Erlebnisse einsamer Menschen
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)
W. Belka.
Über Herbertshöhe, dem Hauptort und Gouverneurssitz des deutschen Schutzgebietes Neuguinea, der auf der zum Bismarck-Archipel gehörigen Insel Neupommern liegt, senkte sich die laue, helle Tropennacht herab. Ein leichter Seewind ließ die Blätter der hochstämmigen Palmen leise rauschen, säuselte in den nahen Tabakpflanzungen und trug aus dem Eingeborenendorf das Gekreisch und frohe Lachen der Papuas herüber, die sich jetzt nach des Tages Arbeit auf ihre Weise durch Tänze und Spiele die Zeit vertrieben.
Abseits von den sauberen, hellgestrichenen Wohnhäusern und Vorratsspeichern, mehr nach dem Innern zu, liegen die Baulichkeiten der Hamburger Firma Lüders. Ein hoher, mit Ölfarbe gestrichener Wellblechzaun umgibt die fünf Gebäude und die Lagerplätze, von denen eine Feldbahn zum Hafen hinabführt.
Diesen umfriedeten Ort, der den neugierigen Papuas nicht zugänglich war, hatten sich die beiden Gelehrten, die im Auftrage der deutschen und der holländischen Regierung eine Ballonfahrt über Neupommern und das größtenteils noch unerforschte Neuguinea hinweg unternehmen wollten, zur Füllung und Ausrüstung ihres mit dem letzten Dampfer von Europa aus eingetroffenen Ballons ausgesucht.
Soeben hatte man die gelbseidene Ballonhülle mit dem in stählernen Flaschen (diese Wasserstoffstahlflaschen werden auch von unseren Militärluftschiffern benutzt.) gleichfalls aus Deutschland bezogenen Wasserstoffgas zu Dreiviertel gefüllt, und der Ballon schwebte nun, bereits zu einer ziemlich prallen Kugel aufgeblasen, mit der Gondel etwa einen Meter über dem Boden, schwankte pendelnd hin und her und wäre nur zu gern in die Lüfte gestiegen, wenn ihn nicht eine starke Stahltrosse, die vom Ballonring nach einem tief in die Erde eingegrabenen, dicken Pfahl lief, festgehalten hätte. Diese Stahltrosse war an dem Pfahl durch einen starken geschlossenen Eisenhaken befestigt, der durch Herausziehen eines Stahlstabes leicht geöffnet werden konnte, eine Einrichtung, die ein schnelles Ausnutzen eines geeigneten Augenblicks zum Aufstieg erleichtern und unliebsame Zwischenfälle bei der Abfahrt verhindern sollte.
Die Wettervoraussage für die nächsten Tage lautete so günstig, daß die beiden Gelehrten übereingekommen waren, morgen in aller Frühe die Füllung ihres vor drei Tagen feierlich „Bismarck“ getauften Ballons zu beenden und dann sofort die Reise anzutreten, die sie bei dem jetzt sehr beständigen Ostwind über Neuguinea hinwegführen mußte, so daß sie reichliche Gelegenheit zu den geplanten photographischen Aufnahmen der unerforschten Gebiete finden würden.
Der Ballon blieb unter der Bewachung eines zuverlässigen Eingeborenen zurück, während die beiden Herren sich in das Haus des Gouverneurs begaben, wo sie als Gäste weilten und wo die kleine deutsche Kolonie sich heute zu einer Abschiedsfeier ihnen zu Ehren versammelt hatte. – –
* * *
Zwei Stunden später bemerkte Samuel, der das Wächteramt ausübende Papua, die Gestalten von drei Knaben, die sich dem Ballon vorsichtig näherten. Es waren dies die beiden Söhne des Kaufmannes Markart, der hier die Firma Lüders vertrat und Ernst Heirot, das einzige Kind des kaiserlichen Gouvernementsarztes.
Samuel wunderte sich, daß die Knaben zu so später Stunde noch umherstreiften. Da er sie jedoch gut kannte, verwehrte er es ihnen nicht, sich den Ballon aus nächster Nähe anzusehen. Fritz Markart, der älteste von ihnen, war ein langaufgeschossener, kräftiger Junge, der im Herbst nach Hamburg zurückkehren sollte, um dort das Gymnasium zu besuchen, nachdem er bis jetzt gemeinsam mit seinem dreizehnjährigen Bruder Karl und Ernst Heirot von einem Missionar den nötigen Unterricht erhalten hatte. Er erzählte jetzt dem Papua, der das Deutsche ganz gut beherrschte, mit einem gewissen Stolz, daß sie sich heimlich von Hause entfernt hätten, da ihre Eltern bei dem Gouverneur heute abend eingeladen wären.
„Wir wollen auch mal versuchen, Samuel“, fuhr er dann fort, indem er dem schwarzen Krauskopf als besonders verführerisches Bestechungsmittel einige Zigarren hinreichte, die sie am Nachmittag besonders zu diesem Zweck eingekauft hatten, „wie es sich in dem Ballonkorb steht. Da hineinzuklettern hätte man uns nie erlaubt. Du aber wirst es uns gestatten, nicht wahr? Es ist ja nichts dabei! Was soll uns oder dem Ballon geschehen?!“
Doch Samuel wollte hiervon zunächst durchaus nichts wissen. Die gelbe Riesenkugel flößte ihm ohnehin eine gewisse Angst ein, und er fürchtete allen Ernstes, sie könnte sich aus Heimtücke, nur um ihm Unannehmlichkeiten zu bereiten, mit den weißen jungen Herren zum Sternhimmel emporschwingen.
Erst nach langen Erklärungen Fritz Markarts, die dem unwissenden Papua die Ungefährlichkeit ihres Verlangens beweisen sollten, entfernte er sich, indem er allerlei Grimassen schneidend und die Hände halb verzweifelt erhebend des öfteren wiederholte:
„Samuel nichts sehen – gar nichts sehen – von nichts wissen …!“
Sofort ergriff Fritz Markart den Rand der Gondel, den er nur im Sprunge zu erreichen vermochte, schwang sich nach einem guten Klimmzug hinein und half dann seinem Freunde Ernst Heirot in den hin und her schwankenden Korb, in dem sich nur ein Dutzend Ballastsäcke befanden, die erst nachher mit ihren Schleifen außen an der Gondel befestigt werden sollten, wie dies stets der Raumersparnis wegen geschieht.
Der jüngere Markart wollte nun ebenfalls in den Korb gehoben werden. Er wurde von den beiden anderen stets mit einer ihn tief demütigenden und gleichzeitig zu höchster Wut reizenden Geringschätzung behandelt, da er recht schwächlich war, dauernd kränkelte und sein kleiner, siecher Körper einen neidischen, schadenfrohen Geist barg. Auch jetzt schenkte man seinen Bitten, ihm beim Erklettern des Korbes behilflich zu sein, kein Gehör. Sein Bruder erklärte vielmehr mit einer echt jungenhaften Wichtigtuerei, die Gondel sei nur für zwei „Männer“ berechnet.
Karl Markart erbleichte vor Zorn und Enttäuschung. Seine Bitten verwandelten sich in Drohungen, daß er den Eltern diesen nächtlichen Streich verraten werde, und wütend trat er mit dem leichten Lederstiefel immer wieder gegen die Stahltrosse, die den Ballon am Boden festhielt. Hierdurch wurde er erst auf den Pfahl aufmerksam, der die Verankerung der Riesenkugel bildete. Mit einer gewissen Neugierde, in die sich der Wunsch mischte, sich für diese abermalige Zurücksetzung zu rächen, betrachtete er in dem hellen Dämmerlicht der Tropennacht den großen eisernen Haken, der durch ein breites Eisenband mit dem Holze verbunden war.
Der dünne Stahlstab, der den Verschluß des Hakens darstellte, endigte oben in einer Öse und war durch ein dünnes Kettchen mit diesem verbunden. Ohne eine bestimmte Absicht steckte der Knabe jetzt den Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand in die Öse. Der Wissensdrang, der uns in der Jugend dazu treibt alles genau zu untersuchen, unser Spielzeug auseinanderzunehmen und auch einmal „von innen“ zu betrachten, sollte hier die schlimmsten Folgen haben.
Karl probierte, ob der Stahlstab vielleicht beweglich sei, zog daran, zog schärfer, und … hielt ihn jetzt lose in der Hand. Der Haken klappte auf, der Ring der Stahltrosse glitt heraus …
Gleichzeitig durchdrang ein vierfacher Schreckensruf die stille Nacht. Mit einem Ruck hatte der befreite Ballon sich in die Lüfte erhoben, schoß, nur beschwert von den beiden leichten Knabenkörpern, wie ein losgeschnellter Pfeil aufwärts. Erstarrt vor ungläubigem Staunen sahen Fritz Markart und sein Freund Ernst unter sich die Erde schwinden. Dann entrang sich ein Schrei des Entsetzens ihren Kehlen, der noch durch das Angstgebrüll des herbeistürzenden Samuel und den gellenden Ruf des Urhebers dieses Unheils verstärkt wurde. – –
* * *
Die gelbe Kugel stieg höher und höher. Bald geriet sie in den höheren Luftschichten in eine Windströmung, die sie nach Nordosten zu davon führte.
Minuten vergingen, bevor einer der beiden unfreiwilligen Ballonfahrer ein Wort über die Lippen bekam. Ernst Heirot war auf die Sandsäcke am Boden der Gondel hingesunken und weinte leise. Anders Fritz Markart, der nach dem ersten lähmenden Schreck jetzt bereits so etwas wie Freude an dieser abenteuerlichen Reise durch das Luftmeer empfand. Für seine vierzehn Jahre körperlich und geistig gleich gut entwickelt, besaß er bereits die Fähigkeit, die verschiedenen Aussichten auf eine glückliche Rettung gegen einander abzuwägen. Hierdurch gelangte er zu der Überzeugung, daß ihre Lage durchaus nicht ganz hoffnungslos sei, daß sich ihnen vielmehr genügend Möglichkeiten darboten, auf eins der zahlreichen Eilande niederzugehen, die gerade auf diesem Teile der Weltkugel sich rings um den Bismarckarchipel zu unzähligen Inselgruppen vereinigen. Allzuweit würde der Ballon, der, wie er wußte, noch nicht einmal ganz gefüllt war, nicht fliegen, und die Sandsäcke würden es ihnen erleichtern, einen Sturz in die offene See durch Ballastabwerfen zu verhindern.
