Erlebnisse einsamer Menschen
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)
W. Belka.
Der schon etwas altersschwache Küstendampfer „Amsterdam“, der den Verkehr zwischen dem großen Hafenplatz Batavia auf Java und den östlich gelegenen Sunda-Inseln vermittelte, hatte diesmal einen etwas geheimnisvollen Fahrgast an Bord, einen jungen Deutschen namens Fritz Kramer. Dieser wollte angeblich auf einem kleinen Segelboot, das gut verstaut unter einer Ölleinwand auf dem Vorschiff lag, von den nördlich der Insel Sumbawa zu findenden Postillon-Eilanden den Hafen von Menado auf Celebes zu erreichen suchen.
Der dicke holländische Kapitän der „Amsterdam“ glaubte dem Deutschen nicht recht. Vergeblich gab er sich die erdenklichste Mühe, hinter die wahren Absichten des tatkräftigen Passagiers zu kommen, der jedoch nicht das Geringste aus sich herauslocken ließ.
Bei günstigem, stillem Wetter gelangte der Dampfer eines Morgens nach achttägiger Fahrt in Sicht der Postillon-Eilande, stoppte jetzt auf Kramers Bitte seine Maschinen und brachte mit Hilfe des Dampfkranes das Segelboot zu Wasser. Zehn Minuten später fuhr die „Amsterdam“ in östlicher Richtung weiter, während das kleine Fahrzeug des Deutschen, das zu beiden Seiten des Bugs den Namen „Erwartung“ trug, gerade entgegengesetzten Kurs einschlug.
Das Boot besaß einfache Kuttertakelage, die so eingerichtet war, daß sie sich vom Steuer aus bequem bedienen ließ. Auch sonst war der winzige, etwa sechs Meter lange Segler darauf eingerichtet, nur von einem einzelnen Manne geführt zu werden. Die „Erwartung“ hatte außerdem ein vollständiges Deck und eine kleine Kajüte mit zwei Kojenbetten. Ausgerüstet mit allem Nötigen, konnte sie recht gut eine längere Reise unternehmen, falls nicht schwere Stürme zu viel Anforderungen an ihre Seetüchtigkeit stellten.
Fritz Kramer hatte kaum den Dampfer aus dem Gesicht verloren, als er auch schon wendete und nach Norden einbog. In seinem grauen Leinenanzug, dem Tropenhelm und dem in einem Ledergürtel steckenden Revolver sah er ebenso schmuck wie unternehmungslustig aus. Der gleichmäßige Wind, der die Segel seines Bootes prall füllte, gestattete ihm jetzt, das Steuer festzulegen und aus einer in der Kajüte stehenden Kiste eine selbstgezeichnete Seekarte herauszuholen, auf der die Meeresgegend nördlich der Postillon-Eilande bis hinauf zur Südspitze von Celebes eingezeichnet war. In der Mitte der Karte hatte er eine Insel mit roter Tinte in vergrößertem Maßstabe eingetragen. Verschiedene punktierte Linien liefen von den Postillon-Eilanden nach dieser Insel hin, und an jeder Linie war die Entfernung in Seemeilen angegeben.
Nachdem er die Zeichnung und auch den in den Kajütaufbau eingelassenen Kompaß zu Rate gezogen hatte, änderte er den Kurs ein wenig, zündete sich dann eine Zigarre an und stieg wieder unter Deck, um sich auf einem Petroleumkocher seine Mittagsmahlzeit zuzubereiten. Hin und wieder eilte er auch nach oben, schaute sich prüfend den Himmel an, verglich die Fahrtrichtung mit dem Stande der Kompaßnadel und sorgte auf diese Weise dafür, daß der Kurs eingehalten und der kleine Segler nicht von einem plötzlichen Unwetter überrascht werde. Das selbstbereitete Essen mundete ihm vorzüglich. Nachher baute er sich über dem Steuersitz ein Sonnensegel auf, damit er vor den sengenden Strahlen des Tagesgestirns geschützt war.
Vor sich hin träumend, saß er nun auf der halbkreisförmigen, vertieften Holzbank, von der die Treppe zu der Kajütentür mit wenigen Stufen hinabführte. Einsam war das Meer, soweit das Auge reichte. Vorhin war die „Erwartung“ noch einigen malaiischen Fischerbooten mit plumpen Mattensegeln begegnet. Aber auch diese von braunen, kühnen Männern gesteuerten Fahrzeuge waren längst unter dem Horizont verschwunden.
Diese Einsamkeit, diese Stille, die nur bisweilen von dem Schrei eines vorüberstreichenden Seevogels unterbrochen wurde, regte den jungen Deutschen unwillkürlich zum Nachdenken über sein ebenso waghalsiges wie abenteuerliches Unternehmen an.
Fritz Kramer, von Hause aus Mechaniker, war schon mit achtzehn Jahren in die Fremde gezogen und hatte dann den Untergang des Schnelldampfers „Germania“, der in der Sunda-See bei einem Sturm sich an einem Riff den Schiffsboden aufriß und schnell wegsank, mitgemacht. Zusammen mit einigen anderen Passagieren war er schließlich in einem Rettungsboot auf eine Insel gelangt und hatte hier so merkwürdige Dinge erlebt, daß er später nach der glücklichen Ankunft in Batavia den Entschluß faßte, jene dem Sultan von Sangar (dieses Sultanat liegt auf der südlich der Postillon-Eilande zu suchenden Insel Sumbawa) gehörige Insel ganz allein genauer zu durchforschen. Die Mittel zur Beschaffung des Bootes und der Ausrüstung bestritt er von einem reichen Geldgeschenk, das ihm Herr von Bergstedt, dessen Gattin er aus den Händen grausamer Malaien befreien durfte, beim Abschied in Batavia vor zwei Monaten mit herzlichen Dankesworten übergeben hatte. (Diese seine früheren Erlebnisse sind in unserer Sammlung unter dem Titel „Das Geheimnis der Sunda-See“ in einem besonderen Bändchen erschienen).
Bestimmte Anhaltspunkte dafür, daß jene Insel, auf der der Sultan angeblich nur zu seinem Vergnügen eine große Anzahl von Raubtieren in Freiheit unterhielt, irgend welche dunklen Geheimnisse berge, hatte er freilich nicht. Es war mehr eine ungewisse Ahnung bei ihm, die ihm den Gedanken eingegeben hatte, auf eigene Faust das entlegene, mit dichten Urwäldern zumeist bedeckte Eiland nochmals zu besuchen, weiter seine Abenteuerlust, die ihn ja auch aus der deutschen Heimat in die weite Welt hinausgetrieben hatte. Seinen Plan hatte er ängstlich jedermann verheimlicht. Nur Herr von Bergstedt wußte darum. Dieses Verschweigen seiner Absichten war insofern dringend notwendig, als der Sultan einem in Niederländisch-Indien (hierzu gehören die Sunda-Inseln) verbreiteten Gerücht zufolge auf der Raubtier-Insel die Schätze seiner Ahnen verborgen halten sollte und daher nie geduldet hätte, daß ein Weißer das Eiland betrat und sich dort längere Zeit aufhielt, wo außer ein paar Malaien, die gelegentlich einen Tiger oder einen Panther auf Befehl ihres Herrn für die in dessen Residenz des öfteren veranstalteten Tierkämpfe einfingen, sich keinerlei menschliche Ansiedelung befand. Gerade die zahlreich vorhandenen Raubtiere bildeten die besten Schatzhüter, falls eben wirklich, wie die Fama wissen wollte, unermeßliche Kostbarkeiten dort aufgehäuft waren. – –
In flinker Fahrt durchschnitt Kramers Boot unaufhaltsam die bescheidenen Wellen, während er selbst träumerisch vor sich hin in die klare, blaugrüne Flut starrte, die plätschernd und glucksend an den weißgestrichenen Bordwänden des kleinen Schiffleins entlangstrich.
Dann erregte plötzlich ein im Wasser treibender Gegenstand seine Aufmerksamkeit. Bei näherem Hinsehen erkannte er eine Kokosnuß, aus der ein Stock herausragte, an den ein langer Leinwandlappen wie ein Fähnchen angebunden war.
Kramer sagte sich sofort, daß diese so auffallend gekennzeichnete Frucht der Kokospalme vielleicht zu einem bestimmten Zweck, eben als Flaschenpost einfachster Art, dem Meere übergeben sein könnte. – Unter Flaschenpost versteht man ja die Beförderung von Nachrichten in luftdicht verschlossenen und mit etwas Sand beschwerten Flaschen, die von Bord aus dem Ozean anvertraut und durch Meeresströmungen fortgeführt werden. Nicht immer sind es Seeleute in höchster Todesnot, die solche Flaschen dem Meer mit letzten Grüßen übergeben. Vielmehr hat man schon im Jahre 1802 Flaschenposten zur Erforschung des Golfstromes benutzt, und 1843 entstand die erste sog. Flaschenkarte, in die die Strecken eingezeichnet waren, die die zu wissenschaftlichen Zwecken in die See geworfenen kleinen Behälter zurückgelegt hatten. Die Wege, die derartige Flaschen machen, sind oft von einer erstaunlichen Länge. So wurde eine am 19. Mai 1887 bei den Kap Verdischen Inseln aufgegebene Flasche am 17. März 1890 an der irländischen Küste gefunden, nachdem sie erst bis Florida hinauf getrieben war und im ganzen 7700 Seemeilen des Ozeans durchwandert hatte. Eine andere gelangte in zweieinhalb Jahren von Kap Horn bis Australien und muß daher täglich 15 bis 16 Kilometer vorwärts gekommen sein. – –
Nach einigen Segelmanövern konnte Kramer glücklich die Kokosnuß ergreifen. Nachdem er sein Boot dann wieder in den richtigen Kurs gebracht hatte, nahm er seinen Fund zunächst von außen genauer in Augenschein.
Jede Nuß der Kokospalme besitzt an der Spitze bekanntlich drei Löcher in der harten Schale, die den Keimen das Herauswachsen erleichtern sollen. Zwei derselben waren mit Holzstöpseln und Baumharz fest verschlossen, während in dem dritten das Fähnchen steckte. Nach Entfernung der Stöpsel und des Holzstockes bemerkte Kramer schon, daß in der hohlen Nuß sich außer einer Anzahl kleiner Steine noch ein zusammengerolltes Stück Papier befand. Er konnte dieses aber nur herausholen, indem er die Schale mit einem Beil zertrümmerte.
