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Doktor Haldens Patient

 

 

 

Harald Harst: Aus meinem Leben

 

Band: 196

 

Doktor Haldens Patient

 

Erzählt von

Max Schraut

 

1. Kapitel.

Die explodierte Retorte.

Die Dame, die uns an jenem sonnigen Aprilvormittag besuchte, mit dem diese Geschichte des Grauens und wildester verbrecherischer Phantastik beginnt, war eigentlich keine Dame, sondern ein eben erst richtig flügge gewordener Backfisch – schlank, keck, pikant, aber schwer, sehr schwer niedergedrückt. Das selbstbewußte Auftreten Tussi Beckers wurde in Haralds Arbeitszimmer nur zu schnell durch eine Flut von Tränen hinweggeschwemmt, wenn auch jugendliche Hoffnungsfreudigkeit diese Tränlein immer wieder zum Versiegen brachte.

„Bezahlen kann ich Sie nicht, Herr Harst,“ begann sie ehrlich, nachdem sie kaum Platz genommen hatte. „Wir sind sehr arm, Mutter und ich. Der Papa ist lange tot, und wenn wir nicht die vier Zimmer vermieten könnten – wir wohnen Joachimstraße, dann … dann wär’s noch schlechter um uns bestellt. Papa war Arzt, aber leider kein Geschäftsmann, und …“

Ich glaube, sie hätte in dieser Art noch eine halbe Stunde wie ein Mühlwerk geplappert, wenn Harst ihr nicht ins Wort gefallen wäre …

„Sie kommen wegen des Chemikers Ernst Mendel zu mir, nicht wahr?“

„Mein Gott, woher wissen Sie das?!“

„Es stand ja in allen Zeitungen, daß Herr Mendel sich vor acht Tagen eine merkwürdige Vergiftung beim Experimentieren in der Wohnung seiner liebenswürdigen Wirtin, der Frau Sanitätsrat Becker, zugezogen hat und daß bisher kein einziger Arzt ihm hat helfen können. Es soll sich um eine vollständige Lähmung des Körpers, um vollkommene Bewegungslosigkeit der Glieder mit Ausnahme der Augen und der Sprechorgane handeln. Dabei scheint auch Mendels Geist getrübt zu sein, denn er soll wie ein Fieberkranker unaufhörlich allerlei ungereimtes Zeug vor sich hin murmeln und niemand mehr erkennen. – Weiter habe ich diesen medizinisch interessanten Fall in den Zeitungen nicht verfolgt. Jedenfalls war der junge Mendel bei der Askania-Farbenfabrik in Neukölln beschäftigt und Untermieter bei Ihrer Frau Mutter.“

Da kam schon der erste Tränenstrom …

Harst lächelte mir ernst und verstohlen zu und sagte tröstend zu unserer weinenden Klientin:

„Fräulein Becker, vielleicht ist Ihre Teilnahme für Mendel nicht lediglich auf reine Nächstenliebe, sondern … auf … Liebe zurückzuführen. Bitte, seien Sie uns gegenüber ganz offen.“

„Wie gut Sie sind, Harst …!“ Sie tupfte die Tränlein von den frühlingsfrischen Wangen … „Ja, Herr Harst, – es … stimmt schon … Ernst und ich waren heimlich verlobt … Nicht mal Mutter weiß etwas davon, denn Ernst hatte doch erst zweihundert Mark Gehalt, war ja auch erst fünfundzwanzig Jahre alt und …“

„Ihre Frau Mutter hatte also wohl für Sie eine andere Partie im Auge, Fräulein Tussi?“

„Nein – was Sie alles erraten können!!“

Neuer Tränenstrom …

„Und wer ist dieser andere?“

„Ein Ekel ist’s, Herr Harst …! Die beiden Vorderzimmer bewohnt er bei uns, und ein Schleicher und Kriecher und …“

„Wie heißt dieses Ekel denn?“

„Doktor Kamir Nussra, ein Perser, Arzt bei der hiesigen Persischen Gesandtschaft, Herr Harst … Aber er sieht äußerlich gar nicht wie ein Asiate aus und geht immer tipptopp gekleidet, hat zwanzig Anzüge und drei wundervolle Brillantringe und …“

„Sie argwöhnen, daß Kamir Nussra etwa aus Eifersucht Ihrem heimlich Verlobten einen bösen Streich gespielt hat und daß diese unerklärliche Vergiftung Mendels sein Werk sei? Haben Sie Beweise gegen ihn?“

„Nicht die geringsten und dennoch die stärksten,“ erwiderte sie seltsam reif und eindrucksvoll. „Die stärksten, Herr Harst: die Stimme meines Innern!“

Harald schüttelte sanft den Kopf. „Diese Stimme trügt sehr oft, Fräulein Tussi, besonders in Ihrem Alter. Es gehört schon sehr viel Lebenserfahrung dazu, die unrichtigen Einflüsterungen, die aus unserem Unterbewußtsein kommen und die mehr instinktives Fühlen sind, genau zu sieben, eben Spreu vom Weizen zu trennen. – Hat der Perser Ihnen denn den Hof gemacht und etwa irgendwelche Abneigung gegen Ernst Mendel verraten?“

„Natürlich hat er mir den Hof gemacht – und ob! Aber Abneigung gegen Ernst – nein, im Gegenteil! Kamir Nussra und mein Verlobter waren sogar befreundet,“ fügte sie sehr bestimmt hinzu. „Dies zu zeigen, wäre Nussra auch viel zu schlau gewesen. O – Sie kennen ihn nicht, Herr Harst. Er ist wirklich ein Schleicher und Heimtücker … Nur er kann …“

„Halt – halt, so kommen wir nicht weiter. Alles hübsch der Reihe nach, Fräulein Tussi. Damals vormittags experimentierte Mendel, wenn ich mich recht besinne, in seinem Zimmer bei Ihrer Frau Mutter mit einem neuartigen Betäubungsmittel, das die Nachteile des Chloroforms vermeiden sollte. Es war ein Sonntag, und mittags gegen zwölf fand dann der Perser Ihren Verlobten bewußtlos vor dem großen Tisch auf. Die Spiritusflamme, über der Ihr Bräutigam in einer Retorte die chemische Mischung, seine Erfindung, erhitzt hatte, brannte noch, die Retorte selbst war in winzige Atome zersplittert. Mendels seltsame Lähmungserscheinungen und Sinnesstörungen trotzten der Kunst unserer medizinischen Autoritäten. Zuerst war der Kranke in der Universitätsklinik, dann in der Privatklinik Professor Hirschs – und jetzt?“

Wieder ein reichlicher Tränenerguß …

„Jetzt,“ schluchzte das kleine verliebte Fräulein, „jetzt befindet Ernst sich seit zwei Tagen bei Doktor Ferdinand Halden, der die Praxis meines Vaters in Alt-Schmargendorf und auch unser Haus übernommen hat.“

„Wie kam Halden dazu, Mendel bei sich aufzunehmen?“

„Aber sie sind doch die dicksten Freunde, Herr Harst … Sagte ich Ihnen das nicht? Sie duzen sich, und ich bin sogar auf diese Freundschaft immer ein wenig eifersüchtig gewesen.“

„Weshalb hat denn Halden den Freund nicht sofort behandelt?“

„Er war verreist …“

„Wollen Sie mir nun einmal die Lage der Zimmer des Persers und des Ihres Verlobten beschreiben, Fräulein Tussi. Kamir Nussra, sagten Sie vorhin, habe die beiden Vorderzimmer inne …“

„Es sind drei Vorderzimmer, Herr Harst. Das mit Flureingang hatte Ernst gemietet. Es grenzte an das des Persers. Die Verbindungstür war durch Schränke verstellt – ist es noch. Ernst hatte das Zimmer durch eine Holzwand auf seine Kosten teilen lassen, so daß sein sogenanntes Laboratorium gleichzeitig sein Schlafzimmer war.“

„Danke, Fräulein Tussi. – Das Zimmer steht jetzt leer?“

„Ja, bis zum 1. Mai, Herr Harst. Mutter hat Ernsts Sachen bereits zu Doktor Halden schaffen lassen. Sie nimmt ihn nicht wieder auf, zumal der Hausverwalter ihr erklärt hat, der Chemiker müsse … raus, das Haus sei keine Fabrik!“

„Offenbar hat also der Perser bei Ihrer Frau Mutter einen Stein im Brett, Fräulein Tussi?“

„Leider … leider! Mama war einst sehr verwöhnt, und sie möchte aus den jetzigen engen Verhältnissen gern heraus. Nussra ist märchenhaft begütert, Herr Harst, und …“

„Und wer wohnt in dem vierten vermieteten Zimmer?“

Tussi lachte etwas spöttisch …

„Der Uhu hat’s, Herr Harst. Das heißt – nur Ernst und ich nennen den alten Rentner Giesebrecht Uhu, weil er wirklich mit seiner schwarzen Hornbrille und dem grauen, ungepflegten Bart und der rot-blauen Geiernase wie ein Uhu ausschaut – wirklich, – und den Kopf trägt er immer ganz schief und eingezogen, und …“

„Was treibt der alte Herr denn?“

Tussi hob die Schultern. „Weiß ich nicht … Er ist so mürrisch und wortkarg, daß er mit mir noch keine zehn Worte gesprochen hat. Aber er bezahlt volle Pension, ißt sehr wenig, geht morgens aus, kommt mittags wieder, geht wieder aus, – eigentlich ist er nur zu den Mahlzeiten und zum Schlafen daheim. Sein Zimmerchen hält er selbst in Ordnung. Niemand darf hinein. Er hat ein Patentschloß an der Tür anbringen lassen, und …“

„Wie denken Sie es sich nun eigentlich, Fräulein Tussi, – auf welche Weise soll ich wohl diesem Ihrem gefühlsmäßigen Verdacht nachgehen?!“

„Aber das müssen Sie doch wissen, Herr Harst! – Wenn Sie mir nur glauben wollten: das Ekel, der Nussra, hat bestimmt seine Brillantfinger im Spiel. Es ist ja ein Unsinn, daß die Ärzte annehmen, das neue chemische Gemenge sei explodiert. Doktor Halden hat dazu so merkwürdig gelächelt, und als ich dann gestern so ganz vorsichtig äußerte, ob nicht ein dritter vielleicht … nachgeholfen haben könnte, da schaute Halden mich so überaus ernst an, als ob er mir auf dem Grunde der Seele lesen wollte, und dann hat er zerstreut genickt. Er ist ja überhaupt immer so … so geistesabwesend, wenn er nicht gerade Sprechstunde abhält … Und …“

„Und Sie teilten ihm auch mit, daß Sie mich hinzuziehen wollten, Fräulein Tussi?“

„Nein, nein, – keine Seele ahnt, daß ich jetzt hier bei Ihnen bin, Herr Harst …“

Sie hatte sich erhoben … Mit den flehend emporgereckten Händen und den tränennassen Augen und in all ihrer jugendlichen Lieblichkeit bot sie ein rührendes Bild dar – so rührend, daß mein alter Harald ihr nun warm erwiderte:

„Was in meinen Kräften steht, soll geschehen, Fräulein Tussi … In einem Punkte gebe ich Ihnen recht: durch das bloße Einatmen der vielleicht durch die Explosion der Retorte entstandenen Gase kann Ernst Mendel kaum in diesen sonderbaren Zustand unvollkommener Lähmung geraten sein. Nun – wir werden ja sehen … Gehen Sie getrost heim. Wir begleiten Sie ein Stück.“

Glückliche Jugend. Tussi strahlte schon wieder. –

Und strahlend und vergnügt plappernd schritt sie dann zwischen uns über den Fehrbelliner Platz gen Halensee …

Am Anfang der Joachimstraße verabschiedeten wir uns. Machten kehrt … „Es war niemand hinter uns, mein Alter,“ sagte Harst und rauchte sich eine Zigarette an. „Was hältst du von der Sache?“

„Dasselbe wie du: der Chemiker dürfte wirklich das Opfer eines niederträchtigen Anschlags geworden sein.“

„Ganz recht … Die Asiaten kennen Gifte, die unseren Autoritäten noch fremd sind, und gerade in Persien war die Giftmischerei von jeher zu Hause. – Auto – – halt …! – Fahren Sie uns nach Alt-Schmargendorf zu Doktor Halden, Nervenarzt …“ –

Dort, wo das unbebaute Gelände des Vorortes Alt-Schmargendorf sich gen Westen bis zu den neuen Villengruppen des durch den Botanischen Garten berühmt gewordenen Nachbarortes[1] Dahlem hinzieht, läuft auch die stille, von Kiefern eingerahmte Lennéstraße entlang, und hier erhebt sich hinter einer hohen Ziegelmauer ein schmuckloses dreistöckiges, verwittertes Haus mit flachem Dach, an dessen Gitterpforte ein großes Messingschild in schwarzen Buchstaben die Aufschrift trägt:

Dr. med. Ferdinand Halden,
Nervenarzt.

Harst läutete. Nach einer geraumen Weile öffnete sich die Gittertür mit völliger Lautlosigkeit, und vor uns stand – – der Uhu!!

Fraglos der Uhu – der Rentner Giesebrecht! Der Bewohner des kleinen Hinterzimmers der Sanitätsrätin. Er mußte es sein. Tussi hatte ihn uns so genau beschrieben: Brille, Bart, Geiernase – alles stimmte, – auch der schief getragene Kopf …

Der Uhu hatte eine Art Dienerlivree an, verbeugte sich steif … „Bitte … Patienten?“ Seine Stimme klang wie das Krächzen einer hungrigen Winterkrähe.

„Ja …,“ – und Harald betrat den Vorgarten, indem er mich bei der Hand nahm und hinter sich her zog.

So war’s zwischen uns im Auto vereinbart worden …

Ich war der Patient.

Die Komödie begann. – Komödie?! Nein, es wurde die unheimlichste Tragödie, die wir jemals miterlebt hatten.

Die Diele, die gleichzeitig als Wartezimmer diente, war leider noch reichlich besetzt. Acht Patienten – wir waren Nummer neun und zehn. Haldens Praxis mußte glänzend gehen …

 

2. Kapitel.

Die kranke Gräfin.

Diese Diele war lediglich durch eine altertümliche Ampel beleuchtet, die an einer Kette von der Decke herabhing. Da wir aus dem grellen Sonnenlicht dieses immerhin recht eigenartige halbdunkle Wartezimmer betreten hatten, mußten sich meine Augen erst an das grüne Zwielicht gewöhnen. Harst hatte mich in einen der tiefen, mit dunkel getöntem Gobelinstoff bezogenen Klubsessel gedrückt und dann für sich selbst einen Hocker herangezogen. Nach dem ersten flüchtigen Blick über die acht Patienten, vier Damen und vier Herren, wandte ich den Kopf nach links, wo eine Frau in Trauer in einer Sofaecke leise weinte und immer wieder ihr Taschentuch an die Augen führte – mit einer Regelmäßigkeit, die an einen Automat erinnerte.

Der Uhu (wenn er’s wirklich war!) hatte sich uns gegenüber an eine durch schwere, schwarze Vorhänge bis auf einen schmalen Spalt verdeckte Tür gesetzt und putzte seine Brille.

Mein Blick glitt von der weinenden Frau weiter zu einem älteren dicken Herrn hin, der an schrecklichen Gesichtszuckungen litt und immerfort mit dem linken, übergeschlagenen Bein wippte. – Dann rechts aus der Ecke aus einem anderen Sessel ein hysterisches Kichern … Auch eine Frau … Sie hatte den Hut abgenommen, kämmte ihren strohblonden Bubikopf und … kicherte … kicherte …

Mit einem Male sprang der Uhu auf und rief quäkend:

„Bitte – der nächste …“

Schlug die Vorhänge auseinander und stieß die Flügeltür auf, so daß ich in ein großes, helles Gemach hineinsehen konnte, in dem an einem Diplomatenschreibtisch ein schlanker Herr in blauem Sackoanzug saß und schrieb …

Doktor Halden …

Der nächste war die kichernde Dame. Sie eilte hinein, und Tür und Vorhänge fielen wieder zu. Der Uhu setzte sich, und der Mann, der mir am nächsten saß, offenbar ein schlichter Arbeiter, begann flüsternd ein Gespräch mit mir.

„Wenn nur das lange Warten nicht wäre, Herr …! – Na – hier sitzt sich’s ja ganz gut, nicht wahr? – Sind Sie zum ersten Male hier?“

„Ja …“

„Was fehlt Ihnen?“

„Ich leide an Wahnvorstellungen …“

„So, so … Das ist nicht schlimm. Mich hat’s böser gepackt. Ich bin Tischlergeselle und vor drei Wochen vom Gerüst gestürzt. Seitdem sehe ich mich immer selbst – nur mich … Komisch, nicht wahr?!“

„Wie meinen Sie das?“ fragte ich bedrückt, denn diese Umgebung begann meine Nerven allgemach zu foltern.