Freilich, die lautlose Stille ringsum und die Tatsache, daß das Land unter ihnen immer undeutlicher wurde und bald ganz verschwand, wirkte auch wieder tief niederdrückend auf den Knaben. Doch er wollte nicht kleinmütig werden …! Was sollte wohl aus ihnen beiden werden, wenn sie nicht ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen! Untätig das Weitere abwarten, war so gut wie sicheres Verderben!
So beugte er sich denn zu dem völlig gebrochen dasitzenden Freunde nieder und redete lange auf ihn ein. Die tröstenden und ermunternden Worte flossen ihm wie von selbst zu. Endlich hob dann Ernst Heirot den Kopf. Am besten wirkte es aber, als Fritz, um des Freundes Ehrgefühl zu wecken, nun seinen Ton änderte und spöttisch erklärte:
„Ich hätte Dich nicht für so feige gehalten …! Karl hat allerdings schon immer behauptet, Du tust nur so, als ob Du Mut besäßest!“
Da sprang Ernst mit einem Ruck hoch, schob sich den breitrandigen Strohhut zurecht und erwiderte gekränkt:
„Das war eben sehr häßlich von Dir gesagt …! Wenn ich geweint habe, so geschah es nicht aus Angst um mich selbst, sondern weil ich an meine Eltern dachte, die nur mich allein haben und jetzt vielleicht schon wissen, was geschehen ist …“
Fritz Markart drehte sich plötzlich um, damit sein Leidensgefährte sein Gesicht nicht sehen solle … – Die Eltern …!! Er konnte sich so gut ausmalen, wie sie die Schreckenskunde hinnehmen würden. Der Vater würde erst auf die „infamen Bengel“ heftig schelten und dann die Mutter trösten, die zarte Mutter, der das tropische Klima so schlecht bekam und die doch tapfer bei dem Gatten ausharrte … – –
Eine Stunde später tauchten unter den Ballonfahrern dichte Wolken auf. Es war, als ob sie über einem seltsamen Gebirge dahinschwebten mit tiefen Tälern, hohen Bergen und schneebedeckten Gipfeln. Über ihnen aber erstrahlte in glänzender Pracht der südliche Sternhimmel, leuchtete der Mond und übergoß auch die Gondel und das Netzwerk mit seinem weißbläulichen Silberlicht.
Inzwischen war die Luftbewegung stärker geworden. Einzelne kräftige Windstöße machten sich bemerkbar, die den „Bismarck“ jedesmal wie ein angesporntes Rennpferd eine Strecke weit pfeilschnell dahinjagten. In der dünnen, kälteren Höhenluft, die auch durch das Auftreten von Ohrensausen den Freunden fühlbar wurde, ganz abgesehen von der recht unangenehmen Kälte, die sie in ihren leichten Leinenanzügen nur zu deutlich empfanden, war die Auftriebskraft des Gases schnell geringer geworden, so daß der ohnehin nicht ganz gefüllte Ballon sich nun stets in etwa zweitausend Meter Höhe hielt. Sehr bald trat dann bei den Knaben noch eine andere Erscheinung zutage, an die sich auch Hochgebirgstouristen erst langsam gewöhnen müssen: ein starkes Müdigkeitsgefühl, dem die beiden Gefährten um so weniger Widerstand entgegensetzen konnten, als sie ja daran gewöhnt waren, stets frühzeitig schlafen zu gehen.
Sie hatten sich, nachdem sie die Wolkengebilde unter sich genügend bewundert hatten, auf die Sandsäcke gesetzt, was ihnen auch den Vorteil bot, daß die Seitenwände der Gondel sie vor dem kühlen Luftzuge schützten. Ernst Heirot schlief zuerst ein. Sein Kopf war ihm tiefer und tiefer auf die Brust gesunken. Dann streckte er, schon halb im Schlaf, die Beine weit aus und war ins Traumland hinübergeschlummert. Auch Fritz Markart kämpfte vergeblich gegen diese bleierne Müdigkeit an … – –
* * *
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als die Freunde erwachten. Der „Bismarck“ schwebte noch immer, getrieben von einem fast zum Sturm angewachsenen Winde, nach Nordosten über einer für den Blick undurchdringlichen Wolkenschicht dahin. Und sein Riesenschatten begleitete ihn getreulich in Form einer dunklen Birne, deren Stiel nach unten hing und die schnell über die Wolkenmassen weiterwanderte.
Hunger und Durst begannen die beiden Ballonfahrer immer grausamer zu peinigen. Müde und fröstelnd hockten sie auf den Sandsäcken. So verrannen die Stunden. Nur hin und wieder tauschten sie eine leise Bemerkung aus, nur zuweilen erhob Fritz Markart sich und schaute hinab auf die Wolkengebirge, die sich unter ihnen in unabsehbarer Weite auftürmten.
Die wärmenden Strahlen der Sonne dehnten das Gas jetzt wieder aus, und unmerklich strebte der Ballon größeren Höhen zu. Das beängstigende Ohrensausen stellte sich wieder ein, und mit weinerlicher Stimme klagte Ernst Heirot bald über Schwindelgefühl und Stiche in den Schläfen.
Sein um ein Jahr älterer Freund hatte schon seit einer ganzen Weile aufmerksam das Netzwerk des „Bismarck“ gemustert. Fritz wußte, da in den letzten Tagen wohl in jeder der in Herbertshöhe ansässigen Familien über die Einrichtung eines für Freifahrten bestimmten Ballons ganz eingehend gesprochen worden war, daß auch der „Bismarck“ eine Ventilleine und eine Reißleine besitzen müsse, erstere, um das oben in der Hülle angebrachte Ventil zwecks Ausströmenlassens von Gas zu öffnen, letztere, um die Hülle plötzlich ein großes Stück aufreißen zu können, wenn man schnell landen wollte. Er sah jetzt auch zwei Leinen, die durch den Ballonring von oben herabliefen und mit Holzknebeln an den Haltestricken des Korbes befestigt waren. Welches jedoch die Ventil- und welches die Reißleine war, vermochte er nicht zu sagen. Dazu reichten seine Kenntnisse nicht. Daher wagte er es auch nicht, an einer dieser Leinen zu ziehen, so gern er auch den Ballon der Erde nähergebracht haben würde, was durch Öffnen des Ventils leicht ausführbar gewesen wäre.
Alles mußte bleiben wie es war. Auf Gnade und Ungnade waren sie der gelben Seidenkugel ausgeliefert, die sie weiter und weiter von der Heimat entfernte.
Die Sonne verschwand in dem Wolkenmeer. Es wurde sofort merklich kühler, und der „Bismarck“, der ohnehin schon an Auftriebskraft eingebüßt hatte, näherte sich mehr und mehr den Wolken, tauchte in sie ein, so daß ihn feuchte, dichte Nebel schwer und düster einhüllten, und durchschnitt sie, bis er die grauen Massen nun über sich hatte und das weite, endlose Meer sichtbar wurde mit seinen langen Wogen und weißen Schaumkämmen.
Ernst Heirot schlief schon wieder den tiefen Schlaf der Erschöpfung. Aber desto munterer war sein Freund, der sich weit über den Rand der Gondel gebeugt hatte und suchend die Wasserwüste überblickte, über der sie jetzt kaum noch zweihundert Meter hoch mit dem kräftigen Winde dahinjagten.
Fritz Markart suchte Land, suchte eine Insel, auf der sie landen könnten. Soeben hatte er ja durch genaues Betrachten der beiden Leinen, von denen die eine in den Füllansatz (an der Ballonhülle befindet sich oben das Ventil, unten ein schlauchartiger Ansatz, der „Füllansatz“ oder „Hals“) hineinlief, während die andere außen um die Hülle herumführte, mit der sie etwa in der Mitte fest vernäht zu sein schien, herausgefunden, welches die Ventilleine sein mußte, – eben die, die durch den Hals des „Bismarck“ nach oben hindurchging. Mithin hätte er es jetzt wagen dürfen, an ein Entleeren des Ballons in einem günstigen Augenblick zu denken. Und dieser Augenblick war nahe …
Aus der schon von den Schatten der Abenddämmerung halb verschleierten See wuchs da vor ihnen gerade in der Richtung ihrer Fahrt ein kleines, einsames Eiland heraus. Sonst war selbst von dieser Höhe aus keine andere Insel zu erblicken.
Fritz Markart zögerte noch. Ob er doch nicht lieber noch wartete, bis sie sich einer Inselgruppe näherten, wo es ihnen leichter gemacht war ihr Leben zu fristen und wo sich ihnen schneller eine Gelegenheit bot, mit Hilfe eines vorüberkommenden Schiffes zu den Ihrigen zurückzukehren …? – Diese Zweifel waren gewiß berechtigt. Aber ein Blick in seines schlafenden Gefährten bleiches Gesicht und der eigene, vor Hunger bereits schmerzende Magen und die ausgedörrte Kehle machten ihm die zu treffende Entscheidung leicht.
Ohne weiteres Zaudern faßte er die Ventilleine und zog daran so lange, bis er merkte, daß der Ballon zu sinken begann. Aufmerksam maß er nun mit den Augen die Entfernung bis zur Oberfläche des Meeres und bis zu dem Eiland ab. Eine bange Furcht quälte ihn: daß der Ballon an der Insel vorübergetrieben werden könnte und daß sie dann notwendig sich der See anvertrauen und eine kürzere oder längere Strecke nach dem Eiland hinüber schwimmen müßten, eine Anstrengung, der sie bei den ziemlich hochgehenden Wogen kaum noch gewachsen waren.
Doch ein gütiges Geschick lenkte den „Bismarck“, der jetzt nur noch fünfzig Meter über dem Meere schwebte, genau auf die Mitte der mit Baumgruppen bestandenen Insel zu.
Nochmals zog Fritz Markart das Ventil, und noch tiefer ging der gelbe Riesenball, der jetzt bereits eine ausgesprochene Birnenform infolge des Gasverlustes angenommen hatte, herab, flog über den äußeren Riffgürtel hinweg, wo eine starke Brandung ihren Gischt donnernd meterhoch in die Luft warf, und trieb auf einige hohe Kokospalmen zu, die dicht am Strande standen.
Schlaftrunken richtete Ernst Heirot sich jetzt unter der ihn derb rüttelnden Hand des Freundes auf. Wenige Worte genügten, um ihn in die völlig veränderte Lage einzuweihen. Eilig griff er in die Haltestricke der Gondel, um beim Landen nicht etwa hinausgeschleudert zu werden.
Abermals ein Ruck an der Ventilleine. Kaum acht Meter trennten den „Bismarck“ noch von der Erde.