Jetzt hielt er das Papier in Händen. Es war die Hälfte eines Briefbogens und von beiden Seiten beschrieben. Auf der einen standen mit Tinte allerlei Familiennachrichten, die offenbar von der Hand einer Frau herrührten und von einer in Deutschtand ansässigen Person für den im Auslande weilenden Gatten bestimmt zu sein schienen. Datum, Absendeort und Unterschrift befanden sich nicht auf diesem Stück des Briefes. – Die andere Seite wieder war mit Bleistift geschrieben. Die Buchstaben waren dicht zusammengedrängt, ebenso die einzelnen Zeilen. – Der Inhalt dieser Mitteilung aber lautete folgendermaßen:
Auf einer kleinen Insel in einem Binnensee.
Seit Jahren schmachte ich hier als Gefangener. Wo ich mich befinde, weiß ich nicht. Jedenfalls auf einem der zahlreichen Eilande des Sunda-Archipels. Vielleicht gar auf Sumbawa selbst, dessen nördlichen Teil der Sultan von Sangar beherrscht. Dieser war es, der mich, als ich in Batavia Edelsteine einkaufte, dazu bewog, ihn zu begleiten. Er bezahlte mich gut, versprach mir noch mehr, wenn ich unverbrüchliches Schweigen über unser Geschäft bewahren würde. Man brachte mich dann auf einem kleinen Dampfer dessen Kajüte ich nicht verlassen durfte, in tagelanger Fahrt dorthin, wo ich noch heute weile: auf eine winzige Insel, die mitten in einem See liegt. – Ein uralter Tempel erhebt sich auf diesem von Wasser umgebenen, niedrigen Felsen, eine teilweise eingestürzte Mauer läuft um die Ruinen herum. Das ist aber auch das einzige, was ich über mein Gefängnis anzugeben vermag, fast das einzige. Ich weiß noch, daß der See einen Abfluß im Westen hat, höre häufig das Brüllen von Raubtieren in nächster Nähe. – – Ich fürchte, diese Angaben werden kaum genügen, um mich auffinden zu können, falls diese Nachricht barmherzigen Menschen in die Hände geraten sollte. Bei guter Gelegenheit will ich dieses Stück Papier einer Kokosnuß anvertrauen. Wenn ich Glück habe, trägt die Strömung meine Flaschenpost in die offene See hinaus oder sonst irgendwohin, wo sie entdeckt wird. Doch – das Schicksal ist mir bisher so ungnädig gesinnt gewesen, daß ich kaum zu hoffen wage, meine List könnte Erfolg haben. Trotzdem: – ich klammere mich wie ein Verzweifelter an diese geringe Hoffnung! –
Welchen Tag, welchen Monat, welches Jahr wir haben – ich vermag es nicht zu sagen. In meinem dunklen Kerker, den ich täglich nur eine allzu schnell dahinfliegende kurze Zeit verlassen darf, um auf dem Inselchen frische Luft zu schöpfen, habe ich jedes Gefühl für die Zeitrechnung verloren. – – Die Seite ist voll. Ich muß schließen. Möge der gütige Gott da droben in seiner Gnade dafür sorgen, daß meine Hoffnung, die ich an dieses Stück eines Briefes meiner Frau knüpfe, in Erfüllung geht. – Ernst Parlitz, Diamantenhändler, Köln, Rheinstraße 16.
Mit wachsender Spannung hatte Kramer diese Zeilen überflogen. Es war nicht allein das traurige Schicksal des Gefangenen, das sein Mitleid erregte. Nein – beim Lesen dieser gerade in ihrer Schlichtheit so erschütternd wirkenden Worte tauchte vor seinem Geiste immer klarer das Bild eines Inselchens auf, das er nur zu gut kannte. Der Tempel, die verfallene Mauer, der Abfluß des Sees nach Westen zu – alles stimmte …
Grübelnd schaute er vor sich hin. Ja, seine Vermutung mußte zutreffend sein. Dieser Parlitz wurde auf derselben Insel zurückgehalten, auf der er damals auch Frau von Bergstedt wiedergefunden hatte.
– – – – – – – –
Am nächsten Tage um die Mittagszeit näherte das Boot Kramers sich von Westen her der Raubtier-Insel.
An der felsigen Küste entlangsegelnd, suchte er nach jener Bucht, in die damals auch das Rettungsboot mit den Schiffbrüchigen der untergegangenen „Germania“ eingelaufen war. Sehr bald bemerkte er dann eine breite Öffnung in den Uferbergen und erkannte auch einige eigenartig geformte, allein stehende Felsen wieder, so daß er ganz sicher war, daß er die ihm bereits bekannte Bucht vor sich habe.
Allerlei abenteuerliche Erinnerungen tauchten jetzt in ihm auf, als er seine Augen über das Landschaftsbild hinschweifen ließ, das sich seinem Gedächtnis fest eingeprägt. Lag doch jene Zeit, wo er mit seinen Leidensgefährten hier so seltsame Dinge erlebt hatte, kaum ein Vierteljahr zurück.
Plötzlich aber blieb sein Blick auf einem Boot haften, das am Nordufer der Bucht ein Stück auf das Land gezogen war. Unwillkürlich zuckte er wie in leisem Schreck zusammen. Lagen doch in dem aus einem ausgehöhlten Baumstamm gefertigten Nachen ein paar Ruder, die über die Bordwand hinausragten, weiter auch ein halb im Wasser hängendes Netz, von dem große Tropfen herabrieselten. Ohne Zweifel war das Boot also eben erst von den Leuten, die in ihm auf Fischfang ausgezogen waren, verlassen worden.
Sofort wendete er und suchte schleunigst wieder die hohe See zu gewinnen, da sein ganzes Vorhaben von vornherein in Frage gestellt war, wenn er von den Leuten des Sultans von Sangar, die hier auf der Insel hausten und denen sicherlich auch der Nachen gehörte, gesehen wurde.
Mißtrauisch musterte er jetzt die Felshöhen, die die Bucht einschlossen, während sein flinkes Boot dem Meere wieder zustrebte. Zum Glück traf auch hier der Nordwestwind mit genügender Stärke hinein, um die Segel zu füllen. Weit und breit war jedoch kein Mensch zu erblicken.
Da – hatte er sich getäuscht? – dort oben auf der Felswand hinter einem mit gelben Blüten übersäten Busch war eine Gestalt soeben aufgetaucht, aber schnell wieder verschwunden.
Schärfer blickte er hin, vermochte jedoch nichts Verdächtiges mehr zu erkennen. Vielleicht hatten ihn seine Augen wirklich genarrt, zumal das grelle Sonnenlicht, das mit silbernem Widerstrahlen auf dem Wasser gleißte, ihn nur zu sehr blendete.
Unschlüssig, was er unter diesen Umständen tun solle, ließ er seinen kleinen Segler zunächst geradeaus ein weites Stück in das offene Meer hinauslaufen. Dann war er mit sich einig geworden. Es schien ihm ratsamer, lieber etwas allzu vorsichtig zu sein, als aus Bequemlichkeit seine Absichten selbst störend zu durchkreuzen. Am besten war, wenn er denselben Kurs unaufhaltsam weiter verfolgte, bis die Insel wieder seinem Gesichtskreis entzogen war. Dann durfte er hoffen, daß ein heimlicher Späher den Eindruck gewann, als ob er nur zufällig in die Bucht eingebogen sei und seine Fahrt nach einem fernen Ziele ruhig fortsetzte. Nach Eintritt der Dunkelheit konnte er sich der Insel abermals nähern und einen anderen natürlichen Hafen aufsuchen. Licht genug, um sich zurechtzufinden, spendeten ja der reich ausgestirnte, südliche Himmel und der Mond, dessen volle Scheibe auch in der verflossenen Nacht das weite Meer mit einer breiten, schillernden Bahn übergossen hatte. – –
Als die Dämmerung anbrach, befand sich Kramer im Norden der Insel. Schnell senkte sich die Dunkelheit herab, und in flotter Fahrt hielt er nun auf das von der Sunda-See umspülte Fleckchen Erde zu.
Eine halbe Stunde später lief das kleine Boot mit gerefften Segeln auf eine schmale Halbinsel zu, die sich von der Nordspitze der Insel wie eine Nadel weit in das Meer hineinerstreckte. Auch hier gab es eine schwache Brandung, die durch vorgelagerte Riffe hervorgerufen wurde. Diese zeigten jedoch so viele Zwischenräume ruhigen Wassers, daß selbst zu dieser Stunde das Durchqueren des schäumenden, brausenden Gürtels keine Schwierigkeiten bot. An der Ostseite der Landzunge entlangfahrend, suchte Kramer mit Hilfe seines Fernrohres, das auch in dem jetzt herrschenden Zwielicht gute Dienste leistete, nach einer Flußmündung oder Bucht, die ihm einen sicheren Ankerplatz gewähren würde. Tatsächlich fand er dann gerade dort, wo die Halbinsel mit der Ostküste beinahe einen rechten Winkel bildete, einen ins Innere sich erstreckenden, kaum zwanzig Meter breiten Wasserarm, der durch eine in der Mitte angeschwemmte Sandbank als Austrittsstelle eines Flüßchens gekennzeichnet war.
Nachdem er geschickt die rechte Fahrrinne durchmessen hatte, ließ er den kleinen Anker fallen, der auch sofort sich auf dem Grunde einbohrte. Hier mitten zwischen den beiden von Bäumen und Büschen umsäumten Ufern glaubte er sich wenigstens für diese Nacht geborgen. Da er seit dem Verlassen der „Amsterdam“ nur wenig geschlafen hatte, überkam ihn die Müdigkeit mit solcher Gewalt, daß er sich in die Kajüte einschloß, seine Schußwaffen bereitlegte und sich angekleidet auf ein Kojenbett warf. In wenigen Minuten war er eingeschlafen. Nichts störte seinen Schlummer. Als er dann endlich erwachte, flutete durch das schmale Oberlichtfenster bereits die Sonne in breitem, leuchtendem Streifen in den niedrigen Raum hinein.
An Deck fand er alles in Ordnung. Friedlich lag der Fluß da, lustig tummelten sich in den Bäumen des Ufers allerlei Vögel umher, während drüben auf der Sandbank regungslos wie tote Baumstämme ein paar Krokodile sich sonnten.
Nachdem Kramer mit bestem Appetit gefrühstückt hatte, brachte er sein Fahrzeug nahe an das rechte Ufer heran, indem er das Ankertau nachließ und den Bootshaken zum Schieben benutzte. Mit Doppelbüchse und Revolver bewaffnet sprang er dann an Land, während die Strömung den kleinen Segler wieder nach der Mitte des Flusses herumschwenken ließ. Um an Bord trockenen Fußes zurückgelangen zu können, hatte der junge Deutsche am Heck eine lange Leine befestigt, deren anderes Ende er jetzt an dem Wurzelwerk eines halb im Wasser stehenden Baumes derart befestigte, daß die Leine untersank und nicht leicht bemerkt werden konnte. Hierauf schritt er, die Büchse stets schußfertig im Arm, am Ufer entlang dem Innern der Insel zu, um irgendwo, vielleicht in einem schmäleren Seitenarm des Flüßchens unter überhängenden Zweigen, ein geeignetes Versteck für das Boot zu suchen.
