechzig Meter lang und zehn Meter breit war. Natürlich war es ein Pfahlbau, die Grundpfeiler wie stets aus Eiche, der Oberbau aus Bambus und Rotanggeflecht. Jede Familie hat in diesen Gemeinschaftshäusern ihre eigenen Räume, Pintus genannt, und all diese Riesenhütten sind nach demselben Schema errichtet: Pfahlbauten, als Treppe ein eingekerbter Baumstamm, in der Mitte ein langer Flur, an den Seiten offene Galerien, überdacht und für alle bestimmt, Fußboden aus Stäben, mit Matten bedeckt, Türen aus einem mit Baumrinde bezogenen Gestell, kleine Fensteröffnungen, – – Badezimmer und so weiter fehlt, Innengeruch penetrant, Außengeruch noch penetranter, da Hunde, Schweine, Ferkel unter dem Hause ungeniert alles tun, was sein muß.
Chi hatte mit dem Anführer der Wache eine längere Unterredung, Milo und ich betraten das Haus, und dieser erste Besuch in einem Dajakhotel oder -pensionat wird mir unvergeßlich bleiben.
Schon im langen Flur hingen in Bündeln angeräucherte Menschenköpfe, Erbstücke von höchstem Wert, kostbarer als Gold. In den Familienkammern dieselben schaurigen Trophäen, teilweise weiß tätowiert und mit frischen Blumen geschmückt.
Einer der Krieger, der nach der Unmenge seiner messingnen Arm- und Beinspangen ein reicher Mann sein mußte (aber auch er war im übrigen nackt bis auf den Hüftschurz) führte uns auf die offene Galerie und zeigte uns hier einen Bambuskäfig, in dem ein ausgewachsener, erst gestern gefangener Orang-Utan saß und uns bösartig anfletschte. Es war ein prächtiges Tier mit voller rostgelber Behaarung und ernsten, stillen Augen, in denen die tiefste Melancholie klar zum Ausdruck kam, nachdem seine erste Wut über unsere Nähe verflogen war. – Die Malaien und Dajak unterscheiden, wie ich schon erwähnte, zwei Arten von Orang-Utans, die „Maias ramboh“, die Zierlichen, und die „Maias kasar“, die Starken. Dieser arme Gefangene war ein Kasar, und als er einmal wie spielend seine Bambussitzstange über dem Knie zerbrach, bekam ich erst die richtige Vorstellung von seinen ungeheuren Kräften.
Der Dajak, der ein wenig Pitgin sprach, erzählte uns, daß sie den Maias auf einer vereinzelt stehenden Eiche eingekreist, dann um den Baum wie üblich einen Käfig mit einer Fallklappe erbaut und gewartet hätten, bis das hungrige Tier in den Käfig zu den lockenden Früchten hinabgestiegen sei. Dann werden dem Utan Schlingen aus Rotang übergeworfen, bis er sich nicht mehr bewegen kann, man bringt ihn in einen tragbaren Käfig und zerschneidet die Schlingen erst, nachdem der grimme Waldmensch genügend süßen Reisschnaps geleckt hat und eingeschlafen ist. – Ich sage „geleckt hat“, denn kein Orang-Utan in der Freiheit oder frisch gefangen trinkt mit dem Munde, vielmehr tauchen sie die Hände in die Flüssigkeit und lecken diese dann ab. Für diese Eigentümlichkeit gibt es nur eine Erklärung: Die Tiere sind es gewöhnt, den Tau und den Regen von den Blättern abzulecken. Sie kommen ja sehr selten zum Erdboden herab, sie sind ausgesprochene Baumbewohner und wasserscheu und Nichtschwimmer.
Gerade dieser Orang-Utan hier im Hause der Hauptwache sollte später noch in meinem Leben eine besondere Rolle spielen. –
Da Milo und ich uns bei der Besichtigung der Innenräume doch zu lange aufgehalten hatten, erschien Araro und bat uns zum Flusse zurückzukehren, – Chi warte bereits. – Araro trug jetzt Nationaltracht, das heißt Schurz und Messingspangen, und das Ebenmaß seiner Glieder und der fast europäische Schnitt seines Gesichts traten hierdurch noch mehr in die Erscheinung.
Chi wartete.
Es war nicht mehr Chi Api, der Tote, der blatternarbige, kahlköpfige Chinese, der dort am Landungssteg in einer Staatsbarke saß. Es war Chi Api, Radscha von eigenen Gnaden des Fürstentums Tapulat, – gekleidet in lichtblaue Seide, behängt mit Goldschmuck, umgürtet mit diamantbesetztem Lederriemen mit zahllosen Schnüren, an denen kleine silberne Glöckchen hingen, – gekrönt mit einem Kopfputz, halb Turban halb Mütze, mit Reiherfedern, Goldstickerei, Edelsteinen und Goldplättchen verziert.
Seine Staatsbarke, von zwanzig Dajak gerudert, hätte nach Venedig hineingepaßt. Sein Stuhl war aus Elfenbein mit feinster Flechtarbeit besponnen, – hinter ihm standen drei uralte Dajak, die zu Ehren ihres Wohltäters und Herrschers seidene Sarongs (Gewänder) angelegt hatten.
Chi war äußerlich ein anderer, – Milo und mir gegenüber blieb er der gleiche.
„Es ist nicht Eitelkeit von mir …“ – er schaute an sich herab, und bei jeder Bewegung erklangen ganz zart die silbernen Glöckchen, – „es muß sein, meine Freunde. Als Radscha eines Volkes von über tausend Seelen – und tausend Dajak zählen in dieser Wildnis hundertfach – habe ich auf den Sinn der Meinen für Schmuck und Tand Rücksicht zu nehmen.“
Er deutete auf zwei gepolsterte Bambussessel, wir nahmen Platz, die Barke schoß davon, und nach einer knappen Stunde lag der sagenhafte See Tapulat, den fast alle Reiseschriftsteller erwähnen und den sie doch nicht kennen, vor uns … vor unseren erstaunten, entzückten Blicken …
… Ich habe vieles gesehen und erlebt. Ich sah einen Palast aus Salzwürfeln in den australischen Einöden, ich sah Coy Calas Gletscherschloß, ich sah eine Insel, die ein Schiff war und ein U-Boot …
Ich sah niemals ein Gemälde wie dieses.
Der See Tapulat, umkränzt von bewaldeten Bergen, mochte eine Meile breit und etwa doppelt so lang von Nord nach Süd sein. In einer Bucht des Nordufers lag eine flache Felseninsel voller Palmen, – in der Mitte der Insel erhob sich ein Palast in Form einer Pagode mit sieben geschweiften, geflochtenen Dächern, jedes anders gefärbt, jeder mit Glocken behängt wie dies in den buddhistischen Ländern üblich ist. Der achteckige Unterbau bestand aus hellrotem Sandstein mit Einlagen von Elfenbein und Gold.
Das Sonnenlicht enthüllte Milo und mir, je mehr die Barke sich der Insel näherte, immer neue Schönheiten dieser phantastischen Residenz eines Mannes, der seit zehn Jahren ein vollständiges Doppelleben geführt hatte: Als einfacher Polizeibeamter und Stationsleiter – und insgeheim als Fürst von Tapulat.
Die Insel, die bei ovaler Form etwa tausend Meter größten Durchmesser haben mochte, war ein einziger Palmenhain. Die Freitreppe, die zur Pagode, von breiten Terrassen unterbrochen, emporführte, war aus gelbweißem Sandstein hergestellt und von einem figurenreichen Geländer eingesäumt. Als die Staatsbarke anlegte, hatten sich zum Empfang Chi Apis nur die acht höchsten Würdenträger eingefunden, von denen fünf offenbar reinrassige Dajak waren, während die übrigen Mischlinge sein mußten, wahrscheinlich Dajak mit malaiischem und chinesischem Blut in den Adern. Wundervolle Chinateppiche von zartesten Farben bedeckten die Stufen der eigentlichen Wassertreppe, und in dieser ganz auf äußeren Pomp abgestimmten Umgebung nahmen sich die nackten Gestalten der Ruderer und die Gewänder der farbigen Minister um so seltsamer aus.
Ich hätte gewünscht, ein Reporter einer großen europäischen Zeitung hätte diese Szenerie und diese Szene beobachtet und fachmännisch geschildert. Zu sehen gab es übergenug. Das Empfangszeremoniell durch die Würdenträger war ebenso umständlich wie steif, wirkte trotzdem keineswegs lächerlich und gab mir bereits einen geringen Begriff von der ungeahnten Machtfülle meines pockennarbigen Freundes. Wenn ich jetzt jener anderen Szene gedachte, als dieser selbe Chi im Mondlicht am Buchenast am Ufer des Viktoria-Flusses hing, ein armseliges Bündel scheinbar, aufgeknüpft von drei Desperados, von denen nur noch John Braxon lebte: Fürwahr, jenes Mondscheinerlebnis in Nordaustralien kam mir nur mehr wie ein Traum vor!
Milo und ich wurden nicht beachtet. Die Minister, sämtlich ältere Männer, hielten es wohl für unter ihrer Würde, uns verhaßte Weiße auch nur eines Blickes zu würdigen.
Nach der Ansprache des ältesten der Würdenträger, auf die hin Chi kurz erwiderte, tauchten auf der obersten Terrasse etwa fünfhundert Soldaten auf, alle in Khaki gekleidet, alle modern bewaffnet, die Offiziere sogar mit Degen versehen, – dazu eine Musikkapelle, die als erste im Laufschritt die Stufen herabkam und sich zur Linken aufbaute, während die Leibgarde bis zur Pagode Spalier bildete.
„Donnerwetter!“ entfuhr es Freund Milo anerkennend, als die braunen Gardisten tadellos das Gewehr präsentierten und die Musik einen Marsch intonierte, der zu meiner Überraschung der Sternenbanner-Marsch von Sousa war. – Mit einem Schlage entschwand bei mir jegliches Gefühl, mich hier inmitten einer Wildnis zu befinden, die vielleicht so mancher Weiße betreten, die er aber nie mehr verlassen haben mochte. Und das Erstaunlichste: Der Kommandeur der Leibgarde und vier Offiziere waren fraglos Europäer, freilich durch die Äquatorsonne längst so braun gebrannt, daß nur der Gesichtsschnitt und die Haarfarbe ihre Herkunft verrieten.
Chi stieg langsam die Treppe empor, winkte dem Militär würdevoll zu und entschwand unseren Blicken inmitten einer tausendköpfigen braunen Volksmenge, die ihren Radscha nun droben vor dem weit offenen Portal der Residenz lärmend begrüßte. Dieses langgezogene „Eh … Eh … lala Eh …“ war etwa dem „Heil!!“ europäischer Völker zu vergleichen, – leider war es aber auch der uralte Siegesruf der Dajak, wenn sie von einer Kopfjagd erfolgreich heimkehrten. –
Die Sampans mit den Grenzwachen, Weibern und Kindern und Vieh waren inzwischen am Westufer des Sees gelandet. Nur Araros Sampan, in dem sich auch Braxon befand, hielt sich noch in der Nähe und kam jetzt herbei, als Chi die Pagode betreten hatte.
Wir mußten in den Sampan Araros hinüber und sahen nur noch, daß Musik und Leibgarde geschlossen nach oben marschierten.
Milo, dessen heitere, für ihn ganz ungewöhnliche Stimmung noch immer anhielt, fragte Araro geradezu, ob wir beide nunmehr Chi Api gegenüber einen anderen Ton im gegenseitigen Verkehr anschlagen müßten. Der Dajak erwiderte schlicht: „Chi Api ist Radscha von Tapulat. Er wird nie mehr nur Stationsleiter von Padalara sein …“
Da wußten wir Bescheid. Zwischen Chi und uns war eine Scheidewand errichtet worden, wir waren seine Gäste, aber – er war der Fürst.
Milo nickte nur. „Im Grunde war meine Frage überflüssig … Ich hätte sie mir selbst beantworten können.“
Wir fuhren um die Insel herum, und am Nordstrande der Bucht sahen wir auf felsigen Anhöhen, eingebettet in frisches Grün, überall die landesüblichen Gemeinschaftshäuser, – ich zählte nicht weniger als fünfzehn …
Wir landeten an der Nordspitze der Insel, wo unser ein freundlicher weißer Bungalow wartete, – unser Heim mit allem erdenklichen Komfort.
Als wir die Räume durchschritten, als ich mich zu einem der Fenster hinausbeugte, gewahrte ich in einem Ausschnitt der Bergwälder einen bisher unsichtbar gebliebenen Bergkegel mit flacher Kuppe, die kahl und hell im Sonnenschein weithin leuchtete. Araro sagte hinter mir: „Das ist der heilige Berg Tapulat, Mr. Olaf … Niemand darf ihn betreten. Er ist von einem doppelten Bambuszaun umgeben, und zwischen diesen Zäunen hält der König der Maias viele Sumatratiger … Ich warne euch, eure Ausflüge bis dorthin auszudehnen. Im übrigen seid ihr frei und ungehindert.“
Er verbeugte sich und ließ uns allein.