Und nun war der gefährliche Augenblick da. Das Eiland war erreicht, der Wassergürtel zwischen den Riffen und dem Inselufer passiert.
Mit beiden Händen packte Fritz Markart die Reißleine möglichst oben, hängte sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers daran …
Ein knisterndes Geräusch in der Hülle, und dann sank diese schnell in sich zusammen. Hart stieß der Korb auf, daß die Freunde noch tagelang davon Schmerzen in den Gelenken hatten. Wie im Todeskampf tat der Ballon dann noch einen letzten Satz. Die halbleere Seidenhülle verfing sich in den Kronen zweier dicht nebeneinander stehender Kokospalmen, die Gondel prallte gegen einen der Stämme, und … die Landung war geglückt, sogar so gut, daß die sehr bald völlig entleerte Hülle sich allmählich senkte und den Korb mit den beiden jungen Ballonfahrern ganz sanft auf den mit allerlei Gräsern bewachsenen Boden am Fuße der Bäume aufsetzte, wobei sie noch ein paar reife Kokosnüsse abriß, die nun dumpf aufschlagend herabfielen und die Knaben sofort wie im Schlaraffenlande zu einer bequemen Mahlzeit einluden.
Eilfertig kletterten die Freunde aus der Gondel heraus. Stumm standen sie dann, halb betäubt vor Freude, eine Weile da. Ihre Gedanken eilten unwillkürlich denselben Weg: hinauf zu dem allgütigen Gott, der über den Wolken thront und mit liebevoller Hand die Geschicke der Menschen lenkt.
Nachdem sie dann die Kokosnüsse mit vieler Mühe geöffnet, und sich an dem weißen, zarten Fleisch gesättigt, und die erfrischende, süße Kokosmilch dazu getrunken hatten, merkten sie erst, wie müde sie waren. Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen, und sehr bald entluden die schweren, dunklen Wolken einen Regenguß über die kleine Insel, vor dem die Freunde sich schleunigst wieder in den Ballonkorb flüchteten, über dem sich die gelbe Hülle jetzt wie ein schlecht gespanntes Zelttuch ausbreitete und so ein völlig trockenes Plätzchen schuf.
Die Sandsäcke flogen heraus, und dann setzten sich die beiden Gefährten in die Gondel, streckten sich aus, so gut es ging, und waren im nächsten Augenblick auch schon eingeschlafen. –
* * *
Als sie erwachten, goß die Sonne ihre belebenden Strahlen über das weite Meer und das einsame Eiland aus. Die düsteren Wolken waren verschwunden, und auch der Wind war zu einer leichten Brise abgeflaut.
Während sie dann ein paar neue Kokosnüsse öffneten und ihren Morgenimbiß, im Schatten der Gondel sitzend, einnahmen, zog Fritz Markart ein kleines Notizbuch aus der Innentasche seiner Jacke hervor und trug mit dem Bleistift auf eine neue Seite folgendes ein:
„Ernst Heirot und Fritz Markart aus Herbertshöhe, Neupommern, landeten auf diesem Eiland am Abend des 15. Mai 1907 nach einer unfreiwillig unternommenen Ballonfahrt.“
Dann steckte er das Büchlein wieder weg und sagte zu dem Freunde:
„Ich werde fortan alles aufzeichnen, was wir hier bemerkenswertes erleben. Sollte uns dann ein Unglück widerfahren, so wird mein Notizbuch vielleicht der Welt von unseren Schicksalen Kunde geben. – Doch nun wollen wir zunächst einmal unsere Zufluchtstätte, die kaum eine halbe Meile Durchmesser bei ihrer ziemlich kreisrunden Gestalt haben dürfte, durchwandern und nach einem günstigen Orte Ausschau halten, wo wir unsere Wohnung aufschlagen können. Vielleicht sind wir genötigt, hier längere Zeit als Robinsons zu leben. Gewiß – unsere Eltern werden alles aufbieten, um uns zu finden. Aber ich will Dir nicht verhehlen, daß wir offenbar in dem Ballon eine sehr weite Strecke zurückgelegt haben und daher von Herbertshöhe unzählige Meilen entfernt sind. Trotzdem brauchen wir nicht zu verzagen. Wir werden uns hier schon weiterhelfen. Noch letztens, als wir den Robinson Krusoe zusammen lasen, haben wir ja davon geschwärmt, wie schön ein solches Leben auf einer entlegenen Insel sein müßte und wie wir manches noch viel praktischer und schlauer angefangen haben würden als der berühmte Robinson. Nun hat das Schicksal uns hierher verschlagen! Zeigen wir, daß wir damals nicht ruhmredig etwas hingesprochen haben, was wir nicht zu erfüllen vermögen.“
Auf Fritz’ Vorschlag gingen sie dann zuerst am Strande entlang nach Norden zu. Auf dem flachen Ufer sonnten sich hier und da Schildkröten aller Art und Größe. Schwärme von Seevögeln, die draußen auf dem die Insel umgebenen Klippengürtel zu nisten schienen, erfüllten die Luft mit ihrem Geschrei, tauchten in dem ruhigen, klaren Wasser innerhalb der Riffbarriere nach Fischen und gaben dem Bilde der kleinen, entlegenen Insel einiges Leben. Kokospalmen kamen schon dicht am Strande in großer Menge vor, ebenso bemerkten die Freunde allerlei Sträucher und späterhin sogar mehrere Brotfrucht- und Pandanusbäume. Von dem Innern der Insel vermochten sie vorläufig noch nichts zu erblicken, da Bäume und Gebüsche die Aussicht versperrten. Etwas konnten sie jedoch auch jetzt schon feststellen: ziemlich in der Mitte des Eilandes erhob sich eine kahle, nur stellenweise mit Gras und einigen Sträuchern bestandene Kuppe, auf deren höchstem Punkt einsam zwei schlanke Palmen standen.
Die beiden Knaben, die bereits mehrere Jahre auf dem Bismarckarchipel gelebt hatten und daher recht gut eine gewöhnliche von einer Koralleninsel unterscheiden konnten, waren sich bald klar darüber, daß dieses Eiland seine Entstehung jenen kleinen Tieren verdankte, deren kalkige Skelette zunächst ganze Felsen auf dem Meeresboden bilden, dann immer weiter wachsen (Die Korallen sind Skelette der sog. Korallenpolypen, die eine der niedrigsten Tierformen darstellen. Zumeist besteht der Körper aus einem an dem einen Ende festgewachsenen Schlauch, dessen anderes Ende mit einem Kranz von Fangfäden umgeben ist. Alle Korallenpolypen sind fleischfressende Tiere und nähren sich von kleinen Krebsen, Muscheln und Fischbrut. Die rote Edelkoralle wird auch zu Schmuck verarbeitet. Das Wachstum der Kalkablagerung dieser Polypen ist recht rasch. Ein im Persischen Meerbusen versunkenes Schiff war schon nach eindreiviertel Jahr mit einer Korallenkruste von 60 Zentimeter Dicke bedeckt), indem die älteren Exemplare absterben und die aus ihnen hervorgegangenen jüngeren neue Schichten hinzufügen, bis die einzelnen Felsen sich zu einem Ganzen vereinigen und schließlich über die Meeresoberfläche hinausragen, wo dann besonders Kalkalgen die Vollendung einer solchen langsam aus der See aufsteigenden Insel übernehmen, die durch die Meeresströmungen mit allerlei Pflanzensamen versehen wird und so bald eine reiche Vegetation erhält. – –
* * *
Im übrigen bot das Eiland, wenigstens was seine Strandpartien anbetraf, nichts Bemerkenswertes dar. Schon hatten die Freunde beinahe das ganze Inselchen umschritten, als sie auf eine schmale Bucht stießen, die sich in vielfachen Windungen tief in das Innere des Eilandes hineinzog. Diese Bucht lag genau auf der Westseite und war stellenweise nur fünf bis sechs Meter breit. An ihrem nördlichen Ufer entlanggehend fanden die beiden Knaben dann zu ihrem nicht geringen Erstaunen ein auf das Land gezogenes kleines Boot, das leider durch die Einwirkung der Sonnenstrahlen überall breite Risse in den Planken aufwies und kaum noch zu gebrauchen war. Selbst ein Paar Ruder lagen darin, ebenso ein kleiner Anker mit einem zermürbten Tau und zwei aus Ruten geflochtene Körbe.
Diese Jolle hatte einst, wie ein in den Bootsrand und den Steuersitz eingeschnittenes Merkzeichen bewies, zu einem Schiffe gehört, das den Namen „Senta“ geführt hatte und in Amsterdam beheimatet gewesen war. Sie mußte hier schon längere Zeit unbenutzt gelegen haben, da der Wind sie teilweise mit Laub und trockenen Zweigen von den in der Nähe stehenden Bäumen angefüllt hatte. Immerhin war dieser Fund für die Freunde insofern von Bedeutung, als Fritz Markart nach eingehender Besichtigung des kleinen Bootes die Hoffnung aussprach, es würde ihm vielleicht durch Verstopfen der Risse gelingen, das Fahrzeug wieder abzudichten und schwimmfähig zu machen.
Nach dieser kurzen Unterbrechung ihrer Wanderung drangen sie weiter am Ufer der Bucht vor, die mit ihrem klaren, ruhigen Wasser und den sie umsäumenden Sträuchern und Bäumen ein recht hübsches Landschaftsbild abgab.
Bald sahen sie, daß der schmale Wasserlauf jener Kuppe zustrebte, die als ein Wahrzeichen der Insel weit über den Baumwuchs herausragte und auf deren Spitze die beiden Palmen sich deutlich gegen den klaren Himmel abhoben. Die Bucht bildete gerade am Fuße dieses vielleicht fünfzig Meter hohen Hügels einen kleinen See als Abschluß. Hier war die Vegetation, die sich ein gutes Stück die allmählich ansteigende Kuppe hinaufzog, von echt tropischer Üppigkeit und Reichhaltigkeit, so daß die Freunde fast gleichzeitig den Gedanken aussprachen, irgendwo am Ufer dieses Wasserbeckens ihr Heim aufzuschlagen.
Die Neugierde ließ sie dann auch sofort den Hügel ersteigen, dessen südlicher Abfall, den sie jetzt vor sich hatten, leicht zu erklimmen war, obwohl an einigen Stellen der bereits zu festem, marmorartigem Stein verhärtete Korallenkalk steile Hänge und tiefe Spalten aufwies, denen man jedoch leicht ausweichen konnte.
Von der Spitze der Kuppe konnten die Freunde nun ihr kleines Reich in allen seinen Teilen überschauen. Haine von Palmen und Brotfruchtbäumen wechselten mit grasbestandenen und von grünen Gebüschstreifen durchzogenen Flächen ab. Und durch dieses freundliche, vielfarbige Grün schlängelte sich das Silberband der schmalen Bucht schimmernd hindurch, während das von dichtstehenden Bäumen umgebene Wasserbecken auf seiner stillen Oberfläche den Hügel mit all seinen Einzelheiten widerspiegelte.
Kein Wunder, daß die Knaben bei diesem Anblick ein heißes Dankgebet zum Himmel emporschickten und daß bei ihnen jetzt auch der letzte Rest von Verzagtheit vor der Gewißheit dahinschwand, hier einen kleinen Garten Eden gefunden zu haben, der sie aller Nahrungssorgen überhob und der ihnen einen freundlichen Aufenthalt bot. Vor wilden Tieren oder kriechendem, giftigem Gewürm brauchten sie sich auf einer Koralleninsel nicht zu fürchten. Das wußten sie sehr gut. Diese Eilande, die vereinzelt im Meere liegen, werden stets nur von Vögeln bewohnt, die lediglich der Zufall, ebenso wie die Samenkörner der verschiedenen Pflanzen, hierher führt.
Freilich, an einem Mangel leiden die Koralleninseln zumeist: an frischem, trinkbarem Süßwasser. Auch dieses war den Freunden bekannt, und daher begannen sie jetzt auf den Abhängen der Kuppe, die im Gegensatz zu dem südlichen Teil nach Norden hin recht unzugänglich war, nach Ansammlungen von Regenwasser zu suchen. Schließlich entdeckten sie denn auch eine solche natürliche Zisterne in Gestalt eines trichterförmigen, recht tiefen Loches. Und zu ihrer Überraschung bemerkten sie weiter einen langen Strick, der an einen Vorsprung des Gesteins angebunden war und der in den Trichter hinabhing. Als Fritz Markart nun das Tau hochzog, fanden sie am unteren Ende drei ausgehöhlte Kokosnüsse daran befestigt, die offenbar die Stelle eines Eimers vertreten sollten. Die Hauptsache aber: die Nüsse waren gefüllt mit einem kühlen, wenn auch etwas weich schmeckenden Süßwasser!
Ein sprechenderer Beweis dafür, daß das Eiland bereits einmal bewohnt gewesen sein müsse, konnte ihnen kaum geliefert werden. Erst das Boot und jetzt der primitive Zieheimer – dies beides sagte genug.
Es war erklärlich, daß die beiden Robinsons jetzt den lebhaften Wunsch hatten, noch mehr Überbleibsel der Tätigkeit ihrer Vorgänger zu entdecken, besonders aber den Ort, wo diese Leute – vielleicht war es auch nur ein einzelner Mensch gewesen! – ihre Wohnung aufgeschlagen gehabt hatten.
Ernst, der stillere, bedächtigere der Knaben, war in einer Hinsicht dem älteren Gefährten doch überlegen: er besaß einen durch das Lesen zahlreicher Bücher geschärften Geist, mit dessen Hilfe er häufig schon Erwachsene durch fast scharfsinnige Antworten geradezu verblüfft hatte. Auch jetzt sollte sich diese Überlegenheit auf besondere Art zeigen. Während Fritz Markart in den umliegenden Klüften herumkletterte, spähte er auf dem harten Boden nach den Anzeichen eines früher des öfteren begangenen Pfades aus, der von der Zisterne wegführen mußte. Er sagte sich, daß die einstigen Bewohner des Eilandes sicherlich sehr oft das Wasserloch aufgesucht haben würden und dadurch eine Art ausgetretenen Weges entstanden sein müsse. Nach längerem sorgfältigem Betrachten des kahlen Gesteins glaubte er denn auch einen Pfad zu bemerken, der sich wie ein glatterer, breiter Strich über eine kleine Terrasse hin nach Osten zu verlor. Dieser Pfad endigte dann plötzlich vor einer schroffen, überhängenden Wand von gut sieben Meter Höhe, ohne daß irgend eine Fortsetzung zu erkennen war.
Inzwischen hatte sich auch Fritz Markart dem Freunde wieder zugesellt, und beide tauschten nun ihre Ansichten darüber aus, welche Bewandtnis es mit diesem recht deutlich sich abhebenden Wege wohl haben könne, der hier vor dem schroffen Abhang ganz unvermittelt aufhörte. Und wieder war es nun der jüngere, der seine Aufmerksamkeit auf einen engen Felsspalt richtete, durch den die grauschimmernde Wand fast mitten durchschnitten wurde, und der schließlich in diesem Spalt offenbar durch Menschenhand hergestellte Stufen bemerkte, die ein Aufsteigen in dem kaum einen Meter breiten Kamin ermöglichten.
Sofort begann Fritz als der kräftigere und geschicktere von Stufe zu Stufe emporzuklimmen, gefolgt von dem Freunde, der immer aufs neue wiederholte, daß dieser so schwer aufzufindende Weg ohne Zweifel zu der Behausung der früheren Inselbewohner hinführen dürfte.
In dieser Annahme hatte er sich nicht getäuscht. Und was sie jetzt hier oben auf der schmalen, völlig unzugänglichen, rings von steilen Abhängen umgebenen kleinen Plattform, auf die der Spalt mündete, zu sehen bekamen, übertraf ihre kühnsten Erwartungen.
Dieser ebene, kaum sechs Quadratmeter messende, sichelförmige Fleck zeigte durch nichts dem von weitem spähenden Blick eines Fremden an, daß er der Vorplatz einer geräumigen Felsenwohnung war, die sich hier in den Abhang hineinzog. Durch eine niedrige Türöffnung, die erst durch geeignete Werkzeuge aus einem Felsloch durch Ausmeißeln hergestellt worden war, gelangte man in eine unregelmäßige Höhlung. Hier waren durch Wände aus Rutenflechtwerk zwei nebeneinander liegende Räume abgeteilt, von denen der eine als Wohngemach, der andere als eine Art Vorratskammer eingerichtet war. Ersteres enthielt eine Anzahl höchst einfacher, aus Schiffstrümmern roh zusammengeschlagener Möbelstücke, einen Tisch, einen Schemel, eine Bettstatt, ein paar Wandbretter und einen langen, schmalen Kasten als Schrank. Letztere hatte zugleich als Küche gedient, wie ein einfacher Herd aus Steinen verriet, über dem sich in der Decke ein Felsspalt befand, der völlig rauchgeschwärzt war, mithin die Stelle eines Schornsteines vertreten hatte. Sonst lagen hier außer einem Haufen von zerkleinerten Schiffsplanken nur noch ausgehöhlte Kokosnüsse, die als Gefäße benutzt waren, sowie eine Menge Tauwerk und Segel umher. Nachher entdeckten die Freunde dann jedoch in einem Kasten in einer Ecke noch eine Handsäge, zwei Äxte, ein Beil, einen Hammer, drei große Meißel und eine Anzahl von Nägeln, die die früheren Bewohner dieser Räume (oder war es nur einer gewesen?!) selbst geschmiedet zu haben schienen.
Das Merkwürdigste an dieser Behausung aber war, daß sie außer der Tür- noch vier Fensteröffnungen besaß, die durch die äußere, kaum zwanzig Zentimeter dicke Wand hindurchführten und überall noch deutlich die Spuren des zum Durchbrechen des Kalkfelsens benutzten Meißels zeigten. In den beiden Räumen herrschte daher eine freundliche Helle, die es den Knaben ermöglichte, sich recht genau umzusehen. Nur in der entlegensten Ecke des Wohngemaches, dort, wo das kastenähnliche, mit einem großen, groben Segel bedeckte Bett stand, war es ziemlich dämmerig, so daß die Gefährten erst nach einer Weile bemerkten, daß sich unter dem mehrfach zusammengelegten Segeltuch verschwommen die Umrisse eines menschlichen Körpers abzeichneten.
Fritz Markart überwand schnell das leichte Grauen und zog die Decke bei Seite. Der angekleidete Leichnam eines blondbärtigen Mannes kam so zum Vorschein, der jedoch deshalb nichts Abschreckendes an sich hatte, weil sein Gesicht wie das einer Mumie vollständig zusammengetrocknet war. Der Tote ruhte auf einem zweiten Segel, unter dem sich wieder eine Schicht Seegras als Polsterung befand. Jedenfalls war der Mann hier auf seinem Lager plötzlich vom Tode überrascht worden. – –
* * *
Eine Stunde später hatten die Freunde die sterblichen Überreste des einstigen Bewohners der Felsengrotte, die sie nun selbst zu beziehen gedachten, mit Hilfe von Stricken von der Felsterrasse wie ein Bündel in Segeltuch gewickelt, herabgelassen und am Fuße des Hügels beerdigt. Dann eilten sie, nachdem sie ein paar Kokosnüsse mit dem Beile geöffnet und ihren Hunger reichlich gestillt hatten, nach dem Südstrande hin, um den dort zurückgelassenen Ballon zu bergen. Den Gondelkorb versteckten sie in ein Gebüsch und häuften darüber Zweige an, um ihn vor dem Regen zu schützen. Die seidene Hülle aber und das Tauwerk legten sie sauber zusammen und brachten das zu einem großen Ballen verschnürte Ganze in den Vorratsraum. Dies taten sie lediglich in der Absicht, den Ballon, der mit durch ihre Schuld verlustig gegangen war, später nach ihrer Befreiung aus dieser halben Gefangenschaft unversehrt wieder zurückgeben zu können. Daß sie aber durch diese sorgfältige Aufbewahrung des Ballons sich auch gleichzeitig die Möglichkeit zum Verlassen des Eilandes ohne fremde Hilfe schufen, ahnten sie an diesem ersten Tage ihres Robinsondaseins nicht im entferntesten.
Am Nachmittag waren sie mit dieser Arbeit fertig. Dann wurde die Bettstatt, in der der Tote sicher viele Monate, wenn nicht gar Jahre, gelegen hatte, auseinandergeschlagen und zu dem Haufen Brennholz geworfen, der in dem Vorratsraum aufgeschichtet war, der ihnen jedoch ebensowenig wie der Herd etwas nützte, da sie kein Mittel besaßen, sich Feuer anzuzünden. Auch das Seegras auf dem Bett beseitigten sie, indem sie es in eine Felsspalte unterhalb ihrer Terrasse warfen. Sie wollten eben jede Erinnerung an die Mumie des blonden Mannes, die bei ihnen doch ein scheues Grauen zurückgelassen hatte, aus dem Wege räumen. Aus trockenem Gras, das sie in der Nähe des Binnensees sammelten, stellten sie sich dann eine neue Lagerstätte her, die sie mit einem Segel aus der Vorratskammer bedeckten, während sie ein zweites als Zudeck benutzen wollten.