Dieser Teil der Insel war ihm noch völlig unbekannt, da er bei seiner ersten Anwesenheit sich lediglich auf der westlichen Seite, dort, wo die Bucht sich bis nach dem Binnensee hinzog, aufgehalten hatte.
Das Landschaftsbild war denn auch hier ein völlig verschiedenes. Felspartien fehlten gänzlich. Der Boden war zum Teil sumpfig, bald wieder hügelig. Gräser von 2 bis 3 Meter Höhe und riesige Farne bildeten mit scharfduftenden Sträuchern einzelne Dickichte, in die keines Menschen Fuß einzudringen vermochte. Bambuswälder mit Schößlingen von einer Länge, wie sie nur die feuchtwarme Luft der Tropen hervorbringt, wechselten mit Gruppen von Palmen aller Art, Pisang- und Rasamalabäumen ab. Vereinzelt traf er auch auf Brotfrucht- und Teakbäume[1]. Während der Rasamala den höchsten aller Vertreter der tropischen Pflanzenwelt darstellt – erreicht er doch eine Länge von 120 Meter –, kann man den Brotfruchtbaum mit Recht als den dicksten und nützlichsten bezeichnen. Dieser wird zwar nur 12 bis 18 Meter hoch, besitzt dabei aber einen Durchmesser, der stets etwa der halben Länge gleichkommt. Seine 40 Zentimeter[2] langen und 24 Zentimeter dicken, fleischigen Früchte enthalten in unreifem Zustande ein weißes, mehliges Mark und bilden für die Eingeborenen der Sunda-Inseln und der Südsee das vorzüglichste Nahrungsmittel. Drei Bäume genügen für die Ernährung eines Menschen jahraus, jahrein, denn während der drei Monate, wo der Baum keine Früchte trägt, leben die Insulaner größtenteils von dem eingemachten Mark. Nicht zu verwechseln ist dieser Mehl spendende, dicke Tropenbewohner mit dem Affenbrotbaum oder Baobab[3], der ebenfalls einen ungewöhnlich großen Stammumfang hat. –
Da es überall freie, nur mit Alanggras bewachsene Stellen zwischen diesen Baum- und Strauchgruppen gab, kam Fritz Kramer ziemlich schnell vorwärts. Doch seine Hoffnung, daß der Fluß ihm einen verborgenen, günstigen Liegeplatz für sein Boot bieten würde, erfüllte sich erst nach einer mehr als halbstündigen Wanderung, bei der er reichlich Gelegenheit hatte, auch das Tierleben dieses Inselteiles kennenzulernen. So erblickte er in einer morastigen Ausbuchtung des Flusses drei Rhinozerosse, ferner Wildschweine, zwerghafte Moschushirsche, unzählige Vogelarten und die verschiedensten Insekten, darunter Schmetterlinge von einer Größe und Farbenpracht, wie sie die gemäßigte Zone auch nicht im entferntesten aufzuweisen hat.
Nachdem er dann endlich einen Seitenarm des in weitem Bogen nach Westen zu sich hinschlängelnden Flusses entdeckt hatte, der seinen Wünschen als Liegeplatz für das Boot entsprach, kehrte er um und schritt, in einem weiten Bogen ausholend, wieder nach Norden zu.
Auch die Stellen der Insel, die er auf diese Weise neu kennen lernte, unterschieden sich kaum von dem bisher geschauten Landschaftsbilde. Es waren dieselbe vielgestaltige, üppige Pracht der Pflanzenwelt, dieselben eigenartigen Erscheinungen des Tierreiches wie vorhin.
Jetzt überquerte Kramer eine ziemlich ausgedehnte Lichtung, in der sich nur eine einzige Buschinsel befand. Schon wollte er achtlos vorübergehen, als er auf einer schmalen, offenen Stelle dieses gut fünf Meter hohen, von Lianen und Dornen durchschlungenen Dickichts ein seltsames, über ein Meter langes, hochbeiniges Tier erblickte, das auf den Hinterbeinen saß und ihm furchtsam entgegenstarrte. Im ersten Augenblick wußte er nicht, welcher Art dieses Mittelding zwischen Hirsch und Schwein war. Dann besann er sich, im Zoologischen Garten in Batavia dieselben merkwürdigen Geschöpfe gesehen zu haben.
Es war ein Babirussa, ein Hirscheber, der diesen Namen seinem einem Hirsche gleichenden Körperbau verdankt, während er sonst alle Merkmale der Zugehörigkeit zu der ihres Fleisches wegen so sehr geschätzten Familie der Schweine zeigt. Das männliche Tier besitzt zwei nach oben gerichtete, sehr lange, starke Hauer und ist ein recht gefährlicher Angreifer.
Neugierig, aber mit größter Vorsicht, trat Kramer zwischen die wie Wände emporragenden, kaum drei Meter auseinanderstehenden Gebüschstreifen, um den Babirussa, der offenbar schwer krank war und sich nicht erheben konnte, näher zu betrachten.
Jetzt war er nur noch wenige Schritte von dem Tiere entfernt, das zwar den Kopf mit den weißen Stoßzähnen drohend gesenkt hatte, sonst aber sich nicht vom Platze rührte. Noch zwei Schritte, und es wurde dem jungen Deutschen klar, weshalb der Hirscheber nicht an Flucht oder einen Angriff dachte: dieser seltsame Bewohner der Sunda-Inseln war durch einen festen Strick mit den Hinterläufen an einen in die Erde gerammten Pfahl angebunden.
Ehe Kramer noch eine Erklärung für diese auffallende Tatsache fand, ertönte plötzlich hinter ihm ein so wildes Hohngelächter, daß er entsetzt herumfuhr.
Wie Schuppen fiel es ihm jetzt von den Augen, als er mit einem einzigen Blick bemerkte, daß ihm der Ausweg aus dieser Lücke des Dickichts durch ein Gitter hoher Bambusstäbe versperrt war, das irgend jemand von der Seite her vorgeschoben hatte. Er war in eine Tigerfalle geraten, von deren Einrichtung er in Batavia gerade genug gehört hatte, um zu wissen, daß ein Entweichen aus einem solchen im Buschwerk versteckten Bambuskäfig so gut wie unmöglich ist.
Abermals gellte ihm jetzt das triumphierende Lachen seiner in dem Gebüsch versteckten Feinde in die Ohren. Von maßloser Wut über diese Heimtücke gepackt, riß er jetzt die Büchse hoch und feuerte aufs Geratewohl zwei Schüsse in die Sträucher nach der Richtung ab, woher die gelle Lache erklungen war.
Gleichsam wie ein Widerhall des doppelten Knalles seines Gewehres ließ sich im Hintergrunde der absichtlich zu diesem Zweck ausgehauenen Buschöffnung, in die der junge Deutsche ahnungslos eingedrungen und nun wie ein Raubtier gefangen war, das gereizte Brüllen eines Tigers vernehmen. Unter diesem grollenden Klang begannen nun auch Fritz Kramers Nerven zu erzittern. Mit bebenden Händen lud er, ohne recht zu wissen, was er tat, seine Büchse … Da – mit einem Male fing ein Stück der grünen Rückwand dieser kleinen Blöße sich zu bewegen an, verschwand rauschend zur Seite, so daß dieser mit frischen Zweigen durchflochtene Rahmen nun ein Bambusgitter und dahinter die schlanke Gestalt eines Javatigers enthüllte, der bekanntlich etwas kleiner und dunkler gefärbt als der indische Königstiger ist.
In diesem Gitter, das einen zweiten Käfig abteilte, war eine niedrige Tür angebracht, von der ein Strick schräg in das Gestrüpp lief.
Kramer ahnte, was kommen würde. Die Tür ließ sich von weitem aufziehen, und dann konnte die Bestie ungehindert zu ihm hinein … Kaum war dieser Gedanke blitzartig in ihm aufgetaucht, als er auch schon bemerkte, daß der Strick sich straff spannte und die kleine Gitterpforte nach dem Nachbarkäfig hin aufschlug.
Die gelblichbraunen Augen der großen Katze hatten kaum den eben entstandenen Weg nach dem menschlichen Feinde hin entdeckt, als der Tiger sich auch schon vorwärtsschnellte und dem jungen Deutschen kaum Zeit ließ, die Büchse hochzureißen.
Ob eine[4] der beiden Kugeln, die er schnell hintereinander abfeuerte, getroffen hatte, wußte Kramer nicht. War es der Fall, so wurde das geschmeidige Raubtier dadurch jedenfalls in keiner Weise in seinem Angriff aufgehalten. – Noch ein letzter, langer Satz, und der Tiger flog im Bogen auf den abenteuerlustigen Mechaniker zu, der zu seiner Verteidigung nur noch den Lauf seines Gewehres der Bestie in den halb geöffneten Rachen stoßen konnte. Dann wurde er umgerissen, fühlte den stinkenden Atem der Katze dicht über sich und im Gesicht und an der Schulter einen heftigen Schmerz, der ihm fast augenblicklich die Besinnung raubte.
Als er nach Stunden wieder zum Bewußtsein kam, stand die Sonne bereits hinter den hohen Urwaldbäumen der Westküste. Es dauerte geraume Zeit, bis er sich an die Vorgänge im einzelnen erinnern konnte, denen es zuzuschreiben war, daß er sich hier inmitten einer Bambustigerfalle in einer Blutlache schwimmend, wiederfand.
Mühsam richtete er sich mit dem Oberkörper auf und schaute sich um. Seine Büchse war verschwunden, ebenso der Revolver und der ganze Inhalt seiner Taschen. Nichts hatten die hinterlistigen Feinde ihm gelassen, als sein Notizbuch, das ihnen wahrscheinlich ganz wertlos erschienen war. Sicherlich waren sie des Glaubens gewesen, er sei tot, und hatten sich deshalb nicht weiter um ihn gekümmert.
Auch der Tiger und der Hirscheber waren nirgends mehr zu sehen. Nach längerem Nachdenken sagte Fritz Kramer sich, daß er die anspringende Bestie doch wohl tödlich getroffen haben müsse. Sonst hätte diese ihn sicherlich vollständig zerfleischt, während er doch in Wirklichkeit mit einem Tatzenhiebe auf die Schulter, dessen Kraft nicht allzu groß gewesen sein konnte, und einem zweiten über die linke Schläfe und Wange, den der Tropenhelm halb abgefangen hatte, davongekommen war.