„Wie ich das meine, Herr? – Nun, ich sehe eben auch jetzt, wo ich Sie anschaue, nur mich – mich selbst … Vielleicht sind Sie auch eine Dame … Ich weiß es nicht … Ich kann nur in jeder Person mein eigenes Ich erkennen … – Doktor Halden nennt das …“

Da hüstelte der Uhu vernehmlich, und mein Nachbar duckte sich scheu zusammen, verstummte und ließ den Kopf hängen. –

Ich könnte über diese Wartezeit in Haldens Diele noch mehr Einzelheiten berichten, aber es genügt wohl, wenn ich hier erkläre, daß ich Höllenqualen inmitten diesen Halbverrückten ausstand und froh war, als nach einer Stunde etwa der Uhu zum letzten Male sein gekrächztes „Bitte – der nächste“ ertönen ließ und wir nun an der Reihe waren.

Harst zog mich in Haldens Sprechzimmer hinein – wie ein Opferlamm. Die Tür schloß sich, Halden erhob sich vom Schreibtisch und musterte uns kühl, deutete auf zwei Lehnsessel neben dem Schreibtisch … „Bitte, nehmen Sie Platz.“

Tussi hatte nicht zu viel gesagt: ein eleganter Herr, der Doktor. Blasses, schmales Gesicht und ein Paar milde, klare, blaugraue Augen, – eine Stimme wie ein Cello – fast zu weich.

Harst erwiderte leise, indem er näher an Halden herantrat: „Herr Doktor, wir sind Harst und Schraut … Wir wollten uns bei Ihnen lediglich unauffällig einführen – Mendels wegen. Fräulein Tussi Becker hat mich gebeten, den Fall Mendel, der doch zweifellos einige dunkle Punkte aufweist, zu klären.“

Halden drückte uns sichtlich erfreut die Hände. „Meine Herren, Sie kommen mir wie gerufen, denn ich wäre noch heute bei Ihnen erschienen, um Ihnen genau dieselbe Bitte vorzutragen. – Setzen Sie sich doch … So – wollen die heikle Sache in aller Ruhe durchsprechen …“

Er drückte auf einen in die Schreibtischplatte eingelassenen Klingelknopf.

Der Uhu erschien.

„Herr Doktor befehlen?“

„Giesebrecht, bringen Sie Rotwein, Zigarren und Zigaretten. Vorher aber fragen Sie Schwester Anna, ob die Gräfin erwacht ist.“

„Sehr wohl, Herr Doktor …“ Er verschwand wieder.

Halden lächelte. „Hat Ihnen Fräulein Tussi auch von dem … Uhu etwas erzählt, Herr Harst? – Nun, der alte Herr, der mal bessere Zeiten gekannt, spielt hier bei mir den Diener in aller Heimlichkeit, – will’s eben die Welt nicht wissen lassen, daß er sich auf diese Weise durchschlägt. Mein armer Freund Mendel mußte Giesebrecht hoch und heilig versprechen, nichts zu verraten, und so ahnt selbst Tussi nicht, daß Giesebrechts ständiges Fernsein von Hause einen sehr harmlosen Grund hat: Geldverdienst!“

Das Telephon auf dem Schreibtisch schrillte …

Halden nahm den Hörer …

„Ja – – die Gräfin soll dann – –, wie, – aber das geht doch auch ohne mich, Schwester … Gut, ich komme …“

Und zu uns: „Sie müssen mich schon ein paar Minuten entschuldigen … Eine etwas schwierige Patientin … – Giesebrecht bringt sofort Zigarren und einen guten Schluck … Bedienen Sie sich dann bitte ganz zwanglos …“

Er verließ das Zimmer durch die zweite Tür.

War kaum hinaus, als von der Diele her eine Frau hereinstürzte … eine Frau, die nur einen bunten Bademantel und ebenso elegante Badeschuhe anhatte. Daß sie soeben dem Wannenbade entstiegen und auch ohne Rücksicht auf ihr prächtiges kastanienbraunes Haar geduscht hatte, bewiesen die nassen Haarsträhnen, die ihr bleiches, verzerrtes und geradezu entstelltes Gesicht wie ein wirres dunkles Netz halb verhüllten. Sie warf mit der Linken die Tür ins Schloß. In der Rechten hielt sie einen eisernen großen Hammer, wie ihn die Zimmerleute benutzen.

Wir beide waren emporgefahren. Der ganze Eindruck dieser Unglücklichen, der der Wahnsinn aus den irrlichternden Augen leuchtete, war so schreckeinflößend, daß selbst Harst aus Vorsicht hinter den Schreibtisch trat.

Die Frau, die ich anfangs Dreißig schätzte und die in gesunden Tagen sicherlich sehr schön gewesen sein mußte, stand jetzt vornübergebeugt still, warf mit ruckartiger Kopfbewegung das feuchte Haar aus dem Gesicht und stierte erst Harst und dann mich mit einem merkwürdig verzweifelten Blick an. „Wer sind Sie?“ rief sie mir kreischend zu. „Sind Sie der Satan Doktor Halden?“

Diese Frage, diese Ungewißheit darüber, wen sie vor sich hatte, erinnerte mich unwillkürlich an meinen Nachbar aus dem Wartezimmer, der behauptet hatte, er sehe nur immer sich selbst.

„Doktor Halden ist nicht hier,“ erwiderte Harald statt meiner. „Wir sind zum ersten Male hier – als Patienten … Ist denn Ihre Sehkraft getrübt?“

Die Frau im Bademantel stieß ein entsetzliches Lachen aus. „Getrübt – – Sehkraft?! Nein – ich sehe alles, alles … Nur … Personen sehe ich nicht … Ich sehe Sie, aber immer nur … mich, mich! – Wo ist Halden? Wo ist dieser Schurke? Oder nein – ich flehe Sie an: helfen Sie mir hinaus aus dieser Hölle …“ Sie sagte das alles mit jener krankhaften Hast und Zungengeläufigkeit, die so vielen Irren eigen ist. Sie schnabberte, verschluckte halbe Worte, gab sich aber offenbar die größte Mühe, sich zu beherrschen. „… aus dieser Hölle … hinaus – haben Sie Erbarmen mit mir! Ich bin die Gräfin Sildheim aus Dresden – ich bin reich, ich bin ein Opfer der schamlosen Intrigen meiner Verwandten … Helfen Sie mir … ehe es zu spät ist … Dies hier ist ein Haus des Grauens … Mein Gott – so antworten Sie doch! Wer sind Sie? Mann und Frau? Ich … ich sehe ja nur zweimal mich selbst im Bademantel wie in zwei großen Spiegeln – immer nur mich selbst, wen ich auch vor mir habe … Ich flehe Sie an: reden Sie … Barmherziger Gott … – Sie ahnen nicht, was dieser entsetzliche gleißnerische Halden aus mir gemacht …“

Die lautlose Tür nach dem Wartezimmer war aufgegangen … Halden und eine Krankenschwester von wahrhaft walkürenhafter Gestalt hatten die Kranke blitzschnell gepackt, ihr eine Decke über den Kopf geworfen und zerrten sie hinaus. Dann schlug die Tür wieder zu.

Mir standen Eisperlen auf der Stirn, und als ich Harald anschaute, waren auch seine Wangen etwas bleich, und in seinen Augen ein Ausdruck schreckvollen Mitleids.

Aber trotz der beklemmenden, verwirrenden und die Gedanken aufscheuchenden Wirkungen dieser widerwärtigen Szene hatte ich doch noch genug Geistesgegenwart, rasch an den Schreibtisch heranzutreten und mich über das aufgeschlagen daliegende Krankenjournal Haldens zu beugen. Ich überflog die Rubrik des heutigen Tages. Alle Patienten dieses Vormittags waren verzeichnet. Der, auf den es mir ankam, konnte nur

Mielke, Franz, Tischlergeselle, Dahlem, Dorfstraße

sein. Dann trat ich ebenso rasch wieder hinter den Höhensonne-Apparat[2] zurück.

„Gut so!“ flüsterte Harald und nickte mir zu.

Da erschien auch schon Halden, setzte sich mit einem Seufzer in seinen Schreibsessel und trocknete sich mit seinem Seidentüchlein die feuchte Stirn. „Ein schwerer Beruf, meine Herren … Es tut mir unendlich leid, daß Sie dies hier mit erleben mußten. Die Gräfin ist meine aussichtsloseste Patientin – eine Gräfin Sildheim … Aber nehmen Sie doch wieder Platz, meine Herren …“

Durch die zweite Tür kam der Uhu mit einem großen Teebrett herein und stellte schweigend Gläser, Flasche und alles andere auf einen runden, schweren Eichentisch.

Halden stand auf und füllte die Gläser. „Ja, es ist auch ein gefährlicher Beruf,“ meinte er. „Das war nun der dritte Versuch der Gräfin, mich zu töten und zu entfliehen. Trinken wir … Ihr Wohl, meine Herren …“ Seine Hand zitterte leicht. Aber seine Augen hatten unverändert denselben gütigen, etwas versonnenen Blick.

„Und nun zu Ernst Mendel, Herr Harst … Fräulein Tussi beargwöhnt den Perser, meinen Kollegen, den ich flüchtig kenne. Eifersucht, glaubt Tussi. Ich selbst halte diesen Verdacht für verfehlt. Doktor Kamir Nussra müßte denn gerade ein Gift besitzen, das der deutschen Wissenschaft noch nicht bekannt ist, und solche Gifte gibt es nicht – nicht mehr. Wir Deutschen sind gründlich. Anderseits – um Ihnen beiden gegenüber jede Zurückhaltung aufzugeben – ist es aber auch ausgeschlossen, daß die Explosion der Retorte an diesen Lähmungserscheinungen schuld sein kann. Mendel und ich haben voreinander keine Geheimnisse gehabt. Ich wußte genau, in welcher Richtung seine chemischen Versuche sich bewegten. Er wollte ein völlig einwandfreies Narkotikum für Operationszwecke erfinden, und die Bestandteile, mit denen er experimentierte, mögen unter gewissen Bedingungen explosiv gewesen sein, konnten[3] aber niemals den menschlichen Organismus in dieser selbst mir unerklärlichen Weise schädigen. Deshalb eben wollte ich auch Sie und Ihren Freund heute noch zu Rate ziehen, Herr Harst. Der Fall Mendel ist Sache eines Detektivs, nicht eines Arztes, denn – wir Ärzte sind hier machtlos. Wir können dem armen Kerl nicht helfen, das habe ich bereits eingesehen.“ Er trank schnell sein Glas aus. „Ich fürchte fast, der Verstand ist noch klar, und die wirren Reden lediglich eine Störung im Sprachzentrum des Gehirns. Wenn wirklich hier ein kaltblütig berechneter Anschlag auf Mendel vorliegt, so wäre für den Täter selbst der Tod auf dem Scheiterhaufen noch zu mild.“

Ein harter Ausdruck trat in seine Augen. „Herr Harst, verfügen Sie bitte ganz unbeschränkt über mein Geld. Ich bin reich. Meine Freundschaft mit dem um zehn Jahre jüngeren Mendel datiert – um auch das zu erwähnen – von meiner Assistentenzeit in München her, wo ich derselben Verbindung als Alter Herr angehörte, in der Ernst Mendel sich als flotter Bursch damals betätigte.“

Harst, den die klare, kühle Art Haldens wohl ebenso angenehm berührte wie mich (mein ungewisser Verdacht gegen Halden war bereits wieder zerflattert), erklärte, die Geldfrage träte hier vollkommen in den Hintergrund. „Ich werde tun, was ich kann, Herr Doktor. Das habe ich auch bereits Tussi versprochen. Könnten wir Mendel einmal sehen?“

„Gewiß. Nur – Sie werden entsetzt sein, meine Herren! Nun – Ihre Nerven sind ja an Derartiges oder Ähnliches gewöhnt. Bitte – gehen wir … Mendel ist oben im dritten Stockwerk untergebracht.“

Auch die Flure und Treppen, alles mit dicken, leicht zu säubernden Läufern belegt, zeigten die helle, nüchterne Sauberkeit, die mir bereits in Haldens Sprechzimmer aufgefallen war.

Während wir die Treppen schweigend hinanstiegen, begegneten wir nur der walkürenhaften Schwester Anna, die bescheiden beiseite trat und uns vorüberließ.

Vor Zimmer 18 im dritten Stock machte der Doktor halt, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Außentür. Die innere war nur verriegelt, beide aber gepolstert. Auch dieser Raum, der nur ein Fenster hatte, war hell und überaus nüchtern, enthielt die übliche Einrichtung eines Krankenzimmers eines Sanatoriums, nur daß hier das weiße Bett frei mitten im Zimmer stand. In diesem Zimmer lag ein stoppelbärtiger, wachsbleicher Mann, dessen verwildertes Kopfhaar, halb offener Mund und starr nach der Tür gerichtete Augen in der Tat ungewöhnlich grauenvoll wirkten. Aus dem halb offenen Munde quollen jetzt dumpfe, unverständliche Laute hervor, die allmählich deutlicher wurden und sich zu Worten und Sätzen zusammenfügten …

 

3. Kapitel.

Der Uhu im falschen Kleide.

Halden war auf Fußspitzen an das Bett geschlichen und hatte sich über den Kranken gebeugt. Mendels Augen bewegten sich dabei mit seltsam ruckartigen Zuckungen nach oben und stierten nun den Doktor an. Gleichzeitig begann sein Mund sich lebhafter zu bewegen, und das bisherige Murmeln ward zu lautem Sprechen, freilich nur zu einem heiseren Hervorstoßen völlig unsinniger Sätze, die, bald länger, bald kürzer, durch längere Pausen getrennt waren.

Das sinnlose Gestammel Mendels brach plötzlich ab. Eine endlose Pause folgte.

Halden rief eindringlich: „Ernst, erkennst du mich?“

Der halb offene Mund klappte da wie im Fieberfrost auf und zu. Dann ein einzelner schriller Ton – so schrill, daß ich zusammenzuckte und Halden zurückfuhr … Diesem hellen, langgezogenen Ton folgte ein zusammenhangloser, längerer Satz, der durch ein Wort beendet wurde, das uns drei wie ein elektrischer Schlag traf:

Nussra!

Ganz klar und deutlich: Nussra!

Halden flüsterte uns erregt zu: „Zum ersten Male bringt mein armer Freund diesen Namen über die Lippen.“

Er zuckte traurig die Achseln …

„Auf Wiedersehen, Ernst … Ich werde dich schon wieder gesund machen … Heute nachmittag versuchen wir es mit starken galvanischen Strömen. Mut, Ernst …! Es wird noch alles gut werden.“

Mir stand längst der kalte Schweiß auf der Stirn …

Und jetzt biß ich mir vor Grauen auf die Lippen, als Mendel langsam die Augen dreimal schloß und dann wieder nach der Tür starrte, – dreimal schloß und öffnete er die Lider, – was konnte das anderes bedeuten, als daß er … verstanden hatte!

Ich atmete erleichtert auf, als wir wieder im Flur waren. Halden versperrte die äußere Tür mit dem Schlüssel und wandte sich dann uns zu, die wir halb benommen vor uns hin schauten.

„Nun haben Sie ihn gesehen, meine Herren,“ sagte er müde und mutlos. „Ist es nicht furchtbar: er ist voll bei Verstande, und …“

Verstummte in tiefem Schmerze.

Hastig stiegen wir die Treppen hinab, und erst in des Doktors Sprechzimmer und nach dem dritten Glase Rotwein kamen meine vibrierenden Nerven wieder zur Ruhe.

Was wir noch mit Halden besprachen, drehte sich in der Hauptsache um die Frage, ob es möglich sein würde, den persischen Arzt zu überführen, denn auch Harald schien jetzt überzeugt zu sein, nur Nussra käme hier als Dämon eines ungeheuerlichen Racheaktes in Betracht. Halden meinte, wir sollten mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen, denn er persönlich hielte Nussra für einen sehr klugen Kopf, der nicht so leicht zu überlisten sein würde.

Erst gegen halb drei verabschiedeten wir uns von Halden, der uns persönlich bis zur Gitterpforte geleitete, indem er erklärte, der alte Giesebrecht sei bereits zur Sanitätsrätin zu Tisch gegangen – wie immer um diese Zeit.

Dann schritten Harst und ich die stille Straße schweigend hinab, bis wir an die erste Haltestelle der Elektrischen kamen. „Warten wir … Ein Auto ist hier schwer zu bekommen,“ meinte Harald, indem er sein Zigarettenetui hervorholte.

Doch – wir hatten Glück … Eine leere Taxe nahte, wir stiegen ein. Harst hatte dem Chauffeur als Ziel Joachimstraße angegeben. Das Auto ruckte an.

„Willst du wirklich zur Sanitätsrätin?“ fragte ich ehrlich erstaunt.

„Natürlich?!“

„Ja, natürlich …“

„Gewiß … du wirst schon sehen, mein Alter … Jetzt aber störe mich nicht.“

Mit geschlossenen Augen lehnte er in seiner Ecke …

Was sollten wir bei Frau Becker?! War dieser Besuch nicht übereilt?! Konnte unser Erscheinen dort nicht alles verderben?!

Das Auto glitt die Hubertusallee entlang. Harst reckte sich, faßte in die Brusttasche seines Sommerulsters und holte einen falschen Bart, eine Perücke und ein Kästchen mit Schminkstiften hervor. – „Halte mir bitte den Spiegel,“ meinte er sehr bestimmt.

In wenigen Minuten saß ein älterer Herr neben mir, der mit Harald Harst wirklich nicht die allergeringste Ähnlichkeit hatte.

Das Auto stoppte auf mein Klopfen gegen die Vorderscheibe schon vor Nummer 30 in der Joachimstraße. Ich blieb sitzen. Harald schritt zu Fuß weiter. Der Chauffeur schaute ihm mißtrauisch nach, rief mir dann zu, ich möchte doch den bisherigen Fahrpreis sofort bezahlen. Ich mußte lachen, gab ihm fünf Mark und meinte, er solle sich über nichts wundern, er habe eben heute zwei besondere Herren als Auftraggeber. Da schien ihm ein Licht aufzugehen.

Im selben Moment kam vom Kurfürstendamm ein einzelner Mann sehr eilig daher.

Der Uhu – – wahrhaftig der Uhu!! Jetzt erst! Jetzt erst ging er zu Tisch?! Merkwürdig!

Er beachtete das Auto nicht. Er eilte mit schiefem Kopf und schlurfenden Schritten vorüber. Wenige Minuten später tauchte Harald wieder auf. Er öffnete die Tür des Kraftwagens. „Wo wohnt der Mann, mit dem du im Wartezimmer sprachst?“ fragte er.

„Dahlem, Dorfstraße – Tischlergeselle Franz Mielke.“

„Chauffeur, Dahlem, Dorfstraße …“

Er stieg ein, schlug die Tür zu, setzte sich.

„Ich habe Mendels bisheriges Zimmer von morgen ab gemietet, mein Alter … Auf der Treppe begegnete mir Giesebrecht. Er hatte es verdammt eilig. Die Suppe wird trotzdem schon kalt geworden sein, fürchte ich. Ja – er hat sich da wirklich eine nette Suppe eingebrockt, der Uhu …“ Und er lachte ironisch auf …

„Wie … meinst du das?! Suppe eingebrockt?!“

Harst schaute mich an. „Wie denkst du über Halden?“

„Ich?! Hm – ich glaube, daß er …“

„… daß er das stärkste Mißtrauen verdient, wenn er einen Menschen als Diener beschäftigt, an dem nicht mal die rot-blaue Geiernase echt ist! Bei Gott, Max Schraut, ich habe selten eine so vorzügliche Maske wie die dieses Uhus gesehen!“

„Der Giesebrecht spielt also eine Doppelrolle,“ sagte ich nur, um wenigstens etwas zu sagen.

„Wie man’s nimmt,“ nickte Harst. „Wohl mehr eine dreifache Rolle … Einmal ist er wohlbestallter Spion bei der Sanitätsrätin. Dann zweitens Diener bei Doktor Halden. Dies beides in der Maske des Uhu. Wie er wirklich aussieht, wie alt er wirklich ist und was er in seiner normalen Gestalt treibt, worin also seine dritte Rolle besteht, das entzieht sich bisher unserer Kenntnis …“

Das dahinrollende Auto wurde so für mich eine Stätte ungeahnter Offenbarungen. – Harald sprach weiter – genau so bedächtig, genau so grüblerisch, jedes Wort überlegend. „Halden und der Uhu sind eng verbündet. Vielleicht hat Halden sogar selbst ein Auge auf Tussi Becker geworfen. Vielleicht ist Halden ein falscher Freund dem Chemiker gegenüber, vielleicht war er damals gar nicht verreist, als Mendel am Sonntag vormittag verunglückte. Vielleicht rührt diese ungeheure Schurkerei von Halden selbst her, und er sucht nun den Verdacht in sehr vorsichtiger Weise auf den persischen Kollegen zu lenken, der ja auch von Tussi beargwöhnt wird, was ihm sicherlich sehr gelegen kam, diesem Herrn Ferdinand Halden, unter dessen Patienten sich zwei befinden, die sehr auffälligerweise an genau demselben Leiden kranken, das halb Sehstörung, halb Irrsinn zu sein scheint: der Tischlergeselle und die Gräfin! Beide sehen in jeder Person nur immer ihr eigenes Spiegelbild, – ein Krankheitssymptom, das mir vollkommen neu ist, das ich noch in keinem medizinischen Werk aufgeführt gefunden habe und das allem widerspricht, was ich bisher über nervöse – psychische Leiden wußte.“

„Gestatte einen Einwurf,“ meinte ich lebhaft. „Aber welches Interesse sollte Halden daran haben, die Gräfin und den armen Tischler Mielke …“

„… und Ernst Mendel, mein Alter, – der kommt hier genau so in Frage! Ich behaupte, auch Mendel sieht nur immer sich selbst! Denke an die unheimliche Ähnlichkeit im Ausdruck der Augen der Gräfin Sildheim und Mielkes! Wenn Halden ein verruchtes Scheusal ist, der mit einem neuen Teufelszeug von Gift dunkle Zwecke verfolgt, dann hat er vielleicht eben seinem „Freunde“ Mendel eine größere Dosis verabreicht, worauf noch die Lähmung hinzutrat. Fiel dir nicht auf, wie scharf der Uhu im Wartezimmer achtgab, daß die Patienten nicht miteinander sprachen. Und merktest du nicht, daß all diese Patienten vor dem Uhu offenbar Angst hatten? – Nun, Mielke wird uns Rede und Antwort stehen. Halden ahnt nicht, daß du so schlau warst, einen Blick in sein Krankenjournal zu werfen. – Ich glaube, wir sind schon am Ziel. Da ist die alte Dahlemer Kirche, dort das Gutshaus … – Steigen wir aus … Ich bin in der Tat unglaublich gespannt darauf, was Mielke uns mitzuteilen hat …“

 

4. Kapitel.

Der Sturz vom Gerüst.

Ein armseliges Fachwerkhäuschen mit grünbemoostem Ziegeldach, – uralt, scheinbar von der Zeit vergessen, fast ein Museumsstück … Das Heim des Tischlers Mielke … Innen der muffige Geruch der Armut, aber alles blitzsauber. – Eine verhärmte junge Frau empfängt uns mit dem unverhohlenen Mißtrauen der Glücklosen, der Enterbten des Schicksals. Aber Harst, der große Menschenkenner und Menschenfreund, versteht es, Mißtrauen in Freundschaft zu wandeln und Segen zu spenden. Als die Frau zögernd den Fünfzigmarkschein entgegennimmt, meint Harald nur: „Wahrscheinlich wird für Sie noch mehr abfallen, liebe Frau Mielke, nur müssen Sie unbedingt schweigen …“

Und dann sitzen wir mit Mielke beieinander. „Ja, meine Herren,“ meint er trostlos, „da haben Sie schon ganz recht, – der Diener paßt scharf auf, und der Herr Doktor hat mir streng verboten, mit jemandem über meine Krankheit zu sprechen … Ich hab’s bis dahin ja auch nicht getan … Heute im Wartezimmer überkam mich aber plötzlich so der Wunsch, mit jemandem über …“

„Schon gut, Herr Mielke … Sehr verständlich ist dieser Wunsch … – Wann traten bei Ihnen denn diese Sehstörungen ein? Gleich nach dem Unfall?“

„Ja – als ich wieder zu mir kam, Herr Harst. Der Herr Doktor wollte die Hinterfenster seines Hauses ausbessern und hatte ein Gerüst von mir aufstellen lassen. Vor etwa drei Wochen stürzte ich gleich morgens noch vor Beginn der Arbeit ab. Wie das gekommen ist, weiß kein Mensch. Die Bretter hatte ich doch alle gut befestigt. Und doch kippte eins über, und ich sauste in die Tiefe. Der Herr Doktor hat sich meiner sofort angenommen. Gehirnerschütterung, meinte er. Mag ja sein … Aber mein Kopf ist völlig klar … Nur eben – ich sehe immer, immer nur mich selbst, wen ich auch vor mir habe, und wie soll ich in diesem Zustand Arbeit finden, wo ich doch nie weiß, mit wem ich rede, wem ich begegne. Ach, Herr Harst, es ist entsetzlich …! Bedenken Sie: gehe ich über die Straße: alle Menschen sind … ich selbst! Alle! Man hält mich für total verrückt, und ich wage mich kaum mehr aus dem Hause. Der Herr Doktor gibt mir ja monatlich hundert Mark, aber wenn man vier Kinder hat, dann langt’s nicht hin und her. Manchmal bin ich so verzweifelt, daß ich mich am liebsten aufhängen möchte … wirklich!“

„Wie behandelt der Doktor Sie denn – mit Elektrizität?“

„Nein … Ich bekomme alle drei Tage eine Spritze … in den Unterarm. Bisher hat das nichts geholfen – gar nicht …“

„Hatte der Doktor Ihnen denn auch gleich nach Ihrem Unfall etwas eingespritzt?“

„Ja, Herr Harst … Ich sah’s an der roten Stelle am Arm …“

Harald blickte mich an. Die Verdachtsgründe gegen Halden wuchsen lawinenartig an.

„Hören Sie nun genau hin, lieber Mielke,“ meinte Harst nach kurzer Pause. „Ich werde Ihnen fünfhundert Mark schenken. Mit diesen[4] werden Sie verreisen – noch heute. Haben Sie Verwandte auf dem Lande?“

„Einen Bruder, Herr Harst. Er ist Fischer in Woltersdorfer Schleuse …“

„Das trifft sich ja sehr gut … Sie fahren also dorthin. Aber nur Ihre Frau darf davon wissen. Für die Öffentlichkeit haben Sie angeblich auswärts Arbeit angenommen. Das schreiben Sie auch dem Doktor und entschuldigen sich bei ihm, wenn Sie vorläufig nicht zu ihm kämen. – Sie sind fraglos ein aufgeweckter Mensch, Mielke. Ich will ehrlich sein. Ich traue Halden nicht. Befolgen Sie meine Ratschläge, so werden Sie gesund werden. Ich bin überzeugt, daß Halden, sobald er Ihren Brief erhält, sogleich hier zu Ihrer Frau kommen wird und fragen, wo Sie auswärts arbeiten. Dann soll Ihre Frau erklären, sie habe den Zettel verlegt, wo Sie ihr Ihre Adresse aufgeschrieben hätten. Sie würde dem Doktor aber sofort Nachricht geben, sobald Sie ihr geschrieben haben. – Sie verstehen mich doch, Mielke …?“

„Gewiß, Herr Harst …“ Sein trostloser Blick war aufgelebt. In seine zermarterte Seele war die Hoffnung eingezogen.

Wir verabschiedeten uns, nachdem Harst mit unserem neuen Verbündeten noch mancherlei verabredet hatte.

Wir standen wieder draußen auf der Straße im strahlenden Sonnenschein. Aber Harsts Gesicht glich einer Gewitterwolke. Mit Augen, die förmlich funkelten, spähte er in die Runde. An diesem köstlichen Maitage strömten die Berliner in Scharen dem nahen Grunewald zu. Die Straßenbahnen spien immer neue Schlangen heiterer Menschen aus. Um uns her war stetiges Leben, Bewegung, Lachen, Zurufe …

Als ein leeres Auto vorüberkam, stiegen wir ein, Harald noch immer in der Maske des alten Herrn. Als wir daheim anlangten, empfing unsere dicke Küchenfee Mathilde uns mit einem essigsauren Gesicht. Es hatte Lachs mit zerlassener Butter zu Mittag geben sollen, und ein solches Gericht läßt sich schlecht bis fünf Uhr nachmittags warm halten.

Mathilde wurde versöhnt. Wir fraßen wie die Scheunendrescher. Doch es war eine schweigsame Mahlzeit. Mein alter Harst hatte offenbar in Gedanken den Kampf gegen Doktor Halden mit allen Mitteln seines erfindungsreichen Kopfes aufgenommen, und arbeitete den Schlachtplan weiter aus.

Erst als Mathilde uns den Mokka dann auf der Veranda servierte, als nun auch Haralds Mutter mit am Tische saß und ihr großer, geliebter Junge ihr, seiner und unserer einzigen Vertrauten, die Ereignisse des Tages geschildert hatte, fügte er noch zum Schluß hinzu:

„Das, was ausschlaggebend war, ist das Baugerüst, ist Tischler Mielkes unvorhergesehener Sturz in die Tiefe und die Spritze in den Unterarm … Halden ist ein Schurke. Hinter seinen stillen, versonnenen, intelligenten Zügen verbirgt sich in Wahrheit ein teuflischer Dämon. Drei seiner Opfer kennen wir: Mendel, Mielke und die Gräfin Sildheim. Wieviel andere er außerdem noch auf dem Gewissen hat, entzieht sich vorläufig unserer Kenntnis. – Nun die Hauptfrage: Weshalb begeht Halden diese empörenden Scheußlichkeiten, welches Motiv liegt seinem verbrecherischen Treiben zu Grunde? Nur bei Mendel haben wir hinsichtlich dieses Motivs einen Anhaltspunkt: Eifersucht, Nebenbuhlerschaft! Bei Mielke und der Gräfin fehlt jeder Hinweis, jeder. Gewiß, man könnte annehmen, Halden sei einer von krankhaftem Forscherdrang besessenen Medizinern, denen ein Menschenleben als ein Nichts gilt. Doch das glaube ich nicht. Diesen Eindruck macht er nicht auf mich. Nein, ich beurteile ihn ganz anders. Seine übertriebene Eleganz, seine tadellos gepflegten Hände mit den tadellos manikürten Nägeln, der leichte Parfümgeruch, – kurz: eine ganze Anzahl geringer Kennzeichen deuten darauf hin, daß Halden wahrscheinlich ein Lebemann ist, der Unsummen verschwendet, vielleicht auch spielt oder andere Passionen hat. Er soll reich sein. Soll … Er soll aus seiner Praxis und seinem Sanatorium erhebliche Einnahmen haben. Daran zweifle ich nicht. Und doch: dieser Mensch ist geldgierig wie ein Geizhals, ist ein Verbrecher aus Eigennutz. Dabei bleibe ich. Und deshalb wollen wir auch, was Mendels Person angeht, das Motiv Eifersucht besser streichen und vorläufig die Vermutung aufstellen, daß Halden seinen „Freund und Verbindungsbruder“ aus dem Wege räumen will, weil der Chemiker vielleicht jenes Narkotikum, an dessen Erzeugung er arbeitete, wirklich bereits erfunden hat und weil Halden nach Mendels Tod damit ein glänzendes Geschäft machen will …“

Jetzt konnte ich nicht länger schweigen …

„Gestatte einen Einwurf, Harald. Wenn Halden aus Eigennutz diese entsetzlichen Veränderungen im menschlichen Organismus vornimmt, wie du glaubst: welchen Vorteil könnte er etwa durch den Tod Franz Mielkes und den der Gräfin haben?!“

Frau Auguste Harst nickte mir eifrig zu. „Bravo, lieber Schraut … Sie sprechen das aus, was auch mir nicht recht in den Kopf will … – Nun, mein Junge,“ wandte sie sich an ihren Einzigen, „du wirst natürlich diese Frage prompt durch Gegenbeweise aus der Welt schaffen … nicht wahr?“

„Nicht wahr!“ wiederholte Harst mit anderer Betonung. „Nein, es ist nicht wahr, daß ich Gegenbeweise besitze. Aber ich werde sie herbeischaffen. In der kommenden Nacht werden Schraut und ich zunächst dem Herrn Doktor Ferdinand Halden den zweiten großen Schreck einjagen. Den ersten wird ihm Mielkes Brief bereiten, den er heute abend empfängt, und der zweite wird das Verschwinden Ernst Mendels aus dem Sanatorium sein.“

„Du … willst … ihn stehlen?“ rief ich.

„Ja – stehlen ist der richtige Ausdruck, denn es handelt sich ja um einen halben Leichnam. Ich wette, daß, wenn Mendel einige Zeit Halden entzogen wird und … keine Spritzen mehr bekommen kann, das Krankheitsbild sich rasch ändern wird. Ich habe mir das Zimmer genau gemerkt, in dem Mendel untergebracht ist. Es ist das dritte im obersten Stock nach Westen zu, auch das dritte Fenster, denn diese Zimmer dort oben sind sämtlich einfenstrig. Uns wird es nicht weiter schwer fallen, Mendel unbemerkt verschwinden zu lassen und hier zu uns zu schaffen. Bisher ist Halden bestimmt ohne jeden Argwohn gegen uns. Dafür habe ich eine sehr feine Nase, ob jemand uns mißtraut. Mithin wird die Bewachung des Sanatoriums nicht strenger und schärfer als sonst sein. Da ferner das Barometer rasch sinkt, ist nach diesem heißen Tage nachts mit Regen und Gewitter zu rechnen, – und schließlich: Schraut und Harst werden’s doch wohl noch fertigbringen, einen Menschen ungesehen zu entführen! – Wenn dann Mendel hier bei uns in Sicherheit ist, käme Punkt 2 meines Festprogramms an die Reihe: morgen vormittag bezieht der Oberlehrer i. R. Alfred Burg das heute bei der Sanitätsrätin gemietete Zimmer. So, und nun wollen wir all dies vergessen und in unserem Gemüsegarten die Erdbeerbeete in Ordnung bringen, mein Alter. Das wird unseren ein wenig ramponierten Nerven fraglos guttun.“

 

5. Kapitel.

Der Wandschirm.

Frau Auguste Harst machte beim Abendbrot ihrem besorgten Mutterherzen Luft und warnte Harald eindringlich vor der geplanten nächtlichen Exkursion … „Halden wird, falls ihr beide von ihm erwischt werdet, keine Rücksicht kennen …!“

„Wir auch nicht, liebe Mutter,“ lächelte Harald beruhigend. „Quäle dich doch nicht mit ganz unnötigen Gedanken … Ich wette, daß Halden die Nacht in flotter Gesellschaft verleben wird und daß wir ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekommen werden. Außerdem werden Schraut und ich auch sehr bald aufbrechen – natürlich maskiert … Wir werden das Haus genau beobachten, werden vorsichtiger denn je sein und auch einen Verbündeten haben – den besten, den es gibt, den mächtigsten, den man in Großberlin findet: die Kriminalpolizei! Nachher rufe ich das Präsidium an und erbitte mir vier Beamte, die mich vor dem Rathaus in Alt-Schmargendorf zweckentsprechend kostümiert erwarten sollen. Du siehst, Mutter, ich unterschätze diesen Gegner keineswegs. Bist du nun beruhigt?“

„Halb und halb, mein Junge …“ –

Neun Uhr abends.

In dem unbebauten Waldstück gegenüber dem Sanatorium Doktor Haldens liegen auf den feuchten Kiefernadeln und dem nassen Sande zwei Kerle in schäbigen, fleckigen Gummimänteln, mit schmierigen Sportmützen und waschechten Gaunervisagen. Das heißt: das Waschechte dieser Gesichter ist nicht wörtlich zu nehmen, denn falsche Bärte, Schminke und Perücken würden einem warmen, kräftigen Wasserstrahl nicht lange widerstehen.

Es regnete sacht … Ein kühler Nordost fegte durch die Kiefern. Und es war dunkel wie in einer schwarzen Novembernacht. Der Mai, der liebliche Knabe, hatte sich in wenigen Stunden in einen brummigen, spuckenden alten Griesgram verwandelt.

Vor der Gitterpforte des einsamen Hauses drüben brannte eine elektrische Lampe und beleuchtete die pfützenreiche Straße.

So konnten wir denn auch genau beobachten, wie gegen halb zehn zwei Herren rasch durch die Pforte ins Freie traten und mit aufgespannten Schirmen, die ihre blanken Zylinderhüte schützten, eilends nach Schmargendorf zu davonschritten.

„Der rechts war Halden,“ flüsterte Harst.

Er wollte noch mehr flüstern, aber ich drückte warnend seinen Arm …

„Links!“ raunte ich … „Hinter der alten Kastanie.“

Da stand am Rande der Straße eine uralte Kastanie – ganz vereinzelt unter all den ärmlichen Nadelbäumen.

Hinter ihrem Stamm hatte sich soeben eine Gestalt erhoben – ein Mann, der dort bisher gelegen haben mußte.

Der Mann war klein, trug einen Umhang und einen großen Schlapphut. Mehr erkannte ich von ihm nicht.

„Konkurrenz!“ flüsterte Harst. „Wer mag das sein, mein Alter?!“

„Keine Ahnung …“

„So, … so, keine Ahnung …! – Da – der Kerl streckt den Kopf vor … Das Lampenlicht trifft ihn … Er starrt Halden und dessen Begleiter nach … – – Horch, was war das eben? Wirklich der Schrei einer verschlafenen Krähe?! Da – wieder … und hinter uns, und der Kerl dort vorn hat sich plötzlich niedergeworfen?!“

Harst richtet sich etwas auf … Wendet den Kopf …

Abermals der Vogelruf …

Harald legt sich wieder neben mich. „Nichts Verdächtiges … Und doch: die Geschichte gefällt mir nicht! Absolut nicht! Komm, schlängeln wir uns an den Pelerinenonkel heran, du von rechts, ich von links, bis wir ihn zwischen uns haben. Aber zupacken tust du erst, wenn ich Grille spiele und zirpe … Wiedersehen …“

„Wiedersehen …!“

Ja – – Wiedersehen!!

Und wie!!

Die Geschichte gefiel Harald nicht. Mir erst recht nicht, denn ich hatte kaum zehn Meter kriechend zurückgelegt, als ich schon stutzte, hüstelte, kaum noch Atem bekam …

Teufel, was war das nur für ein seltsamer Gestank …!

Und jetzt … ganz schwindelig wurde ich … Konnte gerade noch zwei Männer undeutlich erkennen, die abschreckend mißgestaltete Gesichter hatten – wie phantastische Wesen aus einer anderen Welt … Ungeheure Wulstlippen wie die Tabitu-Neger, die sich Holzscheiben in die Lippen stecken, so daß diese zu Kastagnetten werden …

Dann verlor ich das Bewußtsein, nahm aber noch in die Abgründe tiefer Ohnmacht den ganz bestimmten Eindruck mit hinüber, daß die beiden Ungeheuer mir die Hände blitzschnell mit Riemen fesselten.

Riemen …

Auch das stimmte. Denn als ich erwachte, fühlte ich als erstes den schmerzhaft starken Druck dieser Riemen und die völlige Taubheit meiner Hände, in denen infolge der Fesseln das Blut nicht mehr zirkulierte.

Ich erwachte, und zu meinem Erstaunen war ich eigentlich in wenigen Minuten alle lähmenden Folgen der Betäubung bis auf einen gallenbitteren Geschmack auf der Zunge wieder los. Vor mir auf dem rissigen, schmutzigen Bretterboden eines langgestreckten Raumes brannte eine elektrische Taschenlampe, die auf einem hochgestellten Ziegelstein lag. Der Lichtkegel beleuchtete mich und den ebenfalls schon aufrecht sitzenden Harald, der jetzt heiser zu mir sagte:

„Tolle Sache!!“

Auch meine Kehle war ein Reibeisen.

„Inwiefern toll?“ meinte ich.

„Weil wir in einem leeren Möbelwagen auf einem Haufen alter Decken sitzen und der Wagen außer uns höchstens noch Flöhe, Wanzen und Spinnen beherbergt. Ich habe mich bereits umgeschaut. – Höre nur, wie der Regen auf das Wagendach herabprasselt … So – und jetzt nimm mir die Riemen ab. Die Kerle haben uns mit irgendeinem Gas betäubt, trugen Gasmasken und sahen wie Marsbewohner aus … – Beeile dich, mein Alter … So, danke … Nun her mit deinen Riemen … Eine Hand wäscht die andere … Wir sind frei …“

Er griff in die Manteltasche …

„Wahrhaftig – man hat uns die Clementpistolen belassen … Man hat uns nichts weggenommen, und die Taschenlampe dort auf dem Ziegelstein dürfte mir gehören … – Hatte ich nicht recht: Tolle Sache! Was für eine Konkurrenz war das nun, die uns in dieser Art … – hallo, hier liegt noch auf dem Ziegelstein ein Zettel … Bleistiftzeilen, Druckschrift …:

„Lassen Sie sich nicht stören, meine Herren. Es war unserseits ein bedauerliches Versehen.“

Wirklich sehr höfliche Leute … Entschuldigen sich noch. Was kann man mehr verlangen! Und – wir sollen uns nicht stören lassen … Werden wir auch nicht. Wie spät haben wir’s denn? – Halb zwölf erst … Da sind wir ja sehr rasch wieder erwacht … Verlassen wir diesen Salon …“

Das taten wir, denn die Wagentür war nur angelehnt.

Es goß … goß …

Wir schlichen über einen Hof, kletterten über einen Zaun, – und zehn Minuten drauf waren wir bereits wieder unter den tropfenden Kiefern vor Haldens Haus. Den Weg bis hierher hatten wir schweigend zurückgelegt – über Äcker, durch unbekannte Gemüsegärten, immer nur dem untrüglichen Ortssinn Haralds folgend. Der Regen hatte uns in die Gesichter gepeitscht, und was von unseren Stromermasken noch übrig, war schwer zu sagen. Über unser allerletztes Abenteuer mit den Leuten mit den Gasmasken war Harald nach seiner Gewohnheit mit ein paar unklaren Andeutungen hinweggegangen, so zum Beispiel: „Es ist klar, daß die Leute uns trotz unserer Verkleidung kannten, erkannten, und daß sie Haldens Gegner sind wie wir. Mithin tatsächlich Konkurrenz, wie ich schon vor unserer … Niederlage betonte.“ – Daß diese Bemerkung bei mir die Frage auslöste, wer diese Konkurrenz wohl sein könnte, war selbstverständlich. Harsts Antwort lautete: „Ich denke, es kommt hier überhaupt nur eine einzige Person in Betracht, die auch fähig ist, mit weitgehendsten Mitteln den verbrecherischen Arzt zu bekämpfen.“

Damit war das Thema für ihn vorläufig erledigt, und ich konnte mir nun allein mein Hirn zermartern, wen Harst gemeint haben könnte. Die Auswahl an Personen war ja nicht gerade groß. Im Grunde kamen überhaupt nur zwei in Frage: Tussi Becker und Kamir Nussra. Erstere konnte man jedoch streichen, denn Fräulein Tussi besaß kaum die Mittel, außer uns auch noch andere für ihren Verlobten zu interessieren. Mithin blieb nur der persische Gesandtschaftsarzt übrig, der ja sehr reich sein sollte und der vielleicht im eigensten Interesse, damit er selbst eben nicht in Verdacht geriete, diesen unerklärlichen Dingen auf den Grund gehen wollte – vielleicht! Ferner hätte man noch an irgend jemand denken können, der für den Tischler Mielke oder die Gräfin Sildheim einzutreten gedachte. Aber auch dies war so wenig wahrscheinlich, daß letzten Endes nur Kamir Nussra übrigblieb, obwohl auch diese Lösung der Frage erhebliche Widersprüche aufwies. Wie sollte Nussra wohl bereits ahnen, daß dieses Scheusal von Halden mit allem Raffinement ihn in Verdacht zu bringen suchte, und daß Tussi Becker bei uns gewesen und denselben Argwohn geschürt habe?! – Zu weiterem Kopfzerbrechen hierüber hatte ich auch keine Zeit mehr, denn nachdem wir kaum ein paar Minuten das völlig in Dunkelheit gehüllte Sanatorium beobachtet hatten, gab Harald mir einen Wink und flüsterte hastig: „Vorwärts – – aber Vorsicht!“ – Und dann in strömendem Regen über die einsame Straße hinweg … Harst baut sich als Leiter an die Mauer auf. Die Mauer ist hoch. Ich sitze oben, ziehe ihn empor, – wir stehen im Vorgarten, wir horchen – – huschen weiter … An beiden Giebelseiten des schmucklosen Baues befinden sich eiserne Rettungsleitern – wie an der Rückfront von Theatern. Sehr bequem sind diese Leitern für die Herrn Einbrecher. Aber Sanatorien meiden diese Leute. Dort gibt’s nicht viel zu stehlen. So kommen wir denn in aller Bequemlichkeit auf das flache Pappdach, finden hier vier Bodenfenster …

Wir sind wir. Wenn wir mal beruflich uns umstellen und zum Gaunerhandwerk übergehen würden, könnte die Welt was erleben. Vorläufig ist kein Grund dazu vorhanden. Gewiß – stehlen wollen wir in dieser Nacht, doch solch ein Diebstahl rechnet ja nicht mit. – Die Bodenfenster mit Eisenrahmen und kleinen Scheiben aus unzerbrechlichem Patentglas können uns nicht imponieren. Harst befühlt sie alle vier und sagt beim vierten überrascht: „Schau an, hier ist bereits ein Fachmann an der Arbeit gewesen … Hier ist ein Loch mit einem Stahlbohrer in den Rahmen gebohrt und wieder verkittet worden. Der Kitt ist frisch … – Gib mir mal das Stück Draht, mein Alter …“ – Gleich darauf ist die Fensterstütze, die gleichzeitig als Verschluß dient, aus dem Zapfen geschoben. Wir kriechen hinab – unsere Taschenlampen leuchten – – und unser Patentdietrich öffnet uns die eiserne Bodentür. Dann stehen wir im matt erleuchteten leeren Flur des dritten Stockwerks vor der Tür des Zimmers Ernst Mendels …

Der Schlüssel steckt …

Merkwürdig …!

Harst winkt wieder, holt die kleine Neunschüssige hervor.

Und öffnet … Auch die innere Tür nicht mal verriegelt.

Merkwürdig …!

Wir treten ein …

Dünne Lichtstrahlen gleiten über das Bett – erlöschen.

Mendel haben sie uns gezeigt, – Ernst Mendel als Leiche aufgebahrt, mit gefalteten Händen, in einem hochgeschlossenen Totenhemd …

Wieder gleiten die Lichtfäden still wie eilende Glühkäfer über das Bett …

Kein Zweifel, Mendel ist tot.

Harst beugt sich über die Leiche … fühlt den Puls …

„Tot!“

Und wie er das flüstert, ist wieder in seiner Stimme der drohende, harte Klang …

Wieder schaltet er seine Taschenlampe aus …

Drückende Finsternis … Lastende Stille … Nur draußen der Regen … Regen … Regen … Eine einförmige, trostlose Melodie …

„Tot,“ wiederholt [er][5]. „Wir sind zu spät gekommen … Für Mendel zu spät … Nicht für die Gräfin, hoffe ich … Mielke haben wir in Sicherheit gebracht … Tun wir das gleiche mit dieser Frau, die nur … sich selbst sieht und vielleicht denselben Weg wie Mendel gehen sollte. Ihr Zimmer liegt eine Treppe tiefer, genau unter diesem … Vorwärts!“

Im Hause rührt sich nichts.

Wir steigen die Treppe hinab. Überall in den Fluren dasselbe matte Licht – eine milde Dämmerung.

Wir stehen vor der weißlackierten Tür … Der Patentdietrich knabbert im Schloß …

Auf …

Der Riegel der Innentür knackt leise …

Hinein …

Dünne Lichtfinger greifen in die Finsternis …

Streifen das Bett …

Leer … Zerwühlt …

Gleiten zum Fenster, das hier wie überall im Hause dünne Eisenläden hat …

Eisenläden offen … Verschluß durchgefeilt …

Doppelfenster nur angelehnt … Am Fensterrahmen eine Wäscheleine …

Harst beugt sich weit zum Fenster hinaus – im Dunkeln … Zieht die Leine etwas hoch, tritt wieder zurück …

„Auch zu spät, mein Alter! Die Konkurrenz war schneller als wir …“

Flüstert’s – im Dunkeln …

„Und wer ist die Konkurrenz?“ frage ich geradezu.

„Kamir Nussra – wer sonst?!“

„Dann also – Rückzug …!“ mahne ich leise, denn in diesem Hause hockt mir stets das Grauen im Nacken …

„Wir haben Zeit, wir können getrost Haldens Heimkehr erwarten … Komm nur!“

Er versperrt die Zimmertüren wieder …

Ich weiß, daß es keinen Zweck hat, ihn zu warnen.

Und so gleiten wir Stromer die Treppen wie flüchtige Gespenster abwärts. Wir kennen das Terrain. Wir haben uns mittags gut umgesehen. Harst wieder voran. Irgendwo im Hause schlägt eine keifende Uhr zwei schrille, lang nachhallende Schläge … Halb eins … Es muß eine einfache Tür gewesen sein, hinter der sich diese Uhr gemeldet hat. Im Erdgeschoß. Dicht unter uns … Und als wir nun im unteren Flur sind, finden wir eine Tür nur angelehnt, sehen hinein, – Nachtlampe brennt, auf dem Diwan liegt die Walküre von Krankenschwester in Kleidern und schläft, vor dem Diwan ein mächtiger Kerl von Schäferhund – – regt sich nicht … schläft – – müßte uns gehört haben mit den feinen Sinnen des Tieres, wenn sein Schlaf (wie der der Schwester) eine natürliche Ursache gehabt hätte …

Harst zieht prüfend die Luft ein. Ich auch. In dem schwachen Geruch, wie er allen Arztzimmern anhaftet, Geruch nach Lysol, Chloroform und anderem, unterscheide ich noch eine besondere Beimengung: dasselbe, was ich vor Stunden unter den Kiefern warnend spürte, bevor ich betäubt umknickte: Gas – Giftgas!

Harald blickt mich an. „Die Konkurrenz war auch hier!“ raunt er leise. „Schneidige Herrschaften – alle Achtung! Nur die Tür hätten sie hier wieder schließen sollen …“

Er tut’s …

Und dann weiter – hinein in den einzigen phantastischen Raum dieses nüchternen Hauses, in die Diele, das Wartezimmer …

Wir finden es dunkel, schalten die Taschenlampen ein … Suchen ein Versteck … Neben dem großen Kaminofen steht ein vierteiliger hoher japanischer Wandschirm: schwarze Seide mit fingerdicker Goldstickerei.

Harst wendet sich dem Wandschirm zu …

Mit einem Male erscheint da über dem Rande des kostbaren Paravents ein Kopf …

Ein feixendes Gesicht …

„Grüß Gott, Herr Harst …,“ sagt Arno Matzka vergnügt.

Er ist immer vergnügt, dieser halbe Kollege, dieser Berufsdetektiv, der zu den gesuchtesten Berlins gehört – und zu den befähigsten und tadellos ehrenhaftesten. Er ist zugleich der eleganteste und der lebensfreudigste. Märchen umspinnen seinen Namen Matzka. Man will wissen, daß dieser erst 1921 in Berlin aufgetauchte Arno Matzka einst in Südrußland Sohn und Erbe eines fürstlichen Großgrundbesitzers gewesen sei. Man sagt … Matzka hat den Schleier seiner Vergangenheit selbst uns gegenüber nie gelüftet.

„Bitte – hier ist auch Platz für drei,“ fügt er hinzu. „Merkwürdig, daß wir genau denselben Gedanken gehabt haben: hier Haldens und seines Begleiters Rückkehr zu erwarten! – Kommen Sie nur … Bringen Sie aber zwei Hocker mit …“

Matzkas schnodderige, halb witzige Art kennen wir schon … Der Wandschirm verbirgt jetzt drei, – drei, die dem Herrn Doktor Ferdinand Halden entweder aufs Schafott oder zumindest auf Lebenszeit ins Zuchthaus verhelfen wollen.

 

 

Das Ende einer Mainacht

 

1. Kapitel.

Gräfin Xenia.

Gespräch im Dunkeln … Nur flüsternde Stimmen hinter dem Wandschirm. Nur das leise Plätschern leiser Rede und Gegenrede. Auch das hat seine Reize, zumal wenn man wie wir einen Mann zwischen uns hatten, der Arno Matzka hieß – angeblich … Ein Mann, der fast sämtliche Sprachen beherrschte, der genau so international war wie wir, der die Welt in allen Winkeln kannte und dem das Abenteuer Bedürfnis war … Jedenfalls eine Persönlichkeit, dieser Kollege.

„… Gewiß, der Perser Nussra ist mein Auftraggeber,“ erklärte er. „Allerdings hatte ich auch schon vorher auf Halden ein kritisches Auge geworfen, sogar schon vor Mendels … Unfall im Hause der Sanitätsrätin.“

„Schon vorher?!“ und Harsts Stimme verriet ein wenig Unglauben.

„Gewiß, schon vorher, der Gräfin Sildheim wegen.“

„Wie – auch als Beauftragter?“

„Nein … Aus eigenem [nteresse][6] heraus, Herr Harst.“

Pause … Dunkelheit … Stille … Draußen aber der Mairegen und das ferne, dumpfe Grollen eines ersten Frühjahrgewitters.

„Also kennen Sie die Gräfin, Matzka?“ läßt sich Harald wieder vernehmen.

„Sehr gut … Zu gut …“ Das klingt so eigentümlich, so, als ob’s aus den Tiefen einer wunden Seele käme. „Haben Sie sich bereits über die Gräfin näher unterrichtet, Herr Harst? – Nein? Nun, dann kann ich Ihnen helfen … besser als jeder andere. Sie waren ja soeben so vollkommen offen mir gegenüber, und wir kämpfen nun auch Schulter an Schulter. Sie haben mir wichtige Aufschlüsse gegeben. Ich kann dasselbe. Vieles von dem, was Sie wissen, war mir neu, eigentlich das meiste sogar. Und ebenso wird Ihnen interessant sein, was ich über die Gräfin Xenia Sildheim zu berichten habe. Sie ist seit drei Jahren Witwe, erst dreiundzwanzig Jahre alt, heiratete seinerzeit den österreichischen Grafen Sildheim nur aus Not. Der Graf hätte ihr Großvater sein können, war schon zweimal verheiratet gewesen, hatte drei erwachsene Kinder, von denen der Erbgraf Joseph Sildheim uns hier allein etwas angeht, denn er war’s, der seine jugendliche Stiefmutter aus ihrer Dresdener Villa nachts im Auto hier zu Doktor Halden brachte – – wegen nervösen Zusammenbruchs, behauptete er, und ein Lump von Arzt in Dresden hat ihm das bestätigt.“

„Natürlich erbrechtliche Streitigkeiten,“ warf Harald ein.

„Natürlich … Die Gräfin Xenia soll eben entmündigt werden, damit der Erbgraf Joseph die Verwaltung des Vermögens in die Hand bekommt, das ihm sein Vater wegen seiner Heirat mit einer Halbweltdame aus Monte Carlo entzogen hatte …“

„Die Gräfin Xenia ist geborene Russin, nicht wahr?“

„Ja … geborene Fürstin Ussulow von der kaukasischen Linie. Die Ussulows waren ungeheuer reich. Von der ganzen Familie lebt heute nur noch Xenia, und das Vermögen ist in dem Riesensack bolschewistischer Volksbeglückung spurlos verschwunden – wie ungezählte andere Vermögen.“

„Wie mag denn der Erbgraf Sildheim gerade auf Doktor Halden als den geeigneten Schurken gekommen sein?!“

„Ja – wenn ich das wüßte! – Ich habe die Fürstin Xenia seinerzeit sehr gut gekannt …“

„… Weil Sie selbst Russe sind, Matzka …“

„Entschuldigen Sie schon, Herr Harst, den Vorhang lüfte ich nicht. Was war, ist begraben. Nicht alles freilich, denn für vieles gibt es kein Vergessen …“

Finsternis um uns her.

Und jetzt war des Kollegen Stimme wie das zornige Fauchen eines stolzen Königstigers, den man aus den heimatlichen Dschungeln durch Feuer, List und Frechheit vertrieben hat …

„Nein, kein Vergessen, Herr Harst … Nur Schwächlinge winseln davon, daß die Rache unedel sei … Phrasen sind’s … – Lassen wir das … – Wir waren bei Xenia … Ich hatte sie jahrelang aus dem Auge verloren, hatte dann aber sofort, nachdem ich mir hier in Berlin eine neue Existenz gegründet, all meine Einnahmen dazu verwandt, sie zu suchen – auch jahrelang, ohne zu ahnen, daß ich nur drei Stunden Eisenbahnfahrt von ihr entfernt war. Meine Angestellten, von denen Sie ja die besten persönlich kennen und heute abend mit den Gasmasken wieder kennengelernt haben – leider! – meine Leute entdeckten schließlich Xenia Ussulow als Xenia Sildheim in Dresden. Aber – die Villa war leer, Xenia bereits hier in diesem sogenannten Sanatorium. In Dresden wurde in der Nachbarschaft der Villa Sildheim so allerlei gemunkelt … Und das machte mich hier vorsichtig. Ich schickte einen meiner Erprobtesten zu Halden als angeblich Kranken. Halden stellte angeblich eine schwere Herzneurose fest, die er durch Einspritzungen – angeblich – bessern wollte. Nach der ersten Spritze schon litt mein Vertrauter an Sehstörungen schlimmster Art, und weigerte sich, Halden sich nochmals in die Hände zu geben. Ein anderer Arzt, von dem ich meinen Beauftragten untersuchen ließ, erklärte nach gründlicher Untersuchung, daß irgendeine Vergiftung vorliege, daher die Sehstörungen. Von Haldens Spritzkur hatte mein Mann ihm nichts gesagt. – Sie sehen, Harst, daß das Bild immer das gleiche ist: Halden benutzt sogar harmlose Patienten als Versuchskaninchen! Freilich – den richtigen Einblick in die Tätigkeit dieses Scheusals habe ich erst durch Sie erhalten. Immerhin hatte ich für Xenia ernsthaft zu fürchten begonnen und wollte sie, zumal noch Kamir Nussra mein Klient wurde, und den Fall Mendel rücksichtslos aufgeklärt wünschte, zunächst mal aus diesem Hause entführen, da auf geradem Wege, etwa durch die Polizei, bei meinem mangelhaften Beweismaterial nichts auszurichten gewesen wäre. Somit wählte ich den krummen Weg – – über die Mauer, durch das Dachfenster – und so weiter. Und nun können Sie sich auch wohl mein Entsetzen vorstellen, als Sie mir vorhin von Xenias und des Tischlers Mielke geradezu unbegreiflichen Trübungen des Sehvermögens und gewisser Gehirnzentren sprachen … Jetzt danke ich dem Schöpfer, daß ich diese günstige Nacht so gut ausgenutzt habe, daß Xenia in meiner Wohnung in Sicherheit ist und wir drei nun diesen fürchterlichen Menschen gemeinsam entlarven werden. Vielleicht noch in dieser Nacht … Ich rechne darauf, daß er bei seiner Rückkehr sich aus Schreck über Xenias scheinbarer Flucht durch das Fenster irgendwie verraten wird.“

„Und ich rechne damit, daß wir ihn und seinen uns noch unbekannten Begleiter, mit dem er abends gegen neun das Haus verließ, werden belauschen können. Deshalb haben Schraut und ich uns hier eingeschlichen. – Was wissen Sie über Haldens Privatleben? Sie haben ihn doch sicherlich beobachten lassen.“

„Seit zwei Wochen auf Schritt und Tritt, aber erfolglos. Halden verkehrt in der besten Gesellschaft, ist Mitglied des Standard-Klubs, spielt ein wenig, lebt gut, besucht teure Vergnügungslokale – alles mit Maß, nirgends etwas Anstößiges, Verdachterregendes.“

[„Und was wissen Sie über Giesebrecht?“][7]

Matzka erwiderte gleichgültig: „Nebenfigur, Harst …! Ohne Bedeutung, wenn auch ein Vertrauter Haldens. Der Alte hat einst bessere Tage gesehen, schämt sich seiner jetzigen Beschäftigung wegen und verschweigt sie der Sanitätsrätin Becker, der er als Mieter sehr bequem ist, weil er keine Ansprüche stellt …“

„Nebenfigur?!“ Harsts Stimme war sehr ernst. „Da befinden Sie sich in einem Irrtum, Matzka. Giesebrecht ist alles andere als eine Nebenfigur. Er ist einer der Hauptakteure, vielleicht sogar ebenso wichtig und gefährlich wie Halden selbst. Tussi Becker und ihr Verlobter, der nun dort oben tot auf dem Bett liegt, haben den Alten „Uhu“ getauft. Sie hätten ihn besser Phönix nennen sollen, denn der Vogel Phönix verbrannte sich der Sage nach selbst und erstand dann immer wieder aus den Flammen in verjüngter Gestalt. Giesebrecht ist nämlich weder alt noch dürfte er Giesebrecht heißen. Sein Äußeres ist nichts als eine glänzende Maske, unterstützt durch sehr viel schauspielerisches Talent. Es ist so, Matzka. Der Uhu ist ein junger Uhu. Wenn er seine Verkleidungsrequisiten verbrennt, dürfte bestimmt ein Mann in den besten Jahren zum Vorschein kommen: Vogel Phönix!“

„Unmöglich!“ murmelte Matzka. „Ich habe doch auch Augen im Kopf und …“

„Still … Die Haustür!“ warnte Harst …

Stille … Totenstille …

Aber im Schloß der Haustür drehte ein Schlüssel den Riegel mit schwachem Knacken zurück …

Die Haustür schwang auf[8]

Das Krachen eines Donnerschlages übertönte Haldens Stimme, der zu seinem Begleiter etwas sprach …

Dann flammte die matte Ampel der Diele auf. Halden versperrte die Tür, und sein Begleiter durchschritt die Diele, indem er ärgerlich meinte:

„Eine scheußliche Nacht, da hast du ganz recht …“ Er öffnete die Tür zum Sprechzimmer und schaltete auch dort das Licht ein.

Sein Freund schloß die Tür wieder und schien den Mantel abzulegen, setzte sich dann in einen der Sessel.

Leider hatten wir verabsäumt, in den Wandschirm rechtzeitig Sehlöcher zu bohren, und da die beiden dort vor uns jetzt beharrlich schwiegen und sich kaum regten, abgesehen von dem Geräusch eines aufflammenden Zündholzes, durften auch wir nicht die geringste Bewegung wagen.

Qualvolle Minuten also …

Bis Haldens Begleiter meinte:

„Teufel noch mal, was sitzen wir hier und grübeln?! Vielleicht ist unsere Sorge ganz überflüssig …“

„Wohl kaum … Mielke war heute vormittag bei mir in der Sprechstunde. Da erwähnte er noch mit keiner Silbe, daß er auswärts Arbeit annehmen wolle. Abends bekomme ich seinen Brief … – Ich bleibe dabei, daß die beiden dahinter stecken. Es ist doch zu auffällig, daß gerade heute, wo sie bei mir waren, Mielke sich mir entzieht …“ Er hüstelte etwas … „Ein Sauwetter …! Man holt sich Schnupfen oder Grippe … Hier ist’s mir doch zu kalt … Gehen wir lieber in meinen Bestrahlungsraum. Dort haben wir’s wärmer …“ Er hustete noch lauter …

Gleich darauf war die Diele dunkel.

„Was nun?!“ fragte Matzka enttäuscht. „Die Sache begann so günstig für uns … Ich habe keine Ahnung, wo der Bestrahlungsraum liegen mag …“

„Natürlich neben dem Sprechzimmer,“ meinte Harst sehr gedehnt und offenbar sehr zerstreut. „Finden Sie nicht auch, Matzka, daß Halden … sehr schlecht husten kann …“

„Wie – – Sie denken etwa, daß …“

„Ja – daß wir drei Hocker hier hinter den Wandschirm gestellt haben, die nun in der Diele fehlen, und daß wir den Schirm ein Stück weiter abrücken mußten, um alle drei Platz zu haben, – schließlich, daß ein argwöhnischer Mensch wie Halden, dazu ein kluger Kopf, unschwer aus Kleinigkeiten – und er wird jetzt auf alles achten – Schlüsse ziehen dürfte, die in diesem Falle zutreffen. Mit einem Wort: wir sind entdeckt, und wir nehmen am besten unsere Taschenlampen in die Linke und die entsicherten Waffen in die Rechte und warten ab, was kommt, und drücken schneller ab als der Feind, wenn’s nötig ist …“

 

2. Kapitel.

Im Bestrahlungsraum.

Es war nicht nötig. Es kam alles ganz anders. Es kam der Auftakt zum zweiten Teil dieser Gewitternacht.

Wir warteten also …

Wir horchten …

Urplötzlich flammte die Ampel in der Diele auf.

Urplötzlich … Das Knacken des Drehhebels des elektrischen Schalters war durch den Lärm des Gewitters übertönt worden.

Haldens sanfte Stimme dann:

„Meine Herren, Sie haben es etwas unbequem dort hinter dem Wandschirm. Bitte, wollen wir lieber Auge in Auge uns aussprechen. Ich glaube, wir werden auf diese Weise am weitesten kommen, denn – wir sind wahrscheinlich gegenseitig in groben Irrtümern befangen. Ihre Anwesenheit hier verrieten mir die drei fehlenden Hocker und hier dieses Stückchen eines falschen Bartes auf dem Teppich. Bei solchem Regen lösen sich angeklebte Bärte leicht los und man verliert ebenso leicht Teile davon …“

Harst erhob sich, rückte den Schirm beiseite.

Halden saß in der einen Ecke des großen Ledersofas mit übereinander geschlagenen Beinen – noch im tadellosen Frack, eine Gardenia im Aufschlag, zwischen den Fingern eine Zigarette.

Harst schaute rasch nach der Tür des Sprechzimmers. Die Vorhänge waren halb zurückgeschoben, und auch ich konnte in das leere Sprechzimmer hineinschauen.

Halden stand nun gleichfalls auf, verbeugte sich sehr korrekt und fragte höflich: „Wer ist der dritte Herr, Herr Harst?“

„Der Kollege Arno Matzka, beauftragt von Kamir Nussra, der den gegen ihn aufgetauchten Verdacht schleunigst völlig entkräften will.“

„Wie ich, Herr Harst …,“ nickte Ferdinand Halden mit jenem versonnenen Lächeln, das seine Züge noch durchgeistigter erscheinen ließ. „Vielleicht darf ich die Herren in den Bestrahlungsraum bitten, wo mein Freund Aristide Manquier sich vor dem Kasten der Höhensonne künstlich sonnt … Hier ist’s zu kühl …“

Halden schritt voran – durch das Sprechzimmer, stieß hier eine Tapetentür auf und stieg eine kurze Treppe hinab, die in einen langgestreckten, weißen Kellerraum mündete, der voller Apparate aller Art stand.

Ein Herr im Frack erhob sich aus einem Korbsessel und nahm die Schutzbrille ab, die er hier im Bereich der Strahlen aufgesetzt gehabt hatte. Auch er war im Frack. Eine mittelgroße schlanke Erscheinung, schwarzes, gescheiteltes Haar, sehr frische Farben, volles Gesicht, kleines schwarzes Bärtchen.

„Mein Freund Aristide Manquier,“ stellte Halden ihn uns vor. „Manquier ist Elsässer, meine Herren, aber Deutsch-Elsässer, Naturforscher und Physiker dem Beruf nach …“

Herr Aristide verbeugte sich tadellos und musterte uns neugierig, besonders Harald.

Dann lachte er herzlich auf und streckte Harst die Hand hin. „Herr Harst, diese meine Hand lege ich für Halden ins Feuer, und diese meine Hand können Sie ruhig drücken, denn ich gehöre zu Ihren glühendsten Bewunderern.“

Harst ging auf den leichten Ton jedoch nicht ein. „In meiner Hand, Herr Manquier, sehen Sie eine Waffe, die leider schon so manches Menschenleben bedrohen mußte. Ich hoffe, daß dies heute hier nicht nötig sein wird …“

Aristide schüttelte den Kopf. „Himmel, sind Sie ein … Pedant, Herr Harst!!“

„Laß das!“ rief Halden da, der noch vier weitere Rohrsessel herbeischob, nachdem er die Höhensonne ausgeschaltet hatte. „Bitte – nehmen wir Platz …“

Dabei setzte er sich neben Manquier, der seinen Sessel umgedreht hatte.

Die fünf Sessel bildeten etwa einen Kreis, und zwar saßen wir drei Verbündeten, mit dem Rücken nach der Treppe hin, während Halden und Manquier wieder den großen Höhensonne-Apparat im Rücken hatten.

Halden begann dann sofort:

„Herr Harst, falls Sie hier an dieser Platzverteilung oder sonstwie etwas zu bemängeln haben, so sprechen Sie ganz offen …“

„Ja, – ich habe daran etwas auszusetzen,“ erklärte Harald kurz. „Sie beide werden sich mit dem Rücken nach der Treppe plazieren, und wir drei mit den Gesichtern dorthin. Das erscheint mir ratsamer.“

„Wie Sie wünschen …,“ – und Halden erhob sich.

Nun saßen wir so, wie Harst es gewünscht hatte … Saßen immer noch mit den Taschenlampen und den Pistolen in den Händen da, um jeder Teufelei vorbeugen zu können. Ging etwa das Licht aus, so konnten wir sofort die Szene wieder beleuchten und blieben Herren der Situation. Ich meinerseits hielt es für ausgeschlossen, daß uns unter diesen Umständen etwas zustoßen könnte. Und dennoch wollte bei mir ein Gefühl, als ob wir über einem Abgrund an dünnen Fäden hingen, nicht weichen. Ich witterte eine Gefahr, ohne mir darüber klar werden zu können, woher sie zu erwarten sei. Vielleicht war an dieser Unruhe, an dieser Überreiztheit meiner Nerven nur die Umgebung schuld. Das, was ich in diesem Hause bisher gesehen und erlebt, war noch so frisch in meiner Erinnerung, daß die verzerrten Gesichtszüge und die entsetzlichen Augen der Gräfin und des noch lebenden Mendels stets von neuem wie Geisterfratzen vor mir auftauchten, ganz zu schweigen von Franz Mielke, dem dritten Opfer dieses aalglatten Schurken, der hier nun versuchen wollte, uns irgendwie zu täuschen und den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Aalglatter Schurke … Ja – wie er so nachlässig dasaß mit seinem intelligenten Gesicht, das Kinn leicht in die Linke gestützt und in den Augen einen Ausdruck sinnenden Gleichmuts: man hätte ihm kaum etwas Schlechtes zugetraut!

Anders Herr Aristide Manquier. Der tat ganz so, als sei dies hier lediglich eine amüsante Posse, rauchte seine Zigarette mit allem Behagen und warf Harald ironische Blicke von unverfrorenster Unverschämtheit zu.

Halden richtete sich etwas auf. „Herr Harst, Sie sind Ihres tadellosen Gedächtnisses wegen berühmt. Sie werden den Wortlaut meiner Entgegnung noch gegenwärtig haben. Aus diesem Wortlaut kann man, wenn man voreingenommen ist, allerdings vielleicht uns einen Strick drehen. Ist man nicht voreingenommen, so bedeutet sowohl meines Freundes Ausdruck „Sorge“ sowie meine Entgegnung lediglich mein Interesse für einen interessanten Krankheitsfall und meine Befürchtung für Franz Mielke, der törichterweise sich von Ihnen hat beeinflussen lassen und nun unfehlbar in kurzem an … Gehirnerweichung eingehen wird. Im übrigen ist mir Mielkes Person nicht so wichtig als die anderen Fragen, Herr Harst, die Sie mir wohl rückhaltlos beantworten werden. Weshalb sind Sie hinter mir her, um nicht viele Redensarten zu gebrauchen?“

In der Tat: dieser Halden war ein Mensch ohne Nerven, war ein Gegner von einem Ausmaß, wie wir’s selten gefunden hatten.

Aber Harald hatte ihm gegenüber, mochten sie einander an Intelligenz, Energie und Schlauheit auch gleichwertig sein, etwas voraus: die größere Erfahrung! Wer wie Harst seit zwölf Jahren den Kampf gegen das Verbrechen in seiner mannigfachsten Form aufgenommen hat, sammelt notwendig einen Vorrat von Menschenkenntnis und Kenntnis der Verteidigungsmethoden sogenannter intellektueller Rechtsbrecher, der ihm jederzeit zustatten kommt.

So erwiderte Harst denn – immer in demselben ruhigen, unbeugsamen Tone: „Ich decke meine Karten nie vorzeitig auf, Herr Doktor Halden. Ich möchte Sie verschiedenes fragen. Wie kommt es, daß drei Ihrer Patienten nach Ihrer Behandlung an ganz ungewöhnlichen Sehstörungen litten: Mielke, die Gräfin und ein Angestellter Matzkas, den dieser absichtlich zu Ihnen geschickt hatte?“

Halden lehnte sich wieder zurück. „Also das ist’s! – Wären Sie Mediziner, Herr Harst, so würde ich Ihnen die Ergebnisse meiner Forschungen über die Entzündung der Augennerven infolge totaler nervöser Erschöpfung, ferner über die Zusammenhänge zwischen beginnender Gehirnerweichung und Sehstörungen, schließlich über die Einwirkungen einer Gehirnerschütterung …“

Harst verlor die Geduld. Diese schleimigen, öligen Phrasen Haldens empörten ihn. „Hören Sie auf!“ schnitt er ihm grob das Wort ab. „Es wird sich jetzt ja herausstellen, ob Mielke wirklich ohne Ihre Behandlung „eingehen“ wird oder ob sich nicht vielmehr sein Zustand genau wie der der Gräfin wesentlich bessern wird …“

Halden blieb unberührt – selbst hiervon. „In diesem Tone, Herr Harst, verkehrt man mit einem überführten Verbrecher, nicht mit mir. Tun Sie, was Sie für richtig halten. Ich betrachte diese Unterredung für beendet, und da ich müde bin, würden Sie mich zu Dank verpflichten, wenn Sie drei sich verabschieden wollten. Ich jedenfalls weiß, was ich tun werde. Ich werde gegen Sie drei Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs, Bedrohung und Nötigung stellen.“

Er stand langsam auf.

Seine unglaubliche Kaltblütigkeit und Frechheit wirkten direkt verwirrend.

Nicht auf Harst …

„Wir werden gehen,“ sagte er leicht ironisch. „Denn im Grunde haben wir hier nichts mehr zu suchen. Wir haben eben gefunden, was wir suchen. Und daß keine Maus dies Sanatorium ohne meinen Willen verläßt, dafür werde ich sorgen. Wir haben Mielke und die Gräfin …“ – Pause …

Haldens Blick wurde unruhig …

Zum ersten Male verriet Halden sich …

„Die Gräfin?!“ fragte er rasch …

„Ja – auch die Gräfin in Sicherheit gebracht … Sie ist entflohen, Herr Doktor Halden … Und …“

„Das ist nicht wahr!“ stieß Halden hervor …

„Ich lüge nur im Notfalle. Hier habe ich’s nicht nötig. Wenn Sie in dem Zimmer der Krankenschwester Anna gewesen wären, hätten Sie diese und den Schäferhund Hasso betäubt vorgefunden … Sie waren jedoch nicht dort. Und wenn Sie in das Zimmer der Gräfin hinaufgehen wollen – bitte –, es ist leer. Gehen Sie nur, überzeugen Sie sich … Ich habe nichts dagegen … Denn … Flucht ist unmöglich, Doktor Halden. Draußen haben wir Hilfstruppen: Kriminalpolizei!“

Halden war blaß geworden.

Und Herr Aristide Manquier sogar aschfahl …

Das Bild hatte sich gründlich geändert. Der Schlag hatte gesessen.

Halden vergaß sich, ließ für Sekunden die Maske fallen.

Ein Blick traf Harst – ein Blick aus den Augen eines rücksichtslosen, brutalen Verbrechers – ein Blick voller Hohn, Haß, Rachgier und … Triumpf.

Doch diese Augen, bisher so mild und versonnen, änderten ebenso rasch wieder den Ausdruck …

„Schade … So wird also auch die Gräfin sterben,“ sagte Halden mit leichtem Achselzucken. „Durch Ihre Schuld, meine Herren … Und auch das werde ich gegen Sie vorbringen …“

Halden nahm eine von Manquiers dicken, kurzen Zigaretten und schob sie zwischen die Lippen. Dasselbe tat Herr Aristide …

Und als dies geschehen, geschah sofort ein weiteres …

Ich fühlte, wie meine Augen urplötzlich wie in höllischem Feuer brannten, fühlte auf der Brust einen beklemmenden Druck, fühlte, wie mir Tränenbäche aus den Augen schossen. Ich sah nichts mehr als rote, zuckende Blitze … Hörte ein paar Schüsse … Hatte noch so viel Kraft, auch meine Waffe in Richtung auf Halden und Manquier abzudrücken …

Zwecklos …

Denn im nächsten Moment schon glitt ich mit schwindendem Bewußtsein vornüber vom Stuhl auf den Bastteppich, der hier den hellen Fliesenboden des Bestrahlungsraumes bedeckte.

 

3. Kapitel.

Drei Spritzen.

Mit schwindendem Bewußtsein, das jedoch nicht ganz erlosch. Ich wußte genau, daß ich auf den Knien lag und mit den vorgestreckten Händen mich stützte, daß die Tränen mir immer noch aus den brennenden Augen stürzten und daß diese qualvolle Reizung sich auch in anderer Weise äußerte: durch ein Brillantfeuerwerk, durch bunte Blitze, durch Raketen, rasende Feuerräder und züngelnde Flammenzungen. Ich merkte auch, daß mir nun die Arme nach hinten gerissen wurden, daß man mich hochriß, in den Korbsessel zurückdrückte und jemand meine Kiefer mit einem kalten Gegenstand weit öffnete …

Mein Wahrnehmungsvermögen, die Fähigkeit der Selbstbeobachtung wurden kräftiger und klarer; die halbe Betäubung wich, und auch der Reiz auf meinen Tränendrüsen ließ nach.

Immer noch umflorten Blickes sah ich Haldens schlanke Gestalt an einem langen, schmalen Operationstisch hantieren, auf dem ein menschlicher Körper lag. Der verstellbare Tisch war schräg nach unten gerichtet, so daß die Füße des Körpers tiefer lagen und ich nach einiger Anstrengung auch das Gesicht erkennen konnte – überhaupt die ganze Gestalt: es war Ernst Mendels Leiche!

Nun schwanden auch die letzten Nebel …

Die Umgebung war dieselbe geblieben: der Bestrahlungsraum … Rechts von mir Harst, gefesselt, geknebelt, an den Rohrsessel gebunden wie ich … Rechts von Harst Arno Matzka …

Wir drei hatten die Partie verloren … Halden hatte uns überlistet. Mein Hirn prüfte die Vorgänge der letzten Minuten mit sachlicher Schärfe: die Zigaretten, die die beiden sich in den Mund gesteckt hatten, Halden und Manquier, waren nichts anderes als winzige „Gasmasken“ gewesen.

Halden beachtete uns nicht.

Er ging hin und her, holte allerlei Fläschchen, kochte eine kleine Injektionsspritze aus, – alles mit der Ruhe des Arztes, der an besondere Experimente gewöhnt ist.

Nun füllte er die gereinigte Spritze aus einem winzigen Fläschchen mit einer grünlichen Flüssigkeit, prüfte, ob in der Spritze sich keine Luftbläschen mehr befänden, und lehnte sich leicht am fahrbaren Operationstisch.

Sein Gesicht war die Maske des tadellosen Ehrenmannes – sein Ton mild und freundlich …

„Meine Herren, ich bedauere aufrichtig, daß Ihr Verhalten mich zwang, Ihnen den Beweis zu liefern, daß ich Leuten Ihrer Art gewachsen bin. Da die Situation hierdurch eine erhebliche Verschiebung zu unser beider Ungunsten erfahren hat: Sie sind in meiner Gewalt, und ich muß notwendig das Feld räumen, nachdem ich Ihnen einen letzten Beweis meiner mannigfachen Künste gegeben haben werde, – da also die Dinge jetzt ganz anders liegen, will ich der Wahrheit die Ehre geben: Ich habe in der Tat einige meiner Patienten zu wissenschaftlichen Zwecken insofern mißbraucht, als ich ihnen Gifte, von mir erfunden, in die Blutbahn spritzte, um die Wirkung dieser Gifte auch am menschlichen Organismus erproben zu können. Sie wissen fraglos, meine Herren, daß das berühmte Pfeilgift der südamerikanischen Indianer, das Curare[9], eine fast augenblickliche Lähmung des Nervensystems herbeiführt, und daß die mit Curare Vergifteten zunächst nur völlig Gelähmten gleichen und der Tod erst später eintritt – wann, darüber wußte man bisher nichts Bestimmtes. Diese Gelähmten, das ist erwiesen, behalten bis zum endgültigen Verscheiden Gehör, Geschmack, Gesicht, auch die Fähigkeit, logisch zu denken. Es sind lebende Leichname, zum langsamen Absterben verurteilt, – es sind also seelische Höllenqualen, die diese Ärmsten erdulden, bevor ihr Herz den letzten Schlag getan hat. Mir ist es nun gelungen, dieses Curare erheblich zu … verbessern. Ich habe mit meinem neuen Giftstoff, den ich Haldin nenne, die eigenartigsten Krankheitssymptome hervorrufen können. Das Haldin in starker Verdünnung wirkt nur auf die Augen und erzeugt leichte Sehstörungen. Eine stärkere Mischung macht den Patienten unfähig, Personen zu erkennen: er sieht nur immer sich selbst. Das reine Haldin tötet scheinbar blitzartig, läßt aber den Betreffenden dennoch unbegrenzt weiterleben – als lebenden Leichnam, insofern unbegrenzt, als der verborgen glühende Lebensfunke erst erlischt, wenn der Körper infolge Mangel an Nahrungsaufnahme dahinwelkt und schließlich seine nicht mehr spürbaren Funktionen gänzlich aussetzen. Das kann Wochen dauern, je nachdem der Betreffende mehr oder weniger widerstandsfähig ist. – Ich hatte nun Grund, Ernst Mendel aus dem Wege zu räumen. Ich verreiste angeblich, verbarg mich in Mendels Zimmer, gab ihm, den ich chloroformiert hatte, eine Spritze fast reinen Haldins, ließ die Retorte explodieren, und verließ das Haus wieder – natürlich verkleidet. Aber die Wirkung der Spritze versagte teilweise, wahrscheinlich dadurch, daß ich Mendel vorher chloroformiert hatte. Ich kehrte scheinbar von meiner Reise zurück, nahm Mendel in mein Haus und hatte die Genugtuung, einen Menschen nunmehr in meiner Gewalt zu haben, den ich haßte, – – falls dieser Ausdruck meine Empfindungen gegenüber Mendel zu erschöpfen vermag …“

Wie er das so mit seiner fraglos angenehmen Stimme hinsprach, als handele es sich um eine gleichgültige Nichtigkeit, beschlich mich wiederum dasselbe Grauen, das ich in diesem verfl… Hause schon mehrfach empfunden hatte. Jetzt wußte ich mit Bestimmtheit: von diesem Ungeheuer in Menschengestalt ging ein unmerkliches Fluidum aus, das man erst spürte, wenn man ihn näher kannte, ein Fluidum wie ein Pesthauch …

„Was mit Mendel schließlich geschehen, meine Herren …“ – o, wenn dieser Satan wenigstens einmal den schleimigen Tonfall geändert hätte!! – „das sehen Sie hier vor sich … Mendel hat eine zweite Spritze reinen Haldins bekommen und ist … scheinbar tot – – scheinbar … Sein Ableben habe ich bereits der Polizei gemeldet. Der Totenschein ist in Ordnung, und nach drei Tagen wird Mendel eingeäschert werden – – lebendig-tot, wie er hier vor uns liegt, wie er hier jedes Wort hört, das ich spreche, und, wenn ich ihm die Lider hebe, auch alles sehen kann. Er weiß also, was ihm droht: das Ende im Ofen des Krematoriums. Er weiß es, und er wird alle Höllenqualen der Angst durchmachen, bevor die Hitze ihn vollends tötet. – Sie könnten nun zweifeln, daß Mendel nur … scheintot ist, meine Herren, daß ich Ihnen vielleicht nur grauenvolle Dinge erzähle, die lediglich in meiner Phantasie geboren sind. Ich will Ihnen beweisen, daß Mendel noch lebt. Hier in dieser Injektionsspritze befindet sich das Gegengift gegen mein Haldin. Geben Sie acht …“

Er beugte sich über den armen Chemiker, stieß ihm die nadelfeine Spitze in den linken Unterarm und preßte das Gegengift in die Blutbahn, zog die leere Spritze wieder heraus und … lächelte uns an …

„Es dauert nur drei bis vier Minuten,“ sagte er … „Dann tritt die Wirkung ein, die freilich nur vorübergehend ist, da ich die Dosis Gegengift sehr karg bemessen hatte …“

Er setzte sich in den Korbsessel neben den Operationstisch und beobachtete das Gesicht des … Toten …

Ich?! … Mir standen kalte Schweißperlen auf der Stirn.

Eine fürchterliche Ahnung war mir soeben aufgegangen.

Wenn Halden etwa auch uns drei durch sein Haldin in … Scheintote zu verwandeln beabsichtigte …?!

Wir konnten uns ja nicht wehren …

Und er … wollte fliehen, hatte er vorhin erklärt. Sicherlich hatte er einen geheimen Fluchtweg vorbereitet, und daß draußen Matzkas Leute und unsere Kriminalbeamten Posten standen, würde zwecklos bleiben … Er würde entkommen, verschwinden, und uns drei würde man dann hier scheinbar leblos auffinden …

Mir wurde fast übel bei diesem Gedanken vor unendlichem Grauen …

Meine Blicke stierten Mendels Leichengesicht wie hypnotisiert an … Da – – bei Gott – – Mendels Augenlider zuckten … Die Wangen bekamen Farbe … Die Lippen öffneten sich … Ein pfeifender Atemzug … noch einer … Die Augen waren offen … Der Unterkiefer zitterte wie im Krampf … Mit einem Ruck richtete sich Mendel halb auf, drehte den Kopf nach Halden hin, – – und ein gurgelnder Schrei folgte – – ein einziges Wort:

„Erbarmen!!“

Dann sank er wieder zurück … Alle Anzeichen dafür, daß er noch lebte, erloschen wieder, als ob man eine Reihe von Kerzen ausbläse – eine nach der andern …

Nun war’s wie vordem: ein Toter lag auf dem Tische, einer, den jeder Uneingeweihte für tot halten mußte.

Ich?! … Der kalte Schweiß lief mir die Wangen hinab – in den falschen Vollbart … Der Schweiß kitzelte die Haut.

Vor meinen Augen schwammen wallende rosige Nebel …

Ich war einer Ohnmacht nahe …

Haldens Stimme peitschte mich auf …

„Meine Herren, bevor ich mich nun von Ihnen für immer verabschiede, will ich Mendel wieder in sein Zimmer nach oben tragen und dann zurückkehren, um Ihnen gründlich Lebewohl zu sagen … Sehen Sie her … Hier liegen bereits die drei mit Haldin gefüllten kleinen Spritzen … Es ist das letzte Haldin, das ich vorrätig habe … Es genügt für Sie drei … Und nachher benutze ich mein Schlupfloch ins Freie, meine Herren, – durch den Keller bis in eins der Treibhäuser, ganz hinten im Gemüsegarten … Ein Gang, sauber abgestützt, bildet die Verbindung. Es war eine mühselige Arbeit … Auf Wiedersehen … Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Werden Sie also nicht ungeduldig. Ich verspreche Ihnen: Sie werden in kurzem die Quittung für Ihre Einmischung in meine Angelegenheiten erhalten: den Scheintod[10]!“

Er nahm die Leiche Mendels – nein, den lebenden, unglücklichen Mendel in die Arme und schritt die Treppe empor.

Oben klappte eine Tür.

Wir drei Opfer dieses Satans waren allein …

Aber nicht verloren – noch nicht …

Was Harald beabsichtigte, als er nun sofort seinen Sessel durch ruckartige Körperbewegungen, durch fortwährendes Hin- und Herkippen auf das Tischchen vorwärtsschob, wo die fertigen Spritzen lagen, – – das wurde mir sofort klar …

Er wollte die Spritzen herabstoßen …

Sie mußten auf dem Fliesenboden zerbrechen, und ihr Inhalt würde über die Fliesen sickern, würde nicht mehr benutzbar sein …

So dachte ich … Und – – irrte mich …

Harsts körperliche Gewandtheit triumphierte über die Fesseln, über den Sessel, den er mit sich vorwärtsschleppen mußte. Er erreichte das Tischchen …

Er hatte nur die Lippen und die Zähne zur Verfügung, denn der Knebel in seinem Munde war im Genick festgebunden – und seine Hände auf dem Rücken gefesselt – – wie bei Arno Matzka und mir …

Er war Jongleur … Er ist ja alles, was er sein will.

Er benutzte die Tischkante als Stützpunkt … Er entleerte die Spritzen … Er tat noch mehr …

Auf dem Tischchen stand ein halb gefülltes Wasserglas, daneben eine Karaffe …

Er brachte es fertig, die Spritzen mit Wasser zu füllen, indem er das Glas mit der Schulter festdrückte und den Rand des Wasserglases als Halt für die Spritze verwandte …

Es ging … Er arbeitete mit vollkommenster Ruhe …

Er legte die mit Wasser gefüllten Spritzen auf denselben Platz zurück, verwischte ein paar danebengefallene Tropfen mit den Lippen … Und wackelte zurück mit seinem Sessel …

Keine Sekunde zu früh …

Halden kam. –

Vielleicht wird der Leser sich fragen, weshalb wir nicht versuchten, unsere Fesseln abzustreifen … Weil es unmöglich war … Weil Halden Draht, weichen Eisendraht benutzt hatte … Und Draht gibt nicht nach … Draht schneidet in das Fleisch ein … –

Halden kam. –

 

4. Kapitel.

Und noch ein Toter …

Halden kam.

„Hoffentlich haben Sie sich nicht gelangweilt, meine Herren … – So, beginnen wir … Ich habe noch anderes zu erledigen …“

Er hatte es wirklich eilig … Nahm die eine Spritze …

„Sie als erster, Herr Harst … – O – sträuben Sie sich nicht … Es ist zwecklos …“ Er riß Harst Mantel, Jacke, Weste und Hemd auf der Brust auf …

Harst tat, als wollte er sich nach Kräften der Gefahr entziehen …

Halden hob eine Hautfalte über dem Herzen ab, jagte die Spritze hinein …

Harst stieß trotz des Knebels einen gurgelnden Schrei aus.

Dann kam ich heran … Spielte dieselbe Komödie …

Widersetzte mich, – – und bekam trotzdem meine Dosis Wasser. Genau so der Kollege Matzka – genau so.

Ich richtete mich im übrigen genau nach Haralds Verhalten. Er saß jetzt zusammengesunken mit tief herabhängendem Kopfe da, regte sich nicht mehr. Ich auch nicht …

Ich hatte die Augen geschlossen …

Ich hörte Halden höhnisch lachen …

Ich hörte das Knacken des Lichtschalters …

Schritte auf der Treppe … Tür zuschlagen …

Öffnete die Augen … Dunkelheit ringsum …

Harsts Stimme …

„Schnell – jetzt haben wir mehr Zeit … Den Knebel bin ich glücklich los … Schraut, ich werde mit den Zähnen deine Fußfesseln lösen … Ich kippe meinen Sessel um …“

Nach etwa fünf Minuten waren wir frei.

Der Patentdietrich öffnet die Haustür …

Wir laufen um das Haus herum …

Wir werden von Matzkas drei Leuten angehalten …

Wir treffen unsere Kriminalbeamten …

Schicken sie sämtlich nach den Treibhäusern …

Und laufen wieder in den Vorgarten, wo Arno Matzka postiert wird … Harald und ich zur Mauer …

Ein Blick nach dem Hause – nach den Fenstern …

Zwei Fenster oben erleuchtet …

Im zweiten und dritten Stock … Zwei Fenster, die untereinander liegen, die die dritten von links gerechnet sind: die Zimmer Mendels und der Gräfin!

Erleuchtet …

Aber die Vorhänge geschlossen …

„Auf die Mauer, mein Alter … Dort sehen wir besser …“

So sitzen wir denn auf der Mauerkrone. Der Sturm jagt Gewölk über den Himmel … Regen prasselt, läßt nach …

Der Mond erscheint, verschwindet … Neuer Regenguß.

Unsere Maskenrequisiten haben wir schon vorhin in die Taschen gepfropft … Sind wieder Harst und Schraut … Keine Stromer mehr … Kümmern uns weder um Regen oder Sturm … Haben genug zu sehen … Zwei helle Fenster … Zwei Vorhänge … Schattenbilder … Schatten auf den Vorhängen … Genug zu sehen … übergenug … Auf dem unteren Vorhang (Zimmer der Gräfin) ein Frauenschatten – Frau in einer Schlinge hängend – Frau, erhängt … oder Selbstmörderin … Regungslos hängt der Schatten. Es kann nur die Walküre Anna sein …

Und oben, ein Stockwerk höher, zwei Schatten …

Zwei Männer …

Erst undeutlich – in lebhaftester Bewegung …

Dann klarer die Umrisse …

Kampf dort oben …

Der eine hat den anderen bei der Kehle …

Schwingt mit der Rechten etwas, das ein Schwert sein kann – ein kurzes, breites Schwert.

Ich habe auf Harald nicht geachtet. Ich fahre zusammen.

Ein Schuß dicht neben mir …

Harst … Harsts Clement …

Treffer … Wie immer …

Dort oben taumelt der Mann, der den andern bei der Kehle hatte, zurück – zu Boden … Verschwindet …

Auch der zweite Schatten entgleitet …

Der Vorhang ist leer.

Wir springen in den Garten hinab. Matzka kommt uns entgegen …

„Teufel, was ist denn los?! Sie haben ja geschossen …“

„Ja …, – ins Haus, vorwärts … Halden hat seinen Denkzettel … Ins Haus!“

Der Patentdietrich verschafft uns Zutritt. Wir stehen in der Diele … Unsere Taschenlampen gleißen, strahlen …

Weiter …

Wir sind im Flur …

Die Tür des Zimmers der Schwester Anna offen … Der Hund liegt, wie er lag … Anna nicht mehr …

Weiter …

Treppen hinan … Vorbei an weißen Türen …

Weiter …

Zimmer der Gräfin … Tür nur angelehnt … Licht brennt … Am Lampenhaken hängt in einer dicken Schnur die Amazone, blaurot, Mund auf, – – gräßlich … gräßlich.

Harst springt zu – auf den Tisch …

Schneidet die Erhängte ab … Matzka stützt den leblosen Körper. Wir legen ihn auf das Bett. Kurze Untersuchung … Hier ist jeder Wiederbelebungsversuch zwecklos.

Weiter …

Noch eine Treppe …

Matzka und ich wie im Fieber.

Harst eilig, aber ruhig …

Ja – seine Nerven!!

Oben dann … Mendels Zimmer …

Auch die Tür offen … Mendel auf dem Totenbett, lebender Leichnam …

Vor dem Fenster eine andere Gestalt auf den Dielen …: Halden – – bewußtlos – – schwerer Stirnstreifschuß, blutüberströmt, das Frackhemd wie in Blut getaucht … –

Harald prüft die Wunde. Wir nehmen ein Handtuch, knoten es als Verband um die Stirn, warten, bis die Blutung gestillt ist. Zur Vorsicht fesseln wir den Doktor und tragen ihn auf den schmalen Diwan.

Kaum getan, – unten im Vorgarten ein besonderer Pfiff.

„Einer meiner Leute …,“ und Matzka öffnet das Fenster, beugt sich hinaus.

Stimme von unten:

„Einen haben wir fest, Herr Matzka … Den Begleiter Haldens … Aristide Manquier nennt er sich …“

Matzka fragt Harst: „Wohin mit ihm?“

„In die Diele …“

Matzka schließt das Fenster wieder. Harald steht neben Mendels Totenbett – dem Bett eines Lebendig-Toten …

Ich wundere mich, denn Harst lächelt unmerklich, sagt dann zu uns: „Schaut euch bitte diesen Mann ganz genau an …“

Genau – –?! Nun, es ist Mendel … Wer sonst?!

Matzka meint gedehnt: „Ist das etwa gar nicht Ernst Mendel?“

Und Harst wiederholt nochmals: „Nein, das ist nicht Mendel … Das ist, wie ich schon vorher erkannte, als Schraut und ich hier eingedrungen waren, ein fremder Toter, ein echter Toter, eine Leiche, – irgendeine Leiche, die der Doktor sich irgendwoher besorgt hat oder … hergestellt hat, vielleicht ein von ihm Vergifteter, der zu seinem Unglück mit Mendel Ähnlichkeit hatte … Also hier Mendels Stellvertreter …“

Matzka und ich blicken ziemlich verständnislos drein.

Harst erklärt ohne jede Wichtigtuerei: „Die Dinge hier liegen nämlich, was Mendel betrifft, erheblich anders als ihr denkt … Ich selbst habe das Spiel Haldens erst durchschaut, als ich sah, daß dieser Tote nicht Ernst Mendel war. Mendel lag als Kranker in diesem Bett, als Halden ihn uns nachmittags zeigte. Das war Mendel. Jetzt aber ist Mendel anderswo …“

„Wo?“ fragt Matzka gespannt.

Inzwischen habe ich einiges begriffen …

Antworte für Harst: „Mendel ist Aristide Manquier!“

„Bravo, mein Alter …! – Aber das wollen wir mit Mendel persönlich ausfechten. Tragen wir Halden hinab. Es wird ihm nichts schaden. Vielleicht erwacht er unten, und dann wird Mendel kaum noch leugnen. – Ja, die arme Tussi Becker …! Sie hätte ihr Herzchen lieber an Kamir Nussra verlieren sollen. Mendel ist wahrhaftig keine Träne wert … – Faßt mit an … Wir tragen Halden in der Diwandecke hinab … Los – – anheben!“

In meinem Kopf wirbelten die Gedanken …

Kein Wunder!!

Da waren wir schon in der Diele, legten Halden auf das Sofa …

In einem Sessel saß totenblaß mit Polizeifesseln an den Handgelenken Herr Aristide Manquier mit dem schwarzen Haar, dem schwarzen Bärtchen und dem tadellosen Frackanzug.

Neben ihm stand Kriminalassistent Gorm, der dicke Gorm, die feinste Nase vom Alex …

Gorm fragte Harst:

„Herr Harst, was ist denn nun eigentlich hier so recht los? Ich habe diesem Menschen die Taschen visitiert … Er hat 180 000 Mark in Tausendern bei sich, außerdem Papiere auf drei verschiedene Namen …“

„Ja,“ nickt Harald, „auf die Namen Manquier, Mendel und Alexander Giesebrecht … Stimmt’s?“

„Gewiß, Herr Harst …“

„Nun, dann können wir ja Platz nehmen und Herrn Ernst Mendel bitten, uns ein offenes Geständnis abzulegen, damit er nachher milde Richter findet. – Wie ist’s, Mendel, wollen Sie reden?“

Ein finsterer Blick trifft Harst …

Dann ein freches Lachen …

„Ich werde nichts sagen – nichts! Und der da …, mein Freund Halden, der bereits die Augen offen hat, wird erst recht schweigen … Dann mögen Sie, Sie kleiner Sherlock Holmes, mal herumraten, was diese feine Suppe alles enthält … Raten Sie nur … Wetzen Sie Ihren Geist …!“ Und wieder lacht er und enthüllt eine Seele, die der des Doktor Ferdinand Halden ebenbürtig ist.

„Hier … gibt’s nichts mehr zu raten,“ erwidert[11] Harald und lehnt sich in den Gobelinsessel bequemer zurück. „Bei welcher Lebensversicherung hatten Sie sich zu Gunsten Haldens versichern lassen, Mendel? Ich glaube, bei der Viktoria – mit hunderttausend Mark etwa … Wenigstens schätze ich auf diese Summe, nach der Prämienquittung, die ich gestern, als ich Ihr Zimmer besichtigte, auf dem Schreibtisch liegen sah – bei der Sanitätsrätin …“

Mendel senkt den Kopf … Schweigt …

 

5. Kapitel.

Haldens Geständnis.

Doktor Ferdinand Halden drüben auf dem Sofa hat den Kopf ein wenig gedreht und starrt mit matten Augen in das milde Licht der Ampel empor. Sein blasses Gesicht zeigt einen grüblerischen Ausdruck. Außerdem aber auch eine fast erhabene Ruhe – wie bei Sterbenden, die den Tod nicht fürchten.

Dann läßt er den Kopf sinken, schaut Harald an. Prüfend, fragend …

„Herr Harst, mein Freund Mendel ist ein schlechter Taktiker. In entscheidenden Momenten haut er stets daneben. Es hätte keinen Zweck, jetzt noch mit Ausflüchten und Verschleierungen zu operieren. Wenn Mendel annimmt, ich würde ein offenes Geständnis verweigern, irrt er sich. Fragen Sie, Herr Harst. Viel zu fragen werden Sie kaum mehr haben, denn die ganze Entwicklung der Dinge beweist, daß Sie mich längst durchschaut hatten, und daß ich … Sie unterschätzt habe. – Wie ist es möglich, daß Sie trotz der Injektionen noch so vollständig im Besitz Ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten sind?! Haben Sie etwa das farblose Haldin aus den Spritzen entfernt und …“

„… Wasser hineingetan … – allerdings, Halden, das tat ich. – Wollen Sie jetzt zunächst einmal einiges über Ihr Abgleiten auf die Verbrecherlaufbahn berichten. Ein Mann von Ihrer Intelligenz hätte doch auch ohne diese schändlichen Geschäfte sich ein Vermögen erwerben können …“

„Gewiß, Herr Harst … Mein Unglück aber war das Spiel, der Spielteufel … Und Mendel erging es nicht anders. Die vornehmen Klubs genügten uns nicht. Wir besuchten Hotels, in denen sich insgeheim Leute wie wir selbst zusammenfanden. Vom Spielteufel besessen, denen die Roulettekugel oberster Gott war. Meine Einnahmen aus meiner Praxis zerrannen mir zwischen den Fingern. Und schließlich kam der Tag, an dem Satanas nach mir die Krallen ausstreckte, der Tag, an dem der Erbgraf Joseph Sildheim, der eine frühere Geliebte von mir geheiratet hatte, mit mir am Spieltisch zusammentraf und mir fünfzigtausend Mark abgewann – in unbar. Am nächsten Morgen erschien Sildheim bei mir und bot mir 150 000 Mark, wenn ich seine jugendliche Stiefmutter Xenia, geborene Ussulow, in mein Sanatorium aufnehmen und dafür sorgen wolle, daß sie entmündigt würde. Spieler sind nie Ehrenmänner. Jeder Spieler ist eigentlich zum Verbrecher vorherbestimmt. Auch ich unterlag der Versuchung. Ich nahm die Gräfin auf, und da ich damals vor Monaten schon mit dem Nervengift Curare experimentiert und es der medizinischen Wissenschaft nutzbar zu machen versucht hatte, was mir jedoch nicht recht gelingen wollte, spritzte ich der Gräfin das unvollkommene Haldin ein, das, entgegen meinen Angaben Ihnen dreien gegenüber, nicht tötet, sondern nur jene eigentümlichen Sehstörungen hervorruft, wie sie bei der Gräfin und bei Mielke eingetreten sind. In stärkerer Dosis verabfolgt, ergibt sich ein anderes Krankheitsbild: Mendels Lähmung. Doch muß, was Sie ganz richtig durchschaut hatten, Herr Harst, die Injektion immer aufs neue wiederholt werden, wenn die Krankheitssymptome nicht schwinden sollen. Die Gräfin Xenia wird also in kurzem wieder völlig hergestellt sein.“

Harst nickte Halden leicht zu. „Ihre Ehrlichkeit versöhnt mich etwas mit Ihrer Verworfenheit, Halden … Es ist schade um Sie, sehr schade … – Eine andere Frage … Wann gab Mendel insgeheim seine Stellung bei der chemischen Fabrik auf und begann in der Maske des alten Giesebrecht und Mendel?“

„Kurz nach der Einlieferung der Gräfin hier ins Sanatorium, Herr Harst. Es erschien mir ratsam, stets einen Vertrauten bei der Hand zu haben …“

„Und dann schloß Mendel auch den Versicherungsvertrag mit der Viktoria ab …“

„Ja … Wir waren als … Verbrecher auf den Geschmack gekommen … Die Geldgier war an Stelle der Spielwut getreten. Wir wollten Geld zusammenscharren, woher wir es nur irgend bekämen. Ich entließ meine wirklich kranken Patienten, damit die Zimmer für andere Zwecke frei würden. Ich gewährte Verbrechern Unterkunft, ich nahm junge Damen auf, die guten Grund hatten, für neun Monate zu verschwinden … Ich sank immer tiefer. Mein Sanatorium wurde ein Verbrechernest, das Geld floß mir in Unsummen zu, floß zumeist weiter in den Rachen des Moloch Spiel. Auch der Spielteufel war wieder erwacht … Gewinnen wollten wir, Mendel und ich, um jeden Preis … So wurde Mendel in Aristide Manquier verwandelt, den ich angeblich gar nicht kannte … Und mit Aristide Manquier zusammen korrigierten wir das Glück nach Kräften … Aber auch das genügte uns nicht. Wir empfanden eine dämonische Freude bei dem Gedanken, äußerlich die tadellosen Ehrenmänner zu sein und in Wahrheit die größten Schurken! Eine neue Etappe begann … Der Fall Mielke-Becker …“

„Eine … Erbschaftssache …,“ warf Harald ein.

„Ganz recht.“

„Und der Tischler Mielke ist irgendwie mit der Sanitätsrätin verwandt …“

„Ja – ganz entfernt. Frau Becker ist eine geborene Mielke …“

„Und es wurden Erben eines Mielke in den Zeitungen gesucht …“

„Eines dreifachen Millionärs, eines ausgewanderten Deutschen Herrmann Mielke, Junggeselle, zuletzt Chikago wohnhaft … – Diese Anzeige las Mendel zufällig. Er wußte, daß Frau Becker eine geborene Mielke war und auch aus Westpreußen, aus Flatow stammte … Wir forschten in aller Stille nach …“

„Bis Sie als einen weiteren Erben des Millionärs den Tischler festgestellt hatten, den Sie dann durch den vorbereiteten Sturz vom Gerüst in Ihre Gewalt bekamen. Inzwischen hatte sich Mendel dann mit Tussi Becker aus kalter Berechnung verlobt …“

„Ja – sie war ja die Tochter der Frau, der mindestens eine halbe Million winkte …“

„Und was gedachten Sie mit Mielke zu tun?“

„Ihn und die Seinen aus Berlin fortzuschaffen und dann Mendel als Mielke auftauchen zu lassen – als Erben – – mit Mielkes gestohlenen Papieren …“

„Ihre Ehrlichkeit verblüfft mich förmlich,“ meinte Harst und trat an das Sofa heran. „Sagen Sie einmal, Halden, starb Ihr Vater, der berühmte Chemiker, nicht im Irrenhause?“

„Ja … Wir Haldens sind alle erblich belastet, Herr Harst. Nur ich nicht. Ich bin völlig gesund …“

Harald lehnte sich leicht an einen Stuhl …

„Wer ist der Tote oben in Mendels Zimmer?“

„Ein Taschendieb aus Warschau, der hier bei mir Unterschlupf fand. Seine Ähnlichkeit mit Mendel ward ihm zum Verderben. Allerdings war der Mann ohnedies schwindsüchtig …“

„Sie haben ihn getötet?“

„Durch reines Curare – ganz schmerzlos … Die Viktoria hätte die Versicherungssumme anstandslos ausgezahlt. „Mendel“ – also der andere – wäre eingeäschert worden, und der echte Mendel hätte als Aristide Manquier weitergelebt … Es sollte nicht sein. … Und im Grunde ist’s mir ganz recht, daß Sie, Herr Harst, meinem Treiben ein Ende bereitet haben. Ich sehne mich nach Ruhe. Dieses Leben widerte mich bereits an.“

Ich, stiller Zuhörer, staunte …

Und allmählich kam ich auf denselben Gedanken, den fraglos auch Harald hatte: Halden hielt sich für gesund und war in Wahrheit irrsinnig!

Harst sprach schon weiter …

„Das Wiederbelebungsexperiment mit Mendel im Bestrahlungsraum war natürlich Bluff …“

„Allerdings … Im übrigen stimmt es aber, daß ich an jenem Sonntag vormittag Mendel in seinem Zimmer bei der Sanitätsrätin eine kräftige Dosis Haldin eingespritzt hatte. Es war eben der Auftakt zu dem Versicherungsbetrug …“

Bisher hatte sich Ernst Mendel mühsam beherrscht. Jetzt brüllte er Halden wütend an …

„Bist du in drei Teufels Namen verrückt, daß du den Schuften die Arbeit so leicht machst, uns an den Galgen zu bringen!“

Halden lächelte ihn daraufhin milde an. „Lieber Mendel, das sind keine Schufte … Wir sind Schufte. Und ich der größte … Ich trage es dir nicht nach, daß du vorhin oben bei der Leiche den Versuch machtest, mich hinterrücks niederzuschlagen, um mit unserem Sündengeld allein entfliehen zu können. Ich kann es dir nicht nachtragen, denn ich hätte dich getötet, wenn Harsts Kugel mich nicht niedergeworfen haben würde. Ich hätte dich ja gern bei diesem meinem Geständnis geschont, aber – – einen Harst belügen?! Zwecklos! Du wirst ja ohnedies billiger wegkommen als ich, denn der Hauptschuldige bin ich, auch der ältere, der Verführer also … – Ja, ja, lieber Mendel, das Sprüchlein von dem Kruge, der so lange zu Wasser geht, bis er bricht, enthält eine tiefe Wahrheit. Wir hätten rechtzeitig daran denken sollen. Wir waren blind und taub in unserer Geldgier, wir waren erbarmungsloser als Tiere … Ich habe meine Opfer gepeinigt, ich habe auch Sie und Ihre Freunde, Herr Harst, die Wirkung des Haldin schmecken lassen wollen … Sie sollten ein paar Tage nur sich selbst sehen … O – – entsetzlich muß das sein, in jeder Person das eigene Ebenbild zu schauen, gleichsam stets in einen Spiegel zu blicken … Entsetzlich! Arme Gräfin, armer Mielke, – ich war ein Satan!! Ich bin es noch … Und ich werde den Tag segnen, an dem man mir mein schuldbeladenes Haupt herunterschlägt …“

Mendel lachte schrill. „Übergeschnappt – – total!! Geh doch in ein Kloster, Ferdinand!! Werde Betbruder …!“

Harst beobachtete Halden unausgesetzt …

Haldens Augen schimmerten in reinster Güte …

„Droben im Himmel werde ich beten, Mendel … für dich!“

Harald winkte dem Kriminalbeamten, flüsterte mit ihm …

Gleich darauf wurden Halden und Mendel im Auto nach dem Präsidium gebracht.

Sehr bald erschienen auch weitere Beamte. Fünf seit langem gesuchte Verbrecher nahm man hier im Sanatorium fest. Die anderen „Patienten“ wurden gleichfalls vorläufig verhaftet: meist junge Damen …!!

Mittlerweile war es heller Tag geworden.

Matzka und wir beide wanderten zu Fuß heimwärts. Es regnete nur noch wenig. Als wir die Schmargendorfer Eisenbahnbrücke erreicht hatten, brach die Sonne durch das leichte Gewölk.

Bisher hatten wir geschwiegen …

Geschwiegen, weil uns – ohne Übertreibung! – das Grauen die Kehle zuschnürte.

Die Sonne …

Und mit einem Schlage gewann alles ringsum ein anderes Aussehen …

„Halden ist krank,“ sagte Harst. „Geisteskrank … Ich behaupte: beginnende Gehirnerweichung … Er hat so merkwürdige Augen, und auch sein ganzes Verhalten ist anormal.“

„Ohne Zweifel,“ nickte Arno Matzka fast fröhlich … Sein Blick suchte das junge Grün an den Bäumen … Wahrscheinlich dachte er an Xenia, die er liebte und die nun wieder gesund werden würde. –

Schon am nächsten Tage mußten Harald und ich dann eiligst nach Ostpreußen reisen, von da weiter gen Osten – – eine abenteuerliche Fahrt, die schließlich in einem indischen Küstenneste endete.

Erst in Bombay erreichte uns folgender Brief:

z. Z. München, Hotel Terminus.

3. Juli 192…

Meine lieben Freunde Harst und Schraut!

Seit drei Tagen bin ich glücklicher Ehemann. Xenia und ich befinden uns auf der Hochzeitsreise. Wir beide danken Ihnen beiden nochmals von ganzem Herzen, daß Sie unserer Wiedervereinigung die Wege geebnet haben.

Es dürfte Sie interessieren, daß Halden vor einer Woche in einer Irrenanstalt verstorben ist. Er war geisteskrank. – Mendel ist zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Tussi Becker aber hat sich rasch getröstet und ihre „wahre“ Liebe entdeckt: Doktor Kamir Nussra! Sie heiraten demnächst.

Die Millionenerbschaft ist auch bereits ausgezahlt worden. Mielke hat sich einen Landsitz bei Berlin gekauft und ist wohl und munter.

Xenia und ich werden uns hier in Bayern seßhaft machen, Agrarier spielen und all das Schreckliche schnell vergessen, was die letzte Zeit uns brachte. Dafür ist die Gegenwart um so schöner. Mit besten Grüßen Ihr

Fürst Arno Bargassow nebst Frau.

– So endete die Geschichte von Doktor Haldens Patient.

Wie „Ein Gast in der Nacht“ beginnt und endet, was wir in Ostpreußen und später in Indien erlebten, – – das nächste Mal!

 

Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 36, Elisabethufer 44

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Nachbarorte“.
  2. „Höhensonneapparat“ / „Höhensonne-Apparat“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Höhensonne-Apparat“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „konnte“.
  4. In der Vorlage steht: „diesem“.
  5. Fehlendes Wort „er“ ergänzt.
  6. Fehlendes Wort „Interesse“ ergänzt.
  7. Hier fehlt eine Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  8. In der Vorlage steht: „aus“.
  9. Siehe auch Wikipedia: Curare.
  10. In der Vorlage steht: „Scheintot“.
  11. In der Vorlage steht: „erwiderte“.