Als die Sonne sich dann bereits dem Horizont näherte, beschlossen sie in der Bucht ein Bad zu nehmen. Vorher überzeugten sie sich, daß nicht etwa ein Haifisch hier seinen Tummelplatz habe, indem sie an verschiedenen Stellen Steine ins Wasser warfen, wie sie dies des öfteren die Papuas auf Neupommern hatten tun sehen. Der Hai, stets beutelüstern, kommt nämlich auf jedes lautere Plätschern sofort herbeigeschossen und verrät seine Anwesenheit in flacheren Ufergewässern stets durch die über die Oberfläche ein Stück herausragende Rückenflosse.
Das Wasser der Bucht war für ein Erfrischungsbad beinahe zu lau. Und die beiden Freunde fühlten sich als gute Schwimmer darin so wohl, daß sie gar nicht wieder herausmochten, bis dieses harmlose Vergnügen plötzlich durch den Schreckensruf Fritz Markarts ein jähes Ende fand, daß er soeben in der klaren Flut ein paar Zauberfische gesehen habe.
Diese Tiere sind in der ganzen Südsee sowie in allen Gewässern um den australischen Kontinent herum sehr gefürchtet. Bei einer durchschnittlichen Länge von einem halben Meter besitzen sie einen riesigen, mit Höckern und Stacheln besetzten Kopf und einen schuppenlosen, schleimigen Körper mit Giftdrüsen neben der Rückenflosse, deren Spitzen haarscharf sind und wie die Giftzähne einer Schlange wirken. Es gibt verschiedene Arten dieser Giftstachelfische, unter denen jedoch der gefährlichste der eben beschriebene, überaus häßliche Zauberfisch, auch Kaff genannt, ist, der noch die Eigenschaft hat, seine Hautfarbe beliebig wie ein Chamäleon ändern zu können. Alle Wassertiere, selbst der gefräßige, freche Hai, weichen dem Kaff ängstlich aus, der im Vertrauen auf seinen Giftapparat sehr schnell zum Angriff übergeht und dabei mit seinen nach vorn gerichteten Stacheln den Feind zu verletzen sucht. Sein Gift führt selbst bei Menschen schwere Lähmungen, langes Siechtum und sogar den Tod herbei. Neben der in denselben Meeresgegenden hausenden, ebenfalls außerordentlich giftigen Streifenruderschlange, die ausschließlich im Wasser lebt, ist er der unangenehmste Bewohner dieser Gebiete und noch gefürchteter als der Haifisch, da er stets in Scharen auftritt.
Die beiden Freunde wußten nur zu gut, welche Gefahr ihnen drohte, und strebten nun mit schnellen, kräftigen Stößen dem Ufer zu. Ernst Heirot hatte schon glücklich das Land erreicht, als hinter ihm sein Gefährte einen ängstlichen Schrei ausstieß.
„Ein Zauberfisch hat mich gestochen!“ rief er und watete schreckensbleich auf den Strand, setzte sich nieder und drückte mit den Fingern an der linken Wade herum, wo sich auch sofort zwei feine Blutpünktchen zeigten.
Fritz Markart wußte nur zu gut, daß jede Sekunde des Zauderns für ihn verderblich werden könnte. Er kannte die Art und Weise, wie die eingeborenen Fischer auf Neupommern die Wirkung des Stiches abzuschwächen suchen, holte daher sein Taschenmesser hervor und brachte sich genau über den beiden roten Punkten mit der kleinen Klinge einen tiefen Schnitt bei, den er dann fortgesetzt mit Seewasser auswusch und gleichzeitig ausdrückte, wobei er von dem Freunde aufs eifrigste unterstützt wurde. Ernst holte nachher von einem Pandanusbaum auch eine Anzahl von Blattknospen herbei, die er zerquetschte und mit seinem vorher sauber ausgewaschenen Taschentuche über der Wunde als dicken Brei befestigte.
Trotz dieser sachgemäßen Behandlung stellte sich bereits zwei Stunden später, als eben die Sonne untergegangen war, bei dem Knaben starkes Fieber ein. Das Bein schwoll ebenfalls an, und unruhig warf der Kranke sich fortgesetzt auf seinem Lager in der Felsenwohnung hin und her, so daß Ernst ihn keinen Augenblick allein lassen konnte. Nach einer für den kleinen Pfleger überaus qualvollen Nacht, in der ihn nicht nur der Zustand seines Freundes, sondern auch das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit schwer bedrückte, dämmerte endlich der Morgen herauf. Jetzt ließ das Fieber etwas nach, und Ernst durfte es unter diesen Umständen wagen, schnell nach dem Seeufer zu eilen, um von dort einige der rotgelben, kugelrunden Früchte des Pandanus (Pandanusbaum, auch Pandane oder Schraubenbaum, mit zwei Meter hohen Luftwurzeln, wird sechs Meter hoch. Seine Früchte bilden in der Südsee ein Volksnahrungsmittel. Die Blüten sind äußerst wohlriechend, und die Blütenkolben dadurch berühmt, daß sie in drei Stunden um ein Meter wachsen) zu holen, deren Saft in der Südsee als Fiebermittel häufig angewandt wird.
Bei der Rückkehr von diesem kurzen Ausflug bemerkte er, als er gerade durch den Kamin nach der Terrasse emporklettern wollte, unweit des nördlichen Teiles des Klippengürtels ein einmastiges Segelschiff, das auf eine breite Durchfahrt zwischen den Riffen zusteuerte. Die Sorge um den Kranken hinderte ihn jedoch daran, sich jetzt weiter um das kleine Fahrzeug zu kümmern. In dem Wohnraum fand er zu seinem Schrecken den von einem neuen Fieberanfall gepackten Freund neben dem Lager auf dem Boden liegend vor, und stundenlang mußte er dann mit kühlen Umschlägen, die er dem halb Bewußtlosen auf die Stirn legte, gegen die Macht des Fiebers ankämpfen, bevor es ihm gelang, auch diesen Anfall zu dämpfen. Zum Glück hatte er schon am Abend vorher in kluger Vorsorge alle vorhandenen leeren Kokosnüsse mit Wasser gefüllt, so daß er sich ganz dem armen, schwer leidenden Schicksalsgenossen widmen konnte.
Der Saft der Pandanusfrüchte, den Fritz trotz seiner Mattigkeit nun gierig schlürfte, versagte seine Wirkung nicht. Sehr bald trat ein leichter Schweiß dem Kranken auf die Stirn, und nachdem er dann nochmals aus einer der Kokosschalen den heilenden Trank geschlürft hatte, verfiel er in einen festen, ruhigen Schlaf.
Nun erst fand Ernst Zeit, nach dem Verbleib des kleinen Seglers sich umzuschauen. Er eilte auf die Terrasse hinaus und erblickte sofort innerhalb des Klippengürtels einen vor Anker liegenden Schoner, auf dessen Deck sich ein paar Gestalten hin und her bewegten.
Ein jubelndes Glücksgefühl durchzog da seine Brust. Das war ja die Rettung, die Befreiung …! Der Segler würde sie mit in bewohnte Gegenden nehmen, von wo sie dann leicht wieder zu den Ihrigen nach dem Bismarckarchipel gelangen konnten.
Schon wollte er ein Stück Segel an einer Stange befestigen und die fremden Ankömmlinge durch Winken auf sich aufmerksam machen, als sein Blick den Fuß des Hügels streifte.
Dort traten gerade unter den Bäumen drei Männer hervor, – zwei in Leinenanzüge gekleidete, bärtige Europäer und ein schlanker, brauner Malaie, der nur ein Paar rot und weiß gestreifte Hosen trug. Und diesem Malaien waren die Arme kreuzweis mit Stricken über der Brust gefesselt, während ihm außerdem noch eine starke Leine um den Hals geknotet war, deren anderes Ende einer der Weißen in der Hand hielt.
Kaum hundert Meter von dem jetzt wie erstarrt dastehenden Knaben entfernt schritten die drei Männer, den Hügel umgehend, nach Süden zu. Der, der die Leine in der Hand hatte, trieb den Malaien durch rohe Fußtritte vorwärts, wobei er stets allerlei Worte ausstieß, die Ernst Heirot nicht verstand, die aber offenbar Drohungen enthielten, durch die der Gefesselte gefügig gemacht werden sollte.
Dieses Auftauchen des seltsamen Zuges, besonders aber das wenig vertrauenerweckende Aussehen der beiden Weißen, die jeder eine Revolvertasche umgeschnallt hatten, mahnte den Knaben zur Vorsicht. Oft genug hatte er ja daheim in Herbertshöhe erzählen gehört, daß gerade die Südsee allerlei Europäern als Zufluchtsstätte dient, die kein ganz reines Gewissen haben und die hier als halbe Freibeuter ihr lichtscheues Treiben fortsetzen, indem sie unter der Maske von Händlern in schnellfahrenden Kuttern oder Schonern die bewohnten Eilande besuchen und mit den Eingeborenen Tauschgeschäfte machen, bei denen es nie ohne Streit und Gewalttaten abgeht.
Eiligst zog er sich daher in die Felswohnung zurück. Niemand hatte ihn bemerkt, worüber er sehr froh war. Jedenfalls wollte er den Fremden nicht früher sich zeigen, bevor er nicht mit Fritz über seine Beobachtungen Rücksprache genommen hatte.
Dieser erwachte jedoch erst am Nachmittag. Der tiefe Schlaf hatte bei ihm Wunder gewirkt. Das Fieber war völlig geschwunden, und mit klaren Augen schaute er jetzt seinen Freund an, der dicht neben seinem Lager saß, nickte ihm munter zu und bat um etwas zu trinken.
Ernst berichtete nun, während er den Saft einer Pandanusfrucht mit Wasser mischte, von dem Auftauchen des Schoners, von den beiden bewaffneten Weißen und dem gebundenen Malaien und fügte hinzu, daß er von einem der Fenster ihrer Wohnung aus die drei Leute noch einige Male zu Gesicht bekommen habe, die ohne Frage hier in der Nähe der Felskuppe oder sogar auf derselben etwas Bestimmtes zu suchen schienen, wobei sie sich von dem Malaien führen ließen.
Fritz war ganz einverstanden damit, daß sein Gefährte sich vor den Fremden verborgen gehalten hatte. Auch ihm kamen die Europäer nach dem eben Gehörten ziemlich verdächtig vor, und er bedauerte lebhaft, gerade jetzt an das Lager gefesselt zu sein, da er den drei Leuten und ihrem Tun und Treiben gern heimlich nachgeforscht hätte. – –
* * *
Bis zum Sonnenuntergang ereignete sich nichts Besonderes mehr, nur daß eine winzige Jolle ein paar Mal zwischen dem Schoner und dem Lande hin und her fuhr. Nach Einbruch der Dunkelheit schickte Fritz dann den Freund auf die Spitze der Felskuppe hinauf, nachdem er ihm die größte Vorsicht eingeschärft hatte. Ernst Heirot sollte feststellen, ob die Leute des Schoners, die sich jetzt sämtlich an Land befanden, wie er vorhin bemerkt hatte, irgendwo in der Nähe lagerten.
Doch der Genesende mußte fast drei volle Stunden warten, bevor der Freund zurückkehrte. Dafür konnte dieser aber dann auch soviel Merkwürdiges erzählen, daß Fritz Markant ein über das andere Mal einen leisen Ausruf ungläubigen Staunens hören ließ.
Die Fremden hatten dicht am Ufer des Sees unterhalb des Felshügels in einem Palmenwäldchen ein Feuer angezündet, dessen Lichtschein von der Spitze der Kuppe deutlich zu sehen war. Der Ehrgeiz, dem Gefährten nachher einen recht ausführlichen Bericht erstatten zu können, hatte Ernst dazu getrieben, sich aufs behutsamste an die Leute anzuschleichen, aus deren ganzem Benehmen klar hervorging, daß sie sich auf dem Eiland allein glaubten.
Um das Feuer lagerten vier Weiße, die in einem mitgebrachten Kessel ihr Abendessen zubereiteten. An den nächsten Baum war der Malaie angebunden, vor dessen Körperkräften die Europäer ohne Zweifel einen gehörigen Respekt hatten, da er mit einer Unmenge von Stricken an den Palmenstamm gefesselt war. Einer der Weißen, der der Anführer zu sein schien und dessen knallrotes Haar sowie ein blatternarbiges Gesicht recht abstoßend wirkten, war dann nach einer Weile dicht an den Malaien herangetreten und hatte diesem gedroht, daß sie ihn hier seinem Schicksal überlassen würden, wenn er nun nicht endlich so vernünftig sei anzugeben, wo er zusammen mit dem holländischen Matrosen seinen Schlupfwinkel gehabt habe.
Der Malaie beteuerte darauf, ebenfalls in englischer Sprache, die er leidlich beherrschte, er wisse nicht, wo Daarkens Behausung liege. Dieser habe ihn nie in seine Geheimnisse eingeweiht. – Und bei dieser Behauptung blieb er auch trotz der Mißhandlungen, mit denen der Rothaarige ihn aufs brutalste peinigte.
Nachdem die Weißen ihre Mahlzeit eingenommen hatten, untersuchten sie nochmals die Fesseln ihres Gefangenen und streckten sich dann neben dem Feuer auf ihre Decken zum Schlafe aus. – –
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Dies war es, was Ernst Heirot an wichtigen Nachrichten von seinem nächtlichen Spähergange mitbrachte. Aus den erlauschten Sätzen ging hervor, daß ein holländischer Matrose namens Daarkens der Bewohner dieser Felsenräume gewesen war und daß die vier Europäer, die heute mit dem Schoner eingetroffen waren, aus irgend welchen Gründen um jeden Preis Daarkens’ Behausung auffinden wollten, wobei sie auf die Unterstützung des Malaien gerechnet hatten, der offenbar einige Zeit mit dem Holländer zusammen hier auf der Insel gehaust hatte.
Vieles bei dieser abenteuerlichen Geschichte blieb den Freunden auch jetzt noch unklar. Aber so sehr sie sich auch über einzelne Punkte die Köpfe zerbrachen, sie vermochten diese dunkle Angelegenheit doch nicht zu klären. Eines nur stand bei ihnen fest: sie wollten die Fremden erst noch weiter beobachten, bevor sie sich vor ihnen sehen ließen; denn sie sagten sich, nicht zu Unrecht, daß es besser für sie sei, hier noch einige Zeit die Robinsons zu spielen, als sich Leuten anzuvertrauen, deren Gewissenlosigkeit schon aus der Art und Weise hervorging, wie sie den Malaien behandelten, aus dem sie etwas herauspressen wollten, was er ohne Zweifel gar nicht wußte.
In dem sicheren Gefühl, in einem nur durch einen Zufall auffindbaren Versteck wohlverborgen zu sein, schliefen sie dann ein und erwachten erst lange nach Sonnenaufgang. Die nächsten beiden Tage zwang sie die Anwesenheit der Fremden, die ihre Suche nach Daarkens Behausung unermüdlich fortsetzten, zu dauerndem Aufenthalt in der Felsenwohnung. Nach Dunkelwerden hatte sich Ernst Heirot freilich wieder nach dem Lagerplatz dieser unliebsamen Gäste hingeschlichen, ohne jedoch etwas Neues zu erlauschen. Der Malaie war auch dieses Mal an den Baum gefesselt gewesen und schien, wahrscheinlich infolge von Nahrungsentziehung, bereits halbtot in den Stricken zu hängen. Nur in einem Punkte hatte sich das Verhalten der Weißen geändert. Während der Rothaarige mit einem Begleiter alle Teile der Felskuppe sorgfältig durchforschte, wobei die Freunde mehr als einmal in der größten Angst schwebten, man könne ihren Schlupfwinkel entdecken, fuhren die beiden anderen Weißen in der Jolle innerhalb des Riffgürtels hin und her und arbeiteten dabei mit einer langen Stange, die sie immer wieder in das Wasser stießen und nach einer Weile dann herauszogen. Was sie hiermit bezweckten, konnten die Knaben nicht ergründen.
Dann brach der dritte Tag an. Ernst Heirot wurde zuerst munter. Wie er nun an eine der Fensteröffnungen, die von weitem gesehen nichts als bedeutungslose Löcher in der Felswand zu sein schienen, trat und wie stets seit Ankunft des Schoners nach diesem ausschaute, war die bisherige Ankerstelle des kleinen Fahrzeuges leer, und nur in weiter Ferne bemerkte er noch ein weißes Segel, das dann sehr bald unter dem nördlichen Horizont verschwand.
Sofort weckte er seinen Gefährten, der jetzt die Folgen der giftigen Stiche bereits so gut wie vollständig überwunden hatte. Nach kurzer Beratung mußte Ernst dann die Spitze der Kuppe erklimmen, um festzustellen, ob der Schoner wirklich das Eiland verlassen habe. Man mußte ja auch mit der Möglichkeit rechnen, daß es ein anderes Schiff gewesen sein könne, das sich nach Norden zu entfernt hatte.
Nach einer knappen Viertelstunde war er wieder zurück und meldete, weit und breit sei keine Spur mehr von irgend einem Fahrzeuge zu entdecken. Diese Kunde und der Wunsch, sich selbst davon zu überzeugen, ob die Weißen ihre Drohung wahrgemacht und den Malaien gefesselt hiergelassen hätten, gab Fritz Markart, der sich von Tag zu Tag zusehends erholt hatte, die nötigen Kräfte, um den Freund jetzt nach dem Binnensee am Fuße der Kuppe zu begleiten. Ernst riet zwar dringend von einer Überanstrengung des noch leicht geschwollenen Beines ab, fand jedoch kein Gehör, da sein Leidensgefährte sich einmal tatsächlich recht frisch fühlte, dann aber auch bei diesem Abenteuerlust und Neugierde jede Rücksicht auf die Gesundheit zurückdrängten.
Der Abstieg durch den engen Kamin gelang besser, als Fritz dies selbst gehofft hatte. Der Rest der Kletterpartie von dem Hügel herab zum Seeufer bot dann weit geringere Schwierigkeiten.
Mit nicht geringer Spannung näherten die Freunde sich nun dem verlassenen Lagerplatz der vier Weißen. Jetzt konnten sie zwischen den Bäumen hindurch diesen völlig überblicken, jetzt bemerkten sie auch den schlanken, braunen Burschen, der tatsächlich noch an den Palmenstamm gebunden war, aber bereits eifrig daran arbeitete, sich seiner Fesseln zu entledigen. Die rechte Hand hatte er bereits frei, und mit einem Stückchen Kalkstein sägte er gerade an den Stricken herum, die seine Brust umschnürten.
Klopfenden Herzens traten die Freunde hinter den Bäumen hervor. Der Malaie hörte das Krachen eines unter Ernst Heirots Fuß zerbrechenden Astes. Sein Kopf fuhr empor. Mißtrauen und Überraschung waren deutlich in dem Blick zu lesen, mit dem er die beiden jugendlichen Gestalten musterte. Dann aber flog ein zufriedenes Lächeln über sein fast edelgeschnittenes, aufgewecktes Gesicht, und sichtlich erfreut rief er den Knaben auf Englisch zu:
„Kipara wußte, daß sich Menschen auf der Perleninsel befinden müßten. Kapitän Gawner und seine drei Leute sind blind gewesen und haben die frisch aufgebrochenen Kokosnüsse nicht bemerkt, mit denen die kleinen weißen Sahibs ihren Hunger stillten. – Was werden die kleinen Sahibs (Sahib, Herr) mit Kipara tun? Werden sie ihm beistehen? Und – sind noch mehr weiße Sahibs auf der Insel?“
Fritz Markart hatte schon sein Taschenmesser hervorgeholt, und gleich darauf stand der Malaie, ein Mann im besten Lebensalter, der Fesseln ledig da, reckte die muskulösen Arme und dankte seinen Befreiern mit Worten, aus denen deutlich hervorging, daß er sicherlich in einer Missionsschule erzogen war und eine für einen Eingeborenen recht bedeutende Bildung besaß.
Während Kipara dann die noch nicht völlig erloschene Glut des Lagerfeuers neu anfachte und durch Aufwerfen trockener Zweige bald hochlodernde Flammen erzeugte, deren Anblick die Knaben erst daran gemahnte, daß sie jetzt ja die Möglichkeit hatten, auch den Herd in ihrer Felsenwohnung zu benutzen, begann er unaufgefordert zu erzählen, wie das Erscheinen des kleinen Seglers hier vor dem Eiland und seine rohe Behandlung durch die Weißen zu erklären sei. Es war eine mehr als seltsame Geschichte die er mit allen Einzelheiten berichtete, und die Freunde hätten an deren Wahrheit wohl mit Recht gezweifelt, wenn sie nicht durch die hier beobachteten Vorgänge von der Aufrichtigkeit des Malaien überzeugt worden wären. – –
* * *
Kipara stammte aus Borneo und hatte sich nach dem Besuch einer Missionsschule dem Seemannsberuf zugewandt, war viele Jahre auf verschiedenen Segelschiffen und Dampfern gefahren, kannte die halbe Welt und hatte, lernbegierig wie er war, bei jeder Gelegenheit sein Wissen zu erweitern gesucht. Vor drei Jahren war er dann in die Dienste eines deutschen Kaufmanns getreten, der auf einer der Marshall-Inseln eine Handelsniederlassung besaß und sich zur Erledigung seiner Geschäfte einen Kutter zugelegt hatte, mit dessen Führung er den Malaien beauftragte. Bereits drei Monate nach seinem Dienstantritt geriet Kipara, der eine Ladung Frachtgüter nach einer anderen Insel bringen sollte, mit dem Kutter in einen schweren Sturm, wurde weit nach Nordost verschlagen und erlitt dann hier auf den Riffen der Insel Schiffbruch, bei dem er nur das nackte Leben rettete. Halb tot fand ihn der holländische Matrose Daarkens, der zwei Jahre vorher ein ähnliches Schicksal durchgemacht und als einziger der Besatzung nach dem Scheitern der Amsterdamer Brigg „Senta“ auf das Eiland gelangt war, am Strande auf, pflegte ihn gesund und benutzte ihn dann als Taucher zur Ausbeutung einer Perlmuschelbank, die er zufällig in den Gewässern der Insel entdeckt hatte und die überaus reiche Erträge an schönen Perlen lieferte. Die Perlenfischerei betrieben sie mit dem kleinen Boot, das den Untergang der „Senta“ in leidlich guter Verfassung überstanden hatte. Daarkens, ein sehr mißtrauischer Mensch, hatte Kipara jedoch nie in den acht Monaten ihres gemeinsamen Robinsondaseins nach seiner Behausung mitgenommen, vielmehr mußte der Malaie am Südstrande in einer Hütte wohnen, die er nachts nicht verlassen durfte. Im übrigen war das Verhältnis zwischen den beiden Männer aber ein recht gutes gewesen, und Kipara gedachte noch jetzt in Dankbarkeit des wortkargen Holländers, der nach seiner Überzeugung im Laufe der Zeit einen Vorrat von Perlen von großem Wert angesammelt haben mußte. Das friedliche Dasein auf der kleinen Insel fand dann jedoch durch das Erscheinen des Schoners „Hawke“ ein jähes Ende. Dieser gehörte einem Engländer namens Gawner, der mit seinen drei weißen Begleitern die ganze Südsee durchkreuzte, stets begriffen auf der Suche nach einer Perlmuschelbank, die ihm und seinen Freunden zu schnellem Reichtum verhelfen sollte. Der Schoner überraschte Daarkens und Kipara gerade am westlichen Ufer, wie sie aus den Muscheln (Die Perlmuscheln leben, in größerer Zahl vereinigt, in Tiefen von 4 bis 30 Meter auf Bänken, meist solchen von Korallen. Sie werden im Persischen Golf, im Roten Meer, bei Ceylon und um Australien herum gefunden. Die Perlen sind nichts anderes als eine Absonderung von Perlmutter. Durchschnittlich enthält nur jede dreißigste Muschel eine Perle.) die Perlen heraussuchten. Der große Muschelhaufen sagte dem rothaarigen Engländer sofort, daß hier in der Nähe eine sehr ergiebige Perlenbank vorhanden sein müsse. Als sich Daarkens dann weigerte, die Stelle anzugeben, wo diese Schätze gefunden waren, bedrohte ihn Gawner sofort mit dem Revolver und feuerte schließlich im Laufe eines erregten Wortwechsels zwei Schüsse auf den Holländer ab, der, obwohl schwer verwundet, zu entfliehen vermochte und auch trotz eifriger Verfolgung nicht mehr eingeholt wurde. Er tauchte nie wieder auf, und Kipara war überzeugt, daß sein Gefährte damals nach seiner gut versteckten Wohnung geflüchtet und dort elend an der Schußverletzung umgekommen sei, eine Annahme, die von den Knaben nur bestätigt werden konnte. Auch der Malaie hatte sein Heil in der Flucht gesucht, wurde dann aber nach einer stundenlangen Jagd von den Weißen ergriffen, die ihn durch Drohungen dazu zwingen wollten, ihnen die Stelle, wo die Perlmuschelbank zu suchen sei, und auch den Ort, wo Daarkens die bisher erbeuteten Perlen verborgen habe, zu verraten. Letzteres wußte Kipara nicht, und das Geheimnis der Perlenbank wollte er für sich behalten, um später selbst Vorteile daraus zu ziehen. So weigerte er sich denn standhaft, die verlangten Angaben zu machen, brauchte allerlei Ausflüchte und unternahm auch einen zweiten, ebenso vergeblichen Fluchtversuch. Hierauf wurde er gebunden und in den unteren Raum des Schoners geschafft, der nach zwei Tagen, in denen die Weißen unermüdlich nach Daarkens suchten, in See stach und den nächsten größeren Hafen anlief, wo Gawner sich reichlich mit Proviant versehen wollte, um dann nach der Perleninsel zurückzukehren, indem er hoffte, der Malaie würde inzwischen mürbe geworden sein und seine Geheimnisse endlich preisgeben. In dem Hafen gelang es Kipara jedoch zu entwischen. Aber wie gute Spürhunde hefteten sich die vier Europäer an seine Fährte, verfolgten ihn unablässig von Insel zu Insel und bemächtigten sich seiner dann vor zwei Wochen, als er gerade einen Kutter erwerben und mit diesem das Perleneiland besuchen wollte. Was hier weiter geschehen war, hatten die Knaben zum Teil ja miterlebt.
Zum Schluß seines Berichtes fügte der Malaie dann noch hinzu, daß der Schoner sich jetzt sicherlich nur zum Schein von der Insel entfernt habe. Dies folgere er daraus, weil er sehr wohl bemerkt hätte, wie einer der Genossen Gawners vor der Abfahrt offenbar in der versteckten Absicht seine Fesseln lockerte, damit er sich befreien könne. Er glaube bestimmt, ein paar der Leute würden in der Nacht heimlich auf der Insel landen, um ihn dann beobachten und vielleicht auf diese Weise sowohl zu der Austernbank als auch zu der Wohnung Daarkens geführt zu werden, in der sie die Perlenvorräte zu finden hofften. – –
* * *
Nachdem Kipara den Knaben fest versprochen hatte, in jedem Falle treu zu ihnen zu stehen, zeigten sie ihm den Aufgang zu des Matrosen Felsenwohnung, deren verborgene Lage bisher selbst den spähenden Blicken dieser doch ohne Frage recht verschlagenen Weißen entgangen war. Der Malaie riet dann, man solle, um auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein, eine genügende Menge von Lebensmitteln und Wasser in den Vorratsraum zusammentragen, wobei er hauptsächlich an die Rückkehr der Leute des Schoners dachte, vor denen man sich um keinen Preis sehen lassen dürfte, da diese verkommenen Abenteurer zu jeder Schandtat fähig seien. Kipara war es auch, der von dem Lagerfeuer einige Brände nach dem Herde ihres Schlupfwinkels trug und weiter durch Verbrennen starker, trockener Äste Holzkohlen herstellte, um durch diese eine nicht rauchende Glut zu erzielen.
Über diesen Arbeiten ging auch ein Teil des Nachmittags hin. Inzwischen hatte der Malaie das Fleisch einiger Schildkröten zwischen erhitzten Steinen gar gedämpft, so daß die Knaben nun seit Tagen die erste warme Mahlzeit einnehmen konnten. Überhaupt erwies er sich als ein äußerst geschickter, vielerfahrener Mensch, zu dem die beiden Freunde sehr bald großes Vertrauen hatten.
Bei Einbruch der Dunkelheit wurde der Malaie, der sich für einige Stunden schlafen gelegt hatte, geweckt. Er bezog nun auf der Spitze des Hügels wie verabredet seinen Ausguckposten, um nach dem Schoner auszuspähen, mit dessen baldiger Rückkehr er bestimmt rechnete.
Doch die Nacht verging, ohne daß ein Boot auf der Insel landete, was den scharfen Augen des Malaien bei dem sternenklaren Himmel und dem hellen Mondlicht sicher nicht entgangen wäre, zumal er wußte, daß der Klippengürtel mit seiner starken Brandung die Durchfahrt nur an der einen offenen Stelle im Nordosten schräg gegenüber der Bucht gestattete.
Auch am nächsten Tage hielten die drei Bewohner der Perleninsel abwechselnd oben aus der Felskuppe Wache, während nach Dunkelwerden Kipara abermals allein diesen Dienst versah. Und in dieser Nacht trat das Erwartete wirklich ein: kurz vor Mitternacht erkannte der Malaie draußen auf See die weißen Segel eines Fahrzeuges, von dem sich dann ein zunächst winzig kleiner Punkt absonderte und, langsam die Form eines Bootes annehmend, vorsichtig auf die Durchfahrt zustrebte. Zwei Männer stiegen dann am Strande aus, während ein dritter das Boot zu dem Schiffe zurückruderte, das bald nach Norden zu wieder verschwand. – Die Voraussage des Malaien war also in allen Punkten eingetroffen.
Die drei Gefährten waren nun genötigt, sich am Tage gleichsam wie Belagerte in ihrer Felsenwohnung aufzuhalten. Nur nachts wagte Kipara sich hinaus, erklomm vorsichtig den Hügel und gab darauf acht, ob der Schoner sich wiedereinfinden werde, um die beiden Leute entweder an Bord zu nehmen oder neue Schritte zu tun, um hinter die wertvollen Geheimnisse zu kommen. Diese Zeit benutzten die Drei dazu, die beiden Räume ihrer Behausung aufs sorgfältigste nach den Perlen zu durchsuchen. Und wieder war es jetzt gerade Ernst Heirot, der das Versteck entdeckte, indem er sich die Mühe nicht verdrießen ließ, auch die von Daarkens selbstgefertigten Möbel mit dem gekrümmten Finger Zentimeter für Zentimeter abzuklopfen, bis er an dem einen Tischbein eine hohlklingende Stelle und dann auch ein herausnehmbares, sauber eingepaßtes Stück Holz fand, welches eine Aushöhlung verdeckte, in der die in ein Stück Segeltuch eingewickelten Perlen, gegen tausend in allen Größen, lagen.
In der dritten Nacht nach der Landung der beiden Spione, von denen man bisher nicht das Geringste wahrgenommen hatte, tauchte der Schoner wieder vor der Insel auf und steuerte auf ein vom Ufer aus mit einem Feuerbrand gegebenes Signal zwischen den Riffen hindurch, ging der Bucht gegenüber vor Anker und schickte das Boot zum Strande hin, dem die beiden anderen Weißen entstiegen.
Erst als der Morgen zu grauen begann, kehrte Kipara von seinem Posten in die Felsenwohnung zurück und teilte den Knaben mit, daß der „Hawke“ wieder da sei und daß die vier Weißen jetzt, nachdem ihnen ihr schlauer Plan mißglückt war, irgend etwas unternehmen würden, um zu dem erwünschten Ziele zu gelangen.
Bis gegen die Mittagsstunde geschah nichts Besonderes. Von den Fenstern ihres Schlupfwinkels aus konnten die drei Gefährten gerade noch den vor Anker liegenden Schoner erblicken, der träge auf dem nur von leichten Wellen gekräuselten Wasser hin und her schaukelte. Dann aber vernahmen sie unterhalb der Terrasse laute Stimmen, die sich allerlei Weisungen zuriefen, wie man am besten den sich verborgen haltenden Malaien aufstöbern könne. Nach einer Weile entfernten die Leute sich wieder und betraten dann die nördlichen Abhänge der Kuppe, wo man von den Fenstern aus jede ihrer Bewegungen genau verfolgen konnte. Es war der rothaarige Gawner mit zweien seiner Genossen, die dergestalt Jagd auf den Malaien machten, jede Spalte absuchten und hinter jeden Felsblock schauten, wobei sie ihre Revolver stets schußfertig in der Hand hielten.
So näherten sie sich auch einer flachen Talmulde, in der nicht ein einziger Grashalm wuchs und die aufzusuchen die Knaben bisher noch keine Veranlassung gehabt hatten.
Hier nun ereignete sich etwas, wofür die drei Gefährten, die vorsichtig durch die Fensteröffnungen die Verfolger Kiparas beobachteten, zunächst keine Erklärung fanden.
Gawner und seine beiden Genossen waren nebeneinander gemächlich in die Mulde hinabgestiegen, blieben dann in der Mitte stehen, bückten sich und schienen irgend etwas am Boden zu untersuchen, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Plötzlich begannen sie dann aber wie Trunkene zu taumeln, streckten die Arme, einen Halt suchend, aus, sanken um, machen noch einige verzweifelte Anstrengungen aufzustehen und blieben schließlich regungslos liegen. – Minute auf Minute verging. Die Gestalten dort unten in der Talmulde rührten sich nicht.
Fragend blickten die Knaben jetzt auf den Malaien, der mit starren Augen durch das eine der Fenster nach unten stierte. Dann wandte er sich um. Seinen Mund umspielte der Anflug eines rachsüchtigen Lächelns. Und mit seltsamer Betonung sagte er:
„Ein Gifttal …!! Gott hat diese Weißen selbst gerichtet!“
Die Freunde erbleichten unwillkürlich bei diesem einen Wort, das ihnen nur zu gut bekannt war. Gibt es doch auch auf Deutsch-Neuguinea und den umliegenden Inseln bestimmte Orte, wo aus den Bodenspalten giftige Gase, so besonders Kohlensäure (In Europa sind als giftige Orte besonders bekannt die „Dunsthöhle“ bei Pyrmont und die „Hundsgrotte“ bei Neapel. In letzterer lagert die Kohlensäure nur etwa ein Meter über dem Boden, so daß Menschen sie betreten können, während z. B. Hunde darin ersticken.) und Kohlenwasserstoffgemenge, hervordringen, die alles pflanzliche Leben in weiter Umgebung vernichten und auch Menschen, die unversehens dorthin geraten, den Tod bringen können. Am gefährlichsten sind stets Täler, in denen diese Gase auftreten, da ihre geschützte Lage ein Ansammeln der Gase begünstigt. So besitzt die Insel Java z. B. ein „Tal des Todes“, das eine ziemliche Ausdehnung hat und dessen Boden mit den Skeletten von Vögeln, Säugetieren und Reptilien, die in der vergifteten Luft umkamen, förmlich übersät ist. – –
* * *
Kipara unternahm es dann, die Revolver der drei Weißen herbeizuholen. Er betonte, daß dies ganz ungefährlich sei, wenn er sich nur hütete, in der verpesteten Luft einzuatmen. Tatsächlich gelang ihm das Wagnis auch, indem er den Weg durch die Talmulde in schnellem Lauf zurücklegte.
Inzwischen war jedoch der vierte der Weißen, durch das lange Ausbleiben seiner Genossen beunruhigt, von dem Schoner an Land gekommen, hatte aus der Ferne die regungslosen Körper seiner Gefährten erblickt und aus Furcht vor dem jetzt bewaffneten Malaien schleunigst kehrt gemacht. Kipara suchte ihm zwar den Weg nach dem Boote abzuschneiden, traf aber zu spät am Strande ein und mußte tatenlos zusehen, wie der einzige Überlebende des „Hawke“ dessen Anker lichtete, das Großsegel entfaltete und geschickt durch die Einfahrt das offene Meer gewann. Schwer enttäuscht kehrte der Malaie zu den Knaben zurück. Hatte er doch gehofft, sich des Schoners bemächtigen und auf ihm das Eiland gemeinsam mit den beiden Freunden verlassen zu können. – –
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Wochen verstrichen jetzt, in denen die drei Gefährten stets demselben Gedanken nachhingen: wie sie auf irgend eine Weise in bewohnte Gegenden zurückkehren könnten. Die Möglichkeit, daß ein zufällig vorbeikommendes Schiff sie aufnehmen würde, war ja nach des Malaien Ansicht deshalb außerordentlich gering, weil das Eiland zwischen den Hawai- und Marschall-Inseln fernab von jedem Verkehr ganz vereinzelt lag. Schon hatte man schließlich auf Kiparas Vorschlag mit dem Bau eines großen, seetüchtigen Fahrzeuges begonnen, das man in drei Monaten fertigzustellen hoffte, als Ernst Heirot eines Tages mit einem kühnen Plane hervortrat, der dann nach sorgfältigem Abwägen aller Einzelheiten wirklich vorbereitet und ausgeführt wurde.
In der Nähe des Gifttales hatte man eine Erdgasquelle entdeckt, die am Fuße des Hügels auf einer ebenen Felsfläche aus einem engen Loche mit zischendem Geräusch hervortrat und die einen ähnlichen Geruch wie das künstlich hergestellte Leuchtgas verbreitete. Ein Versuch, den Ansatzschlauch der an der Reißstelle geflickten und mit Baumharz dicht gemachten Ballonhülle auf diesem Loche zu befestigen und so das Gas in die Hülle hineinzulassen, gelang über Erwarten gut. Hierdurch ermutigt beschloß man, Ernst Heirots glücklichen Gedanken weiter zu verfolgen und in die Tat umzusetzen. Die Gondel wurde wieder an die Haltestricke angeknebelt und dann außer mit den Ballastsäcken noch mit Steinen beschwert, auch mit Tauen an ein paar Felszacken angebunden. Dann wurde die Hülle über der Gasquelle prall gefüllt. Nachdem man in dem Korbe noch Proviant und Wasser in ausgehöhlten und wieder verstöpselten Kokosnüssen untergebracht hatte, wartete man einen Tag ab, an dem der wetterkundige Malaie einen beständigen Nordwest voraussagen konnte, der den Ballon in Richtung auf die Marschall-Inseln mit ihren weitzerstreuten Eilanden davonführen mußte. Am Morgen des 16. August, genau drei Monate nach ihrer Landung, verließen die Freunde wieder die Insel. Stein auf Stein flog aus dem Korbe heraus, bis die Auftriebskraft stärker war als die Last, die die gasgefüllte Hülle niederhielt. Noch einige Steine, dann stieg der Ballon langsam hoch. Wieder wurde Ballast ausgeworfen, damit die Gondel nicht gegen die Baumkronen geschleudert wurde. Von dem lebhaften Winde getrieben, schwebte die gelbe Kugel mit den drei Wagemutigen schnell über den Riffgürtel weg und eilte nach Südosten zu in einer Höhe von etwa zweihundert Meter davon.
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Sechs Stunden später sichteten die Ballonfahrer einen großen Dampfer, der ebenfalls mit südöstlichem Kurse fuhr. Sofort wurde die Ventilleine gezogen, so daß der Ballon bis auf dreißig Meter sank. Und eine Viertelstunde darauf standen alle drei Abenteurer auf dem Deck des Schiffes, allerdings pudelnaß, da die Gondel einige Male in die See eingetaucht war, bevor das Langboot des Dampfers sie glücklich erhaschte. Auch der Ballon wurde wohlbehalten geborgen, der durch das völlig geöffnete Ventil schnell seine Gasfüllung verloren hatte.
Und wieder vierzehn Tage später trafen die Knaben und der Malaie in Herbertshöhe ein, wo man sie schon als tot betrauert hatte, da alle Nachforschungen nach ihnen völlig ergebnislos geblieben waren. Die Hälfte der Perlen wurde dann den Angehörigen des Matrosen Daarkens durch die deutschen Behörden zugestellt, während Kipara die andere Hälfte erhielt. Dieser brachte es sehr bald durch die weitere Ausbeutung der Schätze der Perleninsel zu großer Wohlhabenheit. Fritz Markart und Ernst Heirot aber zogen aus diesem Erlebnis manch wertvolle Lehre für ihr ferneres Leben.
Ende.
Der nächste Band enthält:
Die Piraten des Mississippideltas.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin
Verlagswerbung:
Erlebnisse einsamer Menschen.
Von der Sammlung „Erlebnisse einsamer Menschen“,
sind bisher folgende Bände erschienen:
1. Das Eiland der schwarzen Diamanten.
2. Die Insel im Sargassomeer.
3. Das weiße Eiland.
4. Die Zauberinsel.
5. Kapitän Merling und seine Familie.
6. Die Überlebenden der „Skandinavia“.
7. Die Pirateninsel.
8. C. 15.