Freilich – die Wunden brannten wie Feuer, und den rechten Arm vermochte er vor Schmerzen im Schultergelenk kaum zu bewegen. Trotz des Blutverlustes gelang aber das Aufstehen recht leidlich, und nach den ersten unsicheren Schritten fühlte er seine Kräfte zusehends zurückkehren, was er wohl hauptsächlich dem Umstande zu verdanken hatte, daß er von Jugend an seinen Körper durch Leibesübungen gestählt und an Anstrengungen gewöhnt hatte.
Kramer mußte nun zunächst versuchen, auf irgend eine Weise aus dem Bambuskäfig herauszukommen. Von diesem sah er nur die bewegliche Vorder- und Rückseite mit der Gitterpforte, die in den zweiten Käfig führte. Die Bambusstäbe zu erklettern, war für ihn ausgeschlossen. Schließlich kam er auf den Gedanken, ein Loch in die Erde zu graben, das ihm das Hindurchkriechen gestattete. Doch wie lange dauerte es, ehe er damit fertig wurde …! Ein Schwächeanfall zwang ihn zu einer Arbeitspause von gut einer Stunde. Als Werkzeug gebrauchte er den zugespitzten Pfahl, an den der Hirscheber als Lockspeise für einen Tiger – und leider auch für ihn! – angebunden gewesen war und den die Leute, die Kramers Waffen und Tascheninhalt geraubt hatten, achtlos bei Seite geworfen hatten. Eilig, soweit dies seine geschwächten Kräfte zuließen, strebte er der Flußmündung zu, wo sein wackeres Boot vor Anker lag.
Nein – nicht lag … – Gelegen hatte …! Als er die Stelle des Ufers erreichte, an der er den Strick an die Baumwurzel geknüpft hatte, fand er den kleinen Segler nicht mehr vor. Auch der Strick war verschwunden. Nur ein Stück davon hing noch an der Wurzel. Es war mit einem Messer durchschnitten worden, nicht etwa durchgescheuert oder abgerissen. Dies sagte genug. Das Boot hatte man ihm geraubt, und damit auch all die Dinge, die er in Batavia für seine Ausrüstung zu dem ungewöhnlichen Unternehmen so sorgfältig ausgewählt und so teuer bezahlt hatte …!
Einen Augenblick wollten Verzweiflung und Mutlosigkeit den jungen Mechaniker schier zu Boden drücken. Aber seine Tatkraft, die ihm schon über so manche schwierige Lebenslage hinweggeholfen hatte, gewann schnell wieder die Überhand. Hier hieß es nicht: „Ehre verloren, alles verloren“, sondern: „Mut verloren, alles verloren …!“– Und diese Erkenntnis ließ ihn nicht lange sich unnütz mit Betrachtungen über seinen unersetzlichen Verlust abgeben, sondern spornte ihn zu schnellen Entschlüssen an.
Nachdem Kramer sich in seine Jacke, die er zu einem Beutel zurechtknotete, eine ganze Menge eßbarer Früchte gesammelt hatte, schritt er der Halbinsel zu, die einen lichten Baum- und Strauchbestand besaß. Stellenweise war sie kaum 20 Meter breit. Und gerade an einer solchen Stelle entdeckte er einen von Riesenkürbissen dicht umrankten Brotfruchtbaum, auf dessen Geeignetheit als vorläufige Wohnung er nur durch einen merkwürdigen Zufall aufmerksam wurde. Durch das Geräusch des sich nähernden Menschen aufgescheucht, flüchtete nämlich plötzlich eine malaiische Bärin mit zwei Jungen aus dem Blattgewirr der Kürbisgewächse heraus und eilte im Bogen um Kramer herum der Insel zu. Der malaiische Bär ist bedeutend kleiner als seine sonstigen Namensvettern und ein überaus geschickter Kletterer. Einem erwachsenen Menschen wird er kaum gefährlich. Er lebt fast ausschließlich von Pflanzen und wird von den Eingeborenen hauptsächlich seines wertvollen Pelzes wegen gejagt.
Das Auftauchen dieser Mutter Petz mit ihren beiden possierlichen Sprößlingen brachte Kramer auf die naheliegende Vermutung, daß der Brotfruchtbaum, der gut vier Meter Durchmesser hatte, wahrscheinlich wie die meisten seiner Art hohl sein müsse. Diese Vermutung fand er dann wirklich bestätigt. Der Stamm war dicht über dem Boden bis zu Manneshöhe vollkommen ausgefault und konnte bequem durch einen schmalen, niedrigen Spalt betreten werden. Dieser Eingang lag so versteckt unter den dichten Kürbisranken, daß er sehr schwer zu bemerken war.
Obwohl es nun in der Bärenbehausung nicht gerade angenehm duftete, bezwang Kramer doch seinen Widerwillen gegen diesen „Menageriegeruch“ und richtete, so gut es bei der zunehmenden Dunkelheit möglich war, das Bauminnere für sich selbst her, indem er den darinliegenden Unrat entfernte und frisches Gras zu einer Lagerstätte aufschichtete. Dann erst gönnte er sich die Zeit, auch für seine Wunden zu sorgen. Er wusch sie am Meeresstrande aus, riß sein Hemd in Stücke und brauchte es als Verbandszeug. Da er gelegentlich seines Aufenthaltes in Batavia einmal gesehen hatte, wie ein eingeborener Fischer, der sich den Arm verletzt hatte, zur Verhütung einer Eiterung zerstampfte und angefeuchtete Blätter des Brotfruchtbaumes sozusagen als Wundsalbe benutzte, tat er dasselbe und merkte auch bald eine bedeutende Linderung der Schmerzen. Recht erschöpft legte er sich dann, nachdem er noch einige Früchte verzehrt hatte, auf sein Grasbett zum Schlafe nieder. Um den Eingang der Baumhöhle zu versperren, waren von ihm vorher noch die mitgebrachten Bambusstangen vor demselben möglichst tief in die Erde gebohrt und durch Lianen untereinander verknüpft worden. Als Waffe hatte er sich am Strande einen länglichen Stein aufgelesen, der eine leidliche Keule abgab.
Sehr bald war er eingeschlummert, erwachte aber bereits nach einigen Stunden wieder, geschüttelt von einem heftigen Wundfieber, welches ihn drei Tage lang in seiner engen, runden Behausung festhielt und so entkräftete, daß er langsam erst wieder durch allmähliche Steigerung körperlicher Anstrengungen seine alte Frische zurückgewinnen konnte. Später erst erkannte er, wie vorteilhaft gerade diese kurze Krankheit für ihn gewesen war. Hatten die Tierwächter des Sultans von Sangar durch sein Verschwinden doch die Überzeugung gewonnen, daß er Raubtieren zum Opfer gefallen sein müsse, nachdem es ihm gelungen war, aus der Tigerfalle herauszugelangen.
In den ersten Tagen seiner Genesung beschränkte er sich bei seinen Spaziergängen lediglich auf die Halbinsel, wobei er stets ängstlich kahle Stellen vermied, wo er leicht von der Insel aus hätte gesehen werden können. Zu seiner wirklich unaussprechlichen Freude fand er dann zufällig in dem Futter seiner Weste unter der linken, aufgetrennten Uhrtasche ein kleines Federmesser mit zwei Klingen, das er bisher stets nur als Zigarrenabschneider benutzt hatte.
Von Hause aus mit einem selten praktischen Blick und als gelernter Mechaniker mit ebenso großer Handfertigkeit ausgestattet, begann er, sobald er sich wieder etwas bei Kräften fühlte, mit dem Bau einer Armbrust, deren Schaft er aus weichem Holz schnitzte, während er als Lauf, in dem in einem durchgehenden Spalt die Bogensehne hochschnellte, ein passendes Stück Bambusrohr verwandte. Als Bogen wieder benutzte er den Sprößling einer Pflanze, die mit der das bekannte Malakkarohr liefernden Rotangpalme einige Ähnlichkeit hatte.
Er ließ sich bei dieser Arbeit vollauf Zeit, um eine wirklich brauchbare Schußwaffe zu erhalten. Manche Teile änderte er, wenn etwas Besseres ihm einfiel, um. Da ihm die Messerklingen allein als Handwerkszeug nicht genügten und er sie außerdem schonen wollte, suchte er solange, bis er die richtigen Steine gefunden hatte, die er als Raspel, Säge, Hammer und Stemmeisen bei einiger Geduld und Geschicklichkeit gebrauchen konnte.
Eine ganze Woche tat er nichts, als nur an den Teilen der Armbrust herumzubasteln. Es machte ihm Freude, alles möglichst sauber und eigen herzustellen. Dafür erlebte er aber auch die Freude, daß das Werk schließlich über Erwarten gut gelang. Die etwa 15 Zentimeter langen Pfeile hatte er mit Spitzen versehen, die aus harten, großen Dornen bestanden, ferner auch mit einer Fiederung am anderen Ende, um den Flug dieser Geschosse gleichmäßiger zu gestalten. Nicht geringes Kopfzerbrechen hatte ihm auch die Sehne bereitet, die notwendig sehr haltbar sein mußte. Er fertigte sie dann aus zu einem mehrsträhnigen Strick verflochtenen dünnen Lederriemen an, die ihm sein Ledergürtel lieferte.
Gleich die ersten Schießversuche zeigten, daß der elastische, kräftige Rohrbogen die Pfeile mit erheblicher Durchschlagskraft bis fünfzig Schritt weit schleuderte. Sehr bald erlangte Kramer dann in der Handhabung dieser Waffe eine Fertigkeit, die ihn mit jedem glücklichen Treffer den Verlust der Büchse mehr und mehr verschmerzen ließ.
Auf die Armbrust folgten zwei Lanzen aus Bambusrohr mit Spitzen aus passend geformten Steinsplittern, weiter eine Axt mit langem Stiel und einer Schneide, die ebenfalls aus einem scharfen Steinsplitter bestand, der in das Holz eingelassen war.
Jetzt erst, nachdem er es wagen durfte, sowohl zwei- wie vierbeinigen Feinden gegenüberzutreten, dachte Kramer auch daran, seine Baumbehausung ein wenig behaglicher einzurichten. Daß er sich hierbei nicht minder erfinderisch zeigte wie als Waffenschmied, braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden.
So waren seit seiner Landung auf der Insel reichlich zwei Wochen verstrichen. Während dieser Zeit führte unser Robinson insofern das reinste Schlaraffenleben, als er sich zur Stillung seines Hungers die nötigen Früchte nur von den nahen Bäumen und Sträuchern zu pflücken brauchte. Freilich – dies bequeme Beschaffen der Nahrungsmittel war und blieb das einzige, was Kramers Leben zu einem Schlaraffen-, das heißt einem Nichtstuerdasein gestaltete. Im übrigen war er ein viel zu reger, schaffensfroher Geist, um sich einer entnervenden Untätigkeit hinzugeben. Kaum hatte er zum Beispiel seine Wohnung sich gemütlicher gemacht, als er auch schon an eine dritte, größere Arbeit heranging: die Anfertigung eines Anzuges aus Leder, der seinen durch die Tigerkrallen übel zugerichteten Leinenanzug ersetzen sollte. Diesen hier auf der Insel zu tragen, hatte keineswegs in seiner Absicht gelegen. Vielmehr wollte er nach der Landung einen aus einem derben grüngrauen Stoff hergestellten Jagdrock mit gleichfarbigen Kniehosen benutzen. Beide waren ihm jedoch zugleich mit dem Boot entwendet worden.
Um sich nun die nötigen Tierfelle zu besorgen, unternahm er eines Morgens noch vor Sonnenaufgang eine Streife nach jener Gegend hin, wo er damals seinen Feinden so leicht im vollsten Sinne des Wortes in die Falle gegangen war. Er fand auch die Lichtung mit der einzelnen Buschinsel, deren Dickicht den Käfigen als Vorhang gedient hatte, unschwer wieder. Aber die Falle selbst war inzwischen fortgeschafft worden.
Und doch sollte er an diesem selben Platz noch ein zweites, vielleicht nicht minder gefährliches Abenteuer erleben.
Da er gern feststellen wollte, wie die Untergebenen des Sultans von Sangar in das so undurchdringlich erscheinende Dickicht hineingelangt waren, um gut verborgen im rechten Augenblick den Käfig schließen zu können, umschritt er die Buschinsel und musterte genau das Zweig- und Rankengewirr, von dem er vermutete, daß es an einer Stelle beweglich sein und einen Eingang in die Dickung wie ein Vorhang verhüllen müsse.
Er hatte sich nicht getäuscht. Bei scharfem Hinsehen erregte besonders eine Menge herabhängender Lianen seine Aufmerksamkeit, und als er nun mit der Lanze diese bei Seite schob, fand er dahinter tatsächlich einen schmalen, in dem Dickicht ausgehauenen Pfad, der sich an einer breiteren Stelle teilte. Obwohl er nur langsam vordrang, prallte er doch entsetzt zurück, als sich aus dem Grase vor ihm urplötzlich eine geradezu riesige Brillenschlange mit kampflustig aufgeblasener Haube hochschnellte. Nur ein Sprung nach rückwärts rettete ihn davor, mit den Giftzähnen des Reptils Bekanntschaft zu machen.
Nach diesem mißglückten Angriff wollte die Brillenschlange schleunigst in das Gebüsch schlüpfen. Aber Kramers Lanze nagelte sie mit gutgezieltem Wurf an den Boden fest. Bald hatte er sie vollends getötet. Dem gut vier Meter langen Reptil schlug er dann den Kopf ab, den er auf eine Lanzenspitze spießte und zu einem ganz bestimmten Zweck mitnahm.
Nachher gelang es ihm dann auch, drei Zwergmoschushirsche zu erlegen, die ebenso wie das in Zentralasien heimische Moschustier am Bauche einen besonderen Moschusbeutel besitzen, der den als Droge viel benutzten, scharf riechenden Moschus enthält. Diese auf den Sunda-Inseln in fünf Arten vertretenen kleinen Hirsche werden nur 60 bis 70 Zentimeter hoch. Sie haben kein Geweih, sondern bei den Männchen sind nur die Schneidezähne hauerartig verlängert. Trotz ihrer geringen Größe aber wird ihr Fell auf den malaiischen Inseln zu allen feineren Lederarbeiten verwendet, da es sehr weich und dauerhaft ist und einen unaufdringlichen Moschusgeruch jahrelang behält.
Nach der Rückkehr von diesem Jagdausfluge machte sich Kramer sofort daran, die erbeuteten Wilddecken zu gerben. In dieser Kunst besaß er zwar nur angelesene Kenntnisse, trotzdem erhielt er aber schließlich tadellos weiche Lederstücke, die sich leicht zu einer Jacke zurechtschneiden und mit Hilfe der zu Sehnen gedrehten Därme der Zwerghirsche zusammennähen ließen, wobei er allerdings diese festen Fäden durch mit dem Messer gebohrte unzählige Löcher hindurchziehen mußte. Da die drei Wilddecken für einen Anzug jedoch nicht ausreichten, sah er sich gezwungen, auch abends noch einige Male sich am Flusse auf die Lauer zu legen.
Inzwischen hatte er sich aus Baumrinde auch einen Köcher für die Armbrustpfeile und aus Bast eine Jagdtasche angefertigt. Ferner war von ihm der Inhalt der Giftdrüsen des Brillenschlangenkopfes dazu benutzt worden, die Dornspitzen der meisten Pfeile mit einer Giftschicht zu überziehen. Auf diese Weise gestaltete er seine Schußwaffe zu einem höchst gefährlichen Schießwerkzeug um.
Nach Ablauf der dritten Woche seines Aufenthaltes auf der Insel glaubte er dann die Zeit gekommen, der Tempelruine einen Besuch abzustatten, in der ohne Frage jener unglückliche Landsmann von ihm, der Diamantenhändler Parlitz, gefangengehalten wurde. Da er von den Leuten des Sultans mittlerweile nichts mehr bemerkt hatte, war er zu der Überzeugung gelangt, daß sie ihn für tot hielten und deshalb ihre Nachstellungen aufgegeben hatten. So traf er denn die nötigen Vorbereitungen für eine längere Abwesenheit von seiner recht behaglichen Baumwohnung. Insbesondere vermehrte er seinen Vorrat an Armbrustpfeilen. Die neuen Geschosse stellte er etwas länger her, da ihm verschiedene Versuche gezeigt hatten, daß er mit längeren und leichteren Pfeilen bessere Trefferergebnisse erzielte. Ebenso gab er dem Rohrbogen der Armbrust eine noch größere Kraft, indem er ihn durch ein zweites, kürzeres Rohrstück verstärkte. Um die Waffe jetzt zu spannen, mußte er sich schon ganz gehörig anstrengen. Dafür schleuderte aber auch die Ledersehne die neuen Pfeile noch mit erheblicher Wucht bis auf siebzig Schritt. – Schließlich arbeitete er sich noch aus Leder an Stelle des weißen, weithin sichtbaren Tropenhelmes einen breitkrempigen Hut, den er durch einen Federstutz verzierte. Für alle Fälle füllte er seine Jagdtasche auch mit Früchten und eine ausgehöhlte Kokosnuß, die zu einer Feldflasche umgewandelt war, mit Flußwasser, dem er wie immer durch den Saft einer sauren Beere den faden Geschmack benahm.
Mit Sonnenaufgang trat er dann an einem klaren Tage seine Wanderung an. Er ahnte nicht, als er seine Baumwohnung verließ, daß er diese nie wiedersehen würde.
Welche Menge von Raubtieren die Insel beherbergte, konnte er bei diesem Ausfluge beobachten, der ihn stundenlang immer nach Süden zu bald durch Grassteppen, bald am Rande von Urwäldern und durch weites Buschgelände führte. Zweimal traf er auf schwarze Panther, die gerade einige friedlich weidende Moschushirsche beschleichen wollten, bei seinem Nahen aber blitzschnell verschwanden. Dann wieder hörte er aus einem dichten Gebüsch das dumpfe Brüllen eines Tigers, den vielleicht irgend ein anderes Tier bei der Mahlzeit gestört hatte. Ferner sah er auch drei Nebelparder, als er die Lichtung eines Urwaldes durchquerte. Eines von diesen dem Tiger verwandten, ein Meter langen, weißgrauen und schwarz gefleckten Raubtieren, bei denen besonders der stumpfe Kopf, der lange Schwanz und die niedrigen Beine auffallen, hatte gerade einen kleinen, noch jämmerlich kreischenden Affen in den Krallen. Eine bessere Gelegenheit, seine Armbrust auch auf ein stärkeres Wild zu erproben, konnte Fritz Kramer kaum finden. Der Nebelparder war so mit seiner Beute beschäftigt, daß er den menschlichen Feind, der vierzig Schritt von ihm entfernt hinter einem Busche stand, gar nicht bemerkte. Er lag auf dem unteren Ast eines Brotbaumes und bot mit seiner ganzen Körperlänge daher ein vortreffliches Ziel.
Gleich der erste Pfeil – es war einer mit vergifteter Spitze – bohrte sich tief in den Hals ein. Sofort schnellte die graue Baumkatze, die nur ungern den Boden betritt und zumeist in den Wipfeln der Urwaldriesen umherschweift, hoch, ließ den armen, inzwischen verendeten Affen fallen und schaute sich mißtrauisch nach allen Seiten um. Da jedoch der Wind dem jungen Deutschen günstig war, vermochte das Raubtier ihn in seinem Hinterhalt weder zu erblicken noch zu wittern.
Der Nebelparder suchte jetzt den in seinem Felle steckenden, herabhängenden Pfeil durch Scheuern an dem Baumast zu entfernen, was ihm schließlich auch gelang. Schmerzhaft schien die Wunde, aus der nicht einmal Blut herausfloß, nicht zu sein. Dann aber machte sich schnell die Wirkung des furchtbaren Schlangengiftes bemerkbar. Die graue Katze wurde unruhig, reckte sich und zuckte immer häufiger wie von Krämpfen gepackt zusammen. Bald zeigten sich deutliche Merkmale beginnender Schwäche. Das Tier ließ den Kopf sinken, das pendelnde Wedeln des langen Schwanzes hörte auf und bei einem schmerzhaften Zusammenziehen des Rückens plumpste es schwerfällig in das Gras, schlug hart auf, wollte sich erheben, fiel aber sofort wieder auf den Rücken und verendete nach kurzer Zeit.
Kramer hatte diesen Nebelparder nicht etwa aus bloßer Lust am Morden zur Strecke gebracht. Nein, ihm kam es darauf an festzustellen, wie lange es dauerte, bis das Gift den Tod eines größeren Geschöpfes herbeigeführt hatte. Diese Kenntnis mußte für ihn sehr wertvoll sein. Hier waren etwa vier bis fünf Minuten verstrichen, bevor das Gift der Brillenschlange gewirkt hatte.
Nach diesem ungefährlichen Abenteuer setzte der junge Deutsche seine Wanderung fort. Eine halbe Stunde später passierte er wieder eine Lichtung, auf der nur zwei größere Buschinseln sich erhoben. Diesen ging er vorsichtig aus dem Wege, da er schon gemerkt hatte, daß gerade die großen Katzen, Tiger und Panther, solche Dickichte als Schlupfwinkel bevorzugten. Dann aber stockte plötzlich sein Fuß. In dem durch die anhaltende Dürre recht trocken und fahl gewordenen Grase zeichnete sich deutlich eine breite, hier und da blutige Fährte ab. Die Gräser waren hier in einer Weise niedergedrückt, als habe man ein frisch ausgeweidetes, größeres Tier auf dem Boden entlanggeschleift. Diese weithin sichtbare Spur lief auf eine der Buschinseln zu, denen Kramer soeben in weitem Bogen ausgewichen war, und verschwand in einer Lücke zwischen den Sträuchern.
Der Zweck dieser Fährte war unschwer zu erkennen: sie sollte größeres Raubzeug nach jenem Gebüsch hinlocken, das ohne Frage als Falle hergerichtet war.
Während Kramer noch unschlüssig dastand, ob er sich diese neue Falle nicht etwas näher ansehen solle, hörte er aus demselben Dickicht deutlich eine Stimme hervordringen, die einige malaiische Worte einem ebenso unsichtbaren Gefährten zurief.
Blitzschnell warf er sich lang zu Boden und hob dann nur vorsichtig den Kopf so weit, um über die Spitzen der Gräser hinweglugen zu können. Wenn er bemerkt worden war, mußte er sich auf einen Angriff gefaßt machen. Da drinnen in der Dickung konnten ja nur dieselben Leute stecken, die schon einmal bewiesen hatten, daß sie ihm nach dem Leben trachteten.
Doch Minute auf Minute verrann, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Jetzt wagte er es, auf allen Vieren sich langsam durch die Gräser vorwärts zu schieben, um aus der Nähe der Lockfährte fortzukommen. Unter einer einzeln stehenden Fächerpalme, die einen beträchtlichen Umfang hatte, machte er dann halt und richtete sich hinter dem Stamm auf, der ihn gegen die Buschinsel zu vollkommen verbarg.
Das Dickicht lag nun einige 150 Meter vor ihm. Wieder vernahm er Stimmen, und gleich darauf erschienen in jener Lücke, in die die breite Spur hineinführte, drei Malaien. Ihre Kleidung bestand lediglich aus einem um die Lenden geschlungenen Zeugstreifen. An Waffen besaßen sie unmoderne Vorderladergewehre und den malaiischen, leicht gebogenen Dolch, den Kris. Einer von ihnen hatte jedoch zwei Flinten umgehängt, und dieser lange, hagere Bursche war es, der Kramers Blicke magnetisch auf sich lenkte, weil er eben sowohl des jungen Deutschen Doppelbüchse als auch dessen Revolver bei sich trug.
Die drei gingen im Gänsemarsch auf der Lockfährte entlang und bogen dann um eine Waldzunge herum, durch die sie den Augen des ihnen Nachschauenden entzogen wurden.
Kramer wartete noch eine gute Viertelstunde. Jetzt erst war er ganz beruhigt. Die Malaien, die vorhin in dem Dickicht sicherlich bei der Falle beschäftigt gewesen waren, hatten ihn nicht bemerkt.
Die Neugier trieb ihn nun doch nach dem Dickicht hin. Er wollte gerne wissen, wie ein solcher Bambuskäfig eingerichtet war, der sich selbsttätig hinter einem Raubtier schließen sollte. Daß man einen Tiger oder Panther nicht auf dieselbe Weise fangen konnte, wie dies bei ihm geschehen war, erschien ihm selbstverständlich. Ihr feiner Geruchssinn hätte den Bestien schon von weitem die Anwesenheit eines Menschen in der Nähe der Falle verraten und sie weggescheucht.
Bald sah er dann, daß er hier dieselbe Falle vor sich habe, in die er selbst damals aus unverantwortlichem Leichtsinn hineingeraten war. Er fand beim Umschreiten der Dickung auch auf der anderen Seite eine Lücke im Gesträuch, die wie ein schmaler Gang auf einen größeren, freien Raum führte. Über diesen Gängen schwebte nun je ein parallel zu der Erde liegendes, in Gabelästen bewegliches und mit Zweigen in ein grünes Dach verwandeltes Bambusgitter, das durch einen Riegel festgehalten wurde, von dem zwei dünne, geflochtene Lederstricke zu dem Pfahl hinliefen, an den die Lockspeise, ein Hirscheber, angebunden war.
Diese Einrichtung war ebenso einfach wie zweckentsprechend. Da kein größeres Raubtier seine Beute gleich da verspeist, wo es sie getötet hat, sondern sie stets noch eine Strecke weit wegträgt, mußte zum Beispiel ein Tiger, der den Hirscheber fortschleppen wollte, die um den Pfahl nur lose herumgelegten und dann an den Beinen des Schweines befestigten Lederstricke so scharf anziehen, daß das Bambusgitter zufiel, wobei es sich gleichzeitig dann mit den zugespitzten unteren Stabenden in die Erde einbohrte und daher nicht wieder aufzudrücken war. Um dies zu verhüten, befanden sich außerdem noch an den Seiten, eben dort, wo die Falltür in geschlossenem Zustande die in den Büschen versteckten Wände des Käfigs berührte, starke hölzerne Haken, die ebenfalls sich beim Zuschlagen des beweglichen Gitterteiles von selbst festkrallten.
Heute, wo Kramer wußte, daß man ihn nicht heimtückisch in einen der Käfige würde einsperren können, ließ er sich reichlich Zeit, alle Einzelheiten dieser Tierfallen, die unter sich durch die kleine Bambuspforte in der Rückwand verbunden waren, zu besichtigen. Hierbei wurde es ihm klar, daß er damals an jenem ersten Vormittag nach seiner Landung auf der Insel offenbar die Malaien gerade beim Instandsetzen der einen Falle überrascht hatte und daß die Eingeborenen dann die sich ihnen lediglich zufällig darbietende Gelegenheit, den weißen Eindringling zu beseitigen, sehr schlau ausgenutzt hatten, indem sie das noch nicht in den Baumgabeln befestigte Gitter im richtigen Augenblick vorschoben.
Nachdem er eine Viertelstunde etwa in der Nähe der Käfige sich aufgehalten hatte, folgte er der deutlich im Grase erkennbaren Spur seiner Feinde. Sehr bald mündete diese Fährte in einen offenbar häufiger begangenen Pfad ein. Kramer war eine Weile unschlüssig, nach welcher Seite hin er diesen schmalen Fußsteig weiter verfolgen solle, der ungefähr von Nordost nach Südwest hinlief. Auf gut Glück wandte er sich dann nach Südwesten zu.
Hier nahm das Gelände allmählich eine andere Beschaffenheit an. Der Boden wurde steinig, stieg langsam an und zeigte hier und da schroffe, kahle Felspartien. Die rein tropische Vegetation verschwand. Der Blütenduft all der zahlreichen Sträucher, die fast zu aufdringlich riechen und ihre Duftmengen oft meilenweit bei schwachem Winde über das Meer hinschicken, wurde immer geringer. (Es ist Tatsache, daß der Seefahrer im malaiischen Archipel und in der Südsee in dunkler Nacht die Nähe solcher von einer üppigen tropischen Flora bedeckten Inseln auf sehr weite Entfernungen hin durch den Geruchssinn festzustellen vermag, worauf in vielen Reiseschilderungen hingewiesen ist.) In einem kleinen Felsentale fand Kramer auch neben Bergkasuarinen einige gut 40 Meter hohe Kampferbäume, deren Wurzelwerk wie schmale Leisten aus dem Boden zur Hälfte herausragte. Der Kampferbaum liefert bekanntlich den zu den verschiedenartigsten Zwecken, so als Arzneimittel, als Schutz gegen Motten und zur Darstellung von Zelluloid, ja sogar als Bestandteil einiger Sprengstoffe, gebrauchten Kampfer, der aus dem zerkleinerten Holz durch Dämpfen in Wasser gewonnen wird. Außerdem enthalten alle Kampferbäume auch reine Kampferkristalle, die sich in ihnen ablagern und die sehr wertvoll sind, weil sie in ganz Ostasien in den Tempeln als Räucherwerk benutzt werden.
Aber gerade diese Veränderung des Landschaftsbildes war es, die den jungen Deutschen belehrte, daß er an seinem Ziele, eben jenem Binnensee, längst vorüber sein und bereits den südlichen Teil der Insel, der ebenso wie die Westküste felsige Höhen aufzuweisen hatte, betreten haben mußte. Er kehrte daher um und verfolgte nun den Pfad in entgegengesetzter Richtung, bis sich zwischen zwei Urwaldkulissen der im Sonnenlicht glitzernde Spiegel eines runden, kleinen Wasserbeckens erkennen ließ, aus dessen Mitte eine flache Felseninsel herausragte, auf der ein halb verfallenes Tempelgebäude stand.
Kramer war am Ziel. Jetzt verließ er den Fußpfad und schritt mit äußerster Vorsicht im Bogen um das Seeufer herum nach Süden zu, da er noch von seiner ersten Anwesenheit auf der Raubtier-Insel her wußte, daß die malaiischen Tierwärter mit ihrem Nachen gewöhnlich am Nordufer zu landen pflegten und er somit hoffen durfte, auf der anderen Seite des Gewässers nicht so leicht einem seiner Feinde zu begegnen.
Inzwischen hatte die Sonne längst begonnen, die abwärtsgehende Kurve ihrer Bahn zurückzulegen. Bis zum Abend – und vorher durfte Kramer nichts unternehmen – hatte er noch genügend Zeit, sich nach einem vorläufigen Versteck umzusehen. Es dauerte jedoch recht lange, ehe er in einem Hain von Kokospalmen, die etwa fünfzig Meter vom Seeufer entfernt ihre schlanken Stämme in die Luft reckten, einen vereinzelten, jungen Rasamalabaum fand, der sich unschwer erklettern ließ und dessen runde, dichte Krone ihn vollständig verbarg. Außerdem hoffte er auch aus den oberen Ästen nach dem vielleicht 300 Meter entfernten Inselchen hinüberspähen zu können.
Von einem starken Ast aus, auf dem er bis zu einer Lücke in dem Laubdach vorwärts rutschte, konnte er dann den kleinen See und das Inselchen mit der Tempelruine bequem überblicken. Letztere war von einer dicht am Rande des Felseneilandes hinlaufenden Mauer umgeben, die ebenso wie das langgestreckte Tempelgebäude mit seinem Säulenvorbau über und über von buntblühenden Schlinggewächsen bedeckt war. Auf dem Platz hinter dem alten Heiligtum erhob sich ein mächtiger Käfig aus Bambusrohr, in dem sich ein paar helle und dunkle Tiere unruhig hin und her bewegten, – fraglos Tiger und Panther, die für den Sultan von Sangar von seinen Leuten eingefangen worden waren. Gerade an diesen Käfig knüpften sich für Kramer recht aufregende Erinnerungen, die mit seinem ersten, unfreiwilligen Besuch der Raubtier-Insel zusammenhingen. – An der Rückseite der Tempelmauer standen ein paar bescheidene Hütten, die wahrscheinlich von den Malaien bewohnt wurden. Von diesen selbst war nichts zu erblicken. Die einzigen lebenden Wesen auf dem See und dem Inselchen waren die gefangenen Bestien in dem hohen, runden Käfig und einige Krokodile, die dicht am Südufer ihre langen Köpfe halb aus dem Wasser herausgestreckt hatten, während zwei andere gerade langsam von der Westseite her auf den Tempel zuschwammen. Daß das Gewässer zahlreiche dieser großen Panzereidechsen beherbergte, war Kramer schon bekannt. Sie waren es hauptsächlich, die er bei seinem gefährlichen Vorhaben zu fürchten hatte. War er doch fest entschlossen, nach Eintritt der Dunkelheit nach dem Inselchen hinüber zu schwimmen. Daß dies bei den vielen Krokodilen ein recht bedenkliches Wagnis darstellte, wußte er nur zu gut. Aber es gab für ihn kein anderes Mittel, nach dem Tempel zu gelangen.
Nachher erwartete er, auf einem Ast an den Stamm gelehnt sitzend, mit Ungeduld den Abend. Sein Ruheplatz war recht bequem, so daß er sogar eine Weile fest schlief. Als er dann erwachte, lagerten schon die Schatten der beginnenden Dämmerung über dem stillen Wasserbecken. Mit der den Tropen eigentümlichen Schnelle brach dann auch sehr bald die Nacht an.
Vorsichtig verließ er nun sein hochgelegenes Versteck, sammelte unter dem Rasamalabaum eine Menge herabgefallener, trockener Äste und trug sie nach dem Ufer hin, wo er aus ihnen ein kleines Floß zusammenfügte, auf dem er seine Waffen, besonders die Armbrust und die Pfeile, und seinen Lederanzug trocken hinüberschaffen wollte.
Als er jetzt in seinen Unterkleidern in das Wasser steigen wollte, zögerte er doch unwillkürlich einen Augenblick. Aber er überwand auch ebenso schnell diesen Anfall von Furcht, schob das Floß vor sich her und watete weiter und weiter in die laue Flut hinein. Als guter, ausdauernder Schwimmer mußte er in wenigen Minuten die Strecke nach dem Inselchen durchmessen haben. Unter möglichster Vermeidung jedes Geräusches führte er die Schwimmstöße aus, um nicht die Aufmerksamkeit einer der Panzereidechsen zu erregen.
Nun – seine Angst vor den starken, zahnbewehrten Kiefern dieser frechen Bestien war überflüssig gewesen. Ohne Zwischenfall langte er an der Südseite des Felseneilandes an, lauschte erst längere Zeit und stieg dann aufs Trockene. Zwischen der Mauer des Tempelhofes und dem Ufer des Inselchens lag an dieser Stelle ein freier Streifen kahlen Gesteins von etwa fünf Meter Breite. Nur etwas nach links hin stand ein einzelner, niedriger Akazienbaum, den die zudringlichen Schlingpflanzen ebenfalls dicht übersponnen hatten. Unter den tief herabhängenden Ranken versteckte Kramer hier seine Waffen bis auf die Axt, schlüpfte dann wieder in seine Kleider, nachdem er sein Unterzeug notdürftig ausgewunden hatte, und schlich an der ziemlich hohen Mauer entlang dem Tore zu, das, wie ihm noch recht gut von früher her in der Erinnerung war, an der Nordseite lag.
Jetzt kam er an eine Stelle, wo zwischen Mauer und See nur ein ganz schmales Felsenstück lag. Gerade hier war erstere nach innen eingestürzt, so daß er, als er dies beim Lichte des eben aufgegangenen Nachtgestirns bemerkte, sofort seinen Plan änderte und hier die Mauer zu übersteigen beschloß.
Um über die oberste Steinschicht hinweg greifen zu können, reckte er sich auf den Zehenspitzen hoch, nachdem er die Axt in den Gürtel geschoben hatte.
Da – plötzlich fiel ein dunkler Schatten auf sein emporgerichtetes Gesicht. Höhnisch grinste eine braune Fratze auf ihn herab. Es war derselbe hagere Malaie, der jetzt seine Büchse und seinen Revolver in Besitz hatte.
Einen Augenblick war Kramer wie erstarrt vor Schreck. Dann wollte er zurückspringen … – Wollte …! Aber schon lag eine feine Lederschlinge über seinem Kopf, die er jetzt durch seine Rückwärtsbewegung zuzog. Er fühlte den schneidenden Druck um seinen Hals, griff mit den Händen zu. Da wurde er auch schon von hinten gepackt, eine Decke flog ihm über das Gesicht, Arme und Beine lagen wie in Schraubstöcken, wurden gefesselt …
All das ging so schnell, daß er kaum recht zum Bewußtsein kam, was eigentlich mit ihm geschah. Dann merkte er, daß er hochgehoben und fortgetragen wurde. Niemand dachte daran, die zugezogene Schlinge zu lockern. Die Besinnung begann ihm zu schwinden. Das letzte, was er vernahm, war noch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren …
Als er wieder zu sich kam, lag er irgendwo auf hartem Boden. Die Decke war noch über seinen Kopf gebreitet, Arme und Beine noch gefesselt.
Langsam hob er den Oberkörper … Da – dicht vor ihm ein paar malaiische Worte, ein kurzer Befehl einer herrischen Stimme.
Die Decke flog herunter, und eine Helle blendete jetzt nach der tiefen Dunkelheit Fritz Kramers Augen, daß er unwillkürlich geblendet die Lider schloß.
Dann umfing sein erstaunter, ungläubiger Blick die seltsame Umgebung, in der er sich befand. – Ein mittelgroßer, achteckiger Raum war’s, mit bunten Steinen getäfelt. Gut zwei Dutzend altertümliche Öllampen hingen an den Wänden und verbreiteten ein ruhiges, rötliches Licht. Kostbare, sicher uralte indische Teppiche bedeckten den Boden. An der Wand, Kramer gerade gegenüber, standen eine Art niedriges Ruhebett, das mit Tigerfellen belegt war, daneben ein Tischchen und ein paar Schemel aus Ebenholz mit eingelegter Elfenbeinarbeit.
Und auf diesem Ruhebett saß ein junger Malaie von auffallend heller Hautfarbe, der in einen gut sitzenden, weißen Leinenanzug gekleidet war. Kostbare Ringe blitzten an seiner Hand, mit der er das Mundstück des Schlauches einer Wasserpfeife wie spielend hin und her bewegte.
Außer ihm befanden sich noch zwei andere Eingeborene in dem Gemach, der lange hagere Tierwärter und ein ebenfalls europäisch gekleideter älterer Mann.
Jetzt begann der auf dem Felldiwan zu sprechen. Er bediente sich der englischen Sprache, die auch Kramer leidlich beherrschte, der mehr neugierig als ängstlich der weiteren Entwicklung der Dinge entgegen sah.
„Du heißt Fritz Kramer, bist vor etwa einem Monat mit dem Dampfer „Amsterdam“, der Dein gut ausgerüstetes Boot an Bord hatte, von Batavia abgefahren und hast Dich nördlich der Postillon-Inseln von dem Dampfer getrennt. – Du siehst, ich weiß alles. Mir ist auch bekannt, daß Dir ein gewisser Herr von Bergstedt die Mittel zur Verfügung gestellt hat, die Du für Dein Unternehmen gebrauchtest.“
Die Stimme des Weißgekleideten hatte einen harten, unangenehmen Klang. Während er sprach, blieb der Ausdruck seines Gesichtes so unbewegt wie in Stein gemeißelt. – Nach kurzer Pause fuhr er fort:
„Du bist es auch gewesen, der gegen meine Diener vor Gericht Zeugnis abgelegt hat, weil sie auf meinen Befehl Euch fremde Eindringlinge, eben die damaligen Schiffbrüchigen des Schnelldampfers „Germania“, unschädlich machen sollten. Deshalb habe ich Dich unausgesetzt heimlich beobachten lassen. Du warst von Spähern umgeben, ohne daß Du es ahntest. – Nun verlange ich ehrliche Auskunft von Dir: was trieb Dich nochmals nach dieser Insel hin?“
Kramer war sich inzwischen schon darüber klar geworden, wen er vor sich hatte. Es konnte nur der Sultan von Sangar selbst sein.
Was sollte er diesem antworten? Sollte er eingestehen, daß es eigentlich in der Hauptsache Abenteuerlust gewesen war, die ihn jetzt nach der Raubtier-Insel geführt hatte? Würde dieser halbgebildete Malaie dafür Verständnis haben, würde er ihm Glauben schenken …?
Da ersparte der Sultan ihm eine Ausrede, indem er mit kalter, ebenso grausamer wie rachsüchtiger Stimme wieder begann:
„Ich merke, Du sinnst auf Lügen. Sie werden Dir nichts helfen …! Wertvolle Geheimnisse hofftest Du hier aufzudecken, hofftest dasselbe, was schon andere vor Dir gehofft haben. – Genug der Worte! Dem ersten Tiger, den meine Leute fangen, wirst Du vorgeworfen. Das soll Deine Strafe sein. Vielleicht schlägt also schon morgen Deine letzte Stunde. Die Falle steht ja bereit. Und zwei Gitter warten darauf, hinter meinen gelben Lieblingen, die ich mir wieder einmal mit meiner Jacht abholen wollte, zuzuschlagen. – Schafft ihn fort!“ – Eine Handbewegung, und die beiden anderen Malaien warfen Kramer die Decke wieder über den Kopf und schleppten ihn hinaus. Wohin, wußte er nicht. Er merkte nur, daß es eine Treppe abwärts ging, daß eine Tür hinter ihm zufiel. Dann vernahm er noch die schnell verhallenden Schritte der Leute, die ihn wie ein Bündel getragen hatten.
Eine Weile blieb er regungslos sitzen. Dafür waren seine Gedanken um so lebendiger. Wenn er sich retten wollte, mußte es sofort geschehen. In seiner Lage war jede Minute kostbar.
So begann er denn die auf dem Rücken zusammengebundenen Hände hin und her zu drehen, um zu versuchen, ob er die Fesseln abstreifen könne. Es gelang ihm nicht. Nun bewegte er beide Arme soweit als möglich nach links, wo er in der Tasche der Leinenweste unter der Lederjacke sein Federmesser stecken wußte. Dieses bildete jetzt seine einzige Hoffnung. Erst zerrte er mit den Fingern die Jacke bei Seite, dann zog er die Weste immer weiter nach links, bis er in die linke Uhrtasche hineingreifen konnte. – – Das Messer war da …!!
Aber welche Anstrengungen kostete es noch, welche Geschicklichkeit gehörte dazu, um langsam die festen Lederriemen mit den gebundenen Händen zu durchschneiden. Aber es gelang. Und gleich darauf stand er aufrecht, warf nun auch die Decke ab und begann seinen Kerker mit den Fingern abzutasten. Bald hatte er die Tür gefunden. Sie besaß nur einen Holzriegel von innen und gab schon auf einen leisen Druck nach. Kramers Feinde hatten eben zu sehr auf die Festigkeit der Bande ihres Gefangenen vertraut.
Wieder tastete der junge Deutsche sich nach rechts hin in der tiefen Dunkelheit weiter. Von dorther hatten die Malaien ihn [angeschleppt][5] gebracht. Das hatte er sich sehr gut gemerkt und wieder zur Rechten mußte auch die Treppe liegen. An einer kühlen Steinwand entlang schreitend fühlte er dann mit der Fußspitze die erste Stufe, schlich nach oben, bis über ihm ein schwacher Lichtschimmer auftauchte. Es war eine Öllampe, die gerade dort in einem breiten Gange hing, wo die Treppe in diesen einmündete. Vier Türen mit seltsamen Verzierungen aus Elfenbein und Kupfer bemerkte Kramer in diesem Gange. Hinter einer derselben hörte er sprechen. Leise huschte er vorüber einer zweiten, kürzeren Treppe zu, die unter einer Falltür endete. Diese ließ sich leicht in die Höhe heben. Sie bewegte sich in zwei an einer Seite angebrachten Gelenken.
Gleich darauf stand er in der Säulenvorhalle der Tempelruine, deren Boden mit großen, viereckigen Steinplatten belegt war. Und eine dieser Steinplatten verbarg in Form einer Falltür den Eingang zu den unterirdischen Räumen, aus denen Kramer soeben entwischt war.
Ohne Zögern wandte er sich jetzt dem Tore der Tempelmauer zu, dessen Pfeiler nur noch einen Haufen umrankter Steintrümmer bildeten. Glücklich gelangte er auch bis an den Akazienbaum, und schwamm über den See nach dem Südufer zurück. Und immer weiter trieb ihn die Angst vor seinen Verfolgern trotz der nächtlichen Stunde durch die Lichtungen, durch offene Grassteppen nach Norden zu.
Da – vor ihm ein einzelner Baum, eine Pandane; im Nu war er oben. – Aber wieder das Brüllen der gelben Riesenkatze, das seine überreizten Nerven erzittern ließ. Scheu blickte er nach jenem Dickicht hin, welches unweit eines zweiten auf der vom Mond beschienenen Lichtung dalag. Der Tiger erschien nicht, und Kramer wurde ruhiger, zuversichtlicher.
Dann kam endlich der Morgen mit fahler Dämmerung heraufgezogen. Es wurde heller und heller. Trotzdem wagte Kramer es nicht, seinen Baum zu verlassen. Erst mußte die Sonne aufgegangen sein, die den Tiger in seinen Schlupfwinkel zurückscheuchen würde.
Und die Sonne erschien, mit ihr zugleich aber auch etwas anderes: ein Trupp von fünf Männern, unter denen sich auch der Sultan befand. Schon glaubte der Flüchtling sich wieder in der Gewalt seiner Feinde, als diese in demselben Dickicht verschwanden, in dem der Tiger noch immer stecken mußte. Hatte die gelbe Riesenkatze doch soeben noch ein wütendes Fauchen ausgestoßen.
Da … Kramer traute erst seinen Augen nicht! – Da näherte sich aus derselben Richtung jetzt noch ein einzelner Mensch – ein Europäer in zerfetztem Anzug, mit verwildertem Haupt- und Barthaar und bleichem, abgezehrtem Gesicht. Tief gebückt schlich der Fremde, ein Gewehr in der Hand, dahin und kroch schließlich auf allen Vieren von der anderen Seite in dieselbe Buschinsel hinein.
Kein Zweifel: dieser Mann konnte nur der Diamantenhändler Parlitz sein! – Kramer überlegte nicht lange. Nur von dem einen Wunsche beseelt, sich mit diesem Unglücklichen möglichst schnell in Verbindung zu setzen, folgte er ihm, um ihn dann mit in sein Versteck auf der Halbinsel im Norden zu nehmen. Er hatte sich die Stelle genau gemerkt, wo Parlitz in das Dickicht eingedrungen war. Nun schob er sich ebenfalls in das Ranken- und Zweiggewirr hinein, immer weiter, immer vorsichtiger, da er jetzt deutlich die nahen Stimmen der Malaien vernahm.
Dann prallte er förmlich zurück. Dicke Bambusstäbe versperrten ihm den Weg. – In einem Augenblick hatte er die Sachlage richtig erkannt: er befand sich vor einer der beiden Raubtierfallen, die er am Tage vorher besichtigt hatte. Und der Tiger, vor dem er auf den Baum geflohen war, hätte ihm nichts anhaben können, da er sich in dem einen Käfig gefangen hatte.
Leise schob Kramer nun die Zweige bei Seite und spähte zwischen den Bambusstangen hindurch. So sah er denn, daß der Sultan und dessen Begleiter in dem Käfig vor dem Gitter standen, das die trennende Wand zwischen den beiden Fallen darstellte und in dem sich auch die kleine Verbindungstür befand. Offenbar bewunderten die Malaien den gefangenen Tiger, von dem Kramer von dieser Stelle aus jedoch nichts erblicken konnte, da einzelne Büsche noch innerhalb des Käfigs wuchsen und ihm die Aussicht versperrten.
Der Diamantenhändler war nirgends zu sehen. Oder doch – tauchte da nicht eben in dem Eingang zu der Falle, in der die fünf Eingeborenen so sorglos die gelbe Katze im Nachbarkäfig anstaunten, eine Gestalt auf? – Ja, es war Parlitz! – Aber – was beabsichtigte er, wo sich doch nur einer der Malaien zufällig umzudrehen brauchte, um seiner ansichtig zu werden …?!
Nur zu bald merkte Kramer, worauf jener ausging. Parlitz hatte jetzt eine Bambusstange in der Hand, mit der er nun die Klammer bei Seite schob, die das wagerecht über dem Eingang liegende Fallgitter in dieser Lage festhielt. Sofort sauste es herab und grub seine Spitzen in die Erde ein: der Sultan und seine Diener waren gefangen!
Bei dem Geräusch des niederschlagenden Vordergitters hatten diese sich blitzschnell umgedreht. Inzwischen war Parlitz längst wieder in den Büschen untergetaucht, um sein Rachewerk zu vollenden. Einige Male hatte er den Tierwärtern bei dem Bau der großen Fallen helfen müssen. Er wußte also mit deren Einrichtung sehr gut Bescheid.
Während die fünf Eingeborenen noch mit dem Gesicht nach dem soeben zugeschlagenen Gitter dastanden und lebhaft erörterten, auf welche Weise dies geschehen sein könne, hatte er sich nach der Stelle des Dickichts hingeschlichen, wo der Strick zu finden war, mit dessen Hilfe sich die Pforte zwischen den beiden Käfigen öffnen ließ. Und gleich darauf schoß erst ein gelber, geschmeidiger Tierkörper, dann noch ein zweiter durch die jetzt freie Öffnung in dem Verbindungsgitter hindurch …
Kramer schloß unwillkürlich die Augen vor Entsetzen. Er hörte die Angstschreie der Malaien, hörte Schüsse, dumpfes Brüllen, gellende Hilferufe. Dann wurde es still.
Schnell, ohne vorher noch einen Blick auf den Schauplatz des furchtbaren Kampfes zu werfen, kroch er wieder ins Freie. Hier traf er mit Parlitz zusammen. Der war bei seinem Anblick keineswegs überrascht, streckte ihm ernst die Hand hin und sagte:
„Ich weiß, wer Sie sind. Der Sultan war gestern Nacht in meinem Kerker gleich nach Ihrer Überrumpelung und erzählte mir triumphierend, daß er wieder einen Menschen erwischt habe, den er waffenlos einem frisch gefangenen Tiger gegenüberstellen könne. So hat er es mit allen Männern gemacht, die diese Insel aufsuchten, um nach seinen Schätzen zu forschen. Mich aber hat er hier jahrelang festgehalten, damit ich nicht verraten konnte, daß seine Kostbarkeiten, die ich ihm zum Teil neu fassen und reinigen mußte, sich wirklich hier befinden. Unter einem Vorwand lockte er mich aus Batavia fort, dieses herzlose, blutgierige Scheusal, da er einen kunstverständigen Mann brauchte, um seine Juwelen in Ordnung bringen zu lassen. Jetzt hat ihn seine Strafe ereilt. Heute früh gelang es mir aus meinem Kerker auszubrechen, so daß ich Gelegenheit fand, das auszuführen, was ich mir längst vorgenommen hatte: den Sultan zu beseitigen. – Daß es auf diese Weise geschehen würde, ahnte ich nicht im voraus. Erst hier, als ich das Tigerpärchen in dem zweiten Käfig erblickte, kam mir der Gedanke, den Sultan durch dieselben Bestien in derselben Falle töten zu lassen, in der er schon genug waghalsige Männer hinmorden ließ. – Das, was ich getan, bereue ich nicht! Wenn Sie wie ich mit angesehen hätten, welche Schreckensszenen sich hier abgespielt haben, wie der Sultan einen blutigen Sport daraus machte, Wehrlose den Klauen der Tiger auszuliefern, dann würden Sie genau so gehandelt haben – glauben Sie mir! – Doch nun wollen wir diese Stätte verlassen. Den letzten der Malaien, der in dem Tempel zurückgeblieben war, habe ich unschädlich gemacht. Ich weiß auch, wo Ihr Boot zu finden ist. Heute abend aber kehrt die Jacht des Sultans zurück, um ihn wieder abzuholen. Wir müssen schleunigst fort von hier.“ – –
Acht Tage später waren Parlitz und Kramer in Batavia. Die holländische Kolonialregierung, unter deren Gesetzen auch der Sultan von Sangar stand, zogen zur Strafe für dessen endlich an den Tag gekommene Verbrechen seine sämtlichen Besitztümer ein. Gegen Parlitz ging man in keiner Weise vor. Im Gegenteil, sowohl er wie auch Kramer erhielten eine reiche Belohnung ausgezahlt. Beide fuhren dann mit dem nächsten Dampfer nach Europa zurück.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Anmerkungen: