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Ein Gast in der Nacht

 

 

 

Harald Harst: Aus meinem Leben

 

Band: 197

 

Ein Gast in der Nacht

 

Erzählt von

Max Schraut

 

1. Kapitel.

Der Gefangene.

Bereits hatte ich einmal Gelegenheit, meinen Lesern und Freunden als Schauplatz einer unserer Abenteuer einen Teil der Samlandküste Ostpreußens vorführen zu können. Es handelte sich damals um jenen merkwürdigen Taubenzüchter, der, wie Harst im übrigen sofort vermutet hatte, Diamantenschmuggler und -fälscher war. Seit jenen Tagen, wo wir beide die Moorwildnis südöstlich des Seebades Kranz durchstreiften und dort auch zum ersten Male Elche in Freiheit wie Urtiere der Vorzeit durch die Dickung brechen sahen, sind bereits volle zwei Jahre dahingegangen. Die Zeit fliegt. Ich werde alt. Nur mein Freund Harald Harst bleibt stets gleich jung, elastisch, frisch und unternehmungslustig.

Eigentlich hätte ja unser letztes Erlebnis – der Fall Doktor Halden – meines Freundes Vorliebe für absonderliche dunkle Geschehnisse etwas dämpfen sollen, denn dieser Halden war mit uns nicht eben zart umgesprungen.

Zwei Tage lagen die aufregenden Vorfälle in Haldens famosem Sanatorium erst zurück. Es war ein regnerischer, trüber Maimorgen und dabei so kalt, daß wir das Frühstück nicht wie sonst auf der Veranda, sondern in Harsts behaglich-vornehmen Arbeitszimmer einnahmen. Die dicke Köchin Mathilde kam jetzt das Geschirr abräumen und brachte einen Brief mit.

„Eilbrief, Herr Harald,“ meinte sie vertraulich, was sie sich schon leisten konnte, denn sie hatte Harst noch als Hemdenmatz auf ihren Knien geschaukelt.

Wir blickten etwas erstaunt von unseren Zeitungen auf.

„Der Postbote hat ja gar nicht geläutet …,“ sagte Harst. „Durch den Vordereingang ist er nicht gekommen, und den Weg durch den Gemüsegarten hat noch nie ein Stephansjünger gewählt. Und doch scheint der Überbringer dieses Briefes – das Schreiben ist gestern nachmittag fünf Uhr in dem Ostseebade Rauschen abgestempelt – diesen Weg genommen zu haben, – etwas auffällig, mein Alter, nicht wahr?!“

Ich nickte nur.

Mathilde nickte auch, und dabei löste sich ihr Rattenschwänzchen vom Zopf und rutschte ihr in die Stirn, worüber sie ein wütendes Gesicht schnitt, rasch das Teebrett wieder auf den Sofatisch stellte und den ungebärdigen Haarzagel rasch wieder befestigte und dabei brummte:

„Er kam durch ’n Gemüsegarten, das stimmt, und ich hab’ dem Bengel jehörig Bescheid gesagt deswegen, denn es ist doch ’ne …“

„Bengel? Er war jung?“

„Ja, Herr Harald … Bei die Post sind ja jetzt meistens sone grünen Kerle, die meist nich mal die notwendigste Höflichkeit jejenüber ’ne Respektsperson wie mir auf Lager haben, und der heutige war ’n janzer Flegel, jab mich an die Hoftür den Brief, machte kehrt und war wej, bevor ich noch Zipp sagen konnte. Aber nachjerufen hab’ ich ihm was, und das wird ihm nicht lieblich an die Ohren jeklungen sein, dem jungen Schnösel mit’s Milchjesicht …“

Harst schaute immer noch den Brief an.

Fragte: „Trug der Jüngling Postrock und Mütze?“

„Nee – man bloß Mütze und Armbinde und ’n blauen Anzug, der ihm viel zu weit war, und überhaupt …“

„Na – überhaupt?!“

„Ja, Herr Harald, – wissen Sie, das mag komisch klingen … Aber ich glaube, es war ’n verkleidetes Mädchen … So was sieht man doch an die Achterpartie, Herr Harst … Frauen sind nun mal so ganz anders um die Polstergelegenheit jebaut, viel fülliger … Und auch die Brustjejend kam mir verdächtig vor …“

„Mathilde, Sie phantasieren!“

Da nahm sie das Teebrett, knurrte etwas Unverständliches und schob ab, knallte die Tür zu …

Ja, Mathilde ist wie ein rohes Ei.

Harst blickte mich an. „Der Briefumschlag ist eine plumpe Fälschung, mein Alter. Man hat die Stempel sehr ungeschickt nachgeahmt. Bitte …“

Ich prüfte. „Allerdings …“

„Sehen wir uns den Inhalt an,“ – Harst nahm mir das Schreiben wieder ab, schnitt es sorgfältig auf und zog ein Stück gelblich verfärbtes Zeitungspapier heraus, das offenbar schon lange Sonne, Wind und Regen ausgesetzt gewesen. Es war ein Stück aus dem Annoncenteil, oben weiß-gelber, schmieriger Rand, und auf diesen Rand hatte jemand mit brauner Farbe, offenbar mit einem Stückchen zugespitzten Holzes als Feder in ungeschickten, lateinischen Buchstaben hingemalt:

Helfen Sie mir. Schloß Kastello, Rauschen, Ostpreußen, Gefangener. Tumar Mangi.

Das war alles.

„Blut,“ meinte Harst. „Blut als Tinte, und als Feder eine richtige Feder – angespitzter, eingekerbter Federkiel. – Die Schrift des Briefes ist von der auf dem Umschlag vollständig verschieden. Die Adresse schrieb eine junge Dame von sehr energischem Charakter. Vielleicht war’s jemand, der aus Rauschen hier nach Berlin kam, den Zettel Tumar Mangis mitbrachte, adressierte und den Postboten spielte. Falls – das Ganze nicht eine Mystifikation ist, was ich allerdings nicht glaube.“

Er betrachtete das Stück Zeitung …

„Eine ostpreußische Zeitung, wie aus den Annoncen hervorgeht … – Freilich, nur dieses Wisches wegen nach Ostpreußen zu reisen, ist etwas viel verlangt. Warten wir ab.“

„Worauf sollen wir warten?“

„Ich wette, daß die junge Dame, die den Stephansjünger gespielt hat – denn Mathilde wird schon richtig beobachtet haben, was die weiblichen Figurenmerkmale betrifft –, daß diese junge, tatkräftige Dame sich bei uns in anderer Aufmachung sehen lassen und auf ihre Weise dafür sorgen wird, daß dieses Blutschreiben nicht in den Papierkorb wandert. Sie wird natürlich irgend etwas erfinden, eine Geschichte, die uns reizt und deren Schauplatz unweit von Rauschen liegen wird. Ich müßte mich sehr irren, mein lieber Alter, wenn ich mit dieser Vermutung fehlgehen würde – pardon, das war eben Unsinn, was ich sagte, grober Unsinn. Meine Gedanken wurden stark abgelenkt durch …“ – er hob die Hand und deutete zum Fenster hinaus auf die Straße, wo auch ich nun ein Auto wahrnahm, das vor unserer Gartenpforte hielt – „durch jenen Kraftwagen, der dort soeben eine elegante junge Dame von sich gibt, die wahrscheinlich die Erwartete ist und vor der wir diesen Eilbrief nebst Umschlag besser verbergen, weil … – nun du weißt ja Bescheid …“

Es läutete im Flur.

Ich öffnete. Vor mir stand die rassigste, hochmütigste, eleganteste Ostpreußin, die mir jemals begegnet ist.

„Herr Harst?“ fragte sie mit einem Gesicht, wie eine Ministersgattin einen armseligen Schnorrer fragen würde, was er wünsche.

„Nur dessen Freund Schraut …“

„Sie sind zu bescheiden, Herr Schraut. Das „Nur“ hätten Sie sich sparen können …“

„Sehr liebenswürdig … Wollen Sie bitte nähertreten, Gnädigste …“

Harst stand mitten im Zimmer.

Die Hochmütige nannte jetzt ihren Namen …

„Hella von Mauring … – Herr Harst, ich möchte Sie und Ihren Freund in einer Angelegenheit, die keineswegs alltäglich ist, um Rat fragen.“

„Wollen Sie Platz nehmen, gnädiges Fräulein …“

„Bitte – ich bin verheiratet … Gräfin Mauring, Herr Harst, aus Mauringhof bei Königsberg …“

„Pardon, Frau Gräfin … – Wenn Sie jetzt so freundlich sein würden und mir in kurzen Worten die Angelegenheit mitteilen wollten, die Sie bedrückt …“

Hella Gräfin Mauring thronte nun in unserem weichsten Saffiansessel mit der ganzen Unnahbarkeit einer Aristokratin der alten Schule.

Weiß Gott – kein Mensch hätte ihr angesehen, daß sie schon verheiratet war. Sie wirkte vollkommen wie ein junges Mädchen, konnte kaum neunzehn Jahre alt sein und hatte trotz allen so deutlich zur Schau getragenen Hochmuts in den Augen etwas Kindlich-Harmloses, das überaus für sie einnahm. Ich hatte außerdem auch das unklare Empfinden, daß dieser Hochmut absichtlich übertrieben sei.

Sie schaute sich jetzt zwanglos im Zimmer um, bevor sie zögernd erklärte:

„Es ist eine außerordentlich widerspruchsvolle, zum Teil geradezu unbegreifliche Sache, Herr Harst. Ich muß folgendes vorausschicken. Ich bin eine geborene Freiin von Gracht. Vor einem Jahr heiratete ich den um dreißig Jahre älteren Grafen Mauring. Es war eine Vernunftehe. Die Freiherrn von Gracht sind seit einem Jahrhundert bettelarm. Ich war Vorleserin bei der Prinzessin von Gammingen, und dort lernte ich auch meinen jetzigen Gatten kennen. Die Maurings besitzen in Ostpreußen, im Samland …“

„Aha!“ dachte ich. „Samland – – Rauschen!!“

„… im Samland mehrere Güter und ein uraltes Schloß, mehr eine Ruine …“

„Hoffentlich handelt es sich nicht um ein Schloßgespenst,“ warf Harald scherzend ein …

„Durchaus nicht,“ meinte die jugendliche Gräfin sehr ernst. „Wenn es das nur wäre …!! – Diese Ruine liegt nun unweit des Herrenhauses von Mauringhof und …“

Harald konnte mitunter grausam unhöflich sein. So auch jetzt. Er … unterdrückte mühsam ein Gähnen, die Gräfin sah es und schwieg, wurde rot und sprach dann weit lebhafter und in knappen Sätzen weiter …

„Nun – ich habe seit Wochen nachts beobachtet, daß jemand die unbewohnte und völlig unbewohnbare Ruine verläßt und unser Herrenhaus umschleicht. Mein Mann, dem ich dies sofort mitteilte, lachte mich aus. Er ist eine Kraftnatur, die sich vor nichts fürchtet und …, – jedenfalls: dieser Unbekannte stört meine Ruhe …“

„Ist das alles, Frau Gräfin?“

„Ja … Denn eingehendere Ausführungen scheinen Sie nicht zu lieben, Herr Harst …“

„Es kommt darauf an, Frau Gräfin … – Haben Sie dem Fremden nicht wenigstens durch Ihre Diener einmal auflauern lassen? Es müßte doch ein leichtes gewesen sein, den Mann abzufassen …“

Sie senkte etwas den Kopf …

„Mein Gatte … hatte es streng verboten, Herr Harst.“

„So?! Das ist allerdings seltsam …“

„Ja, das ist sehr seltsam,“ nickte sie, und ihr frisches, junges Gesicht war mit einem Schlage vollständig verändert.

Nicht anders Haralds Mienen, die ich genau beobachtet hatte.

Während die Gräfin jetzt das Spitzentüchlein gegen die Augen drückte und mühsam ein Aufschluchzen unterdrückte, erhob sich Harst und trat neben ihren Sessel.

„Frau Gräfin …“ – seine Stimme war ganz ehrliche Teilnahme – „ich glaube, ich habe mich geirrt. Irren ist menschlich. – Eine Frage – und ehrliche Antwort bitte: Haben Sie den Fremden einmal aus nächster Nähe gesehen?“

„Ja – in einer Vollmondnacht …“

„Es war ein dunkelhäutiger Mann?“

Sie blickte erstaunt auf.

„Können Sie Gedanken lesen, Herr Harst? – Woher wissen Sie, daß es sich in der Tat um einen dunkelhäutigen Mulatten – wenigstens sehen Mulatten so braun aus – handelt?!“

„Also ein Mulatte – gut. Und die Kleidung?“

„Europäisch – – zerknitterter, dunkler Anzug …“

„Kopfbedeckung?“

„Ein Tuch – – wie ein Turban.“

Harald ging jetzt im Zimmer auf und ab.

Blieb am Schreibtisch stehen … trommelte auf die Tischplatte, tief in Gedanken …

Dann: „Schraut, hole Mathilde …“

Ich tat’s …

Ich wußte: Gegenüberstellung mit unserer Klientin, – was ich als gänzlich überflüssig erachtete, denn daß die Gräfin Mauring nicht als Postbote verkleidet, gefälschte Briefe jemandem zustellen würde, das lag wohl außerhalb des Bereichs jeder Erörterung.

Mathilde betrat das Zimmer.

Harst fragte sie: „Sehen Sie sich mal diese Dame genau an, Mathilde …“

Die dicke Köchin knickste ehrfurchtsvoll, denn Hella von Mauring hatte bereits wieder ihr unnahbarstes Gesicht aufgesetzt.

„Kennen Sie die Dame, Mathilde? Haben Sie die Frau Gräfin heute schon einmal gesehen?“

„Nein …“

„Auch nicht auf dem Hofe – – mit dem Briefe?“

Ich hatte unsere Dicke schon eingeweiht.

„Nein, das ist nicht die Verkleidete, auf keinen Fall … Die war lange nicht so … so hübsch … Die … war ganz … ganz gelb, Herr Harald … Braungelb beinahe, Herr Harald … Ich denke, so wie die müssen Spanierinnen aussehen oder …“

„Danke, Mathilde … Sie können gehen …“

Kaum hatte sich die Tür hinter unserer Küchenfee geschlossen, als Hella von Mauring empört rief:

„Was bedeutet das alles, Herr Harst?!“

„Zu meinem Bedauern muß ich Ihnen die Antwort im Interesse der Sache und in Ihrem Interesse schuldig bleiben, Frau Gräfin, – vorläufig … Jedenfalls aber bin ich bereit, und daran dürfte Ihnen doch am meisten liegen, diesen Dingen auf den Grund zu gehen. – Sind Sie dieser Angelegenheit wegen nach Berlin gekommen, Frau Gräfin?“

„Nein, nein … Ich hatte einen guten Vorwand … Mein Bruder, der hier in einem Bankhaus Korrespondent ist, hat morgen Hochzeit. Und da konnte ich denn …“

„Danke … – Die letzte Frage, Frau Gräfin. Haben Sie aus dem Verhalten Ihres Gatten den Eindruck gewonnen, daß er den Unbekannten, den Mulatten, kennt?“

Sie blickte Harst voll an …

„Ja! Und auch des weiteren gewann ich noch die Überzeugung, daß Oskar, mein Mann, mir gegenüber Komödie spielte, als er so tat, als ob ihm meine nächtlichen Beobachtungen völlig gleichgültig seien …“

„Danke … – Weiß außer Ihnen jemand, daß Sie mich … konsultieren wollten …“

„Nur mein Bruder und …“ – sie zauderte – „und dessen Kollege Theo Marschall …“

Als dieser Name über ihre Lippen kam, und welch köstliche Lippen waren das! – errötete sie.

Mir fiel’s nicht schwer, mir die Tragödie dieses jungen Weibes zusammenzureimen. Arm – – Vernunftehe – – der Mann dreißig Jahre älter, vielleicht ein brutaler, lüsterner Wicht, und sie … mit der stillen Liebe für Theo Marschall im Herzen …!! Armes Weib!

Auch Harst dachte wohl dasselbe.

Ich fing einen vielsagenden Blick von ihm auf …

„Die beiden Herren haben Sie wohl auf mich hingewiesen, Frau Gräfin,“ meinte er mit jenem warmen Tone, der schon so manchen getröstet hat. „Die Herren taten recht daran, denn Ihr Besuch bei mir hatte ein eigenartiges Vorspiel, das ganz dazu geeignet erscheint, den … Mulatten in ein besonderes Licht zu rücken. – Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen, Frau Gräfin. Bitte – dieser merkwürdige Brief wurde mir heute zugestellt – durch eine gelbbraune, als Postbote verkleidete Frau …“

Hella von Mauring las …

„Mein Gott – – Kastello, Schloß Kastello, – das ist ja die Ruine, Herr Harst!“

„Das dachte ich mir …“

„Und … Ein Gefangener namens Tumar Mangi, – – ich bin völlig verwirrt, – ein Gefangener, der …“

„… ein Inder sein dürfte, Frau Gräfin …“

„Ja – – der Turban, ganz recht … ein Inder …“ Sie strich sich über die Stirn … „Aber … von einem Gefangenen kann doch keine Rede sein, wenn es sich eben um dieselbe Person handelt … Ich … ich bin wirklich vollkommen unfähig, klar zu denken …“

„O, das überlassen Sie nur uns, Frau Gräfin. Genießen Sie diese Berliner Tage ohne jede störende Erinnerung an die Ruine und den … den Gast in der Nacht … oder Besucher, wie wir’s nennen wollen. Gast ist wohl richtiger. – Ihr Gatte hat Sie nicht hierher begleitet?“

„Nein – Gott sei Dank nicht …“ Das fuhr ihr so heraus … Und wie mit Blut übergossen schaute sie jetzt zu Boden.

Harst legte ihr sanft die Hand auf den Arm …

„Frau Gräfin, Schraut und ich fahren noch heute gen Osten … Seien Sie guten Mutes. Ich weiß, daß Sie hinter alledem ein – sagen wir … ein Unrecht Ihres Mannes wittern … Sie werden in kurzem Klarheit haben …“

Hella von Mauring verabschiedete sich mit herzlichen Dankesworten. Jetzt war sie erst sie selbst geworden: ein liebenswürdiges, liebreizendes junges Weib mit wundem Herzen, ohne allen Hochmut, – eine überaus sympathische Persönlichkeit.

 

2. Kapitel.

Ein Maimorgen.

Harsts Eigenheiten kennt man. Nachdem die Gräfin gegangen, mußte ich die Koffer packen, telephonisch Fahrkarten bestellen, und er – er saß in der Bibliothek am Flügel und spielte Wagner, Schumann, und war gerade beim Rosenkavalier, als ich gegen halb zwölf heimkehrte. Bisher hatte er über den „Gast in der Nacht“ (so hatte er den neuen Fall bezeichnet) kein Wort mehr verloren, tat es[1] auch jetzt nicht, und tat es noch weniger während der langweiligen Eisenbahnfahrt.

Am nächsten Morgen standen so gegen halb neun Uhr zwei Touristen mit Rucksäcken am Rande der Steilküste unweit der letzten Villen von Rauschen und genossen den lang entbehrten Anblick des Meeres, der Ostsee.

Rauschen …

Poetischer Name …

Ja – das Meer rauschte, die Wälder rauschten …

Es ist ein köstliches Land dort oben im Osten, dieses Samland … Es ist urwüchsig, kraftvoll, es ist abwechslungsreich, herb, derb wie der Menschenschlag, der dort gedeiht.

Harst, äußerlich jetzt ganz das, was er vorstellen wollte: harmloser, mittlerer Beamter auf Urlaubstour, die nicht viel kosten durfte, – Harst sagte unvermittelt:

„Weißt du, daß Tumar ein weiblicher Vorname ist? Tumar, mein Alter, bedeutet Liane, Kletterpflanze … Und diese Inderin Tumar Mangi dürfte bereits hier im Samland gewesen sein, bevor sie die Versuche aufgab, den „Gefangenen“ selbst zu befreien und uns den Brief brachte, den sie natürlich schon hier geschrieben hatte – Stück einer alten ostpreußischen Zeitung! – und den sie mit Blut schrieb, um die Sache dringlicher erscheinen zu lassen. Ich bin weiter überzeugt, daß sie Pech gehabt hat, daß sie nicht ahnt, daß der, den sie aus der Gewalt des Grafen Mauring erlösen möchte, bereits frei ist, und nur eine gute Gelegenheit abwartet, den Grafen zu ermorden … – Bitte, ziehe nicht ein so eigenartiges Gesicht … Ich bin stets ein sehr kühler, logischer Kopf gewesen. Aber dein Gesicht hat mir jetzt die Stimmung verdorben … Also weiter gen Mauringhof.“

Schweigend setzten wir unseren Weg fort.

Wir hatten uns bereits in Rauschen mit aller Vorsicht über den Besitzer des Rittergutes Mauringhof, über das Gut selbst und über die Ruine erkundigt, und von einem schwatzhaften alten Kellner viel Wissenswertes erfahren. Der Ruf des Grafen war – man kann sagen – nicht einheitlich. „Von der Parteien Haß und Gunst verzerrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte …,“ – so war’s auch mit dem Grafen Oskar Mauring. Immerhin mußte er ein ebenso temperamentvoller wie zügelloser Mensch sein, in ruhigen Stunden gutmütig und mildtätig, aber – – ein ausgesprochener Schürzenjäger. Von der Gräfin Hella dagegen hatte der Kellner nur ärgerlich gemeint: „Die?! Eine ganz Hochnäsige! Bei der fängt der Mensch erst mit ’n Baron an!“ – Nun, dies Urteil stimmte absolut nicht. Das wußten wir am besten. Wie viele Frauen, die in ihrer Ehe stille Dulderinnen sind, tragen dauernd eine Maske.

Eine Stunde Marsch durch die Wälder, Felder, köstliche frische Luft … Es war ja Mai – – Mai!!

Eine Stunde, und dann dank Harsts untrüglichem Ortssinn und einer guten Touristenkarte vor uns ein uralter Buchenwald, der an den Hängen eines Berges sich dicht und kraftvoll hinanzog und oben von einem Gemäuer gekrönt war, auf dessen Turmresten am hohen Mast eine zerfetzte Fahne flatterte – kaum mehr Fahne zu nennen, nichts mehr von Farben, nur ein paar Lappen, grau, ausgewaschen … Unten um den Rand des Bergwaldes ein hohes, neues Stacheldrahtgitter. Und als wir davor standen, warnte eine neue Tafel mit großen, schwarzen Buchstaben:

Lebensgefahr!! Obere Drähte mit Starkstrom geladen!!
Gräfl. Mauringsche Gutsverwaltung.

„Hm,“ meinte Harald, „neu – –, kaum ein halbes Jahr alt, diese Barrikade!“

Und dann schaute er sich um und sagte: „Stacheldraht läßt sich immerhin auseinanderdrücken … Hier ist eine günstige Stelle, mein Alter. Ziehe diese beiden Drähte auseinander. Ich schiebe erst die Rucksäcke hindurch.“

Wir waren nun in dem prachtvollsten Buchenhain, wie man ihn nur noch auf Rügen bei Binz und Sellin findet. Ein völlig unberührter Wald. Viel Unterholz … Haselnußstauden, junge Buchenschößlinge, ganze Naturbeete von Waldmeister, Anemonen, wilden Veilchen, Blaubeeren, Moosflächen – – köstlich! Und ein Vogelparadies, ein Naturschutzpark … Wildtauben, Häher, Spechte, Finken, Drosseln … Wilde Kaninchen flitzten durch das hohe Gras, Eichhörnchen bäumten auf, ein Dachs verschwand blitzschnell in seinem Bau …

Und die Sonne machte helle Kringel auf den Waldboden, und der Wald rauschte, und um uns war die feierliche Stille eines Gotteshauses, die Orgel das Rauschen …

Nirgends hier die Spur eines Menschen …

Immer höher stiegen wir hinein, bis eine Reihe von mächtigen Edeltannen zur Allee sich zusammenfügte. Der Weg tot, verwachsen, Wildnis. Aber die Aussicht auf die Reste des kleinen Schlößchens zauberhaft schön, romantisch und … vielverheißend.

Das Schloß ein Bau aus dicken Quadern. Nur vom zweiten Stockwerk schwarz verwitterte Ziegel. Freilich: der Efeu hatte alles längst dick umsponnen … Bis hinan zum Flaggenmast des Turmes reichte er.

„Wenn das ein Filmregisseur wüßte!“ meinte Harald leise.

Wir standen gut gedeckt hinter einem kaum mehr erkennbaren, von Brombeeren völlig überwucherten Springbrunnen, von dessen Steinfigur nur noch ein verstümmelter Arm sich durch die Ranken schob.

Harst deutet seitwärts.

Ich sehe …

Durch diese Wildnis läuft da ein schmaler, niedergetretener Pfad …

„Frische Spuren, mein Alter … Bitte …“

Ich sehe …

Ein Maulwurf hat gerade auf dem Pfade die schwarze Erde zum Hügel getürmt, und dieser kleine Hügel hat den Abdruck einer Menschenfährte festgehalten …

Klar ausgeprägt: ein langer, schmaler Männerstiefel!

„Vielleicht der Graf …,“ und Harst blickt mich gutmütig blinzelnd an … „Der Kellner in Rauschen wußte zu erzählen, daß Mauring noch ein Jahr vor seiner Heirat wieder in Ostasien war, das er sehr lieben soll, weil er als Offizier damals die Expedition während des Boxeraufstandes mitgemacht hat … Und er brachte damals einen braunen Diener mit, der dann hier an Schwindsucht starb … Das weißt du alles, hast es mit angehört und hoffentlich auch geistig verarbeitet. Der Diener soll sehr jung gewesen sein, und der Graf behandelte ihn wie eine „Prinzessin“, drückte sich der Kellner aus. Es wird auch wohl ein … weiblicher Diener gewesen sein, schätze ich … Und wenn diese meine Vermutung zutrifft, so ist das ganze Rätsel eigentlich schon gelöst.“

„So?!“

„Ja – und uns bleibt nur die Aufgabe, den Grafen, der offenbar über die tatsächlichen Vorgänge sehr im Irrtum ist, vor seinen sicherlich unerbittlichen Feinden zu schützen. – Zunächst wollen wir aber mal sehen, ob unsere erprobten Nasen nicht den richtigen Ort wittern, wo Mauring den Inder eingesperrt zu halten glaubt, während dieser …“

Jetzt wurde es mir mit diesen Ungereimtheiten denn doch zu bunt. „Gestatte mal,“ unterbrach ich Harst ziemlich rücksichtslos. „Daraus wird kein Mensch klug … Entschuldige schon …“ – „Bitte … frage … oder besser … – um nicht Zeit zu verlieren –: es handelt sich wahrscheinlich um drei Inder, die hier mitwirken oder mitwirkten. Erstens die Inderin, die der Graf als seine Geliebte – den Diener! – mitbrachte, und die hier verstarb. Wenn ich sage mitbrachte, so trifft das nur halb das richtige. Er hat sie fraglos gegen den Willen der Ihrigen entführt. Natürlich forschte die Familie nach dem Verbleib des Mädchens, schickte dann jemand dem Grafen nach. Dieser Jemand ist Inder Nummer zwei. Der Graf hat diesen Inder hier auf eine etwas despotische Art stumm gemacht, indem er ihn dort in der Ruine festsetzte, wobei er natürlich einen Miteingeweihten gehabt haben muß, denn die Wartung eines Gefangenen erfordert Zeit und ständige Aufmerksamkeit. Dieser zweite Inder muß nun, nachdem er eine geraume Weile in seinem Kerker gelebt hatte, einen selbst dem Grafen unbekannten Weg ins Freie gefunden haben, den er dazu benutzte, Mauring nächtlicherweise aufzulauern. Als Maurings Gattin ihn bemerkt und ihren Mann gewarnt hatte, nahm dieser an, es handele sich um einen dritten Inder, den die Familie der Entführten dem zweiten nachgeschickt hatte. Ein dritter Inder war ja auch tatsächlich auf dem Schauplatz aufgetaucht: ein Mädchen, diejenige eben, die uns den Brief brachte, nachdem sie eingesehen, daß sie allein nichts ausrichten könne. Sie ist vorher bestimmt hier in Mauringhof gewesen, hat aber wie gesagt nichts erreicht, fürchtete vielleicht auch von dem Grafen gleichfalls „geklappt“ zu werden. – So beurteile ich die Dinge, mein Alter. In großen Zügen wird das alles schon stimmen. Natürlich hat dieser abenteuerliche Roman noch allerlei spannendes Beiwerk, von dem wir bisher nichts ahnen können. Aber auch diese Einzelheiten werden sich uns enthüllen, sobald wir … Still …!!“ unterbrach er sich … „Still … Dort kommt jemand … Ein alter Mann in Dienertracht … Da – dies bartlose, faltige, nichtssagende Gesicht: der Typ eines herrschaftlichen Dieners! Beachte den Gang und die Haltung … Der Greis sieht bedrückt aus … Ich wette, er ist der Vertraute des Grafen, und er leidet unter diesen Heimlichkeiten … Siehst du, er biegt in den Pfad ein … Jetzt kehrt er uns den Rücken … Wir schleichen ihm nach … Leise! Der Alte ist mißtrauisch … Wahrhaftig, jetzt zieht er gar einen klobigen Revolver aus der Tasche … Vorsicht also … Dieses Geschäft ist nicht ganz ungefährlich.“

Nun – wenn Harst und Schraut sich nicht erwischen lassen wollen, dann ist ihnen schwer beizukommen.

Der greise Diener wandte sich dem Turme zu. Ich hielt mich dicht hinter Harald … Mir war’s im Kopfe noch ganz wirr von dem „Roman“, den Harald da soeben „erfunden“ hatte. Wirklich nur erfunden?! Steckte nicht in dieser Phantasiearbeit ein beachtenswerter Teil schärfsten Kombinierens!

Da – – der Greis hatte vor der Nordseite des Turmes haltgemacht, dicht vor dicksten Efeustauden, vor einem grünen Blattgewirr, hatte die letzten zehn Schritt in höchst komisch anzusehenden Sprüngen zurückgelegt und den Pfad verlassen. Diese Sprünge sollten eben seine Spur verwischen.

Jetzt bog er die Efeuranken auseinander. Sie ließen sich leicht beiseiteschieben, und so sahen denn auch wir etwa ein Meter über dem Boden eine rostige, schmale, niedere Eisentür – wir, die wir nun hinter einer kleinen Taxushecke im Grase lagen. Der Alte zog einen Schlüssel aus der Tasche … Die Tür ging auf … Unter der Tür befanden sich wie absichtslos aufgeschichtet mehrere Ziegelsteine. Der Greis benutzte sie als Treppe, verschwand in dem dunklen Loche, zog die Tür wieder zu, nachdem er den Schlüssel herausgenommen, und – – wir waren ausgesperrt …

Fatal!!

Ausgesperrt!! Denn der greise Diener hatte den Schlüssel von innen im Schloß stecken lassen, und daher war auch unser Patentdietrich mit verstellbarem Bart gänzlich kaltgestellt.

„Warten wir …,“ meinte Harald gelassen. „Sobald der Alte wieder herauskommt und verschwunden ist, haben wir den Weg zu dem Inder Nummer zwei frei …“

Wir lagen hinter der Hecke.

Bienen, Hummel, umsummten uns …

Es war ein Plätzchen, so recht zum Träumen geschaffen … Aber das sollte uns sehr bald vergehen.

Plötzlich flog die Eisentür drüben zwischen dem Efeu wieder auf …

Der Greis …

Aber in welcher Verfassung …

Bleich … mit stieren Augen in das Sonnenlicht blinzelnd, in der schlaffen Linken noch eine brennende Laterne.

Matt, kraftlos, mit merklich zitternden Beinen, lehnte er an der Mauer …

Ein Bild der Verzweiflung, vollkommenster Fassungslosigkeit …

Harst raunt mir zu: „Der Gefangene ist weg – – entflohen … Der Kerker leer … Deshalb dieses Entsetzen des armen Dieners …“

Und er richtete sich langsam auf, trat hinter der Hecke hervor. Ich begriff ihn nicht. Ich begreife ihn so häufig nicht. Harsts Gedanken zu erraten ist ein Kunststück.

Der Greis hatte ihn nun bemerkt … Mich noch nicht.

Er hob den rechten Arm … Der klobige Revolver …

Und nur zwanzig Schritt …

Harst ruft befehlend: „Lassen Sie die Dummheiten! Wenn der Inder entflohen ist, so sollten Sie besser auf Ihren Herrn ein wenig …“

Die Wirkung war verblüffend, war zu stark.

Der Greis taumelte, schlug nach vorn in das Gras … Die Laterne zersplitterte an den Ziegelsteinen …

Wir hin … Wir heben den Ärmsten empor. Kognak aus meiner Flasche tut Wunder …

Der alte Diener sitzt aufrecht im Grase. Seine Blicke wandern zwischen Harald und mir hin und her. Trostloses Entsetzen und ungläubiges Staunen macht diese Blicke stier und seelenlos.

„Wer … sind … Sie?“

Es kommt ihm schwer über die Lippen …

„Wo ist Ihr Herr, der Graf Oskar Mauring?!“ lautet Harsts Gegenfrage.

„Der … Herr Graf …? … Er … er schläft noch … Er … war … nachts … unterwegs … Wer sind Sie?!“

„Wissen Sie genau, daß der Graf noch schläft?“

„Wie meinen Sie das, mein Herr?“

„Nun, vielleicht hat der Gefangene Gelegenheit gefunden, sich an dem Grafen zu rächen …“

Das welke, faltige Gesicht wird noch blöder …

Dann hat der Greis verstanden …

„Mein Gott!!“ kreischt er auf … „Ich hab’s immer geahnt … Das endet nicht gut … Ich …“

Er springt auf, torkelt vor Schwäche. Ich stütze ihn …

„Wenn der Graf tot ist,“ sagt Harald eindringlich, „kommen wir doch schon zu spät. Zeigen Sie uns den Kerker des Inders … Wie heißen Sie?“

„Roderich … Roderich Matutat …“

„Vorwärts, Roderich … Ich werde Ihnen beweisen, daß der Inder einen Weg ins Freie gefunden hatte, daß er schon lange nächtlicherweile im Parke umhergeisterte und Ihrem Herrn nachstellte …“

 

3.Kapitel.

Das grüne Fenster.

Der greise Diener gehorcht. Harsts energisches Auftreten wirkt auch hier …

Wir schreiten in den Turm hinein … Unsere Taschenlampen ersetzen die Laterne … Der Gang ist so schmal, daß unsere Rucksäcke an den Wänden entlangscheuern …

Der Gang führt mit zwanzig Stufen abwärts, läuft dann schräg nach unten …

Bis wir vor einer zweiten Eisentür stehen … Sie ist offen … Roderich hat sie in seiner Bestürzung offen gelassen. In dieser Tür befindet sich ein kleines Schiebefenster.

Und nun die Zelle … Ein von grünlichem Licht erfüllter Raum … Vor uns zwei schräge Fenster, etwa ein Quadratmeter groß … Ohne jede Unterteilung, eine einzige Scheibe jedes. Und hinter dem Glase etwas, das nicht Tageslicht sein kann, nicht reines Licht …

Harst fragt: „Diese Zelle liegt unter dem Wasserspiel des Schloßteiches?“

Der Alte nickt nur …

Nun weiß ich’s: Jenseits der Scheiben schimmert Tageslicht, das durch die Wassertiefe gebrochen wird!

Fürwahr – ein Kerker, der nicht gerade einfach zu erbrechen ist. Die Eisentür ist zu dick, die Fenster drohen mit … Ersaufen! Und doch ist der Gefangene entwichen!

Ich schaue mir das Mobiliar an. Nun, der Graf hat seinen[2] Gefangenen wenigstens in dieser Hinsicht anständig behandelt. In diesem Gelaß aus Steinquadern fehlt nichts, was einem halbwegs verwöhnten Menschen den Aufenthalt trostvoller gestalten kann. Man konnte wirklich sagen: Mauring hatte seinem Feinde einen güldenen Kerker hergerichtet!

Aber Harst hat für all das keine Augen …

Seine Blicke gleiten umher wie eifrige Ameisen … Suchen … suchen …

Seine Taschenlampe tastet hier und dort mit gleißendem Finger die glatten, etwas feuchten Quadern ab …

Feucht … Moderduft hier, vermischt mit einem eigenartigen Parfüm …

Dann tritt Harst neben die Tür. Bückt sich … Lacht kurz auf …

„Sehr einfach,“ meint er … „Hier, Roderich, der Inder hat die Steinquadern neben der Tür gelockert … Dies hier – bitte! – Mithin konnte er hinaus, auch ohne Schlüssel … Aber Kräfte muß er gehabt haben, enorme Kräfte …“

„Die hatte er …,“ murmelte der Alte selbstvergessen …

„Und er hieß – heißt?“ frage ich rasch …

„Ich weiß es nicht, mein Herr … Wirklich, ich weiß gar nichts … Ich … flehe Sie nur an: kommen Sie mit ins Herrenhaus … Die Angst foltert mich … Es wird schon wahr sein … Mein Herr ist …“

Krach … Die Eisentür ist zugeflogen …

Wir hören, wie von draußen der Schlüssel umgedreht wird … Gefangene also … Eingesperrt … Von wem?!

„Tumar Mangi – vielleicht …“ und Harst nickt mir zu. „Im übrigen keine lange Gefangenschaft … Hilf mir mal, mein Alter … Was der Inder gekonnt hat, bringen wir ebenfalls fertig …“

Quadern herausziehen …!! Ja – lose waren sie … Aber wie der Mann diese schweren Steine hatte bewältigen können – – ein Rätsel! Wir beide sind doch auch nicht die schwächsten, aber diese Felsstücke spotten all unseren Anstrengungen … Wir sehen sehr bald ein, daß der Flüchtling, der vielleicht ein Mörder geworden, irgendwelcher mechanischer Hilfsmittel sich bedient haben muß, zum mindesten muß ihm ein eiserner Haken zur Verfügung gestanden haben.

Harst und ich knien, keuchen, zerren, ziehen …

Alles umsonst … Alles …

Die Ritzen zwischen den unregelmäßig behauenen Quadern sind zu eng. Wir bekommen gerade die halbe Hand hinein, reißen uns die Fingerspitzen blutig … Und dann …

Das Andere … Der Beweis, daß es hier auch für uns ums Leben geht, daß diese Inder genau wissen, wie sie uns … ersäufen können …

Das Andere … – ein zweiter Krach …

Von draußen ist ein mächtiger Stein auf das eine Fenster aufgeprellt. Das Glas ist dick … Vielleicht handdick … Und dennoch: es zeigt Risse …

Das Wasser ist dauernd in Unruhe … Wellen, Blasen.

Grüne Dämmerung … Ein zweiter Stein …

Ein Splittern – dumpf, wie das Bersten eines überlasteten Brettes …

Ein armdicker Wasserstrahl wie aus einem Spritzenschlauch – – knallt plätschernd gegen das grüne, hochlehnige Sofa …

Und der Druck der Wassermenge des Schloßteiches preßt weitere Splitter heraus … Der Strahl vergrößert sich …

Es geht ums Leben …

Roderich hat meinen Arm umkrallt …

Vielleicht hat der alte Mann in all den Jahren, die ihm jetzt den Schnee des Alters auf das Haupt gestreut haben, noch nie etwas derartiges durchgemacht. Er schmiegt sich an mich wie ein hilfesuchendes Kind. Er zittert … Seine Lippen zucken … Und das falsche Gebiß, das er trägt und das wohl nicht mehr ganz festsitzen mag, klappert ihm im Munde wie Kastagnetten. Aber seine Angst, sein Entsetzen gelten nicht der eigenen Person.

„Mein Gott – – der Herr Graf … und wir hier … ertrinken … …,“ röchelt er in Tönen, die mir Schauer über den Rücken jagen …

Das Wasser plätschert uns bereits um die Füße. Der Wasserstrahl bleibt gleich stark …

Harsts Taschenlampe sucht … sucht einen Weg der Rettung … Nochmals bückt er sich, mustert die Quadern neben der Tür.

„Schraut!“

Ich habe soeben dem alten Manne ein paar aufmunternde Worte zugeflüstert. Ich schaue wieder dorthin, wo Haralds Lampe jetzt die dicke Balkendecke dieses Verlieses[3] bestrahlt. In den Ecken hängen Spinngewebe – überall. Schwarze Hausspinnen sind’s … Als Knabe habe ich einmal drei Riesenexemplare in einem Glaskäfig gehalten und derart dressiert, daß sie auf einen Pfiff ihre Fliegen in Empfang nahmen. Die Trägerbalken der Decke sind Eichenholz, schwarz, nie faulend … Überall Spinnen …

Nein, nicht überall … Gerade da, wo der altertümliche Kleiderschrank steht, ist der Balken frei von grauen Geweben. Gerade da ruht der runde, grelle Kreis der Lichtflut der Taschenlampe. Harst nimmt einen Stuhl. Steht geduckt auf dem Schranke, beleuchtet oben den Schrank.

„Es stimmt – – Fußspuren!“ meint er und richtet sich auf, betastet die Decke. „Die Quadern an der Tür: Blendwerk, Täuschung! Hier ist der Weg ins Freie …“

Und ein Stück der Decke klappt mit leisem Kreischen seiner rostigen Angeln nach oben.

Harst hilft dem alten Roderich empor, dann mir. Wir steigen durch die Falltür, befinden uns auf einer ganz schmalen Treppe innerhalb der Mauer des Turmes. Diese Grundmauer muß gut drei Meter dick sein. Vor Jahrhunderten leistete man sich solche Scherze.

Roderich staunt. „Keine Ahnung habe ich von dieser Tür und dieser Treppe … Schloß Kastello stammt aus dem 15. Jahrhundert.“ Er wird gesprächig. Aber seine geschichtlichen Daten interessieren uns nicht.

Wir klettern in dem schrägen Schacht auf der engen Stiege aufwärts. Die dick bestaubten Stufen verraten, daß hier in letzter Zeit jemand häufig hin und her gegangen ist. In der Mitte der Stufen fehlt der Staub. Graf Maurings Gefangener hat gefunden, was Harst infolge der fehlenden Spinngewebe unterhalb der Falltür fand: den Weg ins Freie!

Eine Eichentür mündet schließlich in ein oberes Turmgelaß, wo uraltes Gerümpel die Tür verdeckt: Kisten, Schränke, Stühle, Waffen, vieles andere, alles wertloser Kram scheinbar, und doch wertvoll, weil die Jahrhunderte darauf lasten.

Nun ist der Ausgang bald erreicht. Wir stehen vor der Südseite des Turmes, und vor uns liegt der Teich mit seinen Mummeln, Binsen, Schilfstengeln … Der Wasserspiegel ist bereits beträchtlich gesunken. Weiter rechts am Ufer, das eine grüne Busch- und Graswildnis ist, deutet Harald auf den Boden, wo dunkle Flecke die Stellen andeuten, an denen die beiden Steine lagen, die jemand auf die Unterwasserfenster fallen ließ. Auch Spuren gibt es hier: zwei Personen haben sich hier am Ufer zu schaffen gemacht, ein Mann und ein Weib. Die Fährte der Frauenschuhe ist überaus zierlich.

„Tumar Mangi und der Flüchtling,“ sagt Harst. „Die Inderin ist uns hierher gefolgt und hat den Inder getroffen.“

Roderich wird ungeduldig, fleht uns an, mit ihm ins Herrenhaus zu kommen. Jetzt verrät er seine innersten Gedanken …

„Die Frau Gräfin ist in Berlin, und ich dachte mir gleich, daß die Frau Gräfin aus Berlin einen Detektiv herschicken würde … Der Gedanke an den Fremden, der nachts im Parke umherschlich, ließ ihr keine Ruhe …“

„Sie haben schon recht, Roderich,“ nickt Harald. Er nennt unsere Namen. Aber der Greis kennt sie nicht. Ihm genügt’s: Detektive!, obwohl Harald betont, daß wir lediglich aus Liebhaberei uns mit dunklen Vorgängen befassen und die Bezeichnung Detektiv auf uns nicht zutrifft.

„Meine Herren, nur keinen öffentlichen Skandal, selbst wenn der Herr Graf … tot ist.“ Das kommt ihm schwer über die Lippen. Er hofft noch immer. Wir hoffen nicht mehr.

„Dann gehen Sie voran zum Gutshaus,“ bestimmt Harald. „Dringen Sie in des Grafen Schlafzimmer ein. Wir kommen nach. Wir bleiben für das übrige Personal harmlose Touristen … Ich werde mich als Arzt ausgeben. Dann haben wir Anlaß, das Schlafzimmer zu betreten.“

Roderich eilt davon. –

Hinter Baumwipfeln schimmert das große, graublaue Schieferdach des Herrenhauses von Mauringhof. Ein neuer Bau, ein Schloß, leider ein Baustil, der einen Menschen von Geschmack an die wilde Architektur einzelner vornehmer Villen im Berliner Grunewald mit Schaudern erinnert. Nichts Einheitliches, nichts Ruhiges. Erker, Türmchen, Altane, Terrassen, ein angeklexter Wintergarten: schauderhaft – in Wahrheit! Aber der alte, wunderschöne Park versöhnt uns.

Dann stehen der „zufällig“ hier hereingeschneite Doktor Horter (Harst) und sein kleiner, dicker Freund in dem Schlafzimmer neben dem zitternden Roderich am Bett des ermordeten Grafen Oskar Mauring. Der Dolchstoß sitzt mitten im Herzen. Das Nachthemd ist nur wenig blutig. Die Waffe steckt noch in der Wunde: ein billiges Dolchmesser, für drei Mark überall erhältlich.

Der Mörder ist durch den einen nur angelehnt gewesenen Fensterflügel eingedrungen. Der Graf muß sehr fest geschlafen haben, denn auf dem Nachttischchen steht eine leere Kognakflasche und ein Weinglas mit einem Rest Kognak. Roderich gibt zu, daß Mauring seit drei Wochen mehr denn je trank.

Das Gesicht des Toten zeigt einen grauenvollen Ausdruck des Entsetzens. Am Halse finden sich Spuren von Fingern: der Mörder hat seinem Opfer die Kehle zugedrückt und dann zugestoßen.

Harst fragt den Greis verschiedenes. Roderich hält mit nichts zurück.

Der indische Diener, den Mauring mitbrachte von der letzten Orientreise, war ein Weib. Harst hat richtig behauptet. Der Graf muß die braune Schöne sehr geliebt haben. Als sie gestorben, ließ er sie im Erbbegräbnis im Parke beisetzen – scheute nicht das Gerede der Welt. Als halb gebrochener Mann begab er sich dann wieder auf Reisen, lernte Hella, geborene von Gracht, kennen, und heiratete sie, weil er dadurch die andere zu vergessen hoffte.

Über die Herkunft der Inderin, über deren Namen, Verwandte und so weiter, wußte der Alte nichts. Mauring hatte seinen „Diener“ mit den Schleiern tiefsten Geheimnisses umhüllt.

„Sie müssen den Mord melden, Roderich,“ erklärte Harald nun. „Von uns und allem übrigen schweigen Sie … Wir werden den Mörder finden, Schraut und ich, und wenn er sich im entferntesten Winkel verkröche …“

Ein Händedruck …

Wir mit unseren Rucksäcken, verfolgt von den neugierigen, verstörten Blicken der übrigen Dienerschaft, wandten uns den tieferen Teilen des Parkes zu, wo in einem düsteren Hain von Tannen das ehrwürdige Mauringsche Erbbegräbnis sich erhebt. Roderich hatte Harald auf dessen Bitte den Schlüssel übergeben, den Harst nachher im Türschloß stecken lassen wollte.

Ich will mich kurz fassen.

Der Sarg stand mitten in der oberen Gruft. Der Deckel war abgehoben. Der Sarg leer …

„Natürlich,“ nickte Harald. „Sie haben die Leiche mitgenommen …“

Er schien noch mehr sagen zu wollen …

Sein Blick wurde mit einem Schlage scharf, belebt …

Begegnete dem meinen …

Ich hatte eine Erwiderung schon auf den Lippen …

„Mitnehmen, Harald?! Wie denkst du dir das?!“

„Du hast ganz recht. Es ist ausgeschlossen, eine Leiche, die durch reichliche Formalineinspritzungen gegen Verwesung geschützt war, sehr weit zu transportieren oder nach Indien mitzunehmen. Der Mörder würde sich dadurch Gefahren aussetzen, die er vermeiden kann, wenn er trotzdem die Tote nach heimischem Brauche …, – doch, das kannst du dir ja unschwer selbst denken, mein Alter … Gehen wir … Ich möchte dem Turm der Ruine nochmals einen Besuch abstatten. Wir werden dort vielleicht von der Plattform aus etwas sehen, das uns eine Reise nach Indien erspart …“

 

4. Kapitel.

Die Rauchsäule.

Plattform …

Wir stehen oben mitten im frischesten, köstlichsten Luftzug, den nur die Ostsee spenden kann …

Harst mit dem Fernglas an den Augen …

Über uns knallen und klatschen die Fetzen der alten Fahne …

Über uns einzelne Wolken, Sonne … Jagende, zwitschernde Schwalben, die hier unter den dicken Zinnen ihre Nester angeklebt haben.

Harst späht rundum …

Sagt so unvermittelt, so zusammenhanglos, wie er es liebt:

„Es konnte nur in einem dichten Walde sein … Und nur ganz trockenes Holz können sie benutzen, das nicht qualmt. Das Einsammeln so großer Reisigmengen aber macht Mühe und erfordert Zeit …“

„Herr, dunkel ist der Rede Sinn …!!“ Jetzt sage ich’s, und der ärgerliche Ton meiner Stimme hat wohl einige Berechtigung.

„Bitte, nicht gereizt sein!“ – und er reicht mir das Glas. „Schau mal dort nach Südost … Du wirst da mitten in dem großen Walde, der sich als dunkle Insel von den grünen Saaten scharf abhebt, unschwer einen Rauchfaden wahrnehmen, den der Wind schnell zerflattern läßt. Was wie ein Rauchfaden im Fernglas sich ausnimmt, ist natürlich eine ganz gehörige Menge Qualm … – Siehst du’s?“

„Ja … – Und …?!“

„… Und wir müssen uns nun sehr beeilen, denn ich schätze die Entfernung auf mindestens eine Meile … Vorwärts also …!“

Wir verließen den Turm.

Wenn ich auch nur die entfernteste Ahnung gehabt hätte, was wir und die Inder und die Tote mit diesem Feuer dort zu schaffen hatten!!

Harald fragen?!

Ach nein …! Er kann so unangenehm ironisch werden! Er kann jemand ansehen, als ob er diesen Jemand für einen kompletten Idioten hält …

Also – schweigen ist Gold, fragen ist ein Risiko. Ich schweige. –

Wir verlassen das Gebiet von Mauringhof … Harst legt ein Tempo vor, daß mir schier der Atem vergeht …

Und schweigt …

Natürlich schweigt er … Raucht auf dem öden Feldwege, der uns so ungefähr dem Ziele zuführt, eine Zigarette nach der andern. Dann der Wald … Am Rande bleibt Harst stehen. Schaut zurück … „Ich habe mir drei Wegmarken gemerkt … Dort den einzelnen Baum auf dem Felde, dann das einzelne Gehöft, und hier am Waldrand eine dicke Birke, die im Glase wie ein weißer Strich erschien … Suchen wir die Birke … Und dann haben wir die Richtung.“

Die Birke stand zweihundert Meter nach Norden zu. Wir dringen in den Forst ein – Mischwald … Wir eilen, laufen …

Und nach zehn Minuten nimmt Harald die Clement aus der Schlüsseltasche …

„Riechst du’s, mein Alter?“

„Ja … Qualm …“

„Qualm eines Scheiterhaufens, wie du dir längst selbst gesagt haben wirst … Die Inder verbrennen die Leiche … Nehmen die Asche mit … – Schneller …!“

Der Qualmgeruch wird stärker.

Bei mir kommt das Jagdfieber …

O – wenn wir den Mörder des Grafen hier noch erwischten – wäre das ein Triumph für Harald!

Ja – wir erwischen auch jemand …

Wir kommen auf eine kleine Lichtung … Wir sehen rauchende, auseinandergerissene Scheite …

Und – dort an einer Kiefer einen Grünrock … festgebunden … geknebelt … einen Fetzen Stoff vor den Augen … Ein älterer Förster, neben ihm sein toter Hund – – niedergeknallt …

Wir befreien den Mann …

Er stiert wild um sich …

„Wo sind die Halunken?! Wo …“

Harst unterbricht ihn schon …

„Haben Sie daheim noch einen Hund, der menschliche Fährten gut ausarbeitet?“

„Gewiß … Wer sind Sie, mein Herr?“

„Das ist gleichgültig … Holen Sie den Hund, schleunigst! Sie haben doch ein Interesse daran, daß diese braunen Burschen, die Sie hier beim Verbrennen einer Leiche erwischten, gefaßt werden …“

„Herr, woher wissen Sie das alles?“

„Gleichgültig … – Eilen Sie … Wir erwarten Sie hier … Wann können Sie zurück sein?“

„In einer halben Stunde …“

„Sehr gut …!“

Der Förster warf noch einen schmerzlichen Blick auf sein totes Tier und schritt davon.

„Gefährliche Herrschaften!“ meinte Harald. „Der Förster war kein Schwächling, und dennoch haben sie ihn überwältigt und den Hund erschossen. Ich möchte ihnen nicht in die Hände fallen, mein Alter …! Sei überzeugt: hinter dieser indischen Liebschaft des Grafen steckt noch weit mehr, als unser durch kühles Überlegen gezügelter Verstand sich träumen läßt. – Ein Wunder, daß sie den Förster am Leben ließen…!“ Harsts Stimme droht … „Nun, der Tag der Abrechnung wird auch noch kommen … Graf Mauring liebte und wurde wiedergeliebt … Da hatte kein Dritter mehr das Recht, derart Vergeltung zu üben …“

Wir hatten vorhin, als der Förster davoneilte, leider unsere Pistolen wieder in die Tasche geschoben.

Auch ein Harst kann sich mal verrechnen.

So hier …

Wir standen vor dem toten Hunde, mit dem Rücken nach einer dicken Eiche zu, die mir deshalb aufgefallen war, weil sich auf ihren Ästen unverhältnismäßig viele Mispeln eingenistet hatten, die wie stets dicke, grüne Ballen bildeten, anzusehen wie Vogelnester, aus frischem Grün gefertigt.

Mit dem Rücken dorthin …

Leider …

Und so kam uns denn auch die recht laut vorgebrachte unhöfliche Aufforderung (in fließendem Englisch), die Arme hochzuheben und uns nicht zu rühren, wenn wir nicht eine Kugel in den Schädel erhalten wollten, einigermaßen überraschend …

Nun, angesichts eines von drei Schüssen niedergestreckten Hundes tut man gut, eine solche Aufforderung prompt zu befolgen …

Zumal, wenn der eigene Kugelspeier sich hinterwärts in der Tasche wärmt …

Wir hoben die Arme …

Wir standen still …

Jemand trat hinter uns … Nahm uns die alten, lieben, kleinen Kugelspritzen ab und warf sie ins Gestrüpp.

Dann wurden Harald die Hände auf dem Rücken gefesselt. Mir auch. Dann knotete man uns Taschentücher über die Augen. Wir sahen nichts mehr. Dann fesselte man uns durch die Beine und tat dies sehr sorgfältig. Worauf jemand mich an einem Tau … in die Eiche emporhißte. Und das war der Mann, dem Harald solche Riesenkräfte zugetraut hatte. Es stimmte auch.

Kurz: wir wurden oben in der Eiche festgebunden, bekamen auch noch Knebel in den Mund …

Und – alles wurde still …

Mein Reitsitz auf einem knorrigen Ast war alles andere als bequem. Und dabei hatten die Inder mich so raffiniert festgebunden, daß ich kein Glied rühren konnte. Ebenso aussichtslos waren die Versuche, den Knebel zu entfernen. Mir blieb nichts anderes übrig, als Harald wie so oft schon unsere Rettung zu überlassen. Er fand ja immer Mittel und Wege, selbst die verfahrenste Situation zu unseren Gunsten umzumodeln. Außerdem mußte ja auch der Förster mit dem Hunde zurückkehren, würde uns vermissen und vielleicht durch den Hund auf uns aufmerksam werden.

Reitsitz …

Verdammt hart!

Die Zeit verstrich. Die Kehrseite der Medaille wurde bei mir so allmählich Klopsfleisch. Die Hunnen unter Attila bereiteten sich bekanntlich ihre Mahlzeit in der Weise zu, daß sie Fleischstücke unter den Sattel legten und das Fleisch mürbe ritten. Ich ritt mein eigenes Fleisch mürbe. Heute habe ich gut lachen und Witze reißen, wo all das Scheußliche hinter mir liegt. Damals riß ich keine Witze.

Ich bekam’s mit der Wut …

Ich gab mir einen Ruck, zog die Beine mit aller Kraft an …

Da – – adieu Baumkrone …

Mein Reitast war morsch gewesen, brach ab und ich segelte abwärts, fiel in ein Mispelnest, fiel noch tiefer, schlug mit dem Bauch gegen einen elastischen Ast, blieb hängen, der Ast neigte sich, ich rutsche ab und lande unten im Grase wie ein breitgetretener Frosch.

Immerhin: dieser Sturz hatte ein Gutes: meine Beine waren frei, und die Augenbinde war herabgefallen, der Knebel lockerer und die ganze Geschichte eben weit günstiger als bisher.

Ich setzte mich aufrecht. Ich sah Harald droben im Grünen genau so unbequem reiten wie ich bisher. Ich sah die Krähen, den toten Hund, die noch qualmenden Scheite …

Und diese Reste des Scheiterhaufens befreiten mich von den Handfesseln. Es gab da noch einige glühende Holzstücke, die der Lufthauch zuweilen zu kleinen Flämmchen anfachte.

Gewiß – ich verbrannte mir die Haut des linken Handrückens nicht wenig, aber – ich war vollkommen Herr meiner Gliedmaßen.

Minuten später suchten Harst und ich unsere Pistolen aus dem Gestrüpp hervor, schulterten wieder unsere Rucksäcke und – – da erschien der Förster mit einem mittelgroßen Hund an der Lederleine, einem Bastard von Hund … –

Ich habe hier nur noch zu bemerken, daß die Fährte der Inder zu einer drei Meilen entfernten, einsamen und flachen Stelle der Samlandküste führte, wo im Sande der Abdruck eines Bootskieles zu sehen war. Die Inder waren hier zweifellos erwartet worden. Ein Fischer teilte uns dann mit, daß ein Motorboot vom Strande auf ein weit draußen in See ankerndes Schiff zugefahren war. Das Schiff, sagte er, konnte eine Jacht gewesen sein und hatte einen kurzen, dicken, schrägen Schornstein gehabt. Der Anstrich sei weiß oder gelbweiß gewesen.

 

5. Kapitel.

Freund Fritze.

Um zwei Uhr mittags waren die beiden harmlosen Touristen wieder in Rauschen und fragten hier nach einem Autoverleiher.

Der Kraftwagen, den wir bis zur kleinen Seefestung Pillau mieteten, wurde von einem jungen, höflichen und sehr gewandten Chauffeur namens Fritz Kester gesteuert. Dieser Kester, früher in vielen anderen Berufsarten tätig, fuhr wie der Teufel. Um vier langten wir in Pillau an.

Fritz Kester, der noch vor kurzem das Frankfurter Pflaster unsicher gemacht hatte, wußte in Pillau gut Bescheid. Harst brauchte nachher nur zu berappen. Den Motorkutter hatte Kester besorgt. Und ein feiner Kutter war’s, beinahe schon Rennboot. Der Spaß war nicht billig, aber das machte nichts. Wir konnten uns Derartiges wieder leisten. Doktor Amalgis Millionen hatten uns den nötigen goldenen Boden für eine unbehinderte Tätigkeit in unserem Liebhaberberufe geschafft.

Fritze Kester bettelte so lange, bis wir ihn und einen alten Matrosen, der uns wärmstens empfohlen worden war, mitnahmen. Das Auto wurde in einer Garage untergestellt und der Eigentümer gebeten, es selbst wieder nach Rauschen zurückzuholen.

So lernten wir Fritze Kester kennen. Er sollte in dem „Gast in der Nacht“ und in der indischen Fortsetzung noch eine besondere Rolle spielen. –

Ich kann mich hier mit Einzelheiten der Verfolgung der unbekannten Jacht nicht aufhalten. Wir hatten Glück. Wir riefen ein paar Dampfer und Hochseekutter an, und so konnten wir dem fremden Schiff bis in die Nähe der Südostspitze der Granitinsel Bornholm auf den Fersen bleiben, zumal unsere „Königsberg“ bedeutend schneller lief.

Von hier ab hatten wir Pech. Die Jacht mit dem dicken Schlot war verduftet. Vielleicht hatten die Herrschaften gemerkt, daß wir hinter ihnen her waren.

Harst steuerte südwestlich, und am Morgen liefen wir in den uns bekannten Hafen von Swinemünde ein, von wo Harald eine Menge Radiodepeschen an alle möglichen Hafenplätze der Ostsee aufgab, was ein kleines Vermögen kostete. Der Erfolg blieb nicht aus. Saßnitz auf Rügen antwortete, daß eine Jacht, dem indischen Großkaufmann Dranath ben Mussar gehörig, nachts vier Uhr vor Saßnitz infolge Explosion der Benzinbehälter gesunken, die ganze Besatzung gerettet und mit dem Morgenzuge nach Berlin weitergefahren sei. Das klang ja sehr verheißungsvoll.

Ohne Frage hatten die Inder, die also über ansehnliche Hilfsmittel verfügten, die Jacht geopfert, um nicht beim Verlassen der Ostsee entweder im Kaiser Wilhelm-Kanal oder im Kattegat[4] erwischt zu werden.

Harst hoffte bestimmt, die Herrschaften sehr bald am Kragen zu haben. Wir fuhren also mit Fritz Kester per Bahn nach Stralsund, wo ja die D-Züge Saßnitz–Berlin die Fähre benutzen müssen.

Von den Indern jedoch … keine Spur.

Erst nach drei Tagen wildester Autoraserei von Ort zu Ort (Fritz Kester bewährte sich abermals!) stellten wir fest, daß die indische Reisegesellschaft von vierzehn Personen in Stralsund in aller Heimlichkeit einen Frachtdampfer gemietet und mit unbekanntem Ziel davongefahren waren. Nun konnten wir ihnen nachpfeifen. Sie waren längst in Sicherheit – in der Nordsee, im Atlantik …

Was nun?!

Harst nahm die Sache durchaus nicht tragisch.

Am 8. Mai waren wir daheim. Fritz Kester wieder mit uns … Er war nicht loszuwerden, der kecke, flinke Kerl …

Koffer gepackt … Abschied von Haralds Mutter … Antritt der Reise nach Bombay, um Herrn Dranath ben Mussar auf den Zahn zu fühlen.

In Genua wollte Fritz Kester bescheiden Zweiter Kajüte für sich lösen. Harst ließ es nicht zu. Dieser Fritze Kester war ein Mensch von verblüffender Anpassungsfähigkeit. In den wenigen Tagen des Zusammenseins mit uns hatte er das, was ihm an gesellschaftlichem Schliff noch abging, glänzend sich angeeignet. Da Harald und ich unter holländischen Namen reisten, wurde aus Fritze Kester in gleicher Weise ein Amsterdamer Kaufmann van Kaasten. Mit dem Wetter hatten wir leidlich Glück. Im Roten Meer, dem berüchtigten Backofen, zeigte das Thermometer nur 42 Grad, und es gab nur ein Dutzend Hitzschläge – sehr wenig.

Fritze Kesters kindliche Freude, als er indischen Boden betrat, ist schwer zu schildern. Dann aber kam die Enttäuschung …

„Herr Gott, das ist ja nicht viel anders als in Frankfurt am Main,“ erklärte er während der Fahrt zum Hotel.

Daß doch ein kleiner Unterschied bestand, merkte er nachmittags, als wir ins Eingeborenenviertel in die größte der Basarstraßen zu Fuß einbogen. Da staunte er …

Und wir auch …

Denn als wir den festungsartigen, etwas düsteren Geschäftspalast Dranath ben Mussars betreten hatten, als wir drei nun den Großkaufmann und Bankier allein zu sprechen wünschten, als das vornehme Privatkontor mit seiner modernen Einrichtung uns aufnahm und vor uns ein europäisch gekleideter, älterer, brauner Gentleman mit schicker Hornbrille stand, und nach den Wünschen der Herrn Holländer fragte, als Harst sich als Eigentümer zweier Bergungsdampfer vorstellte und fragte, ob Mussar uns das Wrack seiner vor Saßnitz gesunkenen Jacht verkaufen wolle, da meinte der Inder sehr höflich:

„Ich bedauere sehr, daß die Herren sich in dieser Angelegenheit an die falsche Adresse gewandt haben. Meine Jacht „Skandri“ habe ich vor drei Monaten an einen Herrn verkauft gehabt, der mich bat, seinen Namen zu verschweigen. Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht helfen …“

Und damit war die … Audienz bei dem reichsten Manne Bombays beendet.

Wir[5] zogen so ziemlich wie die begossenen Pudel ab.

Wer diese indischen Kaufleute kennt, weiß genau, daß bei ihnen oder ihrem Personal nichts auszurichten ist – nichts! Daß wir nie erfahren würden, wer die „Skandri“ zur Reise nach der Samlandküste benutzt hatte, erschien mir gewiß. Für mich lag der Fall Mauring 1:10, das heißt: die, die wir suchten, würden nur durch einen Zufall aufzustöbern sein!

Als wir drei wieder auf der Straße waren, wandte sich Harald einer engen Seitengasse zu. Diese öffnete sich auf einen baumbestandenen Platz: ein alter mohammedanischer Friedhof, den man aus Pietät hier hatte bestehen lassen. Die Gegend war mir unbekannt.

Harst betrat schweigend durch ein halb eingestürztes Tor diese Wildnis von Gottesacker und bog sofort nach links ab, wo er sich hinter einem umgesunkenen Grabstein zusammenkauerte. Kester und ich desgleichen …

Wir hockten hier noch keine drei Minuten, als ein kleiner Chinese von der Straße her erschien und durch sein ganzes Benehmen verriet, daß er … hinter uns her schleichen wollte: ein Spion Mussars!

Harst lächelte zufrieden.

„Kester,“ sagte er, „nun beweisen Sie, daß Sie was leisten … Bleiben Sie dem Chinamann auf den Fersen und erstatten Sie uns nachher Bericht …“ –

Um acht Uhr abends traf Fritze Kester mit uns im Speisesaal des Prince Edward-Hotels wieder zusammen.

Er strahlte …

„Herr Harst, der Käufer der Jacht „Skandri“ ist der Radscha von Belar gewesen … Der Radscha ist erst gestern hier in Bombay von Europa kommend wieder eingetroffen und wohnt mit seinem Gefolge in seiner Sommervilla auf den Malabar Hills …!“

„… Was ich schon alles wußte,“ nickte Harald. „Setzen Sie sich, Kester … Ich empfehle Ihnen zum Abendbrot ein Schnitzel auf amerikanische Art … Das paßt vorzüglich zu der amerikanischen Jazzmusik, die gerade wieder zu quäken beginnt … Aha – – von Lehar: „Gern … hab’ ich die Frauen geküßt …“ – – Heimatsklänge.“

Kesters Gesicht war ellenlang.

Ich fragte prompt: „Du wußtest das alles schon, Harald?“

„Ja – durch den Hoteldirektor und durch ein paar einfache Kombinationen, die ich euch entwickeln will, sobald der Kellner die Flasche Rotwein gebracht und Freund Fritze berichtet hat, wie er diese Dinge erfuhr und wer der kleine Chinese war …“ –

So begann für uns der zweite Teil des „Gastes in der Nacht …“

Und dieser zweite Teil hat es in sich, würde Fritze sagen. Denn zuweilen verwendet er noch Redensarten, die nicht recht zu einem Gentleman passen …

 

 

Die Einsiedlerin von Belar Bakscha

 

1. Kapitel.

Bunte Gesellschaft.

Fritze Kester erzählte …

Wie er dem Chinesen, der sich offenbar wütend ärgerte, weil ihm die drei Holländer entwischt waren, bis nach den Malabar Hills gefolgt war und wie er vor der Villa des Radschas einen Bettler bestochen habe, der zum Glück etwas englisch sprach. Dieser Bettler hatte ihm über alles genaue Auskunft geben können.

Als Fritze den Bettler erwähnte, machte Harald ein ganz merkwürdiges Gesicht.

„Das war sehr unvorsichtig, lieber Kester,“ sagte er merklich beunruhigt. „Indische Bettler sind zumeist mit äußerster Vorsicht zu genießen … Und gar noch ein Kerl, der Ihnen so bereitwilligst alles auftischte … – Nun – die Sache läßt sich nicht ändern. Seine Hoheit der Radscha von Belar hätte ohnedies sehr bald gewußt, wer die drei Holländer sind, die eines Wrackes wegen nach Indien reisen … Mag er! Die Hauptsache ist nun, daß wir von hier spurlos verduften … so spurlos, daß auch die Macht dieses indischen Nabobs, denn der Radscha ist vielleicht der reichste indische Fürst, uns nicht wieder aufzuspüren vermag … – Essen Sie nur weiter, Kester … Und machen Sie sich nicht etwa Vorwürfe, weil die Dinge nun durch Sie ein etwas beschleunigtes Tempo angenommen haben. Es wäre doch so gekommen, wie es gekommen ist. – … Jetzt spielt die Jazz ausgerechnet auch noch „Meier am Himalaya …“ Man glaubt in Berlin zu sein … – Aha – da haben wir’s ja … Da ist schon die Quittung für Ihre Spende an den Bettler … Dort drei Tische weiter … Soeben haben sich die Herrschaften niedergelassen … Schau an, auch eine Europäerin dabei … Ja, ja, solch ein Radscha von Belar hat es gut … Wo unsereiner nur hundert Mark opfern kann, wirft er hunderttausend in die Bresche …“

Kester flüsterte: „Wie, Sie halten die drei für Spione, Herr Harst?“

„Das sind sie ebenso gewiß, wie Ihr Schnitzel verdammt zäh zu sein scheint …“

„Aber … den Leuten kann man doch nicht an der Nasenspitze ansehen, daß …“

„Stimmt, Fritze, nicht an der Nasenspitze, doch an der Art, wie der kleine chinesische Kellner ihnen die Plätze anwies … Dieser Kellner ist nämlich unser Mann vom Kirchhof und scheint hier mit dem Oberkellner sehr vertraut zu sein …“

„Bei Gott!“ murmelte Fritze, „es ist derselbe kleine Halunke …!“

„Ach ja, wir haben da in ein nettes Wespennest hineingefaßt … Hätte ich geahnt, daß der Fürst von Belar den Grafen Mauring hat ermorden lassen, so würde ich meine Dispositionen anders getroffen haben … Wir werden es nicht gerade leicht … – hallo, was bedeutet denn das?! Die blonde Europäerin dort zwischen den beiden indischen Dandys hat mir soeben verstohlen ein Zeichen gegeben … Wenn ich nur wüßte, was sie will … Da – wieder … Jetzt begreife ich: sie telegraphiert … tippt Morsezeichen mit dem Zeigefinger … Verhaltet euch still, ich muß aufpassen …“

Er studierte scheinbar die Speisekarte, aber über den Rand hinweg beobachtete er die sehr elegante blonde Frau, deren reife Schönheit durch die ein wenig auffällige Kleidung noch mehr unterstrichen wurde.

Diese Blonde hatte jenen Typ internationaler Abenteuerinnen, wie man ihn von Monte Carlo bis hinab nach Adelaide in Australien findet. Es ist immer Typ … Immer dieselbe Brillantenpracht, dieselbe Schminke, Puder, manikürte Händchen, blasiertes Lächeln, geborgte Vornehmheit, – dieselbe Grenzlinie zwischen Dirnentum und zeitweiliger Rückkehr in den Bereich der Dame …

Sie telegraphierte … Und Freund Fritz und ich unterhielten uns eifrig, redeten, um nur zu reden …

Bis Harst die Speisekarte weglegte …

„Merkwürdig,“ meinte er leise. „Die Frau dort hat mich für diese Nacht zwölf Uhr nach den Grandu-Gräbern bestellt … Es kann eine Falle sein. Aber sie wäre zu plump … Außerdem kenne ich diese Frau auch. Sie ist mir zu Dank verpflichtet und würde mich wohl kaum irgendwelchen Feinden in die Hände spielen.“

„Du kennst sie?!“ – und ich konnte nur sehr erstaunt den Kopf schütteln.

„Du auch,“ lächelte Harst ein wenig ironisch. „Besinne dich nur … Diese Blondine war noch vor drei Jahren absolut schwarzhaarig … Ich will dir helfen – ein Stichwort: Skala, Berlin …“

Skala …?!

Verfl… verflixt schlechtes Gedächtnis …

Skala – Berlin?! Varieté?!

Hallo – – richtig: Juanita Desparro, die Kunstpfeiferin!!

„Juanita!“ flüsterte ich …

„Stimmt …! Sie war damals übel im Schwindel, als der Spanier erschossen aufgefunden wurde … Aber ihre tadellosen Augen hat sie sich bewahrt, denn mich in dieser Verkleidung sofort …“

Er schwieg …

„Da – – sie morst schon wieder …! Still!“

Fritze Kester, der derartige amüsante Scherze von Tisch zu Tisch noch nicht kannte, fieberte vor Aufregung, und war ganz zappelig wie ein Backfisch in der Tanzstunde …

„Ruhe!!“ warnte ich … „Glotzen Sie in drei Deibels Namen nicht immer hin! Wollen Sie denn alles verderben?!“

„Nein, Herr Schraut … Aber – ich habe soeben eine Entdeckung gemacht …“

„So?!“

„Ja … Dort rechts, nein, halb rechts hinter dem Tisch der Juanita, sitzen zwei Europäer im Smoking, und der eine kann durch den Pfeilerspiegel Juanitas Hände beobachten und macht mit einem Bleistift immer Striche und Punkte auf ein Stück Papier …“

Wer waren nun wieder diese beiden Gentlemen mit Monokel und angeklebten Scheiteln?!

Aha – jetzt war Haralds Interesse doch erwacht!

Ich beschrieb ihm die Gardeherren …

Er blickte verstohlen hin …

„Unmöglich!!“ murmelte er … „Sollte ich mich aber so täuschen können?! – Mein Alter, das ist Jack Chester Blandy, der eine! Meinen Kopf wette ich: es ist Blandy, der gesuchte Juwelendieb!“

„Wer?!“ platzte Fritze heraus. „Auch noch ein Juwelendieb?! Das ist ja geradezu …“

„… ein Glückszufall – – allerdings, denn nicht alle Tage dürfte man hier im Prince Edward solch ein erstklassiges internationales Lumpengesindel beieinander finden wie heute … – – So, nun ist Juanitas Depesche zu Ende. Ich habe jedes Wort abgelesen … Ihre zweite Botschaft lautete:

„Nicht kommen. Gebe auf andere Weise Nachricht.“

– Also scheint auch sie den Herrn Jack Chester Blandy, ehemals einer der besten Jongleure der Welt, bemerkt zu haben.“

Über den Juwelendieb Blandy brauche ich hier kein Wort zu verlieren. Seine Taten haben jahrelang den Zeitungen aller Weltteile Stoff zu reißerischen Sensationsartikeln gegeben. Wie er schließlich, er, der Vielgestaltige und nie zu Fassende, doch endlich dem Jäger ins Garn ging, wird der Leser in kurzem miterleben.

Harald schob seine Mokkatasse beiseite und nahm eine Zigarette.

„Interessante Gegend hier,“ meinte er so nebenbei „Aber Herrn Jack Chester Blandy scheint die Musik nicht zu behagen, nachdem er leider einen meiner Blicke aufgefangen hat. Da schwebt er hinaus … Ich fürchte, auf Nimmerwiedersehen … Immerhin …“

Den Rest des Satzes mußten wir uns denken, denn Harst war aufgestanden und zur anderen Tür geschlendert, die in das Bureau führte. Er hatte dem Hoteldirektor dabei einen heimlichen Wink gegeben, und beide verschwanden nun.

„Ihr halber Namensvetter, Fritze, wird wohl kaum sein Gepäck mitnehmen können,“ sagte ich ironisch, und löste die Binde von meiner Henry Clay, strich ein Zündholz an und fügte hinzu: „Harst hat einen Riegel vorgeschoben … Auf Blandys Ergreifung sind 20 000 Pfund Sterling Belohnung ausgesetzt … Wissen Sie, wieviel das in Mark umgerechnet ist?“

„Gewiß, Herr Schraut … Das sind 400 000 Mark. Aber wie ist es nur möglich, daß eine solche Summe …“

„Weil Blandy Schmuck und Edelsteine für reichlich das dreifache … weggefunden hat, lieber Kester. Man kennt ihn … Er schleppt seine Beute stets mit sich herum … Und daß er sich hier in Bombay ganz unverkleidet zeigt und nur sein Haar strohblond gefärbt hat – wie Juanita Desparro, ist vielleicht sein frechster und genialster Trick. Sie könnten reich werden, Fritze, wenn Sie ihn fingen, und die Beute herbeischafften. Geben Sie sich nur ein wenig Mühe, Kester. Die Geschichte lohnt sehr …“

Fritze seufzte. „Mein Gott – – ich – – ich und solch ein internationaler Lump!! Der steckt mich doch zehnmal in die Tasche … Aber trotzdem …!!“

Und weg war er …

Ja – viermalhunderttausend Mark – – das lockt!!

Ich sog nachdenklich an meiner Henry Clay …

Blandy war mir herzlich gleichgültig. Ich dachte nur an den Radscha von Belar. Also der hatte dort in Ostpreußen seine braunen Pfoten mit im Spiel gehabt … Sollte etwa gar der Graf Oskar Mauring es seinerzeit fertiggebracht haben, eine dem Nabob nahestehende vornehme Inderin zu entführen?! Fast schien es so.

Die Zigarre schmeckte mir nicht. Ich legte sie weg.

Da – Harald tauchte zwischen den Tischreihen auf … Harald … – wahrhaftig! – ging auf den Gent mit dem Monokel zu … verbeugt sich, spricht mit ihm, nimmt Platz … Nicht lange. Erheben sich, kommen zu mir.

„Du gestattest, daß ich dir Herrn Fritz von Gracht, den Bruder der Gräfin Hella, vorstelle …“ Und Harald lächelt ganz wenig. „Ja, es ist eine ziemliche Überraschung, mein Alter … Baron Gracht ist uns nach Genua nachgereist, nachdem meine Mutter ihm unser Reiseziel angegeben hatte. Er hatte in Genua das Glück, mit der Jacht eines früheren Bekannten die Reise bis hierher zurücklegen zu können …“

Gracht und Harald hatten sich gesetzt.

Nun – ich sah den Baron aus der Nähe, und ich bat ihm im Stillen alles ab, was ich vorhin über seine Pseudo-Vornehmheit mir da zurechtgeklügelt hatte.

Mit der vollendeten Sicherheit eines Weltmannes fügte er nun den Erklärungen Haralds hinzu: „Ich wollte nicht müßig sein, Herr Schraut, wenn Sie und Ihr Freund den Mörder meines Schwagers Mauring … zur Strecke brachten. Meine Bank gab mir großmütig Urlaub, und meine Schwester Hella spendete das nötige Geld. Gestern traf ich hier ein und machte zufällig die Bekanntschaft jenes Menschen, der sich auch im Fremdenbuch als Graf Blanden eingetragen hatte und der ein berüchtigter Hochstapler ist, wie mir Herr Harst soeben mitteilte. Dieser Jack Chester Blandy muß Sie beide erkannt haben, wurde vorhin an unserem Tische auffällig wortkarg und entfernte sich mit einer Ausrede …“

„Er ist unter Zurücklassung seines Gepäcks geflüchtet,“ warf Harald ein.

„Und Kester hinter ihm her …,“ ergänzte ich, ohne Juanita aus den Augen zu lassen, die für uns immer noch reges Interesse zeigte.

Baron Gracht schaute Harald bittend an. „Sind Sie sich auch der Gefahren bewußt, die mit dieser Jagd auf Maurings Mörder verknüpft sein werden, Baron?! Nicht, daß ich an Ihrem persönlichen Mute zweifele … Bewahre! Nur …“

Gracht lachte sorglos. „Gefahren?! Ich wünschte, es gäbe recht viel davon …! Wenn man wie ich als früherer flotter Kavallerist verurteilt war, jahrelang nur auf einem Kontorbock zu reiten, wenn man in der Hölle von Flandern jede Minute dem Tode in seiner verschiedensten Form ins Auge geschaut hat, dann …“

„Schon gut, Baron … Wir sind dann unser vier gegen den Radscha von Belar …“

„Gegen wen?!“

„Radscha von Belar …“ Und er weihte Gracht ganz kurz in die Hauptsachen ein …

 

2. Kapitel.

Wer die Heimat liebt …

Um halb zwölf begaben wir beide uns aus dem Speisesaal nach oben in unsere Zimmer. Gleich darauf erschien der Hoteldirektor bei uns, den Harald ins Vertrauen gezogen hatte. – „Es ist alles sicher, Herr Harst,“ meldete er eifrig. „Unser Hoteldetektiv behält Miß Desparro und die beiden Inder, die übrigens tatsächlich Hofangestellte des Radschas sind, im Auge. Noch sitzen die drei im Speisesaal. Weitere verdächtige Personen sind innerhalb des Hotels nicht beobachtet worden. Der Lastenfahrstuhl am Ende des Korridors ist bereit.“

Dann zog er sich wieder zurück.

Harald war sehr einsilbig, und während wir nun die Holländer in zwei gänzlich anders ausschauende Herren verwandelten, sprach Harst kein Wort. Dann klopfte es. Es war Fritz von Gracht. Auch er wurde schleunigst umgemodelt, was ihm offenbar viel Spaß machte. Leider hatte sich der andere Fritz immer noch nicht eingefunden, und Harald schien dieserhalb ein wenig in Sorge zu sein.

So wurde es halb eins. „Länger können wir nicht warten,“ erklärte Harst ärgerlich. „Vorwärts denn …!“

Wir nahmen unsere Handtaschen, die nur das Allernotwendigste enthielten, und schlichen den Korridor entlang, begegneten keinem Menschen, schlüpften in den Lastenaufzug und fuhren bis in den Keller hinab, wo die Gepäckabfertigung des Hotels untergebracht war. Hier war zur Zeit nur der Hoteldetektiv anwesend, der uns, wie vereinbart, durch einen Seitenausgang und über den Garagenhof in eine kleine Seitengasse führte, wo niemand uns auflauern konnte. Dann waren wir uns selbst überlassen.

Die Gasse war gut erleuchtet. Zumeist lagen hier nur die Hinterfronten großer Hotels und Geschäftspaläste, so daß zu dieser späten Stunde nur wenige Menschen sichtbar waren. – Wir drei standen noch im Schatten der Mauerpforte, standen hier eine geraume Weile, während Harst mißtrauisch die Blicke umherschweifen ließ.

Harald verließ jetzt den schützenden Schatten der Pforte und schaute einem hinkenden, dreckigen Bettler mißtrauisch entgegen, der mit seinen beiden zahmen graugrünen Affen an klirrender Kette gerade im Lichtschein der nächsten Laterne aufgetaucht war.

Irgend etwas an diesem Manne, der doch hier im kunterbunten Straßenbilde der Weltstadt durchaus nichts Außergewöhnliches war, mußte ihm aufgefallen sein. Vielleicht das eine (und das machte auch mich ein wenig stutzig), daß die beiden zahmen Affen ihrem Herrn mit aller Kraft sich widersetzten und rückwärtsstrebten, sich ziehen ließen, sich geradezu widersetzten …

Jetzt schwenkte der zerlumpte Bursche, ein Kerl mit zottigem, langem Bart und einem zerfetzten Turban, mit jäher Wendung auf die Pforte zu. Harst stand etwa zwei Schritt vor uns. Ich flüsterte ihm rasch eine Warnung zu, denn in dieser toten Gasse konnte alles Mögliche geschehen …

Da – hinter dem Bettler wie ein Schatten eine zweite Gestalt, mit blitzschnellen, gleitenden Bewegungen … Ein Europäer, schlank, sehnig, über dem dunklen Abendanzug einen sandfarbenen Ulster …

Den Ulster kannte ich, auch die helle weiche Reisemütze: Freund Fritz, unser gelehriger Schüler!

Mit einem letzten Satz sprang er über die beiden widerspenstigen Affen hinweg, dem Schmierfink von Bettler in den Rücken …

„Hat ihn schon!“ frohlockte er im Übereifer seines Tatendranges. „Hat ihn schon …!! Herr Harst, bitte …“

Er hatte Harald also erkannt … Aber – – er hatte keineswegs Haralds Beifall gefunden, – nein, – mein Freund rief ihm halblaut zu, und das klang nicht eben anerkennend: „Lassen Sie in drei Teufels Namen Blandy wieder los!!“

Blandy?!

Ich war platt …

Und auch Gracht murmelte hastig: „Blandy soll das sein?!“

Der Bettler hatte sich mit einem Ruck umgedreht … Unser Fritze flog auf das nicht eben erstklassige Pflaster.

„Sie Narr!!“ keuchte der Verkleidete, und schob sich Perücke und Turban wieder zurecht. „Wollen Sie denn alles verderben?!“

Und noch hastiger zu Harald – und zu Gracht und mir, die neben Harst getreten waren:

„Ich wollte Sie nur vor …“

Kam nicht weiter mit dem begonnenen Satz …

Kam etwas anderes …

Und das bewies zur Genüge, wie richtig Harald die Gefährlichkeit der Situation eingeschätzt hatte, wie scharf wir alle trotz der schlau ausgeklügelten Vorsichtsmaßregeln beobachtet worden waren …

Uns gegenüber auf der anderen Straßenseite hatte sich die große Einfahrt irgendeines Hofraumes lautlos geöffnet … Aus dem Dunkel des Tores quoll eine Welle flinker, brauner Teufel hervor …

Wir kamen überhaupt nicht recht zur Besinnung, so schnell spielte sich alles ab …

Diese Meute von Wegelagerern war aufs beste vorbereitet. Jeder weiß, daß ein kleiner mit Sand gefüllter Sack eine furchtbare Waffe ist … Und diese Waffen wurden[6], die wir auf einen solchen Massenangriff nicht vorbereitet gewesen, zum Verhängnis.

Wie tadellos diese braunen Strauchdiebe instruiert gewesen, zeigte sich schon an der Art ihres Vorgehens. Jeder hatte seine bestimmte Aufgabe … Zwei fielen Harst an … Ich sah noch, wie er den einen mit der Faust niederschlug … Sah noch Blandy und Kester umsinken, sah über mir den hoch geschwungenen Sandsack, duckte mich, rannte vorwärts – ganz der Eingebung des Augenblicks gehorchend …

Stieß zwei, drei der Burschen beiseite … Rannte weiter – über die Straße – hinein in den dunklen Hof, sofort mich hinter dem einen Flügel des halb offenen Tores mich bergend.

Raus mit der Pistole …

Wartet, Halunken!! Die Partie ist noch nicht verloren, und wenn ihr auch euer zwölf seid und da draußen meine Freunde auf dem Pflaster liegen …

Eine Hand umkrallt meinen Arm …

„Nicht – ich bitte Sie!!“

Eine Frauenstimme …

Wahrhaftig Juanita …

Im schwarzseidenen Mantel … Um den Kopf einen golddurchwirkten Spitzenschal …

Undeutlich steht sie neben mir …

„Nicht dies, Herr Schraut! Nur nicht!!“ Und sie schiebt mich rückwärts … Ich taumele in eine offene, schmale Tür … Die Tür gleitet zu … Ein Schlüssel wird umgedreht …

Draußen Stimmen … Unklar, erregt, keifend, schnatternd … Zwischenein Juanitas klingendes Organ … Und ihre Worte verstehe ich …

„Dorthin floh er … Folgt ihm … Ihr müßt ihn finden …!“

Trappelnde Schritte …

Das Zuschlagen der Flügel des Hoftores.

Ich begreife: Juanita hat die Verfolger genarrt. Ich bin vorläufig in Sicherheit.

Mein Atem fliegt … Mein Herz jagt … Man muß derartige Dinge miterlebt haben, um sie würdigen zu können, in solcher Lage die richtige Entscheidung zu treffen – gute Nerven, ein klarer Kopf …

Ich hatte meine Handtasche nicht losgelassen … Ich habe sie noch in der Linken, in der Rechten aber die kleine Neunschüssige, die ich nach Juanitas Rat nicht benutzen sollte und auch nicht benutzt habe.

Was wäre gewonnen gewesen, wenn ich ein paar dieser Banditen niedergeknallt hätte?! Nichts – gar nichts! Die anderen würden über mich hergefallen sein … Und bevor noch die Schüsse Leute herbeigelockt hätten, wären Tote, Verwundete, Bewußtlose und Lebende von der Gasse verschwunden gewesen!

Nun aber war ich frei. Und konnte in Ruhe überlegen, wie ich diese Schlappe wettmachen könnte.

Zunächst: wo war ich eigentlich?! – Es stank hier in diesem pechfinsteren Raume nicht eben angenehm. Dieser Gestank hatte sogar etwas geradezu Beklemmendes an sich.

Ich steckte die Pistole in die Tasche.

Meine Taschenlampe blitzte auf. Die Linse bedeckte ich mit den Fingern. Ein ganz dünner Lichtstreifen glitt rundum.

Gestank …

Kein Wunder!!

Ein mit indischen Verhältnissen weniger vertrauter Europäer hätte diese aufgeschichteten länglichen schwarzen Kisten, deren Seitenbretter knallgelbe chinesische Schriftzeichen wie Signaturen von Frachtstücken trugen, nicht sofort als jene primitiven Särge erkannt, in denen selbst heute noch die heimatliebenden Söhne des Himmlischen Reiches ihre sterblichen Überreste unter dicken Lagen von Kampfer und Chlor einnageln lassen zum Versand nach dem fernen China: damit heimische Erde die Toten aufnähme!

Gewiß, die indische Regierung hat gegen diese gesundheitsbedrohende Unsitte seit langem strenge Verbote erlassen. Vieles wird verboten. Aber wo Geld zu verdienen ist, finden sich immer Leute, die getrost ein paar Jahre Gefängnis riskieren. So werden denn diese Leichenkisten heimlich gesammelt, werden nachher ebenso heimlich, wenn genug beisammen sind, auf irgendeinen morschen Rattenkasten von Frachtdampfer verladen, und gelangen schließlich auch wirklich nach China – – vielleicht, falls eben der Dampfer unterwegs nicht infolge Sturm, Kesselexplosion oder anderswie wegsackt.

Im Grunde hat ja diese Liebe der Chinesen für ihr fernes Land und für ihre Familienbegräbnisstätten etwas Rührendes. Es ist eben einer der vielen, dem Europäer gänzlich unverständlichen Charakterzüge der schlitzäugigen Rasse.

Ich schlich den Gang zwischen den Kisten hinab, über morsche Dielen, – jagte ganze Schwärme von Ratten auf …

Eiskalt überlief es mich plötzlich …

War’s eine Gehörtäuschung gewesen?!

Ich horchte …

Da – – wieder …

Da stand an der Mauer, wo der Gang endete, zu meinen Füßen eine einzelne Kiste …

Ein noch Lebender etwa unter all diesen verwesenden Choleraleichen?!

Ich fahre zurück …

Ein neuer qualvoller Laut aus der Kiste …

Wer so viele Jahre die harte Harstsche Schule besucht hat, der fürchtet Tote nicht und erst recht nicht einen armen Teufel, der in einer dieser Mottenkisten wieder zum Leben erwacht war, – der kann vielleicht für kurze Zeit so etwas die Herrschaft über seine Nerven verlieren, gewinnt sie aber ebenso schnell wieder zurück. Wie ich.

Ich legte meine Taschenlampe links auf eine Kiste, daneben die entsicherte Clement, zog mein Messer hervor, das mit seiner fest einschnappenden großen Klinge nötigenfalls auch ein Brecheisen ersetzen kann, und begann die Deckelbretter zu lösen, die zum Glück recht dünn waren. Daheim in Deutschland bezeichnet man eine bestimmte Sorte von billigen Möbeln als lackierte Eierkisten. So dünn waren auch diese Bretter. – Nun hatte ich den Deckel vollends gelockert. Eine dünne Decke und eine Gestankwolke … Unter der Decke Kampfer und Chlor und die Umrisse eines Menschen und ein weißes Clowngesicht mit weit offenem Munde …

Der Mann (ja, war es ein Mann?!) hatte die Arme über der Brust gekreuzt. Die Hände waren gefesselt. Das durch das Chlorpulver völlig bestäubte Antlitz, in dem nur die offenen Lippen wie ein ovales Loch gähnten und die Augen, die Nase und Ohren lediglich gleich Schattenstellen sich abhoben, während das Haar eine wirre, gelbweiße Masse wie ein Negerkopfputz bildete, verriet weder Geschlecht noch Alter dieser unglücklichen Person, die man hier – das zeigten die Handfesseln und der auf die Brust gerutschte, also mit der Zunge herausgestoßene Knebel aus Leinenstoff – elend hatte ersticken wollen, oder vielleicht gar bereits für tot gehalten hatte.

Schließlich überwand ich mich, bückte mich und … prallte wieder zurück …

Der Gefesselte hatte die Augen ganz weit aufgeschlagen.

 

3. Kapitel.

Jepp Doffert.

Und diese dunklen, matten Sterne blinzelten mit einem gräßlich verstörten Ausdruck in das Licht der Taschenlampe auf der Kiste nebenbei. Ich selbst stand außerhalb des Lichtkegels. Die Person in der Kiste (ob Mann, ob Weib, darüber war ich mir noch immer nicht klar), schloß dann langsam den Mund, nieste kräftig, zwinkerte mit den Lidern und schien allmählich vollends zu sich zu kommen.

Um die fraglos doch bereits mit beklemmender Klarheit arbeitenden Gedanken des Unglücklichen wohltätig zu beeinflussen, beugte ich mich wieder vor und flüsterte:

„Fürchten Sie nichts! Ich werde Sie retten … Ich bin ein Europäer … ein Deutscher …“

„Wasser!!“ stöhnte der Ärmste … „Wasser …!! Ich … verbrenne!“

Wasser – – woher?!

Aber die Reisetasche mit Kognak befand sich in meiner Handtasche.

Der Mann in der Kiste trank. Ich hatte ihn etwas aufgerichtet. Sein Kopf ruhte an meiner Schulter. Er trank wie ein waschechter Jan Maat … Ich mußte ihm die Flasche von den Lippen ziehen, so gierig sog er.

„Das … hat … gut … getan, verdammt!“ sagte er bereits viel kräftiger.

Ich schnitt ihm vorsichtig die Handfesseln durch.

Er lag wieder still da.

„Auch die Füße, Sir …,“ meinte er. „Die Schufte haben mit mir ganze Arbeit getan … Welchen Tag haben wir heute?“

„Dienstag – nein, schon Mittwoch …“

Ich wischte ihm nun den Chlorstaub und das Kampferpulver vom Gesicht – so gut es ging.

„Dank Ihnen, Sir …“ Er machte wieder die Augen auf. „Also Mittwoch … Da ich unmöglich eine ganze Woche in diesem verdammten Kasten gelegen haben kann, sind also erst rund vierundzwanzig Stunden vergangen, seit diese braunen Halunken mich hinterrücks würgten und mir den Drecklappen mit Äther[7] vor die Nase hielten …“

Als er die „braunen Halunken“ erwähnte, dachte ich unwillkürlich daran, ob er vielleicht gar mit zu der Besatzung der versenkten Jacht des Fürsten von Belar gehört haben könne.

Auf gut Glück fragte ich: „Waren Sie mit in der Ostsee, Sir?“

Er zog die buschigen Augenbrauen hoch. „Wer sind Sie?“

„Schraut, Sir, Max Schraut … Freund einer Weltberühmtheit: Harald Harst!“

Da war er sofort im Bilde. „Also, Sir, nun bin ich beruhigt. Ja, ich war dort droben in der europäischen Pfütze, die sich Ostsee nennt, was ’n bißchen anmaßend ist, hol’s der Teufel …“

„Auf der Jacht des Radschas?“

„Natürlich – – und ob! Ohne mich hätte dieses Gesindel wohl kaum bis nach Ostpreußens Küste gefunden … Ich bin ja der Kapitän der „Skandri“, Sir … Jepp Doffert, Sir … Als die „Skandri“ vor Saßnitz in die Luft flog, lag ich noch bes…trunken in meiner Kabine, und daß ich nicht mit in die Tiefe ging, ist ein wahres Wunder.“

Ich opferte den Rest des Inhalts meiner Kognakflasche, half Jepp Doffert auf die Beine und sagte: „Wir müssen aus dieser Leichenkammer heraus, Kapitän … Ich selbst bin ein Flüchtling … Das erkläre ich Ihnen später … Setzen Sie sich hier nieder … So, und nun werde ich mal nach einem zweiten Ausgang suchen!“

Ich fand auch linker Hand hinter den aufgestapelten Kisten den Oberrand einer hölzernen Tür. In dieser stickigen Luft die schweren Kisten wegzuräumen, kostete mich ein paar Pfund Fett. Jepp Doffert hielt derweil die Taschenlampe und meine Pistole. Endlich war die Tür freigelegt. Es war eine Brettertür, wie man sie in Speichern findet, unverschlossen und zum Glück der Zugang zu einem Kellerschacht, in dem eine Treppe ziemlich steil in die Tiefe lief.

Dieser Kellerschacht war nur wenige Meter weit gemauert und ging dann in eine natürliche Felsspalte über, die, der frischen Luft nach zu urteilen, die uns entgegenkam, irgendwo im Freien münden mußte. Gerade dies aber mahnte mich zur größten Vorsicht. Ich setzte Jepp Doffert auf eine der Felsstufen und warnte ihn eindringlich, mir auf keinen Fall etwa leichtsinnig zu folgen. Ich würde wohl in kurzem wieder bei ihm sein. Als Waffe ließ ich ihm mein Dolchmesser zurück, dessen große Klinge freilich bei dem Öffnen der Sargkiste erheblich gelitten hatte. Jepp nickte zufrieden: „Sir, der Kognak war gut … Mein innerer Mensch ist schon wieder leidlich aufgebügelt. Gehen Sie nur getrost auf Kundschaft … Wenn hier irgend so ein elender Hanake von Radscha-Knecht erscheinen sollte, kriegt er …“

Mehr hörte ich nicht. Ich war schon mit meiner Taschenlampe und meiner Clement die Stufen hinabgeeilt, kam in einen flachen Teil dieser engen Grotte, sah in der Ferne Tageslicht schimmern und schaute überrascht nach der Uhr. Es war wirklich bereits halb fünf morgens. Wie schnell mir doch die Stunden in dem Keller verflossen waren! Halb fünf!! – Und Harald, Baron Gracht und unser Fritze?! Sollte der Radscha es wirklich gewagt haben, die drei durch seine Schergen etwa beseitigen zu lassen, wo er doch bestimmt wußte, daß einer von uns entkommen war! Nein – das wäre denn doch ein zu gefährliches Spiel für ihn gewesen!

Ich eilte weiter. Ich nahm an, daß die Gefährten noch in irgendeinem dieser Gebäude steckten, die den weiten Hofraum umgrenzten, der dem Verbündeten des Radschas, dem reichen Mussar, gehörte. Nachts, als ich in das Hoftor geflüchtet war, hatte ich den unbestimmten Eindruck gehabt, als ob ich weit hinten zackige Umrisse einer Ruine und darüber Baumwipfel wahrgenommen hätte. Ich konnte mich getäuscht haben, gewiß. Die Nacht war ja dunkel und regnerisch gewesen –

Nun stand ich am Ausgang dieser schmalen Höhle, deren letztes Stück allmählich wieder angestiegen war.

Stand hinter einer großen, dünnen Granitplatte, die halb vor dieses Felsloch geschoben war und die fraglos dessen Verschluß bildete. Ich sah zu meinem Erstaunen, daß ich mich nachts doch nicht getäuscht hatte. Vor mir lag der mit Bäumen aller Art bewachsene Hofraum eines ehemaligen Tempels. In der Mitte ein gewaltiger Brotfruchtbaum, ein Baumriese von gut drei Meter Stammdurchmesser, mit wagerechten Ästen, von denen dicke Gewebe der stachligen Adrik-Liane herabhingen. Diese grüne eigenartige Wildnis mit ihren zahllosen Blumen und blühenden Sträuchern hauchte jetzt im ersten Morgensonnenschein die bezaubernden Düfte jener glückseligen Inseln der Südsee aus, deren Naturparfüm den Seemann schon von weitem freundlich begrüßt. Es war ein Bild von so romantischem Reiz, diese Oase inmitten modernster Wohn- und Geschäftspaläste, daß ich vielleicht noch längere Zeit in stillem Bewundern regungslos verharrt hätte, wenn nicht ein leises Geräusch hinter mir mich jäh hätte herumfahren lassen.

Vor mir stand Harst.

 

4. Kapitel.

„Morgen, mein Alter …“

Ich starrte ihn an. „Wo kommst du her?!“

„Komische Frage … Aus der Leichenkammer … Du hast vorhin einen schweren Fehler gemacht, den der Kapitän Jepp Doffert zum Glück noch rechtzeitig ausglich. Ihr hattet zwar Jepps Sargkiste wieder zugenagelt, jedoch die Holztür nicht wieder verstellt. Daran dachte Doffert, als du dich kaum von ihm getrennt hattest. Er sagte sich mit Recht, daß diese Leichenhalle von den Leuten Mussars früher oder später besucht werden würde, und daß die Kerle dann sofort an der freigelegten Tür erkennen müßten, wer dort an der Arbeit gewesen: du, der einzige Flüchtling! Doffert war mit dem Aufnageln der Kisten fast fertig, als man uns vier …“

„… Vier?!“

„Ja, – Gracht, Fritze Kester, Jack Chester Blandy und mich wohlverschnürt in denselben Raum schaffte – in der löblichen Absicht, uns gleichfalls lebend einzubalsamieren … Nun, die sechs Inder, die hierzu bestimmt waren, begingen den Fehler, uns nacheinander in diesen scheußlichen Lagerraum zu bringen, zuerst Gracht und mich, dann Kester und Blandy. Inzwischen hatte der brave Jepp aber dem Baron und mir bereits die Fesseln zerschnitten und die Knebel abgenommen, so daß die sechs Kerle aufs wärmste empfangen wurden … Nun liegen sie gut verstaut in den Kisten, die uns hatten aufnehmen sollen, und wir sind sozusagen die Herren der Situation. Blandy hat mir im übrigen bereits mitgeteilt, was ihn hier nach Indien geführt hat: Liebe!!“

„Liebe?!“

„Ja, mein Alter … Selbst ein Juwelendieb von Blandys Kühnheit und Gewandtheit hat ein Herz … Du weißt, daß Blandy einst Jongleur war, daß auch Juanita Desparro zum Varieté gehörte. Er liebte sie. Er liebt sie noch … Sie wies ihn ab, weil sie sich nicht binden konnte – konnte! – Immer wieder stößt man doch auf merkwürdige Menschenschicksale … Die Desparro hat eine Zwillingsschwester … gehabt … Sie ist vor zwei Jahren spurlos verschwunden. Das war um dieselbe Zeit, als diese Mafalda Desparro in Paris auftrat. Sie war Tänzerin …“

„Ah – die berühmte, schöne Spanierin!“

„Gewiß, du besinnst dich jetzt wie ich auf all dies … Uns waren diese Einzelheiten entfallen. Mafalda Desparro verschwand in Paris, als auch der Radscha von Belar dort wieder einmal von sich reden machte. Dieser Verschwender, Wüstling und rabiate Bursche hatte sich um Mafaldas Gunst nach Kräften bemüht – Kräfte: Geld, Juwelen! Sie nahm nichts von ihm an. Er kümmerte sich schließlich nicht mehr um sie, nachdem sie ihn aus ihrer Wohnung durch Polizei hatte hinausbefördern und eine Anzeige wegen Hausfriedensbruches erstattet hatte. Zwei Wochen drauf bestieg sie abends ein Auto – und ward nicht mehr gesehen. Ihre Schwester Juanita, unser Schützling, suchte nach ihr, beauftragte Pariser und Londoner Detektive – wir waren damals in Nepal und unerreichbar – und ließ in ihren Anstrengungen, eine Spur Mafaldas zu finden, nicht nach. Viele Monate verstrichen. Da erhielt sie von Jack Chester Blandy einen Brief hier aus Indien. Blandy – und das muß uns mit seiner verfänglichen Vorliebe für Edelsteine versöhnen! – hatte auf eigene Faust die Sache in die Hand genommen und, gewitzigt durch sein Metier, auch mehr Erfolg gehabt als die übrigen Leute vom Fach. Er hatte einwandfrei festgestellt, daß nur der Radscha der Entführer Mafaldas sein könne, hatte hier in Indien weiter ermittelt, daß der Fürst in seiner Bergresidenz Belar, drüben im Girna-Gebirge, eine Weiße gefangenhalten solle. Da hat sich denn Juanita dazu entschlossen gehabt, sich persönlich in die Höhle des Löwen zu wagen. Sie ist jetzt Sekretärin des Radschas, der nicht ahnt, wen er in seinen Hofstaat aufgenommen hat. Juanita heißt hier Miß Spencer. Man hält sie für die Geliebte des Fürsten, was jedoch nicht zutrifft. – Einzelheiten will ich dir später mitteilen. All das ist ein Roman weiblicher Verschlagenheit. Bisher hat aber auch Juanita nichts ausgerichtet. Ihre Schwester ist nicht aufzufinden. – So, jetzt bist du in großen Zügen im Bilde. Was du hier vor dir siehst, ist die Ruine des Stammschlosses der Fürsten von Belar, die einst an dieser Stelle residierten – im Belar Bakscha-Palast. – Seine Hoheit ist von seinen Schergen arg belogen worden, wie einer der Burschen soeben eingestanden hat. Seine Hoheit ahnt nicht, daß du entkommen bist, und wähnt sich in Sicherheit. Wir, die ihn wegen der Ermordung des Grafen Mauring zur Rechenschaft ziehen wollten, sind, so glaubt er, für eine Kistenreise in Chlor und Kampfer reif – – glaubt er!“

Seine Stimme war noch leiser geworden …

Er deutete auf die Krone des Brotfruchtbaumes …

Aus den Ästen kräuselte sich schwacher Rauch in die Morgenluft und zerflatterte rasch.

Dann stieg eine stärkere Rauchsäule empor …

„Komm!“ flüsterte Harst … „Der Baum muß hohl sein … Kriechen wir …!“

Das Gras war stellenweise sehr hoch.

Auch Mauertrümmer erleichterten uns das Anschleichen, ebenso die bis zum Boden hinabreichenden Lianenvorhänge.

So gelangten wir denn, uns stets mit äußerster Vorsicht vorwärtsbewegend, bis zur entgegengesetzten Seite des ehemaligen Schloßhofes …

Dann ein Blick über das Geröll hinweg …

Ein Blick ungläubigen Staunens …

Dort in dem hohlen Innern der Baumriesen hinter der halb offenen Rindentür saß mit untergeschlagenen Beinen eine blonde Europäerin in einem schmierigen hellen Kleide. Das Gesicht war schmutzig, das Haar zottig und verwildert. Die Ärmste trällerte mit einem erschreckend geistesabwesenden Gesichtsausdruck einen Tango, pfiff mitunter ein paar Takte, wiegte den Oberkörper hin und her und hob die Arme zu seltsamen Gesten: sie … tanzte in Gedanken!!

Kein Zweifel: es war Mafalda Desparro, und sie war geisteskrank!

Harst raunt mir zu: „Mafalda!! Kehrt!!“

Wir kriechen zurück …

Und gelangen gerade noch zur rechten Zeit wieder zum Eingang der engen Höhle …

Das, was ich soeben geschaut hatte, steht noch mit unheimlicher Deutlichkeit vor mir: die Wahnsinnige in dem hohlen Baume, neben ihr das flackernde Feuer, der leise Gesang, die wiegenden Bewegungen …

Aber etwas Anderes verdrängt dieses Bild …

Aus einer durch Büsche verdeckten Fensteröffnung erscheint ein ärmlich gekleideter Inder mit langem, schwarzem Vollbart, wie die Sikhs ihn tragen.

„Falscher Bart,“ flüstert Harald …

„Der Radscha etwa?“

„Ja – Radscha Gandur von Belar …“

Er verschwindet hinter dem Baume …

Wir hören sprechen …

„Er bringt ihr Lebensmittel,“ sagt Harst leise. „Er hat sie auf dem Gewissen … Sie hat den Verstand verloren … Merkwürdig ist es nur, daß er sie nicht zu bewachen braucht, daß sie nicht flieht, daß sie diesen Platz nie verläßt. Irgendetwas muß die Ärmste hier festhalten … Was wohl?!“

Der verkleidete Radscha Gandur von Belar erscheint abermals, verläßt den grünen Hofraum auf demselben Wege …

Ist kaum verschwunden, als hinter uns Jack Chester Blandy als Bote der Gefährten aus dem Leichenraum sich meldet. Seine Bettlerverkleidung ist nur noch in Fragmenten vorhanden. Eigentlich kann man sagen: er ist so ziemlich nackt! Die Schergen des Radscha sind nicht eben sanft mit ihm umgegangen. Auch seine beiden Äffchen fehlen natürlich und alles in allem ist er in diesem adamitischen Zustande mit dem halb abgerissenen falschen Bart und der durch Schweiß stark verlaufenen Gesichtsfärbung keine Erscheinung, die einem Weibe von Juanitas betörenden Reizen imponieren könnte.

Er steht bescheiden vor uns, hält Harald einen Brief hin, der recht zerknittert ist. Der Umschlag trägt in steiler Schrift Haralds Namen.

„Sie sollen dem Boten sofort Antwort geben, Herr Harst … Juanita Desparro hat ihre Dienerin geschickt …“

Harst öffnet den Umschlag, liest vor:

„Herr Harst, in aller Eile … Ich weiß, was vorgefallen ist. Gratuliere. Geben Sie mir Verhaltungsmaßregeln. Der R. glaubt Sie sämtlich in seiner Gewalt. Blandy, der treue Mensch, wird Ihnen mitgeteilt haben, daß ich hier meine Zwillingsschwester suche. Ist es im Interesse der Wiederauffindung Mafaldas ratsam, den R. sofort den Behörden zu übergeben? – Meine Botin, zugleich meine Spionin, ist zuverlässig. – Ihre dankbare J.“

Harst nimmt seinen Füllfederhalter und schreibt einige Zeilen auf die Rückseite des Briefbogens. Die erste Seite reißt er ab und verbrennt sie nachher. Was er geschrieben hat, erfahren wir erst später.

Wir begleiten Blandy durch den Felstunnel und über die Steintreppe in den stinkenden, langen Lagerraum, wo Baron Gracht, Freund Fritze und Jepp Doffert auf einer Kiste sitzen und Zigarren rauchen. Neben ihnen steht eine junge Inderin von anmutiger Gestalt. Harald gibt ihr den Zettel, und sie eilt davon.

„Wo ist der Bursche, der vorhin schon teilweise ein Geständnis abgelegt hat?“ fragt er den Kapitän, der noch immer, da ungewaschen, so ziemlich einem Müller gleicht und wie ein Kampferfaß duftet.

Jepp Doffert deutet nach rechts auf die dritte der sechs neuen Kisten. Die Deckel sind nur ganz lose aufgenagelt.

Der Kerl wird herausgeholt. Der Knebel wird ihm abgenommen.

„Benutzt Dranath ben Mussar diesen Hof und die Gebäude noch?“ fragt Harst.

„Nein, Sahib!“

„Es ist euch wohl streng verboten gewesen, hinten die Ruinen zu betreten?“

„Ja, Sahib …“

„Aber ihr habt in der Nacht auch dort nach meinem Freunde gesucht?“

„Ja, Sahib …“

„War Miß Juanita dabei?“

„Nein.“

„Was fandet ihr in dem grünen Hofraum der Ruine?“

„Nichts, Sahib …“

„Ihr wart auch in der Krone des Brotfruchtbaumes?“

„Natürlich, Sahib … Sie bot ein gutes Versteck …“

„Bindet ihn wieder,“ wendet Harald sich an Blandy und Jepp.

Der Inder muß wieder in die Kiste. Es hilft ihm nichts.

Harst winkt uns dann beiseite, teilt den anderen mit, daß Mafalda Desparro gefunden ist und beruhigt den vor Freude sehr aufgeregten Blandy …

„Es wird für Juanita ein trauriges Wiedersehen werden, Blandy, denn Mafalda ist leider schwer krank – geisteskrank … Dieser Unmensch von Gandur hat ihr fraglos Gewalt angetan, und darüber hat die Ärmste den Verstand verloren … Wir werden mit ihm abrechnen, heute abend … Er wird in den grünen Schloßhof kommen wie vorhin. Juanita wird ihn herschicken.“

Jepp Doffert brummt ungläubig:

„Der Lump ist schlau … Er wird Unrat wittern …“

„Durchaus nicht. Ich bin noch schlauer. Was Juanita ihm beibringen wird, führt ihn bestimmt hierher. – Für uns handelt es sich jetzt lediglich um die Frage, wie wir bei dem Großkaufmann Mussar – denn die sechs sind ja seine Kreaturen und er ein Verbündeter des Radschas – jeden Argwohn, die Dinge könnten hier nicht nach Wunsch gegangen sein, beseitigen müssen, denn die Leute müßten sich doch nach getaner Arbeit wieder bei ihm melden. Melden sie sich nicht, so fällt das auf. Ich möchte die Kerle gegen das Versprechen, daß ihnen nichts geschehen wird, wenn sie uns gehorchen, laufen lassen. Wie denken Sie darüber, Kapitän? Kennen Sie die Burschen?“

„Und ob, Herr Harst!! Es sind Matrosen der Jacht „Skandri“, die nun in der Ostsee liegt, freilich etwas tief unter der Oberfläche … Diese Gesellen sind für Geld zu allem fähig. Bestechen wir sie, drohen wir ihnen nebenbei, daß wir sie dauernd beobachten werden …“

So geschah’s denn auch.

Die sechs schworen bei allen Hindu-Göttern, daß sie nichts verraten würden. Sie hatten in Gedanken bereits die Hanfschlinge um den Hals gespürt, die sie ja auch verdienten. In Indien wird schon jede Mordabsicht auf einen Europäer mit dem Tode bestraft.

Uns aber stand nun ein endlos langweiliger Tag bevor. Was konnten wir besseres tun, als in der frischen Luft des Felsentunnels Vorrat schlafen, nachdem wir ein karges Mahl aus den geringen Vorräten unserer Handtaschen eingenommen hatten?! Wir wachten abwechselnd. Abends sieben Uhr erschien Juanitas Botin und bestellte lediglich, es sei alles in Ordnung.

 

5. Kapitel.

Am Grabe des Kindes.

Jack Chester Blandy, der mit den Verhältnissen am Hofe des Radschas sehr genau vertraut war, da er bereits dreimal in verschiedenen Verkleidungen die kleine Residenz besucht hatte, – Blandy war’s, der die Aufklärung der Frage, wer die Geliebte des Grafen Mauring gewesen, wesentlich förderte.

Von der Person dieser vornehmen Inderin, die man droben im fernen Ostpreußen in einem deutschen Walde eingeäschert hatte (was vielleicht in seiner Art einzig dastehen dürfte), kam die Rede auf die Jacht „Skandri“ und deren Kreuzfahrt in der Ostsee. Hier war wieder Jepp Doffert derjenige, der uns wertvolle Aufschlüsse lieferte. Freilich: an jenem Tage, als die Motorpinasse der Jacht die Inder und die Asche der Geliebten Maurings an Bord geholt hatte, war Jepp, wie er sich ausdrückte, stark chloroformiert gewesen. Sekt, Kognak und Rum hatte Seine Hoheit gerade damals so verschwenderisch gespendet, daß der trinkfeste Kapitän – eine Seltenheit! – total erledigt war. Natürlich Absicht. Jepp sollte eben als einziger Europäer an Bord nicht Zuschauer spielen, wenn der Mörder des Grafen und die Inderin, die sich brieflich an uns gewandt hatte, die Samlandküste verließen. Er war ja auch über den Zweck der ganzen Reise bis zuletzt im Unklaren geblieben und hatte die neuen Gäste während der Rückfahrt mit dem gekauften Frachtdampfer nie zu Gesicht bekommen. Trotzdem hatte man ihm nicht getraut und ihn kaltblütig in der Sargkiste ersticken wollen.

„Wenn ich diesen Gandur heute abend zwischen die Finger bekomme,“ meinte Jepp zum Schluß mit einiger Berechtigung, „so drehe ich ihm das Genick um. Der Halunke wird …“

„Dazu dürften Sie kaum Gelegenheit haben, lieber Käpten,“ unterbrach Harst ihn sehr ernst. „Wir werden uns keiner Gesetzwidrigkeit schuldig machen, sondern den Radscha den Behörden übergeben, damit …“

Blandy lachte hart auf …

„Ja – damit der Kerl wieder auskneift, Herr Harst! Ich bin für Lynchjustiz!! Wenn ich nur daran denke, daß dieses Scheusal die arme Mafalda, die dort kaum hundert Meter weiter stumpfsinnig wie eine Einsiedlerin in ihrem hohlen Baume hockt, ebenfalls auf dem Gewissen hat, dann … dann …“

„… werden Sie tun, was ich wünsche, Blandy!!“ Und Harald schaute ihn so durchdringend an, daß er verlegen den Kopf senkte. –

Und dann kam Juanitas Botin …

Dann kam die Dunkelheit …

Von Mussars Leuten hatte sich kein einziger bisher hier blicken lassen. Das Drama näherte sich seinem Ende.

Gegen halb zehn, als am klaren Himmel die ersten Sterne aufblinkten, als von der See her ein etwas kühlerer Luftzug über die in Gluthitze getauchte Hafenstadt hinstrich, verteilte Harst die Rollen, stellte die Posten aus, gab jedem seine Instruktion.

Fritze Kester sollte sich am Hoftor verbergen, und, sobald der Radscha es passiert hatte, auf Juanita warten.

Die beiden Kampfhähne Jepp und Blandy wurden dadurch unschädlich gemacht, daß sie den Leichenraum zu bewachen hatten, – eine an sich ganz überflüssige Maßnahme, die von Harald freilich durch allerlei Scheingründe als notwendig hingestellt wurde. Baron Gracht wurde in dem Felsengang dicht am Ausgang sein Platz angewiesen. Da wir den sechs Indern die Waffen abgenommen hatten, brauchten wir mit keiner ungünstigen Wendung zu rechnen. Nötigenfalls mußten eben bleierne Beweise den Ausschlag geben.

Harst und ich schlichen kurz vor zehn in die grüne Wildnis des Belar Bakscha-Palastes hinaus.

Wir krochen wie am Morgen auf allen Vieren bis hinter einen der Lianenvorhänge des Baumriesen, streckten uns hier lang hin und konnten in aller Ruhe das weitere abwarten.

Fünf Meter vor uns saß wieder in ihrer Baumwohnung die unglückliche Irrsinnige, grell beleuchtet von den knisternden Flammen, über denen jetzt ein Kochtopf dampfte.

Und wie vorhin wiegte Mafalda Desparro, die noch vor zwei Jahren so gefeierte moderne Tänzerin, den Oberkörper hin und her und trällerte ein Lied …

Diesmal einen Walzer …

Jeder kennt ihn …

Es war der berühmte französische Walzer Quand l’amour meurt … – Wenn die Liebe stirbt! …

Ganz unvermittelt dann eine andere Melodie …

Ich horchte auf …

Täuschte ich mich …?!

War das nicht das uralte deutsche Wiegenlied …:

Schlaf, Kindlein, schlaf …

Es war’s …!

Harald neben mir – den Mund dicht an meinem Ohr:

„Ahnst du nun, weshalb Mafalda hier an diesen Ort gefesselt ist? Bisher wußte auch ich es nicht … Da – – wieder das Wiegenlied … Und jetzt … sie erhebt sich … Der Feuerschein trifft den kleinen Hügel dort vor dem Baume … Ein Grab … Sie kniet nieder … Singt …, Schlaf, Kindlein, schlaf … – weißt du jetzt Bescheid?!“

„Ihr Kind!!“

„Ja – – ihr Kind starb … Und hier an ihres Kindes Grab harrt sie aus … Mutterliebe ..!“

Dann ein warnender Druck seiner Hand …

Mafalda kehrte in ihre Baumhöhle zurück …

Ich aber bemerkte nun gleichfalls drüben unter einem anderen Baumvorhang den Kopf eines Inders …

Wie ein Raubtier schob Seine Hoheit der Radscha sich weiter vor …

Über dem Unterteil seines Gesichts lief ein glänzender Strich hin: er hatte ein langes Dolchmesser im Munde!

Harst entsicherte die Pistole …

Harst kroch vorwärts ….

Nun hatte Gandur den Schatten des grünen Vorhangs verlassen …

Richtete sich auf, nahm den Dolch in die Rechte …

Harst und ich waren hinter den Fruchtbaum gehuscht, hinter die halb offene Rindentür …

Wir hatten Gandur sicher …

Wir glaubten es wenigstens.

Aber Fritze Kesters Nachgiebigkeit gegenüber Juanita änderte die Szene. Fritze hatte Juanita nichts davon verraten sollen, daß ihre Schwester hier im Ruinenhofe hauste.

Gandur erreichte den Lichtschein des Feuers. Duckte sich.

Der Asiate bleibt immer zur Hälfte Bestie, Naturmensch, – immer!

Duckte sich zum Sprunge – – zum Morde …

Da – – ein schriller Ruf hinter ihm …

Auch wir fahren zusammen …

Juanita …

Mit ein paar Sprüngen steht sie vor dem Fürsten … Die Repetierpistole in ihrer erhobenen Hand hält den Zurückweichenden in Schach.

„Mafalda!!“ schreit Juanita auf …

Ein Blick hat ihr die entsetzliche Wahrheit verraten …

Aber der Radscha, nunmehr endlich über die Person seiner Sekretärin im klaren, will die Situation durch Gewalt für sich günstiger gestalten …

Schnellt sich vor …

Ein Schuß …

Ein blechernes Peng …

Und Radscha Gandur von Belar schlägt hintenüber, fällt über das kleine blumengeschmückte Grab … Kopfschuß … tot.

„Bravo!!“ – und Jack Chester Brandy erscheint, stützt die wankende Juanita, die jetzt plötzlich vor Erregung, Schmerz und loderndem Zorn zusammenzubrechen droht. –

So, wie ich hier diese Vorgänge geschildert habe, haben sie sich in Wahrheit abgespielt. Was in den Zeitungen darüber zu lesen war, entsprach nicht den Tatsachen. Die indische Regierung hatte ein bestimmtes Interesse daran, die Wahrheit zunächst zu verschleiern.

Nur in den anderen Punkten stimmten die Zeitungsmeldungen: daß Graf Mauring seinerzeit die Schwester des Radschas als seine Geliebte mit nach Ostpreußen genommen hatte, daß der Bruder der indischen Prinzessin und des Radschas der Gefangene Maurings gewesen und daß jene braune Fremde, die sich an uns um Beistand gewandt hatte, die jugendliche Gattin dieses Bruders war.

All das stimmte …

Auch, daß man dieses Ehepaar nie erwischt hat, daß man ebensowenig Blandy, den Juwelendieb, abfassen konnte. –

Wir beide wissen, wo am Strande einer Südseeinsel unter Palmen ein freundliches Häuschen grüßt, in dem ein Ehepaar in Liebe und Treue für eine arme Irrsinnige sorgt … Wir wissen, daß unfern dieses Hauses ein kleines Grab sich befindet, das von Mafalda täglich mit Blumen geschmückt wird. –

Unlängst waren wir in Berlin Trauzeugen. Als Hella Mauring den Bankbeamten Theo Marschall heiratete. Nachher bei der Hochzeitstafel – es war nur ein kleiner Kreis – ließ Harald die Photographien von Hand zu Hand gehen, die uns von jener Südseeinsel zugegangen waren …

Auf dem einen Bilde kniet Mafalda neben dem Grabhügel …

Vielleicht wird die unglückliche Mutter dort unter den rauschenden Palmen doch noch einmal genesen … –

Hiermit verabschiede ich mich für heute von meinen Freunden und Lesern. Nach der tropischen Hitze Bombays tut Abkühlung gut, und „Die Armbanduhr der Miß Golling“ brachte uns diese Abkühlung in reichstem Maße auf einem Eisberg!

 

Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 36, Elisabethufer 44

 

 

Verlagswerbung:

Ein Stündchen

der Ablenkung, Entspannung und Erholung nach des Tages ewig gleicher Fronarbeit sollen die Harstbändchen bringen ‒ nicht mehr. Der aufmerksame Leser wird trotz der Anspruchlosigkeit dieser Erzählungen dennoch auch Belehrung und Anregung darin finden. Die lebenswahre Schilderung von Land und Leuten, die scharfumrissene Gestaltung der Charaktere und die gesunde Spannung der eigenartigen Stoffe sind uns aus den verschiedensten Kreisen der Leser immer wieder bestätigt worden. Seit acht Jahren haben Harsts Abenteuer-Erzählungen nur Freude und Unterhaltung gebracht. Schon dies sowie die vielen günstigen Beurteilungen selbst aus literarischen anspruchsvollen Kreisen beweisen, daß jeder Harstfreund mit Recht die Bändchen seinen Bekannten empfehlen kann. ‒ Jede Buch- und Schreibwaren-Handlung hält die Harst-Erzählungen zum Preise von 0,20 Rm. am Lager. Wo sie nicht zu haben sein sollten, bestelle man sie beim

Verlag moderner Lektüre

G. m. b. H.

Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „er“.
  2. In der Vorlage steht: „seinem“.
  3. In der Vorlage steht: „Verließes“.
  4. In der Vorlage steht: „Kattegatt“.
  5. In der Vorlage steht: „Wie“.
  6. Überflüssiges Wort „um“ entfernt.
  7. In der Vorlage steht: „Ähter“.