Milo blickte umher und meinte gedämpft:
„Ich glaube, Abelsen, wir beide werden hier sehr viel Merkwürdiges erleben. Eins weiß ich nun mit aller Bestimmtheit, und deshalb bin ich so vortrefflicher Laune: „Anja und ihr Vater sind hier, denn Anja hat mir eine geheime Botschaft geschickt … Da – lesen Sie!“
Er reichte mir einen schmalen Zettel, der ganz eng zusammengerollt gewesen sein mußte. Mit Bleistift stand da in zierlicher, fester Schrift: „Ich habe die Signale abgelauscht und weiß, daß Sie sehr bald in meiner Nähe sein werden mein lieber Freund. Versuchen Sie uns zu befreien, kommen Sie zum Berge Tapulat und warten Sie an der Ostseite bei der einzelnen Buche, die dicht am äußeren Zaune steht. Seien Sie vorsichtig! Anja.“
„Und wer übergab Ihnen den Zettel?“ fragte ich verblüfft.
„Raten Sie, Abelsen.“ Er lächelte dazu.
„Einer der Ruderer der Staatsbarke, nehme ich an.“
„Nein, – der angeblich frisch gefangene Orang-Utan,“ erwiderte er noch leiser.
Ich glaubte mich verhört zu haben …
„Der Orang-Utan? Scherzen Sie?!“
„Nein, – ich habe wahrlich keine Veranlassung dazu. An einem der Käfigstäbe bemerkte ich in der blanken Bambusoberschicht ein Zeichen eingeschnitten, das nur Anja und mir bekannt ist … Als ich sie einst kennen lernte, Olaf, – als ich, der einfache Dampfersteward, mich ihr kaum zu nähern wagte, trug sie stets um den Hals einen Brillantanhänger, ein goldenes Rad mit acht Speichen und neun Edelsteinen. Sie verlor den kostbaren auffallenden Schmuck einmal, ich gab ihn ihr zurück, und von da an, Olaf, war ich für Anja nicht mehr der Steward Emilio Panzetti, sondern …“ – er blickte mich ernst an – „der heimatlos gewordene italienische Fürst Emilio Panzetti, den die neuen Machthaber Italiens vertrieben und ausgeplündert haben … Damals gab ich mich Anja zu erkennen … Meine Mutter, Abelsen, war eine Holländerin, von ihr erbte ich das hellblonde Haar, und Anja van Vanderoos ist eine Cousine zweiten Grades von mir.“
Er streckte mir die Hand hin. „Sie werden schweigen, Olaf … Was ich war, – – das war! Ich bin Milo, ich bleibe es … Ich habe mein Vaterland verloren … Ich habe mir die ganze Welt als Heimat erkoren wie Sie! – Werden Sie mir helfen, Abelsen?“
„Das ist selbstverständlich …“ – von der Minute nannten wir uns Brüder und du. – –
– – In meiner Bambushütte surren die Insekten und draußen im Urwald leuchten die Millionen von glühenden Käfern … Der Wind schüttelt leise die Urwaldriesen, und ich überfliege das Geschriebene und sehe im Geiste den hageren, melancholischen Emilio Panzetti vor mir – und neben ihm Anja, – sie stehen Arm in Arm und lächeln und winken … – So sah ich sie zuletzt. Sie werden sehr glücklich geworden sein, hoffe ich, und auch Antje van Vanderoos dürfte die Stunde, in der ich fast unterlag, längst vergessen haben …
Irgendwoher kommt das Gekreisch einer Gibbonherde, – irgendwoher erklingt das metallische feine Läuten des kleinen unscheinbaren borneanischen Laubfrosches: Wie ein Silberglöckchen diese Tierstimme, wie das feine Tönen der Glöckchen an Radscha Chi Apis Prachtgürtel. Aber Chi Apis Reich ist dahin, und mein Freund Chi jagt mit mir die Maias im Grenzgebiet von Sarawak mit Erlaubnis des weißen Fürsten Brooke. Alles, alles flutet im Leben. Nirgends gibt es Stillstand. Jeder Stillstand ist nur scheinbar. Alles ist dem ewigen Wechsel unterworfen, und aus Chi Apis Macht ward nebelhaftes Gedenken an Jahre des Glanzes.
– Wie war das doch damals vor Monaten, als Milo und ich Duzfreunde wurden? Von dem goldenen Rad hatte er mir erzählt und von dem Zeichen im Bambusgitterstab, das dem Anhänger glich …
Nein, nicht der Orang-Utan selbst hatte Milo den Zettel überreicht. Mein Freund Milo hatte nur in jenem Bambusgitterstab in einem Spalt das dünne weiße Röllchen Papier dicht unter dem Zeichen bemerkt und das Papier heimlich herausgeholt.
So war es gewesen, und uns beiden war es klar geworden, daß Anja diesen Affen und diesen Käfig den Dajak der Hauptwache in die Hände gespielt haben müßte. –
Von der Veranda unseres weißen luftigen Bambushauses führte eine Treppe zu einem Badehäuschen am Seeufer hinab. Wir badeten, frühstückten, – um uns her waren ein Dutzend eilfertige Diener und Aufpasser.
Gegen sieben Uhr abends erst wurden wir durch den Kommandeur der Leibgarde zu Seiner Hoheit Chi Api zum Souper befohlen. – Der Kommandeur war ein Holländer, war einer jener spurlos verschwundenen Beamten, die ausgezogen waren, den See Tapulat zu erforschen. Von ihm erfuhren wir, daß Chi als glänzender Diplomat diese gegen ihn ausgeschickten Spione unschwer für sich gewonnen hatte … „Der Radscha ist ein Genie in allem,“ betonte der sympathische Mann sehr respektvoll. „Wir Europäer, die wir uns nun mit zu diesem heimlichen Dajakreiche zählen dürfen, sind ihm treu ergeben. Wer wie er in zehn Jahren in diesem abgeschlossenen Gebiet, an diesem zauberhaften See die Anhänglichkeit und Dankbarkeit zahlloser Dajak erringt und Reichtum und Macht nur für alle ausnutzt, kann auch einem Weißen in kurzem zu der Überzeugung bringen, daß man hier besser der Allgemeinheit dient als in den anderen Teilen des niederländischen Kolonialbesitzes …“
– Das Abendessen in dem Prunksaal der dritten Etage der Pagode war vorüber, Chi schickte die Würdenträger und Dienerschaft höflich davon und führte uns auf die Terrassen hinaus zu einem behaglichen Plätzchen mit Korbmöbeln und einer summenden Mokkamaschine.
Er trug jetzt einen weißen Tropenanzug wie wir und dazu einen einfacheren Turban als einziges Zeichen seiner Würde.
Wir setzten uns, und Chi sagte, zum runden Monde still emporblickend: „Meine Freunde, als ich vor zehn Jahren hierher kam, waren diese Insel und der jetzt besiedelte Nordstrand des Sees nur eine Wildnis. Die einzelnen Dajakstämme befehdeten sich untereinander, und der König der Maias tat nichts, die Kopfjägerei zu unterdrücken … Ich brachte das Unmögliche fertig: Ich habe diese herzensguten Farbigen für meine Ideen gewonnen, und das Gold, das wir drüben in den Bergen waschen, hat uns nicht den Fluch der Entartung, sondern das Heil besserer Lebensbedingungen vermittelt.“
Chi schenkte den Mokka in die zierlichen Täßchen und fuhr fort: „Ihr werdet fragen, wer der Maiaskönig[17] ist. – Ich weiß es nicht.“ Er deutete nach Norden. „Dort etwa erhebt sich der Berg Tapulat … Fünfmal entbot mich der König zu sich, fünfmal erscholl aus dem Höhleneingang seine Stimme in reinstem Englisch. Er befahl mir dies und jenes, und auch der doppelte Bambuszaun gehörte zu seinen besonderen Wünschen. Er ist hier der eigentliche Herrscher, – ich bin nur sein Stellvertreter. Ihm verdanke ich meine Macht. Seine Macht ist uralt. In allen Sagen der Dajak spielt er eine Rolle, er ist unsterblich, und kein Dajak würde es wagen, gegen ihn feindlich aufzutreten. Ich möchte auch hier nicht all meine Vermutungen entwickeln, die ich über seine Person gehegt habe. Sie alle waren falsch. Noch keiner, betone ich, hat dieses Fabelwesen, das ein schneeweißer Orang-Utan sein soll, je am Tage gesehen. Nur nachts sollen ihn einzelne Dajak erblickt haben. Und das wird wohl so sein, – kein Dajak lügt, es sind Kinder ohne Falsch.“
Er schaute Milo an. „Kinder ohne Falsch, Freund Milo …“ betonte er noch ernster. „Sei auch du endlich ehrlich! – Weißt du, wo Jan und Anja sich befinden? Und wenn dem so ist: Woher weißt du es? Hoffst du, die beiden hier zu entdecken? – Ich erkläre dir feierlich: Ich suche sie, wie du es tust!“
Milo, Marchese Emilio Panzetti, legte seine Zigarre weg. „Chi Api, – dies fand ich in einer Spalte eines Bambusgitterstabes des Käfigs auf der Galerie des Gemeinschaftshauses der Hauptwache drüben am Flusse, dieses Papierröllchen.“
Er wiederholte Anjas Mitteilung.
„Es ist ihre Schrift, Chi Api. – Was würdest du tun?“
Chi umspannte nachdenklich die Stirn mit der Linken und nach einer Weile erwiderte er fast harten Tones: „Gut, wagt euch bis an das Gitter und den Baum … Aber wagt es nie, die Umzäunung zu überklettern. Es sind Tiger da, und der König der Maias hat zahllose Spione und zahllose Anhänger.“
Eine feurige Wolke kam über den See geschwebt und ließ sich in einer Palmenkrone nieder.
„Die Leuchtkäfer haben ihre Schwarmzeit,“ meinte Chi sinnend. „Ich … werde euch begleiten, meine Freunde, denn ich ahne dunkel, daß …“ – er führte den Satz nur durch eine ungewisse Handbewegung zu Ende und sprach wieder energischer: „Wir werden morgen die Dajakhäuser besuchen und auch die Schlucht, wo wir das Gold gewinnen. Wir nehmen nur Araro mit uns und werden um Mitternacht an der Buche sein.“ –
Es ist lange, sehr lange her, als ich einmal in irgendeiner Reisebeschreibung über Borneo von diesen dichten Schwärmen der Leuchtkäfer gelesen habe, – nirgend anderswo soll man diese Unmengen fliegender Laternchen antreffen.
Schwarmzeit also – wie die Bienen, – Paarungszeit, Liebestrieb. – Unruhe kommt da in alle Geschöpfe, der treueste Hund entläuft und folgt der Spur der Hündin, Katzen veranstalten nächtliche Jazzmusik, Elefanten bekämpfen sich um die Elefantin bis zum äußersten … Und hier kamen die glühenden Wolken ziellos über den See geschwebt, durchkreuzten die Strahlen des Mondes, schufen phantastische, unwirkliche leuchtende Gespenster und fielen lautlos in die Palmenkronen ein, wo sie sich – wie die Bienen – zu Klumpen zusammenballten.
Diese Nacht hier vor Chi Apis Pagode war und blieb meine erste und einzige, – ich ahnte es nicht, daß das Geschick alles, alles so jäh verwandeln würde – alles! –
Milo bedankte sich bei Chi. „Deine Begleitung wird uns wertvoll sein …“
„Sie ist notwendig,“ erklärte Chi mit allem Nachdruck. „Ihr beide würdet euch vielleicht zu Torheiten hinreißen lassen, und …“
Ein fliegender Hund, diese Riesenfledermaus mit den haarscharfen Zähnen, strich dicht über den Tisch hinweg im steilen Gleitflug und verschwand im Gebüsch.
„… Ja, wenn wir fliegen könnten,“ fügte Chi bedächtig hinzu … „Ich habe schon so oft im Stillen die Absicht gehabt – euch darf ich es anvertrauen –, das Geheimnis der Persönlichkeit dieses Maiaskönigs zu lüften … Ich … wagte es nicht, gegen sein Gebot zu handeln: Selbst meine Dajak würden mich gesteinigt haben, wie es alle Bergdajak mit Ehebrechern tun. Selbst Araro würde mir einen vergifteten Blasrohrpfeil in die Haut schießen, und – – hütet euch vor ihren Blasrohren, meine Freunde … Sie lieben die Weißen nicht, und der stille Haß, den sie gegen euch Farblose hegen, sprudelt aus uralten Quellen …“ Chi Api redete noch manches, was uns nicht viel klüger machte, uns jedoch stärkster Anreiz zu einem Abenteuer war, dessen folgen keiner von uns voraussehen konnte.
Nach Mitternacht trennten wir uns.
Milo hatte seinen Arm in den meinen geschoben, und langsam wanderten wir über die hellen Wege des Inselparks unserem Heim zu. Der Mond stand schräg über uns, und seine Strahlen blinkten auf den Läufen der Karabiner der Posten, die das Pagodenschloß – alle zehn Schritt ein Mann – bewachten. Die Dajaksoldaten kümmerten sich nicht um uns, und Milo sagte, als wir die Residenz hinter uns hatten: „Chi sorgt gut für seine Sicherheit, und ich bin doch wohl ein Narr gewesen, Chi ist einwandfrei.“
Die Palmen rauschten und knisterten im Nachtwinde, zuweilen schlug eine der an den Dachrändern hängenden Glocken leise an. Zuweilen löste sich eine der leuchtenden Trauben an den Palmenästen in tausende schwirrende Käfer auf und zog als schillernde Wolke weiter.
Wir kamen an den Wohnhäusern der Beamten und Diener und dann auch an den langgestreckten Gebäuden vorüber, in denen Chis Leibwache einquartiert war.
Milo blieb plötzlich stehen. An einer Hausecke lag im Baumschatten ein dunkler Gegenstand über dem Weg.
Es war der Kommandeur der Leibwache Chis, und er war tot. Der Messerstich im Herzen saß sehr gut, und die Hanfschlinge um den Hals war ebenso zuverlässig zugezogen.
Milo erhob sich vom Boden. „Was tun wir? Der Mann ist noch keine halbe Stunde tot.“
Er blickte umher und trat an das nächste Fenster. Es war vergittert und hatte Holzladen, die offen standen. Das Haus hier war ein kleines niederes Bauwerk und sah nach einem Gefängnis aus.
Milo fuhr mit der Hand über die eisernen Gitterstäbe.
„Durchsägt, Abelsen … Ich fürchte, Braxon ist entflohen. – Besinnst du dich auf Chi Apis Andeutung, daß er irgend etwas dunkel ahne? Er vollendete den Satz nicht, aber seine Stimme klang müde und schicksalsschwer, und ich fürchte fast, er rechnet mit einem heimlichen Gewaltstreich der Regierung gegen seine Person und sein Reich. Wissen wir, ob dieser Mynher Wieg nicht noch stärkere Polizeikräfte hinter sich hatte?! War es nicht äußerst merkwürdig, daß die Regierung Chi durchaus unbelästigt ließ, als wir Pontianak und Sintang mit der Dschunke passierten?! Der Haftbefehl gegen Chi war damals zweifellos schon unterzeichnet. Aber man wollte Chi in Padalara überraschen, man hoffte vielleicht, dort größere Mengen Goldes zu finden. Möglich, daß dieses Ekel von Wieg Vollmachten hat, die bedeutend weitgehender sind, als wir vermuten können. Scho Pani, dieser bebrillte Affe, hat seinen Teil an alledem. Er spionierte drüben am Flusse, und als er mir gestern seine Botschaft für Chi auftrug, hatte ich das scheußliche Gefühl, der bucklige Kerl mache sich über uns alle lustig. – Was tun wir? Wenn wir nur Chi allein sprechen könnten! Aber – wie zu ihm gelangen, ohne das dies auffällt?!“
Ich hatte ein Wachszündholz angerieben und leuchtete in den Raum hinter dem Fenster hinein. Es war eine Zelle. An der kahlen Wand gegenüber dem Bambusbett lehnten drei Gewehre.
„Milo, hilf mir, ich werde einsteigen,“ entschied ich mich.
In der Zelle lag auf dem Wandtischchen neben dem Wasserkrug aus rotem Ton ein Stück Baumrinde jenes birkenartigen Urwaldriesen, der außen hellgrau gefärbt und wie mit Wildleder überzogen aussieht. Die Dajak nennen diesen Baum Maki Sama, was so viel bedeutet wie Affenhautbaum. Diese Rinde wird ganz dünn geschabt, mit Tierfett behandelt und ergibt dann ein lederartiges, unzerstörbares Gewebe, mit dem auch die Türgestelle der Gemeinschaftshäuser überzogen werden. Die Malaien wieder benutzen den Stoff als Papier. Bei den Dajak käme diese Art Verwendung nicht in Frage, da sie keinerlei Schrift besitzen. All ihre Sagen, religiöse Traditionen und Einzelheiten über die Geschicke ihres Volkes vererben sich lediglich von Mund zu Mund.
Das quadratische Stück Maki Sama enthielt nun eine Menge eingeritzter und blau gefärbter Zeichen, die mir unverständlich blieben. Es war keine Bilderschrift, es waren vielmehr ganz eigenartige Buchstaben, die vielleicht an die lateinischen erinnerten.
Milo lehnte im Fenster.
„Was hast du da, Abelsen?“ fragte er leise. Er hielt in der Rechten seine Pistole, und seine Gesichtszüge waren gespannt, als wittere er unmittelbare Gefahren.
Ich zeigte ihm den „Brief“, und ich sprach meine Vermutung ehrlich aus. „Es kann eine Botschaft des Maiaskönigs sein. Die drei Karabiner dort an der Wand können den drei Soldaten gehört haben, von denen Braxon bewacht wurde, und die Soldaten mögen ihren Kommandeur auf allerhöchsten Befehl abgetan haben. Der Allerhöchste ist hier der Maiaskönig. Schau, Milo, – hier die Unterschrift des „Briefes“: Ein scharf eingepreßtes Stempelbild, das einen mit untergeschlagenen Beinen sitzenden Utan darstellt, dessen Haupt mit einem Turban umwunden ist, – in der rechten Hand hält der Utan ein genau zu erkennendes chinesisches Zweihänderschwert. Trifft meine Vermutung zu, so steht Braxon unter dem Schutze des Maiaskönigs, und Chi dürfte sich Seiner Affenmajestät erhabenen Unwillen zugezogen und …“
Milo war mit einem raschen Schwung in der Zelle.
„Es kommt jemand, Abelsen,“ flüsterte er. „Ich hörte den Kies knirschen … Wir hätten uns hier nicht aufhalten sollen. Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir auch ohne diesen Mord auf einem Vulkan tanzen … Ich sagte dir schon im Sampan, daß wir hier vielleicht allzu viel erleben werden. Manchmal erlebt man so viel, daß man daran stirbt. Doch ich möchte nicht sterben, bevor ich nicht weiß, wie Anja und ihr Vater … – still, es schleicht jemand ans Fenster, er muß den Toten schon bemerkt haben, – – in die Ecke dort.“
Wir standen regungslos mit klopfenden Pulsen. Auch meine Hand stahl sich in die Tasche. Wir hatten jetzt jeder zwei tadellose neue Brownings, Kleinformat, und diese unscheinbaren Kugelspeier haben noch stets mein Selbstbewußtsein erhöht. Mein Herz beruhigte sich wieder.
Ein kratzendes Geräusch draußen, dann schob sich ein Kopf herein. Ich sah das Profil gegen die Dämmerung der Sternennacht …
„Chi!!“
„Wie, – ihr beide, meine Freunde?!“
Er schwang sich durch die Öffnung in den Gitterstäben. Er trug noch den weißen Anzug wie vorhin, aber er hatte einen Gurt mit zwei Pistolen umgeschnallt und über der Brust einen Patronenriemen für seine kurze Sniderbüchse.
Ein leises Knacken, und aus seiner Hand schoß der weiße Kegel eines Leuchtstabes durch die Zelle und verharrte sekundenlang auf den drei Karabinern und noch länger auf dem Rindenbrief. Er huschte zum Tische, beugte sich über das Blatt und sagte dumpf:
„Es … ist aus, meine Freunde, und ich habe es vorausgesehen …“
Er starrte vor sich hin. Sein Gesicht zuckte. Schmerz, Wut, Enttäuschung gruben ihre Linien in seine Züge und milderten sich zu der ergreifenden Miene ungeheurer Bitterkeit.
„So hat meine Ahnung mich doch nicht betrogen,“ meinte er noch leiser. „Seit Stunden merkte ich in dem Verhalten meiner Dajak Veränderung. Araro ist fort … Wohin? – vielleicht droben zum Berge Tapulat …“
Seine Zähne schlossen sich mit hellem Knirschen.
„Nehmt die Karabiner … Seht nach, ob sie geladen sind,“ fügte er hastiger hinzu … „Unser Leben ist nicht einen Penny mehr wert, meine Freunde … Dies hier ist ein Befehl des weißen Menschenaffenherrschers und besagt, daß Braxon zu befreien und alle Europäer hier bis zum Morgen zu töten und ich … festzunehmen sei.“ Wieder schlossen sich seine Kiefer wie im Krampf … „Kommt, – wir müssen fliehen … Wahrscheinlich wollte man euch beide erst in eurem Bungalow ermorden, – wahrscheinlich werden wir beobachtet, und … vielleicht liegen draußen ein paar Dutzend Bergdajak mit ihren Blasrohren und …“
Milo packte Chis Arm. „Bleibe!“ sagte er rauh. „Es wäre Wahnsinn, wollten wir jetzt ins Freie hinaus …!“
Auch ich hätte dies verhindert.
„Milo hat recht, Chi … Übereilen wir nichts. Wenn die Dinge so stehen, kann uns nur List helfen.“
Wir fuhren auseinander.
Eine Schar Wespen surrte an unseren Köpfen vorüber und klatschte drüben gegen die Bambuswand: Blasrohrpfeile, – Stacheln der Stachelliane, vergiftet durch irgendein dick eingedampftes Teufelsgebräu von Giftwürfeln.
Wir traten gebückt in die Ecke. Es war ein Wunder, daß keiner von uns auch nur geritzt worden war.
Nun wußten wir, was wir zu erwarten hatten. Chi sagte heiser: „Ich wünschte, Mynher Wieg käme, – wenn er, wie ich vermute, für einen Angriff auf Tapulat gerüstet ist, wird er die Baumverhaue bereits gesprengt haben, und Scho Pani wird ihn hierher geleiten, und die Pestblume von Padalara wird die Expedition begleiten. Ich bleibe dabei: Braxon ist Pieter van Vanderoos.“ – Chi sprach mit eindeutiger Kürze. Den Rest konnte man sich ergänzen. „Die Baumverhaue hatten zuerst ihre Schuldigkeit getan,“ fuhr er in bitterem Groll fort. „Der Fluß bildet den einzigen Weg für die Wassermassen, die die Bergquellen stündlich dem See zuführen, und der Wasserstand des Sees war bereits um ein beträchtliches Stück gestiegen, ist jetzt jedoch wieder fast normal geworden, ein Beweis, daß die Stauwasser des Flusses irgendwie abgeleitet wurden, das heißt: Die Dämme der Baumstämme sind entfernt worden. Es muß so sein, und Wiegs Heeresmacht wird demnach sehr bald erscheinen. Die Verstärkung der Wachen um meine Residenz galt Wieg, und ich habe auch hundert Mann zur Flußmündung geschickt. Freilich, mit dem Eingreifen des Maiaskönigs rechnete ich nicht. Trotzdem: Besser mit Wieg verhandeln, als mit einem treulosen Dajak sich einlassen. Ich mag ihnen Unrecht tun: Sie sind von jeher daran gewöhnt, der Stimme des Berges Tapulat zu gehorchen. Vielleicht ist Treulosigkeit nicht der richtige Ausdruck. Ich war immer nur Vasall des Mächtigeren dort oben in der Höhle, und ich war immer nur sein Instrument. Aber es schmerzt tief, wenn selbst Araro sich von mir abwendet, und nur Araro und die ältesten Dajak, meine Minister, können diese Rindenbriefe lesen. Die Schrift ist des Maiaskönigs eigene Erfindung, und diese Schrift soll bereits hundert Jahre alt sein.“
Milo lachte hart. „Dein Affenkönig, Chi, ist ein schlauer Gauner, behaupte ich. Denke an die feinen Zigarren, die du ihm liefern mußtest! Ich kam durch Zufall dahinter, denn du rauchst zumeist nur Pfeife, Freund Chi.“
Draußen war es bisher still geblieben.
Jetzt aber ertönte Araros nur zu bekanntes, so angenehmes Organ …
„He – He – La La – he – –,“ leitete er ganz sanft die Verhandlungen ein. „Hier ist Araro, Chi Api, und hier sind die Dajak vom Berge Tapulat und deine eigenen Leute … Kommt heraus!“
Dieser einleitende Kopfjägerruf war hier recht angebracht. Nur war es von Araro etwas kindisch, uns für so unbegabt zu halten, seiner Aufforderung Folge zu leisten und uns durch Giftpfeile verunzieren zu lassen.
Die Seele Coy Calas, des Unvergeßlichen, erwachte in mir. Wir waren Blutsbrüder gewesen, und auch bei Coy bedurfte es starken Anstoßes, seine eherne Ruhe in freudige Kampflust zu wandeln.
Mein Blut pulste rascher. Nicht aus Angst. Das Leben gilt mir nicht viel. Wenn das Fatum mir bestimmt hatte, hier zu sterben, würde ich sterben.
Jene halb ironische, halb übermütige Abenteuerlust, die mich noch immer im rechten Augenblick zum kecken Waghals werden ließ, durchflutete mich mit dem heißen Feuer an der Freude der Gefahr.
„Komm herein!“ rief ich zurück. „Komm nur herein, Freund Araro, – he, he, La La, he …!!“ Und der Kopfjägerschrei hallte schrill in der Zelle wieder.
„Bravo!“ sagte Milo. „Immerhin, – legen wir uns besser lang auf den Boden … Die Kerle könnten schießen, und eine Bambuswand mit Lehm verputzt, ist nur ein Blatt Papier für ein Nickelmantelgeschoß.“
Chi flüsterte: „Freund Abelsen, ich bitte dich, – ich werde mit Araro reden. Man soll keinen Orang-Utan unnötig reizen, und meine Dajak sind Kinder, deren Launen unberechenbar bleiben.“
Araro meldete sich nicht. Wir lagen nun nebeneinander, und Milo zog das Bambusbett und den Tisch herbei und baute eine Barrikade an der Wand auf. „Es ist freilich so, als ob der Vogel Strauß bei Gefahr den Kopf in den Sand steckt …“ meinte er vergnügt. „Helfen tut’s nicht viel, aber es beruhigt die Nerven …“
Milo gefiel mir jetzt außerordentlich.
Wir warteten.
Draußen regte sich nichts. Meine Einladung an Araro war abgelehnt worden.
„Bambus brennt schwer an,“ sagte Chi nach einer Weile.
Er hatte eine äußerst rücksichtsvolle Art, eine neue Gefahr anzudeuten.
„Daran habe ich auch schon gedacht,“ erklärte Emilio Panzetti, Marchese und Steward a. D., mit einem schwachen Seufzer. „Aber Bambus brennt schließlich doch, mein lieber Chi, und wenn nicht gerade eins der hier alltäglichen Gewitter aufzieht und Feuerwehr spielt, werden wir unser Testament machen müssen, es sei denn, daß wir nicht vorher uns eine Kugel vor den Kopf knallen. Das Verfahren ist schmerzloser. – Riechst du auch den Brandgeruch, Abelsen?“
„Seit Minuten …“ – und ich schob mich mehr in die Mitte der Zelle hinein und lüftete die Bastmatten.
Das Gefängnis stand ebenfalls auf Eichenpfählen, die jedoch nur einen Meter hoch waren. Der Fußboden der Zelle war aus Brettern hergestellt. Ich kratzte mit der Messerspitze über die mit Karbolineum getränkten Dielen, und ich stellte so fest, daß es nicht etwa Eichen- oder Buchenbretter, sondern eine sehr weiche Holzart war. – In den Dajakländern verwendet man ungern Eisennägel, da sie zu rasch vom Rost zerfressen werden. Man benutzt Eichenpflöcke, die im Feuer gehärtet und in Teer gekocht sind.
Chi kam herbei. „Freund Olaf, ich glaube deine Absicht zu durchschauen … Die Dielen haben nur jede zwei Holzpflöcke als Nägel, und wir werden die Pflöcke sehr bald mit den Messerspitzen zersplittert haben. Es ist die einzige Möglichkeit, hier herauszukommen, und ich bin stolz, daß du daran gedacht hast.“
Der Brandgeruch steigerte sich, und Eile tat not. – Milo half. Wir arbeiteten im Liegen. Wir mußten zwei Dielen herausgehoben haben, bevor die Ostecke des Hauses – von Osten kam der Wind, und das Feuer war zweifellos dort angelegt worden – lichterloh brannte. Nur die unter dem Hause zwischen den Eichenpfählen herrschende Dunkelheit konnte uns retten.
Milo hob die erste Diele empor, und ich wuchtete die zweite hoch. Wir bemühten uns, geräuschlos zu verfahren, aber geringes Knarren und Quietschen der Bretter war nicht zu vermeiden.
Mit einer Spannung, die in unserer Lage begreiflich war, blickten wir in die Dunkelheit hinab. Unter dem Hause wuchsen Gras, Disteln, allerlei Unkraut und dichtes Buschwerk zog sich zu unserem Glück an den Seiten hin.
Chi glitt abwärts, Milo folgte, und ich als letzter hatte die Aufgabe, die Karabiner hinabzureichen, auch Chis Büchse und die Wolldecken des Bettes, deren dunkle Farbe unsere verräterischen weißen Anzüge umhüllen sollte.
Es waren Minuten größter Gefahr.
Wurden wir bemerkt, war es aus mit uns.
Chi kroch voran. Wir hatten uns die Decken umgehängt und sie vorn zugebunden. Sie behinderten uns stark, und dennoch wären wir ohne diese Tarnkappen niemals bis zum Seeufer gelangt.
Chi hatte die Richtung nach Westen gewählt. Zwischen den Palmen des Parkes sprangen wir von Stamm zu Stamm. Hinter uns knisterten und knallten die jetzt in voller Glut stehenden Bambuswände wie Gewehrfeuer. Gerade starke Bambuspfähle mit ihren luftdichten Stücken zwischen den einzelnen Knoten explodieren in der Hitze wie Kanonenschläge, und diese immer lebhafter werdende Kanonade war die Begleitmusik unserer Flucht.
Am felsigen Ufer angelangt, stieg Chi rasch in den See hinab, bückte sich und suchte irgend etwas. Er brachte eine unter Wasser verankerte Trosse zum Vorschein, wir halfen ihm ziehen, und dann wußten wir, was er damals gemeint hatte, als er von einem besonderen Wege sprach, den wir wählen würden, falls es nötig sei: An der Trosse war ein Zinkboot befestigt, das völlig geschlossen war und ebenfalls auf dem Meeresgrunde geruht hatte.
Chi Api sagte erklärend:
„Ihr seht, meine Freunde, ich war stets auf alles vorbereitet. Ich habe immer damit gerechnet, daß die Stunde kommen würde, wo meine Dajak nicht mehr mir, sondern dem Maiaskönig die Treue halten und mich verraten könnten. Alle Sampans der Insel sind jetzt entfernt, der See ist voller Krokodile, und nur dieses Boot kann uns auf das Festland bringen.“
Er drehte die Flügelschrauben des wie ein Faltboot gebauten Zinkfahrzeuges, und der mit Gummileisten versehene gewölbte Klappdeckel, der zugleich nachher die Sitzbretter abgab, löste sich rasch und enthüllte uns einen kleinen Motor sowie ein Paar Ruder, verschiedene Zinkkisten und wasserdichte schmale Gummisäcke.
In wenigen Minuten konnten wir vom Lande abstoßen. Ich ruderte, Chi und Milo hielten die Waffen bereit. Den Motor durften wir erst später benutzen.
Als wir aus dem Mondschatten der Palmen in den Silberglanz des Nachtgestirns hinausglitten, wurden wir bemerkt und heftig beschossen.
Chi setzte den Motor in Gang, wir jagten über den hellen See, – – und die Dajak hatten das Nachsehen, selbst die Verfolgung mit den Außenbordsampans war zwecklos, unser Boot lief schneller, und die Schießerei bewies nur, daß die Dajak Sauschützen waren, wie Milo ironisch bemerkte. Chi hatte auch nur Araros Büchse gefürchtet. Araro traf ebenfalls nicht, oder – er wollte nicht treffen. Ich konnte mir nicht denken, daß dieser intelligente Mensch wirklich so blindlings dem Affenkönig gehorchen sollte. Vielleicht hatte er nur zum Schein gegen uns Partei ergriffen. – Ich behielt diese günstigere Beurteilung Araros jedoch für mich, denn Chi und Milos Stimmung war nicht dazu angetan, selbst Araro mit Milde und Vorsicht einzuschätzen.
Wir steuerten südwärts, also der Flußmündung zu … Chi wollte den Sampans erst einmal aus Sicht kommen. Dann wollten wir beraten.
Ich blickte zur Zauberinsel, zur Residenz Chi Apis hinüber, und mir krampfte sich das Herz zusammen, als ich jetzt auch die Pagode in Flammen aufgehen sah.
Chi sprach kein Wort.
Sein Gesicht war aschgrau und seine Zähne zermalmten immer wieder unsichtbare Steine.
Milos Temperament, bisher durch mancherlei niedergehalten, erschöpfte sich in ironisch-grimmen Flüchen gegen die Dajaknarren, die sich von einem Gauner kommandieren ließen.
„… Ich werde dem Maiaskönig eine Visite abstatten, und meine Visitenkarte wird wohl Blei und Nickel sein …“ drohte er …
Chi stellte den Motor ab.
Fragte kurz und finster: „Was tun wir, meine Freunde?“
Die Antwort kam vom Flusse her.
Das Knattern eines Maschinengewehr ist unverkennbar. Mynher Wieg griff also die Wachen an, und die Lage für uns wurde kritisch. Nicht weniger als sechs vollbemannte Sampans mit Außenbordmotoren flüchteten vor der Kugelspritze in den See hinaus. Nun hatten wir vor uns Dajak und hinter uns Dajak, und zu allem Überfluß vernahmen wir von der Insel her noch das metallische Dröhnen der Messinggongs.
Milo sagte, indem er seine Büchse zur Hand nahm: „Die Sache wird kitzlich … – Ich sehe meinen aristokratischen Schädel schon als Trophäe im Rauch hängen …“
Die sechs Sampans vor uns breiteten sich fächerartig aus.
Wir waren eingekreist.
… Ich habe die Feder weggelegt. Ich war draußen vor unserer Bambushütte und habe vom Rande der Felsterrasse über den schweigenden Dschungel hinweggeblickt und die Erregung niedergerungen, die die Erinnerung an jene Nacht auf dem sagenhaften See in mir geweckt hatte. Selbst gute Nerven rebellieren, wenn das Gedächtnis, angefeuert durch die eilende Feder, die Ereignisse in aller Frische wieder aufleben läßt.
Friedvoll, voller Abwechselung war die Flußfahrt durch den Urwald zu Chi Apis fernem, sumpfumrahmtem Reich gewesen.
Dieses Reich zerbrach, die bunte Pagode mit den modernen Möbeln, den antiken Werten an Sammlungen aller Art ging in Flammen auf.
Borneo ist ein seltsames Land.
Vielleicht, sollte je dieses Gekritzel in schwarzen Lettern von hungrigen Augen satter Europäer überflogen werden – hungrig nach Sensationen, satt vom Einerlei des Alltags – vielleicht ist es mir gelungen, nicht nur mir allein das Bild der Rieseninsel in zarten flüchtigen Strichen zu zeichnen.
Vielleicht findet dieser oder jener einstmals Gefallen an dem Kopfjägervolke der Dajak, die, Kinder und blutdürstige Wilde zugleich, den Segnungen der Kultur ausweichen wie der Pest und nur das von den Geschenken der Zivilisation annahmen, was sie gerade brauchen konnten. Sie sind klug, und sie sind schlau geworden, durch die Ausbeutung malaiischer Fürsten von einst, – sie sind gerissen geworden durch die Nachfolger der Radschas, durch die Holländer … –
Ich schreibe weiter. Chi Api ist immer noch nicht zurück und lauert dem Orang-Utan noch immer auf.
Er hat Engelsgeduld.
Borneo ist ein seltsames Land.
Wenn im Baloi-Fluß in Sarawak die Flutwelle vom chinesischen Meere her vier, fünf Meter hoch zur Zeit des Vollmondes dahinschießt bis weit ins Innere und die Alarmsignale die Uferanwohner warnen, dann geschieht es oft, daß die Hyänen des Meeres, die glotzenden Haie, mit der Flutwelle bis in Nebenflüsse geraten und hier viel Unheil anrichten.
Chi hatte nichts davon gewußt, daß auch der heilige See Tapulat Haie barg.
Es war so.
Und wir waren eingekreist. Die Sampans rückten näher und näher, doch anderes mischte sich ein: Die Natur selbst empörte sich gegen die Undankbarkeit verblendeter Dajak, und das Gewitter, das im Nu gegen den Wind aufzog, schob schwarze Wolken über See, Insel und Land.
Gewitter.
Der Europäer liest in Reisebeschreibungen von der unheimlichen Gewalt dieser Gewitter. – Ich erlebte sie.
Es wurde finster – wie in einem Sack. Die ersten Tropfen fielen, die ersten Blitze fegten über das Firmament, der Sturm setzte ein, und die Wasser schwollen und wurden zu Wellen und Wogen …
Chi breitete eine Ölplane um uns her, und dann brach die Sintflut herein, dann tobten die Elemente gegen Mensch, Tier, Dschungel, kleine Boote …
Unser Zinkboot hüpfte, rollte, schlingerte …
Kanonenschüsse sprengten uns fast das Trommelfell, – Donner von der Stärke sprengt Fensterscheiben.
Es goß.
Das war nicht Regen. Das war ein Riesenstrahlrohr einer gigantischen Dusche mit fingerdicken Strahlen …
Wir duckten uns zusammen und zogen die Ölplane fest um den Leib und über den Bootsrand, damit wir nicht wegsackten.
Wenn die Blitzbündel niederschossen, sahen wir die Not der Sampanleute … Wie viele damals untergingen, weiß ich nicht.
Wenn die Dunkelheit auf uns lastete und der Regen uns peitschte, sahen wir im Süden den langen Lichtkegel eines Scheinwerfers: Mynher Wieg hatte sogar einen Scheinwerfer mit. Aber seine Flotte (es waren vier Motorkutter) traute sich nicht in die Mitte des Sees. Jeder hatte hier mit sich selbst übergenug zu tun.
Dann ereignete sich das Seltsame.
… Ich werde mir erst eine neue Zigarre leisten, bevor ich es wage, das zu schildern.
Das …
Der am Baumast hängende Chi war nur eine Episode.
Der Hai und der junge Chinese waren Sensation. – – Das Gewitter stand gerade über uns. Die Blitzgarben folgten in Pausen von vielleicht fünfzehn Sekunden, und ihre Leuchtkraft war um so intensiver, als der Regen mit einem Schlage aussetzte. Dafür blies der Sturm um so toller. Der See wurde zum Ozean, die Wogen hatten weiße Kämme, und weiß und klar und blendend war die Beleuchtung wie im grellsten Sonnenlicht, als jetzt Chi Api seitwärts deutete, wo eine umgeschlagene Nußschale von Sampan kieloben trieb und einige Meter weiter ein Mensch mit dem Tode rang.
… Ein Mensch, ein junger Chinese mit bartlosem Gesicht, gekleidet in einen weißen Tropenanzug, darunter ein weißes Hemd mit weichem, breiten Kragen, auf dem Haupte ein schwarzes Seidenkäppchen, – alles triefend, die Mienen verzerrt in gräßlicher Angst, die Schlitzaugen weit aufgerissen, – uns zuwinkend, vielleicht um Hilfe brüllend, vielleicht … denn der Orkan zerpflückt jeden Ton …
Chi ließ unser Boot vorwärtsschießen. Ich, eine Sekunde erstarrt durch das sonderbare Fischmaul, das da soeben die Wogen freigaben, packte den langen Bootshaken, der, zugleich Fischspeer, oben eine Messingöse an der Stange hatte.
Ich handelte wie unter einem Zwange ohne jedes Nachdenken … Jeder Gedanke wäre Versäumnis gewesen. Ich haschte die aufgerollte Leine, ich verknotete sie, ich stand auf, kreischte Milo zu, mit mir die Leine zu umklammern, – er verstand …
Da durchschnitt auch schon der grause Fistelschrei des Schmerzes und der Todesnot die jähe Stille …
Und wieder zuckten die Blitze nieder, blendender noch als bisher …
Milo hielt mich, ich stand aufrecht im taumelnden Boot, ich hatte von Coy gelernt Harpunen zu schleudern und die Leine klar zu halten …
Ein Hai hatte den linken Oberschenkel des jungen fremden Chinesen knapp gepackt – die Harpune flog, die Leine flog hinterdrein … und es ward finster …
Nur eins sah ich noch: Zwei hatten getroffen, der junge Chinese der Bestie in das linke Auge mit langem malaiischen Kris, – ich dem Untier in die Flanke, und – – meine Harpune saß … saß wie im fetten Rücken der großen Robben, die in den Gewässern am Gallegos sich getummelt hatten.
Ich fiel halb in das Boot zurück vom eigenen Schwung des rückschwingenden Armes. Milo, im Moment alles begreifend, zog die Leine ein, und Hai und Mensch kamen näher …
Neue Blitzbündel …
Chi Api war im Hechtsprung über Bord, – – wieder die grausame Finsternis …
Bilder im Film, wenn das Licht versagt und nur Teile des gleitenden Bandes wiedergibt.
Chi Apis Messer tat letzte Arbeit. Mochte die Bestie noch so wild mit dem Schwanze fechten und Wasserkaskaden hochschleudern: Ein Schnitt den hellen Bauch entlang, – die Zahnreihen lockerten sich, im Todeskampf öffneten sich die fürchterlichen Kiefer, und Chi reichte mir den bewußtlosen schlanken Fremden zu, während Milo die Harpune herausschnitt und der Hai dann versank.
Zwischen uns im kleinen Zinkboot lag auf der rasch wieder fest gezogenen Ölplane der Ohnmächtige. Sein linkes Beinkleid war zerfetzt, der halbe äußere linke Schenkel eine einzige blutende Wunde, aus der der Lebenssaft in feinen Strahlen stoßweise spritzte.
Chi riß sich das eigene Hemd vom Leib, riß einen der Gummisäcke hervor … Chi spielte Arzt, und sein Gesicht war grau, versteinert, seine Augen eingesunken und doch voll seltsamen Feuers.
Kinobilder bei versagender Stromzufuhr …
Ich half … In dem Gummisack war Verbandzeug, waren Flaschen, war alles, was wir brauchten. Der Schenkel wurde abgebunden, die Bißwunden mit Karbollösung gewaschen, Jod hineingedrückt, dann Jodoformgaze, dann ein kunstgerechter Verband.
Ob die Eiterung zu verhüten sein würde, die drohende Blutvergiftung?! Ich zweifelte daran …
Das Gewitter zog ab … Die Sterne funkelten wieder und wir waren Araros Gefangene.
Fünf Sampans umringten uns, dreißig Karabiner bedrohten uns.
Chi schaute nicht einmal auf. In seinem Schoße lag das fahle Haupt des halb Verbluteten, und Milo und ich verhandelten mit Araro, der kalt und unzweideutig unsere Waffen forderte.
Wir gehorchten.
Eine halbe Stunde später glitten die Nachen an der zerzausten Palmeninsel und an den rauchenden Trümmern der Residenz Chi Apis vorüber.
Chi schaute nicht einmal auf.
Chi hatte nur Augen für den jungen Chinesen, seinen Landsmann. In seinen Zügen waren die gramvollen Linien tiefsten Leides.
… Daß ich nicht sofort damals auf den Gedanken kam, der junge Fremde könnte Chis Sohn aus einer bisher verheimlichten Ehe sein, begriff ich später nicht. Auch Milo erging es so: Wir nahmen Chis Teilnahme für den Todwunden als übertriebenes Rassenzugehörigkeitsgefühl hin!
– Araro ließ uns am Ufer die Hände fesseln. Chi blieb unbelästigt. Wir wurden durch den Urwald in schnellem Marsche in die Berge geschafft. Der Fremde lag auf einer Bambusbahre. Bei Tagesanbruch erreichten wir ein hochgelegenes Gemeinschaftshaus, das vielleicht zweihundert Familien bergen mochte. Ich schätzte die Länge des zierlichen Pfahlbaus auf hundertachtzig Meter.
Hier wurden wir von Chi und dem Verwundeten getrennt. Man führte uns auf die offene Galerie und band uns an die Dachstützen aufrecht fest. Araro hatte sich nicht weiter um uns gekümmert, und Chi und die Tragbahre waren stets am Ende des Zuges geblieben. Das Verhalten der Dajak war bedrohlich genug. Man hatte uns mit Stößen und Hieben bedacht, in den Blicken der Wilden lag der unverhüllte Haß.
Milos Laune war tief unter den Gefrierpunkt gesunken. Er mochte an Anja und Jan van Vanderoos denken, – bisher hatte er noch gehofft, sie befreien zu können, jetzt betrachtete er mit düsterem Interesse die Bündel von Menschenschädeln unter der Decke.
Die Roheiten der Dajak hatten wir schweigend hingenommen. Jedes Wort der Empörung hätte uns vor uns selbst herabgesetzt.
Die Galerie lag nach Süden zu vor einer Baumlücke. Ich stand so, daß ich einen Teil der Insel und des Sees überblicken konnte. Ich sah im ersten Sonnenglanz Mynher Wiegs Motorkutter mit wehenden Flaggen über den See steuern. Die Luft war so klar, daß ich die Gestalten an Bord unterschied, als die Flottille näher kam. Ich bemerkte das Maschinengewehr, ich erkannte Antjes Schlankheit im Jachtdreß mit Südwester, neben ihr den bebrillten Pavian Scho Pani … Es wimmelte von bewaffneten Beamten auf den großen, gedeckten Kuttern, und Chis verborgenes Reich würde und mußte nun für immer unter das Regime so trauriger, gelbsüchtiger, ausgemergelter Kerle, wie Mynher Wieg einer war, gelangen und Steuern zahlen und seine Geheimnisse der verbissenen Ruhmsucht sogenannter ernster Forscher preisgeben, die doch nur stets eine Professur oder das Honorar für ein mit verfänglicher Bescheidenheit und streng wissenschaftlicher Nüchternheit geschriebenes Reisewerk am Heimatshorizont winken sahen und weder die Natur noch die Wilden mit ganzer Seele lieben, – – wie ich, – ich schreibe es getrost nieder: Wie ich!! Die sogenannte Bescheidenheit ist mir stets ein Greuel gewesen, und wer nicht ehrlich sagt „So bin ich, das will ich, und das war eine Tat!“, der sollte auf seinem Gelehrten- oder Büroschemel weiter in den grauen Alltag reiten und die Hände über dem Bauche mit zugehörigem Augenaufschlag falten und beten: „Gott vergib ihnen, denn leider wissen die ganz genau, was sie tun!“ –
Mynher Wieg war entschieden ein vorsichtiger Mann. Je mehr er dem Inselufer und der rauchenden und zum Teil auch noch brennenden Pagode näherrückte, desto schärfer lugte er durch sein Glas.
„Ganz interessant …“ sagte der Marchese Panzetti neben mir und nickte mir melancholisch zu. „Da ist ja auch deine Antje, Olaf, und der Obergauner Scho Pani … Feine Bande!!“
„Meine Antje?!“ – mein Ton war scharf. „Ich glaube, ich habe dir und ihr keinerlei Anlaß gegeben …“
„Stimmt, Olaf, stimmt haargenau: Keinerlei Anlaß! Aber sie liebt dich trotzdem, mein Freund. Mit den Weibern kenne ich mich leidlich aus …“
Um uns herum hockten sechs Dajakkrieger, etliche Weiber und ein dichter Kreis splitternackter Kinder. Die Wächter mischten sich nicht ein, verstanden auch kein Wort Englisch und flüsterten miteinander. Die übrige Schar beäugte uns wie vom Himmel gefallene Wundertiere. Wir waren zwar nicht die ersten Weißen, die sie sahen, aber wir waren zweifellos deshalb bedeutende Persönlichkeiten, weil wir demnächst, soweit der Kopf in Frage kam, irgendeinen Dachbalken einer Familienkammer zieren würden. –
Milos etwas unzarte, wenn auch nur scherzhaft gemeinte Bemerkung hatte meine Gedanken auf ein mir unbehagliches Gebiet gelenkt. Schon auf der Vanderoos-Plantage war mir unzweideutig klar geworden, daß ich Antje nicht gleichgültig war.
Und meine Empfindungen für sie?!
Schwer zu sagen …
Antje war fraglos ein Weib, das seine Reize hatte, und was ihren Charakter anging, teilte ich durchaus nicht Milos scharfes Urteil, der sehr bald jene eindeutige Redewendung von schöner Pestpflanze gebraucht hatte. – Das Mädchen war, falls John Braxon wirklich ihr Vater sein sollte, niemals mitschuldig an Anjas und Jans Entführung. Für sie galt ihr Vater für tot, verschollen mit seinem Fischdampfer in den isländischen Fischgründen. Ob sie ihn am Viktoria-Fluß als ihren Vater wiedererkannt hatte, bezweifelte ich gleichfalls, denn hiergegen sprach völlig eindringlich schon die eine Tatsache, daß Antje nichts dagegen eingewendet hatte, als Chi Api die drei Kerle durch schnelle Justiz abtun wollte. – Nein, wenn sie überhaupt bereits wußte, und dann wußte sie es als einzige mit aller Bestimmtheit, wer Braxon war, also ihr Vater, dann konnte sie dies erst auf der Plantage erfahren haben und zwar in derselben Stunde, als sie so verstört und erregt bei mir erschienen war und mich zu Chi Apis Station hatte schicken wollen. Mithin war auch ihre jetzige Anwesenheit drüben auf Wiegs Kutter durchaus zwanglos und nur zu ihrem Vorteil zu deuten. Sie wußte, daß Chi den Mann Braxon auf der Dschunke versteckt gehalten und dann durch Araro im Sampan nach seiner Residenz vorausgeschickt hatte. War es also ihr Vater, so mußte sie als sein Kind für sein Geschick zumindest die Teilnahme zeigen, sich Wiegs Expedition anzuschließen. –
Es drängte mich, all dies auch Milo vorzutragen und Antje reinzuwaschen, daß ich mit dieser Verteidigerrolle gegen mein Prinzip „Hände weg von fremden Dingen, meine Hände weg!“ verstieß, fiel mir im Augenblick nicht ein.
Ich kam nicht dazu, diese Rede für das blonde Mädchen zu halten, denn die Vorgänge auf dem See, der schräg unter uns glitzerte und jetzt so harmlos wie jeder Binnensee war, lenkten mich jäh ab.
Jäh begann es hinter den Uferbüschen und Palmen der Radschainsel zu knattern. Eine große Kaffeemühle wurde dort gedreht, und der Inhalt waren Steine scheinbar.
Auch die Dajak hatten ein Maschinengewehr, Mynher Wieg befand sich in der übelsten Lage, da gleichzeitig vom Südufer her einige Motorsampans nahten, die ebenfalls Kugelspritzen an Bord hatten.
Milo sagte nur, als nun die ganze braune Gafferschar aufsprang und an den Rand der Galerie trat: „Wenn ich jetzt noch mein Messer im Ärmel hätte, wie am Viktoria, wären wir sehr bald frei.“
„Und sehr bald giftpfeilgespickt,“ ergänzte ich.
Mynher Wieg suchte mit seinen Kuttern nach Westen durchzubrechen, und das Seegefecht zog sich nach einer Stelle hin, die nicht mehr in meinem Blickfeld lag.
Ein einziges Dajakmädchen war abseits an der Hauswand hocken geblieben. Die Ärmste litt an jenem Hautausschlag, der auf den Mangel salzhaltiger Kost zurückgeführt wird, am Kurab. Die mit Kurab Behafteten sehen wie am ganzen Körper tätowiert aus, und da die Haut den braunen Farbstoff verliert, gleichen sie durchaus Europäern, die an Schuppenflechte leiden.
Kurab soll nicht anstecken. Trotzdem darf kein Kurableidender heiraten, und die tiefe Melancholie in den dunklen Augen des Dajakmädchen war verständlich, zumal sie eine tadellose Figur und sehr regelmäßige Züge besaß. Man findet diese Krankheit unter den Dajak sehr oft. Sie ist leicht heilbar, aber da das Salz hoch besteuert wird und schwer ins Innere transportiert werden kann – infolge der feuchten Luft –, war selbst in Chi Apis Reich die Zahl der Kurabkranken recht groß. – An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, daß die Dajak als sehr putzsüchtige Leutchen sich die Schneidezähne kurz feilen, schwärzen und mit Goldplättchen schmücken, so daß es aussieht, als trügen sie Goldplomben. Übrigens ist Hautfarbe und Gesichtsschnitt der Dajak auch sehr verschieden. Es gibt einige Stämme, die mehr olivengelb als braun sind und ganz unmerklich vorstehende Backenknochen haben. Andere wieder haben fast Negertyp. Die Augen stehen bei allen völlig gerade, sind groß und dunkel und von ruhigem sinnenden Blick, und häufig ist die dunkelbraune oder rehbraune Iris von einem rötlichen Hofe umgeben, für den bisher kein Gelehrter eine Erklärung gefunden hat. –
Das Geknatter auf dem See hielt an, entfernte sich jedoch allmählich und verstummte schließlich. Mynher Wieg hatte eine üble Schlappe erlitten, wie ich später erfuhr, und von seinen Leuten kehrte nicht einer zurück. Wiegs geräucherter Kopf hängt wahrscheinlich in Araros Pintus. Ob die Niederländer diese Schlappe rächen werden, weiß ich nicht. Ob der See Tapulat jetzt von ihnen erobert ist, entzieht sich ebenfalls meiner Kenntnis.
Chi und ich leben zurzeit ohne Telephon, Radio und Zeitungen. Ich glaube jedoch nicht, daß Chis einstiges Reich so leicht zu unterwerfen sein dürfte, denn das eine weiß ich: Der Maiaskönig herrscht dort noch immer und wird herrschen und sich niemals vor den Kugelspritzen fürchten und sicherlich die Sümpfe und den Fluß völlig gesperrt haben. – Über diesen Affenkönig werde ich nachher reden, so weit ich es darf und kann. Chis Mitteilungen waren spärlich und behutsam, und meine eigenen Schlußfolgerungen behalte ich für mich. Die poetische Sage von dem weißen, uralten Orang-Utan ist zu schön, als daß ich sie durch nüchterne Erwägungen zerstören möchte. –
Es war zehn Uhr vormittags, als ein Krieger uns die linken Hände losband, uns Reisschnaps, verdünnt durch Kokosmilch, zu trinken gab und uns jedem den gebratenen Schenkel eines Hundes hinhielt.
Daß es Hundebraten war, hörten wir erst nachher. Und das war gut. Ich hätte sonst verzichtet, zumal die Dajakhunde fast sämtlich an Räude leiden und fett wie die Schweine sind.
Nach dieser Henkermahlzeit führte man uns die Treppe (den eingekerbten Baumstamm) hinab vor das Haus auf den Platz des Gerichts, unter uralten Buchen auf eine Lehmtenne vor die Ältesten und Araro, der hier offenbar das Oberhaupt aller war, denn er hockte noch vor den Greisen, hinter diesen saßen die Krieger im Halbkreis, es mochten fünfhundert sein.
Große Tongefäße mit Reisschnaps, aus denen die Wilden eifrig mit reich geschnitzten Kokosschalen den berauschenden Trank schöpften, paßten wenig zu den dicht dabei aufgereihten fünf toten Dajak, den Gefallenen des Seegefechts.
Nachdem wir vor Araro hatten niedersitzen müssen, brachte man auch Chi herbei, jedoch ohne Fesseln. Er nahm rechts neben mir auf dem fettigen Lehmboden Platz.
Und dann – es durchfuhr mich wie ein Schlag – nahte Antje Vanderoos von links her, wo eine der Vorratshütten stand. Chi hatte uns nur mit einem leisen: „Ein schlechtes Wiedersehen, meine Freunde“ begrüßt. Antje, die hochaufgerichtet dahinschritt, stutzte bei unserem Anblick und wurde leichenblaß. Ihre Blicke suchten die meinen, und ihre Augen sagten mehr als Worte. Halb taumelnd wankte sie näher, die beiden Krieger schoben ihr einen Baumklotz als Sitz hin, sie aber rollte ihn neben mich und setzte sich und weinte still vor sich hin.
Die Gerichtsbarkeit der Dajak ist schlicht und doch würdig. Diese Wilden, denen Ehebruch, Diebstahl und Lüge so gut wie fremd sind und die trotzdem zuweilen vom Blutrausch gepackt werden und den Schädel des getöteten Feindes als kostbarsten Besitz schätzen, haben jenes primitive Gerechtigkeitsgefühl aller geistig hochstehenden Naturvölker. Im schroffen Gegensatz zu den diebischen, lügnerischen, verderbten Malaien beschränken sie ihre Strafen auf drei Arten: Hergabe eines Teiles des Eigentums, Steinigung bei Schwerverbrechen und Eheverbot. In ganz seltenen Fällen wird ein Mörder enthauptet. Den Henker spielt dann der nächste Angehörige des Ermordeten, und natürlich wird der Mörderkopf Eigentum des Henkers. – Dies alles bezieht sich nur auf die wilden Dajak, die nur dem Namen nach holländische Untertanen sind.
Araro betrachtete uns vier Angeklagte mit sinnendem Blick und rauchte dabei ebenso gelassen seine Tonpfeife.
Chi Api wieder sog an einer Zigarette und musterte seine bisherigen Minister und Getreuen mit finsteren Augen.
„Bitte – anfangen!“ sagte er dann zu Araro.
Araro legte die Pfeife weg und zog aus dem Gürtel einen zusammengerollten Rindenbrief hervor und warf ihn Chi in den Schoß.
„Vom weißen König von Tapulat,“ erklärte er dabei und verneigte sich, bis seine Stirn die Erde berührte, und alle Dajak taten dasselbe.
Chi begnügte sich mit einer schwachen Verbeugung und rollte das Rindenstück auf, las den Inhalt und warf es Araro wieder zu, erhob sich langsam, trat vor, kniete nieder, schlug seinen Jackenkragen zurück und beugte den Kopf wagerecht.
Antje schrie gellend auf. Ihre Hände umklammerten mich …
„Er … soll geköpft werden!“ stöhnte sie, und halb bewußtlos glitt sie mir an die Brust.
Zwei Dajak trugen ein qualmendes flaches Gefäß mit glühenden Holzkohlen herbei, über dem ein zweihändiges chinesisches Schwert lag. – Auch in China wurden früher Hinrichtungen nur mit angewärmten Schwertern vollzogen.
Dann kam ein riesiger Dajak von Negertyp herbei. Er nahm das Schwert und trat neben Chi, der mit unbegreiflicher Kaltblütigkeit den Todesstreich erwartete.
Mir wurde es heiß und kalt.
„Araro!“ rief ich empört, „ist das euer Dank für …“
„Der König befiehlt,“ – und Araro schaute zur Seite.
Der Henker hob das Schwert …
Mit einem Male war Milo auf den Beinen. Wie er es fertig gebracht hatte, seine Handfesseln los zu werden, hat er mir nie erklärt. Wir hatten keine Zeit mehr, Einzelheiten zu erörtern. Die Ereignisse überstürzten sich, und als erster stürzte der baumlange Henker, der offenbar vom Boxen keine Ahnung und den Schlag auf die Herzgrube nicht richtig einschätzte, – nachher wird er es wohl getan haben.
Emilio Marchese Panzetti war sichtlich in Stimmung und gut bei Kräften. Als er mit der Linken das Schwert aufhob, packte er gleichzeitig Araro beim Genick und schleifte den völlig Überraschten zu unserem Platze hin, drückte ihn dort nieder und hob nun seinerseits das Schwert und nickte den anderen Dajak vielsagend zu.
Die saßen wie hypnotisiert und als dann Chi Api sich erhob, seine Beinkleider abstäubte und in die Taschen faßte und zwei niedliche Browning zum Vorschein brachte und der Versammlung etwas in der Dajaksprache zurief, rührte sich bei den Hunderten keine Hand mehr.
Chi zerschnitt meine Fesseln, gab mir die Pistolen und raunte Antje rasch etwas zu. Das Mädchen blickte mich scheu an, errötete tief und setzte sich auf den Baumklotz.
„Freund Olaf,“ sagte Chi und lächelte seltsam, „mein Kopf war auf meiner Schulter so sicher wie es der deine ist … Ich mußte meinen Leuten nur beweisen, daß ich den Tod nicht fürchte, und das Andere … hätte sich dann von selbst ergeben.“
Araro saß mit ziemlich unglücklichem Gesicht zwischen uns. Im Grunde tat er mir leid, denn Milos Miene hätte auch den Beherztesten einschüchtern können.
Chi eilte dem Hause zu, wo man für den jungen Kranken durch Matten zwischen den Eichenpfählen ein besonderes Gemach hergestellt hatte. Chis Absicht kannte ich nicht, – ich war nur darüber erstaunt, daß die Dajak so gar keinen Versuch machten, uns schleunigst ihre Übermacht zu beweisen. Dabei waren sie sämtlich bewaffnet, die meisten mit Gewehren, Karabinern, Büchsen oder Pistolen. Sie alle zu beobachten, war unmöglich, – ein paar heimliche Schüsse, und wir wären erledigt gewesen. Gewiß, ich tat mein Bestes, die Gesellschaft in Schach zu halten, und Milo mit dem Henkerschwert und der geduckt dasitzende Araro mochten gleichfalls eine stark besänftigende Wirkung ausüben.
Dann kam auch schon Chi Api zurück, den fremden jungen Chinesen wie eine leichte Last, wie ein Kind in den Armen tragend.
Es freute mich, daß Antje mit zugriff und Chi half, den bleichen Jüngling recht sanft auf den Boden niederzulegen und seinen Oberkörper gegen den Baumklotz zu stützen.
Chi lächelte dabei den Kranken geradezu zärtlich an, und dieser ließ die matten Augen nicht von dem blatternarbigen Gesicht seines Retters, behielt nachher seine Hand umklammert und zog ihn neben sich.
Milo betrachtete diese Szene mit einiger Mißbilligung.
„Was soll der arme Teufel hier, Chi?! quälst ihn nur … Er muß Ruhe haben.“
Der junge Chinese lächelte jetzt gleichfalls. In reinstem Englisch erwiderte er anstelle des gerügten Chis:
„Mr. Milo, Sie werden hören, was ich den Dajak mitzuteilen habe … Chi Api ist das Opfer eines frechen Betrügers geworden, und auch die Dajak sind zu entschuldigen. Beide Botschaften, die der weiße König schickte – angeblich schickte, – waren Fälschungen. Erst als die Flammen der Pagode hochleckten, sandte mich der Herrscher der Maias vom heiligen Berge in das Tal, damit ich feststellte, was hier am See vor sich ging. Ich kam zu spät, das Unheil war bereits hereingebrochen, und bei dem Versuch, Chi auf dem See zu finden, wurde ich ein Opfer des Haifisches und konnte auch dann noch eingreifen. Jetzt ist meine Zeit gekommen …“ Er blickte Araro an, und langsam schob er mit der Linken das fest aufgedrückte Seidenkäppchen weiter zurück und hob es dann völlig ab.
Milo hatte das Schwert sinken lassen, denn Araro kroch jetzt auf allen Vieren zu dem Kranken hin und warf sich flach vor ihm nieder und drückte die Stirn auf den Boden.
Erst das eigentümliche Geräusch, das derselbe Kotau all der Hunderte von Dajak, die schleunigst dem Beispiel Araros folgten, notwendig hervorrief, ließ mich den Kopf wenden. Sämtliche Dajak lagen flach auf dem gestampften Lehm, und dieses Bild wirkte so komisch, daß ich zweifellos zumindest sanft gegrinst hätte, wenn nicht des Kranken eigenartige Frisur meine Blicke rasch wieder abgelenkt hätte.
Der fremde Jüngling trug den Kopf rasiert bis auf eine einzige schneeweiße Strähne, die man ziemlich dicht an der Mittelstirn hatte stehen lassen.
Milo schaute mich an und schüttelte den Kopf, – Antje war genau so sprachlos, nur Chi saß würdevoll da und streichelte die Hand des jungen Chinesen, der nun zu den Dajak in ihrer Sprache redete. Seine Stimme war laut, dennoch weich und voller Güte, und seine Augen bekamen Leben, je stärker er einzelne Worte und Sätze betonte. – Chi nickte zuweilen, als ob er den Worten beipflichtete, zuweilen rief er auch einen einzelnen kurzen Satz dazwischen, und als der Jüngling dann etwas erschöpft schwieg und die ganze liegende Dajakschar nun auf ihn zuzukriechen begann, erhob er sich und reckte den Arm aus und rief noch ein paar Sätze, die ich nur dahin deuten konnte, daß er nicht gewillt sei, die Vorgänge der Nacht seinen bisherigen Untertanen zu verzeihen. Sein Gesicht flammte vor Empörung, und das Lachen verging mir, als er nun noch Milo das Schwert aus der Hand riß und Araro einen flachen Hieb über den Rücken damit versetzte und dann das Schwert mitten unter die wie erstarrt am Boden verharrenden Dajak schleuderte.
Chi hat mir später diese eindrucksvolle Szene näher erklärt. Ich will nur andeuten, daß Chi Api, wenn es sein Wille gewesen wäre, aufs neue den Radscha von Tapulat hätte spielen können. Die Unterwerfung der Aufrührer, ihre Reue und ihre Bitte, Chi möge die Herrscherwürde wieder annehmen, hatten sie symbolisch durch das geschlossene Vorwärtskriechen zum Ausdruck gebracht. – Chis ablehnende Worte waren eine Anklagerede gegen die gewesen, von denen zehn lange Jahre herzlichsten Einvernehmens so jäh vergessen worden waren, und zum Schluß hatte er erklärt, es sei Pflicht der Dajak gewesen, dem weißen Maiaskönig sofort nach Empfang des ersten Rindenbriefes durch eine Abordnung klar zu machen, daß seine Befehle unmöglich befolgt werden könnten, – dann wäre auch sofort an den Tag gekommen, daß die beiden an Araro gerichteten Briefe Fälschungen waren. –
Chis Verhalten den Dajak gegenüber war verständlich. Er konnte zu ihnen kein Vertrauen mehr haben, die aus edelsten Stoffen gewebten Bande, die ihn und seine Dajak bisher miteinander verknüpft hatten, waren in Flammen und Asche aufgegangen.
Weniger verständlich war mir seine Gesamtstimmung, die trotz der bitteren Enttäuschungen sehr bald nach dieser Rede wieder dasselbe glückliche Lächeln um seine dünnen Lippen zauberte. Dieses Lächeln galt dem fremden Jüngling mit dem seltsamen weißen Haarschopf. – Wer war der Jüngling, woher nahm er die Macht, die Dajak so schnell von ihrem verfehlten Aufbegehren gegen ihren Radscha zu überzeugen?!
Aber gerade diese weiße Skalplocke auf dem kahl rasierten Jünglingskopf deutete mir eine enge Verbindung zwischen ihm und dem Maiaskönig sofort an. Chis spätere Aufschlüsse hierüber waren nur eine Bestätigung meiner Vermutungen.
Nachdem das Schwert zwischen die am Boden verharrenden Dajak niedergefallen war, machte Araro, indem er sich auf die Knie erhob, noch einen letzten Versuch, Chi umzustimmen. Er sprach in flehendem Tone, und seine Gesten waren so eindrucksvoll, daß ich seine Worte unschwer erraten konnte. Zuletzt wandte Araro sich an den Jüngling und bat offenbar um dessen Vermittlung. Araros edle Züge waren in ihrer seelischen Zerwühltheit fast ergreifend. Er verteidigte sich, er wies auf den eingepreßten Stempel, den der Rindenbrief als Unterschrift trug, und in jäh aufloderndem Zorn gegen den Fälscher der beiden Botschaften zerriß er das Rindenstück und schleuderte die Fetzen von sich.
Der Jüngling mit den auffallend beherrschten Zügen und den ruhigen, sinnenden Augen schien darauf für die Dajak zu sprechen. Doch Chis wieder zu eherner Maske erstarrtes Gesicht und sein energisches Kopfschütteln ließen auch diese Vermittlung erfolglos enden.
Traurig und bedrückt stand Araro auf, verneigte sich nochmals vor Chi und schritt zu seinen Landsleuten hin. Lautlos und scheu entfernten sich die Krieger, und nach wenigen Minuten waren wir Europäer und die beiden Chinesen allein. Die Dajak hatten auch ihre Toten mitgenommen. Wir waren allein, – – und es gab kein heimliches Fürstentum Tapulat mehr, nur noch das geheimnisvolle Königreich des weißen Affenherrschers. – Wenn ich heute nach so vielen Wochen an diese Szenen zurückdenke, empfinde ich abermals dasselbe tiefe Bedauern über diesen traurigen Ausgang eines beklagenswerten Mißverständnisses, das durch die Heimtücke eines verkommenen Menschen heraufbeschworen wurde. Ich hatte Chi Api in dem Glanze seiner Macht gesehen, ich war Zeuge gewesen, wie jubelnd ihn die Flußwachen begrüßt hatten, ich hatte die Säle der Pagode durchschritten und den stillen Zauber der Palmeninsel genossen. – Von alledem war nichts mehr übrig geblieben. Der Radscha von Tapulat war wieder der schlichte, höfliche Chi Api geworden, die Pagode war ein qualmender Trümmerhaufen, die Palmen hatte der nächtliche Gewitterorkan arg zerzaust und – – Mynher Wiegs und Scho Panis Köpfe und manche anderen Schädel noch würden den Dajak hier eindringlichste Erinnerung an Tage ihres Glanzes bleiben. –
Eine geraume Weile saßen wir fünf still und stumm beieinander. Chi … lächelte den Jüngling an, hielt seine Hand und bedeckte sein Haupt behutsam mit dem schwarzen Käppchen, so daß die weiße Strähne wieder unter der blanken Seide verborgen war.
Dann sagte er mit leicht vibrierender Stimme:
„Meine Freunde, ich bin ein gläubiger Buddhist, und ich habe Buddhas Schickungen stets mit Demut hingenommen. Als ich zwanzig Jahre zählte und noch in Sintang mit allerlei Dingen Handel trieb, wählte ich mir ein Mädchen meines Volkes zum Weibe. Sie war klug und gehorsam und fleißig und gebar mir einen Sohn, starb jedoch nach der Geburt, und ihr Grab befindet sich in einem Gewölbe meines jetzt niedergebrannten Schlosses.“ Sein Blick schweifte nach Süden. Dort lag die Palmeninsel. Von hier aus war sie nicht zu sehen. – „Ich ließ die Leiche meiner Frau in dem kostbaren Eichensarge, der noch immer viel zu schlecht für die edle Hülle ihres Leibes gewesen, vor sechs Jahren heimlich aus Sintang hierher schaffen. Meines Weibes Grabmal in den Kellern der Pagode hat niemand außer mir betreten, seitdem der Sarg dort aufgestellt wurde. – Der Sohn, den sie mir geschenkt, war ein zartes Kind mit vollem Haar. In diesem Haar lag eine einzelne weiße Strähne, und sie blieb weiß, und die Nachbarn in Sintang sprachen viel und oft über diese merkwürdige weiße Haarsträhne. Meine Geschäfte riefen mich immer wieder an entfernte Orte. Nach einem Jahr fand ich bei meiner Rückkehr nach wochenlanger Fahrt die Pflegerin meines Kindes in tiefster Trauer vor. Mein Sohn war verschwunden, und all meine Nachforschungen nach seinem Verbleib hatten keinerlei Erfolg. Der Schmerz über diesen neuen Verlust milderte sich mit der Zeit. Ich wurde in Padalara Stationsbeamter, ich wagte mich in die unbekannte Wildnis des Nordens hinein und ward Radscha von Tapulat. Mein Freund Jan van Vanderoos hatte mich bei diesen ersten Forscherfahrten oft begleitet. Aber auch ihm verschwieg ich nachher, daß ich den sagenhaften See Tapulat und den heiligen Berg der Dajak gefunden und dort ein Fürst geworden war. Die Einsamkeit meiner Station gestattete mir, oft monatelang wegzubleiben. Nur so konnte ich diese Doppelrolle durchführen. – Dann kamen Anja und Jan angeblich auf dem Kapuasstrom ums Leben, und Antje erschien auf der Vanderoos-Plantage als Erbin.“
Er blickte Antje sanft an. „Blume von Padalara, ich war dir ein doppelzüngiger Freund … Ich hatte Bilder bei dir gesehen, die mit dem Manne Braxon Ähnlichkeit hatten, und ich mißtraute dir.“
Antje erbleichte und senkte den Kopf.
„Chi,“ erklärte sie leise, „ich schwöre dir, daß ich erst nach unserer Rückkehr nach der Plantage erfuhr, daß Braxon mein Vater ist.“ Ihre Stimme schwankte, ihre Hände zitterten, und noch tonloser fügte sie hinzu: „Mein Vater hatte sich in den Jahren, seit ich ihn nicht gesehen, sehr verändert. Ich erkannte ihn am Viktoria-Fluß nicht, und er gab sich mir auch nicht zu erkennen. Als die Dschunke dann vor der Plantage ankerte, sah ich, daß aus einem Fenster des Vorschiffes eine Flasche ins Wasser geworfen wurde, ich sah hinter dem Fenster Braxons bleiches Gesicht, er nickte mir vielsagend zu, ich fischte die Flasche heraus und fand darin einen Zettel …“
Sie hob den Kopf und ihre feuchten Augen suchten die Chi Apis.
„Chi, was ich gelitten, als der Zettel mir die furchtbare Wahrheit enthüllte, weiß nur ich. Braxon ist mein Vater, – und mein Vater hat seinen erfolgreicheren Bruder Jan stets gehaßt. Mein Vater war ein Trinker und Spieler, – mein Vater ist … ein Verbrecher. Sein Dampfer ging unter, er allein rettete sich und wandte sich hier nach den Sunda-Inseln, um dem Bruder die Früchte arbeitsreicher Jahre zu rauben. – Seine Beichte auf dem mit Bleistift bekritzelten Zettel deutete alles nur an. Um Jan und Anja verschwinden zu lassen, suchte er mit dem Maiaskönig in Verbindung zu kommen. Hierbei war ihm von Vorteil, daß er im Haupthaar eine schlohweiße Strähne hatte, und offenbar gilt diese Eigentümlichkeit dem Affenherrscher sehr viel. Mein Vater verstand es, den Maiaskönig irgendwie davon zu überzeugen, daß mein Onkel Jan die Absicht hegte, das Gebiet von Tapulat käuflich zu erwerben. So wurden denn Anja und Jan mit Hilfe der Getreuen des weißen Menschenaffenkönigs überfallen und am Abhang des heiligen Berges irgendwie eingekerkert. Nur wenige wußten hiervon, nicht einmal du oder Araro, der doch ein Vertrauter des weißen Herrschers ist. – Der Zettel verlangte von mir, ich solle meinen Vater befreien. Nachdem ich ihn kaum gelesen hatte, sah ich, daß von Chis Leuten drei große Bündel von der Dschunke in einen Sampan verladen wurden. Ich eilte in meiner Not zu Mr. Olaf und bat ihn um Hilfe. Er lehnte ab, Araro hatte uns belauscht, und Mynher Wiegs Erscheinen warf all meine Pläne um. Ich schloß mich der Expedition Wiegs an, um meinen Vater aus deinen Händen zu retten, o Chi. Ich bin ja sein Kind, und ein Kind ist nachsichtig und verzeiht alles und hat heilige Pflichten. Wieg ist tot, Scho Pani ist tot, der mich während der Flußfahrt beständig mit unklaren Andeutungen quälte. Er wußte mehr als ich, früher als ich, wer John Braxon war. – Ich lebe, Chi, – ich wünschte, ich lebte nicht, denn ich weiß, wer die beiden Botschaften gefälscht hat: Mein Vater, – um dich zu vernichten!“
Sie weinte still.
Chi nahm ihre Hand. „Blume von Padalara, – weine um einen, der gestorben ist … dein Vater … ist tot.“
Antje fuhr hoch, – mit leisem Aufschrei sank sie mir in die Arme, umklammerte mich, suchte bei mir Trost in ihrem unermeßlichen Leid …
Sie war stark auch im Leid. Sie löste sich aus meinen Armen und blickte den Jüngling lange an.
„Du bist Chis Sohn,“ sagte sie flehend. „Du bist ein heilig Gezeichneter durch deine weiße Strähne, du stehst dem Maiaskönig nahe. – Wann und wie starb mein Vater?“
Der Jüngling mit den durchgeistigten Zügen und dem in sich gekehrten Blick erwiderte gütig:
„Ich bin Chi Apis Sohn, ich bin Chi Maia, Sohn des weißen Königs, dessen Antlitz nur die schauen dürfen, denen …“ – er brach ab … „Dein Vater, Blume von Padalara, trieb ein falsches Spiel mit allen. Es erschien ihm zweckmäßig, sich mit Jan van Vanderoos gut zu stellen und ihn zu befreien. In dem Sampan Araros überredete er einen Ruderer, ihm beizustehen. Dieser Krieger schickte sein Weib voraus und ließ von Anja den Brief für Milo schreiben und in den Käfigstab einklemmen. Derselbe Krieger verschaffte ihm die Rindenstücke und alles andere zu der Fälschung der Botschaften, nehme ich an. Jedenfalls hat der weiße König und seine Getreuen deinen Vater nach dessen Flucht dabei überrascht, wie er Anja und Jan über den Tigerzaun schaffen wollte. Das war kurz vor dem Brande der Pagode.“
Chi Maia schwieg. Seine schmale Hand legte sich sanft auf Antjes Schulter. „Blume von Padalara, dein Vater starb durch die Tiger … Er war ein Verirrter, aber der Tod macht alles wieder gut, alles … Beweine ihn als einen Tapferen, der dem Tode ruhig ins Auge schaute.“
Chi Maias Art zu sprechen hatte suggestive Kraft. Antje weinte nicht. Sie schloß nur die Augen, faltete die Hände, und wir anderen verhielten uns still.
Chis wunderbarer Sohn zog seine Hand von ihrer Schulter und sprach weiter:
„Wir droben auf dem heiligen Berge sahen den Feuerschein der Pagode, und da erst eilte ich zum See hinab und fand meinen Vater und hörte von ihm den Verrat durch die gefälschten Briefe. – Das alles liegt nun in der Vergangenheit begraben. Die Zukunft wird hell und freudig sein, auch für dich, Blume von Padalara, Gott gab uns die Wohltat des Vergessens. Anja und Jan werden frei sein, noch heute. Ihr werdet zurückkehren zur Plantage Vanderoos, und das Glück wird euch lächeln.“
Er hob den Arm, deutete auf einen Bergpfad, den sechs Dajak entlangkamen.
„Sie kommen vom weißen König und werden mich dorthin bringen, wo meine Heimat ist. – – Ihr dürft mich begleiten – bis zu dem Tigerzaun, bis zur Buche, die Anja erwähnte.“
… Es sind viele Wochen her. Des Jünglings Chi Maia Gesicht wird mir immer gegenwärtig bleiben.
Ich überlese das zuletzt Geschriebene, und ich bekenne ehrlich, daß es mir nicht gelungen ist, Chi Maias eigentümliche weiche Ausdrucksweise richtig wiederzugeben.
Ich lehne mich zurück und die Wölkchen Zigarrenrauch formen sich für mich zu den letzten Bildern des großen Abenteuers.
– – Wir stiegen die Pfade hinan. Chi Maia lag weich gebettet auf der Bahre, Chi Api schritt nebenher, und Milo und ich folgten. Als letzte ging Antje im Zuge. Sie wollte sich absondern, allein sein.
Vor uns lag der heilige Berg mit der kahlen flachen Kuppe, unter der das schwarze Loch des Höhleneingangs gähnte. Die Abhänge des Berges waren mit Urwald bedeckt, und schon von weitem sahen wir den doppelten, sechs Meter hohen Bambuszaun am Fuße des Tapulat als breiten gelblichen Strich.
Der Anstieg dauerte eine Stunde. Dann hatten wir eine Hochebene erreicht und jene uralte Buche, die sich neben dem Tigerzaun erhob.
Die sechs Dajak des weißen Königs kletterten in die Buche empor und schoben aus dem dichten Laubdach eine lange Klappleiter über den Zaun und ließen dann Stricke herab, um die Bahre mit Chi Maia emporzuziehen, als die sechs hiermit fertig, sagte der Jüngling noch weicher und gütiger als bisher:
„Vater Chi Api, Buddhas Güte schenkte uns ein Wiederfinden. Wenn wir uns auch nie mehr wiedersehen werden, mein Vater: Wir bleiben doch vereint, unsere Seelen sind miteinander verschmolzen, und nur die seelische Vereinigung ist das Wichtige, – der Körper ist nur Hülle.“
Er hielt seines Vaters Hand in der seinen und lächelte glücklich. Chi Api, mein Freund, blieb stumm.
Die Bahre schwebte empor, die Dajak trugen sie gewandt über die Leiter, und ließen sie drüben hinab.
Ein allerletztes Mal winkte der Sohn dem Vater zu und lächelte das Rätsellächeln jener Weisen, die die wahre Erkenntnis gefunden.
Wir vier Zurückbleibenden wagten nichts zu sprechen. Es gibt eine Ergriffenheit, für die jeder Ausdruck fehlt.
Chi hatte sich abseits gesetzt. Milo schritt hin und her, Antje und ich gingen leise zu einer nahen Anhöhe und schauten zum heiligen Berge empor.
Das war die Stunde, in der mein Geschick eine neue Wendung erfahren hätte, wenn …
Wir standen dicht nebeneinander, und Antje hatte sich an mich gelehnt. Wir sahen droben vor dem Höhleneingang eine breite, aus dem Gestein ausgehauene Treppe mit figurenreichem Geländer. Vor der Grotte tummelten sich wohl dreißig Orang-Utans und Gibbons in harmlosen Spielen. Schopfadler umkreisten den Berg … Aber den Maiaskönig sahen wir nicht.
Antje sagte verträumt: „Es ist alles so zauberhaft unwirklich, Olaf … Und es ist so seltsam: Als Chi Maia mir die Hand auf die Schulter legte, war fast aller Schmerz um meinen Vater erloschen – wie erstickt durch höhere Macht. – Olaf, ich … bin so einsam geworden …“
Ich verstand den Nachsatz, und in meinem Herzen regte sich Liebe und Mitleid und Sehnsucht nach einem Weibe.
Antje schaute zu mir auf …
„Olaf …!“
Mein Blick glitt über die freien, weiten Dschungel, und die Sehnsucht nach Freiheit war stärker als die andere. Chi hatte mir vorhin erklärt, er würde mit mir hinüber in das Land Sarawak ziehen, er würde von Radscha Brooke die Erlaubnis zum Affenfang erwirken, und wir beide würden in den Urwäldern Gottes heiligen Odem spüren …
„Antje …“ – es wurde mir doch schwer – „Antje, – ich passe nicht mehr für jene Welt, in der du fernerhin leben wirst … Ich habe dich gern … Meine Heimat kann nur die große Einsamkeit sein.“
… Sie hat mich damals umschlungen gehalten und geküßt.
Milos Jubelruf, mit dem er Anja und Jan begrüßte, war mir willkommener Abschluß dieser Stunde, in der ich gegen mich selbst kämpfte. – –
Eine Stunde weiter: Ich sehe Milo und Anja unten an der Biegung des Bergpfades stehen, Arm in Arm …
Sie winken Chi und mir zu.
Antje hält die Hand gegen die Augen gepreßt, und Jan van Vanderoos imponierende Gestalt überragt die drei.
Dann verschluckt das Grün der Wildnis die Freunde, und Chi spricht sanft: „Freund Olaf, – ich eile auf kürzerem Wege zur Palmeninsel, zum Grabe meines Weibes. Ich will auch von ihr Abschied nehmen und ihren Sarg mit Blumen schmücken.“
So bin ich denn allein hier vor der Buche am Tigerzaun und spähe durch die Schatten der Bambuspfähle und sehe die großen prächtigen Katzen umherschleichen und sehe Kleiderreste herumliegen.
Das war alles, was von Pieter van Vanderoos übrigblieb.
Ich sitze auf dem Hügel, wo Antje mich küßte, und droben vor der Grotte erkenne ich jetzt im Sonnenlicht eine Bahre, um die Bahre scharen sich die Menschenaffen und die braunen Wilden.
Den weißen König der Maias sah ich nicht.
Zwei Stunden drauf war Chi mit zwei schweren Packen und Waffen bei mir, und wir beide tauchten in den Wäldern unter.
Chi hob den Blick nicht ein einziges Mal zum heiligen Berge. Seine und seines Kindes Seele waren vereint und der Leib ist nur Hülle für das Beste an uns.
… Es sind viele, viele Wochen her, und Radscha Brooke hat uns gestattet, Orang-Utans und Gibbons zu fangen und seine Wildnis als unsere Heimat zu betrachten.
Unsere Bambushütte steht auf den Nordhängen der Madjang-Berge …
Eines Abends hat Chi, mein Bruder, über den weißen König der Maias ganz von selbst zu sprechen begonnen.
Er hat sehr bedächtig geredet und jedes Wort abgewogen. Er sog an seiner Pfeife, und sein Blick war nach innen gerichtet, als lauschte er fernen Stimmen.
Was er vorsichtig andeutete, läßt vielleicht folgende Schlußfolgerungen zu, die ich unter allem Vorbehalt hier niederschreibe.
Vielleicht – vielleicht hat vor langen Jahren ein flüchtiger kluger Mann das Märchen vom Maiaskönig verwirklicht und dieser Sagengestalt durch die eigene Person Leben verliehen. Vielleicht war es ein Flüchtling mit Familie, vielleicht ist der heilige Berg nach Norden zu eine unzulängliche Schlucht, in der eine ganze Kolonie Unbekannter zusammen mit den Menschenaffen haust. Vielleicht ist der Mann ein Chinese gewesen … Jedenfalls war es ein Weiser. –
Ich hatte ursprünglich weit mehr über Chis Mitteilungen dem Papier anvertraut. Als ich es Chi vorlas, forderte er Kürzungen.
Eines noch: Eigene Kinder kann der Maiaskönig nicht haben. Daher wird Chi Maia sein Nachfolger werden.
… Inzwischen ist mein Bruder Chi zurückgekehrt. Er hat den Utan gefangen, er hat ihn aber wieder freigelassen.
„Olaf, es war derselbe Utan, den ihr damals im Dajakhause am Flusse im Käfig saht … Er hatte noch das Lederhalsband um, und in dem Leder las ich die Zeichen seiner ersten Gefangenschaft. Er soll frei bleiben, Olaf …“
Er gähnt herzhaft …
„Noch etwas fing ich …“ sagt er mit verschmitztem Lächeln … Er wühlt in seinem Rucksack … „Da – was hältst du hiervon, Olaf?!“ Er hält mir ein braun poliertes Stück Holz mit zersplitterten Rändern hin.
Ich müßte nicht Ingenieur gewesen sein, um nicht sofort zu erkennen, daß es ein Stück von einem Propeller ist.
„Du fingst es?!“ fragte ich ungläubig.
„Ja. Ein Windstoß schleuderte es mir aus den Zweigen vor die Füße.“
Ich beschaute den langen Splitter des Propellers. Er ist trocken. Er kann erst vor kurzem hier in die Wildnis an der Südwestgrenze von Sarawak gelangt sein.
Chi gähnt wieder.
„Ich fürchte, Chi, du wirst vorläufig den Schlaf dir verkneifen müssen. Weißt du, was dies ist? Ein kaum handgroßes Stück von dem Propeller eines Flugzeugs.“
Seine Schlitzaugen weiten sich. Er steht auf.
„Olaf, – dann ist das Flugzeug also in den Baumkronen gelandet … Gehen wir.“
Chi liebt die höfliche Breite der Sprache. Er kann aber auch sehr kurz angebunden sein.
Wir wandern durch die Nacht auf kaum erkennbaren Wildschweinpfaden, die die Malaien so frech und anmaßend als „Djalan monjet“, Dajakwege, Affenwege, bezeichnen … –
Wie wir Margrit Jossi fanden, ist eine andere Geschichte. Wenn ich einmal wieder ein vergängliches Heim habe, werde ich vielleicht die Geschichte der Schwurhand der Jossi schreiben …
Verlagswerbung:
Olaf K. Abelsen |
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Abenteuer abseits |
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Band | 1: | Das tote Hirn | |
„ | 2: | Das Geheimnis des Meeres | |
„ | 3: | Mein Freund Coy | |
„ | 4: | Das Paradies der Enterbten | |
„ | 5: | Das Kreuz der Wüste | |
„ | 6: | Die Geisterburg | |
Diese Sammlung wird fortgesetzt |
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Verlag moderner Lektüre G. M. B. H. |
Anmerkungen: